Das Versicherungsvertragsrecht – ein Spiegel der vorgesetzlichen Praxis?: Das Binnenversicherungsrecht und seine Quellen vom Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) bis zum Versicherungsvertragsrecht (1908) [1 ed.] 9783428583133, 9783428183135

Das deutsche Versicherungsvertragsrecht ist ein Produkt der vorgesetzlichen Praxis – so lautet jedenfalls ein gängiges N

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Das Versicherungsvertragsrecht – ein Spiegel der vorgesetzlichen Praxis?: Das Binnenversicherungsrecht und seine Quellen vom Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) bis zum Versicherungsvertragsrecht (1908) [1 ed.]
 9783428583133, 9783428183135

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Comparative Studies in the History of Insurance Law Studien zur vergleichenden Geschichte des Versicherungsrechts Volume / Band 19

Das Versicherungsvertragsrecht – ein Spiegel der vorgesetzlichen Praxis? Das Binnenversicherungsrecht und seine Quellen vom Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) bis zum Versicherungsvertragsrecht (1908)

Von

Matthias Bogner

Duncker & Humblot · Berlin

MATTHIAS BOGNER

Das Versicherungsvertragsrecht – ein Spiegel der vorgesetzlichen Praxis?

Comparative Studies in the History of Insurance Law Studien zur vergleichenden Geschichte des Versicherungsrechts Edited by / Herausgegeben von Prof. Dr. Phillip Hellwege

Volume / Band 19

Das Versicherungsvertragsrecht – ein Spiegel der vorgesetzlichen Praxis? Das Binnenversicherungsrecht und seine Quellen vom Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) bis zum Versicherungsvertragsrecht (1908)

Von

Matthias Bogner

Duncker & Humblot · Berlin

The project ‘A Comparative History of Insurance Law in Europe’ has received funding from the European Research Council (ERC) under the European Union’s Horizon 2020 research and innovation programme (grant agreement No. 647019).

Die Juristische Fakultät der Universität Augsburg hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 384 Alle Rechte vorbehalten

© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2625-638X (Print) / ISSN 2625-6398 (Online) ISBN 978-3-428-18313-5 (Print) ISBN 978-3-428-58313-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Diese Arbeit lag der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg im Win­ tersemester 2020/21 als Dissertation vor. Sie wurde Anfang November 2020 ein­ gereicht, sodass die bis zu diesem Zeitpunkt erschienene Literatur berücksichtigt werden konnte. In ihrem Kern ist diese Dissertation ein Teil des Projekts „A Comparative His­ tory of Insurance Law in Europe“ (CHILE), das von Prof. Dr. Phillip Hellwege (Universität Augsburg) geleitet und vom European Research Council (ERC) fi­ nanziert wurde. Das gesamte Forschungsprojekt CHILE befasste sich mit der Ent­ stehung und Kodifikation des Privatversicherungsrechts in verschiedenen europä­ ischen Staaten. Die einzelstaatlichen Versicherungsrechtsordnungen divergieren zum heutigen Zeitpunkt teils erheblich voneinander, obwohl sie doch nach den traditionellen Narrativen aus derselben Wurzel, nämlich dem im internationalen Handel gewachsenen Seeversicherungsrecht, entsprungen sind. Die Ursachen für diese Divergenz lagen jedoch lange Zeit im Dunkel der Geschichte. Mit seinem rechtshistorischen Ansatz mag das Projekt auch der gegenwärtigen Diskussion um eine internationale Harmonisierung des Versicherungsrechts eine Stütze bieten. Als mir Prof. Hellwege im Sommer 2018 die Mitarbeit am Projekt CHILE anbot, waren die gröbsten Umrisse meines Dissertationsthemas schon gezeichnet. Doch bei alledem war mir noch der denkbar größte Freiraum gegeben, mein Thema mit inhaltlichem Leben und persönlichen Akzenten zu füllen. Es dürfte wohl unschwer zu erkennen sein, dass die rechtshistorische Forschung eine so unerwartet große Flut an Materialien hervorgebracht hat, dass mein Werk am Ende auf einen ziegel­ steingroßen Umfang angewachsen ist. Umso mehr gilt mein Dank meinem Doktorvater, Prof. Dr. Phillip Hellwege, der meine Arbeit nicht nur mit viel Interesse, Vertrauen und gewinnbringender Kritik begleitet hat, sondern vor allem binnen nur zwei Wochen ein ausführliches Erst­ votum verfasst hat. Die Förderung Prof. Hellweges hat es mir außerdem ermög­ licht, erste Ergebnisse meiner Forschung im September 2019 vor einer Konferenz internationaler Rechts- und Wirtschaftshistoriker zu präsentieren und in diesem Kontext einen wissenschaftlichen Fachbeitrag zu publizieren. Des Weiteren be­ danke ich mich bei Prof. Dr. Jörg Neuner für die rasche Anfertigung des Zweitgut­ achtens. Einen fruchtbaren Beitrag zu dieser Dissertation leistete auch die Diskus­ sion mit den anderen Mitgliedern des CHILE-Projekts – besonderer Dank gilt hier Dr. Antonio Di Mieri, der in zweiter Linie mein Bürokollege war, in erster Linie aber mein guter Freund ist; er stand mir und meiner Arbeit oft durch wertvolle Anregungen und Einschätzungen zur Seite. Zu Dank verpflichtet bin ich auch der Patriotischen Gesellschaft in Hamburg für die freundliche Zusendung historischen

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Vorwort

Quellenmaterials, dem European Research Council für die großzügige Finanzie­ rung des Projekts und insbesondere der Druckkosten sowie Herrn Tobias Reutter, der die unzähligen Seiten meiner Arbeit korrigiert und mir hilfreiches Feedback geliefert hat. Ein ganz besonderer Dank gilt schließlich meiner Frau Marie: zwar war sie nicht unmittelbar an der Entstehung dieses Werks beteiligt, doch ist es kein Geheimnis, dass die größten Teile der vorliegenden Endfassung während einer Pandemie entstanden sind und deshalb auf einer Couch in unserem Wohnzimmer geschrieben wurden, namentlich inmitten größerer Berge von historischen Quel­ len. Das war – so denke ich – für alle Beteiligten eine große Herausforderung. Da es zur Auswertung historischer Archivalia unerlässlich war, mir Kenntnisse in Deutscher Kurrentschrift anzueignen, hat auch mein Großvater Walter Hacken­ berg (1943–2020) zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen; die Veröffentlichung der Dissertation hat er nicht mehr erlebt. Er hat in früheren Jahren nicht nur viel dazu beigetragen, mein Interesse an Kunst, Musik und Geschichte zu wecken, sondern ist wohl zu einem guten Teil auch verantwortlich für meinen Drang, den Dingen wissenschaftlich auf den Grund zu gehen zu wollen. Daher ist diese Arbeit seinem Andenken gewidmet. Augsburg, im Januar 2021

Matthias Bogner

Inhaltsübersicht § 1 Einführung und historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 A. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Wege, Ziele und Stolpersteine der vorliegenden Forschungsarbeit . . . . . . . . . . . 31 C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 § 2 Das Binnenversicherungsrecht im Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 82 B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . 90 C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft . . . . . . . . . . 123 D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren . . . . . . . . . . . . 153 E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 § 3 Die Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts im Versicherungsrecht und das Versicherungsvertragsgesetz (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 296 B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts . . . . 358 D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren . . . . . . . . . . . . 420 E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 § 4 Das gesamte Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 B. Ausblick: ein europäisches Versicherungsvertragsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660

Inhaltsverzeichnis § 1 Einführung und historischer Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 A. Die Problemstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 B. Wege, Ziele und Stolpersteine der vorliegenden Forschungsarbeit . . . . . . . . . . . 31 I.

Eine Untersuchung des privaten binnenländischen Versicherungsvertrags­ rechts und seiner Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

II.

Der Gang der Gesamtdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

III. Begriffliche Anmerkungen zur rechtshistorischen Forschung im Versiche­ rungsvertragrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 I.

Grundlegende Prinzipien der Versicherungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

II.

Die Entstehung der Seeversicherung als erster rationell betriebener Versi­ cherungszweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Die Entstehung der Seeversicherung als kaufmännisches Gewohnheits­ recht internationaler Prägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Der Rechtszustand der Seeversicherung im 18. Jahrundert . . . . . . . . . 47

III. Die dualistische Entwicklung des Gebäude- und Mobiliarfeuerversiche­ rungswesens bis ca. 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 1. Von den Hamburger Feuerkontrakten zum dichten Netz preußischer Gebäude-Feuersozitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 2. Das Recht der öffentlichen Brandversicherungsanstalten – ein Produkt des Kameralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 3. Erste Ansätze der Mobiliarfeuerversicherung im 18. Jahrhundert . . . . 67 IV. Die ersten Anfänge der rationell betriebenen Lebensversicherungspraxis 70 1. Die Keime des rationellen Lebensversicherungsbetriebs . . . . . . . . . . . 71 2. Der Rechtszustand der ersten rationell arbeitenden Witwen- und Wai­ senkassen im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 V.

Fazit zum Stand des Versicherungsrechts vor 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht im Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 82 I.

Narrative zu den rechtlichen Vorbildern der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR 84

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Inhaltsverzeichnis II.

Spezifische Narrative zum Binnenversicherungsrecht im preußischen ALR 85

III. Narrative über das Verhältnis des ALR zur Versicherungspraxis des 19. Jahr­ hunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 IV. Der starre rechtshistorische Fokus auf die staatlichen Brandversicherungs­ anstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 V.

Weiterer Gang der Forschungsarbeiten am ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . 90 I.

Die Genese des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 1. Vorgeschichte, Gründe und Ursachen der preußischen Kodifikations­ bestrebungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2. Vom Bedürfnis einer „Universalrechtskodifikation“ bis zum „Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches“ (1784) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 3. Die Einholung öffentlicher „Monita“ zum EAGB . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4. Inkrafttreten und Schicksal des ALR und seiner versicherungsrecht­ lichen Kodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

II. Die Gesamtkonzeption des Binnenversicherungsrechts im preußischen Landrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 1. Die systematische Gesamtkonzeption: das Binnenversicherungsrecht als „verlängertes Seerecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Die gesetzessystematische Veschränkung des See-, Feuer- und ­Lebensversicherungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Das materielle Feuerversicherungsrecht des ALR – ein Nebenpro­ dukt des Seeversicherungsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 c) Das Lebensversicherungsrecht im ALR als ein Derivat maritimer Lebens- und Freiheitsversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 d) Fazit zur systematischen Gesamtkonzeption des ALR . . . . . . . . . . 112 2. Die regelungstechnische Gesamtkonzeption: Kasusitik versus Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Einerseits: die überreiche Kasuistik der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 b) Andererseits: erste Schritte zu einer abstrakten dogmatischen Struk­ tur des Versicherungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 3. Die materiell-rechtliche Gesamtkonzeption: Das ALR als Produkt eines aufklärerischen Paternalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Das ALR als „Katechismus des anständigen Verhaltens“ . . . . . . . . 118 b) Eine paternalistische Ader im Versicherungsrecht des ALR? . . . . . 119 4. Fazit zur Gesamtkonzeption des ALR: ein Gesetz ohne rechtsprakti­ sches Vorbild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

Inhaltsverzeichnis

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C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft . . . . . . . . . . 123 I. II.

Die „erste Gründungswelle“ und ihre historischen Ursachen . . . . . . . . . . 124 Die „Erste Gründungswelle“ in der Feuerversicherung . . . . . . . . . . . . . . . 127 1. Die „Association Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feursgefahr“ (1795) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 2. Die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Die Feuerversicherungsbank für den Deutschen Handelsstand zu Gotha (1820) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4. Die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) . . . . . . . . . . . . 134 5. Überblick über rechtliche Folgeprobleme der modernen Feuerversiche­ rungstechnik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138

III. Die „Erste Gründungswelle“ in der Lebensversicherung . . . . . . . . . . . . . . 140 1. Vorgeschichte und Gründung der Gothaer Lebensversicherungsbank (1828) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 2. Die AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank im Spiegel der eng­ lischen Lebensversicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 3. Die Entwicklung des deutschen Lebensversicherungsmarkts nach der Gründung der Gothaer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 IV. Methodische Anmerkungen zur rechtshistorischen Forschung an den frü­ hesten AVB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Methodische Wege und Sackgassen der Quellenforschung . . . . . . . . . 148 2. Methodische Ansätze zur Quellenforschung an den ältesten Feuerversi­ cherungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 3. Methodische Ansätze zur Quellenforschung an den ältesten Lebensver­ sicherungsbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 4. Das weitere methodische Vorgehen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren . . . . . . . . . . . . 153 I.

Die Beschreibung des Leistungsumfangs: Übernommenes Risiko und ver­ sicherte Gegenstände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 1. Die vorgesetzliche Praxis: eine inhomogene Sammlung verschiedenar­ tiger Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 2. Das preußische Landrecht und sein Versuch einer systematischen Ord­ nung des Regelungsmaterials . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 a) Die kasuisitische Aufzählung gefährlicher und wertvoller Gegen­ stände in Th. II Tit. 8 §§ 2054, 2055 ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Die Erdbeben- und Kriegsgefahr: eine unerwartete Regelungslücke 160 3. Die komplexe Quellenlage der ältesten Feuerversicherungsbedingun­ gen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 4. Ein signifikanter Einfluss der staatlichen Feuerkassen? . . . . . . . . . . . . 167

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Inhaltsverzeichnis II.

Das versicherbare Interesse unter besonderer Berücksichtigung des imagi­ nären Gewinns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 1. Die zwei Spielarten der Gewinnversicherung in Seeversicherungspraxis und Hamburger AHO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 2. Die Versicherung des imaginären Gewinns und die Versicherung auf Kursverluste im ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3. Die Gewinnversicherung als unausgesprochene Selbstverständlichkeit in der Feuerversicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

III. Die Versicherung auf das Leben Dritter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Die vorgesetzliche Praxis: Einwilligungs- versus Interessekriterium . . 176 2. Der Sonderweg des ALR: das Verwandtschaftskriterium . . . . . . . . . . . 178 3. Die ältesten deutschen Lebensversicherungsbedingungen: Rückkehr zur englischen Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 IV. Über-, Unter- und Mehrfachversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 1. Die Überversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 2. Die Versicherung bei mehreren Versicherern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 a) Überblick über das Normengeflecht der Th. II Tit. 8 §§ 2000–2010 ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 b) Die Hamburgische Seeversicherungspraxis und Gesetzgebung . . . 191 c) Fortschreitende Verfremdung der seeversicherungsrechtlichen Dog­ matik im preußischen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 d) Das ALR als Schlusspunkt eines langwierigen Entwicklungsprozesses 196 3. Die Unterversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 4. Die rudimentäre schadensversicherungsrechtliche Praxis im frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 V.

Die Zahlung der Versicherungsprämie und der Umgang mit Prämienrück­ ständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Die Th. II Tit. 8 §§ 2104–2116 ALR: ein Ausdruck lebendiger Seever­ sicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 2. Eine Zäsur in der Rechtsentwicklung: deutsche AVB und der Einfluss der englischen Versicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

VI. Die Gefahranzeige bei Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 1. Das Schweigen der staatlichen und englischen Versicherungspraxis zur Gefahranzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Die Gefahranzeige im Versicherungsrecht des ALR . . . . . . . . . . . . . . . 212 3. Die Genese der Th. II Tit. 8 §§ 2024–2063 ALR: mehr als nur eine Ana­ logie zum Hamburgischen Seeversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . 215 a) Das Seeversicherungsrecht der AHOen: ein Konglomerat von Ein­ zelfallregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Die stufenweise Entwicklung von abstrakten Generalklauseln und feuerversicherungsrechtlichen leges speciales . . . . . . . . . . . . . . . . . 218

Inhaltsverzeichnis

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c) Die Gefahranzeige im Lebensversicherungsrecht des ALR: ein Pro­ dukt des Seeversicherungsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4. Die Rezeption des Th. II Tit. 8 § 2054 ALR in der Binnenversicherungs­ praxis – ein singuläres Phämomen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 5. Fazit: wie nachhaltige wirkte das ALR auf die deutschen Feuerversi­ cherungsbedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 VII. Die Gefahrerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Das Schweigen der staatlichen und englischen Versicherungspraxis zur Gefahrerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 2. Erste Ansätze von Gefahrerhöhungsvorschriften im Seeversicherungs­ recht der AHOen, des EAGB und des ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Auf dem Weg zu einer Gefahrerhöhungsdogmatik: die Generalklauseln in Th. II Tit. 8 §§ 2117, 2118 ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4. Die Schöpfung von Parallelvorschriften für das Binnenversicherungs­ recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 a) Die Gefaherhöhungsvorschriften in §§ 2152–2163 ALR als Fortfüh­ rung der seerechtlichen Dogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 b) Die Th. II Tit. 8 §§ 2158, 2163 ALR als nachweisliche Eigenschöp­ fungen des preußischen Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 5. Das preußische Landrecht als Basis für eine eigeständige deutsche Ver­ sicherungspraxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 a) Die Bedeutung des ALR für die Gefahrerhöhungsklauseln der deut­ schen Feuerversicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 b) Ein mittelbar wirkender Einfluss des ALR auf die Lebensversiche­ rungspraxis? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 VIII. Die Anzeige des Versicherungsfalles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Die Schadens- oder Todesanzeige als Bedingung des Leistungs­ anspruches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Die objektiv-rechtliche Ausschlussfrist in Th. II Tit. 8 § 2164 ALR und ihre Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 3. Das System abgestufter Ausschlussfristen in der Praxis des 19. Jahr­ hunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 IX. Die Verursachung des Versicherungsfalles durch den Versicherten . . . . . . 249 1. Rudimentäre Klauseln im Feuerversicherungsrecht versus elaborierte Praxis im Lebensversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 2. Die inhaltliche Redundanz der Vorschriften im preußischen ALR . . . . 252 3. Die verflochtenen Wurzeln der Vorschriften im preußischen Landrecht 256 a) Die erste Wurzel: Tit. V der Hamburger AHO („Von dem Risico oder der Gefahr der Assecuradeurs“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 b) Die zweite Wurzel: Tit. VII der Hamburger AHO („Von des Schiffers und des Schiffs-Volcks Versehen“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

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Inhaltsverzeichnis c) Die redaktionelle Neuordnung des Regelungsmaterials durch den preußischen Gesetzgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 d) Ein Erklärungsansatz zur Genese der feuerversicherungsrechtlichen Th. II Tit. 8 §§ 2156, 2235 ff. ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 e) Ein Erklärungsansatz zur Genese der lebensversicherungsrechtlichen Th. II Tit. 8 §§ 1968, 1969 ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 4. Die Feuer- und Lebensversicherungspraxis: Abkehr vom komplexen Regelungsgefüge des ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 X.

Die Ermittlung und Berechnung des Feuerschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 1. Die Schadensberechnungsvorschriften des ALR als reines Seerecht . . 264 a) Der Totalschaden und das uneingeschränkte „Prinzip der taxierten Police“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 b) Die differenzierte Berechnungspraxis bei Partialschäden . . . . . . . . 265 c) Das Abandonrecht: ein seerechtliches Spezifikum? . . . . . . . . . . . . 269 2. Die Brandschadensermittlung in der Praxis des 19. Jahrhunderts . . . . 270 a) Die Praxis der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt . . . . . . . . 270 b) Englische Versicherer oder staatliche Feuersozietäten als Vorbilder der „Berlinischen“ AVB? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Das Allgemeine Landrecht als Vorbild der „Berlinischen“ AVB? . . 276 d) Die eigenständige Entwicklungsdynamik der deutschen Feuerversi­ cherungspraxis nach 1812 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 I.

Das preußische Binnenversicherungsrecht als ein Spiegel des Seeversiche­ rungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

II. Die Rolle der vorgesetzlichen Versicherungspraxis bei der Genese des ALR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 III. Die dogmatischen Impulse des ALR auf die Feuerversicherungspraxis des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 IV. Die staatlich organisierten Feuerkassen – ein Mythos der akademischen Li­ teratur? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292 § 3 Die Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts im Versicherungsrecht und das Versicherungsvertragsgesetz (1908) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . 296 I.

Das VVG und die „Schutztheorie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298

II.

Das VVG als „Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“ . . . . . . . . . 299

III. Die weit verbreiteten „indifferenten“ Narrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 IV. Weiterer Gang der Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

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B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 I.

Die „Zweite Gründungswelle“ in der deutschen Versicherungswirtschaft 303 1. Die Historischen Hintergründe: Industrialisierung, Professionalisierung, Liberalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 2. Die Symptome: Einseitige Rechtssetzungsmacht und Verbandsbildung unter den Versicherern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

II.

Die Entwicklung der Feuerversicherungspraxis ab den 1850er Jahren . . . 311 1. Diversifizierung und Ausweitung der versicherten Risiken . . . . . . . . . 312 2. Zunehmende Härten in den Feuerversicherungsbedingungen des 19. Jahr­ hunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 a) Gründe und Symptome der Rechtsentwicklung bis in die 1880er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 b) Die Verbandsbedingungen von 1886: das Ende des Entwicklungs­ trends zu immer härteren AVB-Klauseln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 3. Die materielle Versicherungsaufsicht im Feuerversicherungsrecht vor 1901 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 4. Die Rolle des öffentlichen Brandversicherungswesens im 19. Jahr­ hundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 a) Öffentliche und private Versicherer in offenem marktwirtschaft­ lichem Wettbewerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 b) Reger Gedankenaustausch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

III. Die Entwicklung der Lebensversicherungspraxis ab den 1850er Jahren . . 328 1. Die Wandlung vom kaufmännischen Vorsorgegeschäft zum Sparpro­ dukt für ein breites Publikum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 a) Die Prämienreserve: ein „Sparguthaben“ des Versicherungsnehmers 329 b) Die Professionalisierung der Rückkauf- und Umwandlungstechnik 331 2. Ein Streifzug durch die zahlreichen Lebensversicherungsmodelle des späten 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 3. Die tendenziell versichertenfreundliche Gestaltung der Lebensversi­ cherungsbedingungen im späten 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 IV. Die Rolle von Wissenschaft und Rechtsprechung im Binnenversicherungs­ recht des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 1. Die Entwicklung einer geschlossenen Binnenversicherungsdogmatik in der Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 a) Die historische Rechtsschule und ihre Relevanz für das deutsche Bin­ nenversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 b) Die unkritische Rezeption der AVB in der frühen Wissenschaft des Binnenversicherungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 c) Ein Richtungswechsel in der Wissenschaft: die AVB als einseitig vor­ formulierte Vertragswerke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

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Inhaltsverzeichnis 2. Die reichseinheitliche Rechtsprechung als wesentlicher Entwicklungs­ faktor des Binnenversicherungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 a) Der Zustand der Binnenversicherungsrechtsprechung vor der Schaf­ fung eines einheitlichen deutschen Obergerichts . . . . . . . . . . . . . . 352 b) Die Entwicklung einer tendenziell versichertenfreundlichen Recht­ sprechung seit der Gründung des Bundesoberhandelsgerichtes . . . 355 C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts . . . . 358 I.

Die Kodifikationsbewegung im 19. Jahrhundert und ihre historischen Fun­ damente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

II. Die Gesetzgebungsarbeiten zum Binnenversicherungsrecht im 19. Jahr­ hundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362 1. Der Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württem­ berg (1839) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 a) Die Genese des württembergischen HGB-Entwurfes . . . . . . . . . . . 363 b) Die dokumentierten Rechtsquellen des württembergischen Entwurfs: ausländische Handelsrechtskodifikationen und deutsche AVB . . . 364 c) Das neue systematische Konzept des Entwurfes und dessen Konse­ quenzen für das materielle Binnenversicherungsrecht . . . . . . . . . . 366 2. Der Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten von 1857 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 a) Die Genese des preußischen Entwurfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 b) Das Konzept des preußischen und des württembergischen Entwurfes im Vergleich: Konkurrenz oder Kohärenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374 3. Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (1861) und seine ge­ scheitere Kodifikation des Binnenversicherungsrechts . . . . . . . . . . . . . 377 4. Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bay­ ern (1861) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 a) Die Genese des bayerischen Entwurfes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 b) Die Tendenz des bayerischen Entwurfes zur größtmöglichen Abs­ traktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 5. Der „Dresdener Obligationenrechtsentwurf“ (1866) . . . . . . . . . . . . . . 384 a) Die Genese des „Dresdener Entwurfes“ als erster gemeinsamer Ko­ difikationsversuch mehrerer deutscher Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . 384 b) Der Rechtsschöpfungsprozess des Dresdener Entwurfes: komplexe Quellenlage, abstrakter Regelungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 c) Die Tendenz des Dresdener Entwurfes zur „Überdogmatisierung“ des Binnenversicherungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388 d) Zaghafte Ansätze des Dresdener Entwurfes zum Schutz des Versi­ cherungsnehmers vor einseitigen Vertragsklauseln . . . . . . . . . . . . . 392 6. Fazit: die Entwicklungstendenzen in der Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Beziehung zur Versicherungspraxis . . . . . . 395

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III. Das Versicherungsvertragsgesetz (1908) als Kulminationspunkt und Ende der Kodifikationsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 1. Die Zeit bis zur Jahrhundertwende: eine Stillstandsphase in der Kodifi­ kationsbewegung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396 a) Die Entwicklung des Binnenversicherungsrecht zur zivilrechtlichen Sondermaterie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 397 b) Die materielle Versicherungsaufsicht unter dem VAG (1901) und ihre Bedeutung für die AVB-Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 2. Die Genese des Versicherungsvertragsgesetzes (1908) . . . . . . . . . . . . 402 a) Die Vorarbeiten im Reichsjustizamt und die Diskussionen in der Fachöffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 b) Zwischenspiel: die Rückkopplung des Entwurfes von 1903 auf die Feuerversicherungspraxis und ihre AVB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 c) Das parlamentarische Verfahren bis zum Inkrafttreten des VVG . . 407 3. Überblick über die Gesamtkonzeption des VVG . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 a) Die reichhaltigen Rechtsquellen des VVG: Gesetzgebung, Wissen­ schaft, Praxis, Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 b) Die mehrfach gestufte Gesetzessystematik des VVG . . . . . . . . . . . 413 c) Der Schutz des Versicherungsnehmers vor einseitigen AVB-Klau­ seln – insbesondere das „Verschuldensprinzip“ in § 6 VVG und seine Genese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414 d) Die Verwendung zwingenden und halbzwingenden Rechts . . . . . . 418 4. Zwischenfazit und Arbeitshypothese: das VVG als Fortführung der im 19. Jahrhundert angedeuteten Entwicklungstendenzen . . . . . . . . . . . . 419 D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren . . . . . . . . . . . . 420 I.

Das übernommene Risiko im Feuerversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . 421 1. Die stetige Ausweitung der übernommenen Risiken in der Feuerversi­ cherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 422 2. Die Abkehr von kasuistischen Riskodefinitionen in den Entwürfen des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424 3. Die Gefahrdefinitionen in §§ 82–84 VVG als versichertenfreundliches „Regelrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

II.

Die Versicherbarkeit imaginären Gewinns und mittelbarer Folgeschäden

430

1. Die Praxis unter den „Mobiliarfeuerversicherungsgesetzen“: ein rigides Verbot der Gewinnversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 2. Die Gesetzgebung im 19. Jahrhundert: die Gewinnversicherung auf dem Rückzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 3. Die Renaissance der Versicherung imaginären Gewinns im VVG . . . . 435 III. Die Versicherung auf fremde Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440 1. Die Wissenschaft und Praxis im 19. Jahrhundert: ein versicherbares In­ teresse in der Lebensversicherung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 440

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Inhaltsverzeichnis 2. Die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts und ihr Hang zu theoretisieren­ den Lösungsansätzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 443 3. Das Versicherungsvertragsgesetz – Rückkehr zum Praxisrecht? . . . . . 446 IV. Über-, Unter- und Mehrfachversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 1. Die Überversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 a) Der Ideenstreit: Versicherungspolizeirecht versus zivilrechtliches Austauschverhätnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 450 b) Das Versicherungsvertragsgesetz: das wertungsneutrale vertragliche Austauschverhältnis als Leitbild des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . 454 2. Die Versicherung bei mehreren Versicherern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 a) Die mehrfache Versicherung in der Praxis des 19. Jahrhunderts und ihre rechtlichen Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458 b) Die Kodifikationsdebatte im 19. Jahrhundert: die mehrfache Ver­ sicherung im Schatten der Seeversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 c) Das Versicherungsvertragsgesetz: mehr als nur die Rückkehr zur Ver­ sicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463 aa) Die Haftungsverteilung zwischen den Versicherern: von der Teil­ schuldnerschaft zur Gesamtschuldnerschaft . . . . . . . . . . . . . . . 464 bb) Die Anzeige der anderweit geschlossenen Versicherung: Sieges­ zug des „Verschuldensprinzips“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 468 3. Die Unterversicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 470 V.

Die Zahlung der Versicherungsprämie und der Umgang mit Prämienrück­ ständen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 472 1. Die versicherungspraktisch gebotene Differenzierung zwischen Erstund Folgeprämien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 473 2. Der Siegeszug des Einlösungsprinzips im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . 476 3. Der Prämienverzug im VVG: Rezeption und Modifikation der herr­ schenden Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 478 a) Die Modifikation des strengen Einlösungsprinzips in § 38 VVG . . 479 b) Der Folgeprämienverzug (§ 39 VVG): Fristsetzung, Mahnung, Ver­ schuldensprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 480 c) Die Stundungsfiktion und die Regeln zum Leistungsort: ein geschei­ terter und ein erfolgreicher Versuch des Versichertenschutzes . . . . 483 d) Fazit zur Prämienzahlung und zum Prämienrückstand im VVG . . . 485

VI. Die Gefahranzeige bei Vertragsschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 1. Die frühsten dogmatischen Ansätze des 19. Jahrhunderts: die Rechts­ geschäfts- oder Irrtumslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 486 2. Das spätere 19. Jahrhundert: der verfeinerte Dogmatik des Versiche­ rungsvertrages als „contractus uberrimae fidei“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 3. Die Gefahranzeige im VVG: altbekannte und innvovative Ansätze des Versichertenschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

Inhaltsverzeichnis

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a) Die Gefahranzeige im VVG als Produkt einer Dogmatik des „beson­ deren Treueverhältnisses“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 b) Das Kausalitätskriterium (§ 21 VVG) und das Prämienerhöhungs­ recht (§ 41 VVG) – zwei Neuschöpfungen des Gesetzgebers . . . . . 500 c) Ausgewählte Spezifika der Lebensversicherung . . . . . . . . . . . . . . . 502 d) Fazit zum Recht der Gefahranzeige im VVG . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 VII. Gefahrerhöhung und Veräußerung der versicherten Sache . . . . . . . . . . . . 506 1. Die inhomogene Praxis der Gefahrerhöhung und Sachveräußerung . . 507 a) Die Entwicklung der „zweigleisigen“ Gefahrerhöhungsdogmatik in den AVB der Feuerversicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 b) Die Veräußerung der versicherten Sache – ein praktischer Unterfall der Gefahrerhöhung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 c) Die Spezifika der Lebensversicherungspraxis, insbesondere die Ent­ wicklung von Kriegs- und Reiseversicherungen . . . . . . . . . . . . . . . 512 2. Die weitere dogmengeschichtliche Entwicklung der Gefahrerhöhung . 514 a) Die Debatte um die Gefahrerhöhung in der Wissenschaft und Gesetz­ gebung des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 b) Die filigrane Regelung der Gefahrerhöhung im VVG . . . . . . . . . . . 519 aa) Die objektive Gefahrerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519 bb) Subjektive Gefahrerhöhung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 523 cc) Die tatbestandliche Definition einer Gefahrerhöhung . . . . . . . 528 3. Die weitere dogmengeschichtliche Entwicklung der Sachveräußerung 531 a) Der weitläufige theoretische Diskurs und seine Auswirkungen auf die Kodifikationsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 b) Das Versicherungsvertragsgesetz als Schmelztigel mehrerer dogma­ tischer Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 aa) Die schrittweise Rückkehr des VVG-Gesetzgebers zur cessio le­ gis der Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvetrag . . . 536 bb) Die Sachveräußerungsanzeige und ihre Nähe zur Gefahrerhö­ hungsanzeige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540 4. Gemeisames Fazit zur Gefaherhöhung und zur Veräußerung der versi­ cherten Sache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 VIII. Die Rückabwicklung der Versicherungsprämie im Falle der Vertragsnich­ tigkeit oder -auflösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 544 1. Das Prinzip der „Unteilbarkeit der Prämie“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 2. Der Rückkauf und die Umwandlung von Lebensversicherungs­ verträgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 550 a) Die vielfältigen Rückkaufs- und Umwandlungsmodelle in der Le­ bensversicherungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 551 b) Der Umgang der §§ 173–178 VVG mit dem inhomogenen Praxis­ recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 555

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Inhaltsverzeichnis aa) Vom Rückkaufsrecht zur Rückkaufspflicht . . . . . . . . . . . . . . . 556 bb) Die Umwandlung des Lebensversicherungsvertrages im VVG und ihre Nähe zum Praxisrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 cc) Fazit zum Rückkauf- und Umwandlungsrecht des VVG . . . . . 563 IX. Die Anzeige des Versicherungsfalles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 563 1. Die Versicherungspraxis im 19. Jahrhundert und ihre mehrstufigen Ausschlussfristen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 564 2. Das Gegenkonzept der Gesetzgebung: die Anzeige des Versicherungs­ falles als vertragliche Nebenpflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 567 3. Das Versicherungsvertragsgesetz: die „missverstandene“ Dogmatik des § 33 VVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 569 X.

Die Verursachung des Versicherungsfalles durch den Versicherten . . . . . . 572 1. Die allgemeinen Regeln zur Verursachung des Versicherungsfalles . . . 573 2. Die leges speciales des Lebensversicherungsrechts – insbesondere der Selbstmord der versicherten Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 a) Spezifische Fallgruppen zur Verursachung des Versicherungsfalles im Lebensversicherungsrecht des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . 578 b) Die differenziete Behandlung insbesondere des Suizides in Praxis und Gesetzgebung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . 581

XI. Die Ermittlung und Berechnung des Feuerschadens . . . . . . . . . . . . . . . . . 585 1. Die Schadensermittlung und -berechnung in der gefestigten Feuerversi­ cherungspraxis des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 a) Das kontradiktorische Schadensermittlungsverfahren und seine Vor­ züge für die Versicherungsgesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 b) Die wenig differenzierten Wertbegriffe der Feuerversicherungspraxis 588 2. Die zurückhaltenden Regelungsansätze des 19. Jahrhunderts . . . . . . . 592 a) Die vereinzelt gebliebene Diskussion verschiedener Wertbegriffe im württembergischen Entwurf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 b) Die Diskussion um die rechtliche Bedeutung von „taxierten ­Policen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 3. Das VVG und seine reformfreudige Kodifikation der Schadensermitt­ lungs- und -berechnungsregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 a) Die Bedeutung „taxierter Policen“ im VVG . . . . . . . . . . . . . . . . . . 596 b) Die Verwendung unterschiedlicher Wertbegriffe zum Zweck der ef­ fektiveren Schadensrestitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 c) Ein versichertenfreundlicher Rahmen für das förmliche Schadens­ ermittlungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 603 I.

Die erste Entwicklungstendenz: die Kompilations- und Abstraktionsarbeit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 604

Inhaltsverzeichnis II.

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Die zweite Entwicklungstendenz: die Dogmatisierung des Binnenversiche­ rungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607

III. Die dritte Entwicklungstendenz: der Schutz des geschäftlich Unerfahrenen vor nachteilhaften AVB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 610 IV. Resumee: das VVG als „Zusammenfassung der Allgemeinen Versiche­ rungsbedingungen“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 615 § 4 Das gesamte Bild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 619 I.

Die Feuer- und Lebensversicherungspraxis des 18. Jahrhunderts  . . . . . . . 620

II.

Das preußische ALR: Ansätze einer dogmatischen Struktur . . . . . . . . . . . 621

III. Die Binnenversicherungspraxis im 18. Jahrhundert und ihre tieferen ­Wurzeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 624 IV. Das 19. Jahrhundert und seine Kodifikationsbewegung . . . . . . . . . . . . . . . 626 V.

Das Versicherungsvertragsgesetz: ein Kulminationspunkt . . . . . . . . . . . . . 629

B. Ausblick: ein europäisches Versicherungsvertragsrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 A. Archivalia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 634 B. Gesetze, Verordnungen, Entwürfe, Gesetzgebungsmaterialien und sonstige legis­ lative Akte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 635 C. Regelwerke staatlicher Versicherungsanstalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 638 D. Regelwerke privatwirtschaftlicher Versicherer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 660

Abkürzungsverzeichnis a. E. am Ende a. F. alte Fassung auf Gegenseitigkeit (Firma einer Versicherungsgesellschaft) a. G. a. M. am Main (geographische Angabe) ABGB Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich 1812) Abs. Absatz Abt. Abtheilung (in historischen Gesetzestexten) Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch (1861) ADHGB Allgemeine Geschäftsbedingungen AGB Assecuranz- und Havereyordnung der Freien und Hansestadt Ham­ AHO burg (1731) Allg. Handlungs-Ztg. Allgemeine Handlungs-Zeitung (historische Zeitschrift) Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) ALR AppG Appellationsgericht Art. Artikel Assek.-Jb. Assekuranz-Jahrbuch (historische Zeitschrift) Aufl. Auflage Allgemeine Versicherungsbedingungen AVB B. Schmidt Bruno Schmidt Königlich bayerisches Handelsappellationsgericht BayHAG BayHAG Slg. Sammlung wichtiger Entscheidungen des königl. bayerischen Handels­ appellationsgerichts BayObLGZ Entscheidungen des Bayerischen Obersten Landesgerichts in Zivil­ sachen Königlich-Baierisches Regierungsblatt BayRegBl. Bd. Band Begr. Begründer Beschluss vom Beschl. v. betr. betreffend BGB Bürgerliches Gesetzbuch BGB-Entwurf Bayern Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (1861) BGH Bundesgerichtshof Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen BGHZ BOHG Bundesoberhandelsgericht Entscheidungen des Bundesoberhandelsgerichts BOHGE bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa Cap. Capitel (in historischen Texten) ch. chapitre (in französischen Texten)

Abkürzungsverzeichnis

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Cl. Clause (bei englischen Vertragstexten) das heißt d. h. Decembr. December (in historischen Texten) ders. derselbe Deutscher Verein für Versicherungswissenschaft DVfVW DVfVW-Veröff. Veröffentlichungen des Deutschen Vereins für Versicherungswissen­ schaft (historische Zeitschrift) Eberhard Schmidt E. Schmidt Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staa­ EAGB ten (1785) ebd. ebenda Einf. Einführung Einl. Einleitung entspricht / entsprechen entspr. Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhält­ Entwurf Dresd. OR nisse (Dresdener Obligationenrechtsentwurf von 1866) et cetera etc. f. folgende(r) Friedrich Ebel F. Ebel Febr. Februar (in historischen Texten) ff. fortfolgende Fn. Fußnote FS Festschrift Frhr. Freiherr Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft GdV Gesetz- und Verordnungsblatt für das Königreich Sachsen GBl. Sachsen ggf. gegebenenfalls Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz GStA PK Heinrich Simon H. Simon HA Hauptabteilung HAG Handelsappellationsgericht Sammlung der Verordnungen der Freyen Hanse-Stadt Hamburg (ab HambGS 1814) Hanseatisches Oberlandesgericht in Hamburg HansOLG Handwörterbuch der Versicherung HdV HGB Handelsgesetzbuch HGB-Entwurf Preußen Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten (1857) Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg HGB-Entwurf  Württemberg (1839) Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte HRG Hrsg. Herausgeber Hs. Halbsatz Handwörterbuch des Europäischen Privatrechts HWB-EuP in der Regel i. d. R. in der Fassung vom i. F. v. in Preußen (geographische Angabe) i.Pr. im Sinne des / der i. S. d. in Verbindung mit i. V. m.

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Abkürzungsverzeichnis

inkl. inklusive insbes. insbesondere Jhdt. Jahrhundert Jg. Jahrgang Allgemeine Juristische Monatsschrift für die Preußischen Staaten Jur. Monatsschrift (historische Zeitschrift) Juristische Wochenschrift (historische Zeitschrift) JW Kammergericht in Berlin KG KO Kabinettsordre Königl. Königliche(r) Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft KritV Kritische Zeitschrift für die gesammte Rechtswissenschaft (historiKrit. Zs. ges. Rw. sche Zeitschrift) Ludwig Raiser L. Raiser lit. Buchstabe (littera) Rundschau der Versicherungen, begründet von Dr. E. A. Masius (hisMasius’ Rs. torische Zeitschrift) max. maximal Mitteilungen für die öffentlichen Feuerversicherungs-Anstalten (hisMitt. öff. FV torische Zeitschrift) Mark Mk. / m k. Motive zum Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Kö­ Mot. BGB Bayern nigreich Bayern (1861) Motive zum Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Mot. HGB Preußen Staaten (1857) Motive zum Entwurf eines Handelsgesetzbuches für das Königreich Mot. HGB   Württemberg Württemberg (1839) Motive zum Versicherungsaufsichtsgesetz (1901) Mot. VAG Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (1908) Mot. VVG n. Chr. nach Christus Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium Prae­ NCC cipue Marchiarum (Preußische Gesetzessammlung) Nummer (in historischen Texten) No. Bundesgesetzblatt des Norddeutschen Bundes Norddt. BGBl. Nr. Nummer oder ähnliche(s) o. ä. O.-L. Ober-Lausitz (geographische Angabe) OAG Oberappellationsgericht Octbr. October (in historischen Texten) OLG Oberlandesgericht perge, perge (und so weiter, in historischen Texten) p. p. Peter Koch P. Koch Prozent (in historischen Texten) PC. / pCt. Principles of European Insurance Contract Law PEICL Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten (1793) PrAGO Assecuranz- und Havereyordnung für sämtliche Königl. Preußl. Staa­ PrAHO ten (1766) Gesetz-Sammlung für die Königlichen Preußischen Staaten PrGS

Abkürzungsverzeichnis

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Preußisches Obertribunal Protocolle der Commission zur Ausarbeitung eines allgemeinen deut­ schen Obligationenrechts Bericht der VIII. Kommission über die Entwürfe eines Gesetzes über Prot. VIII   RT-Kommission den Versicherungsvertrag Prot. XII Bericht der XII.  Kommission zur Vorberatung der Entwürfe eines   RT-Kommission ­Gesetzes über den Versicherungsvertrag Richard Ehrenberg R. Ehrenberg Rolf Raiser R. Raiser Reimer Schmidt R. Schmidt Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht RabelsZ RegBl. Württemberg Regierungs-Blatt für das Königreich Württemberg Rep. Repositur RG Reichsgericht Deutsches Reichsgesetzblatt RGBl. Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen RGZ RJA-E Reichsjustizamtsentwurf (VVG-Entwurf von 1902) Rn. Randnummer ROHG Reichsoberhandelsgericht Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts ROHGE Rspr. Rechtsprechung S. Seite S. (in Normzitaten) Satz s. siehe so genannte(r) (in historischen Texten) s. g. siehe unten s. u. Sammlung von Versicherungsbedingungen deutscher Versicherungs­ Sammlung-AVB anstalten (1908) Sect. Sectio (Abschnitt, in historischen Gesetzestexten) sect. section (Abschnitt, in englischen oder französischen Gesetzestexten) et sequentes (fortfolgende, in historischen Gesetzestexten) seqq. J. A. Seuffert’s Archiv für Entscheidungen der obersten Gerichte in SeuffA den deutschen Staaten Sp. Spalte Stat. Statut Strafgesetzbuch (1871) StGB ständige Rechtsprechung st. Rspr. Schweizerische Versicherungs-Zeitschrift SVZ Thomas Simon T. Simon Th. Theil (in historischen Gesetzestexten) Tit. Titel tom. tome (in französischen Texten) unter anderem u. a. und dergleichen mehr u. d. m. Übs. Übersetzer Urteil vom Urt. v. und so weiter usw. von / vom v. PrOTR Prot. Dresd. OR

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Abkürzungsverzeichnis

vor allem vor Christus Victor Ehrenberg Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen (Versiche­ rungsaufsichtsgesetz 1901) Var. Variante Das Versicherungsarchiv (historische Zeitschrift) VersArch VersR Versicherungsrecht (Zeitschrift) vgl. vergleiche Allgemeine Hausratversicherungsbedingungen (Stand 2016) VHB 2016 viz. videlicet („nämlich“; in englischen Texten) Vorbem. Vorbemerkung Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit VVaG Gesetz über den Versicherungsvertrag (1908) VVG Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Bundesrats­ VVG-BRV (1904) vorlage 1905/1907) Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (1903) VVG-E (1903) Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Reichstags‑ VVG-RTV  (1905/1907) vorlage 1905/1907) VW Versicherungswirtschaft (Zeitschrift) Wilhelm Ebel W. Ebel Regierungs-Blatt für das Königreich Württemberg Württ. RBl. zum Beispiel z. B. zum Exempel (in historischen Texten) z. E. zum Teil z. T. Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht (hisZHR torische Zeitschrift, ursprünglich: Zeitschrift für Handelsrecht) Ziff. Ziffer zitiert aus zit. ZRG Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (germanisti­ sche Abteilung) Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft Zs. f. dt. Recht (historische Zeitschrift) Zs. Kgl. Stat. Bureau Zeitschrift des Königlich Preussischen Statistischen Bureaus (historische Zeitschrift) Zeitschrift für Versicherungsrecht (historische Zeitschrift) ZVersR Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft ZVersWiss et cetera (in älteren Quellen) &c. v. a. v. Chr. V. Ehrenberg VAG

§ 1 Einführung und historischer Kontext A. Die Problemstellung Die Versicherung ist ein Rechtsprodukt.1 Im Gegensatz zu den meisten anderen zivilrechtlichen Geschäftstypen wie dem Kauf, der Miete, Pacht, Dienstleistung oder Spedition mangelt es der Versicherung an einem konkreten Anschauungsob­ jekt, auf welches sich das gesamte Handeln der Parteien richtet – denn den Gegen­ stand der Versicherung bildet, abstrakt gesprochen, die Übernahme einer bestimm­ ten Gefahr.2 Der eigentliche Inhalt des Vertrages, nämlich die Übernahme einer Gefahr, ist ganz alleine das Ergebnis einer Parteiverabredung. Während also bei der ganz überwiegenden Zahl der bürgerlich-rechtlichen Verträge der Gegenstand sämtlichen Handelns bereits ganz unabhängig von den Parteiabreden als verkörper­ tes Objekt oder als bestimmte Tätigkeit greifbar ist, so entsteht die Versicherung in ihrer konkreten Gestalt überhaupt erst durch den übereinstimmenden Parteiwillen. Mit anderen Worten: Wenn sich zwei Parteien über den Vertragsabschluss eini­ gen, hauchen sie der Versicherung als rechtlichem Konstrukt gleichsam das Leben ein. Der Versicherungsvertrag hat damit eine ganz eigentümliche zweigespaltene Funktion: er setzt zum einen den rechtlichen Rahmen für die Leistungs- und Ver­ haltenspflichten der Parteien, zum anderen erschafft und beschreibt der Vertrag aber den Vertragsgegenstand – die Gefahrübernahme – selbst.3 Betrachtet man nun die historische Entwicklung des Versicherungsrechts, so führt dieser Charakter der Versicherung als bloßes Rechtskonstrukt zu einer Reihe von Besonderheiten. Von ganz besonderer Bedeutung ist die zunächst recht simple Erkenntnis, dass die Versicherung als Produkt gleichzeitig mit dem Versicherungs­ recht entstehen muss. Eine Versicherung ohne Versicherungsrecht, sei es auch noch so grundlegend und primitiv, ist gar nicht denkbar. Wenn also die Versicherung von praktizierenden Kaufleuten geschaffen wurde, so wurde von denselben Praktikern zugleich auch das erste Versicherungsrecht aus der Taufe gehoben.

1 Zur Charakterisierung der Versicherung als „Rechtsprodukt“, s. insbesondere Dreher (1991), S. 145 ff. Vgl. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 126; Wandt (6. Aufl.  2016), Rn. 10, 135. 2 Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 5, 7; Dreher (1991), S. 147; Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 9, 16; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 684. 3 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 262; Dreher (1991), S.  151 ff.; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), Einl. Rn. 27; Neugebauer (1990), S. 132 (insbesondere zur „produktbeschrei­ benden“ und „gesetzesvertretenden“ Funktion der AVB); Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 10.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

Die ersten geschäftsmäßig geschlossenen Versicherungsverträge sind von italie­ nischen Seehandelskaufleuten des 14. Jahrhunderts überliefert.4 Erst nach mehre­ ren Jahrhunderten einer Entwicklung auf der internationalen Bühne des Seehan­ dels5 keimten erste rationell betriebene Feuer- und Lebensversicherer auch auf dem Festland auf.6 Als sich der deutsche Gesetzgeber zum ersten Mal mit dem binnen­ ländischen Versicherungsrecht – also dem Feuer- und Lebensversicherungsrecht – eingehend auseinandersetzte, hatte die Versicherung schon beinahe 500 Jahre fast ungehinderter Entwicklung hinter sich. Seine erste Kodifikation hat das Feuer- und Lebensversicherungsrecht nämlich erst im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 erfahren. Die deutschlandweite, abschließende Kodifikation gelang erst mit dem Versicherungsvertragsgesetz von 1908. So überrascht es kaum, dass zum Zeitpunkt seiner Kodifikation schon eine breite Vielfalt an fein ausdifferenzierten versicherungsrechtlichen Regeln exis­ tierte  – allerdings nicht in der Form von Gesetzesrecht, sondern in umfangrei­ chen vertraglichen Klauselwerken. Bereits im frühen 19. Jahrhundert verwendeten die Versicherungsgesellschaften standardisierte „Allgemeinen Versicherungs­ bedingungen“, die heute als Vorreiter auf dem Gebiet der Allgemeinen Geschäfts­ bedingungen überhaupt gelten.7 Auch die öffentlichen Versicherungsanstalten be­ nutzten zur Ordnung ihrer versicherungsrechtlichen Verhältnisse umfangreiche Reglements. Die zögerliche Haltung des Gesetzgebers hat nicht wenig mit diesen schon weit ausgeprägten, historisch gewachsenen Vertragsrechtsordnungen zu tun. Zum einen existierten schon innerhalb des vertraglichen Versicherungsrechts zahlreiche Unterarten und Verzweigungen: man denke an die Feuer-, Lebens-, Hochsee-, Transport-, Hagel-, Vieh- oder Haftpflichtversicherung, um nur einige Zweige zu nennen. Sie ließen sich nur mit großer Mühe auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Die einzelnen Versicherungszweige und damit gleichzeitig auch das Versicherungsrecht befinden sich zum anderen in stetiger Weiterentwicklung, sodass eine statische Abbildung des Rechtszustandes immer die Gefahr birgt, die Entwicklung des Rechtskonstrukts selbst zu gefährden. Und so gelangte Conrad Malß – ein Rechtsberater der Versicherungsgesellschaft „Providentia“, der auch wissenschaftlich publizierte – noch im Jahr 1862, als die

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Büchner, VW 21 (1966), 790; Dreyer (1990), S. 21; V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 26 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 375; Goldschmidt, Universalgeschichte (3. Aufl. 1891), S. 361; Manes (1905), S. 22; Müssener (2008), S. 17; Perdikas, ZVersWiss 55 (1966), 425, 502 ff.; von Zedtwitz (2000), S. 84 f. 5 V. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 9; ders., Versi­ cherungsrecht (1893), S. 22; Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1 (2. Aufl. 1875), § 3 (S. S. 11); Malß, ZHR 6 (1863), 361, 362. 6 Brämer / Brämer (1894), S. 238; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 38 ff.; von Liebig (1911), S. 22 ff. (zu englischen und deutschen Feuerversicherern); von Zedtwitz (2000), S. 130. 7 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 129; Bruck / Möller / Beckmann (9. Aufl. 2008), Einf. A Rn. 230; F. Ebel, in: HdV (1988), 617, 623; Müssener (2008), S. 4, 140; L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 26; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 136.

A. Die Problemstellung

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Versicherungspraxis schon eine beträchtliche volkswirtschaftliche Bedeutung er­ langt hatte, zu dem vielsagenden Votum:8 „Unter allen Zweigen des Rechts ist kaum einer von der Wissenschaft so vernachlässigt worden, wie das Versicherungsrecht. Entstanden auf dem hohen Meere und in den großen Emporien des Welthandels, ist es von jeher dem Binnenländer fremd, dem Stubengelehrten nahezu unverständlich geblieben. Das Versicherungsrecht hat sich rein aus den Bedürfnis­ sen des lebendigen Verkehrs entwickelt, unbeirrt von juristischer Dogmatik und Systema­ tik, unbeengt von polizeilichen und büreaukratischen Einflüssen […]. Denn eben darum, weil Gelehrte und Beamte nicht viel davon verstanden, haben sich die Gesetzgeber in die­ sem Zweige williger dem Einflusse der Geschäftsleute und Handelsgremien unterworfen, als sie es in anderen Fällen zu thun geneigt sind.“

Nach alledem drängt sich unwillkürlich der Gedanke auf, dass die gesetzliche Kodifikation des Versicherungsrechts nur den Abschluss einer praktischen Rechts­ entwicklung darstellte und sich daher ganz überwiegend an der herrschenden Ver­ sicherungspraxis orientieren musste. Und tatsächlich lautet ein weit verbreitetes Narrativ in der gesamten versicherungsrechtlichen und versicherungshistorischen Literatur, das gesetzlich kodifizierte Versicherungsrecht bilde lediglich die Ver­ sicherungspraxis ab. Selbst der Referent des Versicherungsvertragsgesetzes von 1908, Staatssekretär Nieberding, eröffnete den Abgeordneten des Reichstagsplenums, „daß der Ent­ wurf, abgesehen von einer Anzahl organisatorischer Bestimmungen und einer Anzahl von Grundsätzen mehr allgemeiner geschäftlicher Natur, im wesentlichen eine Zusammenfassung derjenigen Bedingungen enthält, unter welchen die Gesell­ schaften mit ihren Versicherten grundsätzlich die Verträge abschließen, d. h. eine Zusammenfassung der allgemeinen Versicherungsbedingungen“.9 Diese Anschau­ ung spiegelt sich seitdem in zahlreichen Forschungsarbeiten wider. Bei Gärtner ist zum Beispiel die Rede davon, das heutige Versicherungsvertragsrecht stelle bloß eine „geglättete und bereinigte Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“ dar.10 Duvinage urteilt, der Gesetzgeber habe hauptsächlich „ungeschriebenes Ge­ wohnheitsrecht“ kodifiziert und sich dabei „in den meisten Fällen lediglich auf einige Randkorrekturen beschränkt“.11 Schließlich begnügen sich Teile der moder­ nen akademischen Literatur oft schlicht mit der sinngemäßen Feststellung, man habe bereits seit langem nachgewiesen, dass das Versicherungsvertragsgesetz von 1908 die geltenden Allgemeinen Versicherungsbedingungen in gesetzliche Form gegossen habe.12

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Malß, Betrachtungen (1862), S. 3. Rede Nieberdings im Reichstag v. 22. 01. 1906 (25. Sitzung der 12. Legislaturperiode), abgedruckt in: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck 1963), S. 571, 572. 10 Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 32. 11 Duvinage (1987), S. 202. 12 P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 105, wiederum bezugneh­ mend auf Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 176. 9

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

Jedoch offenbart der nähere Blick auf die historische Entwicklung des Versi­ cherungsrechts – insbesondere des binnenländischen Versicherungsrechts – einige Ungereimtheiten, die sich mit diesem populären Narrativ nicht ohne Weiteres auf­ lösen lassen. Im Tone der Selbstverständlichkeit wird etwa oft die Meinung ge­ äußert, das Versicherungsvertragsgesetz habe die Intention gehabt, geschäftlich unerfahrenes Publikum vor den harten und unbilligen Bedingungen der Versi­ cherungspraxis schützen wollen.13 Wie verträgt sich diese populäre Redensart mit dem Narrativ vom Versicherungsrecht als „Zusammenfassung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen?“ Blickt man weiter über den historischen Horizont des Versicherungsvertrags­ gesetzes zurück, so treten noch ganz andere Ungereimtheiten zutage; sie ziehen mehr und mehr in Zweifel, dass das Versicherungsrecht wirklich nur ein Produkt des „lebendigen Verkehrs“ war. Schon die erste deutsche Kodifikation des Ver­ sicherungsrechts in Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 des Preußischen Landrechts wurde zu einem bemerkenswerten Zeitpunkt zu Papier gebracht. Die ersten dauerhaft und flächendeckend verwendeten „Allgemeinen Feuerversicherungsbedingungen“ im deutschen Rechtsraum entstanden 1812 mit der Berlinischen FeuerversicherungsAnstalt, die „Allgemeinen Lebensversicherungsbedingungen“ noch später – das preußische Landrecht mit seinen umfassenden Regeln über die Feuer- und Lebens­ versicherung datiert jedoch schon auf das Jahr 1794. Ein anderes, hauptsächlich in Deutschland anzutreffendes Phänomen ist die frühe Zweiteilung der Versicherungspraxis in einen privatwirtschaftlich und einen staatlich betriebenen Sektor. Gerade im Brandversicherungsrecht des 19. Jahrhun­ derts existierten beide Systeme nebeneinander – zum Teil mit auffälligen Unter­ schieden. Die wissenschaftliche Forschung hat sich für lange Zeit sehr intensiv mit den staatlich gelenkten Brandversicherern, den „Feuersozietäten“, und sogar mit mittelalterlichen Feuergilden beschäftigt, da sie der privatwirtschaftlichen Praxis zeitlich weit vorausgingen und damit als der Keim der deutschen Feuerversiche­ rung angesehen wurden.14 Diese akademische Prämisse will nicht so recht mit dem weit verbreiteten Narrativ zusammenpassen, das alleine die privatwirtschaftlichen Versicherungsbedingungen als Quellen des heute geltenden Versicherungsrechts bezeichnen will. Im Angesicht dieser echten oder scheinbaren Widersprüche in der bisherigen Forschung scheint es geboten, das eingangs erörterte Narrativ von der Versiche­ rungsgesetzgebung als „Zusammenfassung der Allgemeinen Versicherungsbedin­ 13

So z. B. Bruns (2015), § 3 Rn. 13; Duvinage (1987), S. 203, 206; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXXII; Müssener (2008), S. 317, 358; Neugebauer (1990), S. 102 ff.; L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 50; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 162 f.; von Zedtwitz (2000), S. 175. 14 So etwa ausdrücklich Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 32 („in ununterbrochener Fort­ setzung bis zur Gegenwart dauernde Entwicklung“ der Brandgilden). Eine ausführlichere Dar­ stellung dieser auf die Feuersozietäten und Brandgilden fokussierter Narrativen erfolgt später unter § 2 A IV.

B. Wege, Ziele und Stolpersteine der vorliegenden Forschungsarbeit 

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gungen“ differenziert zu hinterfragen. Die wissenschaftliche Literatur hat diese Problemstellung bislang eher am Rande gestreift, ohne in eine tiefere Analyse der einzelnen versicherungsrechtsdogmatischen Fragen einzusteigen: so ist die wis­ senschaftliche Forschung reich angefüllt mit Hypothesen und Proklamationen, die im Tonfall des Selbstverständlichen ausgesprochen werden, ohne auf einem soliden wissenschaftlichen Fundament zu stehen. Die vorliegende Untersuchung soll beitragen, diese Lücke zu schließen, und sich deshalb eingehend mit der Frage beschäftigen, welchen konkreten Einfluss das gewohnheitsrechtlich entwickelte, praktische Versicherungsrecht auf die historische Gesetzgebung im Bereich des Versicherungsvertragsrechts ausgeübt hat  – und damit notwendigerweise auch, welche anderen Faktoren auf die historische Gesetzgebung eingewirkt haben könnten. Am Ende soll diese Untersuchung also ein helleres Licht auf die Ent­ wicklungsprozesse werfen, die zur Genese der heutigen Ordnung des deutschen Versicherungsvertragsrechts geführt haben – die aber möglicherweise unter dem Narrativ vom Versicherungsrecht als ein reiner Spiegel der vorgesetzlichen Praxis verdeckt liegen könnten.

B. Wege, Ziele und Stolpersteine der vorliegenden Forschungsarbeit Im deutschen Raum des 18. Jahrhunderts herrschte eine große Vielfalt an ver­ schiedenen Versicherungszweigen und versicherungstechnischen Ansätzen – also lange bevor irgendein Gesetzgeber versuchte, das nicht-maritime Versicherungs­ recht in die Form eines Gesetzes zu fügen. Bevor die eigentliche Untersuchung zur Gesetzgebung im Versicherungsvertragsrecht und ihrem Verhältnis zur vor­ gesetzlichen Praxis ihren Anfang nehmen kann, wird es nötig sein, aus der schier unüberblickbaren Masse an Phänomenen des deutschen Versicherungsmarkts die­ jenigen herauszudestillieren, deren Untersuchung zielführend erscheint, um die vorhin aufgeworfene Forschungsfrage zu beantworten. Nachdem das Forschungs­ thema auf diese Weise exakter konturiert wurde, soll ein grober Fahrplan für den weiteren Gang der Untersuchung entworfen werden. Unerlässlich sind in diesem Rahmen schließlich auch noch einige Anmerkungen zu der historischen Begriffs­ verwirrung auf dem Gebiet des Versicherungsrechts.

I. Eine Untersuchung des privaten binnenländischen Versicherungsvertragsrechts und seiner Praxis Wie soeben schon angedeutet, wird sich die Untersuchung auf die beiden ältes­ ten Zweige des Binnenversicherungsrechts konzentrieren, namentlich die Feuer­ versicherung und die Lebensversicherung. Auf diese beiden Versicherungszweige hatte schon der Gesetzgeber des preußischen Allgemeinen Landrechts seinen Blick

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

gerichtet. Hingegen wird die Seeversicherung im Folgenden jedenfalls nicht zum eigenständigen Gegenstand der Betrachtung gemacht: das Seeversicherungsrecht und seine historischen Quellen haben bereits in vergangener Zeit lebhaftes wis­ senschaftliches Interesse hervorgerufen und sind dementsprechend gut erforscht.15 Für das Binnenversicherungsrecht, auf der anderen Seite, fehlt eine solche umfang­ reiche Analyse noch. Trotzdem wird das Seeversicherungsrecht auch im weiteren Gang der Untersuchung nicht völlig außer Acht gelassen werden können, nament­ lich immer dann, wenn Rechtsfiguren aus dem Seeversicherungsrecht Spuren im Feuer- oder Lebensversicherungsrecht hinterlassen haben könnten. Ferner wird auch die öffentlich-rechtliche Sozialversicherung, die in den 1880er Jahren mit den Reformen Bismarcks aus der Taufe gehoben wurde und dabei nicht den Grund­ sätzen des Privatversicherungsrechts, sondern dem staatlichen Solidargedanken folgte,16 keine gesonderte Betrachtung finden. Der Fokus dieser Forschungsarbeit liegt mithin auf dem zivilrechtlichen Gebiet des Versicherungsvertragsrechts. Mit dieser Eingrenzung auf das Binnenversicherungsrecht ist zugleich auch der zeitliche Rahmen der vorliegenden Forschung abgesteckt: die erste deutsche Kodi­ fikation des Binnenversicherungsrechts findet sich im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, die zweite und bis heute gültige im Versiche­ rungsvertragsgesetz von 1908. Das Allgemeine Landrecht wird daher den Anfang, das Versicherungsvertragsgesetz den Abschluss der vorliegenden Betrachtungen bilden. Zwischen diesen beiden Polen kam es im Übrigen noch zu einigen weiteren Kodifikationsversuchen, die sämtlich im Entwurfsstadium stecken geblieben sind, aber nichtsdestotrotz nähere Einblicke in das Verhältnis zwischen Binnenversiche­ rungspraxis und Gesetzgebung im 19. Jahrhundert liefern können. Nachdem nun aber die Grenzen dieser Forschungsarbeit klar gezogen wurden, so drängt sich doch noch eine Frage auf, die bislang außer Acht gelassen wurde: was wird im Rahmen dieser Untersuchung überhaupt unter einer „Versicherung“ verstanden, was unter der „Versicherungspraxis“? Die wissenschaftlichen Ansätze, dem Begriff der Versicherung eine klare rechtliche Kontur zu verleihen, waren zahlreich.17 Teilweise wurde zum Beispiel gefordert, dass der Versicherungsbetrieb auf rationeller Grundlage, also auf versicherungsmathematischer Kalkulation der Versicherungsprämie beruhen müsse; dadurch würden viele öffentlich-rechtliche „Versicherungsanstalten“ aus der Definition fallen, die – wie gleich noch zu sehen 15 Zu einer erschöpfenden Untersuchung der Hamburger AHO von 1731, vgl. das Werk von Dreyer, Die Assecuranz- und Havereyordnung der Freien und Hansestadt Hamburg von 1731 (1990). 16 Zur Bismarckschen Sozialversicherung insgesamt: F. Ebel, in: HdV (1988), 617, 623 f.; Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 68 f.; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 226 f.; Neugebauer (1990), S. 9; von Zedtwitz (2000), S. 189. 17 Zu einem Überblick über die zahlreichen rechtsdogmatischen Definitionsversuche im 19. Jhdt., s. z. B. von Staudinger (1858), S. 6 ff. Vgl. Dreher (1991), S. 31 ff., der auf die Inter­ disziplinarität des Versicherungswesens und die daraus resultierende Pluralität sinnvoller Be­ griffsdefinitionen hinweist; vgl. auch Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 342 ff.

B. Wege, Ziele und Stolpersteine der vorliegenden Forschungsarbeit 

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sein wird – nicht nach versicherungsmathematischen Kriterien arbeiteten, sondern eine gleichmäßige, solidarische Verteilung der eintretenden Schäden über alle ihre Mitglieder anstrebten.18 In der historischen Versicherungsliteratur erfolgten sogar Versuche, die Ungewissheit des befürchteten Ereignisses in die Definition des Versicherungsbegriffs aufzunehmen. Das hatte zur Folge, dass die lebenslange Versicherung auf dem Todesfall nicht mehr als Versicherung im rechtlichen Sinne aufgefasst werden konnte, da ja schließlich der Eintritt des Todesfalls gewiss und nur dessen Zeitpunkt ungewiss ist.19 Solche Eingrenzungen des Versicherungsbegriffs können aus Sicht der Rechts­ dogmatik durchaus sinnvoll sein, taugen aber für eine historische Untersuchung nicht. Denn viele dogmatische Figuren des Versicherungsrechts könnten sich schon gebildet haben, bevor beispielsweise der Versicherungsbetrieb auf eine versiche­ rungsmathematisch solide Stufe gehoben wurde. Innerhalb einer rechtshistorischen Analyse von vorherein solche am materiellen Recht orientieren Begriffsveren­ gungen zuzulassen, hieße im Endeffekt, möglicherweise zielführende historische Entwicklungslinien von vornherein auszuklammern. Als „Versicherung“ sollen bei den folgenden Betrachtungen daher ganz allgemein alle Einrichtungen aufge­ fasst werden, die funktional der Übernahme eines gewissen Risikos gegen Entgelt dienten, ganz gleich, ob sie bereits nach versicherungsmathematischen Kriterien arbeiteten.20 Ein ganz ähnliches begriffliches Problem wird aufgeworfen, wenn man die De­ finition des unverfänglich wirkenden Begriffs der „Versicherungspraxis“ von vorn­ herein zu eng fassen will. Wie gleich noch ausführlich gezeigt wird, existierten in Deutschland um 1800 sowohl privatwirtschaftliche als auch staatlich betriebene Versicherungseinrichtungen, die völlig unterschiedliche rechtliche Bestimmungen hervorgebracht haben – nach 1800 stießen dazu noch private Feuer- und Lebensver­ sicherer in großer Zahl, deren Geschäftspraxis sich in vielen Punkten ganz deut­ lich von der Praxis der staatlichen Feuerversicherungsanstalten abhob. Sowohl die privaten als auch die staatlichen Versicherer waren „rechtspraktisch“ arbeitende Einrichtungen, allerdings mit dem erheblichen Unterschied, dass die staatlichen Versicherer eben nicht unmittelbar aus der Handelspraxis entstanden sind, sondern durch ein formelles Gesetz ins Leben gerufen wurden. Sie verfolgten dementspre­ chend Ziele, die ihnen von staatlicher Seite vorgegeben waren. 18

So z. B. Brämer / Brämer (1894), S. 62 f.; (Ausschluss von Witwen- und Waisenkassen bzw. der Sozialversicherung als „fremdfinanzierte“ Einrichtungen); vgl. V. Ehrenberg, Versiche­ rungsrecht (1893), S. 53 f. 60 ff., wonach von vielen (aufsichts-)gesetzlichen Definitionen auch der „planmäßige Großbetrieb“ der Versicherung verlangt werde (unter Einschluss der ein­ fachen Leibrentengeschäfte); vgl. auch die Diskussion bei Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 347. 19 Vgl. z. B. Malß, Betrachtungen (1862), S. 6, 24 ff. zu den dahingehenden gesetzgeberischen und wissenschaftlichen Definitionsversuchen. 20 Die „Übernahme eines Risikos gegen Entgelt“ findet sich auch schon bei allen histori­ schen Autoren als grundlegender definitorischer Ansatz, unabhängig von weiteren begriff­ lichen Einengungen: vgl. z. B. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 3; Malß, Betrach­ tungen (1862), S. 5; von Staudinger (1858), S. 13 f.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

Sollte man im Rahmen einer rechtshistorischen Forschung diese verschiedenen Ansätze unter einen einheitlichen Begriff der „Praxis“ fassen, oder sollte man gar die staatlichen Anstalten von Anfang an aus der Analyse ausschließen, weil sie kein Produkt der privaten Vertragspraxis im engeren Sinn sind? Auch solche de­ finitorischen Erwägungen führen hier aufgrund der schieren Diversität der einzel­ nen Versicherungseinrichtungen nicht ans Ziel, sondern verzerren und verdecken eher den Blick auf die in Wahrheit stattfindenden historischen Entwicklungen. Es sollen im Folgenden stattdessen die tatsächlichen Entwicklungslinien der Gesetz­ gebung im Einzelnen nachgezeichnet und bewertet werden. Dabei werden sowohl die privatwirtschaftlichen als auch die staatlichen Versicherungsanstalten als zwei eigenständige Akteure in die Analyse einbezogen, ohne aber die tatsächliche Viel­ falt ihrer rechtlichen Gestaltungen unter die künstlich konstruierte Definition von „Versicherungspraxis“ zu zwängen. Für die Zwecke der hier in Angriff genommenen Untersuchung wird es darüber hinaus wenig zielführend sein, danach zu differenzieren, ob die untersuchten pri­ vaten Versicherungsgesellschaften als Aktiengesellschaften oder als Gegenseitig­ keitsgesellschaften auftraten. Eine solche Unterscheidung kann von entscheidender Bedeutung sein, wenn im Zentrum der Betrachtung wirtschaftshistorische oder kulturhistorische Aspekte stünden oder wenn der Forschungsschwerpunkt auf der Entwicklung gesellschaftsrechtlicher Strukturen läge. Es wurde in der älteren wie moderneren Forschungsliteratur jedoch schon verschiedentlich darauf hingewie­ sen, dass sich die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Aktien- und der größeren Gegenseitigkeitsgesellschaften jedenfalls im 19. Jahrhundert nicht mehr signifikant voneinander unterschieden.21 Die später stattfindende Analyse versi­ cherungsrechtlicher Figuren wird diesen Befund bestätigen.

II. Der Gang der Gesamtdarstellung Die nunmehr klar akzentuierte Frage, inwieweit die Gesetzgebung des Binnen­ versicherungsrechtes eine bloße Abbildung der Versicherungspraxis ist, wird im weiteren Gang dieser Forschungsarbeit in zwei Schwerpunkten erörtert werden. Den beiden eigentlichen Forschungsschwerpunkten vorgeschaltet ist ein skizzen­ hafter Überblick (§ 1 C), der einerseits die elementaren Grundprinzipien der Ver­ sicherungstechnik, andererseits den historischen Zustand des deutschen Versi­ cherungsrechts gegen Ende des 18. Jahrhunderts – also vor dem Inkrafttreten des Allgemeinen Landrechts – beleuchtet. Dieser Überblick soll die späteren dogmen­ geschichtlichen Analysen in einen breiteren Kontext einbetten. Bei dieser Gelegen­ heit werden übrigens auch die historischen Grundlagen der Seeversicherung zur Sprache kommen. Sie steht zwar nicht im Zentrum dieser Forschungsarbeit, doch 21 So z. B. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 91 f.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 9 f.; Neugebauer (1990), S. 22; von Staudinger (1858), S. 35 f.

B. Wege, Ziele und Stolpersteine der vorliegenden Forschungsarbeit 

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ist sie für die Entstehung einiger binnenversicherungsrechtlicher Prinzipien und Dogmen von so großer Bedeutung, dass sie nur um den Preis erheblicher wissen­ schaftlicher Unschärfe außer Acht gelassen werden könnte. Der sodann folgende § 2 dreht sich um die erste deutsche Kodifikation des Bin­ nenversicherungsrechts überhaupt, nämlich das Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794. Dort soll auch untersucht werden, ob das Preußische Landrecht seinerseits der Feuer- und Lebensversicherungspraxis seinen Stempel aufgedrückt hat; denn es scheint, wie in § 2 noch genauer auszuführen sein wird, tatsächlich sehr ungewöhnlich und erstaunlich, dass die privaten Feuer- und Le­ bensversicherungsgesellschaften in Deutschland erst nach 1800 Fuß gefasst haben, zu einer Zeit also, als das Binnenversicherungsrecht schon seine erste Kodifika­ tion erfahren hatte. Im Anschluss daran befasst sich § 3 mit den Versuchen einer Versicherungs­ rechtskodifikation ab der Mitte des 19. Jahrhunderts: zunächst mit den beiden Entwürfen eines württembergischen bzw. eines preußischen Handelsgesetzbuches von 1839 bzw. 1857, sodann mit dem Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern von 1861 und schließlich mit dem Dresdener Obligationen­ rechtsentwurf von 1866. Das größte Gewicht in § 3 liegt aber schließlich auf der einzigen gesamtdeutschen Kodifikation, die einen erfolgreichen Abschluss gefun­ den hat: dem noch heute geltenden Versicherungsvertragsgesetz von 1908 (VVG). § 4 wird schließlich die einzelnen Entwicklungsstränge, denen diese Forschungs­ arbeit bis dahin nachgegangen ist, nochmals aufgreifen und zu einem Gesamtbild verweben. Dieses Bild soll schließlich eine differenzierte Antwort auf die Frage liefern, inwieweit die Gesetzgebung im Feuer- und Lebensversicherungsrecht tat­ sächlich bloß ein Spiegel seiner vorgesetzlichen Praxis war. Die beiden Forschungsschwerpunkte unter § 2 und § 3 werden sich in ihrer Bin­ nenstruktur ähneln: zunächst sollen die Hintergründe und Rahmenumstände zum Zeitpunkt der jeweiligen Kodifikation erörtert werden, nämlich insbesondere der seinerzeitige Entwicklungsstand des Versicherungswesens, der äußere Gang des Gesetzgebungsverfahrens oder die charakteristischen Eigenheiten der jeweils be­ trachteten Gesetze und Entwürfe, sofern sie denn für das tiefere Verständnis der rechtlichen Entwicklung von Belang sind. Den letzten Teil des § 2 und des § 3 bildet jeweils die eigentliche rechtliche Analyse der versuchten oder vollendeten Kodifika­ tionen. Deren Zweck ist es, die Entwicklung der wichtigsten dogmatischen Figuren des Versicherungsrechts zu ergründen und auf diese Weise am Ende die eigentliche Forschungsfrage, nämlich die Frage nach den tatsäch­lichen Einflüssen der Ver­ sicherungspraxis auf die Gesetzgebung, möglichst differenziert zu beantworten. Diese rechtsdogmatische Analyse muss dabei freilich exemplarisch vorgehen: sie muss einerseits eine größere Zahl von rechtsdogmatischen Elementen in die Betrachtung einbeziehen, um nicht Gefahr zu laufen, vereinzelte Befunde irr­ tümlich zu verabsolutieren. Andererseits kann und wird diese Forschungsarbeit kein vollumfängliches Kompendium sämtlicher dogmatischer Detailprobleme des

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

Versicherungsvertragsrechts herstellen, da manche dieser Teilprobleme freilich zum Zweck der rechtshistorischen Forschung kaum fruchtbar gemacht werden können. Vielmehr soll jene Untersuchung anhand ausgewählter Beispiele ein mög­ lichst unverzerrtes, zusammenhängendes Bild über alle wesentlichen Entwick­ lungstendenzen der Rechtsdogmatik bieten, welche für die Beantwortung der hier formulierten Forschungsfrage von Belang sind.

III. Begriffliche Anmerkungen zur rechtshistorischen Forschung im Versicherungsvertragrecht Wenngleich versicherungsrechtliche Prinzipien in ihrem innersten Kern auf eine lange historische Tradition verweisen können, so sind freilich die meisten der heute verwendeten technischen Begrifflichkeiten eine Schöpfung der modernen Versicherungstechnik oder des modernen Versicherungsrechts. Das gilt insbesondere für den terminus technicus der „Obliegenheiten“, heute einer der dogmatischen Kernbegriffe des Versicherungsrechts. In historischen Quellen wurde er jedoch oft untechnisch verwendet und daher häufig mit den selbstständig durchsetzbaren Leistungspflichten gleichgesetzt.22 Ein wahres Be­ griffschaos herrscht in der historischen Literatur auch auf dem Problemfeld der „Mehrfachversicherung“. Der Begriff kann in älteren Quellen – parallel zu seiner heutigen Bedeutung – die Situation bezeichnen, dass verschiedene Versicherungen zusammen den Wert des versicherten Gegenstandes überschreiten. Gemeint sein kann auch überhaupt nur die Tatsache, dass mehrere Versicherer ein und denselben Gegenstand versichern.23 Soweit solche Begrifflichkeiten im historischen Kontext eine inhaltliche Wandlung erfahren haben, sollen sie im Fortgang der vorliegenden Untersuchung nicht unreflektiert verwendet werden, um eine anachronistische Be­ griffsbildung und die daraus drohenden analytischen Fehlschlüsse zu vermeiden. Ein ganz besonders häufig anzutreffendes Begriffsgewirr muss jedoch schon an dieser Stelle zur Sprache kommen, namentlich die Bezeichnung der Vertragspar­ teien. Unproblematisch ist nur der Terminus des „Versicherers“. Sein Vertragspart­ ner und damit der Schuldner der Versicherungsprämie heißt nach heutigem rechts­ wissenschaftlichem Verständnis „Versicherungsnehmer“, während derjenige, der im Schadensfall einen Anspruch geltend machen kann, als „Versicherter“ bezeichnet wird. Versicherungsnehmer und Versicherter können personenidentisch sein, wenn der Versicherungsnehmer sein eigenes vermögenswertes Interesse versichert.24 22 Zum Thema der „Anzeigeobliegenheit“ bei Abschluss des Versicherungsvertrages und ihrer historischen Handhabung, s. später ausführlich unter § 2 D VI. 23 Zur „Mehrfachversicherung“ und ihrer historischen Handhabung, s. später ausführlich unter § 2 D IV 2. 24 Diese noch heute gebräuchliche Begriffsbildung findet sich in der historischen Litera­ tur z. B. schon bei Brämer / Brämer (1894), S. 234; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 177 ff.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 8.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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In der Lebensversicherung hingegen herrscht eine andere Terminologie: auch dort schließt der Versicherer einen Vertrag mit dem Versicherungsnehmer; unter dem „Versicherten“ oder der „versicherten Person“ versteht man im modernen Lebens­ versicherungsrecht jedoch diejenige Person, auf deren Leben oder Tod die Versi­ cherung genommen wird. Den Empfänger der Versicherungsleistung kennt man in der Lebensversicherung hingegen als den „Begünstigten“; auch hier ist es freilich ohne weiteres möglich, dass die einzelnen Akteure in Personalunion auftreten. Die historische Versicherungsrechtswissenschaft verwendete diese Begriffe allerdings uneinheitlich25 und selbst das heute geltende Versicherungsvertrags­gesetz (VVG) trennt nicht scharf zwischen Versicherungsnehmer und Versicherten.26 Da also in dieser Hinsicht sowohl im historischen als auch im modernen gesetz­ lichen Kontext eine heillose Begriffsverwirrung herrscht, werden sich die folgen­ den Ausführungen insoweit an den Begriffen der heutigen Versicherungsrechtswis­ senschaft orientieren müssen. Immerhin können sie auf eine Tradition verweisen, die schon in großen Teilen der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts verwurzelt war. Für die meisten zentralen rechtsdogmatischen Elemente des Versicherungsrechts, die in Laufe dieser Untersuchung analysiert werden, spielt es im Kern aber ohnehin keine Rolle, ob „Versicherter“ und „Versicherungsnehmer“ personenidentisch sind oder nicht, da die allgemeine Versicherungsrechtsdogmatik im Zwei-Personen-­ Verhältnis ebenso funktioniert wie im Drei-Personen-Verhältnis.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext Zu dem Zeitpunkt, als die Kodifikation des gesamten Versicherungsrechts erst­ mals zu einem Abschluss gebracht wurde, nämlich im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, existierte bereits eine breite Vielfalt an rechtspraktisch gewachsenen Versicherungszweigen, die im Laufe der folgenden Untersuchungen als Rechtsquellen eine große Rolle spielen werden. Hauptsächlich sind das die Seeversicherung, die Feuerversicherung und die Lebensversicherung, welche im Laufe ihrer Entwicklung ganz unterschiedliche Lösungen zentraler ver­ sicherungstechnischer Probleme hervorgebracht haben – die zugrundeliegenden praktischen Problemstellungen blieben dabei allerdings stets ähnlich, und selbst grundverschiedene Versicherungszweige wie die Feuer- und die Lebensversiche­ rung kennen eine große Schnittmenge gemeinsamer rechtsdogmatischer Fragen. 25

Vgl. zum Lebensversicherungsrecht z. B. von Staudinger (1858), S. 49 f.: dort wird der heutige Versicherungsnehmer als „Versichernder“ bezeichnet; als „Versicherungsnehmer“ bezeichnet von Staudinger hingen die Person, die heute als Begünstigter bekannt ist. 26 Das heutige VVG redet in § 1 nur vom „Risiko des Versicherungsnehmers oder eines Dritten“; die begriffliche Unterscheidung zwischen „Versicherungsnehmer“ und „Versicher­ ten“ findet sich nur in den §§ 43–48 VVG zur Versicherung auf fremde Rechnung. In der Le­ bensversicherung kann die „versicherte Person“ sowohl der Versicherungsnehmer als auch ein Dritter sein (vgl. § 150 VVG), wohingegen der Empfänger der Versicherungsleistung im heutigen Gesetz als „Bezugsberechtigter“ bezeichnet wird (§ 159 I VVG).

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

Das folgende Kapitel hat daher den Zweck, einen Überblick über die grundlegen­ den Problemkreise des Versicherungsrechts sowie über die in den einzelnen Ver­ sicherungszweigen entwickelten rechtlichen Lösungsansätze zu entwerfen. Dazu wird zunächst eine Skizze über die fundamentalen Grundsätze der Versicherungs­ technik entworfen, denen man im weiteren Fortgang dieser Untersuchung immer wieder begegnen wird (I). Die folgenden Abschnitte (II–IV) behandeln zunächst die Entwicklungsgeschichte der Seeversicherung, dann der Feuerversicherung und zuletzt der Lebensversicherung bis ins späte 18. Jahrhundert; dabei werden schlag­ lichtartig sowohl die historische Entwicklung dieser Institute als auch ihre recht­ lichen Antworten auf zentrale versicherungsrechtliche Fragen beleuchtet. Anhand dieser ersten historischen Skizze wird es sodann möglich sein, den eigentlichen Gegenstand der vorliegenden Untersuchung schärfer zu spezifizieren.

I. Grundlegende Prinzipien der Versicherungstechnik Da sich die zahlreichen rechtsdogmatischen Probleme des „Rechtsprodukts“ Versicherung um Fragen der Versicherungstechnik entspinnen, also letztlich die Frage, durch welches technisch-mathematische Vorgehen die Versicherung über­ haupt einen adäquaten Ersatz leisten kann, scheint es unerlässlich, an dieser Stelle ein kurzes Wort über die grundlegende technische Funktionsweise des „Rechts­ produkts“ Versicherung zu verlieren. Der Zweck der Versicherung ist im Wesentlichen die Kollektivierung, also die gemeinschaftliche Tragung von Risiken, welche einem einzelnen Wirtschaftssub­ jekt ungleich schwerer zur Last fallen.27 Das mathematische Fundament dafür ist das Gesetz der großen Zahlen, wonach bei zufälligen Ereignissen zwar nicht vor­ ausgesagt werden kann, welches Ergebnis im Einzelfall eintreten wird, wohl aber mithilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung Prognosen getroffen werden können, wie sich die Ergebnisse innerhalb einer Masse gleichartiger Zufallsereignisse sta­ tistisch verteilen werden. Je größer die Anzahl der Ereignisse, desto exakter trifft die statistische Prognose zu.28 Transferiert man diese Erkenntnis auf das Gebiet der Versicherung, so bedeutet das: ein einzelner Mensch kann den Eintritt eines wirtschaftlichen Risikos, beispielsweise der Vernichtung von Gebäuden durch ein Brandunglück, weder abwenden noch regelmäßig alleine tragen; fasst man hin­ 27 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 236 f.; Bruck / Möller / Beckmann (9. Aufl. 2008), Einf. A Rn. 226; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 3; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 123. Zu diesen Ge­ danken bereits aus der historischen Perspektive: Büsch, Allgemeine Uebersicht (1795), S. 5 f. („daß Viele Einzelnen helfen“); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 15 f.; von Liebig (1911), S. 71 f. („Atomisierung von Vermögensschäden“); von Sonnenfels (1781), § 243 (S. 274 f.). 28 Zum „Gesetz der großen Zahlen“: ausführlich Braun (2. Aufl. 1963), S. 117 f.; Bruck /  Möller / Beckmann (9. Aufl.  2008), Einf.  A Rn. 228; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 13; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 5; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 62 f.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 125; von Zedtwitz (2000), S. 23. Aus historischer Perspektive: Babbage (1826), Vorwort S. xii ff.; Brämer / Brämer (1894), S. 98; Manes (1905), S. 107.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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gegen diese individuellen Risiken zu einem möglichst großen Kollektiv zusammen, lässt sich der insgesamt zu erwartende wirtschaftliche Schaden prognostizieren, auf die Mitglieder des Kollektivs gleichmäßig verteilen und damit wirtschaftlich beherrschbar machen.29 Die denkbar einfachste Methode der Risikokollektivierung ist das Umlagever­ fahren: zu bestimmten Zeitpunkten, meistens jahresweise, ermittelt man, welche Schäden in der vergangenen Zeit insgesamt eingetreten sind, und legt diesen Ge­ samtbedarf an wirtschaftlichen Mitteln rechnerisch auf die einzelnen Versicherten um.30 Zu vermeiden ist dabei allerdings eine Anhäufung von zusammenhängenden Risiken in einem einzelnen Kollektiv: versichert man zum Beispiel eine gesamte Häuserzeile gegen Feuer, so bedeutet ein Brand – erst recht in historischen Zei­ ten – zumeist nicht nur die Gefährdung eines einzelnen Gebäudes, sondern eben zugleich aller dicht angrenzender Gebäude. Solche gleichzeitig bei einer größeren Zahl von Versicherern auftretenden Schäden – teilweise wird hier plakativ von „Klumpenrisiken“ gesprochen – kann die Versicherungstechnik vermeiden, indem sie alle der betroffenen Einzelrisiken in unterschiedliche Kollektive eingruppiert, zum Beispiel indem jedes einzelne Risiko bei einer anderen Versicherungsgesell­ schaft gedeckt wird.31 Jedoch liegt selbst bei einer ausgewogenen Gruppierung der Risiken der Nach­ teil dieses Umlageverfahrens auf der Hand: je nach dem aktuellen Jahresbedarf an Schadensersatzmitteln sind die Beiträge der einzelnen Mitglieder starken Schwankungen unterworfen.32 Diese Gefahren können durch das sogenannte Ka­ pitaldeckungsverfahren eliminiert werden, indem anhand fortgeschrittener statis­ tischer und stochastischer Berechnungen eine Versicherungsprämie gebildet wird, die schon vor Beginn des Versicherungszeitraumes eingezahlt wird und die, falls die Versicherung über eine längere Zeit genommen wird, in stets gleicher Höhe zu periodisch wiederkehrenden Zeitpunkten erneut zu entrichten ist.33 Zu die­ sem Zweck muss zunächst die individuelle Wahrscheinlichkeit des Schadensein­ 29

Bruck / Möller / Beckmann (9. Aufl. 2008), Einf. A Rn. 228; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 4; Maurer (3.  Aufl. 1995), S.  63; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 1 Rn. 19; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 125 („Risikogemeinschaft“). Aus historischer Perspektive: Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 116 (S. 257); Brämer / Brämer (1894), S. 3; Krünitz, Bd. 13 (1788), S. 217. 30 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 270; Wandt (6. Aufl.  2016), Rn. 124; von Zedtwitz (2000), S. 20. Aus historischer Perspektive: von Berg, Bd. 1 (1795), S. 106; Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 74 f.; Brämer / Brämer (1894), S. 16; Jung (1788), § 889 (S. 379); Manes (1905), S. 117; von Pfeiffer (1779), Bd. 1 S. 335 f.; von Sonnenfels (1781), § 301 (S. 151 f.). 31 Zur Gefahr von „Klumpenrisiken“, s. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 458 („Kumul­ risiko“); Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 124, 130. Aus historischer Perspektive: von Berg, Bd. 1 (1795), S. 95 f.; Brämer / Brämer (1894), S. 3 f.; Büsch, Allgemeine Uebersicht (1795), S. 8 („Eine Assecuranz für Folgen einer grossen Landplage ist nicht möglich“). 32 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 270. 33 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 271; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 60 ff.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 127; von Zedtwitz (2000), S. 21 f. Aus historischer Perspektive: Brämer / Brämer (1894), S. 16 f.; Manes (1905), S. 118.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

tritts prognostiziert werden. Das ist innerhalb der einzelnen Versicherungszweige nur unter Berücksichtigung einer vielfältigen Palette von statistisch erforschten Risikofaktoren möglich, bei der Gebäudefeuerversicherung zum Beispiel unter Berücksichtigung der Gebäudebauweise, des Gebäudezwecks, der Gefährlichkeit der benachbarten Häuser, dem baulichen Abstand zum nächsten Haus, der Erreich­ barkeit der lokalen Feuerwehren etc. Jene statistische Wahrscheinlichkeit wird dann – so jedenfalls der einfachste, grundlegendste Kerngedanke der Versiche­ rungstechnik – mit dem potentiell möglichen Schaden multipliziert.34 So wird eine individuelle Risikoprämie oder Nettoprämie gewonnen, die dann freilich noch um diverse betriebswirtschaftliche Kostenteile erhöht wird. Die so errechneten Ver­ sicherungsprämien sollten, wenn die Berechnungen korrekt sind und der „Risiko­ pool“ hinreichend viele zahlende Mitglieder enthält, ausreichen, um den gesamten Bedarf aller Versicherten zu decken.35 Etwas anderes, also ein Verzicht auf eine risikoadäquate Prämien- oder Beitragsbemessung, gilt höchstens als geboten, wenn aus sozialpolitischen Gründen die Nivellierung unterschiedlich hoher Risiken an­ gestrebt wird  – mithin eine wirtschaftliche Unterstützung der Versicherten mit hohen Risiken durch die anderen nach dem Solidar- oder Unterstützungsprinzip.36 Die bisherigen Ausführungen beschäftigten sich im Wesentlichen mit dem Er­ satz von tatsächlich quantifizierbaren Schäden, also mit der sogenannten Scha­ densversicherung. Den Gegensatz hierzu bildet die Summenversicherung, deren frühester Vertreter die Lebensversicherung ist: der zu versichernde wirtschaftli­ che Schaden kann dort nicht direkt gemessen werden; stattdessen liegt es in den Händen der Vertragsparteien, schon im Zuge des Vertragsschlusses die Höhe der Versicherungsleistung zu fixieren.37 Im Übrigen ergibt sich aber auch hier die Prä­ mie aus der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts, bei der Versicherung auf den Todesfall also in concreto aus der Sterbewahrscheinlichkeit während einer be­ 34

Zur Berechnung „risikogerechter“ Prämien, s. Albrecht / Lippe, in: HdV (1988), 525, 530; Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 268 f.; Bruck / Möller / Beckmann (9. Aufl. 2008), Einf. A Rn. 229; Bruns (2015), § 6 Rn. 11 f.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 15 f.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 131 f. Aus historischer Perspektive: Babbage (1826), Vorwort S. xix ff.; Brämer /  Brämer (1894), S. 17 f., 258 f.; Büsch, Allgemeine Uebersicht (1795), S. 9 f.; von Liebig (1911), S. 74 ff., 144 ff.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 14 f.; Manes (1905), S. 112 ff. 35 Albrecht / Lippe, in: HdV (1988), 525, 526 ff. (zu den verschiedenen Komponenten der Bruttoprämie). Aus historischer Perspektive: Babbage (1826), S. 9 ff., 26 ff. (aus der Perspek­ tive der Lebensversicherung); Brämer / Brämer (1894), S. 18. 36 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 247, 274; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 39; Deutsch /  Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 18, weisen darauf hin, dass eine solche „soziale Beitragsgestal­ tung“ nicht nur bei staatlichen, sondern auch bei Privatversicherern vorkommen kann. Vgl. aus historischer Perspektive Brämer / Brämer (1894), S. 34 ff., 272 (zur historischen Diskussion um die Zweckmäßigkeit der Prämientarifierung). 37 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 468; Bruck / Möller / Baumann (9. Aufl. 2008), § 1 Rn. 57; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 43; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 11, 245; Prölss /  Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), vor § 74 Rn. 24; Schwebler, in: HdV  (1988),  417, 418; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 1202, 1226. Aus historischer Perspektive: V. Ehrenberg, Versiche­ rungsrecht (1893), S. 13 f.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 344.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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stimmten Zeitspanne. Abhängig ist diese von risikobildenden Faktoren wie dem Alter, dem Beruf oder dem Gesundheitszustand der versicherten Person.38 Besondere Probleme ergeben sich jedoch vor allem, wenn die Lebensversiche­ rung so ausgestaltet ist, dass der Versicherungsfall früher oder später mit restloser Sicherheit eintreten wird. Das ist insbesondere bei den überaus beliebten „gemisch­ ten“ oder „kapitalbildenden“ Lebensversicherungen der Fall, also solchen Versi­ cherungen, bei denen sowohl der Tod als auch das Erreichen eines bestimmten Lebensalters als Versicherungsfall vereinbart ist. Dann ist nicht mehr der Eintritt des Versicherungsfalles an sich ungewiss, nur sein konkreter Zeitpunkt liegt noch im Dunkeln; insofern spricht man heute von einer „Versicherung mit unbedingter Leistungspflicht“.39 Es dürfte wenig verwunderlich sein, dass in diesem Falle der Versicherungsnehmer besonders hohe Prämien zahlen muss, da schließlich die Ge­ samtheit aller versicherten Summen am Ende durch das Volumen der Prämienein­ zahlungen finanziert werden muss. Der Zweck jener Todesfallversicherung auf Le­ benszeit liegt folglich in der Vorsorge für den Fall, dass der Versicherungsnehmer verfrüht, d. h. vor Erreichen seiner statistischen Lebenserwartung, verstirbt und seine Nachkommen ohne selbst angesparte Vermögensmittel hinterlässt. Erreicht er seine Lebenserwartung exakt, hat er im Endeffekt den Unterhalt der Nachkom­ men vollkommen selbst angespart, stirbt er hingegen später, als nach statistischen Berechnungen zu erwarten gewesen wäre, finanziert er sogar die Versorgung an­ derer – ein Effekt, der diesem Versicherungsprodukt gelegentlich auch den Namen des „kollektiven Sparens“ eingebracht hat.40 Dieser Umstand hat, wie später noch zu zeigen sein wird, einen ganz entscheidenden Einfluss auch auf die rechtsdog­ matische Entwicklung der Lebensversicherung ausgeübt. Am Ende dieses kurzen Rundflugs über die elementarsten Prinzipien der Ver­ sicherungstechnik lässt sich bereits erahnen, dass das Versicherungsrecht – wie angedeutet  – nicht einfach zusammenhanglos neben der Versicherungstechnik stehen kann. Beide sind vielmehr in einem komplexen Netz von Wechselwirkun­ gen miteinander verwoben. In den folgenden Skizzen über das See-, Feuer- und Lebensversicherungsrecht wird sich umso mehr zeigen, wie die Entwicklung des Versicherungsrechts häufig ein Produkt maßgeblicher versicherungstechnischer Fortentwicklungen war. 38

Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 269; Bruns (2015), § 26 Rn. 5 f.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 85 ff.; Reichel, in: HdV (1988), 431; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 1188. Aus historischer Perspektive: Brämer / Brämer (1894), S. 100 f., 119 f.; Manes (1905), S. 217. 39 Vgl. Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 81; auch Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 364; Prölss / Martin / Schneider (30. Aufl. 2018), vor § 150 Rn. 12 („Versicherung mit unbedingter Leistungspflicht“); Wandt (6. Aufl. 2016) (speziell zur kapitalbildenden Lebensversicherung). Zu solchen Lebensversicherungsarten aus historischer Perspektive: Brämer / Brämer (1894), S. 126 ff. 40 Zu den Rechtsgedanken des kollektiven Sparens etwa Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 79 („Kapitalsammelbecken“); Goldschmidt, System des Handelsrechts (4. Aufl.  1892), § 167.1 (S. 258 f.); Malß, Betrachtungen (1862), S. 27 f.; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 61.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

II. Die Entstehung der Seeversicherung als erster rationell betriebener Versicherungszweig Der Gedanke einer Risikoübernahme gegen Entgelt trat zum ersten Mal klar definiert in der Seeversicherung hervor. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte dieser Versicherungszweig fein differenzierte rechtliche Lösungen auf viele der soeben benannten Problemstellungen des Versicherungsrechts entwickelt. Ein kur­ zer Abriss über die geschichtliche Entwicklung der Seeversicherung soll Hinter­ gründe über die Entstehung dieses Instituts sichtbar machen, bevor im Anschluss daran einige der wesentlichen Kerngedanken des Seeversicherungsrechts, wie es sich im ausgehenden 18. Jahrhunderts in Deutschland darstellte, erörtert werden. 1. Die Entstehung der Seeversicherung als kaufmännisches Gewohnheitsrecht internationaler Prägung Als die Wiege des Seeversicherungsrechts kann man die europäischen Staaten des Mittelmeeres bezeichnen, allen voran die italienischen Kleinstaaten, welche schon in der Antike regen Seehandel betrieben haben. Die enormen Gefahren der hohen See waren für den einzelnen Kaufmann weder vorhersehbar noch finanziell beherrschbar, die Aussicht eines finanziellen Totalverlusts stellte ein Hemmnis für den Handelstrieb dar.41 Schon in der Zeit der römischen Antike waren deshalb Ideen entwickelt worden, um die Schiffe und ihre kostbare Fracht vor den Gefahren der hohen See abzusichern: so konnte ein Kaufmann, der an einer solchen Unter­ nehmung beteiligt war, einen Kredit in Form eines Seedarlehens (foenus nauti­ cum) aufnehmen, welcher nur im Falle der wohlbehaltenen Ankunft des Schiffes verzinst zurückgezahlt werden musste.42 Die eigentliche rechtliche Konstruktion der Versicherung, wie man sie heute kennt, war im römischen Recht aber noch unbekannt und trat erst im 14. Jahrhundert ans Licht.43 Es wird gemutmaßt, dass die im Mittelalter stark angestiegene Gefahr der Seeräuberei zu einem erhöhten Bedürfnis der Seekaufleute nach finanzieller Absicherung geführt hat, ohne die ein rationeller Seehandel im großen Stil nicht möglich gewesen wäre.44 41

R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 370; Perdikas, ZVersWiss 55 (1966), 425, 507. Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 1 S. 4; Boehart (1985), S. 27; Dreher (1991), S. 13; W. Ebel, ZVersWiss 51 (1962), 53, 54; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 27 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 370; Goldschmidt, Universalgeschichte (3. Aufl.  1891), S. 362 f.; ­Manes (1905), S. 172; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 45; Neugebauer (1990), S. 114 f.; ­Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht (2. Aufl. 1950) S. 20; von Zedtwitz (2000) S. 48 ff. 43 Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 1 S. 22; Dreyer (1990) S. 20; W. Ebel, ZVersWiss 51 (1962), 53, 54 f.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 26; P. Koch, Geschichte der Versicherungs­ wissenschaft (1998), S. 20 ff.; Lewis (1889), S. 1 ff.; Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 303 (S. 103); Neugebauer (1990), S. 43; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 540 (S. 4 ff.); Zwierlein (2011), S. 64 (zum historischen Streit um den modernen oder römisch-rechtlichen Charakter der Versiche­ rung). 44 Braun (2. Aufl. 1963), S. 28 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 375. 42

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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Die erste geschichtlich erwiesene Versicherungsurkunde findet sich in einem Genueser Notariatsarchiv und datiert auf das Jahr 1347.45 Die Versicherung war hier noch als ein fingierter Kaufvertrag gestaltet, nämlich indem ein versichernder Kaufmann vor Beginn der Schiffsreise die Schiffsladung erwarb; allerdings war der Kaufvertrag auflösend bedingt für den Fall, dass das Schiff die Reise wohlbe­ halten überstand.46 Mit anderen Worten: für die Dauer der Schiffsreise übernahm ein anderer Kaufmann das Risiko des Warenverlusts. Während dieses Geschäft noch auf die Versicherung einer Schiffsladung, des Schiffskargo, abzielte, fanden sich schon wenig später ganz ähnliche Vertragsurkunden zur Absicherung des Schiffskasko, also des Schiffskörpers selbst.47 Schon bald gewannen diese beiden Frühformen der Seeversicherung an Flexi­ bilität, indem nicht mehr, wie ursprünglich, ein Notar solche Verträge entwarf, sondern die Kaufleute unter Mitwirkung von Handelsmaklern selbst auf Versi­ cherungspolicen zeichneten. Nachweisbar sind solche „Maklerpolicen“ erstmals 1385 in Pisa. Die Überbleibsel der ersten Anfangszeit, nämlich die Einkleidung in einen fingierten Kaufvertrag, hatte die Seeversicherung zu dieser Zeit schon abge­ legt.48 Während allerdings die Kaufleute des 14. Jahrhunderts die Assekuranz als Nebengeschäft zu ihrem eigentlichen Handel betrieben, begannen einige Kaufleute im 15. Jahrhundert, sich ausschließlich auf die Übernahme von Versicherungen zu spezialisieren und hoben so den Beruf des Assekuradeurs aus der Taufe.49 Die Schiffsassekuranz war damit vom handelsrechtlichen Hilfs- zum Hauptgeschäft geworden. Schon zu dieser Zeit verstanden es die Versicherungskaufleute, die Seerisiken nach rationellen Gesichtspunkten zu bewerten, indem zum Beispiel die Prämien für eine Versicherung je nach Gefährlichkeit der Reiseroute, baulichem Zustand des Schiffes oder aktuellen Nachrichten über die politische Lage höher oder niedriger bemessen wurden.50 Andererseits übernahm fast nie ein einzelner Assekuradeur das Risiko eines gesamten Schiffes oder seiner Ladung; die Regel war vielmehr 45 Braun (2. Aufl. 1963), S. 30; Dreyer (1990) S. 21 (verweist aber bereits auf ein florentini­ sches Statut von 1332); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 28; R. Ehrenberg, ZVers­ Wiss 1 (1901), 368, 376; Goldschmidt, Universalgeschichte (3. Aufl.  1891), S. 361; M ­ anes (1905), S. 22; P. Koch, Bilder (1978), S. 9; Plaß / Ehlers (1902), S. 21 f.; von Zedtwitz (2000) S. 83 (datiert die erste Notariatsurkunde schon auf das Jahr 1343). 46 Boehart (1985), S. 28; Braun (2. Aufl. 1963), S. 30 (spricht von „Versicherungsdarlehen“); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 37; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 376; Manes (1905), S. 301; Perdikas, ZVersWiss 55 (1966), 425, 504 f.; Perdikas, ZVersWiss 59 (1970), 151, 152 f.; Plaß / Ehlers (1902), S. 22; von Zedtwitz (2000) S. 83 f. 47 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 28. 48 Braun (2. Aufl. 1963), S. 30; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 31, 38; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 377; Goldschmidt, Universalgeschichte (3. Aufl. 1891), S. 374 f.; von Zedtwitz (2000) S. 90. 49 R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 378; Goldschmidt, Universalgeschichte (3. Aufl. 1891), S. 369; von Zedtwitz (2000) S. 92. 50 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 32; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 378; Hagena (1910) S. 32.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

eine Verteilung des Risikos über mehrere Assekuradeure, sodass die Mehrfachver­ sicherung in der Seeversicherung zu einer absolut üblichen Erscheinung wurde.51 Fruchtbaren Boden fanden solche Ideen an den Seeversicherungsbörsen der großen italienischen Handelsstädte, die zu Versammlungsstätten einflussreicher Kaufleute und vor allem zu den ertragsreichsten spätmittelalterlichen Informationsquellen über alle Arten von Nachrichten und Risiken geworden waren.52 Auf diesen Markt stießen ab dem 17. Jahrhundert vermehrt auch „Assecuranz-Compagnien“, also Aktiengesellschaften, die das maritime Versicherungsgeschäft betrieben.53 Rasch hatte sich die Seeversicherung weit über Italien hinaus bei vielen see­ fahrenden Staaten etabliert, denn der internationale Seehandel trug dazu bei, den Gedanken einer rationellen Versicherung auf empirischer Basis über das Mittel­ meergebiet und darüber hinaus zu verteilen. Zunächst tauchen Seeversicherungs­ verträge in Spanien und Portugal auf, kurze Zeit später erreichen sie auch England und die Niederlande, wo insbesondere Antwerpen als ein mittelalterliches Zentrum des Seehandels die Ideen der Assekuranz aufgriff.54 Den deutschen Raum erreichte die Seeversicherung jedoch – jedenfalls gemes­ sen an der Entwicklung in anderen Staaten – relativ spät. Der deutsche Seehan­ del konzentrierte sich zu dieser Zeit hauptsächlich auf die Hansestadt Hamburg, und auch hier waren die Handelsumsätze zu dieser Zeit noch relativ gering – man handelte hauptsächlich mit Holz, Leinen und Bier –, sodass das Bedürfnis nach einer rationellen Risikoverteilung noch nicht so drängend hervortrat wie in anderen Seefahrerstädten.55 Als sehr wahrscheinlich gilt, dass der Versicherungsgedanke von protestantischen Kaufleuten aus Antwerpen, die vor der spanischen Belage­ rung der Stadt nach Hamburg geflüchtet waren, importiert wurde; jedenfalls lau­ tete die erste Hamburger Seeversicherungspolice von 1588 auf einen Niederländer, Hans de Schotte.56 Von da ab blühte auch ein reger maritimer Assekuranzmarkt in Hamburg auf, der freilich stark vom niederländischen Seeversicherungsrecht beeinflusst war; häufig erklärten Hamburgische Policen schlicht die Antwerpener „Costumen“ für das maßgebliche Vertragsrecht.57 In anderen europäischen Staaten war die Entwicklung unterdessen schon so weit fortgeschritten, dass die jeweiligen Gesetzgeber Versuche unternahmen, das 51 Ausdrücklich Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 5 (S. 51); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 32; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 329. 52 Boehart (1985), S. 28; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 368, 379. 53 Plaß / Ehlers (1902), S. 33 f.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 33. 54 Boehart (1985), S. 28; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 24 f.; Büchner, VW 21 (1966), 790 f.; Dreyer (1990) S. 21 f.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 29; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 227; Plaß / Ehlers (1902), S. 25 ff.; von Zedtwitz (2000) S. 92. 55 Dreyer (1990) S. 26 f. 56 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 8; ders., VW 21 (1966), 790; Dreyer (1990) S. 28 f.; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 33; Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 9, 13; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 227; Plaß / Ehlers (1902), S. 57; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 161 f.; von Zedtwitz (2000) S. 102. 57 Boehart (1985), S. 29; Dreyer (1990) S. 30; von Zedtwitz (2000) S. 103.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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gesamte Seeversicherungsrecht in einheitlichen Kodifikationen niederzulegen. Bereits im Jahr 1598 erschien die Amsterdamer Ordonnanz, welche die „Costu­ men“ – die Gewohnheiten der niederländischen Seeversicherungspraxis – in eine gesetzliche Form goss. Ähnliches geschah in Frankreich durch die „Ordonnance touchant de la marine“ Ludwigs XIV. und seines Finanzministers Colbert von 1681, einer bedeutenden Seerechtskodifikation, die sich ihrerseits aus dem „Guidon de la Mer“ speiste, einer Sammlung seerechtlicher Gewohnheiten in Form eines pri­ vaten Kommentars.58 In Deutschland fiel die Vorreiterrolle bei der Kodifikation des Seeversicherungs­ rechts der Hansestadt Hamburg zu. Das Seeversicherungsrecht war damit wesent­ lich früher ins Stadium der „Kodifikationsreife“ gelangt als das deutsche Binnen­ versicherungsrecht. Nach lang andauernden Vorarbeiten wurde im Jahr 1731 die „Assecuranz- und Havereyordnung der Freien und Hansestadt Hamburg“ (AHO) geschaffen,59 im Wesentlichen geprägt durch die Vorarbeiten des Juristen, Asse­ kuradeurs und Richters Herman Langenbeck, welche nach dessen Tod von dem Juristen Johann Julius Surland zum Abschluss gebracht wurden.60 Bis zu diesem Zeitpunkt hatte, wie Langenbeck selbst während der Gesetzgebungsarbeiten kon­ statierte, reines „Mercantil Werck“, also kaufmännisches Gewohnheitsrecht, die Hamburger Seeversicherungspraxis beherrscht.61 Die selbsterklärte Intention der Hamburger AHO war es nun, mit der vorhin erwähnten häufigen Praxis, sich den „Costumen der Beurse von Antwerpen zu submittiren“, zu brechen, und an deren Stelle eine eigenständige, einheitliche Hamburgische Versicherungsordnung zu set­ zen.62 Die Reformen, die durch die Hamburger AHO schließlich 1731 zum Tragen kamen, hat Dreyer erschöpfend und ins Detail gehend untersucht. Als prägende Rechtsquellen der AHO identifiziert Dreyer anhand der handschriftlichen Notizen Langenbecks die Amsterdamer Ordonnanz von 1598 sowie die französische Ordon­ nance de la marine von 1681,63 außerdem die sogenannten „Vergleiche“ der Ham­ burger Assekuradeure. Bei Letzteren handelt es sich um privatrechtliche Verein­ barungen zwischen mehreren Assekuradeuren, in denen jene sich auf gemeinsame Versicherungspraktiken einigen, beispielsweise auf Regeln zur verpflichtenden vorvertragliche Anzeige von Gefahr­umständen oder auf eine Bagatellschadens­ 58 Dreyer (1990) S. 67  f; V.  Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 13; ders., Versicherungsrecht (1893), S. 39; Immel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 3, 59; P. Koch, Bilder (1978), S. 15; Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht (2. Aufl. 1950) S. 20; von Zedtwitz (2000) S. 150. 59 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 8; ders., VW 21 (1966), 790, 795; P.  Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 23 f.; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 685; von Zedtwitz (2000) S. 152. 60 Zu der Entwicklung der AHO im Detail: Dreyer (1990) S. 42 ff., 69 ff. 61 Langenbeck (1. Aufl.  1727), IV § 2 (S. 367). Zu den Seeversicherungsgewohnheiten in Hamburg vor 1731 s. Dreyer (1990) S. 30 ff. Vgl. auch Scherner, in: Coing, Bd. II/1 (1977), S. 797, 958. 62 Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 686; von Zedtwitz (2000) S. 152 f. 63 Dreyer (1990) S. 78 ff.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

grenze von 3 % der Versicherungssumme, unterhalb derer keine Versicherungs­ leistungen ausgezahlt wurden.64 Als vierte wichtige Einflussquelle vermutet Dreyer ungeschriebene, speziell Hamburgische Seehandelsgewohnheiten.65 Die auf diese Weise geschaffene AHO von 1731 galt schon unter Zeitgenossen, und zwar weit über Hamburg hinaus, als die wichtigste und einflussreichste Quelle des Seeversicherungsrechts ihrer Zeit in Deutschland.66 Die 1766 in Kraft getretene Preußische Assecuranz- und Havereyordnung etwa wird in weiten Teilen als eine getreue Kopie der AHO von 1731 betrachtet.67 Freilich wurde jedoch auch die Hamburgische AHO von einigen neuen Ent­ wicklungen und Bedürfnissen des Seeversicherungsrechts überholt. So zogen die Seeversicherer neben dem Gesetz auch ergänzende Klauseln in individuellen Ver­ sicherungspolicen heran, um etwaige Regelungslücken der AHO aufzufüllen oder die Seeversicherungsordnung der AHO zu modifizieren.68 Auf gemeinsame See­ versicherungsbedingungen vermochten sich die in Hamburg tätigen Assekuradeure allerdings nicht zu einigen. Von in diese Richtung gehenden Versuchen zeugt ein Entwurf „Beständiger Seeversicherungsbedingungen“ von 1800, welcher in der Praxis zwar kaum Anwendung fand, aber dennoch ein recht aufschlussreiches Bild über einige verfestigte Seeversicherungsgewohnheiten bietet.69 Entsprechend ihrer historischen Bedeutung als ältester rationell betriebener und ehemals bedeutendster Versicherungszweig hat die Seeversicherung eine ausgie­ bige Behandlung in der historischen Wissenschaft erfahren. Im Gegensatz zur Bin­ nenversicherung sind sich bei der Seeversicherung die meisten wissenschaftlichen Autoren einig, dass sie ihren Ursprung in den international geprägten Gewohnhei­ ten der Seehandelsleute habe. Einige Autoren bezeichneten das Seeversicherungs­ recht gar als „Welt-Gewohnheitsrecht“, da die internationale Rechtentwicklung sehr ähnliche, wenn auch nicht ganz gleiche Normen hervorgebracht hat.70

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Dreyer (1990) S. 52 ff. und 78 ff. Zu den „Vergleichen“ der Hamburger Assekuradeure auch Büchner, VW 21 (1966), 790, 795; Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 84. 65 Dreyer (1990) S. 81 f. 66 Z. B. bezeichnete § 30 des Plans der Preußischen See-Akkuranzkompagnie von 1825 die Hamburgische AHO als „das in der Handelswelt bekannteste Gesetz“; dazu vgl. Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59. 67 Dreyer (1990) S. 205; Duvinage (1987), S. 4; vgl. auch P. Koch, VersR 45 (1994), 629; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 683 f.; Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 99; Neugebauer (1990), S. 28. 68 Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 3 S. 32; Dreyer (1990) S. 202. 69 Bruck (1930), S. 12; Dreyer (1990) S. 202; Dreher (1991), S. 24. 70 Malß, ZVersR 1 (1866), 1, 2. Ähnlich zum „universellen Charakter“ der Seeversicherung: V. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923) S. 9; ders., Versicherungs­ recht (1893), S. 22; Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1 (2. Aufl. 1875), § 3 (S. 11); Lewis (1889), S. 6; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 362; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328.

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2. Der Rechtszustand der Seeversicherung im 18. Jahrundert Im Zuge jener seit dem 14. Jahrhundert fortschreitenden Entwicklung kann die Seeversicherung auch im deutschen Raum – namentlich in Hamburg und Preußen – auf eine Vielzahl historisch gewachsener Rechtsregeln verweisen. Vor allem die Hamburger Assecuranz- und Havereyordnung von 173171 behandelte den gesamten Seeversicherungsvertrag mit ihren 23 Titeln in umfassender Weise. In wesentlichen Kernpunkten stimmte die drei Jahrzehnte später erlassene preußische Assecuranzund Havereyordnung von 1766,72 welche vor allem den Versicherungsgeschäften in den brandenburgisch-preußischen Ostseestädten eine gesetzliche Form zu geben versuchte, mit dem Hamburgischen Seeassekuranzrecht überein. Vor Augen halten muss man sich bei alledem, dass das Seeversicherungsrecht von einigen besonderen Wesensmerkmalen geprägt ist, die aus den charakteristischen Eigenheiten des Seehandels resultierten. Ganz entscheidend für die Entstehung eini­ ger jener Regeln war die Vereinsamung des Handelsschiffes auf hoher See: vor dem Aufkommen moderner Kommunikationsmittel existierten von Schiff und Ladung zum Teil monatelang keine verlässlichen Informationen.73 Auf der anderen Seite standen enorme Werte auf dem Spiel; ein Schiff mitsamt seiner kostbaren Ladung war jedenfalls mit den Werkzeugen der damaligen Versicherungstechnik kaum durch einen einzelnen Assekuradeur versicherbar, was – wie schon angedeutet – zur Beteiligung mehrerer Versicherer an einem Schiff oder seiner Ladung führte.74 Zu den eigentümlichen Besonderheiten des Seeversicherungsrechts gehört auch, dass es sich ausschließlich um Sonderrecht der Seekaufleute handelte – ein Versi­ cherungsprodukt, das im Endeffekt aus der Verhandlung zweier annähernd gleich starker, in Gewinnerzielungsabsicht agierender Handelspartner entsprungen ist. Im Folgenden wird, gewissermaßen als erster und keineswegs auch nur ansatz­ weise erschöpfender Orientierungspunkt, eine Skizze des deutschen Seeversiche­ rungsrechts des 18. Jahrhunderts entworfen. Seine wesentlichen Rechtsquellen lagen in der bereits erwähnten Hamburger AHO, die ein Abbild in der preußischen AHO fand, sowie in den daneben bestehenden vertraglichen Vereinbarungen oder ungeschriebenen Handelsgebräuchen. In Tit. I Art. 3 AHO wurden einige Unterarten der Seeversicherung aufge­ zählt, für welche die AHO in ihrem Anhang sieben Musterpolicen bereitstellte. Es handelte sich dabei um die Schiffskaskoversicherung,75 die Versicherung auf 71

Assecuranz- und Havereyordnung der Freyen und Hansestadt Hamburg (1731), abge­druckt bei Dreyer (1990) S. 267. 72 Assecuranz- und Havereyordnung für sämtliche Königl. Preußl. Staaten (1766) (NCC IV, 83). 73 V. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923) S. 5; Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht (2. Aufl. 1950) S. 18. 74 Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht (2. Aufl. 1950) S. 18. 75 Vgl. auch § 27 Hs. 1 PrAHO (1766).

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

die transportierten Waren (Schiffskargoversicherung)76 sowie auf Bodmerei- und Frachtgelder. Grundsätzlich deckten diese Seeversicherungszweige nach Tit.  V Art. 1 AHO77 alle Risiken der hohen See, insbesondere von Stürmen, feindlichen Angriffen, Schiffbrüchen oder -bränden ab, ausgenommen Schäden durch natür­ lichen Verschleiß oder Verderb versicherter Gegenstände (Tit. V Art. 7).78 Dane­ ben existierten spezielle Versicherungen für die Gefahren für das Leben der Pas­ sagiere, gegen die Gefahr feindlicher Gefangennahme oder Tötung durch Türken („Assekuranz gegen Türcken-Risiko“),79 sowie gegen die speziellen Risiken der Grönlandfischerei80 und der Flussschifffahrt.81 Schon die Tatsache, dass die AHO in ihrer Anlage gebräuchliche „Musterpolicen“ abdruckte, legt eine starke Orien­ tierung der AHO an der herrschenden Seeversicherungspraxis nahe. Als lohnenswert erweist sich in diesem Zusammenhang auch ein kurzer Blick auf die in den AHOen geregelte Lebensversicherung – im Wesentlichen entweder eine Versicherung auf den Todesfall der Schiffsbesatzung zugunsten derer Nach­ kommen oder aber die Versicherung eines Gläubigers gegen den Tod seines see­ fahrenden Schuldners. Alleine die Existenz dieses Instituts in der AHO zeugt von der Durchsetzungskraft der Hamburgischen Handelsgewohnheiten. Diese Art von Versicherung war in früherer Zeit als sittenwidriges Spekulationsgeschäft auf das eigene Leben verboten.82 In Hamburg setzten sich hingegen die liberalen Gewohn­ heiten der Praxis durch: namentlich bekannt sind zum Beispiel die Hamburgischen Konvoikapitäne Wilhelm Anthonsen und Peter Schröder, die sich in ihr Kapitäns­ amt teuer eingekauft hatten und anschließend Lebensversicherungsverträge ab­ schlossen, da sie befürchteten, ihren Familien im Falle eines vorzeitigen Todes untragbare Mengen an Schulden zu hinterlassen.83 Die Hamburger AHO über­ nahm diese Art der Versicherung in Tit. I Art. 3, Tit. X Art. 1 ohne Vorbehalte.84 Wendet man den Blick nun auf die Frage, in welchem konkreten Umfang der Seeversicherer das Risiko übernehmen durfte, so wird man feststellen, dass sich in der Seeversicherung das Verbot jeder Bereicherung durch die Versicherung restlos 76

Vgl. auch §§ 22, 23, 26 PrAHO (1766) (erlaubte Handelswaren und Vieh). Vgl. auch §§ 45, 64 PrAHO (1766). 78 Vgl. auch §§ 46, 65 PrAHO (1766). Dazu Dreyer (1990) S. 136 f.; Hagena (1910), S. 6. 79 Die Versicherung auf das Leben, die Freiheit und das „Türcken Risiko“ waren in engem Zusammenhang geregelt: Tit. X Art. 1 AHO (1731); §§ 24, 25, 139 ff. PrAHO (1766). 80 Tit. I Art. 3 AHO (1731), s. auch die Musterpolice VI im Anhang der AHO; § 32 PrAHO (1766). 81 Tit. I Art. 3 AHO (1731), s. auch die Musterpolice VII im Anhang der AHO. 82 Z. B. Cap.  VI Art. 10 Königlich-Preussisches See-Recht (1727) (Textausgabe, Königs­ berg 1770); häufig angeführt wird auch das Verbot der Lebensversicherung in Frankreich, vgl. ­Emérigon (1783), tom. 1 ch. 8 sect. 1 (S. 198) („la vie de l’homme n’est pas un objet de commerce; & il est odieux que sa mort devienne la matiere d’une spéculation mercantille“). Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 1 S. 53; Dreyer (1990) S. 153; Duvinage (1987), S. 5; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 609. 83 Dreyer (1990) S. 153; vgl. Langenbeck (1. Aufl. 1727), IV § 68 (S. 409 f.). 84 Vgl. auch §§ 24, 139 ff. PrAHO (1766). Dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 1 S. 54. 77

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durchgesetzt hat.85 Versicherbar war gem. Tit. III Art. 3 AHO maximal der volle Sachwert, im Übrigen unterlag die Wahl der Versicherungssumme der Willkür der Parteien.86 Nur bei Kenntnis der legislatorischen Vorgeschichte offenbart diese Klausel den Charakter der AHO als liberales Sonderrecht der Kaufleute: alle see­ versicherungsrechtlichen Regelungsvorbilder hatten bis dahin die Versicherung nur zu einem gewissen Teil des Versicherungswerts zugelassen, gleichsam aus Furcht vor betrügerischer Ausnutzung der Versicherung, und ließen den Versicherungs­ nehmer ein Teil des Risikos selbst tragen.87 Diese Spur staatlicher Intervention be­ seitigte die AHO im Sinne der Kaufmannschaft ganz bewusst und ließ, einer spe­ zifisch Hamburgischen Gewohnheit folgend, die unbeschränkte Vollversicherung zu.88 Auch die Versicherung imaginären Gewinns war nicht verboten.89 Als ebenso liberal kann man die Regel des Tit. VI Art. 1 AHO zur Überver­ sicherung bewerten, wonach der Vertrag außer im Falle bewussten Betruges im Sinne des Tit. XX Art. 1 AHO90 trotzdem vollumfänglich gültig blieb, wobei im Schadensfall freilich nur der tatsächliche Schaden ausgezahlt wurde; es lag im Ergebnis also am Versicherungsnehmer, die Korrektur der Versicherungssumme nach unten zu verlangen, um etwaigen überhöhten Versicherungsprämien zu ent­ gehen.91 Etwas vorsichtiger wirkten die Regelungen zu der für das Seerecht ganz charakteristischen Versicherung durch mehrere Versicherer. Jene war nur mit Zu­ stimmung aller Versicherer wirksam (Tit. I Art. 5 AHO); überstiegen die einzel­ nen Versicherungssummen zusammen aber das versicherbare Interesse, so waren die zeitlich später abgeschlossenen Versicherungen insoweit unwirksam und die Prämie dennoch dem Assekuradeur verfallen (Tit.  VI Art. 3). Eine Ausnahme existierte bei der Unterzeichnung mehrerer Assekuradeure auf ein und derselben Police (Tit. VI Art. 3 II AHO): hier wurde für den Fall, dass die einzelnen Ver­ träge in ihrer Gesamtheit das versicherte Interesse überstiegen, die Versicherungs­ summe jedes Vertrages anteilig herabgesetzt.92 Eine Regel zur Unterversicherung 85 Nach Benecke (2. Aufl.  1810) Bd. 1 S. 257, sind die Prinzipien des versicherten Inte­ resses „so in der Natur der Sache begründet, daß sie überall ihre Anwendung finden, wo nicht eingeführte Gesetze und Gebräuche etwas davon abweichendes bestimmen“; vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 15; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 38. 86 Vgl. auch § 21 PrAHO (1766). 87 Dreyer (1990) S. 122 (so z. B. in der Amsterdamer Ordonnance von 1598 oder der Rotter­ damer Ordonnance von 1721). 88 Dreyer (1990) S. 122 ff. mit Hinweis auf eine handschriftliche Anmerkung Surlands in den Gesetzgebungsmaterialien zur Hamburgischen AHO, welche die Erlaubnis der Vollversicherung als „qtra oia iura maritima“ bezeichnet. Vgl. auch Langenbeck (1. Aufl. 1727), § 29 (S. 390 f.). 89 Tit. III Art. 2 S. 1 AHO (1731); § 34 PrAHO (1766). Zu kameralistischem Schrifttum zu imaginärem Gewinn in der Seeversicherung vgl. Hagena (1910) S. 65; von Sonnenfels (1781), § 248 (S. 276 f.). 90 Enstpr. §§ 202, 203 PrAHO (1766); vgl. Dreyer (1990) S. 180. 91 Vgl. auch§ 52 PrAHO (1766) mit derselben Beweislastregelung in § 104 S. 2. Dazu auch Hagena (1910) S. 65 f. 92 Vgl. insgesamt auch §§ 107–109 PrAHO (1766). Zu dem Themenkomplex auch Dreyer (1990) S. 142 f.

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kannten die beiden AHOen nicht, doch war es in der Versicherungspraxis üblich, den Schaden in diesem Falle proportional im Wertverhältnis der Versicherungs­ summe zu Versicherungswert zu kürzen.93 Bezüglich der Dauer der Versicherung wies das Seeversicherungsrecht einige Eigenheiten auf, denn im Gegensatz zu anderen Versicherungszweigen war der Vertrag nicht auf einen kalendermäßig bestimmten Zeitraum, sondern in der Re­ gel auf die Dauer einer Seefahrt zugeschnitten. So übernahm der Versicherer die Gefahr gemäß Tit. V Art. 11, 12 AHO sowohl bei Schiffskasko- als auch Kargo­ versicherung regelmäßig von der Einladung bis zur Ausladung („Löschung“) der Waren und erhielt für diesen Zeitraum eine einheitliche Prämie.94 Diese zeit­ liche Beschränkung auf eine einzelne Schifffahrt galt in Ermangelung ande­ rer Vorschriften auch für die Lebensversicherung der AHO. Über die maritime Lebensversicherung kann also nicht als ein langfristiges Altersvorsorgeprodukt geredet werden. Vielfältige Folgefragen zog dagegen die in der Seeversicherung praktizierte, erwerbswirtschaftlich orientierte Kalkulation der Risikoprämie nach sich. Der nach empirischen oder rationellen Kriterien arbeitenden Versicherer hatte vitales Inte­resse daran, von denjenigen Risiken zu erfahren, nach denen die Prämie be­ messen wurde. Daher hatte der Versicherungsnehmer den Versicherer von gewis­ sen Umständen in Kenntnis zu setzten, nämlich wenn sich in Kriegszeiten waf­ fenfähige Stoffe wie unter anderem Pulver, Blei oder Salpeter an Bord befanden (Tit. IV Art. 10 AHO) oder wenn es sich bei dem Schiff um ein gekapertes Schiff, ein sogenanntes Prisenschiff, handelte (Tit. IV Art. 11 AHO).95 Im Unterlassungs­ fall entfiel nach diesen Vorschriften der Anspruch auf die Versicherungsleistung. Dieselbe Rechtsfolge traf den Versicherungsnehmer, wenn er während der Ver­ tragsdauer ohne Einwilligung des Versicherers am versicherten Gegenstand will­ kürliche Änderungen vornahm (Tit. I Art. 5 S. 2 AHO) oder gar das Schiff oder die Reiseroute wechselte (Tit. V Art. 18 Hs. 2, Tit. VII Art. 5 S. 2 AHO).96 Ins­ gesamt hatte sich in der AHO noch keine abstrahierte Dogmatik zu den Fragen der Gefahrenanzeige oder Gefahränderung herangebildet. Die gesetzlichen Re­ gelungen erschöpften sich in der kasuistischen Aufzählung praktisch relevanter Einzelfälle. Im eigentlichen Schadensfall stand das Seeversicherungsrecht dann schließlich vor dem Problem, wie der ersatzfähige Schaden zu ermitteln und zu berechnen 93

Vgl. etwa Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 535; Malß, Betrachtungen (1862), S. 57 f.; ders., ZVersR 1 (1866), 6, 14; Müssener (2008), S. 249; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 685 (S. 685). 94 Vgl. §§ 53, 55 PrAHO (1766) (jeweils für die Schiffskasko- und Kargoversicherung). Dazu auch Dreyer (1990) S. 139 f. 95 Vgl. auch den noch umfangreicheren § 38 Hs. 2, 41 PrAHO (1766). Insgesamt Dreyer (1990) S. 130 ff. 96 Vgl. auch §§ 76, 77 PrAHO (1766) zur Verzögerung der Reise oder zur Veränderung der Reiseroute mit zahlreichen kasuistischen Ausformen in den folgenden Vorschriften.

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war. Hier schlugen diejenigen seeversicherungsrechtlichen Besonderheiten ganz verstärkt durch, welche aus der Isolierung des Schiffes auf hoher See resultierten: wie sollte der Assekuradeur die tatsächliche Schadenshöhe ermitteln, wenn das Schiff samt Ladung an unbekannter Stelle gesunken war? Für den Fall, dass das Schiff einfach ohne Nachricht verschollen blieb, hatte sich aus praktischen Bedürfnissen das Rechtsinstitut des Abandonnierens entwi­ ckelt.97 War die Ankunft des Schiffes länger als drei Monate über die gewöhn­ liche Reisezeit hinaus ausgeblieben, konnte der Versicherte dem Versicherer nach Tit. IX Art. 1 AHO den Abandon, gleichsam die „Aufgabe“ des Schiffes, erklä­ ren.98 Sodann hatte der Versicherer binnen zwei Monaten 92 % der gezeichneten Summe auszukehren (Tit. IX Art. 2 AHO),99 erwarb aber im Gegenzug durch die Abandon­erklärung ipso iure das Eigentum am versicherten Gegenstand – sollte dieser denn wieder auftauchen.100 War dem Versicherten der Schaden allerdings wirklich bekannt geworden, so hatte er dem Versicherer sofort Anzeige davon zu erstatten und ihm eine provi­ sorische Schätzung des Schadens innerhalb eines Jahres – bzw. bei Schiffsreisen außerhalb Europas innerhalb zweier Jahre – nach dem Unglückstag vorzulegen (Tit. XVI Art. 1 AHO).101 Sodann konnte der Schaden auf tatsächlicher Grundlage ermittelt werden. Zu diesem Zwecke bediente man sich der Hilfe sachverständiger Schadensschätzer, indem bei Schäden am Schiffskasko gemäß Tit. XII Art. 1 AHO Zimmerleute, Repschläger und Segelmacher beigezogen wurden.102 Bei Schäden an der Schiffsladung war hingegen nach Tit. XII Art. 3 AHO die Hilfe vereidigter Taxadeure vorgeschrieben, welche den Schaden unter Heranziehung diverser Han­ delsurkunden schätzen.103 Teilbeschädigte Waren mussten öffentlich versteigert und der Verkaufserlös auf die Schadenersatzsumme angerechnet werden (Tit. XII Art. 5 AHO).104 Weil jedoch dieses Verfahren für beide Parteien Beweisrisiken und potentiell uferlose Streitigkeiten mit sich brachte, hatte sich in der Praxis die Ver­ wendung von „taxierten Policen“ eingebürgert, welches sich ebenfalls in Tit. XII Art. 5 AHO niederschlug: war demnach der Wert des Schiffes oder der Ware schon vor Reisebeginn sachverständig geschätzt und auf der Police notiert worden, so konnten die Parteien diese vorvertragliche Taxe als den beschädigungsfreien Wert dieser Gegenstände annehmen – trat nun ein Totalschaden ein, entsprach der Scha­

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Hagena (1910) S. 68. Zum Abandon insgesamt Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 3 S. 485 ff.; Dreyer (1990) S. 156 f. 98 Vgl. auch § 151 PrAHO (1766). 99 Vgl. auch §§ 152 ff. PrAHO (1766) mit differenziert abgestuften Fristenregelungen je nach Reiseroute des Schiffes. 100 Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 3 S. 538. 101 Vgl. § 94 PrAHO (1766); dazu auch Dreyer (1990) S. 173 ff. 102 Vgl. auch § 179 PrAHO (1766). 103 Vgl. auch § 182 PrAHO (1766). 104 Vgl. auch § 184 PrAHO (1766).

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den einfach der Taxe, bei Partialschäden ergab er sich aus der Differenz der Taxe und dem Versteigerungserlös.105 Angesichts der hier knapp beleuchteten Auswahl an seeversicherungsrecht­ lichen Normen, die keineswegs auch nur einen leisen Anspruch auf Vollständig­ keit erheben soll, lässt sich zumindest summarisch ersehen, dass sich etliche Nor­ men der beiden AHOen nicht unerheblich an Hamburgischen und internationalen Seehandelsgewohnheiten orientiert haben. Hält man sich vor Augen, dass das die historische Seeassekuranz im Großen und Ganzen ein Produkt aus Vertragsver­ handlungen fachkundiger Kaufleute war, typischerweise nicht auf die „schützende Hand“ des Staates angewiesen, so kann dem Hamburger Seeversicherungsrecht nach dieser Gesamtschau zentraler Vorschriften eher ein handelsrechtlich-prag­ matischer Charakter attestiert werden. Dieser Eindruck wird sich noch verstärken, wenn sogleich, gewissermaßen im Kontrast dazu, das Recht der Feuerversicherung zum Ende des 18. Jahrhunderts einer ersten Untersuchung unterzogen wird.

III. Die dualistische Entwicklung des Gebäude- und Mobiliarfeuerversicherungswesens bis ca. 1800 Im Gegensatz zur Seeversicherung lag das Gebäudefeuerversicherungsrecht seit dem 17. Jahrhundert in Deutschland in staatlicher Hand, indem öffentliche Gebäu­ debrandkassen die Versicherungslandschaft dominierten. Deren Zielsetzung war keine erwerbswirtschaftliche; und so hatten sich auch die rechtlichen Strukturen die­ ser Brandkassen an ganz andere Bedürfnisse anzupassen als die Seeversicherung. Erneut soll an dieser Stelle ein knapper historischer Abriss über die Entwicklung des Feuerversicherungswesens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erfolgen, bevor im Anschluss das charakteristische rechtsdogmatische Innenleben dieser staat­ lichen Institutionen beleuchtet wird. Im Anschluss daran soll ein rascher Seitenblick auf die denkbar geringe Zahl von erwerbswirtschaftlichen Feuergesellschaften geworfen werden, die am Ende des 18. Jahrhunderts ihre Tätigkeit in Deutschland aufnahmen; aufgrund der Dominanz der staatlichen Gebäudeversicherer blieb ihnen größtenteils nur die Feuerversicherung beweg­licher Gegenstände erlaubt. 1. Von den Hamburger Feuerkontrakten zum dichten Netz preußischer Gebäude-Feuersozitäten War die Vorsorge und Unterstützung bei Brandunglücken in der Frühzeit und Antike noch Aufgabe einzelner Familienverbände gewesen,106 so wuchs ab dem 105

Nach § 42 S. 2 PrAHO (1766) war diese vorvertragliche Taxation bei Schiffen zwingend; sie wurde der Schadensberechnung gem. § 178 zu Grunde gelegt. Dazu insgesamt Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 1 S. 479 ff. 106 R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 101, 102; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 3.

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Mittelalter, als also die Familienstrukturen auch auf heutigem deutschen Gebiet allmählich in dörflichen und städtischen Gesellschaften aufgingen, das Bedürfnis nach einer gegenseitigen Absicherung gegen alle Arten von Naturgewalten. Diese Aufgabe übernahmen die Gilden, die zunächst die Vorsorge gegen alle möglichen Schicksalsschläge übernahmen. Sie bemühten sich in etwa um die Krankenfür­ sorge und um Begräbnisse für ihre Mitglieder, organisierten nach Bränden gegen­ seitige Unterstützungsleistungen oder boten bei feindlichen Angriffen Schutz und „Blutrache“. In vielen Fällen spielten seit dem Aufblühen des Christentums auch religiöse Motive eine Rolle bei der Bildung solcher Gilden.107 Kaufleute schlos­ sen sich, parallel dazu, zu berufsständischen Zünften mit ähnlichen Funktionen zusammen.108 In der frühen Neuzeit begann die Spezialisierung einiger dieser Gilden: aus den ursprünglich polyfunktionalen Institutionen wurden zum Teil besondere Brand-, Toten- oder Knochenbruchgilden, die sich auf die Absicherung ihrer Mitglieder gegen je ein bestimmtes Schadensereignis konzentrierten.109 Spezielle Brandgil­ den sind in Schleswig-Holstein verbürgt: erste urkundlich nachweisbare Gilden fanden sich dort im ländlichen Raum ab dem 16. Jahrhundert.110 Diesen frühen Brandgilden war aber gemein, dass sie oft noch zahlreiche religiöse oder gesel­ lige Nebenzwecke erfüllten, indem sie zum Beispiel Schützenfeste oder gesel­ lige Trinkgelage abhielten oder für das christliche Begräbnis ihrer Verstorbenen sorgten111 – die eigentliche Brandunterstützung beschränkte sich zunächst auf die Leistung von Naturalien oder auf gemeinschaftliche Hand- und Spanndienste der Mitglieder zum Wiederaufbau abgebrannter Häuser. Später begannen einige der schleswig-holsteinischen Brandgilden auch, gemeinsame Geldvorräte zu bilden oder im Schadensfalle Geldbeträge von ihren Mitglieder einzuziehen.112 Zu einer 107

Zu den Gilden insgesamt von Gierke, Bd. 1 (1868), S. 221 ff.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 101, 104 f.; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 225 f.; ders., in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 14; Müssener (2008) S. 17; Neugebauer (1990), S. 11; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 3; von Zedtwitz (2000) S. 71 f. 108 R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 101, 107; Frommknecht, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 76 f.; P.  Koch, in: HdV (1988), 223, 226; ders., in: Peiner  (Hrsg.)  (1995), S. 13, 16 ff.; von Liebig (1911) S. 8; Neugebauer (1990), S. 11. 109 von Gierke, Bd. 1 (1868), S. 1049; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 15; von Liebig (1911) S. 9. 110 Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 26; Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 175; Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 215 ff.; P. Koch, Bilder (1978), S. 23; ders., Geschichte der Versi­ cherungswirtschaft (2012), S. 26 ff.; ders., in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 15; von Liebig (1911), S. 10; Manes (1905), S. 336; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 33; von Zedtwitz (2000) S. 123 ff. 111 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 6; W.  Ebel, Feuerkon­ trakte (1936) S. 34; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156; ­Schaefer (1911) Bd. 1 S. 52 ff. 112 Brämer / Brämer (1894) S. 235; Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 5; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 36; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 36; Helmer, Geschichte, Bd. 2 (1926), S. 483 ff.; von Liebig (1911) S. 12; Müssener (2008) S. 18 f.; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 42 f.; von Zedtwitz (2000) S. 123 ff.; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895) S. 21 f.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

rationellen und vollständigen Absicherung gegen Brandfälle reichte die Unterstüt­ zung kaum aus, zumal etliche Gilden große Teile ihrer Geldvorräte in geselligen „Gildegelagen“ aufzehrten.113 Davon zeugt auch die Existenz zahlreicher anderer Arten der Brandunterstützung, zum Beispiel karitative Brandkollekten,114 obrig­ keitliche Steuernachlässe für Brandopfer oder das vom Regionalherrscher ge­ spendete „Gnadenholz“.115 Populär war aber vor allem der „Brandbettel“, zu des­ sen Zweck dem Geschädigten ein kirchlicher oder obrigkeitlicher „Bettelbrief“ ausgestellt wurde, verbunden mit der Erlaubnis, benötigte Gelder durch Bettelei einzutreiben. Zahlreiche Quellen berichten, wie sich der Brandbettel bald zur „Landplage“ entwickelt hatte, weil vor allen Dingen der Betrug mit gefälschten Bettelbriefen sein Unwesen trieb.116 Eine erste, andeutungsweise rationelle Ausgestaltung fand das frühe Feuerver­ sicherungswesen dann in Form der Hamburger Feuerkontrakte. Zum ersten Mal wurde ein solcher Feuerkontrakt am 03. 12. 1591 geschlossen:117 es handelte sich um einen Zusammenschluss von 100 Hamburger Brauereieigentümern, die sich gegenseitig verpflichteten, im Brandfall pro Kopf 10 Reichstaler an den geschä­ digten „Consorten“ zu zahlen.118 Dieser war nach Erhalt seiner Geldentschädigung verpflichtet, sein abgebranntes Brauhaus wiederaufzubauen.119 Jene Wiederauf­ baupflicht erklärt sich aus dem Zweck der Schadensersatzzahlungen, die nämlich nicht nur zugunsten des Geschädigten, sondern ausdrücklich „synem Renthener thom besten“ erfolgte, also zum Vorteil der Grundkreditgeber; denn der Grund­ erwerb erfolgte in Hamburg schon zu dieser Zeit in aller Regel darlehensfinanziert und das Gebäude auf dem erworbenen Grund diente als dingliche Sicherung des 113 W.  Ebel, Feuerkontrakte (1936), S. 37 f.; R.  Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 36; ­Schaefer (1911), Bd. 1 S. 58 f. 114 Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 63. Im Detail Schaefer (1911) Bd. 2 S. 81 ff. 115 Schaefer (1911) Bd. 2 S. 94; von Liebig (1911) S. 14. 116 Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 62 f. Vgl. auch R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 36; Hagena (1910) S. 10; P. Koch, Bilder (1978), S. 46 f.; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 2 f.; von Liebig (1911) S. 13 f.; Manes (1905), S. 336; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 91 ff. 117 Boehart (1985), S. 2); Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 4; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 7; vgl. auch Frommknecht, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 76; Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 175; P. Koch, Bilder (1978), S. 24; ders., Geschichte der Ver­ sicherungswirtschaft (2012), S. 29; Manes (1905), S. 337; Plaß / Ehlers (1902), S. 200; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 166. 118 Boehart (1985), S. 29; Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 4; ders., VW 21 (1966), 790, 791 f.; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 8, 15 f.; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 32; P. Koch, Bilder (1978), S. 24; ders., S. 30; von Liebig (1911) S. 11; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895) Bd. 1 S. 24; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 167; von Zedtwitz (2000) S. 124 f. 119 Boehart (1985), S. 30; Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1,4; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 27; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 8; P. Koch, Bilder (1978), S. 24; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895) Bd. 1 S. 24; Plaß / Ehlers (1902), S. 200; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 157; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 166.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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Kredits.120 Im Endeffekt verfolgte der erste Feuerkontrakt von 1591 damit kein an­ deres Ziel, als den Realkreditgeben ihre Sicherheit auch im Brandfalle zu erhalten. Die Hamburger Feuerkontrakte waren von Anfang an rein wirtschaftliche Zweckverbände, bei welchen der gesellige oder religiöse Charakter vollständig zu­ rücktrat.121 Trotzdem hat es immer wieder Versuche in der historischen Forschung gegeben, eine gerade Traditionslinie von den schleswig-holsteinischen Brandgilden zu den Hamburger Feuerkontrakten zu ziehen:122 Forscher wie von Gierke oder Helmer wollten in den Brandgilden einen Ausdruck eines „unerschöpflichen ger­ manischen Associationsgeistes“ sehen,123 der auch die Feuerkontrakte beeinflusst haben musste,124 seien doch alle „kapitalistischen“ Erwägungen jenem „germani­ schen“ Genossenschaftsgeist fremd.125 Tatsächlich deutet die modernere Forschung aber auf zahlreiche Unterschiede zwischen den Hamburger Feuerkontrakten und dem Gildewesen: neben der Abwesenheit aller gesellig-religiösen Elemente in den Feuerkontrakten wird vor allem darauf hingewiesen, dass schon der erste „Kon­ trakt“ von 1591 alleine eine Ersatzverpflichtung in Geld vorsah, der sich zu einem subjektiven Rechtsanspruch des einzelnen Mitglieds verdichtet hatte,126 während die schleswig-holsteinischen Brandgilden die Mitglieder, die ihre Verpflichtungen nicht erfüllten, lediglich mit Strafen zum Besten der gesamten Gilde belegten.127 Es liegt daher die Schlussfolgerung nahe, dass nicht die Gilden vorbildhaft für die Feuerkontrakte gewirkt haben, sondern vielmehr die Gedanken der Seever­ sicherung, welche im Jahr 1588, also drei Jahre vor dem ersten Feuerkontrakt, in Hamburg angekommen waren.128

120

Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 4; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 28; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 26 f.; Manes (1905), S. 337; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 157; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 169. 121 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 7; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 40 f.; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 168. 122 Zum Streit insgesamt: Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 5; W.  Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 33; P.  Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 29 (neigt zu den Brandgilden als Ursprung der Feuerkontrakte); Schaefer (1911) Bd. 1 S. 167 ff.; von Zedtwitz (2000) S. 130. 123 von Gierke, Bd. 1 (1868), S. 3. Gelegentlich wird dieser ideologisch eingefärbte Aus­ druck des „germanischen Associationsgeistes“ unreflektiert übernommen: P. Koch, in: ­Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13. 124 So z. B. Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 33 ff.; ders., Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 225 f.; von Hülsen, Zs. Kgl. Stat. Bureau 7 (1867), 321, 322. 125 So ausdrücklich Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 225 f.; vgl. dazu auch von Zedtwitz (2000) S. 71. 126 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 6; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 41; Müssener (2008) S. 19. 127 W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 39 f.; zu Beispielen s. Schaefer (1911) Bd. 1 S. 30 ff.: die Itzehoer Liebfrauen-Gilde (1477) sah bei Verstoß gegen die Gilderegeln z. B. eine Strafgabe in Form von Bier und Wachs vor. 128 W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 32 f. und 42; ganz ausdrücklich Schaefer (1911) Bd. 1 S. 163 ff.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

Wesentlich einiger ist sich die Forschung über die weitere Entwicklung der „Feuerkontrakte“: während des 17. Jahrhunderts entstanden nach dem Muster des ersten Kontrakts von 1591 zahlreiche ähnliche Vereinbarungen mit stetig sich verfeinernden Klauselwerken, namentlich ab 1606 auch unter Wohnhauseigen­ tümern.129 Auch das Bewusstsein für eine versicherungsmathematisch sinnvolle Verteilung von Risiken begann hier zu keimen: beginnend mit einem Kontakt von 1628 sorgten die Kontrahenten dafür, dass nebeneinander liegende Häuser nicht unter das Dach desselben Kontrakts gebracht wurden, weil Brände häufig auf das Nachbarhaus oder ganze Straßenzüge übersprangen und dadurch die Gemeinschaft der Versicherten unter übermäßigen Belastungen gelitten hatte.130 Nichtsdestotrotz stießen auch die Kontrakte mit ihren jeweils ungefähr einhundert Mitgliedern an die Grenze der Belastbarkeit, als im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts mehrere verheerende Brandkatastrophen die ganze Hansestadt verwüsteten. Der schwerste dieser Stadtbrände ereignete sich 1676. Er zeigte, dass die Feuerkontrakte den ab­ gebrannten „Consorten“ oft nur unzureichenden Schadensersatz bieten konnten, während sie die übrigen Mitglieder oft übermäßig finanziell belasteten.131 Bürgerschaft und Rat in Hamburg kamen infolgedessen zu der Erkenntnis, dass eine hinreichende Schadensdeckung am besten durch eine einheitliche Feuerkasse für das gesamte Stadtgebiet gewährleistet werden könne. Noch im Jahr des großen Brandes erließ die Stadt Hamburg daher die „General-Feur-Cassa-Ordnung“ vom 30. 11. 1676,132 welche sämtliche bis dahin im Hamburger Stadtgebiet existierenden Feuerkontrakte zu einer einzigen, unter staatlicher Verwaltung stehenden Brand­ versicherungsanstalt verschmolz133 und zugleich die rechtlichen Regelungen dieser 129

W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 10. Eine Aufzählung sämtlicher bekannter 46 Feuer­ kontrakte zwischen 1591 und 1676 findet sich bei Schaefer (1911) Bd. 1 S. 170–172. 130 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 10; W. Ebel, Feuerkon­ trakte (1936) S. 13 (über einen Feuerkontrakt von 1628 mit dem Titel „Neue Brandordnung“); P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 30. 131 Boehart (1985), S. 30; Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 10; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 51; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 43 f.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 30; Ohlmeier / Spohnholtz, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 51, 53; Plaß / Ehlers (1902), S. 200 ff.; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 174; Schmitt-Lermann (1954), S. 41; von Zedtwitz (2000) S. 131. 132 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa v. 30. 11. 1676, abgedruckt in FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 118. Zur Gründung und den rechtlichen Bestimmungen der General Feur-Ordnungs Cassa vgl. auch Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 11 f.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 27; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 52; R.  Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 37; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 44 f.; P. Koch, Bilder (1978), S. 24; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 30; von Liebig (1911) S. 17 f.; Manes (1905), S. 338; Müssener (2008) S. 25; Plaß / Ehlers (1902), S: 203 f.; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895) Bd. 1 S. 43; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 174 ff.; Schmitt-Lermann (1954), S. 41; von Zedtwitz (2000) S. 156 ff.; Zwierlein (2011), S. 223 ff. 133 Art. 1 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676). Vgl. Büchner, VW 21 (1966), 790, 792; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 52; Brämer / Brämer (1894) S. 235; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 37 (bezugnehmend auf die Hamburger Feuerkontrakte als „eine An­

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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Kontrakte in sich aufnahm.134 Die so geschaffene Hamburger Generalfeuerkasse kann als Prototyp aller späteren staatlichen Brandkassen angesehen werden. Einen gesetzlichen Beitrittszwang kannte die Generalfeuerkasse noch nicht;135 wer sich bei der Kasse versichern ließ, konnte sein Haus zu einer beliebigen Summe ein­ schreiben lassen, solange diese nicht den Höchstbetrag von 15.000 Mark über­ schritt und zugleich mindestens „ein quart Risico“ noch vom Eigentümer selbst getragen wurde.136 Traf ein derart versichertes Mitglied der Brandfall, so wurde bei Totalschäden die eingeschriebene Summe ausbezahlt,137 bzw. bei Teilbeschädigun­ gen der tatsächlich entstandene Schaden von besonders vereidigten Maurer- und Zimmerleuten ermittelt.138 Ihre Leistungen finanzierte die Feuerkasse aus einem einheitlichen Kassenfonds, welcher aus Eintrittsgeldern der Mitglieder sowie aus jährlich zu zahlenden, nach der Höhe der Versicherungssumme gestaffelten Bei­ trägen angefüllt war.139 Nur, soweit dieser Fonds die Schäden nicht hinreichend decken konnte, hafteten die Mitglieder noch persönlich für die benötigten Ersatz­ zahlungen, namentlich im Verhältnis der eingezeichneten Summen.140 Der Funke der staatlich organisierten Feuerversicherung sprang rasch auf das Hamburger Umland und später auf andere deutsche Territorien über. Einen Anteil daran trugen auch die Schriften des Philosophen Leibniz und anderer Gelehrter, die offen die Vorzüge solcher staatlichen Einrichtungen bewarben und dadurch halfen, den Gedanken der staatlich betriebenen Feuerversicherung über weite Ge­ biete zu verbreiten.141 Im Zentrum stand für jene wissenschaftlichen Autoren des ausgehenden 17. und des gesamten 18. Jahrhunderts vor allem das staatstheoreti­ sche Konzept des Kameralismus, das in Deutschland nach dem Dreißigjährigen Krieg vorherrschte. Angesichts der flächendeckenden Verwüstungen und zahllosen Toten, die der Krieg hinterlassen hatte, erklärte der Kameralismus das stetige Be­ völkerungswachstum und die Mehrung des allgemeinen Wohlstandes als absolut essentiell für einen gesunden Staat. Denn eine hohe Zahl an wohlhabenden, sess­ haften Untertanen führe zu sprudelnden Steuereinnahmen, zu gesunden Staats­ zahl kleiner Brandgilden“); P. Koch, Bilder (1978), S. 24; ders., Geschichte der Versicherungs­ wirtschaft (2012), S. 30; ders., in: HdV (1988), 223, 226; Müssener (2008) S. 25; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 175. 134 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 12; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 55; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 45; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 175. 135 W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 52. 136 Art. 2 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676). 137 Art. 6 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676). 138 Art. 8 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676). 139 Art. 3, 4 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676). 140 Art. 7 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676). 141 Vgl. Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 15; ders., VW 21 (1966), 790, 792; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 53 f.; P. Koch, Bilder (1978), S. 48; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 31; ders., Geschichte der Ver­ sicherungswissenschaft (1998), S. 57; ders., Pioniere (1968), S. 106 f.; von Liebig (1911) S. 16; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 111; Schmitt-Lermann (1954), S. 47; von Zedtwitz (2000) S. 160; ­Zwierlein (2011), S. 229 f.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

finanzen und damit einer stabilen Grundlage für die Militär- und Machtpolitik eines Staates.142 Eine möglichst flächendeckende Gebäudefeuerversicherung sa­ hen die Kameralisten als ein wertvolles Instrument dieser Staatsphilosophie an, zumal doch das eigene Haus das Zentrum des privaten Wirtschaftens und insbe­ sondere eine verlässliche Besteuerungsgrundlage war.143 Die weitverbreitete und missbrauchsanfällige Praxis des „Brandbettels“ trug hingegen nichts zur Wohl­ fahrt des Staates bei und sollte durch die Feuerversicherung verdrängt werden.144 Gründungen von staatlichen Brandversicherungsanstalten nach dem Vorbild der Hamburger Generalfeuerkasse fanden sich schon 1677 in Harburg und 1685 in Magdeburg.145 Von besonderer Bedeutung sind insbesondere die Feuersozietäten in Preußen, obwohl jene zunächst nur unter großen Schwierigkeiten ins Leben geru­ fen worden waren. Eine Feuersozietät des „Großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm kam 1685 nicht über das Stadium der Planung hinaus;146 es folgte der zweimalige Versuch Friedrichs I., durch zwei Gesetze vom 26. 01. 1701 und vom 15. 10. 1705 ein verpflichtende staatliche Gebäudefeuerversicherung für das gesamte preußi­ sche Staatsgebiet zu errichten. Die verarmte preußische Landbevölkerung fasste solche Versuche aber eher als versteckte Steuer auf und leistete daher vehementen Widerstand gegen die Pläne des Königs, bis schließlich der preußische Staat zur Einsicht gelangte, von seinem Plan wieder abzurücken.147 Stattdessen rief König Friedrich Wilhelm I. einige Jahre später eine Vielzahl kleinerer Feuersozietäten ins Leben, die jeweils nur auf einem räumlich eng eingegrenzten Territorium tä­ 142

Braun (2. Aufl. 1963), S. 167 ff.; Dreher (1991), S. 14 f.; Hagena (1910) S. 14 f.; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 588; von Liebig (1911) S. 20; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 134 ff.; Schmitt-Lermann (1954), S. 33 f.; T. Simon, in: HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 1540 f. 143 Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 16; von Justi (2. Aufl. 1759), § 263 (S. 194); Krünitz, Bd. 13 (1788), S. 214 f.; von Pfeiffer (1779), S. 336 f. Vgl. Hagena (1910) S. 16; Müssener (2008) S. 24; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 226; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 135; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895) Bd. 1 S. 40. 144 Hagena (1910) S. 73; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 59; Müssener (2008) S. 20; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895) Bd. 1 S. 40; von Zedtwitz (2000) S. 1. 145 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 15; W. Ebel, Feuerkon­ trakte (1936) S. 63. Zu den einzelnen Brandkassen im Hamburgischen Umland (z. B. in Altona 1714, in den Vierlanden 1722, in Bergedorf 1746 oder in Billwärder 1774) ins Detail gehend Ohlmeier / Spohnholtz, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 51, 70 ff. Vgl. auch W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 57; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 31 f.; Schaefer (1911) Bd. 1 S. 178 ff.; von Zedtwitz (2000), S. 210 f. (v. a. zum Vorbildcharak­ ter der Hamburger Generalfeuerkasse). 146 W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 63; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 32 f.; Müssener (2008) S. 26; Manes (1905), S. 338; Prange, Theorie des Versiche­ rungswertes (1895) Bd. 1 S. 41; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 136 ff.; B.  Schmidt, ZVersWiss 10 (1910), 78; Zwierlein (2011), S. 290. 147 Vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 236; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 64; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 38; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 60 ff.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 33; Lammel, in: Coing Bd. II/2  (1976), S. 571, 712; von Liebig (1911) S. 18 f.; Manes (1905), S. 339; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 140 ff.; B. Schmidt, ZVersWiss 10 (1910), 78 ff.; Zwierlein (2011), S. 296.

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tig waren. Die erste dieser kleineren Brandkassen war die noch heute existente Berliner Feuersozietät von 1718.148 Der Versuch kleinräumig operierender Brand­ versicherungsanstalten gelang, und schon bald breiteten sich ähnliche staatliche Einrichtungen innerhalb und außerhalb Preußens aus, zunächst in der Kur- und Neumark (1719), sodann in Magdeburg (1721), Kursachsen (1731) und Gebieten Schleswig-Holsteins (1731). Es folgten Feuersozietäten beispielsweise in Schlesien (1742), Breslau (1749), Hannover (1750), Stettin (1750), Detmold (1752), Ansbach (1754) oder Lübeck (1765),149 um nur einige frühe Gründungen zu nennen. Vom versicherungstechnischen Standpunkt aus betrachtet arbeiteten diese Institutionen entweder ausschließlich auf ein bestimmtes Stadtgebiet oder aber das „platte Land“ beschränkt, da man es für wirtschaftlich geboten hielt, möglichst nur gleichartige, also relativ ebenmäßig hohe Risiken innerhalb einer Sozietät zu bündeln.150 Eines Beitrittszwanges mussten sich zu diesem Zweck nur einige der Brandkassen be­ dienen; andere Kassen hingegen erlebten von sich aus nunmehr einen so regen Zuspruch aus der Bevölkerung, dass der preußische Staat seinen Untertanen den Beitritt freistellte.151 In jedem Fall besaß aber die öffentliche Hand das Monopol auf solche Brandversicherungsanstalten,152 sodass für private Initiativen insoweit kein Platz mehr blieb.

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Büchner, VW 21 (1966), 790, 792; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 64; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 38; Helmer, Entstehung und Entwicklung (1936), S. 67 ff.; P. Koch, Bilder (1978), S. 48; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 33 f.; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 226; ders., Pioniere (1968), S. 133; von Liebig (1911) S. 19; Manes (1905), S. 339; Müssener (2008) S. 26; Neugebauer (1990), S. 13; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 157; Schaefer (1911) Bd. 2 163; von Zedtwitz (2000) S. 160; Zwierlein (2011), S. 295 f. 149 Eine Aufzählung aller öffentlichen Brandkassen bis Anfang des 19. Jhdts. findet sich bei Zwierlein (2011), S. 370 ff. Vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 236 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35. 38; von Hülsen, Zs. Kgl. Stat. Bureau 7 (1867), 321, 322 ff.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 34 ff. (im Detail zu vielen einzelnen Brandkassen); von Liebig (1911) S. 19; von Zedtwitz (2000) S. 160. 150 Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei Bergius, Bd. 3 (2. Aufl.  1786), S. 70; von Pfeiffer (1779), Bd. 1 S. 335. Vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 236; Hagena (1910) S. 33 f.; Krünitz, Bd. 92 (1803) S. 270. 151 W.  Ebel, Feuerkontrakte (1936) S. 64 (spricht nur von den Brandkassen mit Versiche­ rungszwang); Müssener (2008) S. 22. Zur Notwendigkeit einer Zwangsversicherung aus ka­ meralistischer Sicht Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 71; von Pfeiffer (1779), Bd. 1 S. 335; vgl. Hagena (1910) S. 46. 152 Ausdrücklich ausgesprochen z. B. in §§ 4, 5 Württembergische Brand-Schadens-Versiche­ rungs-Ordnung (1773); § 5 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Aufhebung aller anderen inländischen Versicherungsanstalten); § 4 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809); vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 9. Insgesamt zu der Vorliebe merkantilistisch und kameralistisch orientierter Staaten für öffentliche Mono­ pole: Atzpodien (1982), S. 41 f.; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 587 f.; E. Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 13 f.; E. Schmidt, Geschichte des preußischen Rechtsstaates (1980), S. 99, 195 f.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

2. Das Recht der öffentlichen Brandversicherungsanstalten – ein Produkt des Kameralismus Hinter den Reglements der staatlichen Brandversicherungsanstalten verbar­ gen sich völlig andere Erwägungen als etwa hinter den Assekuranzverträgen der Seekaufleute. Die Rechtsbildung erfolgte hier nicht etwa durch die Verhandlung gleichgestellter Geschäftspartner, sondern war vielmehr das Produkt staatlicher Initiativen, welche die Feuerversicherung vornehmlich unter den Gesichtspunk­ ten der vorherrschenden kameralistischen Staatstheorie betrachteten. Deren Ziel war es, wie erörtert, möglichst viele Bauwerke als Grundlage für solide Steuer­ einnahmen zu erhalten oder sie im Falle einer Beschädigung wiederaufzubauen. Tatsächlich lassen sich aus der großen Vielzahl aller Feuersozietäten-Reglements153 gewisse gemeinsame Grundlinien herausarbeiten,154 die vor allen Dingen Auf­ schluss darüber geben, in welchem Maße die staatliche Feuerversicherung von kameralistischen Ideen geprägt war. So versuchte man, im Sinne des Staats- und Gemeinwohls eine möglichst flä­ chendeckende Feuerversicherung für Gebäude zu gewährleisten. Wie bereits er­ wähnt, setzte der preußische Staat diese Zielsetzung nicht immer, aber jedenfalls in zahlreichen Fällen, mit den Mitteln des Versicherungszwanges durch, zum Teil in Form einer gesetzlichen Mitgliedschaft,155 zum Teil durch das Instrument des Beitrittszwangs.156 Denjenigen Anstalten, denen die Untertanen freiwillig und 153 Siehe im Folgenden: Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa v. 30. 11. 1676 (FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse [1976], S. 118); Reglement, wie es bey der in denen Resid­ entzien aufgerichteten Societät mit dem von denen Eigenthümern derer Häuser zur Ersetzung eines Feuer-Schadens aufzubringenden Beytrag zu halten v. 29. 12. 1718 (Berliner Feuersozie­ tät 1718) (abgedruckt in Schaefer (1911) Bd. 2 S. 232); Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung v. 28. 09. 1753 (abgedruckt in Schaefer (1911) Bd. 1 S. 232); Marggräflich Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung v. 25. 09. 1758 (Gerstlacher II, 476); Reglement für die auf dem platten Lande im Königreich Preussen zu errichtende Feuer-Sozietät v. 14. 05. 1769 (NCC IV, 5379 – enthält neben einem allgemeinen Teil drei verschiedene Reglements für Brandenbur­ gische Feuer-Societät, für die Saalfeldsche Societät und für die Sozietät im Insterburgschen Creiß); Herzoglich-Württembergische allgemeine Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung v. 16. 01. 1773 (Zeller / Mayer III, 871); Neue Feuer-Cassen-Ordnung für Billwärder und andere Stadt Ländereyen v. 06. 06. 1774 (Anderson I, 13); Reglement der Brand-Societät Westphalen v. 20. 06. 1778 (Scotti I, 973); Reglement zur Feuer-Societät für das platte Land in West-Preus­ sen v. 27. 12. 1785 (NCC VII, 3267); Brandversicherungs-Gesellschaft des Herzogthums Berg v. 26. 09. 1801 (Scotti II, 810); Reglement der vereinigten Land-Feuersozietät im Bezirk der Ostpreußischen Landschaft v. 22. 04. 1809 (NCC XII, 823). 154 Zur großen Ähnlichkeit der staatlichen Brandkassen-Reglements vgl. Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 714 f. 155 § 1 Hs. 1 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (freiwilliges Beitrittsrecht für Adelige gem. § 2); Art. 1 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758). 156 Art. 3 Reglement Berliner Feuersozietät (1718); § 5 Württembergische Brand-SchadensVersicherungs-Ordnung (1773) (Ausnahmen für Adelige gem. § 10 möglich); § 2 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (freiwilliges Beitrittsrecht für Klerus und Adel); vgl. auch von Liebig (1911) S. 21.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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ohne Verpflichtung beitreten durften, war die Annahme aller Versicherungsan­ träge per gesetzlichem Kontrahierungszwang vorgeschrieben.157 Auf der anderen Seite schlossen einige Feuersozietäten besonders feuergefährliche Gebäude wie Schmieden, Mühlen, Bäckerstuben oder Theaterhäuser von der Versicherung aus, um das Risikokollektiv nicht übermäßig zu belasten.158 Die betreffenden Gebäude waren zumeist nicht nur gegen das Brandereignis selbst, sondern auch gegen andere mittelbare Folgen des Feuers, vor allem Schä­ den durch Löschen oder Niederreißen zum Zwecke der Brandbekämpfung, ver­ sichert.159 Für ein unbeherrschbares und damit nicht versicherbares „Klumpen­ risiko“ hielt man hingegen in den meisten Fällen Kriegsschäden. Sie wurden nur sehr selten ausdrücklich für ersatzfähig erklärt.160 157

Art. 2 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676); Art. 1 Neue General-Feuer-CassaOrdnung (1753); Art. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschrif­ ten für die Brandenburgische Feuer-Societät); Art. 1 S. 2 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für den Insterburgschen Creiß); Art. 2 Reglement Brand­ versicherungs-Gesellschaft Berg (1801); §§ 3, 7 S. 1 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809); vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 9; Müssener (2008) S. 22, 166. 158 Art. 18 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Mühlen); Art. 2 lit. d Neue Gene­ ral-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (z. B. Pulvermühlen, Eisenwerke, Ziegelhütten); § 6 S. 2 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (allgemeine Vorschriften, z. B. Glashütten, Teeröfen, Eisenhütten und Schmelzen); § 14 Württembergische Brand-SchadensVersicherungs-Ordnung (1773) (Opern, Theater, Kirchen, Pulvermühlen, Bergwerkshütten, Eisenwerke); § 5 S. 3 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (z. B. Mühlen, Brauereien und Branntweinbrennereien); § 1 Hs. 2 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (z. B. Glashütten, Teeröfen, Eisenhütten, Schmelzen); § 3 II Reglement Brandversicherungs-Gesell­ schaft Berg (1801) (Schmelzhütten, Pulvermühlen); § 9 Reglement vereinigte Land-Feuersozie­ tät Ostpreußen (1809) (z. B. Teer- und Ziegelöfen, Eisenhütten, Pulvermühlen, strohbedeckte Schmieden). Die Hamburger General Feur-Cassa nahm alle Gebäude auf, ebenso wie die Berliner Feuersozietät (1718); so auch noch die Brand-Societät Westphalen (1778). 159 Art. 9 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (Niederreißen zur Brandbe­ kämpfung); Art. 5 Nr. 2 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Niederreißen zur Brand­ bekämpfung); Art. 15 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Niederreißen zur Brand­ bekämpfung); Art. 8 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Nachtrag zum Insterburgschen Creiß); § 54 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773); § 12 IV Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Niederreißen und Aufräumungs­ kosten); § 12 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (Niederreißen benachbarter Hausdächer zur Brandbekämpfung); § 13 S. 1 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ost­ preußen (1809) (Löschen und Niederreißen). 160 Dabei schlossen die meisten Sozietäten aber nur unmittelbare Kriegsschäden aus, also sol­ che, die infolge einer angeordneten militärischen Operation entstanden, nicht aber bloße Feuer­ schäden „bei Gelegenheit“ des Krieges: Art. 10 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät); § 20 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773); § 15 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (alle Kriegsschäden ausgeschlossen); § 18 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785); § 3 IV, VI Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801); § 20 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809). Hingegen schrieb Art. 7 Baden-Durlachi­ sche Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) ausdrücklich den Ersatz aller Kriegsschäden vor, ebenso Art. 21 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Sozietät, aber Risikoausschluss bei Verheerung ganzer Landstriche).

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

Nach der Aufnahme in die Sozietät verzeichnete die Ortsobrigkeit ein jedes einge­ schriebenes Gebäude in einem öffentlichen Kataster, wozu auch der Versicherungs­ wert, der Wert der „verbrennlichen Gebäudeteile“, vorab durch sachverständige Taxatoren ermittelt und katastermäßig erfasst wurde.161 Besonderes Gewicht legten die staatlichen Brandkassen dabei auf die Wahrung des versicherungsrechtlichen Bereicherungsverbots: kein versicherter Hauseigentümer sollte im Stande sein, ir­ gendeinen Gewinn aus dem Schadensereignis zu schöpfen – das schaffe, so argu­ mentierten die Kameralisten, vor allem schädliche Fehlanreize, welche die Mitglie­ der zu einem nachlässigen Umgang mit Feuerquellen oder sogar zu vorsätzlichen Brandstiftungen animieren könnten.162 Einige Brandkassen gingen sogar mit derart großer Vorsicht gegen potentielle Missbrauchsgefahren vor, dass sie keine Vollversi­ cherung zuließen, sondern sicherheitshalber eine gewisse Quote des Gebäudewerts versicherungsfrei bleiben musste, wie es schon die Hamburger Generalfeuerkasse von 1676 praktiziert hatte.163 In vielen anderen Fällen ließ man zwar die Versiche­ rung zum vollen Gebäudewert zu, fand aber andere Wege, um einer Bereicherung des Geschädigten vorzubeugen. Zahlreiche Sozietäten-Reglements kannten zum Beispiel Bestimmungen, nach denen der katastrierte Gebäudewert im Rahmen pe­ riodisch stattfindender Taxrevisionen fortlaufend kontrolliert wurde, um etwaige Wertminderungen am betreffenden Gebäude frühzeitig aufspüren und den Versi­ cherungswert entsprechend nach unten zu korrigieren. Nach den Vorschriften man­ cher Brandkassen durfte der katastrierte Versicherungswert sogar außerhalb jener regelmäßigen Visitationen von Amts wegen überprüft und geändert werden.164 161

Art. 1 Reglement Berliner Feuersozietät (1718); Art. 9 Neue General-Feuer-Cassa-­Ordnung (1753) (Taxierung nur bei Gebäudewert über 20.000 Mk.); Art. 10–16 Baden-­Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758); Art. 2, 5 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät, Eigentaxation durch den Eigentümer, Kontrolle durch Behörden möglich); §§ 21–31 Württembergische Brand-SchadensVersicherungs-Ordnung (1773); §§ 4–6 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774); §§ 3–9 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778); § 6 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785); §§ 4, 5 Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Eigentaxation durch den Eigentümer, Kontrolle durch Behörden möglich); §§ 10, 27 Reglement vereinigte LandFeuersozietät Ostpreußen (1809) (Eigentaxation durch den Eigentümer, Kontrolle durch Behör­ den möglich). Vgl. auch Hagena (1910) S. 71; Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 71; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 713; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 166 (zur Berliner Sozietät von 1718). 162 Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei Jung (1788), § 892 (S. 381). Vgl. Hagena (1910) S. 28 f.; Neugebauer (1990), S. 25 f. 163 Art. 2 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (Selbstversicherung zu 1/4, ma­ ximale Versicherungssumme 15.000 Mk.); Art. 3 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Selbstversicherung zu 1/4); §§ 3, 4 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (Selbstver­ sicherung zu mind. 1/2); Art. 7 II Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (maximale Versicherungssumme 5.000 Taler); vgl. auch R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 38. Vgl. auch Hagena (1910) S. 72. 164 Insgesamt Art. 3 S. 1 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Revision des Katasters alle zwei Jahre); Art. 17 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Taxrevision alle zehn Jahre bei Einschreibungssumme über 15.000 Mk.); Art. 17–19 Baden-Durlachische BrandVersicherungs-Ordnung (1758) (jährliche Taxrevision); §§ 39–43 Württembergische BrandSchadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Taxrevision auf Antrag des Eigentümers oder bei

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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Die fortgesetzte amtliche Taxierung und Katastrierung der Gebäudewerte führte übrigens am Ende dazu, dass die rechtliche Unterscheidung zwischen Versicherungs­ summe und Versicherungswert innerhalb der Gebäudefeuerversicherung de facto gänzlich verschwamm. Versichert war ein Bauwerk schlicht und ergreifend in Höhe seiner katastrierten Summe; nur ausgesprochen wenige Brandkassen billigten ihren Mitgliedern darüber hinaus die freie Wahl der Versicherungssumme zu.165 Denk­ notwendig ergibt sich daraus die rechtliche Konsequenz, dass auch dogmatische Institute wie die Über-, Unter- oder Mehrfachversicherung – in der Seeassekuranz weit verbreitet – gar nicht regelungsbedürftig waren; letztere kam freilich auch meist schon wegen des staatlichen Versicherungsmonopols gar nicht in Frage. Wie aber funktionierte nun die konkrete Ersetzung von Brandschäden? Bei den Sozietäten handelte es sich um nichts anderes als einen durch staatliche Initiative geformten Gegenseitigkeitsverein: jedes Mitglied war gleichzeitig Versicherer und Versicherter. Die entstehenden Schäden wurden mithin vergemeinschaftet und nachträglich auf alle Mitglieder des Versichertenkollektivs umgelegt. Nach jedem Brandfall besichtigten zunächst Schadenstaxatoren die Brandstelle, welche nach einigen Reglements sachverständige Maurer- und Zimmermeister, in ande­ ren jedoch schlicht Vertreter der Ortsobrigkeit sein mussten.166 Eine tatsächliche baufälligen Gebäuden). Dazu auch Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 72; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 166 (zur Berliner Sozietät von 1718). 165 So aber z. B. Art. 2 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753); § 4 S. 3 Neue Feuer-Cas­ sen-Ordnung Billwärder (1774) (pauschale Einschreibungssumme von 1.500, 2.000, 3.000 oder 4.000 Mk. wählbar); § 1 I Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801); §§ 10, 12 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (Mindestversicherungssumme 50 Taler); die gewählte Summe durfte natürlich den Gebäudewert nicht übersteigen. Aber auch in diesen Fällen existierte streng genommen keine Unterscheidung zwischen Versicherungs­ wert und Versicherungssumme, vielmehr wurde nach Wahl des Eigentümers einfach willkür­ lich ein niedrigerer Gebäudewert im Kataster erfasst. 166 Art. 8 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (Schätzung durch „die verordne­ ten Herren Bürgere der Feuer-Ordnung“ unter Hinzuziehung von Maurer- und Zimmerleuten); Art. 6 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (zwei Vertreter der Bürgschaft, zwei Vertreter der Versichertengemeinschaft, vier Maurer und vier Zimmerleute); Art. 13 Neue GeneralFeuer-Cassa-Ordnung (1753) (Schätzung durch „Verordnete Herren“, Maurer- und Zimmer­ meister); Art. 21 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Schätzung durch Oberämter und Gerichte, in wichtigen Fällen Heranziehung von Sachverständigen); Art. 7 I, II Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenbur­ gische Feuer-Societät, Schätzung durch drei versicherte Mitglieder); Art. 11 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät, Schätzung durch Kreisdeputierte); Art. 3 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für den Insterburgschen Creiß, Schätzung durch ein Mitglied und den Sozietätsdirektor); § 50 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Oberbeamte, Magistrate und Ortsvorsteher); § 8 S. 3 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwär­ der (1774) (Zimmer- und Maurerleute); Art. 11 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Schätzung durch Ortsrichter, in Städten durch Bürgermeister oder Stadträte); § 11 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (Schätzung durch Beamte oder Landrat); § 6 I Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Schätzung durch die Obrigkeit); § 15 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (Schätzung durch drei versicherte Mitglie­ der); dazu auch Schaefer (1911) Bd. 2 S. 167 (zur Berliner Sozietät von 1718).

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

wertmäßige Schadensschätzung nahmen diese Personen aber in den wenigsten Fällen vor. Geläufig war den Sozietäten stattdessen, schlichtweg den vollen, ka­ tastermäßig erfassten Versicherungswert auszuzahlen, wenn die Taxatoren den Schaden für einen Totalschaden hielten.167 Im Falle eines Partialschadens schätz­ ten die Taxatoren meist nur schematisch ab, welcher Bruchteil des Gebäudes be­ schädigt worden war, woraufhin die Brandanstalten dann eine dementsprechende Quote des taxierten Versicherungswerts zur Auszahlung brachten.168 Der auf diese Weise ermittelte Schadensersatz wurde schließlich auf sämtliche Mitglieder der Feuersozietät umgelegt, und zwar in Proportion zu den eingezeichneten Summen; höher versicherte Mitglieder waren also einen verhältnismäßig größeren Teil des Schadens zu tragen verpflichtet als niedriger versicherte.169 Gelangte ein Mitglied mit einer zu leistenden Zahlung in Rückstand, hatte die Feuerkassenverwaltung die Beiträge „executivisch“ beizutreiben, sie also im End­ effekt wie die Zahlung von Steuerschulden zu vollstrecken. Hinzu traten meistens 167 In diesem Fall des Totalschadens fand nach den meisten Reglements gar keine Besich­ tigung der Brandstelle mehr statt: Art. 6 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676); Art. 12 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753); Art. 22 Baden-Durlachische Brand-­ Versicherungs-Ordnung (1758); Art. 11 S. 1, 13 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem plat­ ten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät, Totalschadensersatz schon bei hälftigem Abbrennen des Hauses); Art. 5 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für den Insterburgschen Creiß); § 51 Württembergische Brand-Scha­ dens-Versicherungs-Ordnung (1773); § 8 S. 1 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774); § 12 IV Reglement Brand-Societät Westphalen (1778); § 11 II Reglement Brand-Societät WestPreussen (1785) (Totalschadensersatz bereits bei vollständigem Abbrennen des Hausdachs); § 6 III Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801); § 14 I Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (Totalschadensersatz bereits bei vollständigem Ab­ brennen des Hausdachs, aber nur bei Holz- oder Fachwerkgebäuden). Hingegen kannte die Berliner Feuersozietät (1718) in Art. 6 des Reglements auch bei Totalschäden eine tatsächliche Berechnung der Wiederaufbaukosten. 168 Art. 17 II Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät, pauschale Bruchteilsvergütung von 1/2 oder 1/4 des taxierten Gebäudewerts); Art. 13 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vor­ schriften für die Saalfeldsche Societät, pauschale Bruchteilsvergütung von 1/2 oder 1/3 des ta­ xierten Gebäudewerts, keine Vergütung bei Bagatellschadenssummen); §§ 52–54 Württember­ gische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Schätzung des Schadensbruchteils); § 12  III Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Schätzung des Schadensbruchteils); § 6 III Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (pauschale Bruchteilsvergütung von 1/2, 1/3 oder 1/4 des taxierten Gebäudewerts). Dazu auch Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 73 f. 169 Art. 7 Reglement Berliner Feuersozietät (1718); Art. 25, 26 Baden-Durlachische BrandVersicherungs-Ordnung (1758) (gem. Art. 8, 9 aber maximal Nachschuss von 1 % der Versi­ cherungssumme pro Jahr); §§ 21, 55, 56 Württembergische Brand-Schadens-VersicherungsOrdnung (1773); §§ 8 S. 1, 10 S. 1 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774); §§ 13–15 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778); §§ 8,9 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (mit zusätzlichem Eintrittsgeld von 3 Pfennig pro Taler Einschreibungssumme); §§ 7, 8 Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801); § 21 S. 1 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (mit zusätzlichem Eintrittsgeld von 3 Pfennig pro Taler Einschreibungssumme). Dazu auch Brämer / Brämer (1894) S. 11; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 167 (zur Berliner Sozietät von 1718); Jung (1788), § 889 (S. 379); vgl. auch Müssener (2008) S. 24 f.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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noch Strafzahlungen in Höhe des mehrfachen Beitrages,170 niemals aber der Aus­ schluss aus der Brandversicherungsanstalt, da die Erhaltung eines möglichst gro­ ßen Versichertenkollektivs ja gerade von staatlicher Seite bezweckt war. Einige Brandkassen  – so übrigens schon die Hamburger Generalfeuerkasse von 1676 – ergänzten das reine Umlageverfahren durch provisorische, „praenu­ merando“ zu zahlende Beiträge, welche ebenfalls proportional von der Höhe der Einzeichnungssumme abhingen. Nur wenn die vorab eingezahlten Beiträge nicht zur Deckung des gesamten Schadens ausreichten, waren die einzelnen Mitglieder des Versichertenkollektivs noch verpflichtet, durch die Zahlung von Nachschüssen für den restlichen Schaden aufzukommen.171 Im Kern änderte sich aber auch da­ durch noch nichts an dem Charakter eines Umlageverfahrens, welches auf präzise versicherungsmathematische Berechnungen noch nicht angewiesen war. In allen Varianten des Umlageverfahrens fällt jedoch auf, dass die Versiche­ rungsbeiträge zu keinem Zeitpunkt von irgendeiner statistischen Schadenswahr­ scheinlichkeit abhängig waren.172 Keine Rolle spielte bei der Bemessung der Ver­ 170 Art. 10 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) („würcklich bereiteste ExecutionsMittel“); Art. 30 S. 3 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (obrigkeit­ liche Vollstreckung des doppelten Beitrags); Art. 14 Reglement Feuersozietäten auf dem plat­ ten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät, doppelter Beitrag, obrigkeitliche Vollstreckung); Art. 8 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät, obrigkeitliche Vollstreckung des doppelten Bei­ trags); § 62 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (obrigkeitliche Vollstreckung); § 10 S. 2 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (sofortige „Execut­ ion“ ohne Klageverfahren); § 16 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (obrigkeitliche Vollstreckung des doppelten Beitrags); § 8 I Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (gesetzliche Zwangsmittel); § 9  II Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (obrigkeitliche Vollstreckung): § 8 II 1 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (gerichtliche Vollstreckung). Dazu auch Schaefer (1911) Bd. 2 S. 167 (zur Berliner So­ zietät von 1718); vgl. auch Müssener (2008) S. 22. 171 Art. 2, 3 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (Eintrittsgeld von 1 Mk. pro 100 Mk. Einschreibungssumme, laufender Jahresbeitrag von 4 Schilling pro 1.000 Mk. Ein­ schreibungssumme); Art. 7, 10, 11 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Eintrittsgeld von 0,1 % der Einschreibungssumme, laufender Jahresbeitrag von 4 Schilling pro 1.000 Mk. Einschreibungssumme); Art. 5 I, II Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät, laufender Jahresbeitrag von 1/8 % der Versicherungssumme); Art. 7 I Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät, laufender Jahresbeitrag von 6 bzw. im ersten Jahr 15 Groschen pro 100 Gulden Einschreibungssumme; Art. 13 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Nachtragsvorschriften zum Insterburgschen Creiß, laufender Jah­ resbeitrag von 1 % der Versicherungssumme). 172 R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 38. I. Ü. zur Prämiendifferenzierung alleine nach dem Versicherungswert: Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 20 (zu einer entsprechende Praxis bereits bei den Hamburger Feuerkontrakten); W. Ebel, Feuerkon­ trakte (1936), S. 54 (zur Hamburger Generalfeuerkasse von 1676); Ohlmeier / Spohnholtz, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 51, 70 (zu den Feuerkassen auf dem Hambur­ ger Landgebiet); Schaefer (1911), Bd. 1 S. 176 (zur Hamburger Generalfeuerkasse von 1676); B. Schmidt, ZVersWiss 10 (1910), 78, 84 f.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

sicherungsbeiträge, ob das versicherte Bauwerk einem besonders hohen Feuerrisiko ausgesetzt war, ob es also beispielsweise mit feuergefährlichen Materialien er­ richtet worden war, ob es eine gefährliche Nachbarschaft besaß oder ob ein feuer­ gefährlicher Beruf darin ausgeübt wurde. Auch diese Eigenheit der staatlichen Brandversicherungsanstalten, in der Literatur oft als das „Unterstützungsprinzip“ betitelt, war unter kameralistischen Staatsdenkern durchaus gewollt: aus dem Blickwinkel der staatlich geförderten Wohlfahrt sollten möglichst alle Unterta­ nen den selben Anteil an der gemeinschaftlichen Last tragen und nicht etwa eine statistische Bewertung des Risikos einige Mitglieder „unbillig“ übervorteilen oder belasten.173 Weil aber eine Prämiendifferenzierung unter versicherungsma­ thematischen Gesichtspunkten überhaupt nicht stattfand, kannte auch keine dieser staatlichen Brandkassen ein Bedürfnis nach einer differenzierten Erforschung der Gefahrquellen. Die versicherten Mitglieder hatten daher weder vor noch während des Eintritts in die Sozietät irgendwelche Gefahrumstände anzuzeigen,174 wie es zum Beispiel regelmäßig vor Zeichnung einer Seeversicherungspolice der Fall war. Zu guter Letzt spiegelte auch die Art und Weise, wie die Ersatzsummen an ge­ schädigte Mitglieder ausgezahlt wurden, die geistige Grundhaltung des Kameralis­ mus wider. Die Schadensauszahlung erfolgte nicht alleine aus finanzieller Fürsorge gegenüber dem Gebäudeeigentümer. Als eigentlichen Zweck der Brandversiche­ rung sah man in der Hauptsache, vor allem auch aus fiskalischen Gründen, den Erhalt möglichst vieler Bauwerke an. So erlegten alle Sozietäten-Reglements dem geschädigten Mitglied die Pflicht auf, das niedergebrannte Gebäude in identischer Form neu zu errichten. Häufig sicherten die Reglements der staatlichen Anstalten diese Wiederaufbaupflicht ab, indem die Entschädigungszahlung nur in zwei oder drei ebenmäßigen Raten geleistet wurde, nämlich jeweils bevor der Bau begon­ nen wurde bzw. wenn ein bestimmter Baufortschritt erreicht worden war.175 Die 173

Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 65 f.; Büsch, Allgemeine Uebersicht (1795), S. 12 (kritisch zu dieser Praxis). Vgl. Brämer / Brämer (1894) S. 34 (zur Diskussion um das Unterstützungsprinzip gegen Ende des 19. Jhdts.); Hagena (1910) S. 33; Neugebauer (1990), S. 15. 174 Gem. § 26 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) mussten zwar Bauart und Zustand des versicherten Gebäudes angezeigt werden, doch nur zu dem Zweck, den Versicherungswert korrekt zu berechnen. Ausdrückliche Rechtsfolgen waren mit einer falschen Anzeige nicht verbunden. 175 Art. 6 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676); Art. 11 Reglement Berliner Feu­ ersozietät (1718) (Überwachung durch die Direktoren); Art. 12 Neue General-Feuer-CassaOrdnung (1753) (Auszahlung in drei Raten: beim Versicherungsfall, „wenn der neue Bau ziemlich weit gekommen“ und nach vollendetem Wiederaufbau); Art. 36 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Überwachung durch Beamte, ggf. Auszahlung gegen Sicherheitsleistung); § 16 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (für die Brandenburgische Feuer-Societät, im Ermessen der Sozietät Auszahlung in zwei Raten); §§ 76, 78 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Überwachung durch Obrigkeit, ggf. Auszahlung gegen Sicherheitsleistung); § 11 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Bill­ wärder (1774) (Auszahlung gegen Sicherheitsleistung oder in drei Raten: bei Baubeginn, Fer­ tigstellung des Rohbaus und nach vollendetem Wiederaufbau); § 13 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Auszahlung in drei Raten: bei Einreichung des Schadensprotokolls, nach

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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Gesetzgeber hatten sich die Wiederaufbaupflicht, die schon der erste Hamburger Feuerkontrakt von 1591 gekannt hatte, gleichsam angeeignet, jedoch dabei ihre Zweckrichtung verändert: nicht mehr nur zur Absicherung privater Kreditgeber, sondern auch zur Beförderung der Staatswohlfahrt oblag dem Geschädigten die Neuerrichtung des abgebrannten Gebäudes. Nach alledem wird deutlich, in welchem Maße kameralistische Zweckbestim­ mungen die ganz grundlegenden rechtlichen Strukturen dieser frühen Art von Feuerversicherung beeinflusst haben. Die staatliche Feuerversicherung bildete da­ mit sowohl in ihrer Zielsetzung als auch in ihrer näheren rechtlichen Ausgestaltung einen diametralen Gegensatz zur Seeversicherung jener Zeit. 3. Erste Ansätze der Mobiliarfeuerversicherung im 18. Jahrhundert Das staatliche Monopol im Feuerversicherungswesen umfasste jedoch nur die Versicherung von Gebäuden. Die Feuerversicherung beweglicher Gegenstände hingegen betrieben die staatlichen Feuersozietäten kaum: die Mobiliarfeuerver­ sicherung stellte jeden Versicherer wegen des oft raschen Wertverlustes oder gar wegen des zwischenzeitlichen Austauschs ganzer Mobiliarstücke vor schwierige versicherungstechnische Herausforderungen.176 Allein die sächsische Brandkasse vom 10. 11. 1784 versuchte sich neben der Gebäudeversicherung an einer freiwil­ ligen Mobiliarfeuerversicherung, versprach dabei allerdings nur eine Schadens­ deckung in Höhe von 25 %.177 Ihr Reglement orientierte sich insoweit an den par­ allelen Regelungen zur staatlichen Immobiliarversicherung; in rechtsdogmatischer Hinsicht brachte sie mithin nichts Neues gegenüber den alten Feuersozietäten. Von nicht-staatlicher Seite existierten zu der gleichen Zeit speziell in SchleswigHolstein noch immer einige nachbarschaftlichen Brandgilden, die auch oder sogar ausschließlich Mechanismen zum Schadensersatz für Mobilien bereithielten. Sie stießen gerade in der älteren akademischen Literatur auf lebhaftes Interesse.178 Von 6 weiteren Monaten nach richterlicher Bestätigung des Baufortschritts und nach vollendetem Wiederaufbau); §§ 25, 26 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (Auszahlung in zwei Raten: beim Versicherungsfall und nach vollendetem Wiederaufbau); § 11 Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801). Dazu auch von Liebig (1911) S. 21; Schaefer (1911) Bd. 2 S. 167 (zur Berliner Sozietät von 1718). 176 Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei Krügelstein (1800), § 26 (S. 81 f.); Krünitz, Bd. 13 (1788), S. 220. Vgl. von Liebig (1911) S. 21; Hagena (1910) S. 74. 177 Krünitz, Bd. 92 (1803), S. 256 f. (mit Teilabdruck des Reglements). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 237; Krünitz, Bd. 92 (1803) S. 257; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 713; von Liebig (1911) S. 22. 178 Eine umfangreiche Sammlung von Satzungen norddeutschen Mobiliar- und Immobili­ argilden findet sich z. B. als Anhang bei Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 394 ff.; zu einer Aufzählung der noch zum Beginn des 19. Jahrhunderts existierenden Feuergilden (darunter 117 Mobiliargilden), s. Schaefer (1911) Bd. 1 S. 81 ff. Vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 237; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 28; Prange, Theorie des Versiche­ rungswertes (1895) Bd. 1 S. 28 ff.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

einem rechtsdogmatischen Standpunkt aus betrachtet erscheinen diese „Moebel­ gilden“ aber kaum ergiebig zu sein. Hauptsächlich enthielten sie Verhaltensregeln für das gesellige Beisammensein ihrer Mitglieder, wie etwa über den maßvollen Genuss von Bier oder über das Abhalten von Schützenfesten, während die eigent­ liche genossenschaftliche Hilfe bei Brandschäden einen ganz untergeordneten Stellenwert innerhalb der Gildesatzungen einnahm. Was kaufmännisch-erwerbswirtschaftliche Initiativen angeht, so steckte der deutsche Mobiliar-Feuerversicherungsmarkt zum Ende des 18. Jahrhunderts noch in denkbar bescheidenen Anfängen. Nur einige der oben erwähnten maritimen Assecuranz-Compagnien, nämlich unter anderem die Erste Hamburger Assecu­ ranz-Compagnie für See-Risico und Feuers-Gefahr von 1765, die Vierte Hambur­ ger Assecuranz-Compagnie aus dem Jahr 1772 oder die Fünfte Hamburger Asse­ curanz-Compagnie von 1779, hatten bis dahin die Feuerversicherung von Waren zugelassen.179 Die Fünfte Assecuranz-Compagnie hatte sich nach ihrer Gründung zunächst alleine auf die Seeversicherung konzentriert; erst ab 1789 betrieb sie das Feuerversicherungsgeschäft.180 Zur gleichen Zeit hatte sich in Preußen die 1765 gegründete Assecuranz-Cammer zu Berlin etabliert; ab 1770 betrieb zwar auch sie die Feuerversicherung, jedoch mit so geringem wirtschaftlichen Erfolg, dass sie sich ab 1792 wieder alleine auf die Seeversicherung beschränkte.181 Die recht­ liche Seite dieser ersten deutschen Mobiliarfeuerversicherungen erschöpfte sich aber, ihrem Zweck entsprechend, in einer kurzen Annexklausel zu ausführlichen Seeversicherungsverträgen. Im Übrigen lag die Mobiliarversicherung noch hauptsächlich in der Hand aus­ ländischer, vor allem englischer Privatversicherer. Als Zündfunke für die Entste­ hung der englischen Feuerversicherungspraxis gilt heute der Londoner Stadtbrand von 1666.182 Während vergleichbare Brände im Deutschland des 17. Jahrhunderts zur Bildung öffentlich-rechtlicher Brandversicherungsanstalten geführt hatten, förderten sie in England die großflächige Entstehung privater Versicherungs­ 179

Vgl. Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 16; Büsch, Allge­ meine Uebersicht (1795), S. 13; Krünitz, Bd. 92 (1803) S. 254; P. Koch, Geschichte der Ver­ sicherungswirtschaft (2012), S. 45; von Liebig (1911) S. 23; Manes (1905), S. 340; Müssener (2008), S. 37 f.; Plaß / Ehlers (1902), S. 156 ff., 180 ff. 180 P. Koch, Pioniere (1968), S. 225; Plaß / Ehlers (1902), S. 186. 181 Die Feuerversicherungspläne der Assecuranz-Cammer sind der heutigen Quellenfor­ schung allem Anschein nach nicht zugänglich; es ist aber wohl kaum zu erwarten, dass sie deutlich umfangreicher waren als die Pläne der zeitgleich existierenden Hamburgischen As­ securanz-Compagnien. Zu Assecuranz-Cammer vgl. insgesamt Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 29; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 713; von Liebig (1911) S. 23; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 46; ders., Pioniere (1968), S. 225; ders., VersR 45 (1994), 629; Manes (1905), S. 340; Müssener (2008), S. 37 f.; Plaß / Ehlers (1902), S. 170 ff. 182 Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 28; Haines (1926), S. 36 ff.; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 227; Neugebauer (1990), S. 16; Ogis (2019), S. 57 (mit Hinweisen auf schon vor 1666 existierende Ansätze einer englischen Feuerversicherung); Raynes (2. Aufl. 1964), S. 74.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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gesellschaften. Erste Gründungen waren The Fire Office, eine Aktiengesell­ schaft aus dem Jahr 1680, sowie die Friendly Society und die Gesellschaft Hand in Hand, zwei private Gegenseitigkeitsvereine aus den Jahren 1684 und 1696; sie alle versicherten gegen Gebäudebrände.183 Doch schon mit dem Sun Fire Office, im Jahr 1710 als Aktiengesellschaft gegründet, etablierte sich auch die Mobiliar­ feuerversicherung in England,184 während sich die deutschen Sozietäten zu selben Zeit alleine auf die Versicherung von Immobilien konzentrierten. Den deutschen Sozietäten ebenfalls fremd waren die Klassifizierung von Risiken und die daraus resultierende Prämienabstufung, welche die englischen Versicherer von Anfang an betrieben – zunächst noch mit zwei rohen Risikokategorien.185 Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hatte sich daraus eine breite erwerbswirtschaftlich orientierte Feuerversicherungspraxis entwickelt, die sowohl Gebäude als auch deren Mobi­ liar unter Deckung brachten. Während das Union Fire Office von 1714 und das Westminster Fire Office von 1717 noch als Gegenseitigkeitsgesellschaften auftra­ ten,186 firmierten zahlreiche spätere englische Feuerversicherer schon im 18. Jahr­ hundert als Aktiengesellschaften; zu nennen sind in etwa die London Assurance Company und die Royal Exchange Assurance Company, beide seit 1721 aktiv im Feuerversicherungsgeschäft.187 Für den deutschen Versicherungsmarkt hatte – nicht nur, aber vor allen ande­ ren – die Phoenix Fire Assurance Company an Bedeutung gewonnen. Erst 1782 in London gegründet, eröffnete schon vier Jahre später, 1786, eine Zweigniederlas­ sung in Hamburg.188 Die London Phoenix profitierte von großen Fortschritten in der Versicherungsmathematik und verfügte daher über eine – für die Verhältnisse der damaligen Zeit – fein ausdifferenzierte Prämienabstufung. Ihr gelang es, auch

183

Bridgewater, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 27, 29 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 38 f.; Haines (1926), S. 50 ff. (The Fire Office), 74 f. (Friendly Society), 88 f. (Hand in Hand); Jenkins / Yoneyama (2000), Bd. 1 S. 9 f. (The Fire Office), 71 (Friendly Society), 103 f. (Hand in Hand); Ogis (2019), S. 59 ff.; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 75 f.; Zwierlein (2011), S. 201 (The Fire Office). 184 Büchner, VW 21 (1966), 790, 792; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 28 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 39 f.; Haines (1926), S. 118 ff. (zur Gründung des „Sun Fire Office“), 134 (zu den zwei Risikokategorien); Jenkins / Yoneyama (2000), Bd. 1 S. 121 ff.; P. Koch, Bil­ der (1978), S. 31; Manes (1905), S. 345; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 85 ff. 185 R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 40; Zwierlein (2011), S. 202. 186 Bridgewater, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 27, 29 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 40; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 87 f. 187 Bridgewater, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 27, 29 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 40; Haines (1926), S. 133; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 139 f. 188 Zu den gegen Ende des 18. Jhdts. verwendeten Versicherungsbedingungen („Propo­ sitiones“) der London Phoenix Fire Assurance Company in Hamburg, s. den Abdruck bei ­Krügelstein (1800), Bd. 3 § 31 (S. 98) (zu den Propositiones von 1786); Krünitz, Bd. 92 (1803), S. 324 (zu den Propositiones von 1790). Vgl. auch R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 40; ­Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 181; P.  Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 47 f.; Manes (1905), S. 340; Plaß / Ehlers (1902), S. 210; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 257.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

mangels deutscher Konkurrenz, einen großen Anteil am deutschen Feuerversiche­ rungsmarkt für Mobilien einzunehmen.189 Die englischen Versicherer verwendeten ihre hauseigenen Feuerversicherungsbe­ dingungen auch für ihre Geschäfte mit deutschen Versicherten.190 Wie wichtig die englische Rechtspraxis für den deutschen Feuerversicherungsmarkt gewesen sein muss, lässt sich auch daran ablesen, dass bereits in den 1780er Jahren englischspra­ chige Versicherungsliteratur ins Deutsche übersetzt wurde: so legte ­Johann Andreas Engelbrecht mit seiner 1782 erschienenen „Theorie und Praxis der Assekuranzen“ die deutsche Version eines englischen Versicherungshandbuches – „A Complete Digest of the Theory, Laws, and Practice of Insurance“ von John Weskett – vor. Die Über­ setzung von Engelbrecht beinhaltete auch Feuerversicherungspolicen der englischen Gesellschaften London Assurance, Royal Exchange, Hand in Hand, Sun Fire Office und Union Fire Office;191 annähernd ähnlich umfangreiche deutsche Feuerversi­ cherungspolicen tauchten hingegen nirgends in der zeitgenössischen Literatur auf. Von einem weitentwickelten deutschen Mobiliarfeuerversicherungswesen kann zu diesem Zeitpunkt und unter diesen Umständen nicht einmal im Ansatz die Rede sein. Ganz im Gegensatz dazu standen die staatlichen Gebäudefeuersozietäten, deren Reglements nach über 100 Jahren der Entwicklung zu einem beträchtlichen Umfang angewachsen waren.

IV. Die ersten Anfänge der rationell betriebenen Lebensversicherungspraxis Von den hier skizzierten Versicherungszweigen hatte sich im Deutschland des späten 18. Jahrhunderts die Lebensversicherung am wenigsten entfaltet. Während zu dieser Zeit in England schon eine Anzahl von privaten Lebensversicherungs­ gesellschaften ihren Betrieb aufgenommen hatte, entstanden in Deutschland erst nach 1770 erste Ansätze einer solchen rationell betriebenen Praxis. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Gesellschaften und Institutionen, welchen den wirtschaftlichen Zweck der späteren Lebensversicherung erfüllten, auch in Deutschland eine lange Tradition aufweisen konnten. Wie bereits gewohnt, soll auch an dieser Stelle zunächst die historische Entwicklung dieser Institute grob nachgezeichnet werden, bevor dann ein Blick auf den dogmatischen Entwicklungs­ stand der eben erwähnten, ersten rationell betriebenen deutschen Lebensversiche­ rungseinrichtungen geworfen wird. 189 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 179 („faktisches Monopol“ der London Phoenix); FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 13; Müssener (2008), S. 32 f.; Plaß / Ehlers (1902), S. 210. 190 Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 195; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 49. 191 Weskett / Engelbrecht (1782), S. 100 ff. Zur Bedeutung von Engelbrechts Werk, s. auch Büchner, VW 21 (1966), 790, 797.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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1. Die Keime des rationellen Lebensversicherungsbetriebs Der Gedanke einer institutionalisierten finanziellen Vorsorge für das eigene Al­ ter oder für die Hinterbliebenen existierte schon viel länger als die mathematisch fundierte Kalkulation von Sterblichkeitsraten. So kannte man in der römischen An­ tike zwischen dem 1. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. die „col­ legia tenuiorum“, genossenschaftliche Zusammenschlüsse mehrerer Bürger, die sich in gewissen Fällen gegenseitige Hilfe leisteten; so übernahmen einige dieser „collegia“ für den Todesfall eines Mitglieds auch die anfallenden Beerdigungskos­ ten oder die Versorgung der Familienangehörigen.192 Im mittelalterlichen Deutsch­ land übernahmen wiederum die Gilden und Zünfte solche Aufgaben, indem sie auch sogenannte Totenladen, also gemeinschaftliche Sterbekassen, unterhielten.193 Zur selben Zeit bediente man sich zunehmend des Leibrentenkaufs, der sich ganz besonders zur finanziellen Vorsorge für das eigene Alter eignete.194 In der ganz grundlegenden Form eines solchen Vertrages erwarb der Rentenkäufer durch einmalige Zahlung einer gewissen Geldsumme den Anspruch auf periodisch wie­ derkehrende Rentenzahlungen, die erst mit dem Tod des Leistungsempfängers terminierten – für welche der beiden Parteien das Geschäft letztendlich lohnens­ wert war, entschied sich erst danach, wie früh oder spät der Rentengläubiger ver­ starb. Eine besondere Gestalt haben die Leibrenten durch eine Idee erhalten, die Lorenzo Tonti im Jahr 1653 dem französischen Kardinal Mazarin präsentierte und die seitdem als „Tontine“ bezeichnet wird. Ihr Prinzip bestand, grob erfasst, darin, dass mehrere Rentenkäufer in einen gemeinsamen Fonds einzahlten; im Gegenzug leistete der Tontinenbetreiber in periodischen Abständen eine bestimmte Summe, die unter allen dann noch lebenden Einzahlern verhältnismäßig aufgeteilt wurde, sodass also mit dem Tod einzelner Einzahler die Rentenauszahlungen an die ande­ ren stetig anwuchsen.195 In der Tat betrieben verschiedene Staaten ab dem 17. Jahr­ hundert jenes System der Tontine, um einen kurzfristigen Finanzbedarf, vor allem in Kriegszeiten, zu überbrücken.196 192

Brämer / Brämer (1894) S. 168; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 22; Manes (1905), S. 18; Müssener (2008) S. 15; P. Koch, Bilder (1978), S. 3; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 1770; von ­Z edtwitz (2000) S. 43. 193 Boehart (1985), S. 25, 32 ff.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123; Müssener (2008) S. 16 f.; Thalmann, SVZ 39 (1946), 284, 285; von Zedtwitz (2000) S. 73 ff. 194 Boehart (1985), S. 31; V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 29; R.  Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 126. 195 Zu den historischen Tontinen insgesamt Bachmann (2019), S. 37 f.; Beseler (4. Aufl. 1885) Bd. 2 § 117 (S. 533); Brämer / Brämer (1894) S. 71, 78; Braun (2. Aufl. 1963), S. 63 ff.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 126; Hellwege, History of Tontines in Germany (2018), S. 11 f.; Hellwege, in: idem (Hrsg.), Past, Present and Future of Tontines (2018), S. 9 f.; P. Koch, Bilder (1978), S. 37; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 213 f.; Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 301 (S. 97); Rietsch / Gallais-Hammono, in: Hellwege (Hrsg.), Past, Present and Future of Tontines (2018), S. 19, 28 ff.; Walter (1855), Ziff. 379.I (S. 426); von Zedtwitz (2000) S. 138. 196 Eine detaillierte Beschreibung bekannter historischer Tontinen in Deutschland findet sich bei Hellwege, History of Tontines in Germany (2018), S. 38 ff. Insgesamt zur Bedeutung der

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

So verschiedenartig all diese Einrichtungen zur gegenseitigen Vorsorge auch gewesen sein mochten, hatten sie doch alle eine Gemeinsamkeit: bis zum späten 17. Jahrhundert beruhten sie keineswegs auf exakten statistischen Kalkulationen, sondern – wenn überhaupt – nur auf empirischen Schätzungen der Sterbewahr­ scheinlichkeit. Oft standen sie schlicht in Abhängigkeit vom Element des Zufalls. Das änderte sich allmählich mit der Aufstellung verlässlicher Sterblichkeitsstatis­ tiken. Zum ersten Mal tauchten systematische Verzeichnisse über die Sterblichkeit der Bevölkerung in den regionalen Kirchenbüchern des 17. Jahrhunderts auf.197 Die wissenschaftliche Auswertung solcher Aufzeichnungen begann um 1650, als in England insbesondere John Graunt und William Petty, in Deutschland der Pfarrer Caspar Neumann systematisch statistisches Material zu den Geburten und Todes­ fällen bestimmter Regionen zusammenstellten – anfänglich vielmals eher noch aus theologischem oder mathematischem Interesse.198 Die zweite Zutat, die ganz maßgeblich die Entstehung rationeller Lebensversicherungsbetriebe begünstigte, war die tiefere Erforschung der Wahrscheinlichkeitsrechnung, unter anderem durch Pierre Fermat, Blaise Pascal und Christian Huygens.199 Das von Jakob Bernoulli formulierte „Gesetz der großen Zahlen“ machte erstmals klar begreiflich, dass die Kollektivierung einer möglichst hohen Anzahl von Einzelrisiken erlaubt, zuver­ lässige mathematische Aussagen über die zukünftig zu erwartenden Schäden zu treffen – im Kontext der Lebensversicherung mithin über die statistisch zu erwar­ tenden Todesfälle.200 Als erster brachte der englische Astronom und Mathematiker Edmond Halley 1693 diese neuen Erkenntnisse mit einer Lebensversicherungsein­ richtung in Verbindung: er erstellte aus der von Neumann gesammelten Bevölke­ rungsstatistik der Stadt Breslau mathematische Sterbetafeln, auf deren Grundlage er versuchte, die Preise von „annuities“, Leibrenten, je nach Alter des Einzahlers stochastisch so exakt zu kalkulieren, dass das Leibrentengeschäft mit einer entspre­ chend großen Zahl von Kunden rationell und verlustfrei betrieben werden konnte.201 Tontinen als Finanzierungsinstrument, s. auch R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 126; Gallais-Hamonno / Rietsch, in: Hellwege (Hrsg.), Past, Present and Future of Tontines (2018), S. 49, 52 f.; Hellwege, in: idem (Hrsg.), Past, Present and Future of Tontines (2018), S. 167, 185; Rosin (1932) S. 35 f. 197 Brämer / Brämer (1894) S. 78; Braun (2. Aufl. 1963), S. 94 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 126; Rosin (1932) S. 12. 198 Brämer / Brämer (1894) S. 78; Braun (2. Aufl. 1963), S. 95 ff.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 33; R.  Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 127; P.  Koch, Bilder (1978), S. 40; P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 30 f.; Rosin (1932) S. 16, 70 ff.; Thalmann, SVZ 39 (1946), 342, 343 f.; von Zedtwitz (2000) S. 143. 199 Brämer / Brämer (1894) S. 78; Dreher (1991), S. 15; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 127; P. Koch, Bilder (1978), S. 37 f.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 27; Neugebauer (1990), S. 23; Rosin (1932) S. 25. 200 Braun (2. Aufl. 1963), S. 117 ff.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 32; Dreher (1991), S. 15; P. Koch, Bilder (1978), S. 42; P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 27; Rosin (1932) S. 26; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 1770; von Zedtwitz (2000) S. 143 ff. 201 Brämer / Brämer (1894) S. 79; Braun (2. Aufl. 1963), S. 99 ff.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 127; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 227; Körber, ZVersWiss 86 (1997), 491, 494; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 122 f.; Rosin (1932) S. 17 f.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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In Deutschland verfeinerte der Theologe Johann Peter Süßmilch in seiner 1742 erschienenen „Göttlichen Ordnung“ die Sterblichkeitsstatistik noch weiter und machte sie so noch fruchtbarer zum Zwecke einer mathematisch operierenden Lebensversicherung.202 Dennoch sollte es noch bis zum letzten Viertel des 18. Jahrhunderts dauern, bis die Lebensversicherung in Deutschland Fuß fasste. Gerade die Staatsphilosophie des Kameralismus, die, wie gesehen, die Entwicklung des Feuerversicherungswe­ sens rasch vorantrieb, wirkte auf die Entstehung von Lebensversicherungen hem­ mend. Zum einen hegten viele kameralistische oder theologische Autoren schon religiöse Vorbehalte gegen die Lebensversicherung: das menschliche Leben dürfe nicht zum Gegenstand kaufmännischer Spekulation gemacht werden, denn sein Wert könne nicht in Kapital ausgedrückt werden.203 Zum anderen wurde häufig eingewandt, die Versicherung auf den Todesfall werde die Selbstmordrate in der Bevölkerung in die Höhe treiben.204 Erst zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte man diese Bedenken endgültig hinter sich gelassen und sah die Lebensversiche­ rung nunmehr als eine wertvolle Einrichtung zur finanziellen Unterstützung von Hinterbliebenen an: durch eine gesicherte Altersversorgung erhofften sich einige Regierungen, Abwanderung oder Bettelei ihrer Untertanen zu verhindern und so, ganz im Sinne der kameralistischen Theorien, ein gesundes Bevölkerungswachs­ tum und solide Steuereinnahmen zu generieren.205 Angesichts dieser theologischen und staatstheoretischen Einwendungen, die zunächst die deutsche Debatte über die Lebensversicherung beherrschten, dürfte es kaum überraschen, dass ein anderer Staat die Vorreiterrolle auf diesem Gebiet übernahm, nämlich England, wo die theoretischen Erkenntnisse der Wahrschein­ lichkeitsrechnung zuerst in die Praxis umgesetzt wurde. Ganz einschneidende Wegmarken der Lebensversicherung wurden auf englischem Boden passiert. Bereits 1706 etablierte sich auf dem englischen Markt die Amicable Society, die gegen die Leistung jährlicher Beiträge eine fortlaufende Rentenzahlung im Todes­ 202

Zu den umfänglichen Sterbetafeln, s. Süßmilch (1742), Tabellenanhang nach S. 253. Vgl. auch Brämer / Brämer (1894) S. 79; Braun (2. Aufl. 1963), S. 177 f.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 33; Hagena (1910) S. 36; P. Koch, Bilder (1978), S. 43; ders., Geschichte der Ver­ sicherungswirtschaft (2012), S. 24; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 32; ders., Pioniere (1968), S. 135; Körber, ZVersWiss 86 (1997), 491, 494; Rosin (1932) S. 74; Schmitt-Lermann (1954), S. 111 f.; Thalmann, SVZ 39 (1946), 342, 346; von Zedtwitz (2000) S. 143 ff. 203 Vgl. Hagena (1910) S. 53; ähnlich Neugebauer (1990), S. 25; Rosin (1932) S. 81; von Staudinger (1858) S. 1. 204 Vgl. dazu die kameralistischen Literatur bei Krug (1810), § 13 (S. 102 ff.); vgl. Neugebauer (1990), S. 37. 205 Vgl. dazu die kameralistische Literatur bei von Justi (2. Aufl. 1759), § 269 (S. 198); Krug (1810), § 33 (S. 130 ff.); von Sonnenfels (1781), § 250 (S. 277); Weber, Bd. 1/2 (1805), § 33 (S. 122). Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 4 S. 541; Hagena (1910) S. 16 ff.; P. Koch, Ge­ schichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 56 f.; Manes (1905), S. 205; Rosin (1932) S. 75 f.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

fall an die Hinterbliebenen versprach.206 Doch dauerte es noch bis 1762, bis James Dodson mit seiner „Equitable Society for the assurance of lives and survivorships“ eine Lebensversicherungsgesellschaft mit einer rationalen, an statistischen Sterbe­ wahrscheinlichkeiten orientierten Prämientarifierung gründete – je höher das Al­ ter des Versicherten beim Eintritt in die Versicherung war, desto höher bemaß die „Equitable“ also die jährlich zu zahlenden Versicherungsprämien.207 Sobald nun die in Deutschland geführte moralisch-theologische Debatte endgül­ tig der Vergangenheit angehörte, keimten dort ebenfalls Ansätze einer rationell be­ triebenen Lebensversicherungspraxis. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts entstand eine Anzahl an kleineren staatlichen Witwen- und Waisenkassen und privaten Ver­ sorgungseinrichtungen, welche auf der Basis von mathematisch-statistischen Prin­ zipien arbeiteten; gelegentlich waren sie bestimmten Berufsständen vorbehalten.208 Sie setzten die Erkenntnisse der Lebensversicherungstechnik allerdings noch so lückenhaft um, dass sie vielfach finanziell in Bedrängnis gerieten und wieder in sich zusammenbrachen.209 Exemplarisch für die schlechte Verfassung des dama­ ligen Witwen- und Waisenkassenwesens kann die Wittwen-Verpflegungs-Gesell­ schaft der Calenbergischen Landschaft von 1766 stehen,210 die bis zum Jahr 1780 auf über 3.700 „Interessenten“ angewachsen und damit die mitgliedsstärkste Wit­ wenversorgungsanstalt in den deutschen Gebieten war; alleine zwei Jahre später verfiel sie der Zahlungsunfähigkeit.211 Ebensowenig vermochte eine Menge an privaten Sterbe- oder Begräbniskas­ sen, die sich zur gleichen Zeit gebildet hatten, Ansätze einer modernen Lebens­ versicherung zu entwickeln. Im Wesentlichen handelte es sich um kleine Unter­ 206

Brämer / Brämer (1894) S. 79; Bridgewater, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 27, 30; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 127; P. Koch, Bilder (1978), S. 41; Ogis (2019), S. 54; Rosin (1932) S. 49 ff.; von Staudinger (1858) S. 2. 207 Bachmann (2019), S. 45 f.; Boehart (1985), S. 57; Brämer / Brämer (1894) S. 79; Braun (2. Aufl. 1963), S. 145; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 34; Bridgewater, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 27, 30; R.  Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 128; Haines (1926), S. 312 ff.; P. Koch, Bilder (1978), S. 43 f.; P. Koch, Pioniere (1968), S. 159 f.; Ogis (2019), S. 117; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 124 ff.; Rosin (1932) S. 61; von Staudinger (1858) S. 2; Thalmann, SVZ 39 (1946), 342, 345; Weskett (1781), S. 202 ff.; von Zedtwitz (2000) S. 143 ff. 208 Boehart (1985), S. 36; Brämer / Brämer (1894) S. 169; Braun (2. Aufl. 1963), S. 170 ff.; Kritter (1780), S. 3; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 716; Rosin (1932) S. 64; von Zedtwitz (2000), S. 137. 209 Vgl. dazu nur den kritischen zeitgenössischen Bericht des Mathematikers Kritter (1780), S. 44 („Es ist aus allen diesen zu Grunde gegangenen Wittwencassen klar, daß ihre falsche Ein­ richtung der einzige Grund von ihrem Untergange gewesen“). Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 4, S. 540; Boehart (1985), S. 37 ff.; Brämer / Brämer (1894) S. 168 f.; Hagena (1910) S. 10; P. Koch, Bilder (1978), S. 83; P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 36; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 17 ff.; Körber, ZVersWiss 86 (1997), 491, 494; Manes (1905), S. 206; Schmitt-Lermann (1954), S. 41. 210 Verordnung vom 14. Octbr. 1766, behuef der, von Calenbergischer Landschaft anzule­ genden Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (Spangenberg II, 164). 211 Boehart (1985), S. 37; Braun (2. Aufl. 1963), S. 173; Büsch, Allgemeine Uebersicht (1795), S. 5; vgl. Kritter (1780), S. 25.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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stützungsvereine, welche die Begräbniskosten übernahmen oder ein bestimmtes von vornherein festgelegtes, einmaliges Sterbegeld auszahlten, falls eines ihrer Mitglieder verstorben war.212 Zumeist arbeiteten sie dabei mit einem einfachen Umlageverfahren, sodass Fragen nach einer rationalen Beitragskalkulation und anderen, daraus folgenden versicherungstechnischen Vorkehrungen gar nicht erst aufkamen.213 Für die hier geplanten rechtsdogmatischen Untersuchungen sind jene nicht-rationalen Lebensversicherungseinrichtungen kaum von Belang. Der preußische Staat reagierte auf den raschen Niedergang dieser kleineren Kas­ sen, indem er mit der „Allgemeinen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt“ von 1775 eine einzige, in allen preußischen Gebieten tätige staatliche Witwen- und Waisenkasse ins Leben rief.214 Sie nahm bereits eine feine Abstufung der Versicherungsbeiträge nach dem Eintrittsalter ihrer Mitglieder vor, wartete mit einem umfangreichen Sys­ tem an rechtlichen Regeln auf und galt zeitgenössischen Quellen als „musterhaft“ und finanziell stabil.215 Als die erste Lebensversicherungsinstitution, die akkurat nach den Erkenntnissen der zeitgenössischen Versicherungsmathematik berechnet war, gilt aber erst die Allgemeine Versorgungs-Anstalt der Hamburgischen Pat­ riotischen Gesellschaft von 1778,216 also die Initiative eines privaten Vereins. Ihre technische Berechnung stellte der Hamburger Mathematikprofessor Johann Georg Büsch auf Basis der Sterbetafeln Süßmilchs an.217 Anders als die Gebäudefeuerversicherung lag die Lebensversicherung also nicht monopolartig in der Hand des Staates, sondern wurde sowohl von staatlichen Insti­ tutionen – so in Preußen – als auch von privaten Akteuren betrieben.218 Eine annä­ hernd flächendeckende Absicherung der Bevölkerung, wie sie etwa die Gebäude­ brandkassen vor allem in Preußen gewährleisteten, war jedoch noch nicht erreicht. Die folgende schlaglichtartige Untersuchung ihrer rechtsdogmatischen Seite wird aber zeigen, dass immerhin die beiden zuletzt genannten Versorgungseinrichtun­ gen schon über etliche versicherungsrechtlich fortschrittliche Bestimmungen ver­ fügen, welche einen scharfen Gegensatz zu den Rechtsnormen der vorausgehenden, noch sehr instabilen berufsständischen Witwenversorgungseinrichtungen bildeten.

212

Brämer / Brämer (1894) S. 167 ff.; vgl. auch Weber, Bd. 1/2 (1805), § 32 (S. 117). Weber, Bd. 1/2 (1805), § 32 (S. 117). Vgl. von Knebel Doeberitz, ZVersWiss 2 (1902), 1, 2, der selbst zum Beginn des 20. Jhdts. noch von zahlreichen kleinen, mit einem reinen Um­ lageverfahren arbeitenden Sterbekassen berichtete. 214 Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 713; P. Koch, Geschichte der Versicherungs­ wirtschaft (2012), S. 24 f.; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 19. 215 Weber, Bd. 1/2 (1805), § 34 (S. 128); vgl. dazu auch Schmitt-Lermann (1954), S. 95 („eine mit Umsicht aufgebaute […] Einrichtung“). Anders aber Hagena (1910) S. 57, der Kasse noch als „mathematisch recht unausgereift“ bezeichnete. 216 Boehart (1985), S. 48 ff.; Benecke (2. Aufl. 1810) Bd. 4, S. 540. 217 P. Koch, Bilder (1978), S. 75; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 47; P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 71; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 20. 218 R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 130. 213

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

2. Der Rechtszustand der ersten rationell arbeitenden Witwen- und Waisenkassen im 18. Jahrhundert Aus der Masse an zumeist unsoliden Witwen- und Waisenversorgungsanstalten hoben sich vor allem die preußische „Allgemeinen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt“ von 1775219 und die Hamburgische „Allgemeine Versorgungs-Anstalt“ von 1778220 hervor, indem sie bereits auf dem Boden einigermaßen fundierter versicherungs­ mathematischer Berechnungen standen. Besonders die letztere gilt als besonders solide berechnet. Es lohnt sich daher vor allem, den engeren Fokus der Betrachtung schwerpunktmäßig auf diese beiden Anstalten zu legen, die bereits den Keim zu­ künftiger, rationell arbeitender Lebensversicherungen in sich trugen. Die preußische Anstalt kannte dabei nur das Prinzip der Todesfallversicherung; starb ein versichertes Mitglied, so erhielt seine Witwe eine jährlich zu zahlende Rente.221 Darüber hinaus bot die Versorgungs-Anstalt in Hamburg jedoch noch einen bunten Strauß anderer Lebensversicherungsprodukte an: insgesamt hatte ein neu eintretendes Mitglied die Auswahl zwischen neun verschiedenen „Classen“, die allesamt auf Grundlage eigenständiger mathematischer Berechnungen errich­ tet waren und praktisch fast die gesamte Bandbreite der vor 1800 vorstellbaren Lebensversicherungsarten abdeckten. Ein Rundumblick über die verschiedenen „Classen“ der Hamburgischen Versorgungs-Anstalt gewährt daher zugleich einen Einblick in die tatsächliche Vielfalt und Heterogenität des Lebensversicherungs­ wesens bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert. Zum einen handelte die Anstalt mit Leibrenten: deren denkbar einfachste Form, die sofort mit Vertragsabschluss fälligen Leibrenten, wurden gegen einmalige Leistung eines Kapitals jährlich bis zum Tod des Mitglieds ausgezahlt.222 Eine Abwandlung dazu stellten die ver­ bundenen Leibrenten dar, welche an zwei Ehegatten bis zum Tod des jeweils Letztversterbenden ausgezahlt wurden;223 bei einer weiteren Abwandlung, den aufgeschobenen Leibrenten, wurden Rentenleistungen erst bei Erreichen eines bestimmten Alters fällig, dafür aber freilich mit einem höheren Auszahlungs­ betrag.224 Spiegelbildlich dazu existierten „aufhörende Leibrenten“, die nur bis 219 Reglement für die Kgl. preuß. allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt v. 28. 12. 1775 (NCC V, 381). 220 Anordnung der in der Kays. Freyen Reichs-Stadt Hamburg errichteten allgemeinen Ver­ sorgungs-Anstalt (Textausgabe, Hamburg 1778). 221 § 1 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); vgl. Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 97 ff. Ebenso schon § 1 Verordnung Calenbergische Wittwen-VerpflegungsGesellschaft (1766) (halbjährliche Auszahlung der Witwenpernsion). 222 Tit.  III (§§ 42–46) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 65; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 153 f. 223 Tit.  IV (§§ 47–51) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 65; Hellwege, History of Tontines in Germany (2018), S. 88 f.; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 156 f. 224 Tit.  V (§§ 52–57) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 65 f.; Hellwege, History of Tontines in Germany (2018), S. 88; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 159 f.

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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zum Erreichen eines bestimmten Alters ausgezahlt wurden und so besonders den Bedürfnissen heranwachsender Kinder entgegenkamen.225 Möglich war es sogar, „wachsende Leibrenten“ zu beziehen, Leibrenten also, die mit steigendem Alter des Beziehers immer höher wurden.226 Auf der anderen Seite bot die Allgemeine Ver­ sorgungs-Anstalt aber auch Todesfallversicherungen an, von denen die bereits vor­ hin beschriebene lebenslange Pension für Witwen und andere Bezugsberechtigte den Grundtypus formte.227 Ähnlich aufgebaut wie jene „Wittwen-Classe“ war die „Waisen-Classe“, welche einen Waisen bis zu dessen 25. Lebensjahr versorgte.228 Daneben existierte eine Klasse, die, prinzipiell gleich den oben geschilderten Be­ gräbniskassen, alleine die Beerdigungskosten des Verstorbenen übernahm.229 Das Angebot der Hamburgischen Anstalt umfasste schließlich sogar eine reine „Er­ sparungs-Classe“, wobei es sich im Endeffekt um eine reine Geldanlage handelte, die heute als der Vorläufer der Sparkassen angesehen wird.230 Für die Zwecke der folgenden rechtsdogmatischen Untersuchungen richtet sich der Blick jedoch vor allen Dingen auf die Versorgung im Todesfall, also die von der preußischen und der Hamburgischen Anstalt gleichermaßen gewährten Wit­ wen- oder Waisenrenten, da sich auch das Interesse der späteren Gesetzgeber ganz vorwiegend auf die Rechtsdogmatik der Todesfallversicherung konzentriert hat. Beide Einrichtungen setzten grundsätzlich die aus der Versicherungsmathematik gewonnenen Erkenntnisse um, indem sie den individuellen Beitrag des Mitgliedes nicht nur nach dessen eingeschriebener Versicherungssumme und dessen Eintritts­ alter abstuften, sondern auch nach der statistischen Lebenserwartung des zu ver­ sorgenden Ehegatten.231 Zwar fand noch keine Beitragsdifferenzierung nach Beruf, 225 Tit.  VII (§§ 63–66) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 66; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 166. 226 Tit.  VI (§§ 58–62) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 66. 227 Die Witwenpensionen waren auf zwei Arten denkbar: Tit. VIII (§§ 67–78) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) gewährte eine unbedingte lebenslängliche Pension, während der Tit.  IX (§§ 79–90, die eigentliche „Wittwen-Classe“) nur Pensionszahlungen an die Witwe vorsah, solange sie sich nicht wieder verheiratete (ausdrücklich § 80 S. 1). Vgl. ­Boehart (1985), S. 66 f.; Hellwege, History of Tontines in Germany (2018), S. 89; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 170 f. (zu Tit. VIII) und 178 (zu Tit. IX). 228 Tit.  X (§§ 91–93) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 67; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 181. 229 Tit. XII (§§ 99–114) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 68; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 187. 230 Tit.  XI (§§ 94–98) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). Vgl. Boehart (1985), S. 64; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 184. 231 § 16 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (§ 23 des Reglements enthielt eine ausführliche Prämientabelle); §§ 3, 9 Anordnung Allgemeine Ver­ sorgungs-Anstalt (1778) mit einer umfassende Beitragstabelle im Anlage (Tabelle zu Tit. VIII und IX.); ähnlich schon Anhang Lit. B Verordnung Calenbergische Wittwen-VerpflegungsGesellschaft (1766) (Berechnung eines einmaligen Antrittsgeldes aus dem Alter des Mitgliedes und seiner Ehefrau). Vgl. insgesamt auch vgl. Boehart (1985), S. 66 f.

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

individuellem Gesundheitszustand oder sonstigen Risiken statt, jedoch schlossen beide Anstalten bestimmte Personen mit besonders hohem Sterblichkeitsrisiko ganz von der Aufnahme aus, nämlich Personen mit besonders hohem Alter, See­ fahrer, Angehörige des Militärs oder chronisch Kranke.232 Hier zeigt sich wiederum, dass die versicherungsmathematischen Fortschritte der preußischen und der Hamburgischen Anstalt einige rechtliche Folgeprobleme aufwarfen. Denn die exakte Beitragsklassifizierung einerseits, die Beschränkung des versicherbaren Personenkreises andererseits machten es auch diesen Einrich­ tungen nötig, zuverlässige Informationen über das Alter und den Gesundheitszu­ stand jedes neu eintretenden Mitgliedes zu eruieren. So war jeder, der sich in der jeweiligen Anstalt versichern wollte, verpflichtet, sein Alter durch ein Taufzeug­ nis nachzuweisen und seinen hinreichend robusten Gesundheitszustand von einem Arzt untersuchen zu lassen.233 Konnte ihm nachgewiesen werden, dass er bezüg­ lich dieser Angaben und Atteste „ein Falsum begangen“ hatte, so war er aus der Anstalt ohne jede Beitragserstattung ausgeschlossen.234 Die aus sämtlichen vorstehenden Angaben errechnete Beitragsschuld konnte im Wesentlichen auf zwei verschiedene Arten beglichen werden. Die Allgemeine Versorgungs-Anstalt in Hamburg ging im Grundsatz von der Zahlung „auf Capital-­ Fuß“ aus, mithin von der Zahlung eines einmaligen Beitrages beim Eintritt in die Anstalt.235 Sie ließ aber bei vielen der angebotenen Versicherungsprodukte – so auch bei der Todesfallversicherung – die „Versicherung auf Contributions-Fuß“ zu, 232 §§ 3,4 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (keine Aufnahme von Personen über 60 Jahren, von Personen mit wesentliche jüngeren Ehefrauen, von Seeleuten, Militärbediensteten im Kriegsfall, oder von chronisch Kranken, insb. Wasserund Schwindsüchtigen); § 13, 73 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (keine Aufnahme von auswärtigen Militärbediensteten und von berufsmäßigen Seefahrern oder von kranken oder bettlägerigen Menschen); ebenso schon § 3 Verordnung Calenbergische Wittwen-­Verpflegungs-Gesellschaft (1766) (keine Aufnahme von Militärbediensteten, See­ leuten, Personen mit wesentlich jüngeren Ehefrauen, chronischen Kranken oder Personen aus Seuchengebieten). Vgl. auch Hagena (1910) S. 35, 57 Weber, Bd. 1/2 (1805), § 34 (S. 128 f.). 233 §§ 7–9 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (Tauf­ zeugnis, Nachweis über die nicht bestehende Anstellung im See- oder Militärdienst, eides­ stattliches und von vier Zeugen beschworenes Gesundheitszeugnis eines approbierten Arztes); §§ 12–15, 69 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (Taufschein, von vier glaub­ würdigen Zeugen beschworenes eidesstattliches Gesundheitszeugnis eines Arztes); ebenso schon §§ 5, 14 (Taufschein, von vier glaubwürdigen Zeugen beschworenes eidesstattliches Gesundheitszeugnis eines Arztes). Vgl. Boehart (1985), S. 61 f.; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 154, 170 ff.; Weber, Bd. 1/2 (1805), S. 131 f. Zur notwendigen Vorlage eines Taufscheins vgl. aber auch bei den berufsständischen Witwenkassen z. B. Art. 5 II 1 Reglement Preußische OfficierWittwen-Casse (1792) (NCC IX, 859). 234 § 13 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (unter An­ drohung einer Kriminalstrafe); § 16 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). 235 Vorausgesetzt in § 21 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); ähnlich §§ 7–9, 27 I, 29 I Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766) (Zahlung eines einmaligen Antrittsgeldes, jedoch Nachschusspflicht der Mitglieder je nach aktuellem Bedarf an Witwenpensionen).

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

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also die Zahlung laufender Jahresbeiträge.236 Die Preußische Wittwen-Verpfle­ gungs-Anstalt kannte gar nur die Option solcher periodischen Jahresbeiträge.237 Kam das versicherte Mitglied mit einer solchen Zahlung „auf Contributions-Fuß“ aber in Zahlungsrückstand, so hatte es zunächst neben der Prämiennachzahlung eine Strafe in Höhe eines mehrfachen Jahresbeitrages zu erlegen – im Falle eines andauernden Rückstandes wurde es allerdings unter Verlust sämtlicher bisher ein­ gezahlter Beiträge aus der jeweiligen Anstalt exkludiert.238 Eine auf diese Weise erworbene und aufrechterhaltene Mitgliedschaft dauert in aller Regel bis zum Lebensende des Mitglieds. Zeitlich befristete Todesfallversi­ cherungen waren den beiden Anstalten fremd. Allenthalben endete die Mitglied­ schaft vorzeitig, falls der Versorgungsempfänger, also in der Regel die Ehefrau, noch vor dem versicherten Mitglied verstarb239 oder falls die versorgungsberech­ tigte Frau von ihren versicherten Gatten geschieden wurde.240 Der automatische Ausschluss eines Mitgliedes erfolgte auch dann, wenn sich sein Sterblichkeitsrisiko durch bestimmte Umstände drastisch erhöht hatte, nämlich in der Hamburger Ver­ sorgungs-Anstalt, wenn es eine Seereise antrat, und bei der Preußischen Anstalt mit der Einziehung in den aktiven Kriegsdienst.241 Sofern aber die Mitgliedschaft nicht aus dem einen oder anderen Grunde vor­ zeitig endete, erhielt die Witwe, sobald ihr Ehegatte verstorben war und sie dessen Ableben durch Vorlage eines amtlichen Totenscheins nachgewiesen hatte,242 An­ 236

Vorausgesetzt z. B. in §§ 22, 68 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); vgl. zur Zahlung auf „Contributions-Fuß“ auch Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 11, 162 f. 237 § 22 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775). 238 § 36 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); § 20 S. 1, 2 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); ebenso schon § 27 III, IV Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766). Vgl. auch Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 173. 239 § 20 I Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); § 21 An­ ordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); vgl. Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 173. Zu einer ähnlichen Regel bei den berufsständischen Witwenkassen s. z. B. Art. 24 Reglement Preußi­ sche Officier-Wittwen-Casse (1792). 240 § 20 II lit. a, b Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (Beendigung der Versicherung nur bei „außerordentlichen Trennungs-Fällen“, d. h. bei von der Frau verschuldeten „böswilligen“ Scheidungen); gem. § 88 Anordnung Allgemeine Ver­ sorgungs-Anstalt (1778) konnte die geschiedene Ehefrau die Pensionsanspruch behalten, wenn sie die Versicherungsbeiträge weiterbezahlte; ähnlich schon § 23 I Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766) (mit Möglichkeit der Fortzahlung der Beiträge durch die geschiedene Frau). Zu einer ähnlichen Regel bei den berufsständischen Witwen­ kassen s. z. B. Art. 26 Reglement Preußische Officier-Wittwen-Casse (1792) (Pensionsverlust wegen „Ehescheidungen aller Art“). 241 § 4 lit. a Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); §§ 23– 25, 74 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (Aufrechterhaltung der Versiche­ rung aber bei Anzeige an die Anstaltsdirektion möglich); vgl. Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 174. 242 § 38 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); ähnlich schon § 18 I Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766). Bei den berufsständischen Witwenkassen fehlt eine solche Regelung meist; nach Art. 23 Reglement

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§ 1 Einführung und historischer Kontext 

spruch auf die ihr zugesicherte, lebenslängliche Witwenpension.243 Ausnahmen galten nur, wenn das versicherte Mitglied seinen Tod selbst zu verschulden hatte, nämlich falls es durch Zweikampf, die Vollstreckung der Todesstrafe oder aber durch Selbstmord ums Leben gekommen war.244 Am Ende dieser Rundschau über die Witwen- und Altersversorgungseinrichtun­ gen des 18. Jahrhunderts lässt sich konstatieren, dass der Staat auf dem Terrain der Lebensversicherung weitaus größere Zurückhaltung zeigte als im Feuerversiche­ rungswesen. Als jedoch Preußen im Jahr 1775 mit seiner Allgemeinen WittwenVerpflegungs-Anstalt dann doch großflächig tätig wurde und als kurze Zeit später die Hamburgische Allgemeine Versorgungs-Anstalt von 1778 als private Initiative entstand, wiesen diese beiden Einrichtungen bemerkenswerte Parallelen auf, und zwar sowohl, was die versicherungstechnische, als auch was die rechtsdogmatische Seite betraf. Ganz im Gegensatz zu der staatlich organisierten Feuerversicherung hatte die Staatsräson dem Lebensversicherungsrecht also kaum einen charakteris­ tischen Stempel aufgedrückt.

V. Fazit zum Stand des Versicherungsrechts vor 1794 Der historische Abriss über die Entwicklung und den rechtlichen Zustand der ältesten Versicherungszweige bis ins späte 18. Jahrhundert hat gezeigt, welche reiche Vielfalt an Versicherungseinrichtungen sich aus den Bedürfnissen der Pra­ xis entwickelt hat; die einen waren mehr, die anderen deutlich weniger ausgereift. Die Seeassekuranz hatte bereits eine über dreihundertjährige Rechtsgeschichte durchlebt und befand sich sogar schon im Zustand einer umfassenden gesetzlichen Kodifikation. Auch die Gebäudefeuerversicherung hatte durch eine große Zahl staatlicher Brandversicherungsanstalten bereits eine feste Gestaltung gefunden. Das Lebensversicherungsrecht – das heißt konkret: die Rentenversicherung auf den Preußische Officier-Wittwen-Casse (1792) erstattete z. B. das Militärregiment den Bericht vom Tod des Mitgliedes; auch die Hamburgische Versorgungs-Anstalt (1778) kannte die Vorlage eines Totenscheines nicht. 243 Vgl. § 33 S. 1 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); §§ 80 S. 1 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); ebenso bereits § 19 Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766). 244 § 26 II lit. c, d Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (Leistungsfreiheit wegen Todesstrafe nur bei entsprechendem Tatbeitrag der Witwe, Halbie­ rung der Witwenpension bei Selbstmord des Versicherten); §§ 26–28 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (jedoch Rückzahlung der geleisteten Beiträge an die Witwe, außer Falle der Todesstrafe, wenn die Witwe einen entsprechenden Tatbeitrag geleistet hat); ähn­ lich schon §§ 24, 25 Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766) (Verlust des Antrittsgeldes bei Duelltod oder Selbstmord im zurechnungsfähigen Zustand, jedoch kein Verlust der Witwenpension). Vgl. auch Boehart (1985), S. 62; Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 173 f.; Weber, Bd. 1/2 (1805), § 34 (S. 143). Zu ähnlichen Regelungen bei den berufs­ ständischen Witwenkassen s. Art. 28 Reglement Preußische Officier-Wittwen-Casse (1792) (Kürzung der Witwenpension um 50 % bei Selbstmord des Mitglieds).

C. Der rechtliche und rechtshistorische Kontext

81

Todesfall – verfügte ebenfalls über einige ausbaufähige Ansätze in diese Richtung; es steckte insgesamt aber noch eher in seinen Anfängen – meistens beherrschten englische Versicherer den deutschen Markt. Denkbar schwach und bruchstück­ haft ausgeprägt war schließlich die deutsche Mobiliarfeuerversicherung. Gerade die Versicherung beweglicher Gegenstände gegen Feuergefahr wurde noch absolut von englischen Gesellschaften dominiert. Für die weitere rechts- bzw. dogmengeschichtliche Forschung ist vor allem die – bereits früher angedeutete  – Tatsache von Bedeutung, dass die materiell-recht­ lichen Strukturen jener einzelnen Einrichtungen tatsächlich elementare Unter­ schiede aufwiesen. Verschiedene technische Ansätze haben hier zur Ausbildung vollkommen wesensverschiedener Rechtsprodukte beigetragen – das gilt insbe­ sondere für die Frage, ob ein Versicherer seine Prämien nach versicherungsma­ thematischen Kriterien abstufen oder nach dem „Unterstützungsprinzip“ vorgehen wollte. Jene charakteristischen Unterschiede einzelner Versicherungseinrichtun­ gen werden die vorliegende Forschungsarbeit noch über weite Strecken begleiten.

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht im Preußischen Allgemeinen Landrecht (1794) und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung Am 1. Juni 1794 trat das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (ALR)1 in Kraft.2 Es gilt nicht nur als die  – bis heute  – einzige „Gesamtkodi­ fikation der Universalrechtsgeschichte“, die alle Rechtsgebiete vom Zivilrecht bis zum Staats- und Strafrecht in sich vereinte,3 sondern beinhaltete zugleich die erste umfassende Kodifikation des Binnenversicherungsrechts.4 Zwar verfügten viele Handelsnationen schon im 18. Jahrhundert über seeversicherungsrechtliche Kodifikationen, wie etwa Hamburg im Jahr 1731 seine Assecuranz- und Haverey­ ordnung geschaffen hatte, doch kein anderer Staat hatte bis dahin den Versuch unternommen, das Binnenversicherungsrecht in die Form eines Gesetzes zu fügen. Das Preußische ALR, auf der anderen Seite, regelte im 8. Titel seines 2. Teils, dem Titel „Vom Bürgerstande“, neben zahlreichen seeversicherungsrechtlichen Vor­ schriften auch die Feuer- und die Lebensversicherung (Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR). Im Gegensatz dazu reglementierte die französische Gesetzgebung mit dem Napoleonischen Code de Commerce von 1807 alleine die Seeversicherung,5 wäh­ rend das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1812 zwar die Binnenversicherung behandelte, allenthalben nur in fünf rudimentären Artikeln (Art. 1288–1292 ABGB).6 So dürfte sich das Interesse bei der Erforschung von Quellen und Vorbildern des Binnenversicherungsrechts im ALR recht intuitiv auf die Versicherungspra­ xis richten. Umso überraschender fällt der Blick auf den tatsächlichen Umfang der Feuer- und Lebensversicherungspraxis vor dem ALR aus. Zwar fand man in 1

Abgedruckt bei: Hattenhauer (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (3. Aufl. 1996). 2 Barzen (1999), S. 249; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 236 f. 3 Ramm, in: Wolff  (Hrsg.)  (1995), S. 1, 3; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 500; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. L. 4 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 523; Duvinage (1987), S. 2; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 329. 5 Art. 332–396 Code de Commerce (1807) (Édition originale et seule officelle,  1807) (Tit. X, „Des assurances“). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 53; V. Ehrenberg, Versicherungs­ recht (1893), S. 43; Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 64; Müssener (2008), S. 136. 6 Duvinage (1987), S. 70 ff.; Neugebauer (1990), S. 37.

A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung

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den meisten deutschen Partikularstaaten bereits viele staatlich geführte Immo­ biliar-Feuersozietäten; das preußische Landrecht aber kodifizierte das Recht der Gebäude­feuerversicherung überhaupt nicht, sondern konzentrierte sich lediglich auf die Feuerversicherung von Mobilien. Erstere hielt der Gesetzgeber schon durch das flächendeckende Netz von Feuersozietäten für erschöpfend behandelt.7 Die übrige Feuer- und Lebensversicherung, die der preußische Gesetzgeber zur Kodifikation bringen wollte, steckte aber noch in den Kinderschuhen, und die meisten Binnenversicherer waren noch dazu nicht einmal in Preußen ansässig. In Hamburg operierte seit 1779 die Fünfte Assecuranz-Compagnie, die neben der Seeversicherung ab 1789 auch eine Versicherung von Handelswaren gegen Feuer­ gefahr anbot, jedoch mit noch wenig umfangreichem Regelwerk; ebenso hatten die Erste und die Vierte Hamburgische Assecuranz-Compagnie, beide im Kern ma­ ritime Versicherer, schon 1765 bzw. 1772 eine Feuerversicherung mit sehr schma­ len Bedingungen betrieben. Daneben begannen englische Feuerversicherer zum Ende des 18. Jahrhunderts, ihren Geschäftskreis auf Deutschland auszudehnen. Parallel dazu war auch der Aufstieg rationell arbeitender Lebensversicherungs­ gesellschaften wie der Hamburgischen Allgemeinen Versorgungs-Anstalt von 1778 gerade erst angestoßen worden. Dem gegenüber stand das Preußische Landrecht mit seiner extensiven Kodifi­ zierung des Versicherungsrechts in 425 Paragraphen, von denen etliche auch die Binnenversicherung betrafen. Erst nach Inkrafttreten des Preußischen Landrechts tauchte in Preußen und in den anderen deutschen Staaten paradoxerweise eine Viel­ zahl auf jene Versicherungszweige spezialisierter Feuer- und Lebensversicherungs­ gesellschaften auf, allen voran beispielsweise die Berlinische FeuerversicherungsAnstalt von 1812, die Feuerversicherungsbank für Deutschland zu Gotha im Jahr 1820 und die Lebensversicherungsbank zu Gotha von 1828. Wie konnte der preußische Gesetzgeber so früh, vor allem aber so extensiv die Binnenversicherung kodifizieren, bevor in Preußen oder Hamburg eine nennens­ werte eigene Praxis heranwachsen konnte? Ist es schließlich möglich, dass diese frühen, das weitere deutsche Versicherungsrecht maßgeblich prägenden Gesell­ schaften schon ihrerseits von der gewaltigen Regelungsmaterie des Landrechts be­ einflusst waren? Mit jenen beiden Fragen hat sich die rechtshistorische Forschung bislang nur höchst fragmentarisch beschäftigt. Würde man also den Versuch unternehmen, die Ursprünge des Versicherungsrechts im preußischen Landrecht oder sein Verhältnis zur Versicherungspraxis aus der akademischen Literatur zu rekonstruieren, so stieße man schnell auf ein Geflecht widersprüchlicher und kaum ineinandergreifender Narrative. Jede mögliche und plausible Erklärung wird im nächsten Moment durch eine Proklamation von anderer Seite in Frage gestellt. Die wichtigsten Aussagen aus jenem Konvolut unvereinbar wirkender Narrative sollen daher kurz einleitend gebündelt werden. 7

Bruck (1930), S. 9; Duvinage (1987), S. 5 f.; P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 632; Müssener (2008), S. 137.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

I. Narrative zu den rechtlichen Vorbildern der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR In der Diskussion über das Preußische Landrecht von 1794 ist man sich weit­ gehend nur darüber einig, dass sein Versicherungsrecht auf dem Fundament der preußischen Assecuranz- und Havereyordnung von 1766 errichtet wurde, welche ihrerseits in der Tradition der Hamburger Assecuranz- und Havereyordnung von 1731 stand. Sowohl Landwehr8 als auch Müssener9 und Dreyer10 gehen ausdrück­ lich davon aus, dass auf diesem Wege viele Vorschriften des Hamburgischen See­ versicherungsrechts in das ALR Eingang gefunden haben.11 Landwehr stützt sich ausdrücklich auf die „Amtlichen Vorträge bei der Schluß-Revision des Allgemei­ nen Landrechts“ von Carl Gottlieb Svarez, dem Redaktor des Preußischen Land­ rechts in der letzten Phase seiner Gesetzgebung, wo ausdrücklich auf die „Asse­ curanz-Ordn.“ als Quelle der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2538 ALR Bezug genommen wird.12 Demgegenüber schränkt Dreyer im Zuge seiner Forschung über die Ham­ burgische AHO diesen Befund wieder ein, indem er große Übereinstimmungen des Seeassekuranzrechts der AHO „jedenfalls“ zum Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten von 1784 – also dem Entwurf zum spä­ teren ALR – sieht. Letztlich sei aber für das Versicherungsrecht in §§ 1934–2358 ALR eher die „preußisch-brandenburgische Gesetzgebung“ maßgeblich gewe­ sen.13 Was in concreto unter jener „preußisch-brandenburgischen Gesetzgebung“ zu verstehen sei, bleibt bei Dreyer vage. In jüngerer Zeit haben Peter Koch14 und Duvinage15 noch hinzugefügt, das preußische Landrecht enthalte in seinem ver­ sicherungsrechtlichen Teil sogar einige dogmatische Neuschöpfungen; die recht­ liche Kategorie der „Obliegenheiten“ trete nach Peter Koch etwa zum ersten Mal klar umrissen im Landrecht hervor. Die Suche nach „preußisch-brandenburgischen“ Elementen im Versicherungs­ recht führt direkt zu den nächsten Narrativen, nämlich denjenigen, die das Ver­ sicherungsrecht des ALR vom Gedanken der obrigkeitlichen Fürsorge des preu­ ßischen Staates für seine Untertanen überformt sehen. Hattenhauer attestiert dem ALR, seine Rechtsmaterie sei generell geprägt durch „eine kräftige Neigung zur Bevormundung der Bürger“.16 In dieselbe Richtung geht die Aussage Thiemes, 8

Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 100. Müssener (2008), S. 2. 10 Dreyer (1990), S. 210. 11 Ähnlich auch Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 184; Büchner, VW 21 (1966), 790, 795; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 303; Neugebauer (1990), S. 28, 154; von Zedtwitz (2000), S. 155. 12 Svarez (1833), S. 156. 13 Dreyer (1990), S. 210 f. 14 P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 308; ders., VersR 45 (1994), 629, 633. 15 Duvinage (1987), S. 9. 16 Hattenhauer, in: Wolff  (Hrsg.) (1995), S. 49, 58; ähnlich V.  Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 22. 9

A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung

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der formuliert, der preußische Gesetzgeber habe mit dem Allgemeinen Land­ recht einen „Katechismus anständigen Verhaltens“ schaffen wollen.17 Nur blei­ ben diese Urteile über das Regelungskonzept des ALR recht allgemein gehalten und beziehen sich zunächst nicht auf das Versicherungsrecht. Erst Peter Koch hat den Ausdruck Thiemes auch tatsächlich in Verbindung mit dem Versicherungs­ recht gebracht, ohne aber konkrete Aussagen zu einzelnen Regelungsinhalten der §§ 1934 ff. ALR zu treffen.18 In ähnlicher Weise, aber mit merkbar negativer Konnotation, urteilt Wüstendörfer über die handels- und versicherungsrechtlichen Vorschriften des Landrechts, die nach seiner Ansicht „getragen von dem Geiste obrigkeitlicher Bevormundung des Handels“ und dennoch „an eigenen neuen Ge­ danken arm“ seien.19 Diesen Urteilen steht auf der anderen Seite aber – in scheinbar unauflösbarem Widerspruch – die Feststellung Landwehrs gegenüber, dass die Redaktoren des Landrechts die „Monita“ erfahrener Sachverständiger „ganz vorzüglich“ benutzt hätten – eine Aussage, die sich schwer leugnen lassen wird, stützt sie sich doch wieder auf den originalen Bericht von Carl Gottlieb Svarez.20 Müsste der Ein­ fluss dieser Sachverständigen nicht aber eigentlich dazu geführt haben, dass das bereits zuvor existierende Handelsgewohnheitsrecht besser zur Geltung gebracht worden ist?21

II. Spezifische Narrative zum Binnenversicherungsrecht im preußischen ALR Bei all diesen unvereinbar wirkenden Narrativen zum Versicherungsrecht des ALR darf aber vor allem nicht übersehen werden, dass sich die Diskussion um das Handels- und Versicherungsrecht im Allgemeinen Landrecht meist im Dunstkreis der Seeversicherung bewegt. Das Feuer- und Lebensversicherungsrecht stand in­ dessen ganz am Rande der wissenschaftlichen Betrachtung. Der preußische Ge­ setzgeber hat nach der Ansicht Duvinages – die sich im Wesentlichen Behrend22 anschließt – ein „zweckentsprechendes Binnenversicherungsrecht“ als ein „erwei­ tertes Seerecht“ geschaffen.23 17 Thieme, in: HRG, Bd. 1 (1. Aufl. 1971), Sp. 99, 107. In der Neuauflage des Artikels von Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155 ff., ist dieses Votum allerdings nicht mehr enthal­ ten. 18 P. Koch, VersR 45 (1994), 629. 19 V.  Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 16; ähnlich ­Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht (2. Aufl. 1950), S. 22. 20 Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 101, mit Verweis auf Svarez (1833), S. 156. 21 Vgl. auch Malß, ZHR 8 (1865), 369, 362 f.; Neugebauer (1990), S. 44 meint sogar, die Beteiligung von Handelspraktikern habe die Entstehung der feuer- und lebensversicherungs­ rechtlichen Normen im ALR begünstigt. 22 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 4. 23 Duvinage (1987), S. 5; so auch Neugebauer (1990), S. 29.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Auch inhaltlich ordneten sich, so Duvinage, alle Normen des Feuer- und Le­ bensversicherungsrechts einer „dominanten Seeversicherung“ unter.24 Doch auch insoweit bleiben die zitierten Forschungsarbeiten vage, nennen also keine konkre­ ten Regelungsbeispiele; das dürfte freilich hauptsächlich der Tatsache geschuldet ist, dass das Preußische Landrecht in vielen umfangreichen Untersuchungen zu moderneren Rechtsmaterien zu einer bloßen rechtshistorischen Fußnote verkommt. Auffällig ist nur, dass kein einziges dieser Narrative das Binnenversicherungsrecht des ALR auch nur irgendwie in Verbindung mit der äußerst schmalen vorgesetz­ lichen Praxis bringt.

III. Narrative über das Verhältnis des ALR zur Versicherungspraxis des 19. Jahrhunderts Vollzieht man vom Binnenversicherungsrecht des Allgemeinen Landrechts einen kleinen Schritt hinein in das 19. Jahrhundert, so wird man feststellen, dass die Ursprünge der frühesten Allgemeinen Versicherungsbedingungen zum Feuerund Lebensversicherungsrecht noch weit weniger Beachtung gefunden haben als das Binnenversicherungsrecht im ALR.25 Sie liegen zum größten Teil noch im Dunkeln. Vergleichsweise einfach scheint die Antwort auf die Frage, wo die Wur­ zeln der privaten deutschen Lebensversicherungsgesellschaften, allen voran der 1828 gegründeten Gothaer Lebensversicherungsbank, liegen; hier verweisen die meisten Autoren wie Rosin26 oder – bereits im 19. Jahrhundert – Emminghaus27 darauf, dass sich ihr Gründer, Ernst Wilhelm Arnoldi, hauptsächlich ein Vorbild an englischen Lebensversicherern genommen habe. Weitaus komplexer und daher für die Forschung von größerem Interesse dürfte sich jedoch die Entwicklung der AVB früher Feuerversicherungsgesellschaften wie der Berlinischen Feuerversicherung-Anstalt, der Gothaer Feuerversicherungsbank oder der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft darstellen. Auch hier herrschte lange Zeit die Idee vor, deren Versicherungsbedingungen seien, zusammen mit der Versicherungstechnik, praktisch in einem Guss von der englischen London Phoe­ nix Fire Assurance Company übernommen worden. Schon von Liebig bezeichnete die London Phoenix am Anfang des 20. Jahrhunderts als eine „Lehrmeisterin für die deutsche Kaufmannschaft in der Feuerassekuranz“,28 und im Übrigen be­ streitet keine moderne Literaturquelle die Nähe insbesondere der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt zur englischen Versicherungspraxis der London Phoe­ 24

Duvinage (1987), S. 5; so auch Neugebauer (1990), S. 29. Eine Ausnahme bildet das Werk von Müssener (2008), der die Entwicklung der Aachener und Münchener im 19. Jhdt. und insbesondere ihre AVB eingehend untersucht. 26 Rosin (1932), S. 103 (aus kultursoziologischer Sicht). 27 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 271 ff.; ders., Geschichte der Lebensver­ sicherungsbank zu Gotha (1877), S. 42 ff. 28 von Liebig (1911), S. 24. 25

A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung

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nix.29 Indessen behaupten in jüngerer Zeit einige Stimmen aus der Wissenschaft, auch das preußische Landrecht, welches als Kodifikation des Versicherungsrechts in der Praxis kaum eine bahnbrechende Rolle gespielt habe, dürfte viele Klauseln der ab 1812 verfassten AVB geprägt und so doch einen mittelbaren Einfluss auf das deutsche Versicherungsrecht genommen haben. Prölss hat in etwa die These gebildet, dass dogmatische Figuren wie der automatische Übergang des Versi­ cherungsverhältnisses bei der Veräußerung der versicherten Sache oder der Haf­ tungsausschluss für Schäden, die von Hausgenossen des Versicherten verursacht wurden, eigene Schöpfungen des ALR seien. Erst später seien solche Klauseln auch in den AVB der Feuerversicherer aufgetaucht.30 Im Anschluss an die Gedan­ ken von Prölss entwickelte sich die gelegentlich kolportierte Interpretation, die neu entstehenden privaten Feuerversicherungsgesellschaften hätten das bereits bestehende Preußische Landrecht teilweise in sich aufgenommen.31 Diese These korreliert jedenfalls mit der obigen Feststellung, dass das ALR paradoxerweise einer ausgedehnten deutschen Binnenversicherungspraxis vorausging. An einer konkreten, analytischen Beweisführung mangelt es der Forschung allerdings auch insoweit.

IV. Der starre rechtshistorische Fokus auf die staatlichen Brandversicherungsanstalten All diese Unschärfen, die in der rechtshistorischen Forschung über das deutsche Versicherungsrecht um 1800 ohnehin vorherrschen, werden noch dazu von einem breiten Diskurs über mittelalterliche und frühneuzeitlichen Feuergilden bzw. öf­ fentlich-rechtliche Brandkassen überlagert. Levin Goldschmidt prägte im 19. Jahr­ hundert etwa das Diktum, das deutsche Versicherungswesen besitze „zwei sich mannigfach verschlingende Wurzeln“: neben der Seeversicherung komme auch ge­ nossenschaftlichen Zusammenschlüssen wie den schleswig-holsteinischen Brand­ gilden eine zentrale Stellung in der Entwicklungsgeschichte der Versicherung zu.32 Spätere Autoren fügten die staatliche Initiative als eine dritte Wurzel hinzu.33

29

Z. B. FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 13; Müssener (2008), S. 38 f.; Neugebauer (1990), S. 19; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158. Dabei war es Prölss nach eigenen Angaben allerdings kriegsbedingt nicht möglich, die AVB der London Phoenix im Original einzusehen. 30 Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 159 f. 31 P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 308; ders., VersR 45 (1994), 629, 633. Im An­ schluss auch Bruck / Möller / Beckmann (9. Aufl.  2008), Einf.  A Rn. 27; Neugebauer (1990), S. 46, 143, 154. 32 Goldschmidt, Universalgeschichte (3. Aufl. 1891), S. 40. 33 P. Koch, in: HdV (1988), 223, 225 f. (nennt die Brandgilden als Wurzeln der modernen VVaG); ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 5 f.; von Zedtwitz (2000), S. 33 ff. Vgl. zum Narrativ der „drei Wurzeln“ eingehend und kritisch Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 172 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Gerade die genossenschaftlichen und staatlichen Versicherungsunternehmun­ gen genossen über das ganze 19. Jahrhundert hinweg bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts enorme Popularität in der wissenschaftlichen Forschung.34 So hat Helmer ausdrücklich geäußert, es liege „in Schleswig-Holstein die älteste, in ununterbrochener Fortsetzung bis in die Gegenwart dauernde Entwicklung der Feuerversicherung vor“;35 seine Forschung konzentrierte sich dann konsequenter­ weise auf die Gilden und die staatlichen Feuersozietäten, die seiner Ansicht nach nichts anderes als unmittelbare Nachfahren der schleswig-holsteinischen Gilden waren.36 Andere Ursprünge des Feuerversicherungsrechts lagen Helmer eher fern, da, wie schon Otto von Gierke im vorangegangenen Jahrhundert behauptet hatte, insbesondere die holsteinischen Gilden aus einem „unerschöpflichen germani­ schen Associationsgeist“ hervorgegangen seien37 – erwerbswirtschaftliche Asse­ kuranzen wie die niederländische Seeversicherung hielt Helmer als Quellen der Versicherung schon deswegen als unwahrscheinlich, weil das eigennützige Ge­ winnstreben der Seeassekuradeure nicht der deutschen „Volkspsyche“ entsprechen würde.38 Der starke, teilweise auch ideologisch gefärbte39 akademische Fokus auf Feuer­ gilden und Feuersozietäten impliziert zumindest, dass jene dem gesamten Feuer­ 34

Besonders intensiv mit den öffentlich-rechtlichen Brandversicherungsanstalten und deren (vermeintlichen) Vorbilden, den schleswig-holsteinischen Brandgilden, haben sich beschäftigt: W. Ebel, Die Hamburger Feuerkontrakte (1936); Helmer, Entstehung und Entwicklung der öf­ fentlich-rechtlichen Brandversicherungsanstalten in Deutschland (1936); ders., Geschichte der privaten Feuerversicherung in den Herzogtümern Schleswig und Holstein (2 Bde., 1925/1926); von Hülsen, Zs. Kgl. Stat. Bureau 7 (1867), 321; Schaefer, Urkundliche Beiträge und Forschun­ gen zur Geschichte der Feuerversicherung in Deutschland (2 Bde., 1911). In neuerer Zeit, s. auch Schmitt-Lermann, Der Versicherungsgedanke im deutschen Geistesleben des Barock und der Aufklärung (1954); Zwierlein, Der gezähmte Prometheus (2011). 35 Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S 32. 36 Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 225 f. (zur Hamburger Feuerkasse von 1676). Zu dem wissenschaftlichen Fokus auf Feuergilden, s. z. B. von Gierke, Bd. 1 (1868), Bd. 1 S. 1051, der meint, die deutsche Feuerversicherung sei „durchweg aus den genossenschaftlichen Schadens­ garantien hervorgegangen“. Vgl. auch Boehart (1985), S. 25 (Gilden als „Vorgeschichte der mo­ dernen Personenversicherung“); P. Koch, Bilder (1978), S. 23 (Gilden als „Wiege der Feuerver­ sicherung auf Gegenseitigkeit“); Schaefer (1911), S. 185 (zur Herkunft der Feuerkontrakte aus den Brandgilden). Vgl. zur hohen Popularität insbesondere der Brandgilden in der deutschen Forschung auch Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 176 f. 37 von Gierke, Bd. 1 (1868), S. 3. Das Narrativ wird z. T. unhinterfragt in der moderneren Li­ teratur widergegeben, vgl. P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 101; ders., in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13; vgl. von Zedtwitz (2000), S. 123. 38 Zum Begriff der „Volkspsyche“ ausdrücklich Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 227. Helmer will mit diesem Begriff begründen, warum der erste Hamburger Feuerkontrakt von 1591 nicht mit der niederländischen Seeassekuranz, sondern mit den schleswig-holsteinischen Brandgilden verwandt ist; das Zitat offenbart die Geisteshaltung, mit denen insbesondere Helmer der Entwicklung der Feuerversicherung betrachtete, und zeigt darüber hinaus, warum sich seiner Forschung alleine auf die „deutschrechtlichen“ Gilden und Sozietäten beschränkte. Vgl. dazu kritisch W. Ebel, Feuerkontrakte (1936), S. 43 Fn. 1. 39 Kritisch zu diesen ideologischen Tendenzen auch Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 9, 14. 

A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung

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versicherungsrecht ihre Prägung gegeben hätten. Zwar fehlte es auch in diesem Diskurs nicht an Stimmen, die im Endeffekt eher Prinzipien der Seeassekuranz als vorbildhaft für die moderne Entwicklung des Feuerversicherungsrechts und seiner AVB ansahen.40 Doch es fällt gleichzeitig auf, wie zahlreiche Autoren – gerade solche, die sich gar nicht dezidiert zu den Nachwirkungen der Feuerkassen äu­ ßern – die privatrechtlichen Feuerversicherungsgesellschaften praktisch im selben Atemzug mit den öffentlichen Brandversicherungsanstalten darstellen, ohne auf eine mögliche Zäsur in der rechtshistorischen Entwicklungslinie überhaupt ein­ zugehen.41 Die Wirkung solcher Litertaturstellen ist mehr eine implizite als eine explizite: bei ihrer Lektüre erwächst dem unbefangenen Leser oft unwillkürlich der Eindruck, die Privatversicherungsanstalten seien nichts anderes als ein weite­ rer Wegpunkt einer linearen Entwicklung vom deutschen Gilden- und Sozietäten­ wesen bis in die Moderne.

V. Weiterer Gang der Forschungsarbeiten am ALR Obwohl also in der Zeit um 1800 mit der Kodifikation der Th. II Tit. 8 §§ 1934– 2358 ALR und mit der darauffolgenden Entstehung der ersten großflächig tätigen Privatversicherungsanstalten ein ganz entscheidender Entwicklungsschritt auf dem Gebiet der Binnenversicherung stattgefunden haben könnte, findet man sich in der wissenschaftlichen Forschung hier eher auf einem unübersichtlichen Feld von Proklamationen und Implikationen wieder. Umso mehr lohnt sich die eingehende rechtshistorische Betrachtung dieses Gebiets. Die vorliegende Untersuchung des Versicherungsrechts im preußischen Land­ recht und vor allem seines Verhältnisses zur binnenländischen Versicherungspra­ xis wird in drei Schritten vorgehen. Zunächst wird die Genese des Landrechts und seiner versicherungsrechtlichen Kodifikation selbst untersucht (B). Sodann schließt sich eine Betrachtung des im frühen 19. Jahrhundert aufblühenden Privatversiche­ rungswesens, nämlich vor allem seiner Allgemeinen Versicherungsbedingungen, an (C). Die genannten beiden Teile dieser Untersuchung kreisen also um das ALR und die Ursprünge der Feuer- und Lebensversicherungspraxis an sich. Auf einzelne rechtsdogmatische Figuren des Versicherungsrechts soll dabei nur exemplarisch Bezug genommen werden, wenn sich dadurch zentrale Entwicklungstendenzen im Gesetz und in den AVB veranschaulichen lassen. Schließlich sollen aber die 40

Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 2; Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 2 § 266 (S. 1227); W. Ebel, Feuerkontrakte (1936), S. 42 f. (Ursprung der Hamburger Feuerkontrakte aus der Seeversiche­ rung); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 35; Hagena (1910), S. 12; Malß, ZVersR 1 (1866), 1, 3; Manes (1905), S. 21. 41 Z. B. Brämer / Brämer (1894), S. 17 ff., 23 ff.; Bruck (1930), S. 8; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 37 ff.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 10; ders., in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 300 (frühe Feuerkassenordnungen als erste Kodifikationen des Versi­ cherungsvertragsrechts); von Liebig (1911), S. 237 ff., 242 ff.; Manes (1905), S. 339; Schmoeckel (2008), Rn. 52 f.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Quellen des Versicherungsrechts im preußischen Landrecht unter materiell-recht­ lichen Gesichtspunkten erforscht werden; im Zusammenhang damit soll auch die hier aufgeworfene Frage beantwortet werden, ob die ältesten Allgemeinen Versi­ cherungsbedingungen tatsächlich nachhaltig unter dem Einfluss des preußischen ALR standen (D). Die unter D angekündigte Untersuchung der AVB verfolgt dabei letztlich zwei Zwecke: zum einen soll aus eigenständigem akademischem Interesse der gelegent­ lichen Behauptung nachgegangen werden, die AVB hätten einige Teile des Land­ rechts rezipiert und in sich aufgenommen. Zum anderen würde ein entsprechender Befund aber der Entwicklungsgeschichte des deutschen Versicherungsrechts an sich eine neue Facette verleihen: damit würde nämlich auch die These, die spätere Kodifikation des Versicherungsrechts im VVG sei eine rein deskriptive Abbildung des Gewohnheitsrechts, eine bislang kaum beachtete Schattierung hinzugewinnen.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht Bevor in dieser Betrachtung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten das eigentliche Binnenversicherungsrecht zum Gegenstand gemacht wird, soll ein Schlaglicht auf den historischen Kontext des ALR, seine grundlegenden Charakterzüge und seine Regelungstechnik geworfen werden, denn zahlreiche einzelne rechtsdogmatische Entwicklungen und Besonderheiten des Versiche­ rungsrechts in Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR lassen sich vor dem Hintergrund der gesetzgeberischen Gesamtkonzeption deutlich besser erkennen.

I. Die Genese des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794 Das preußische Landrecht ist letztlich das Produkt eines Kodifikationswun­ sches, der schon im frühen 18. Jahrhundert aufgekeimt ist, aber bis um das Jahr 1780 ohne Früchte geblieben ist. Will man die gesamte Konzeption des Landrechts verstehen, so lohnt es, einen Blick auf den Zustand des preußischen Rechts vor dem ALR zu werfen. Im Anschluss daran sollen überblicksartig die einzelnen Schritte des formellen Gesetzgebungsverfahrens skizziert werden – vor allem diejenigen, die bei der Genese des preußischen Versicherungsrechtes eine entscheidende Rolle gespielt haben.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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1. Vorgeschichte, Gründe und Ursachen der preußischen Kodifikationsbestrebungen Einer der wichtigsten Zwecke des preußischen ALR an sich war die Schaffung von Rechtseinheit und Rechtsklarheit. Diese Intention lässt sich in ihrem vollen Umfang verstehen, wenn man sich den Rechtszustand in Preußen vor dem Jahr 1794 vergegenwärtigt: es herrschte ein Zustand der Rechtszersplitterung, der schon das Auffinden des anzuwendenden Rechts überhaupt erschwerte. Zwar beanspruchte im Grundsatz das römische Recht in der Form des Corpus Iuris Civilis Geltung, doch daneben existierte noch eine große Zahl an histori­ schen gewachsenen Rechten, welche die römische Rechtsordnung als subsidiär zurückdrängten. Deren Verhältnis untereinander war aber nur selten eindeutig, weil häufig örtliches und überörtliches Gewohnheitsrecht sowie zahllose Normen des Partikularrechts im Anwendungskonflikt mit Rechtsquellen wie dem tradier­ ten sächsischen Landrecht oder dem langobardischen Lehensrecht standen. Nicht selten lag es – zumindest de facto – im Ermessen des Rechtsanwenders, welche Normen er zur konkreten Falllösung heranzog, wie er also, um beim Beispiel zu bleiben, die Rangfolge zwischen römischem und sächsischem Recht beurteilte. Noch dazu unterschieden sich die Rechtsanschauungen in den einzelnen Landes­ teilen zum Teil erheblich; so herrschte der schlesische Adel über seine Untertanen noch als Leibeigene, während alte feudale Strukturen sich in den westlichen Ge­ bieten Preußens schon auflösten.42 Besonders spürbar wurde dieser verworrene Rechtszustand unter anderem auch im Handelsrecht, wozu nach der Systematik des ALR auch das Versicherungs­ recht zählte. Gerade die Handelspraxis hegte kaum Vertrauen in die preußische Gerichtsbarkeit: nicht nur arbeiteten die preußischen Gerichte in langwierigen schriftlichen Verfahren, was schon einer wünschenswert raschen Abwicklung von täglichen Handelsstreitigkeiten entgegenstand; vor allem aber auch waren den ju­ ristisch ausgebildeten Richtern die kaufmännischen Handelsgewohnheiten ganz überwiegend fremd. So äußerten viele Zeitgenossen wie der Mathematiker und renommierte Handelswissenschaftler Johann Georg Büsch ihren Unmut darüber, dass die ordentlichen Gerichte oft „die Sache einseitig nach ihren notionibus Juris ansehen, aber keine Rücksicht auf die Natur des Geschäftes und auf dasjenige neh­ men, was der gute Glaube erfodert, oder auf den Schaden, der dem unschuldigen und gar nicht an der Sache teilnehmenden daraus erwachsen kann.“43

42

Ausführlich dazu Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XVII ff. (mit einem Beispiel aus der zeitgenössischen Wissenschaft). Vgl. insgesamt zur Rechtszersplitterung in Preußen vor 1794: Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 45 f.; Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 51; Immel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 3, 42 ff., 61 ff.; Koselleck (1989), S. 37; E. Schmidt, Rechts­ entwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 11. 43 Büsch, in: Büsch / Ebeling (Hrsg.), Bd. 1 (1785), S. 660, 667 f.; vgl. Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 91 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Aus diesem Zustand der preußischen Gesetzgebung und Rechtspflege erklärt sich die Bestrebung, mit dem ALR ein einheitliches und abschließendes Gesetz­ buch zu schaffen, das für alle Landesteile galt und der Zersplitterung der zahl­ reichen Rechtsmaterien ein Ende setzte.44 Mit der Vereinheitlichung des Rechts strebte der Staat Preußen letztlich auch eine politische Integration des Landes an. Es galt einerseits, die westlichen und östlichen Landesteile mit ihren divergieren­ den Rechts- und Herrschaftssystemen stärker in einen erstarkenden preußischen Zentralstaat zu binden, durch eine einheitliche Rechtssetzung also die Stellung des preußischen Königs gegenüber den lokalen Adligen zu verfestigen.45 Andererseits sollte das Landrecht aber auch die eigenständige Position Preußens gegenüber dem Heiligen Römischen Reich unterstreichen, denn im 18. Jahrhundert waren die westlichen Landesteile, insbesondere das Kurfürstentum Brandenburg und die schlesischen Gebiete formell noch in das Reich eingebunden.46 Mit diesem Streben nach Rechtsvereinheitlichung war gleichzeitig der Wunsch nach Rechtsklarheit, durchaus auch im Sinne einer effektiven Rechtspflege, ver­ bunden. Der preußische König Friedrich II. („der Große“) hatte sich selbst in einer Kabinettsordre missbilligend über die vor dem Landrecht herrschende, verworrene Rechtslage und Rechtspraxis geäußert und verband mit dem Kodifikationsprojekt die Hoffnung, die Rechtswissenschaft würde „um ihren ganzen Subtilitäten-Kram gebracht und auch das ganze Corps der bisherigen Advocaten unnütz werden.“47 Speziell für die Handelspraxis erhoffte er sich, noch ganz im Geiste der kameralis­ tisch-merkantilistischen Staatsauffassung verhaftet: „Allein Wir werden dagegen Unsere getreue Untertanen von einer nicht geringeren Last befreyen und desto mehr geschickte Kaufleute, Fabricanten und Künstler gewärtigen können, von welchen sich der Staat mehr Nutzen zu versprechen hat.“48 Einer der Zwecke des ALR war es mithin, an Stelle der bisher unklaren und un­ übersichtlichen Rechtssätze eine eindeutige, für den Bürger verständliche und auf der alltäglichen Rechtspraxis aufbauende Rechtsordnung zu schaffen. In diesem Zusammenhang wird in der modernen Literatur oft von einer „Positivierung von Naturrecht“ gesprochen.49 44

Mertens, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 302, 309; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 3. Zur Entwicklung Preußens in die Richtung eines „absolutistischen Gesamtstaates“: Gehrke, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 310, 321 f.; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 49, 60 f.; Mertens, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 302, 309; E. Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 19; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XXXII ff. 46 E. Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 19; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XXXII ff. 47 Barzen (1999), S. 17 f.; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 33 f.; vgl. H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 196 f. 48 Abdruck der allerhöchsten Königl. Cabinets-Order die Verbesserung des Justiz-Wesens betreffend v. 14. 04. 1780 (NCC VI, 1935), Sp. 1942. Vgl. Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 96; E. Schmidt, Geschichte des preußischen Rechtsstaates (1980), S. 187 (sieht das ma­ terielle Zivilrecht des ALR schon an der Schwelle zum Frühkapitalismus). 49 Vgl. Barzen (1999), S. 5; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 500; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 44 (der betont, das Gesetz habe den „preußischen Rechts­ 45

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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All diese Gedanken und Ziele traten selbstverständlich nicht zum allerersten Male mit dem ALR von 1794 ans Licht. Das Landrecht bildete nur den Schluss­ punkt einer Entwicklung, die sich in Preußen durch das ganze 18. Jahrhundert ge­ zogen hatte. Schon der Vater Friedrichs II., der „König in Preußen“ Friedrich Wil­ helm I., hatte die Idee gefasst, den Zustand des preußischen Rechts zu bereinigen. Eine Kabinettsordre Friedrich Wilhelms vom 01. 03. 1738 entwarf einen „Plan für ein allgemeines Landrecht für alle Staaten“, der aber nie zur praktischen Durch­ führung gelangte.50 Bereits in die seit 1740 dauernde Regierungszeit Friedrichs II. fiel ein ähnlicher Versuch des preußischen Justizministers Samuel von Cocceji, der in seinem „Unvorgreiflichen Plan wegen Verbesserung der Justiz“ vom 09. 05. 1746 auch die Schaffung eines subsidiären, einheitlichen Landrechts für alle preußi­ schen Staaten gefordert hatte.51 Die Arbeiten von Coccejis, ab 1747 preußischer Großkanzler, gipfelten in einer gemeinsamen Kammergerichtsordnung, dem Codex Fridericianus Marchius vom 03. 04. 1748, welcher unter anderem das traditionell schriftlich betriebene Gerichtsverfahren ablöste und stattdessen durch das Münd­ lichkeitsprinzip ersetzte.52 Die Pläne zu einem gemeinsamen materiellen Recht gerieten aber ins Stocken und wurden spätestens nach dem Tod von Coccejis im Jahr 1755 nicht länger verfolgt.53 Erst ab dem Jahr 1750 war eine ganz entscheidende, letzte Voraussetzung für das Gelingen einer landesweiten, letztverbindlichen preußische Rechtssetzung er­ füllt. Denn in diesem Jahr erlangte Preußen – nach der Gewährung eines hohen Darlehens an das Heilige Römische Reich – das „privilegium de non appellando illimitatum“ gegenüber dem Reich. Damit konnte gegen Entscheidungen der obersten preußischen Gerichte kein weiteres Rechtsmittel zu Spruchkörpern des Reiches mehr eingelegt werden. Faktisch bedeutete das eine Konzentration der ge­ setzgebenden Gewalt sowie der gesamten Jurisdiktion beim preußischen Staat.54 Der Weg zu einem autonomen preußischen Rechtssystem war endgültig geebnet. Dennoch sollten noch über 40 Jahre bis zum Inkrafttreten des Allgemeinen Land­ rechts vergehen, denn Friedrich II. stand einer Kodifikation des materiellen Rechts zunächst sehr skeptisch gegenüber und trieb in seinen ersten Regierungsjahren hauptsächlich eine Reform der Juristenausbildung voran.55 alltag“ abbilden wollen); Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 4 f.; vgl. auch Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LIII. 50 Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XXVIII. 51 Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 44 (Fn.  9); Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 51. 52 Barzen (1999), S. 13; E. Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 26; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XXIX f. 53 Barzen (1999), S. 14 f.; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 45 (Fn. 9); Hellwege, in: HWBEuP (2009), Bd. 1, S. 50, 51; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XXXVII f. 54 E.  Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 25; ders., Geschichte des preußischen Rechtsstaates (1980), S. 100. Ein eingeschränktes Rechtsprechungsprivileg Preußens existierte allerdings schon seit 24. 07. 1586, dazu E. Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 19. 55 Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 32 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

In den letzten Regierungsjahren Friedrichs II. legte man dann aber doch den Grundstein für das Allgemeine Preußische Landrecht. Als unmittelbarer Auslöser wird weithin die sogenannte „Müller-Arnold-Affäre“ benannt: einem Müller war durch seinen adligen Verpächter das Wasser seines Mühlbaches entzogen worden, woraufhin er seinen Erbpachtzins schuldig blieb und schließlich seine Mühle durch Zwangsvollstreckung verlor. Nachdem der Müller in allen Gerichtsinstanzen unter­ legen war, griff Friedrich II., der seinen Namen durch das Urteil „cruel gemiss­ braucht“ sah, hoheitlich ein und ließ die erkennenden Richter 1779 wegen Rechts­ beugung inhaftieren.56 Allerdings darf diese gerne zitierte Episode nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gründe für den Wunsch nach einer Gesamtrechtskodi­ fikation viel weiter zurückreichten und die „Müller-Arnold-Affäre“ – wenn über­ haupt – nur der letzte Zündfunke für die Kodifikation des ALR war. Allenthalben zeigt sie plastisch, wie angespannt das Verhältnis Friedrichs II. zum Rechtszustand und vor allem zur Jurisdiktion seines eigenen Königreichs war, welcher er selbst einen Hang zu „Subtilitäten-Kram“ attestierte. Jedenfalls war der preußische Gesetzgeber ab 1780 in das Stadium der eigent­ lichen Gesetzgebungsarbeit eingetreten, die 13 Jahre später erfolgreich zum In­ krafttreten des Allgemeinen Landrechts führen sollte – und damit auch zur ersten gesetzlichen Kodifikation des Binnenversicherungsrechts überhaupt. 2. Vom Bedürfnis einer „Universalrechtskodifikation“ bis zum „Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches“ (1784) Der eigentliche Gesetzgebungsprozess,57 der 1784 zunächst einen Entwurf eines „Allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten“ hervorbrachte und schließlich im „Allgemeinen Landrecht“ von 1794 mündete, wurde durch besagte Kabinettsordre Friedrichs II. vom 14. 04. 1780 in Gang gesetzt. Diese befasste sich ihrerseits zwar nochmals mit Reformen zur Vereinfachung des Prozessrechts, deutete aber bereits den Plan eines subsidiären Gesetzbuches für alle preußischen Staaten an.58 Dieser erste Plan beinhaltete also die Idee, die angestrebte preußische Kodifikation solle subsidiär hinter die vorrangigen Provinzialrechte zurücktreten, 56 Barzen (1999), S. 17 f.; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 45 (Fn.  9); Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 35; E. Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 26; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XXXVIII ff. 57 Sämtliche Gesetzgebungsmaterialien wurden schon im frühen 19. Jhdt. von Justizkom­ missar Heinrich Simon zusammengetragen und neu geordnet, vgl. zum Inhalt der Gesetz­ gebungsmaterialien im Detail: H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 238 ff. Sie sind heute im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz archiviert (GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007). 58 Barzen (1999), S. 21 f.; Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155, 157; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 44 ff.; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 35; Landwehr, in: Loose  (Hrsg.)  (1976), S. 59, 96; H.  Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 197; Svarez /  Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XLIV f.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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ein Zugeständnis Friedrichs an den lokalen Adel.59 Andererseits aber war die neue preußische Rechtsordnung von Anfang an als „Regelrecht“ konzipiert, während eigene Gesetzesbücher in den einzelnen Provinzen nur noch Abweichungen von der gesamtpreußischen Kodifikation regeln sollten – de facto fiel dem geplanten preußischen Gesetzbuch damit schon von Anfang an eine dominante „Leitfunk­ tion“ gegenüber den Provinzialrechten zu.60 Durch eine weitere Kabinettsordre vom 27. 07. 1780 erhielt der Gedanke einer subsidiären Gesamtrechtskodifikation klarere Konturen. Sie kopierte beinahe wörtlich eine von Carl Gottlob von Svarez bereits im April oder Mai 1780 ver­ fasste „Vorläufige Instruction zur Etablirung der Gesetz-Commission“, welche das formelle Gesetzgebungsverfahren akkurat vorgezeichnet hat.61 Die praktische Durchführung dieser „Instruction“ vertraute der König seinem Großkanzler Jo­ hann Heinrich von Carmer an, der – unterstützt von einem Kollegium, letztlich aber alleinentscheidungsbefugt – den Plan zur Abfassung einer preußischen Uni­ versalrechtskodifikation in die Tat umsetzte.62 Das spätere Gesetz firmierte zu diesem Zeitpunkt noch unter dem Titel „Allgemeines Gesetzbuch für die preußi­ schen Staaten“. Die „Vorläufige Instruction“ vom Frühjahr 1780 bietet der Forschung allerdings auch einen tieferen Einblick in die Quellen, aus denen sich das „Allgemeine Ge­ setzbuch“ speisen sollte. Zuvorderst nannte die Kabinettsordre das Corpus Iuris Iustinani als Rechtsquelle für das neue Gesetz; die dort enthaltenen Rechtssätze des römischen Rechts sollten zusammengetragen, in eine neue Ordnung gebracht und gestrafft werden, namentlich gekürzt um „Alles, was sich auf solche Verhält­ niße und Geschäfte bezieht, die nach unsrer heutiger Verfaßung nicht mehr vor­ kommen können“.63 Rechtliche Erkenntnisse über das Versicherungsrecht konnte dieser erste Schritt der Gesetzgebung allerdings nicht produzieren, war doch der Gedanke der Prämienversicherung als eigenständiges Rechtsinstitut zum ersten Mal im mittelalterlichen Seehandel aufgekeimt.64 59 Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 47; Koselleck (1989), S. 37 ff.; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 4 f.; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XLVI. 60 Barzen (1999), S. 22 ff.; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 47; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 43; Koselleck (1989), S. 45; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XLVIII f., weist zudem darauf hin, dass sich das Inkrafttreten der geplanten Provinzialgesetzbücher zum Teil erheblich verzögerte, in Ostpreußen z. B. bis 1844, sodass das ALR de facto alleinige Geltung beanspruchte. 61 Vorläufige Instruction zur Etablirung der Gesetz-Commission (1780), abgedruckt bei ­Barzen (1999), S. 70 f. Die Kabinettsordre v. 27. 07. 1780 ist hingegen nicht in der offiziel­ len preußischen Gesetzessammlung (NCC) abgedruckt. Vgl. auch Barzen (1999), S. 59 f.; ­Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 51; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LIX. 62 Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 51; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LVII. 63 Ziff. 4 lit. a Vorläufige Instruction zur Etablirung der Gesetz-Commission (1780). Vgl. auch Barzen (1999), S. 61; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 46 f.; H.  Simon, Jur. Monats­ schrift 11 (1811), 191, 201 f.; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LIX. 64 Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXIII.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Wie aber mit den Rechtsgebieten verfahren werden sollte, die nicht aus dem römi­ schen Recht extrahiert werden konnten, erläuterten Ziff. 6 und 7 der „Instruction“:65 „Ziff. 6. Diesen solcher gestalt arrangirten Gesetzen sollen andre beygefügt werden, welche nöthig sind a.) den Abgang der nach n.4 b wegfallenden Bestimmungen zu ersetzen; b.) denjenigen Geschäften, Verhältnißen und Angelegenheiten, welche in dem Corpus Juris gar nicht enthalten, sondern unsrem gegenwärtigen Zeit-Alter eigenthümlich sind, z. E. dem Wechßel-Geschäfte, den meisten Handlungsverfahren, pp. den Assecuranz-Contracten, dem heutigen Verhältniße zwischen Herrschaften u[nd] Unterthanen eine gewiße Richt­ schnur vorzuschreiben. Ziff. 7. Diese Zusätze sind entweder aus bereits vorhandnen allgemeinen Landes-Geset­ zen, insofern sie dergleichen darbiethen, zu nehmen, od[er] sie müßen aus dem, was eine vernünftige Erwegung der Regierungs-Form, der Gebräuche, der Sitten, des Klima, der Landes-Religions- Kriegs- und Handlungs-Verfaßung unsres gegenwärtigen Zeit-Alters an die Hand giebt, erfunden werden.“

Das einzige der „bereits vorhandnen allgemeinen Landes-Gesetze“, das um 1780 Aufschluss über die rechtliche Behandlung von „Assecuranz-Contracten“ gab, war die Preußische Assecuranz- und Havereyordnung von 1766, die ihrerseits starke Einflüsse der Hamburger Assecuranz- und Havereyordnung von 1731 in sich auf­ genommen hatte. So gehen auch alle Stimmen in der Literatur mit ausnahmsloser Übereinstimmung davon aus, die Preußische AHO habe als Grundlage für das Versicherungsrecht des ALR gedient.66 Nur stellt sich eben das Problem, dass die beiden Assecuranz- und Havereyordnungen ausschließlich maritimes Versiche­ rungsrecht, nicht jedoch Regeln zum Binnenversicherungsrecht enthielten; wäh­ rend also die seeversicherungsrechtlichen Quellen des ALR relativ offen liegen, wird es noch eine der Aufgaben dieser Untersuchung sein, im Detail zu klären, was nun eigentlich den Anstoß zur Kodifikation des Binnenversicherungsrechts gab. Nachdem jedenfalls auf diese Weise eine Kompilation aus dem Corpus Iuris und ergänzenden Partikularrechten erstellt worden war, trat das gesetzgebende Kolle­ gium nach den Vorschriften der „Instruction“ in Beratungen mit Sachverständi­ gen über einige Rechtsmaterien ein.67 Die Arbeiten am Allgemeinen Gesetzbuch waren schon 1784 vollendet. Alleine seine Vollziehung durch den König unter­ blieb. Die Gründe dafür liegen im Dunkeln – wohl hielt man die Kodifikation in ihrer Gesamtheit noch nicht für genügend ausgereift. Schließlich veröffentlichte 65

Vgl. Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LIX. So ausdrücklich auch der Abschlussbericht zu den Gesetzgebungsarbeiten von Svarez (1833), S. 156. Vgl. Dreyer (1990), S. 210 f.; Duvinage (1987), S. 4; Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 53; P. Koch, VersR 45 (1994), 629; Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 99; Makower (11. Aufl. 1893), S. 813 Fn. 1; Neugebauer (1990), S. 28. 67 Ziff. 4 lit. a Vorläufige Instruction zur Etablirung der Gesetz-Commission (1780). – vgl. auch Barzen (1999), S. 141 f.; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 209; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LIX. Die Ergebnisse der Sachverständigenberatungen, an denen keine Handelspraktiker teilgenommen haben, sind allerdings nur noch bruchstückhaft vorhanden (archiviert in GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.12); zum Zweck der vorliegenden Untersu­ chung tragen die fragmentarisch erhaltenen Dokumente keine neuen Erkenntnisse bei. 66

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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Großkanzler von Carmer den „Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten“ (EAGB), entgegen der ursprünglichen Konzeption der Kabi­ nettsordre, als bloßen Privatentwurf in seinem eigenen Namen.68 Die II. Abteilung seines erstens Teil, welche im Allgemeinen die „Stände des Staats“ inklusive des Handelsstands behandelte, beinhaltete auch einen zwölften Abschnitt „Von Ver­ sicherungen“ (Th. I Abt. II §§ 1529–1891 EAGB).69 3. Die Einholung öffentlicher „Monita“ zum EAGB Jedoch war das Vorhaben einer preußischen Gesamtrechtskodifikation damit nicht aufgegeben worden. Vielmehr hatte von Carmer sich dazu entschlossen, den „Entwurf für ein Allgemeines Gesetzbuch“ (EAGB) vorläufig einem allgemeinen Publikum zur kritischen Würdigung zur Verfügung zu stellen und ihn dann nach den eingehenden „Monita“ zu überarbeiten.70 Zu diesem Zweck wurden alle ein­ zelnen „Abtheilungen“ des Entwurfs, sechs an der Zahl, in den Jahren 1784–1786 separat veröffentlicht. Das Versicherungsrecht in der zweiten Abteilung des ers­ ten Teils erschien im Jahr 1785.71 Schon die 1784 veröffentlichte erste Abteilung des Gesetzesentwurfes forderte die sachverständige Öffentlichkeit in ihrer Vor­ rede auf:72 „Es geschieht also mit ausdrücklicher Genehmigung des Königs, meines gnädigsten Her­ ren, daß ich diesen Entwurf eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten, und zwar vorjetzt dessen Ersten Theil, welcher die Rechte des Hausstandes enthält, dem Publiko übergebe, und dessen sachverständige Mitglieder, inn- und außerhalb des Landes, zur gründlichen, redlichen und freymüthigen Prüfung desselben feyerlich auffordre.“

Adressiert waren in jener Aufforderung nicht nur Sachverständige und Rechts­ gelehrte, sondern prinzipiell alle Mitglieder der breiteren Öffentlichkeit, „die sich eigentlich gar nicht zum sogenannten gelehrten Stande rechnen, dennoch aber durch Lektüre und Nachdenken ihren Verstand geschärft, und in mancherley Ge­ schäften des bürgerlichen Lebens reife Kenntnisse und Erfahrungen gesammelt haben.“73 Um möglichst zahlreiche Einsendungen zu erhalten, lobte von Carmer für die besten Einsendungen zu einem jeden Titel des Gesetzbuches ein Preisgeld aus.74 68

Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXXIV f. Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten, Textausgabe bei Svarez / Krause, Bd. 2 (2003). 70 Barzen (1999), S. 216; Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 96; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXXV. 71 H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 212. Insgesamt zur sukzessiven Veröffent­ lichung Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 50. 72 Vorerinnerung zum EAGB, Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), S. 4. 73 Vorerinnerung zum EAGB, Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), S. 8. 74 Vorerinnerung zum EAGB, Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), S. 9 f.; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 51; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 217 ff. (inkl. einer Liste der geehr­ ten Preisträger). 69

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Zudem wurde der Entwurf auch an die Provinzialregierungen, die Justizkollegien, die Landstände, die Fachverwaltungen und einige wissenschaftliche Sachverstän­ dige zur Einholung kritischer Stellungnahmen versandt.75 Tatsächlich gewann der preußische Gesetzgeber auf diese Weise eine Vielzahl sachverständiger „Monita“ zum Kodifikationsentwurf von 1785, die zur Umarbei­ tung des Entwurfs systematisch aufbereitet und zum Teil auch effektiv berücksich­ tigt wurden. Für diese Redaktionsarbeit war nicht mehr von Carmer selbst, sondern sein enger Mitarbeiter Carl Gottlieb Svarez zuständig. Dessen Mitarbeiter fertigten zunächst aus all den zugesandten Schriftstücken eine handschriftliche „Extractio monitorum“ an, gewissermaßen eine inhaltliche Zusammenfassung der wesent­ lichen Monita, welche sie bereits systematisiert „ad singulos paragraphos“ des Ent­ wurfes von 1785 ordneten und mit Kommentaren, Bewertungen und Empfehlungen versahen.76 Svarez selbst redigierte schließlich das auf diese Weise entstandene Ma­ terial, indem er in einer abschließenden „Revisio monitorum“ anmerkte, welchen Monita inhaltlich gefolgt werde. Die „Revisio“ bildete am Ende das Fundament für die endgültige Neuredaktion des „Allgemeinen Gesetzbuches“.77 Allerdings scheint die Materie des Handelsrechts – also auch des Versicherungs­ rechts – besondere Schwierigkeiten bei diesem Prozess bereitet zu haben. Der Ruf von Carmers an die breite Öffentlichkeit brachte für das Versicherungsrecht kaum ergiebige Resultate hervor. Lediglich der Instruktionssenat des Berliner Kammer­ gerichts sowie einige wenige preußische Beamte und Provinzialregierungen trugen einige Monita zum Versicherungsrecht (Th. I Abt. II §§ 1529–1891 EAGB) an von Carmer heran,78 doch Handelspraktiker mit eigener Erfahrung im Assekuranz­ wesen äußerten sich nicht zum Entwurf. Obwohl die Einsendefrist für sämtliche öffentliche Monita bereits abgelaufen war, bat Großkanzler von Carmer deshalb Johann Georg Büsch, seines Zeichens Professor für Mathematik am Akademischen Gymnasium in Hamburg und Co-Direktor der Akademie für Handelssachen,79 eine Stellungnahme zum Handelsrecht des Entwurfes abzugeben.80 Büsch hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits durch Schriften über „Handlungs-Usanzen“ und „Handlungs-Rechte“ einen Ruf als renommierter Handelswissenschaftler erwor­

75

H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 212 ff. Barzen (1999), S. 220 f. (mit einem abgedruckten Beispiel); Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 59; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 226; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXXXIII. 77 Barzen (1999), S. 228 f.; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 60; H. Simon, Jur. Monats­ schrift 11 (1811), 191, 227 ff. (mit einem abgedruckten Beispiel); Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXXXIII. 78 Enthalten in den Revisio Monitorum zum EAGB (Erste Sammlung), archiviert in GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.75 (Versicherungsrecht ab Bl. 373); vgl. H. Simon, Jur. Monats­ schrift 11 (1811), 191, 223 f. 79 Zu einer detaillierten Biographie Johann Georg Büschs (1728–1800) s. Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 68 ff.; vgl. Boehart (1985), S. 40 ff. 80 Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXXVI. 76

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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ben; er gilt heute gar als Begründer einer eigenständigen Handelswissenschaft überhaupt.81 Auf dem Gebiet der Lebensversicherung hatte er sich außerdem um die versicherungsmathematisch akkurate Tarifberechnung für die Hamburgische Allgemeine Versorgungsanstalt von 1778 verdient gemacht.82 Auf von Carmers Bitte hin erstatte Büsch in der Tat ein umfangreiches Gutach­ ten, das auf die einzelnen Paragraphen des Entwurfs direkten Bezug nahm, und zwar vor allem auch zum versicherungsrechtlichen Teil des Allgemeinen Gesetz­ buches.83 Büsch zog zu seiner Unterstützung einige Praktiker hinzu, die sich im Januar 1790 in gemeinsamen „Conferenzen“ über das Handels-, insbesondere das Versicherungsrecht des Entwurfs berieten. Neben Johann Georg Büsch nahmen an diesen „Conferenzen“ zwei Handelspraktiker, Hinrich Gaedertz und Ulrich Mol­ ler, teil. Unabhängig von dem eigenen Gutachten Büschs ging daraus eine eigen­ ständige Stellungnahme der „Conferenz“ hervor.84 Etwa zur gleichen Zeit sandten Hinrich Gaedertz85 und Georg Heinrich Sieveking86 – ein weiterer Hanseatischer Kaufmann – noch dazu jeweils eigene Monita ein, sodass der preußische Gesetz­ geber zum Schluss doch auf eine Anzahl von kritischen Gutachten zum Versi­ cherungsrecht zurückgreifen konnte. Es ist gut vorstellbar, dass die Mitarbeit von Sieveking, Moller und Gaedertz neue Impulse von Seiten der Versicherungspraxis in die preußische Kodifikation eingebracht haben. Bei Ulrich Moller handelte es sich um den Bevollmächtigten der Fünften Hamburgischen Assecuranz-Compag­ nie von 1779, also einem der wenigen Hamburgischen Praktiker, die schon vor Inkrafttreten des Allgemeinen Landrechts neben der Seeversicherung auch die Feuerversicherung betrieben hatten. Auch Gaedertz arbeitete als hauptberuf­licher Assekuradeur, während Sieveking ein erfahrener Seehandelskaufmann war.87

81

Vgl. P.  Koch, Bilder (1978), S. 74 f.; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 69 f.; Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 77, 85 f. 82 Zur Allgemeinen Versorgungsanstalt von 1778, s. bereits § 1 C IV 2. 83 Monita des Professors Büsch zu Hamburg, archiviert in GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 188–283 (Versicherungsrecht ab Bl. 230). Vgl. Barzen (1999), S. 217 Fn. 2; Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 97. 84 Resultate der Conferenzen, archiviert in GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 284–327 (Versicherungsrecht ab Bl. 304). Vgl. Barzen (1999), S. 217 Fn. 2 (wonach Büsch die „Hülfe einiger Sachverständiger Freunde in Hamburg und Lübeck“ in Anspruch genommen habe); Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 S. 355; P.  Koch, VersR 45 (1994), 629; Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 97 f. 85 Enthalten in den Revisio Monitorum zum EAGB (Nachtrag), archiviert in GStA PK, I.  HA, Rep. 84  XVI, 007.77 (Versicherungsrecht ab Bl. 77). Im Gegensatz zu den Monita Büschs, Sievekings und der „Conferenz“ liegen die Monita von Gaedertz nicht nur in der Originalschrift vor, sondern wurden bereits bei der Revisio Monitorum berücksichtigt (dazu sogleich). 86 Monita des Kaufmannes Sieveking zu Hamburg, archiviert in GStA PK, I.  HA, Rep. 84XVI, 007. 49. 331–353) (Versicherungsrecht ab Bl. 338). 87 Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 97 f.; vgl. zum großen Einfluss der „Monita“ auch Dreyer (1990), S. 210 f. (Einfluss jedenfalls bzgl. „einzelner Normen“); Malß, ZVersR 1 (1866), 1 f.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Die Quellenlage weicht hinsichtlich der „Monita“ zum Handels- und Versi­ cherungsrecht jedoch in mehrfacher Weise erheblich von derjenigen des übrigen Landrechts ab. Zum einen enthielten die handschriftlich verfassten „Extractio monitorum“ und „Revisio monitorum“ zum EAGB keine Einträge zum Versi­ cherungsrecht.88 Svarez hatte die Bearbeitung89 des gesamten handelsrechtlichen Teils nämlich auf einen seiner Mitarbeiter, Baumgarten, delegiert,90 augenschein­ lich wegen der hohen Komplexität und Undurchsichtigkeit handels- oder versiche­ rungsrechtlicher Materien. Zum anderen enthielt das von Baumgarten angefertigte Extrakt zum Handelsund Versicherungsrecht weder die erwähnten Monita Büschs, noch Sievekings oder der „Conferenz“. Das lag schlicht und ergreifend darin begründet, dass jene Monita den Gesetzgeber erst nach dem offiziellen Ende der Einsendungsfrist erreichten und die redaktionelle Aufarbeitung sämtlicher Eingänge zu dieser Zeit offiziell schon abgeschlossen war.91 Die Gesetzgebungsmaterialien zum ALR enthalten insoweit nur die originalen Handschriften jener Wissenschaftler und Praktiker. Alleine die Monita des Assekuradeurs Gaedertz waren bei der „Extractio Moni­ torum“ Baumgartens verwendet worden. Dennoch wurden die anderen Monita bei der Redaktion des Entwurfes berücksichtigt92 und scheinen sogar ganz entschei­ denden Einfluss auf die weitere Entwicklung des Versicherungsrechts genommen zu haben. In seiner wenig später erschienenen „Theoretisch-praktischen Darstel­ lung der Handlung“ proklamierte Büsch sogar selbst, es sei „also vielleicht keinem Teile dieses Gesezbuchs so ernsthaft vorgearbeitet worden, als diesem, wiewol ich damit gar nicht angeben will oder kann, als wäre dasselbe in seiner endlichen Ausfertigung ganz unseren Vorschlägen gemäß erschienen“.93 Andere Stimmen in der Literatur vermuten zudem einen starken Einfluss der Monita Sievekings.94

88 Die komplette Revisio Monitorum von Svarez befindet sich im 80. Band der Gesetz­ gebungsmaterialien (GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.80); darin ist kein Versicherungs­ recht zu finden. Hingegen enthalten die weiter oben zitierten Revisiones Monitorum (GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.75 und 007.77), die ausnahmsweise nicht von Svarez, sondern von Baumgarten verfasst worden sind, ausschließlich Sondermaterien des ALR, wie z. B. auch das Versicherungsrecht. 89 Die Materialien, die von Baumgarten zum Handels- und Versicherungsrecht angefertigt wurden (GStA PK I. HA, Rep. 84 XVI, 007.75–77), enthalten nur Bewertungen und Ände­ rungsvorschläge, die nicht in allen Fällen berücksichtigt wurden; es handelt sich in diesem Sinne tatsächlich nur um eine „Extractio Monitorum“, nicht um eine „Revisio Monitorum“. 90 Barzen (1999), S. 139; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 212 ff.; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXIII. 91 Barzen (1999), S. 218. 92 Barzen (1999), S. 218; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 248 f. 93 Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 S. 355 Vgl. Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 99; Malß, ZHR 8 (1865), 369, 363. 94 Vgl. Landwehr, in: Loose (Hrsg.) (1976), S. 59, 101; Malß, ZHR 8 (1865), 369, 363; ders., ZVersR 1 (1866), 1, 2.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

101

4. Inkrafttreten und Schicksal des ALR und seiner versicherungsrechtlichen Kodifikation All die genannten Arbeiten waren schließlich im Frühjahr 1791 abgeschlossen. Mit dem Publikationspatent vom 20. 03. 179195 wurde der umgearbeitete Entwurf unter dem Titel „Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten“ von König Friedrich Wilhelm II., dem Nachfolger Friedrichs II., verkündet.96 Seinen Charak­ ter als ein subsidiäres Gesetz hatte es formell nie abgelegt; dennoch beanspruchte es de facto die Stellung eines in ganz Preußen gültigen Rechts, da die Kodifikation der theoretisch vorrangigen Provinzialrechte bis 1794 in keiner einzigen preußi­ schen Provinz vollendet worden war.97 Das Inkrafttreten des Gesetzes verzögerte sich allerdings noch um zwei Jahre, was in der Hauptsache dem Widerstand des schlesischen Justizministers Albrecht Leopold von Danckelmann zuzuschreiben war. Dem war das Gesetzbuch in seinen staatsrechtlichen Aspekten zu liberal, weil es die Machtposition des Königs seiner Ansicht nach zu sehr beschnitt.98 Bis zum Frühsommer 1794 erfolgten daher noch einige Umarbeitungen, welche aber das Versicherungsrecht nicht weiter betrafen.99 Unter anderem die Umbenennung des „Allgemeinen Gesetzbuches“ zum „Allgemeinen Landrecht“ – einem tradi­ tioneller oder konservativer klingendem Titel – fällt in diese Phase.100 Schließlich stand dem Inkrafttreten am 01. 06. 1794 nichts mehr im Weg. Damit war auch zum ersten Mal in der deutschen Rechtsgeschichte das Binnenversicherungsrecht zur Kodifikation gebracht worden. Alleine konnte das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten den ho­ hen Erwartungen, welche der Gesetzgeber mit dieser ersten und bis heute einzigen „Universalrechtskodifikation“ verband, nicht auf lange Zeit gerecht werden. Vor allem trugen auch äußere Faktoren dazu bei, dass dem ALR die erhoffte Herstel­ lung der preußischen Rechtseinheit nicht glücken konnte.

95 Patent wegen Publication des neuen allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staa­ ten v. 20. 03. 1791 (Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten 8 [1791], S. XXXIX). 96 Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 61; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 233; Svarez (1833), Vorwort S. IV. 97 Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 52; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XLVIII f. 98 Ausführlich Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 88 ff., 141 ff. (mit einer tiefer gehenden Dar­ stellung der allgemeinen historischen Hintergründe ab S. 72). Dazu auch Barzen (1999), S. 241; Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155, 158 f.; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 46; Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 52; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 6 f.; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 235; Svarez (1833). Vorwort S. IV f. 99 Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 93 ff., 172 ff., 188 ff.; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 45; Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 52; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 8; H. Simon, Jur. Monatsschrift 11 (1811), 191, 236 f. 100 Barzen (1999), S. 248 f.; Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 167, 186 f.; Hellwege, in: HWBEuP (2009), Bd. 1, S. 50, 52; Svarez (1833), Vorwort S. V.

102

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Nur einige Jahre galt es als subsidiarisches Gesetzbuch für das gesamte preu­ ßische Staatsgebiet. Mit den Feldzügen Napoleons begannen aber tiefgreifende politische Umwälzungen. Durch den Frieden von Tilsit verlor das im Krieg unter­ legene Preußen im Jahr 1807 zunächst etwa die Hälfte seines Territoriums, näm­ lich unter anderem sämtliche Gebiete westlich der Elbe sowie die Altmark und Magdeburg.101 Zwar gelang es Preußen im Wiener Kongress von 1815, die ange­ stammten Landesteile zurückzugewinnen und sogar Teile des Rheinlandes – die preußische Rheinprovinz – seinem Staatsgebiet hinzuzufügen, doch waren diese politischen Siege erneut um den Preis eines zersplitterten Rechtssystems erkauft. In den Territorien, die Preußen nach dem Tilsiter Frieden verblieben waren, näm­ lich Brandenburg, Pommern, Schlesien, Ost- und Westpreußen, galt nach wie vor das ALR formell als subsidiarisches Gesetzbuch.102 Darüber hinaus wurde es seit 1815 in den zurückgewonnenen Gebieten, also hauptsächlich den westelbischen Ländern, sogar in den Rang einer alleingültigen Rechtskodifikation erhoben.103 In der preußischen Rheinprovinz beanspruchte es indessen gar keine Geltung, denn dort hatte Napoleon während der französischen Besatzungszeit den französischen Code de Commerce von 1807 eingeführt;104 die ursprünglich geplante Rückkehr zum „feudalen“ Recht des ALR erschien dem aufstrebenden Bürgertum der Rhein­ provinz aber als ein enormer Rückschritt, und so nahm der preußische Staat Ab­ stand von seinen ursprünglichen Plänen, das ALR dort einzuführen.105 Letzten Endes war Preußen, gewissermaßen als Kehrseite zu seiner politischen Expansion, wieder in drei verschiedene Rechtsgebiete zerfallen. Eine weitere Ver­ einheitlichung des Rechts nahm der preußische Staat nicht in Angriff. Sie wäre wegen der weitreichenden politischen und wirtschaftlichen Unterschiede zwi­ schen dem äußersten Westen und dem Osten des Königreichs nach dem Urteil vieler Historiker auch gar nicht mehr möglich gewesen. So wurde die einheitliche Rechtsmaterie des ALR wieder durch zahllose Einzelgesetze und -verordnungen ergänzt und überformt.106 Hinzu trat speziell für das Versicherungsrecht des ALR aber noch, dass es selbst in den preußischen Landesteilen, in welchen es überhaupt noch Geltung bean­ 101

Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1492. Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2880; Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1493. 103 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1492 f.; Koselleck (1989), S. 46 f. 104 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2880; Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1422, 1492; Döge (2016), S. 34 f.; Duvinage (1987), S. 10; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 539; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 47; Koselleck (1989), S. 46 f.; Müssener (2008), S. 51; Neugebauer (1990), S. 58; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 19 f. 105 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2885; Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155, 161 f.; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 539; Müssener (2008), S. 52 f.; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 20. 106 Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 47 f.; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 517; Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 53 f.; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 21 f. 102

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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spruchte, zum größten Teil einen disponiblen Charakter besaß. Nach Th. II Tit. 8 § 2100 ALR richteten sich die „Pflichten des Versicherers und des Versicherten aus dem Contrakte […] hauptsächlich nach dem Inhalt desselben.“ Hingegen wa­ ren „Abweichungen von der Regel, Nebenbedingungen, und Einschränkungen“ zulässig, solange sie ausdrücklich in der Police notiert waren (§ 2101 ALR).107 Nur einigen wenigen Normen muss der preußische Gesetzgeber nach ihrem Sinn und Zweck, ohne es expressis verbis auszusprechen, zwingende Kraft beigemessen haben – vor allen Dingen solchen Normen des Versicherungsrechts, die bestimmte unerwünschte Verhaltensweisen der Parteien untersagten oder unter Strafandro­ hung stellten, zum Beispiel das Verbot der Überversicherung108 oder das Verbot, eine Versicherung auf das Leben eines Dritten zu nehmen, solange dieser nicht in die Versicherung eingewilligt hatte.109 Abgesehen davon lag es aber in der vollen Gestaltungsmacht der Vertragsparteien, die versicherungsrechtlichen Bestimmun­ gen des ALR durch individuelles Vertragsrecht abzuändern. Letzten Endes besaßen die §§ 1934–2358 ALR zum Versicherungsrecht also schon knapp zwanzig Jahre nach ihrem Inkrafttreten nur eine ganz marginale Be­ deutung für die deutsche Versicherungsvertragspraxis – zumindest als unmittelbar verbindliches Recht. Die Leistung des ALR bleibt, als erstes Gesetz überhaupt das Binnenversicherungsrecht einer Kodifikation unterworfen zu haben. Die Ideen, die es in Gesetzesform goss, könnten damit weniger durch direkten gesetzlichen Zwang auf das Vertragsrecht eingewirkt haben als vielmehr auf wesentlich sub­ tilere Weise: nämlich indem es den Praktikern eine Rechtsordnung an die Hand gab, die in ihrer Ausführlichkeit alle bis dato verwendeten Praxisbedingungen bei weitem übertraf.

II. Die Gesamtkonzeption des Binnenversicherungsrechts im preußischen Landrecht Dass die preußische AHO von 1766, ihrerseits stark geprägt von der Hamburger AHO, die Arbeitsgrundlage für die Th II Tit. 8 §§ 1934 ff. des Landrechts bildete, wird in der wissenschaftlichen Literatur nirgends bestritten. Mit dem Verfahren einer Öffentlichkeitsbeteiligung, das zum Eingang zahlreicher „Monita“ von Han­ delswissenschaftlern und -praktikern führte, wurde außerdem bereits eine Quelle für mögliche Einflüsse der Versicherungspraxis auf die Versicherungsgesetz­ gebung im ALR identifiziert. Trotzdem kann jene Entwicklungsgeschichte des Allgemeinen Landrechts noch nicht erklären, wo die eigentlichen Wurzeln des Binnenversicherungsrechts in 107

Zur Disponibilität des Versicherungsrechts im ALR, s. P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631; Neugebauer (1990), S. 34. 108 §§ 1984, 1995 ALR (1794). 109 §§ 1971–1974 ALR (1794).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

§§ 1934–2358 ALR lagen, vor allem des Feuer- und Lebensversicherungsrechts. Denn die beiden AHOen beschäftigten sich ausschließlich mit dem maritimen Versicherungsrecht und auch die am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Prakti­ ker Sieveking, Moller und Gaedertz hatten ihre Erfahrung im Seehandel oder der Seeassekuranz gesammelt. Wie aber sonst hatte das ALR sein Binnenversiche­ rungsrecht konzipiert? 1. Die systematische Gesamtkonzeption: das Binnenversicherungsrecht als „verlängertes Seerecht“ Einigen Aufschluss über die Frage, wie die Binnenversicherung überhaupt in das Allgemeine Landrecht gelangen konnte, gibt schon seine systematische Struktur. Das Versicherungsrecht des Landrechts war, im achten Titel des zweiten Teils – den Vorschriften „Vom Bürgerstande“ – beheimatet. Innerhalb dieses Titels formten die §§ 1934–2358 den 13. Abschnitt „Von Versicherungen“. Nach formalen, dogmati­ schen Gesichtspunkten sah das ALR den Versicherungsvertrag als Unterfall eines „gewagten Geschäfts“ ähnlich einem Spiel oder einer Wette an110 – ein Umstand, der freilich nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass die Versicherung zu dieser Zeit bereits in der Form eines rationalen, planbaren Geschäfts betrieben wurde. Als wesentlich aufschlussreicher erweist sich indes ein Blick auf die innere Sys­ tematik der Regelungsmaterie. a) Die gesetzessystematische Veschränkung des See-, Feuerund Lebensversicherungsrechts Das Versicherungsrecht in den Th. II Tit. 8 §§ 1934 ff. ALR war nicht etwa, wie es in modernen Versicherungsgesetzen üblich ist, in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil eingeteilt; es wurden also gerade nicht zunächst allgemeine recht­ liche Prinzipien für alle Versicherungszweige vor die Klammer gezogen. Das Land­ recht gruppierte den Stoff zwar schon nach rechtsdogmatischen Gesichtspunkten, bildete also beispielsweise geschlossene Regelungskomplexe über die Prämienzah­ lung (§§ 2109–2116), über die vorvertragliche Anzeige (§§ 2024–2061), über die Ge­ fahrerhöhung (§§ 2117–2162) über die Schadensberechnung (§§ 2242–2274) etc. – nach einzelnen Versicherungszweigen trennte es dabei jedoch nicht. Die speziel­ len Regelungen zur See- Feuer- und Lebensversicherung wurden stattdessen „in buntem Durcheinander“, wie Prölss treffend formuliert, miteinander verwoben.111 110

In Th. I Tit. 11 § 546 ALR (1794) (mit Verweis auf die konkrete Behandlung des Versi­ cherungsvertrages in Th. II Tit. 8). Vgl. Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 3; Duvinage (1987), S. 3 f.; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 304; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 29; Neugebauer (1990), S. 29. 111 Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158. Vgl. auch Atzpodien (1982), S. 7; P.  Koch, VersR 45 (1994), 629, 630; Neugebauer (1990), S. 31.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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Den Grundstock der Regelung bildeten dabei stets die Regeln der Seeversiche­ rung, hauptsächlich der Schiffskasko- und Kargoversicherung, die aus der preu­ ßischen AHO abgeleitet waren. Gleichsam als Annex fügte des ALR manchen seeversicherungsrechtlichen Normen diverse Bestimmungen zu weiteren Versiche­ rungszweigen an, insbesondere auch zur Feuer- und Lebensversicherung, sofern zu der Grundsubstanz des Seeversicherungsrechts eine Modifikation oder Ergänzung notwendig erschien.112 Um die oben genannten Beispiele wieder aufzugreifen: nach zwei kurzen Re­ geln über die notwenige Anzeige wesentlicher Umstände vor Vertragsschluss (§§ 2026, 2027) wurden zunächst besonders anzeigebedürftige Umstände der See­ versicherung genannt, wie etwa Bauart, Größe und Zustand des Schiffes (§ 2030) für die Schiffskaskoversicherung, oder die Ladung verderblicher Waren (§§ 2046, 2047) bei der Schiffskargoversicherung. Sodann folgten parallele Regeln zur Le­ bens- und Feuerversicherung: nach § 2050 mussten bei Lebensversicherungen das Alter, der Gesundheitszustand und der Beruf der versicherten Person angegeben werden, während bei einer Mobiliarfeuerversicherung beispielsweise feuergefähr­ liche Waren (§ 2054), die Feuerfestigkeit des Lagergebäudes (§§ 2057, 2058) oder feuergefährliche Gewerbe oder Warenlager in der Nachbarschaft (§ 2059–2061) zum Gegenstand der Gefahrdeklaration gemacht wurden. Eine ganz ähnliche Sys­ tematik erkennt man auch bei den Regeln zur Gefahrerhöhung: auch dort wurden zunächst zwei knapp gehaltene allgemeine Sätze ausgesprochen (§§ 2117, 2118), um dann in kasuistischer Fülle die gefahrerhöhenden Umstände bei der Seeversi­ cherung, wie zum Beispiel eine Verzögerung der Seereise bis zur kalten Jahreszeit (§§ 2131, 2132), zu kodifizieren. Im Anschluss folgten wieder analoge Regelungen zur Lebensversicherung, die beispielsweise von einer gefährlichen Reise des Ver­ sicherten außerhalb der Grenzen Europas handelten (§ 2152); zuletzt entwickelten die §§ 2157–2162 wieder Regeln zur Mobiliarfeuerversicherung, namentlich zur Ortsveränderung des versicherten Gegenstandes oder zum Entstehen einer gefähr­ lichen Nachbarschaft während der Versicherungsdauer. Das strukturelle Muster war also immer dasselbe. Doch nicht für alle Problemfragen erhielten die Feuer- und Lebensversicherung eigene Sondervorschriften. Der Regelungskomplex zur Zahlung der Versicherungs­ prämie (§§ 2109–2116) war zum Beispiel abstrakt formuliert und somit auf alle Versicherungszweige unterschiedslos anwendbar. Als besonders bemerkenswert erwiesen sich die Regelungen in §§ 2242–2274 zur Ermittlung und Berechnung des ersatzfähigen Schadens. Sie enthielten detaillierte Vorschriften zur Taxierung der Schäden an Schiff und Schiffsladung – aber entsprechende Regelungen zur Feuerversicherung fehlten schlichtweg.113 Mit anderen Worten: die Systematik des ALR entwickelte meist einzelne Vor­ schriften des Binnenversicherungsrechts aus den vorangestellten, allgemeinen 112 113

So auch Duvinage (1987), S. 6. Zu diesem Befund auch P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Grundsätzen des Seeversicherungsrechts, wenn sie nicht ohnehin die aus der See­ versicherung entnommenen Grundsätze unverändert auf das Binnenversicherungs­ recht anwendete. Alle Regelungen zur Binnenversicherung ordneten sich, so for­ muliert Peter Koch, der dominanten Materie des Seeversicherungsrechts unter.114 Duvinage urteilt gar, das ALR habe mit seiner Kodifikation der Feuer- und Le­ bensversicherung lediglich ein „zweckentsprechendes Binnenversicherungsrecht als erweitertes Seerecht“ geschaffen.115 Davon ging auch schon Bruck aus: für ihn betrieb das ALR nichts anderes als eine „Ausdehnung seeversicherungsrechtlicher Grundsätze auf das Gebiet der übrigen Schadensversicherung.“116 b) Das materielle Feuerversicherungsrecht des ALR – ein Nebenprodukt des Seeversicherungsrechts? Die beispielsweise von Peter Koch beschworene „Unterordnung“ der Binnenver­ sicherung unter das Recht der Seeassekuranz konnte nach den bisherigen Betrach­ tungen jedenfalls für die systematische Ordnung des ALR nachgewiesen werden. Es liegt nun denkbar nahe, dass sich hierbei auch materiell-rechtliche Aspekte des Seeversicherungsrechts auf die Binnenversicherung übertragen haben  – soweit nicht ohnehin schon die seeversicherungsrechtlichen Normen unmittelbar auf die Binnenversicherung anwendbar waren. Am deutlichsten erkennt man die inhalt­ liche Überführung seerechtlicher Gedanken in die Binnenversicherung, wenn man den allmählich voranschreitenden Entwicklungsprozess einzelner rechts­ dogmatischer Figuren im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens betrachtet. Ein plakatives Beispiel für einen derartigen Prozess findet sich im rechtlichen Institut des Abandons. Der Abandon war eine historisch gewachsene Gewohnheit des Seeversiche­ rungsrechts. War das Schiff auf hoher See verschollen oder war auf andere Weise ein Totalverlust überwiegend wahrscheinlich, so sollte der Versicherte nicht so lange warten müssen, bis der Versicherungsfall tatsächlich erwiesen war. Der Abandon bot dem Versicherten daher die Möglichkeit, das Schiff oder die Ware in einschlägigen Fällen durch einseitige Erklärung gegenüber dem Versicherer aufzugeben und sodann große Teile der Versicherungssumme einzufordern. Da­ für erwarb aber der Assekuradeur ipso iure das Eigentumsrecht am versicherten Gegenstand, falls das Schiff wider Erwarten doch wieder auftauchte oder der Totalverlust doch noch abgewendet wurde.117 Die Assekuranzrechte der meisten 114 P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631. Ähnlich ders., in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 305; Müssener (2008), S. 127. 115 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 4; Duvinage (1987), S. 4. 116 Bruck (1930), S. 9. 117 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 488 ff. (mit zahlreichen Einzelfällen zum Abandon nach Hamburgischem, preußischem und ausländischem Recht); Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 2 § 266; Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap.  3 § 15 (S. 73 f.); Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 74 f. (S. 411 f.); Marshall (1. Aufl. 1805), S. 479; Mittermaier, Bd. 2

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seehandeltreibenden Staaten enthielten Normen zum Abandon, darunter auch die Hamburger AHO von 1731: „Tit. XI Art. 1. Wann ein Schiff, das nach einem in den Gräntzen von Europa gelegenen Ort gehen soll, höchstens 3. Monathe über die ordinaire Zeit, in welcher dergleichen Schiff sonst insgemein die Reise zu verrichten pfleget, ausbleibet, ohne daß Nachricht davon vor­ handen; so kann solches für verlohren gehalten werden, und stehet dem Assecurirten frey, das Schiff und die darin geladene Güter zu abandonniren und von den Assecuradeurs die Bezahlung der von ihnen versicherten und gezeichneten Summen zu fodern; welche dan auch nach Ablauff zweer Monate, von der Zeit an, da der Assecurirte ihnen die Abando­ nirung durch einen geschworenen Mäckler, oder durch den Dispacheur, zu wissen fügen lassen, den Schaden mit 92. pro Centum zu bezahlen schuldig sind.“

Der Versicherer konnte jedoch stattdessen auch noch ein Jahr und zwei Monate auf die Rückkehr des Schiffes warten, musste dann aber, falls es nach wie vor ver­ schollen blieb, die volle Versicherungssumme auszahlen (Tit. XI Art. 2 AHO). Die restlichen Art. 3–6 des XI. Titels enthielten Regeln zu Berechnung der gewöhn­ lichen Reisezeit, weitere Verfahrensvorschriften im Streitfall sowie ein Verbot des Abandonnierens außerhalb von Verschollenheitsfällen.118 Die preußische AHO von 1766 lehnte sich in ihren §§ 151–161 sehr eng, bis zu den konkreten Fristen und Auszahlungsquoten, an die Vorschriften der Hamburger AHO an, ließ darüber hi­ naus aber auch den Abandon zu, wenn das Schiff für mehr als sechs Monate von hoher Hand angehalten worden war.119 Besonders lange Abandonfristen kannte die preußische AHO zudem, wenn das Schiff außerhalb europäischer Gewässer verschollen war.120 Jenen Grundbestand an Abandon-Vorschriften nahm wiederrum der Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten aus dem Jahr 1785 auf. Dessen Th. I Abt. II §§ 1842–1863 fügten hauptsächlich noch viel differen­ zierte Wartefristen, nämlich je nach Aufenthaltsort des Schiffes, hinzu.121 Es lässt sich hier also, wie auch alle Stimmen in der Literatur konstatieren, bis in kleinere Details eine Überlieferungslinie von der Hamburgischen AHO bis hin zum Ent­ wurf des Allgemeinen Gesetzbuches erkennen. Bis zu diesem Zeitpunkt bewegte sich der Abandon also ausschließlich auf dem Boden des Seerechts; er stellte tradi­ tionell eine seeversicherungsrechtliche Besonderheit dar, die der völligen Isolation und Unerreichbarkeit der versicherten Schiffe auf hoher See Rechnung trug. Mit dem Binnenversicherungsrecht verband ihn nichts. So stellte § 1864 des Entwurfs von 1785 lapidar fest: „§ 1864. Bey Feuerversicherungen findet gar kein Abandonnement statt.“ (7. Aufl. 1847), § 308 (S. 119 f.); Pöhls, Bd. 4/2 (1834), §§ 667 (S. 594 ff.); Weskett (1781), S. 1. Zum Abandonrecht des Assekuradeurs s. auch schon § 1 C II 2 dieser Forschungsarbeit. 118 Zum Abandon in der Hamburgischen AHO insgesamt auch Benecke (2. Aufl.  1810), S. 488; Dreyer (1990), S. 156 ff. 119 § 155 PrAHO. 120 § 154 PrAHO. 121 Speziell zu den Abandon im ALR, s. Pöhls, Bd. 4/2 (1834), § 680 (S. 659 f.).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Bemerkenswert ist der nun folgende Vorgang, der sich im Verfahren der Öf­ fentlichkeitsbeteiligung abspielte. Zu § 1864 des Entwurfes ging ein handschrift­ liches Monitum Johann Georg Büschs ein.122 Büsch hielt es für zweckmäßig, die seerechtlich geprägten Gedanken des Abandons auch auf die Mobiliarfeuerver­ sicherung auszudehnen: „Da in Städten, wo nur erträgliche Feueranstalten sind, nicht leicht ein Brand das versi­ cherte bewegliche Gut (denn von diesen kann hier nur die Rede sein) ganz verzehrt, dieje­ nigen Ursachen aber in diesem Fall nicht bestehen, um deren Willen dem Versicherten bei Schäden noch überlassen bleiben muß, für die Rettung des nicht ganz verlorenen, so wie für sein Eigentum zu sorgen, so dünkt mich, müßte hier nicht nur der Abandon Statt haben, sondern sogar zur Regel werden.“

In den dann folgenden Ausführungen schlug Büsch vor, in zwei Fällen auch dem Feuerversicherten ein Abandonrecht einzuräumen. Erstens, so führte Büsch aus, sei der Abandon im Feuerversicherungsrecht sinnvoll, wenn der Versicherer sich selbst nahe an der Brandstelle befinde. Durch den „Abandon“ der feuerver­ sicherten Waren könne der Versicherer sofort das Eigentum an den beschädigten Überresten erwerben und dürfe sie aus den Trümmern des abgebrannten Gebäudes bergen, um sie vor weiterer Verwahrlosung oder Abhandenkommen zu schützen. Zweitens könnte dem Versicherten nach der Idee Büschs das Recht zum „Abandon“ zustehen, wenn er in weiter Ferne von der eigentlichen Brandstelle wohne; denn der Versicherte befinde sich nach dem Brandfall wohl in einiger „Verwirrung“ und könne sich, anders als ein professioneller Seekaufmann, nicht mit ausreichender Sorgfalt um die beschädigten Sachen kümmern. Ihm sei also am besten geholfen, wenn er im Wege des „Abandons“ das Eigentum an den Überbleibseln sofort an den Versicherer abtreten, dafür aber die volle Versicherungssumme kassieren könne. Büsch hatte mit diesem Vorschlag zum ersten Mal den Kerngedanken des Aban­ dons von der Seeversicherung auf die Binnenversicherung transferiert, während man ein solches Institut in älteren Feuersozietäten-Reglements oder selbst in den Mobiliarfeuerversicherungspolicen der Hamburgischen Assecuranz-Compagnien vergeblich sucht. Tatsächlich haben die Redaktoren des ALR Büschs Idee berück­ sichtigt – allerdings in stark vereinfachter und modifizierter Form. Als unmittel­ barer Annex zu den ausladenden Vorschriften über den seeversicherungsrecht­ lichen Abandon (§§ 2300–2329 ALR), welche ihrerseits wiederum in hohem Grade mit den Regelungen des Entwurfs von 1785 übereinstimmten, regelte das ALR nun: „§ 2330. Bey allen übrigen Arten von Versicherung findet gar kein Abandonnement statt. § 2331. Hat aber, bey Feuerassecuranzen, der Versicherer die gezeichnete Summe bezahlt: so gehört ihm alles, was von den versicherten Sachen gerettet, oder aufgefunden wird.“

Nach heutigem Begriffsverständnis würde man eine Regel wie § 2331 ALR frei­ lich gar nicht als „Abandonrecht“ betiteln; es handelte sich vielmehr um ein ein­ 122

Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 281 (Büsch zu § 1684).

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seitiges Recht des Versicherers, das Eigentum an den beschädigten Gegenständen zu übernehmen, indem er die gesamte versicherte Summe auszahlt. Den ursprüng­ lichen Vorschlag Büschs hat die finale Fassung des ALR gewissermaßen auf den Kopf gestellt. Ohne Zuhilfenahme der Gesetzgebungsmaterialien lässt sich der dogmengeschichtliche Zusammenhang zwischen dem „Übernahmerecht“ des Ver­ sicherers und dem „Abandonrecht“ des Versicherten heute kaum noch erkennen. Der gesamte Vorgang zeigt sehr plakativ, wie der preußische Gesetzgeber durchaus nicht davor zurückschreckte, eigentliche Inhalte des Seeversicherungs­ rechts fortzuentwickeln und aus ihnen Regeln für das Binnenversicherungsrecht abzuleiten,123 anstatt das spärliche vorgesetzliche Binnenversicherungsrecht bloß systematisch hinter dem Seeversicherungsrecht abzubilden. Ein solch vereinzelter Befund darf freilich nicht vorschnell verallgemeinert werden. Er illustriert jedoch exemplarisch, in welche Richtung der preußische Gesetzgeber bei der Abfassung des Binnenversicherungsrechts im Grundsatz neigte: tendenziell erschien es ihm zweckmäßig, die Gedanken der Seeversicherung auch für die Binnenversicherung fruchtbar zu machen, wo es ihm für sinnvoll erschien. c) Das Lebensversicherungsrecht im ALR als ein Derivat maritimer Lebens- und Freiheitsversicherungen Die am Beispiel des Abandons veranschaulichte Arbeitsweise des ALR-Gesetz­ gebers, nämlich die Binnenversicherung systematisch durch Ableitungen aus der maritimen Versicherung zu entwickeln oder zumindest zu ergänzen, schlug sich auf spezielle Weise auch im Lebensversicherungsrecht nieder. Die Lebensversi­ cherung trat in der Praxis gegen Ende des 18. Jahrhunderts zum ersten Mal in Ge­ stalt rationell arbeitender, privater oder staatlicher Vorsorgeeinrichtungen auf, so zum Beispiel in der Preußischen Allgemeinen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt von 1775 oder in der Hamburgischen Allgemeinen Versorgungs-Anstalt aus dem Jahr 1778.124 Das Angebot dieser Institutionen bestand hauptsächlich aus lebenszeitigen Versicherungen, die mit dem Versprechen verbunden waren, den Hinterbliebenen beim Tod der versicherten Person periodische Renten auszuzahlen.125 Die Ham­ burgische Versorgungs-Anstalt stellte ihrem Publikum darüber hinaus noch eine breite Variation von Leibrentenprodukten zur Verfügung.126 Das knapp gehaltene Lebensversicherungsrecht des ALR war indes komplett anders gestrickt. 123 So ausdrücklich auch Müssener (2008), S. 127; Neugebauer (1990), S. 29, 44. Vgl. auch Beseler (2. Aufl. 1866), § 129 (S. 538 Fn. 4), der über das ALR urteilt, „manche nur für die Seeassecuranz hergebrachten Grundsätze“ hätten „eine nicht unbedenkliche Ausdehnung er­ halten“. 124 Zu den Bestimmungen der Witwen- und Waisenkassen im Detail s. bereits unter § 1 C IV 2. 125 §§ 1, 36 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); §§ 67, 79 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). 126 Vgl. Tit. III–VI (§§ 42–62) Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Es stand noch ganz in der Tradition der Lebensversicherungen, welche die Asse­ curanz- und Havereyordnungen des 18. Jahrhunderts kodifiziert hatten. Schon die Hamburger AHO enthielt Regelungen zur Versicherung auf den Todesfall (Tit. X Art. 1 AHO). Ihr Konzept war aber ein seerechtliches: der Versicherte schloss eine Assekuranz auf sein eigenes Leben ab, um seine an Land zurückbleibende Ehe­ frau und seine Kinder finanziell gegen sein Ableben während der Schiffsreise ab­ zusichern. Die Gefahren auf hoher See rührten dabei nicht alleine von Wind und Wetter her; vor allem von Seeräubern, die Schiffe mit Gewalt kaperten und die Besatzung entweder in die Sklaverei verkauften oder nur gegen ein hohes Lösegeld heimkehren ließen, ging zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine große Plage aus.127 So hatte die AHO von 1731 die Versicherung auf Todesfälle in engen systema­tischen Zusammenhang mit Assekuranzen auf den Verlust der persönlichen Freiheit oder gegen Lösegeldforderungen gestellt.128 Die im Titel X besonders thematisierte „Assecuranz für Türcken Risiko“ vermochte sogar auf all diese unglücklichen Ereignisse kumulativ zu versichern, wenn nur der jeweilige Versicherungsfall durch „würckliche Türcken“ (Tit. X Art. 6 AHO) herbeigeführt worden war. Die Lebensversicherung war also gleichsam in eine Gemengelage unterschiedlicher Seeversicherungsprodukte verstrickt. In der gleichen Weise regelte die preußische AHO in ihren §§ 139–141 in einem Guss die Versicherung auf das Leben, die Freiheit und gegen „Türkengefahr“. Der Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches von 1785 tat es der preußischen AHO gleich. Dort konnten nach Th. I Abt. II § 1563 Leben und Freiheit eines Menschen versichert werden, während gem. § 1571 auch die „Loskaufung eines von Feinden oder Seeräubern Gefangenen“ einer Versicherung fähig war. Rein äußerlich eman­ zipierte sich die Lebensversicherung des Allgemeinen Landrechts dann von diesen anderen, seerechtlich geprägten Versicherungsarten: die Regeln zum Vertrags­ gegenstand der Lebensversicherung erhielten einen eigenen Regelungskomplex in Th. II Abt. 8 §§ 1968–1974 ALR, während die Freiheits- und die Lösegeldversi­ cherung jeweils separat in den §§ 1975 ff. bzw. §§ 1979 f. ALR behandelt wurden.129 Das EAGB und das preußische Landrecht haben die Lebensversicherung also gewissermaßen von der hohen See aufs feste Land geholt. Einzelne Regelungen zeigen tatsächlich, wie der Gesetzgeber bemüht war, mit seiner Todesfallversiche­ rung nicht mehr bloß seerechtlichen Verhältnissen gerecht zu werden: so sollte nach § 2151 ALR130 eine Todesfallversicherung erlöschen, wenn die versicherte Person 127

Dreyer (1990), S. 50 ff. Zur engen Verwebung von Lebens-, Freiheits- und Lösegeldversicherung insgesamt s. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 53 f.; Dreyer (1990), S. 152 ff.; Duvinage (1987), S. 6; Lammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 609; Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV §§ 68–73 (S. 409 ff.) (zur Seeversicherungspraxis noch vor der Hamburger AHO). 129 Zur Vermischung der Freiheits- und Lösegeldversicherungen mit anderen Versicherungs­ zweigen auch im ALR, s. P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 306; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158. 130 Entspr. § 1712 EAGB. 128

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„ohne des Versicherers Einwilligung außer Europa, oder in den Krieg, oder zur See geht“ – eine Vorschrift, die nur auf binnenländische Versicherungen zugeschnitten war.131 Im Großen und Ganzen war aber auch das ALR nach wie vor von dem Ge­ danken der Lebensversicherung für eine einzelne Seefahrt durchdrungen. Anders als die Witwenversorgungskassen, die regelmäßig eine Zahlung „auf Contributions-­ Fuß“ vorsahen,132 war das preußische Landrecht nicht auf die lebenslängliche, pe­ riodische Zahlung von Lebensversicherungsprämien angelegt; stattdessen kannte es nur die Zahlung einer Einmalprämie, wie es vor allem bei kurzzeitigen Versi­ cherungen sinnvoll war (§ 2109 ALR). Andere von den Witwenkassen ausführlich ausgearbeitete Regelungen fehlten völlig, wie etwa die Frage nach den Folgen einer ordentlichen Vertragskündigung des Versicherungsnehmers133 – ein Problem, das innerhalb des Konzepts einer kurzzeitigen Lebensversicherung „auf hoher See“ gar nicht aufgeworfen wurde. Selbst Klauseln zum Selbstmord der versicherten Person134 kannte das sporadisch geregelte Lebensversicherungsrecht des ALR nicht.135 Da solche Bestimmungen fest zum Regelungsbestand der meisten Wit­ wen- und Waisenkassen und sogar berufsständischer Versorgungseinrichtungen gehörten, dürfte sich die Lebensversicherung des ALR auch insoweit eher an ma­ ritimen Vorbildern wie den Assecuranz- und Havereyordnungen orientiert haben, die solche „Selbstmordklauseln“ nicht enthielten. Dass sich der preußische Gesetzgeber bei der Schaffung seiner Normen zum Lebensversicherungsrecht wohl kaum am Leitbild der Witwen- und Waisenkas­ sen orientiert haben kann, indizieren im Übrigen auch die beiden äußerst knapp gehaltenen Regeln „Von Wittwen- Heiraths- und Sterbekassen“ in Th.  I Tit.  11 §§ 651, 652 ALR. Ihr Regelungsgehalt erschöpfte sich darin, den Betrieb von Wit­ wenkassen einem staatlichen Genehmigungserfordernis zu unterwerfen und ferner lediglich anzuordnen, das Rechtsverhältnis zwischen der Kasse und ihren „Inte­ ressenten“ sei sodann „nach dem vom Staate bestätigten Plane zu beurteilen.“136 Der Gesetzgeber wollte zu den Witwenversorgungseinrichtungen also bewusst keine weitergehenden Vorschriften treffen, indem er die Regelwerke jener Ein­ richtungen entweder bereits als ausreichend erachtete oder das Recht der Witwen­ versorgung insgesamt für noch nicht kodifikationsreif hielt. 131

Dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 550. § 22 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); voraus­ gesetzt in §§ 22, 68 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); vgl. Krünitz, Bd. 71 (1799) S. 11, 162 f. 133 § 18 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); ähnlich § 22 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778). 134 Vgl. z. B. ähnlich schon § 25 Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesell­ schaft (1766) (Spangenberg II, 164); § 26 II lit. d Reglement Preußische Allgemeine WitwenVerpflegungs-Anstalt (1775) (NCC V, 381); § 28 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (Textausgabe,  1778); Art. 28 Reglement Preußische Officier-Wittwen-Casse (1792) (NCC IX, 859). 135 § 1969 ALR (1794) verbot nur die Versicherung auf einen „durch Verbrechen verwirkten Verlust des Lebens“ bzw. die Leistung des Versicherers in einem solchen Fall. 136 Dazu auch Duvinage (1987), S. 8; P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 630. 132

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Schon aus dieser ersten, oberflächlichen Betrachtung des ALR aus rein systema­ tischen Gesichtspunkten lässt sich also die Vorstellung gewinnen, dass das Gesetz seine Lebensversicherung nicht als langfristiges Altersvorsorgeprodukt entworfen hat, sondern noch eng an der Funktionsweise der kurzfristigen, „seerechtlichen“ Lebensversicherung haftete. d) Fazit zur systematischen Gesamtkonzeption des ALR Aus den Untersuchungen zur Regelungssystematik des Allgemeinen Landrechts haben sich also nicht nur formale, sondern gleichzeitig erste inhaltliche Erkennt­ nisse gewinnen lassen: das Binnenversicherungsrecht leitete sich nicht nur in sei­ ner Struktur, sondern teilweise sogar in seinem materiellen Gehalt vom Seever­ sicherungsrecht ab. Das Vorgehen des Gesetzgebers wäre vermutlich ein anderes gewesen, hätte er zu seiner Zeit bereits auf eine autonome, weit gefächerte und verfestigte Feuer- oder Lebensversicherungspraxis zurückgreifen können. Letztlich scheint es, der Gesetzgeber habe den Auftrag, den ihm die „Vorläufige Instruction“ vom Frühjahr 1780 erteilt hatte, durchaus ernst genommen: nämlich solche Stellen, die das bestehende römische oder partikuläre Recht bislang un­ geregelt gelassen hat, „aus dem, was eine vernünftige Erwegung der RegierungsForm, der Gebräuche, der Sitten, des Klima, der Landes-Religions- Kriegs- und Handlungs-Verfaßung unsres gegenwärtigen Zeit-Alters an die Hand giebt“,137 in eigener Regie zu füllen. Jedenfalls in der Mobiliarfeuerversicherung erkannte man zum Ende des 18. Jahrhunderts augenscheinlich solche Lücken noch in großer Zahl; auch die heranwachsende Lebensversicherungspraxis der Hamburgischen und preußischen Witwenversorgungseinrichtungen hielt man offensichtlich nicht für verallgemeinerungsfähig, sodass man sich stattdessen auch insoweit an die speziell seerechtlich gewachsenen Lebensversicherungsgewohnheiten anlehnte. Es bleibt am Schluss dieser Betrachtung systematischer Gesichtspunkte ledig­ lich noch die Frage offen, warum der preußische Staat überhaupt ein solches In­ teresse an der Regelung des in praxi denkbar schwach ausgeformten Binnenver­ sicherungsrechts hatte. Es dürfte wohl der tiefsitzenden Akribie des preußischen Gesetz­gebers verdanken zu sein, dass er das Mobiliarfeuer- und Lebensversiche­ rungsrecht bereits zu einem so frühen Zeitpunkt in gesetzliche Form gießen und etwaig bestehende Lücken füllen wollte: mutmaßlich saßen die abschreckenden Erfahrungen mit dem zersplitterten preußischen Rechtssystem vor 1794 so tief, dass man es ein für alle Mal durch eine abschließende, alle Regelungsmaterien des Lebens umfassende Universalkodifikation zu bereinigen suchte.138 137

Ziff.  7 Vorläufige Instruction zur Etablirung der Gesetz-Commission (1780) (Barzen [1999], S. 70–71). 138 Ähnlich Neugebauer (1990), S. 44, der meint, das ALR hätte die Binnenversicherung nur der Vollständigkeit halber geregelt.

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2. Die regelungstechnische Gesamtkonzeption: Kasusitik versus Dogmatik In engem Zusammenhang zu dem eben aufgezeigten Wunsch, alle rechtlichen Bereiche des Lebens abschließend in einer einzigen Universalkodifikation zu vereinigen, steht auch die bis ins kleinste Detail kasuistisch arbeitende Gesetz­ gebungstechnik. Wesentlich seltener beachtet wird in der Literatur jedoch, dass inmitten der unüberschaubaren Masse an Einzelfallregelung erste abstrakte An­ sätze einer inneren Dogmatik heranwuchsen. a) Einerseits: die überreiche Kasuistik der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR Das Landrecht hatte sich selbst den Anspruch gesetzt, eine für den einfachen preußischen Bürger verständliche Rechtsordnung zu konzipieren, die einen Gegen­ satz zum zersplitterten, inhaltlich oft verschwommenen Rechtszustand in Preußen bilden sollte;139 auch die Frustration über die langsam arbeitende, undurchsichtige preußische Rechtspflege mag dabei eine Rolle gespielt haben. Am deutlichsten spricht diesen Gedanken wieder die an den Großkanzler Carmer adressierte Ka­ binettsordre vom 14. 04. 1780 aus, wo Friedrich II. ausführte:140 „Was endlich die Gesetze selbst betrifft, so finde ich es sehr unschicklich, daß solche größ­ tentheils in einer Sprache geschrieben sind, welche diejenigen nicht verstehen, denen sie doch zu ihrer Richtschnur dienen sollen. Eben so ungereimt ist es, wenn man in einem Staat, der doch seinen unstreitigen Gesetzgeber hat, Gesetze duldet, die durch ihre Dunkelheit und Zweydeutigkeit zu weitläufigen Disputen der Rechtsgelehrten Anlaß geben, oder wohl gar darüber: ob dergleichen Gesetz oder Gewohnheit jemals existirt oder eine Rechtskraft erlangt habe? weitläufige Prozesse veranlaßt werden müssen. Ihr müsst also vorzüglich dahin sehen, daß alle Gesetze für Unsere Staaten und Unterthanen in ihrer eigenen Sprache abgefaßt, genau bestimmt, und vollständig gesammlet werden.“

Diese Idee spiegelte sich dann in konkreterer Form auch der Kabinettsordre vom 27. 07. 1780 wider: per Ziffer 8 der Ordre („Wie der Vortrag beschaffen seyn soll“) wird instruiert, das Gesetz müsse „in deutscher Sprache, ordentlich, verständlich, natürlich und ungekünstelt mit der einem Gesetzgeber anständigen würde abgefasst seyn.“ Die Sprache des Landrechts war in diesem Sinne durchweg knapp, in ein­ fachen Satzkonstruktionen mit höchstens einem Nebensatz gehalten; jeder dieser Rechtssätze bildet einen neuen, kurzen Paragraphen.141 139

Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155, 161 („Lesebuch für den gemeinen Mann“); Finkenauer, ZRG 113 (1996), 40, 45 f.; Hellwege, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1, S. 50, 53; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 4. 140 Abdruck der allerhöchsten Königl. Cabinets-Order die Verbesserung des Justiz-Wesens betreffend v. 14. 04. 1780 (NCC VI, 1935), Sp. 1940. 141 Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 44. Vgl. auch Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155, 161; P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Desgleichen lässt sich bei den meisten einzelnen Normen des ALR ein enorm hoher Konkretisierungsgrad feststellen. Auch aus dem Versicherungsrecht des ALR geht hervor, wie sich der Gesetzgeber um eine detailgetreue Sammlung und Abbildung aller vorstellbaren Einzelfälle bemüht hat.142 Ein besonders extremes Beispiel dieser kasuistischen Exaktheit findet sich bei den Regelungen zur Gefahr­ anzeige des Versicherungsnehmers. Zunächst ließ sich das Landrecht, ganz getreu seiner Systematik, zu den anzei­ gepflichtigen Umständen innerhalb eines Seeversicherungsvertrages ein. Nicht nur mussten im Vorfeld einer Schiffskaskoversicherung die Bauart, Größe und Zustand eines Schiffes, „ob es von anderem als eichnem Holz erbauet sey“ sowie die Zahl der bereits überstandenen Seereisen angegeben werden (Th. II Tit. 8 § 2030 ALR); auch hatte der Versicherungsnehmer nach §§ 2032, 2033 zu offenbaren, ob das Schiff ein Prisenschiff, also ein gekapertes feindliches Schiff war, und – falls der Vertrag in Kriegszeiten geschlossen wurde – ob es verbotene Waren geladen hatte. Die §§ 2034, 2036 zählten im Anschluss daran detailliert auf, was sie als verbotene Ware betrachteten, und zwar „grobes Geschütz und die dazu gehörende Ammuni­ tion, Granaten, Bajonette, Flinten, Karabiner, Pistolen, Kugeln, Flintensteine, Lun­ ten Pulver, Salpeter, Schwefel, Picken, Säbel, Degen, Sättel, Haupt­gestelle, Zelte“ (§ 2034), nicht jedoch „Masten, Schiffholz, Taue, Segeltuch, Hanf, Pech, Korn, und andere Materialien, die in Kriegsbedürfnisse verwandelt werden können, inglei­ chen Pferde“ (§ 2036). Für die Versicherung des Schiffskargos enthielt § 2042 eine entsprechende Klausel. Hatte der Versicherungsnehmer solche „Contrebandewaa­ ren“ verschwiegen und entstand ihm aus solchen ein Schaden, war ihm der Asse­ kuradeur gem. § 2041 insoweit nicht zur Leistung verbunden, durfte aber dennoch die volle Prämie behalten. Auch, ob das Schiff mit oder ohne schützenden Konvoi segeln sollte, musste der Versicherungsnehmer anzeigen; sollte entgegen der An­ zeige dennoch kein Konvoi das Schiff begleiten, war der Assekuradeur nicht ver­ pflichtet, für die feindliche Kaper des Schiffes zu haften (§§ 2043, 2044). Schloss der Versicherungsnehmer hingegen eine Versicherung auf die Schiffsladung, so oblag es ihm nach § 2046, leicht verderbliche Waren anzuzeigen, im Sinne des § 2047 namentlich „Getreyde und alle Sämereyen; alle Salze, als Zucker, Syrup, Vitriol, Alaun, Pot- und Weidasche; frische, getrocknete, und eingemachte Früchte und Kräuter; Blumenzwiebeln und Wurzeln; alle getrocknete Gallerte, vornehm­ lich Leim und Lakritzensaft; alle Arten von Gummi; Rosinen, Wein, Oel, Flachs, Hanf, Käse, Wolle, getrocknete Fische, Heringe, Pelzwerk, ungetheertes Tauwerk und Kabelgarn, künstliche Instrumente, Papier und Bücher.“ Das gleiche galt nach § 2045 ebenfalls für die Ladung von Sklaven und lebendigen Tieren. Innerhalb jenes ganzen Konvoluts von Einzelregelungen fanden sich sogar Klauseln wie §§ 2037, 2038, die mit der eigentlichen vorvertraglichen Anzeige 142

P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631. Zur Kasuistik des Landrechts insgesamt vgl. Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155, 161; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 305; K ­ oselleck (1989), S. 42; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 22 ff.; so auch schon von Savigny (1814), S. 89.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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gar nichts zu tun hatten; sie statuierten, dass sich in Kriegszeiten keine Offiziere feindlicher Staaten an Bord des Schiffes befinden durften, und ferner, dass maxi­ mal ein Drittel der Schiffmannschaft jenen feindlichen Staaten angehören durfte. Die ausladenden kasuistischen Kataloge im Bereich der Seeversicherung stehen hier nur als pars pro toto für die akribische Regelungstechnik, die sich durch das gesamte Allgemeine Landrecht zog. Die sich systematisch anschließenden Paragraphen zum Lebens- und Feuerver­ sicherungsrecht folgten dem gleichen Vorbild. Es seien – an Stelle vieler anderer – hier nur einige Normen zitiert, um anschaulich zu machen, wie die Kasuistik des Gesetzgebers auch das Binnenversicherungsrecht prägte: „§ 2050. Bey Versicherungen über das Leben eines Menschen muß vorzüglich dessen Alter, Gesundheitszustand, und Gewerbe angezeigt werden. § 2053. Werden Waaren, Mobilien und Effekten gegen Feuersgefahr versichert: so muß der Versicherte die Qualität dieser Sachen getreulich anzeigen. § 2054. Sind Schießpulver, Schwefel, Salpeter, Heu, Stroh, ungedroschenes Getreyde, Tabaksblätter, Hanf, Flachs, Heede, getheertes Tauwerk, Pech, Theer, Talch, Terpentinöl und Thran darunter befindlich, so müssen sie, bey Verlust des Rechts und der Prämie, ausdrücklich benannt werden. § 2055.  Gold, Silber, Gold- und Silbergeschirr, Juwelen, Porzellain, Emaille, Spiegel, Gläser, Gemälde, Kupferstiche, Cabinette von Antiquitäten-Naturalien und Kunstsachen, Zeichnungen, Banknoten, Pfandbriefe, Wechsel oder andere Schuldverschreibungen, Con­ trakte oder Schriften, Handlungsbücher und Rechnungen, ingleichen Moventien (Th.  I. Tit. II. §. 17.) sind nicht für versichert zu achten, wenn sie nicht ausdrücklich genannt, und die Versicherung darauf mit gerichtet worden.“

Noch weiter ins Detail gingen die feuerversicherungsrechtlichen Vorschriften der §§ 2056–2063. Sie schrieben vor, dass der Versicherungsnehmer Angaben über die Feuerfestigkeit des Gebäudes, das die versicherten Mobilien beinhaltete, sowie über eine „gefährliche Nachbarschaft“ tätigen musste (§ 2056); Gebäude waren als feuerfest zu erachten, wenn sie „von allen Seiten massive Mauern und Schorn­ steine“ aufweisen konnten (§ 2057) und nicht „mit einer leicht brennbaren Materie, als Schindeln, Brettern, Stroh, Rohr, Schilf“ etc. eingedeckt waren (§ 2058). Eine gefährliche Nachbarschaft zeichnete sich ferner dadurch aus, dass gem. § 2059 „im Gebäude selbst, oder in einem der drey nächsten Häuser“ gefährliche Gewerbe betrieben wurden, namentlich wenn sich dort „Pulvermühlen, Stückgießereyen, Vitriol- und Salmiak-Fabriken, Zuckersiedereyen, chemische Laboratoria, Apo­ theken, Goldschmiede, Kupferschmiede, Gelbgießer, Grobschmiede, Destillateurs, Brauer, Brandweinbrenner, Bäcker, Färber, Seifensieder, Lichtgießer und Töpfer“ angesiedelt hatten (§ 2062), oder dass in den drei benachbarten Häusern feuerge­ fährliche Sachen aufbewahrt wurden oder sie ihrerseits mit brennbaren Materialien im Sinne des § 2059 gedeckt waren (§ 2060).143 143

Zu den deklarationspflichtigen Umständen im ALR s. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 530 f.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Auch die hier demonstrierte reiche Kasuistik gilt heute als einer der Gründe, warum sich das Preußische Landrecht nicht lange bewähren konnte. Denn dynami­ sche Eigenentwicklungen der Rechtspraxis, die im 19. Jahrhundert ganz besonders auf dem Gebiet des Binnenversicherungsrechts vonstatten gingen, konnte das Ge­ setz mit seinem starren Regelungsgehalt nicht bewältigen.144 Wüstendörfer urteilt jedenfalls über das maritime Handels- und Versicherungsrecht des ALR äußerst ungünstig, es sei „voll pedantischer Kasuistik, und doch gegenüber den Verände­ rungen des Seeverkehrs um so eher versagend, an eigenen neuen Gedanken arm, und doch der Fortbildung des Rechts durch neue Handelsbräuche enge Grenzen ziehend“.145 Übrigens hatten schon vereinzelte Zeitgenossen während der Phase der Öffentlichkeitsbeteiligung geahnt, dass jene starre Kasuistik der Versicherungs­ praxis ein zu enges Korsett anlegen könnte. Johann Georg Büsch hatte in einem kritischen Monitum angemerkt, dass die Definition der „drey nächsten Häuser“ als „gefährliche Nachbarschaft“ zu pauschal sei, da die Stadtfeuersozietäten auch die Versicherung näher beieinander liegender Gebäude problemlos bewerkstelligen würden.146 Auch die gemeinsame „Conferenz“ Büschs mit den Praktikern Moller und Gaedertz hatte dem Gesetzgeber hinsichtlich des späteren § 2062 ALR gera­ ten, die Aufzählung feuergefährlicher Gewerbe wesentlich abstrakter zu fassen, da unmöglich alle feuergefährlichen Gewerbe abschließend aufgezählt werden könnten.147 Auf der anderen Seite gingen aber auch Monita ein, die anstelle einer abstrakteren Formulierung sogar eine noch weiter vertiefte Kasuistik forderten.148 b) Andererseits: erste Schritte zu einer abstrakten dogmatischen Struktur des Versicherungsrechts Bei all dieser berechtigten Kritik sollte aber nicht übersehen werden, dass der preußische Gesetzgeber als erster den Versuch unternommen hat, einige zentrale Rechtssätze des See- und Binnenversicherungsrechts in abstrakte Generalklauseln zu fügen.149 Das soeben verwendete Beispiel der Gefahranzeige des Versicherungs­ nehmers lässt sich nahtlos fortführen, um diese Tatsache heller zu illustrieren. Das 144

So ausdrücklich Neugebauer (1990), S. 58. Wüstendörfer, Neuzeitliches Seehandelsrecht (2. Aufl. 1950), S. 16. Ähnlich Atzpodien (1982), S. 7; Bruck (1930), S. 9; Duvinage (1987), S. 9; V. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 13 („kasuistisch breit“). 146 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 238 (Büsch zu § 1633 EAGB = § 2059 ALR). 147 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 306 („Conferenz“ zu § 1636 EAGB = § 2062 ALR). 148 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 306 („Conferenz“ zu § 1628 EAGB = § 2054 ALR). Demnach sollte Aufzählung anzeigepflichtiger Waren auch Schwefel, Salpeter, Terpentinöl und Spiritus umfassen, was in § 2054 größtenteils berücksichtigt wurde. 149 Zur den Bemühungen des ALR nach einer systematischen Ordnung des Stoffes vgl. ­Duvinage (1987), S. 9; Koselleck (1989), S. 42; Neugebauer (1990), S. 31; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 159. 145

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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ALR reicherte nicht nur die Kasuistik der anzeigepflichtigen Umstände enorm an, sondern stellte an deren Spitze vier abstraktere Normen, die dem Problemkreis der „Gefahranzeige“ ein dogmatisches Grundgerüst verleihen sollten: „§ 2025. Hat der Versicherer, vor Schließung des Contrakts, gewisse oder wahrscheinliche Nachricht, daß die Sache bereits in Sicherheit, oder die Gefahr, für welche die Versicherung ertheilt werden soll, schon ganz überstanden sey, erhalten, und dieselbe dem Versicherten verschwiegen: so muß er die ganze Prämie zurückgeben, und den doppelten Betrag der­ selben zur Strafe erlegen. § 2026. Verschweigt der Versicherte Umstände, welche, nach dem vernünftigen Ermessen der Sachkundigen, auf den Entschluß des Versicherers, sich in den Vertrag einzulassen, hät­ ten Einfluß haben können: so ist die Assecuranz unverbindlich, und die Prämie verfallen. § 2027. Dagegen soll dem Versicherten die Entschuldigung, daß die erhaltene und ver­ schwiegene Nachricht noch unzuverläßig oder zweifelhaft gewesen sey, nicht zu statten kommen. § 2028. Kann er überführt werden, vor Schließung des Contrakts, von einem die Sache betroffenen Unglücksfalle sicherere Nachricht gehabt zu haben: so soll er noch außerdem als Betrüger gestraft werden.“

Noch im Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches war eine solche abstrakte Rechtsfolgenregelung nicht enthalten: Th. I Abt. II § 1609 EAGB hatte zwar vor­ geschrieben, der Versicherungsnehmer habe die „wahre Beschaffenheit, Umstände, und Eigenschaften des zu versicherten Gegenstandes, offenherzig anzuzeigen“; für den Fall, dass jene Anzeige unterblieben war, traf der EAGB jedoch keine Be­ stimmung. Die Generalklauseln in Th. II Tit. 8§§ 2025–2027 hatten sich also erst im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses herauskristallisiert und waren gleichsam ein Produkt desselben. Man mag um das Urteil nicht umhin kommen, dass diese ersten Ansätze einer versicherungsrechtlichen Dogmatik noch an einiger Inkonsequenz litten.150 Ers­ tens wurden die abstrakten Rechtsfolgen einer unterlassenen Anzeige aus §§ 2026, 2027 wieder durch spezifischere Vorschriften relativiert, für die Seeversicherung nämlich durch die oben paraphrasierten §§ 2041, 2044, 2048, 2049, für die Feuer­ versicherung durch die speziellen Vorschriften der §§ 2054, 2055. Insgesamt war der tatsächliche Anwendungsbereich der Generalklauseln also stark beschnitten. Zweitens hatte der Gesetzgeber in seine umfassende Ansammlung von Spezial­ klauseln auch assoziativ Verbotsnormen gestreut, wie zum Beispiel die §§ 2037, 2038 über eine unzulässige Zusammensetzung der Schiffsbesatzung  – mit der eigentlichen Pflicht zur Gefahranzeige haben solche Vorschriften nach heutigem dogmatischem Verständnis nichts zu tun. Auch im Feuerversicherungsrecht be­ handelte zum Beispiel bloß § 2054 die eigentliche Anzeige feuergefährlicher Um­ stände, wohingegen § 2055 lediglich angab, welche Gegenstände in der Police 150 So auch P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631, der formuliert, ein systematisches Konzept wurde angedeutet, aber nicht durchgehalten.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

explizit aufgezählt werden mussten, wenn sich die Versicherung überhaupt auf sie erstrecken sollte. Dennoch darf es am Ende als die große Leistung des Allgemeinen Landrechts bezeichnet werden, dass es, trotz seiner überbordenden Kasuistik und trotz eini­ ger Inkonsequenzen und Unschärfen, aus der Masse an singulären Rechtssätzen erste Anfänge einer allgemeineren Versicherungsrechtsdogmatik herausgearbei­ tet hat, die vor dem ALR noch kaum bestanden hatte. Damit waren praktisch im Vorübergehen auch allgemeingültige Generalklauseln für das Feuer- und Lebens­ versicherungsrecht geschaffen – ein besonders denkwürdiger Befund, wenn man sich bewusst macht, wie gering ausgebildet das private Feuerversicherungsrecht in Deutschland zur selben Zeit war, während die staatlichen Feuerversicherungs­ anstalten noch überhaupt keine risikoadäquate Beitragsdifferenzierung vornahmen und folglich auch keinerlei Regelungen zur Gefahranzeige trafen. 3. Die materiell-rechtliche Gesamtkonzeption: Das ALR als Produkt eines aufklärerischen Paternalismus Aber nicht nur unter den Gesichtspunkten der Systematik und der Regelungs­ technik wird im Allgemeinen Landrecht eine Gesamtkonzeption erkennbar. Mehr als andere Kodifikationen seiner Zeit ist das preußische Landrecht auch in der geis­ tes- oder kulturgeschichtlichen Literatur auf reges Interesse gestoßen, namentlich als ein geistiges Produkt der spätabsolutistischen Aufklärung. Fraglich ist freilich, ob diese allgemeinen kulturgeschichtlichen Erwägungen auch im Versicherungs­ recht des preußischen ALR konkretere Früchte getragen haben. a) Das ALR als „Katechismus des anständigen Verhaltens“ Zu der Zeit, als das Preußische Landrecht konzipiert wurde, dem späten 18. Jahr­ hundert, hatte die Philosophie der Aufklärung ihren Eingang in das preußische Staatsdenken gefunden – zumindest in der Theorie.151 Der preußische König Fried­ rich II. selbst war in seinen Vorträgen und Schriften ein leidenschaftlicher Verfech­ ter aufklärerischer Ideen, was freilich nichts daran änderte, dass ihm als spätabso­ lutistischem Herrscher in seiner Machtausübung kaum Grenzen gesetzt waren.152 Im schroffen Gegensatz zu diesen theoretisch formulierten Gedanken steht je­ doch das missgünstige Urteil der Nachwelt über das Handelsrecht des ALR. Schon von Zeitgenossen wurde die Rechtsordnung des ALR sinngemäß als veraltet, rück­ 151

Eckert, HRG, Bd. 1 (2. Aufl. 2008), Sp. 155, 161; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 500; E. Schmidt, Rechtsentwicklung in Preussen (2. Aufl. 1961), S. 22 f. 152 Hattenhauer, in: Wolff  (Hrsg.) (1995), S. 31, 32 f.; Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. XXXVII.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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wärtsgewandt oder gar feudal kritisiert.153 Fast durchgängig wird dem Landrecht heute eine paternalistische Grundhaltung attestiert, insbesondere auch seinem han­ delsrechtlichen Teil.154 Beispielsweise meint Hattenhauer, das Preußische Land­ recht habe „eine umfangreiche Seegesetzgebung von kasuistischer Breite und im Geiste obrigkeitlicher Bevormundung“ geschaffen. Diese Diskrepanz stellt für das preußische Recht nur einen scheinbaren Wider­ spruch dar. In der preußischen Staatsphilosophie standen sich die Grundsätze der Aufklärung und des Paternalismus nicht als völlig gegensätzliche Pole gegenüber. Die menschliche Vernunft, die von den Aufklärern zum Leitfaden alles mensch­ lichen Handelns erhoben wurde, begriffen die preußischen Staatstheoretiker nicht etwa als subjektive, individualistische Begabung der einzelnen Bürger, die sie ge­ wissermaßen von Natur aus zu autonomen Entscheidungen befähigte. Im Gegen­ teil interpretierte man den Gedanken der „ratio“ eher in der Art einer objektivier­ baren Vernünftigkeit, und sah, wie Eberhard Schmidt es treffend ausdrückt, den Menschen als „Träger einer Gattungsvernunft“, die nicht alleine von den subjek­ tiven Urteilen eines einzelnen abhängig war.155 Vor allem daran orientierte sich der preußische Gesetzgeber, wenn er sich auf die Thesen der Aufklärung berief. In diesem Sinne formuliert Hattenhauer: „die Aufklärer waren leidenschaftliche Volkserzieher und fest davon überzeugt zu wissen, was für Preußens Untertanen bekömmlich war.“156 Der Staat könne durch seine Gesetzgebung rationale Prinzi­ pien eben vollkommener in die Praxis umsetzen als die Summe der preußischen Untertanen.157 So habe der preußische Staat – wie Hans Thieme urteilt – mit dem Allgemeinen Landrecht einen „Katechismus anständigen Verhaltens“ geschaf­ fen.158 Letzten Endes verwendete er auch die Gedanken der Aufklärung zur Legi­ timation seines absolutistischen Paternalismus.159 b) Eine paternalistische Ader im Versicherungsrecht des ALR? Doch hat dieses allgemeine staatstheoretische Konzept als „Katechismus des anständigen Verhaltens“, das dem ALR zugeschrieben wird, auch tatsächlich im Handels- und im Versicherungsrecht seinen Niederschlag gefunden, wie Hatten­ 153 Vgl. dazu auch den Widerstand des rheinischen Bürgertums gegen das als „feudal“ emp­ fundene ALR: Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2885; Müssener (2008), S. 52 f.; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 20.  154 Neugebauer (1990), S. 45; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 10 f. 155 E. Schmidt, Geschichte des preußischen Rechtsstaates (1980), S. 173 f. 156 Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 49, 58. 157 Koselleck (1989), S. 26 f. Auch Svarez / Krause, Bd. 1 (1996), Einl. S. LXXII f., merkt an, dass Friedrich II. auf die öffentliche Meinung keine großen Stücke hielt. 158 Thieme, in: HRG, Bd. 1 (1. Aufl. 1971), Sp. 99, 107; vgl. auch P. Koch, VersR 45 (1994), 629. Bruck (1930), S. 9, attestiert dem Versicherungsrecht im ALR dabei eine „kleinbürger­ liche Auffassung“. 159 In diesem Sinne auch Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 49, 56.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

hauer andeuten will? Man sollte doch vermuten, gerade das preußische Versiche­ rungsrecht, das auf dem Fundament der Hamburgischen AHO von 1731 gewachsen ist, müsste eher Ausdruck einer liberalen, pragmatischen Seehandelspraxis sein. Dass aber selbst das Versicherungsrecht von den Einflüssen eines wohlgemeinten staatlichen Paternalismus durchzogen war,160 kann erneut an dem schon oben be­ mühten Beispiel der Gefahranzeige demonstriert werden. Es sei hier ein weiteres Mal auf die kurz zuvor zitierten Generalklauseln in §§ 2025–2028 ALR verwiesen: sie bestimmten, dass der Versicherungsnehmer dem Assekuradeur sämtliche Umstände anzuzeigen hatte, „welche, nach dem ver­ nünftigen Ermessen der Sachkundigen, auf den Entschluß des Versicherers, sich in den Vertrag einzulassen, hätten Einfluß haben können“ (§ 2026 ALR). Andernfalls war der Vertrag unverbindlich und die Prämie verfiel dem Versicherer. Schon der Tatbestand dieser Anzeigepflicht war uferlos weit gefasst: der Ver­ sicherte konnte sich gem. § 2027 ALR nicht einmal damit verteidigen, dass „die erhaltene und verschwiegene Nachricht noch unzuverläßig oder zweifelhaft ge­ wesen sey“ – letztlich musste der Versicherungsnehmer sogar unsichere Gerüchte über die versicherte Sache an den Versicherer weiterreichen.161 Noch schärfer traf es den Assekuradeur, falls er unter falschen Angaben ein Schiff versichert hatte, das sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf hoher See befand. Falls der Versicherer einen solchen Assekuranzvertrag schloss, obwohl er wusste, dass die versicherte Sache in Wahrheit schon die gesamte Gefahr überstanden hatte, so war nicht nur der Vertrag nichtig und der Versicherer hatte die Prämie zurückzuerstatten; da­ rüber hinaus musste er noch die doppelte Prämie „zur Strafe erlegen“, also eine Strafzahlung an den Fiskus leisten (§ 2025 ALR). Die zivilrechtliche Vertragstreue wollte der Gesetzgeber im Endeffekt also mit Bußgeldandrohungen gewährleisten. Mit besonders scharfem Misstrauen begegnete der ALR-Gesetzgeber aber dem Versicherten, der auf Feuergefahr gezeichnet hatte. Manifestiert hat sich jenes Misstrauen des Gesetzgebers etwa in den feuerversicherungsrechtlichen leges spe­ ciales in §§ 2053, 2054 ALR, die gerade eben als Beispiel für die Kasuistik des ALR herangezogen wurden. Aus diesen beiden Bestimmungen des ALR geht exemplarisch hervor, wie groß die Furcht des Gesetzgebers war, der Versicherungsnehmer könne die Versicherung zu seiner persönlichen Bereicherung missbrauchen: nach § 2054 ALR wurde der ge­ samte Versicherungsvertrag nichtig und die Prämie verfiel dem Versicherer, falls der Versicherungsnehmer vergessen hatte, dem Versicherer einen der in der Vorschrift aufgelisteten feuergefährlichen Gegenstände anzuzeigen. Das Verschulden des Versicherungsnehmers war ausweislich des Wortlautes des § 2054 ALR irrelevant.162 160

Ähnlich auch Duvinage (1987), S. 8, die dem ALR eine vorsichtige Strenge gegen den Versicherungsnehmer attestiert (mit einem Bsp. zur Anzeige des Versicherungsfalles). 161 Dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 109. 162 Zur außerordentlichen Strenge des preußischen Rechts bzgl. der Gefahranzeige vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 530 f.; Neugebauer (1990), S. 33 f.

B. Das Allgemeine Landrecht und sein Binnenversicherungsrecht 

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Wie scharf all diese Sanktionen des ALR insbesondere gegen den Versiche­ rungsnehmer waren, zeigt eine kontrastierende Gegenüberstellung zu den paral­ lelen Regeln der Hamburger AHO: sie kannte in Tit. IV Art. 10, 11 nur zwei eng umrissene Einzelfälle, in denen die Nichtanzeige eines Gefahrumstandes zur „Straffe der Nullität des Contracts“ führte: wenn das versicherte Schiff in Kriegs­ zeiten „Contrebande Waaren, als Pulver und Bley, Stücke und Kugeln“ etc. geladen hatte oder wenn es sich bei dem Schiff um ein gekapertes feindliches Schiff, eine „Prise“, handelte. Auch hier spielten zwar weder das Verschulden des Versiche­ rungsnehmers, noch die Kausalität zwischen verschwiegenem Umstand und Ver­ sicherungsfall eine Rolle. Doch außerhalb dieser beiden eng gefassten Fallgruppen legte Tit.  XX Art. 1 AHO  dem Versicherungsnehmer nur dann eine Schadens­ ersatzpflicht auf, „wann er eines bösen Vorsatzes überführet werden kan“. Das preußische Landrecht mag folglich im Grundsatz auf der Hamburgischen AHO aufgebaut haben, doch überformte es seine seeversicherungsrechtlichen Grund­ sätze mit scharfen paternalistischen Strafbestimmungen, um jedem Missbrauch des Vertragsverhältnisses vorzubeugen.163 Aus den Gesetzgebungsmaterialien zum ALR ergibt sich sogar ausdrücklich, dass diese strengen Präventivvorschriften in ihrer konkreten Form vom Gesetz­ geber intendiert waren, dass der Verzicht auf jegliches Verschuldenskriterium also nicht alleine eine redaktionelle Unsauberkeit oder Gedankenlosigkeit war. So war zu der Vorgängernorm der strikten Generalklausel des § 2026 ALR, dem Th. I Abt. II § 1612 EAGB, ein Einwand des Assekuradeurs Hinrich Gaedertz eingegan­ gen. Die Rechtsfolgen des § 1612 EAGB sollten nach seiner Ansicht differenzierter ausgestaltet werden. Nur bei einem relevanten Verschulden des Versicherungsneh­ mers solle die Nichtanzeige gefährlicher Umstände zur Vertragsnichtigkeit führen; der Verfall der Versicherungsprämie an den Versicherer sei darüber hinaus nur dann geboten, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich gehandelt habe. In allen Fällen der bloß fahrlässig unterlassenen Anzeige solle ihm jedoch die volle Prämie unter Abzug einer geringen Geschäftsgebühr zurückerstattet werden.164 Ferner, so wurde vom Verfasser eines anderen Monitums bemerkt, solle die Rechtsfolge der Vertragsnichtigkeit alleine auf die Nichtanzeige von Kontrebandwaren in Kriegs­ zeiten begrenzt werden165 – im Endeffekt wünschte sich der Einsender also eine Rückkehr zur Regelung in Tit. IV Art. 10 der Hamburger AHO. Beide Monita behandelte der Gesetzgeber abschlägig – im Falle des Praktikers Gaedertz sogar mit der redaktionellen Bemerkung, die vorgeschlagene, differen­ zierende Regelung sei „gefährlich“, da der Versicherte im Schadensfall ansons­ ten schließlich immer behaupten könnte, er habe die Nichtanzeige aus bloßem 163 So auch Neugebauer (1990), S. 45 (ausdrücklich zum Recht der „Obliegenheiten“ des Versicherungsnehmers im ALR). 164 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 83 (Gaedertz zu § 1612 EAGB = § 2026 ALR). 165 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 83 (Goßler zu § 1612 EAGB = § 2026 ALR).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Versehen unterlassen.166 Am Ende zeigte sich der preußische Gesetzgeber also durchaus geneigt, sich über die Meinung erfahrener Versicherungspraktiker hin­ wegzusetzen, wenn es darum ging, Missbrauch oder Betrug auf Seiten beider Ver­ tragsparteien zu unterbinden. Aus anderen Monita, die von Handelspraktikern eingereicht wurden, sprach hingegen sogar der eigene Wunsch einiger Assekuradeure, eine härtere Gangart gegenüber betrügerisch handelnden Berufsgenossen einzuschlagen. Die scharfe Sanktion des § 2025 ALR, also die Strafzahlung des Versicherers in Höhe der doppelten Prämie, war im EAGB noch nicht erhalten und lässt sich wiederum bis auf ein Monitum des Assekuradeurs Gaedertz zurückverfolgen.167 Das Motiv der Missbrauchsvermeidung ist indes keine Erfindung des „auf­ klärerischen“ Paternalismus. Gerade für das Feuerversicherungsrecht mag man sich vergegenwärtigen, dass just zur gleichen Zeit, als der Gesetzgeber das ALR abfasste, auch die staatlich gelenkten preußischen Gebäude-Feuersozietäten ver­ suchten, durch starre Selbstversicherungsquoten oder periodische Taxrevisionen jedem schädlichen Anreiz für Brandstiftung von vornherein entgegenzuwirken.168 Es bleibt nach alledem der Eindruck haften, der preußische Gesetzgeber habe sich auch mit dem Allgemeinen Landrecht nicht nachhaltig von dem alten kameralisti­ schen Gedankengut verabschiedet. Obwohl das Recht in der hehren Theorie nun­ mehr ins Gewand der Aufklärung gekleidet worden war, sind seine praktischen Zwecke und Mittel nach wie vor die einer paternalistischen Fürsorge für die preu­ ßischen Untertanen geblieben.169 4. Fazit zur Gesamtkonzeption des ALR: ein Gesetz ohne rechtspraktisches Vorbild? Am Ende dieser Untersuchung über die gesetzgeberische Gesamtkonzeption der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR fällt unwillkürlich auf, wie wenig bislang von der vorgesetzlichen Versicherungspraxis die Rede war. Der preußische Gesetz­ geber hat in etlichen Fällen vermocht, Rechtsgrundsätze für alle Versicherungs­ zweige oder für die Binnenversicherung im Speziellen zu schaffen, ohne dabei zwingend auf Vorbilder aus der binnenländischen Feuer- und Lebensversiche­ rungspraxis zurückgreifen zu müssen. Dazu hatte er eine ganz eigene Methodik entwickelt: seine Werkzeuge waren vor allem Analogieschlüsse zur Seeversiche­ rung, die Destillation allgemeiner Prinzipien aus einer Masse kasuistischer Ein­ 166 Anmerkung des Redaktors Baumgarten zu dem Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 83 (Gaedertz zu § 1612 EAGB = § 2026 ALR). 167 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 84 (Gaedertz zu § 1626 EAGB = § 2025 ALR). 168 Dazu ausführlich bereits unter § 1 C III 2. 169 Zum zeitlichen Nebeneinander von „aufgeklärten“ und merkantilistischen bzw. kamera­ listischen Ideen vgl. Koselleck (1989), S. 119.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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zelfälle des Seeversicherungsrechts oder selbstständige wohlmeinend-paternalis­ tische Erwägungen. Die hier hervorgehobenen, plakativen Beispiele dürfen freilich nicht vorschnell verabsolutiert werden. Wie weit das Binnenversicherungsrecht im Einzelnen von dem gestalterischen Ermessen des preußischen Gesetzgebers geprägt war, soll an späterer Stelle, nämlich im Rahmen der rechtshistorischen Analyse einzelner dog­ matischer Figuren des Binnenversicherungsrechts,170 eingehend erörtert werden.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft Bevor jedoch, wie angekündigt, die einzelnen dogmatischen Elemente des Ver­ sicherungsrechts im ALR eingehender untersucht werden, wirft dieses Kapitel einen Blick auf die Feuer- und Lebensversicherungspraxis des frühen 19. Jahrhun­ derts, das eine Anzahl großflächig operierender, erwerbswirtschaftlicher Gesell­ schaften hervorbrachte. Als die Pioniere dieser neuen Entwicklungsstufe dürfen die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt von 1812 und – für den Bereich der Lebensversicherung – die 1828 gegründete Lebensversicherungsbank für Deutsch­ land zu Gotha gelten. Die Versicherungswirtschaft wurde dabei zum Vorreiter bei der Verwendung Allgemeiner Geschäftsbedingungen: schon die ersten Versiche­ rungsgesellschaften bedienten sich standardisierter Allgemeiner Versicherungs­ bedingungen (AVB).171 Es mag nach der ersten Intuition irritierend erscheinen, wenn auf die Versiche­ rungspraxis erst jetzt ein Licht geworfen wird, nachdem die Gesetzgebung bereits eingehende Erörterung erfahren hat. Doch genau diese Vorgehensweise offen­ bart, wie zu Beginn der Untersuchung bereits angedeutet, das ganze Paradoxon der deutschen Versicherungsgeschichte um das Jahr 1800. Zu einer der scheinbar widersprüchlichsten Erscheinungen in der Entwicklung des deutschen Versiche­ rungsrechts gehört die Tatsache, dass eine breitgefächerte private Versicherungs­ praxis erst dann entstand, als das Feuer- und Lebensversicherungsrecht bereits in den Zustand einer umfassenden Kodifikation gebracht worden waren. Das bedeutet nun zwar nicht, dass es zuvor völlig an Versuchen einer Mobiliarfeuerversicherung oder einer binnenländischen Lebensversicherung gemangelt hatte. Wie aber in den vorangegangenen Untersuchungen deutlich wurde, hob das ALR das Binnenver­ sicherungsrecht auf eine andere Stufe: zum einen sammelte es eine Vielzahl von 170

Dazu später unter § 2 D. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 129; Bruck / Möller / Beckmann (9. Aufl. 2008), Einf. A Rn. 230; F.  Ebel, in: HdV (1988), 617, 623; Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 65 f.; Müssener (2008), S. 4, 140; Neugebauer (1990), S. 131; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 136. Zur Geschichte der AGB insgesamt: L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 26 ff. (S. 35 f. zu den AVB im Speziellen). 171

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Rechtssätzen, die sich noch stark an das gleichzeitig kodifizierte Seeversiche­ rungsrecht lehnten, zum anderen kann es für sich beanspruchen, zum ersten Mal dem Binnenversicherungsrecht ein dogmatisches Gerüst gebaut zu haben, wenn­ gleich noch an vielen Stellen verworren und inkonsequent. Ein solches hatte der Mobiliarfeuerversicherung vor 1794 so gut wie ganz gefehlt. Wenn man nun also bedenkt, dass die erst nach 1800 aufblühende Privatversicherungswirtschaft be­ reits auf einen Fundus extensiver Regelungen zurückgreifen konnte, so scheint es gar nicht mehr wenig plausibel zu sein, dass die ersten privaten Versicherungs­ gesellschaften ihr Recht zu einem Teil auch aus dieser Quelle geschöpft haben könnten. Die folgenden Betrachtungen konzentrieren sich daher auf die Gründung der ältesten deutschen Versicherungsgesellschaften und die von ihnen benutzten AVB. Bei dieser Gelegenheit sollen einige einflussreiche Akteure auf dem Feuer- und Lebensversicherungsmarkt des 19. Jahrhunderts kurz porträtiert werden.

I. Die „erste Gründungswelle“ und ihre historischen Ursachen Der Aufstieg deutscher Versicherungsgesellschaften im frühen 19. Jahrhundert – die sogenannte „erste Gründungswelle“ der Privatversicherungswirtschaft – lässt sich immer nur vor dem Hintergrund der englischen Privatversicherung betrach­ ten, welche vor den ersten deutschen Gründungen den deutschen Binnenversiche­ rungsmarkt dominierten. Denn der Entwicklungsstand in England, wo bis zum Jahr 1800 schon eine lebhafte Bewegung auf dem privaten Binnenversicherungs­ markt herrschte, stand im Gegensatz zu der noch schwach ausgeformten deutschen Versicherungspraxis. Das gilt sowohl für die Feuer- als auch für die Lebensver­ sicherung. Die englischen Lebensversicherer haben schon bereits an früherer Stelle Er­ wähnung gefunden, da sich die komplexe Fortbildung der Lebensversicherungs­ mathematik – die ja auch schon die rechtlichen Bestimmungen der wenigen ra­ tionell arbeitenden deutschen Anstalten prägte – zu einem beträchtlichen Teil in England abgespielt hat. Im Hinblick auf die englische Lebensversicherung sei daher nur noch einmal ins Gedächtnis gerufen, dass englische Anstalten, wie beispielsweise die Society for Equitable Assurances on Lives and Survivorships („Equitable“),172 seit 1762 sowohl Leibrenten als auch Todesfallversicherungen angeboten hatten, wobei die Prämien bereits eine Abstufung nach dem Alter der versicherten Personen erfuhren. Das Lebensversicherungsgeschäft der englischen Gesellschaften erstreckte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts aber auch auf den 172

Zu den Versicherungsbedingungen der „Equitable Life“, s. The Deed of Settlement of the Society for Equitable Assurances on Lives and Survivorships (1765), Textausgabe abgedruckt bei Morgan (1833). Die Bedingungen der Equitable Life bestehen aus dem ursprünglichen Statut („Deed of Settlement“) und zahlreichen angefügten Ergänzungen („Bye-Laws“).

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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europäischen Kontinent, namentlich auch auf die deutschen Staaten. Dort war eine Versicherung bei englischen Lebensversicherern eine gängige Methode, um finan­ zielle Vorsorge für sich selbst oder seine Verwandten zu erlangen.173 Auf der anderen Seite bildete die englische Privatfeuerversicherung einen deutli­ chen Gegenpol zur der staatlich organsierten deutschen Gebäudefeuerversicherung, welche noch maßgeblich von den Anschauungen des Kameralismus geformt war. Der wichtigste Vertreter der englischen Feuerversicherungspraxis war die Phoenix Fire Assurance Company, die seit 1786 eine Zweigniederlassung in Hamburg be­ trieb und bereits verhältnismäßig differenzierte, auf versicherungsmathematischen Erkenntnissen beruhende Prämientarife verwendete.174 Nur am Rande bemerkt sei, dass die London Phoenix trotz ihrer enormen wirtschaftlichen Bedeutung für die deutsche Feuerversicherung keine besonders hervorstechende Rolle bei der Genese der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR spielen konnte: der versicherungsrechtliche Teil des Entwurfs eines Allgemeinen Gesetzbuches (EAGB), der schon das Gros der späteren feuerversicherungsrechtlichen Vorschriften des ALR enthielt, war bereits 1785 erschienen, also noch bevor die „Phoenix“ ihre Hamburger Zweig­ niederlassung gründete. Letzten Endes beherrschten also in den beiden großen Zweigen der Binnenver­ sicherung englische Versicherer den deutschen Markt. Im frühen 19. Jahrhundert hatten in Deutschland tiefgreifende politische Um­ wälzungen stattgefunden: das Heilige Römische Reich, das in der preußischen Rechtsetzung ohnehin nur noch eine theoretische Rolle gespielt hatte, war 1806 während der Napoleonischen Feldzüge endgültig in eine Reihe von Partikular­ staaten zerbrochen, welche durch den Wiener Kongress von 1815 eine neue äu­ ßere Ordnung erhielten.175 Handel und Wirtschaft lagen nach den kriegerischen Auseinandersetzungen am Boden und waren noch dazu durch eine gewaltige Zahl von Zollschranken und territorial uneinheitlichen Rechtssystemen gehemmt.176 Mit Beginn der 1820er Jahre fanden schließlich Handel und Gewerbe zu einer neuen Blüte, indem sich auch erste Prozesse der Industrialisierung in Deutsch­ land abzeichneten.177 Parallel dazu löste sich allmählich das alte merkantilistische bzw. kameralistische Staatsdenken auf. Es wich ersten Ansätzen der sogenannten „physiokratischen Lehren“, welche unter anderem die dirigistischen Eingriffe des 173

Zur englischen Lebensversicherungswirtschaft vgl. bereits oben unter § 1 C IV 1. Zur englischen Feuerversicherungswirtschaft vgl. bereits oben unter § 1 C III 3. 175 Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 1 f.; von Liebig (1911), S. 24; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 23. 176 Braun (2. Aufl. 1963), S. 214 f.; Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 5 ff.; FS 125 Jahre Aachen-Münchener (1950), S. 37; FS 150 Jahre Berli­ nische Feuerversicherung (1962), S. 70. 177 Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 32; Dreher (1991), S. 18; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 129; Frommknecht, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 76, 77; FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 70 f.; P.  Koch, in: Peiner  (Hrsg.)  (1995), S. 13, 23; Müssener (2008), S. 2, 29 f.; L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 16; von Zedtwitz (2000), S. 163. 174

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Staates in die Wirtschaft deutlich zurückfahren wollten.178 Mit anderen Worten: das Wirtschaftssystem entwickelte sich nun auch in Deutschland nach den früh­ kapitalistischen Ideen, die in England schon seit ca. 1750 einen maßgeblichen Stellenwert erlangt hatten.179 Der deutschen Kaufmannschaft, deren Tätigkeit sich jetzt immer material- und kapitalintensiver gestaltete, war die Versicherung ihrer Warenlager gegen Feuer­ gefahr ein großes Bedürfnis, um sich auf wirtschaftlich riskantere Handelsunter­ nehmungen einlassen zu können.180 Bald geriet die Dominanz englischer Versi­ cherungsgesellschaften zu einem Hemmfaktor. Gerade die erwerbswirtschaftlich orientierten englischen Feuerversicherer wie die London Phoenix galten vielfach als intransparent und zum Teil sogar als aggressiv gewinnorientiert, da sie große Teile der vereinnahmten Versicherungsprämien nicht zur Schadensdeckung ver­ wendeten, sondern an ihre „shareholders“ ausschütteten. Unter den deutschen Kaufleuten wurden daher bald Klagen laut, dass große Teile ihres Kapitals dem einheimischen Wirtschaftskreislauf entzogen waren und in England versickerten, während sich Zivilprozesse gegen die ausländischen Versicherer noch dazu als rela­ tiv aufwändig und undurchsichtig erwiesen.181 Die ersten Ideen zu einer in Deutsch­ land beheimateten, erwerbswirtschaftlichen Versicherungsgesellschaft entstanden daher auf dem Gebiet der kaufmännischen Feuerversicherung. Die Präambel, wel­ che die Feuerversicherungsbank für zu Gotha ihrer Verfassung von 1820 voran­ gestellt hatte,182 beschrieb diese Intention besonders anschaulich. Dort hieß es:183 „Gewiß wird daher jeder deutsche Kaufmann, Apotheker und Fabrikant gern in Erfah­ rung bringen, daß die Kaufmannschaften von Erfurt, Gotha, Langensalza, Eisenach und Arnstadt seit geraumer Zeit dem Gedanken ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben: durch Vereinigung eines großen Teils des deutschen Handels- und Fabrikantenstandes zu gegen­ seitiger Versicherung gegen Feuersgefahr, und zwar vermöge der von den Depositobanken entlehnten Einrichtung dieser Anstalt, unter der Benennung einer ‚Feuer-Versicherungs­ 178 Atzpodien (1982), S. 38 f.; Braun (2. Aufl. 1963), S. 212; R.  Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 129 (spricht vom Zeitalter des Liberalismus); FS 125 Jahre Aachen-Münchener (1950), S. 29; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 633 ff.; Körber, ZVersWiss 86 (1997), 491, 495; Manes (1905), S. 24; Müssener (2008), S. 29 f.; von Zedtwitz (2000), S. 130 ff., 163. 179 Frommknecht, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 76, 77; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 184 ff.; Rosin (1932), S. 93 f. (zum Frühkapitalismus in England). 180 Zum Zweck der Versicherung, kapitalintensive Unternehmungen zu ermöglichen, s. Brämer / Brämer (1894), S. 7 f.; von Liebig (1911), S. 70 (Feuerversicherung als „Moment der Beruhigung“); Steinmüller, in: HdV (1988), 49, 52; von Zedtwitz (2000), S. 7 f. 181 Braun (2. Aufl. 1963), S. 216; Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 179 f.; ders., Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 17, 43; FS 100 Jahre MünchenAachener in Bayern (1934), S. 73 (zur Situation in Bayern); FS 125 Jahre Aachen-Münchener (1950), S. 33; FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 11; Krünitz, Bd. 92 (1803), S. 255; von Liebig (1911), S. 25; Plaß / Ehlers (1902), S. 211. 182 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820), in: Sammlung-AVB  I,  6 („Grund und Zweck dieser Anstalt“). 183 Vgl. auch Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 196.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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bank für den deutschen Handelsstand‘ die im ganzen höchst bedeutenden Summen dem deutschen Vaterlande und den Versicherten zu ersparen, die auf vorgedachte Weise, als reiner Gewinn der Privatanstalten, großenteils nach England gezahlt, sofern sie mehr als die damit ersetzten Schäden betragen, auch so weit eine Beute der Spekulation zu werden.“

Übrigens spricht aus der vorliegenden Quelle neben wirtschaftlich-pragmati­ schen Bestrebungen auch ein zeitgenössischer Nationalismus, also das Bewusstsein eines gemeinsamen „deutschen Vaterlandes“, dem alle der zersplitterten Partiku­ larstaaten angehörten und dessen Wirtschaftskraft es zu erhalten gelte. Gerade nach dem Sieg über Napoleon waren nationalistische Ideen fest im Zeitgeist ver­ wurzelt. Ihm wird zugeschrieben, eine Antriebsfeder für viele wirtschaftlichen Initiativen seiner Zeit gewesen zu sein, die nicht selten als „patriotische Unterneh­ mungen“ oder „wohltätige Einrichtungen“ beworben wurden – das gilt insbeson­ dere auch für die Gründung deutscher Versicherungsgesellschaften.184 Im Folgenden sollen knapp einige derjenigen neu gegründeten Versicherungs­ gesellschaften porträtiert werden, die auf die Entwicklung des deutschen Versi­ cherungsrechts einen zentralen, nachhaltigen Einfluss ausgeübt haben, und zwar zunächst für die Feuer- und dann für Lebensversicherung.

II. Die „Erste Gründungswelle“ in der Feuerversicherung Das kaufmännische Bedürfnis nach erwerbswirtschaftlichen Versicherungs­ gesellschaften machte sich als erstes auf dem Gebiet des Feuerversicherungsrechts bemerkbar.185 Die Versicherung von Immobilien im größeren Umfang war diesen frühen Gesellschaften noch gar nicht möglich, weil die weit verzweigten öffent­ lichen Brandkassen entweder schon die meisten Gebäude unter Versicherungs­ zwang gestellt hatten oder zumindest ein staatliches Monopol auf diesem Gebiet für sich beanspruchten.186 Eine breite Lücke ließen die staatlichen Sozietäten aber für die Mobiliarversicherung sowie für die Versicherung derjenigen Gebäude, de­ ren Feuerrisiko ihnen als zu hoch erschien – zum Beispiel Mühlen, Theater und Eisenhütten.187 Die erste Repräsentantin jener erwerbswirtschaftlichen Versicherer war die Ber­ linische Feuerversicherungs-Anstalt aus dem Jahr 1812; ihr folgten einige Jahre spä­ 184

Vgl. Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 305 zur Gothaer („eine der verhei­ ßungsvollsten Verkörperungen vaterländischen Gemeingeistes“). Zum Nationalbewusstsein als eine Antriebsfeder der Gesellschaftsgründungen, s. P. Koch, in: HdV (1988), 223, 227; ders., Pioniere (1968), S. 12. 185 Müssener (2008), S. 2, 73 ff. beschreibt die Feuerversicherung als Ausgangspunkt für andere Versicherungszweige; so seien spätere Schadensversicherungen wie z. B. die Hagel­ versicherung in Analogie zur Feuerversicherung entstanden. 186 Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 238 f.; von Liebig (1911), S. 26. 187 Zur Unversicherbarkeit besonders feuergefährlicher Gebäude bei öffentlich-rechtlichen Sozietäten, s. § 1 C III 2.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

ter die Leipziger Feuer-Versicherungs-Anstalt von 1819 sowie im darauffolgenden Jahr die – noch heute tätige – Feuerversicherungsbank für Deutschland zu Gotha. In den 1820er Jahren war dann eine regelrechte Welle von Gründungen losgetre­ ten. Sie brachte zum Beispiel 1822 die Vaterländische Feuerversicherungs-Gesell­ schaft zu Elberfeld, 1825 die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft und 1828 die Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft hervor.188 Anders als ab etwa 1830, als die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der einzelnen Versicherer bereits einen hohen Grad an Uniformität gewonnen hatten, prägten in dieser frühen Phase noch einzelne Akteure und ihre AVB den Versicherungsmarkt. Für die Zeit vor 1830 lohnt es sich daher, auf einige dieser Versicherungs­ gesellschaften ein Schlaglicht zu werfen, die auf die rechtliche Gestaltung späte­ rer AVB einen besonders nachhaltigen Einfluss ausgeübt haben dürften: nämlich zum einen die „Berlinische“, die älteste deutsche Feuerversicherungs-Aktienge­ sellschaft überhaupt, zum anderen die „Gothaer“, die erste Gegenseitigkeitsanstalt, die deutschlandweit in großem Stil tätig wurde. Drittens soll auch die „Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft“, die spätere „Aachener und Münchener“, nä­ her betrachtet werden, da ihr in der Literatur eine Vorbildwirkung für die AVB aller folgenden Feuerversicherer nachgesagt wird.189 Zuvor lohnt es sich jedoch, den Fokus auf eine etwas frühere Erscheinung auf dem Feuerversicherungsmarkt zu richten: die 1795 gegründete „Association Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr“,190 die nach ihrem Gründer und Hauptbevoll­ mächtigten Georg Elert Bieber oft kurz als die „Bieber’sche Anstalt“ bezeichnet wurde.191 1. Die „Association Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feursgefahr“ (1795) Bei der „Bieber’schen Anstalt“ handelte es sich um eine Vereinigung mehrerer Hamburgischer Bürger, die sich zum Zweck der Versicherung von Mobilien und besonders feuergefährlicher Gebäude zu einem Gegenseitigkeitsverein zusammen­ geschlossen hatten. Insbesondere auch das „Quart“ des Gebäudewerts, der bei der 188

Brämer / Brämer (1894), S. 238; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 63 ff. (sehr ausführlich zu den einzelnen Gründungen); von Liebig (1911), S. 25 f.; ­Neugebauer (1990), S. 18; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 162. 189 Müssener (2008), S. 148 (mit Hinweis auf die Ähnlichkeit der „Aachener“ AVB zu späteren standardisierten Bedingungen des Verbands deutscher Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschafen). 190 Zu den Versicherungsbedingungen der „Bieber’schen Anstalt“ s. Verfassung der Asso­ ciation Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr (1795), in: Krünitz, Bd. 92 (1803), S. 278. 191 von Liebig (1911), S. 24; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 47; Müssener (2008), S. 34 f.; Plaß / Ehlers (1902), S. 210 ff. mit ausführlicher Darstellung der ver­ sicherungsmathematischen Konstruktionsweise der „Bieber’schen“.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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Hamburger Generalfeuerkasse zwingend unversichert blieb, konnte bei der „Bie­ ber’schen“ Aufnahme finden.192 Die „Bieber’sche“ versicherte zwar nicht über das von den Ringmauern Hamburgs umschlossene Gebiet hinaus193 und ist folglich noch eher als kleiner lokaler Gegenseitigkeitsverein zu bezeichnen;194 doch ande­ rerseits zeigte sie, gegenüber anderen lokalen Brandversicherungsvereinen, schon einige erstaunlich moderne Merkmale. So differenzierte ihre Verfassung zwischen drei verschiedenen Gefahrenklas­ sen: für gewöhnliche Kaufmannsgüter hatte ein Mitglied „1/2 pro Mille“ der Ver­ sicherungssumme als Jahresprämie zu zahlen, bei Gütern in Lagergebäuden mit Feuerstätten betrug die Jahresprämie „5/8 pro Mille“ und für besonders feuergefähr­ liche Waren wie Flachs oder Spiritus bzw. Waren aus feuergefährlichen Industrien wie Zucker oder Branntwein koste die Versicherung „3/4 pro Mille“.195 Zudem hatten alle Mitglieder, die eine Versicherung auf längere Zeit als fünf Jahre anstrebten, beim Eintritt in die „Association“ einen einmaligen Einschuss von „1/2 pro Mille“ beizusteuern196 und mussten für den Fall, dass der angesammelte Gesellschafts­ fonds nicht mehr zur Deckung der Jahresschäden ausreichte, einen Nachschuss von bis zu 4 % der Versicherungssumme leisten.197 Temporäre Mitglieder, also solche, welche sich auf weniger als fünf volle Jahre einschrieben, zahlten hingegen keine Eintrittsgelder und maximal 2 % ihrer Versicherungssumme an Nachschüssen; da­ für schuldeten sie aber den doppelten Jahresprämiensatz.198 Sogar der Mathematik­ professor und Handelswissenschaftler Johann Georg Büsch setzte sich eingehend mit den versicherungsmathematischen Prinzipien der „Bieber’schen“ auseinan­ der,199 was zeigt, dass sie im Gegensatz zu früheren deutschen Mobiliarversiche­ rungsanstalten jedenfalls verhältnismäßig komplex berechnet war. Trotz der recht fortschrittlich erscheinenden Berechnungen darf aber auch nicht übersehen werden, dass es der „Bieber’schen Anstalt“ noch an umfassenden Vor­ schriften zur Anzeige von Gefahrumständen mangelte, wohingegen solche Klau­ seln in den AVB späterer erwerbswirtschaftlicher Feuerversicherer zum absoluten Kernbestand der Regelungen gehörten. Vom rechtlichen Standpunkt aus erscheint die Anstalt daher gewissermaßen als Bindeglied zwischen den nicht versicherungs­ mathematisch arbeitenden lokalen Unterstützungsvereinen und der erwerbswirt­ schaftlichen Feuerversicherung. Aus diesem Grund soll die „Association Hambur­ 192

§§ 1, 14 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795); vgl. Schaefer (1911), Bd. 1 S. 193. 193 § 1 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795). 194 So auch Müssener (2008), S. 33 ff. 195 § 18 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795). 196 § 16 I Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795). 197 § 20 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795). 198 § 19 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795). 199 Büsch, Allgemeine Uebersicht (1795), S. 24 ff. Dazu auch Boehart (1985), S. 44; P. Koch, Bilder (1978), S. 75; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 72; von Liebig (1911), S. 24.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

gischer Einwohner“ in die weiteren Betrachtungen mit einbezogen werden, soweit es aus der rechtlichen Perspektive als gewinnbringend erscheint. 2. Die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) Als die erste erwerbswirtschaftliche, reine Feuerversicherungsgesellschaft mit Sitz in Deutschland gilt aber erst die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt.200 In ihrem Gründungsjahr 1812 war der Napoleonische Krieg noch im Gange und die gewöhnliche Kommunikation mit den ausländischen, vor allem englischen Ver­ sicherern, welche die Versicherung von Handelsgütern und kaufmännischen Be­ triebseinrichtungen übernommen hatten, gestaltete sich deshalb als außerordentlich schwierig.201 Neben dem als drückend empfundenen Kapitalabfluss nach England dürfte dieses Problem der deutschen Kaufmannschaft einen weiteren Anstoß ge­ geben haben, eine eigene, unabhängige Feuerversicherungsgesellschaft zu errich­ ten. Die Anregung dazu lieferte der aus Hamburg stammende Kaufmann Wilhelm Benecke,202 der schon kurz zuvor ein detailliertes Handbuch über das Seeversi­ cherungsrecht verfasst hatte: sein fünfbändiges Werk über das „System des As­ sekuranz- und Bodmereiwesens“, das auch einen Annex zu den Grundsätzen des Feuer- und Lebensversicherungsrechts enthielt.203 Zusammen mit Georg Friedrich Averdieck, einem weiteren Kaufmann aus Hamburg, der zuvor als Vertreter bei der Hamburger Niederlassung der London Phoenix Fire Assurance Company gearbeitet hatte, entwickelte Benecke den Plan für eine Feuerversicherungs-Aktiengesellschaft für die Berliner Kaufleute. Aver­ dieck wurde später zum ersten Generalbevollmächtigten der Gesellschaft.204 Sehr naheliegend und in der wissenschaftlichen Literatur sogar unbestritten ist die Er­ kenntnis, dass sich die Berlinische daher an der Versicherungstechnik und den Geschäftsbedingungen der London Phoenix orientierte.205 Einige Autoren deuten daneben aber auch an, dass die AVB der Berlinischen tatsächlich einige rechtliche Elemente aus dem preußischen Landrecht in sich aufgenommen habe – ein Nar­ 200

Zu den AVB der „Berlinischen“ s. Verfassung der Berlinischen Feuerversicherungs-­ Anstalt (1812), in: Sammlung-AVB I, 22; dazu auch Müssener (2008), S. 38 f. 201 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 13. 202 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 11; P.  Koch, Pioniere (1968), S. 225. 203 Zur Stellung Wilhelm Beneckes zwischen Theorie und Praxis, vgl. auch Neugebauer (1990), S. 118; P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 75 ff.; ders., Pio­ niere (1968), S. 218 f. 204 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 13; P. Koch, Bilder (1978), S. 84; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 63; ders., Pioniere (1968), S. 224; Masius (1846), S. 98. 205 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 13; P. Koch, Geschichte der Ver­ sicherungswirtschaft (2012), S. 49; Müssener (2008), S. 39; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158.

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rativ, das im Verlauf dieser Untersuchung schon erwähnt wurde und das noch auf den Prüfstand zu stellen sein wird.206 Jedenfalls hinsichtlich der Versicherungstechnik wird der prägende Einfluss der englischen Versicherer, allen voran der London Phoenix, offenbar: ein umfang­ reicher Katalog anzeigepflichtiger Gefahrumstände in Art. 36 II der „Verfassung“ der Berlinischen deutet darauf hin, dass sie ebenso wie die London Phoenix zahl­ reiche Risikoklassifizierungen vornahm.207 Für maßgebliche Differenzierungs­ kriterien erachteten die Gründer der Berlinischen zum Beispiel die Feuerfestig­ keit der Lagergebäude, die Existenz besonders feuergefährlicher Waren unter den versicherten Gegenständen oder den Betrieb von gefährlichen Gewerben oder die Lagerung feuergefährlicher Sachen in der Nachbarschaft. Die aus diesen Faktoren errechnete Prämie war als einmalige Gegenleistung für den gesamten, sich je nach Vereinbarung auch über mehrere Jahre erstreckenden Versicherungsschutz zu zah­ len; schloss der Versicherungsnehmer eine Versicherung über volle fünf Jahre ab, so musste er nur für vier Jahre zahlen208 – ein schon von der Phoenix verwendetes Gestaltungselement,209 das nur den Sinn haben konnte, die Akquise neuer Ver­ sicherungsnehmer zu erleichtern. War die bis zu fünfjährige Versicherungsdauer abgelaufen, bestand bei einem entsprechenden Wunsch beider Parteien die Mög­ lichkeit, den Vertrag durch erneute Zahlung einer Prämie zu prolongieren, wobei auch angezeigt werden musste, ob sich seit dem Vertragsschluss die maßgeblichen Gefahrumstände geändert hatten.210 Ihre eigentliche Arbeit konnte die Berlinische aber erst nach Genehmigung des preußischen Staates aufnehmen. In Preußen erforderte jede Gesellschaftsgründung zu dieser Zeit einen sogenannten Oktroi – ein System, das zwar nirgends gesetz­ lich niedergelegt war, aber dennoch die stetige Behördenpraxis bestimmte. Nur mit obrigkeitlicher Konzession durfte eine neu gegründete Gesellschaft ihren Betrieb aufnehmen, und eine solche Konzession wurde in der Regel nur dann erteilt, wenn der preußische Staat der Gesellschaft „Gemeinnützigkeit“ attestierte.211 So richtete Averdieck am 19. 02. 1812 ein schriftliches Gesuch an den preußischen Finanz­ minister von Hardenberg, in dem er nicht nur den nötigen „Oktroi“ erbat, sondern noch dazu, „daß die von uns zu errichtende Feuer-Assecurantz-Compagnie, welche vorläufig 15 Jahre bestehen soll, während dieser Zeit das einzige Institut der Art in den Allerhöchsten Königs von Preußen Landen bleibe, damit durch anderwei­ 206

P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 308; ders., VersR 45 (1994), 629, 633. Im An­ schluss auch Bruck / Möller / Beckmann (9. Aufl.  2008), Einf.  A Rn. 27; Neugebauer (1990), S. 46, 143, 154; vgl. auch Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 159 f. 207 Dazu auch Masius (1846), S. 102 f. 208 Art. 37 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812). 209 Art. 9 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1790) (Rabattjahr bei Vertrags­ schluss auf 7 Jahre). 210 Art. 39 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812). 211 Duvinage (1987), S. 8; FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 13 f.; ­L ammel, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 571, 603; Müssener (2008), S. 57.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

tige Conkurrentz das vollkommene Entstehen derselben nicht gehindert werden kann.“212 Antragsgemäß erteilte das Finanzministerium das erbetene 15-jährige „Privilegium“213 – nebenbei bemerkt ein Hinweis darauf, dass sich das preußische Staatsdenken noch nicht ganz von der alten „kameralistischen“ Idee zentralisierter Wirtschaftsmonopole abgelöst haben konnte. Das preußische Geschäft der Ber­ linischen verlief in den nächsten Jahren erfolgreich. Schon im dritten Geschäfts­ jahr konnte sie erstmals Gewinndividende an ihre Aktionäre ausschütten.214 In den folgenden Jahren dehnte sie ihren Geschäftskreis gar auf 62 preußische Städte aus und konstruierte ein Netz von Versicherungsagenten, die andauernd einer Werbe­ tätigkeit für die Berlinische nachgingen.215 Das anfängliche „Privilegium“ der Berlinischen im gesamten preußischen Staatsgebiet rechtfertigt es, jener Anstalt und ihren AVB ganz besondere Auf­ merksamkeit entgegenzubringen. Sie operierte in den ersten Jahren ihrer Tätigkeit praktisch ohne innenpreußische Konkurrenten; auch ihre AVB nahmen daher für mehrere Jahre eine ganz zentrale Stellung auf dem preußischen Feuerversiche­ rungsmarkt ein. 3. Die Feuerversicherungsbank für den Deutschen Handelsstand zu Gotha (1820) Während die zuletzt behandelte Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt ihre Versicherungstätigkeit jedoch noch auf mehrere preußische Städte beschränkte, wohl auch den hemmenden Zollschranken und verschiedenartigen Konzessionser­ fordernissen in anderen deutschen Staaten geschuldet, so wurde die Feuerversiche­ rungsbank für den Deutschen Handelsstand zu Gotha als erster großflächig ope­ rierender Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit auch außerhalb der preußischen Grenzen tätig.216 Wie schon oben zu Beispielszwecken aufgezeigt, war es auch ihre Intention, die deutsche Kaufmannschaft vor dem Kapitalabfluss nach England zu bewahren.217 Ernst Wilhelm Arnoldi, ein Schüler Johann Georg Büschs,218 der sich schon als Farbfabrikant und Gründer einer Handelsschule in Gotha einen Namen gemacht hatte, verfasste daher bereits 1817 eine Denkschrift mit dem Titel „Vor­ 212 Gesuch Averdiecks an Finanzminister Fürst von Hardenberg vom 19. 02. 1812, zit. FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 15. 213 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 15; P. Koch, Bilder (1978), S. 85; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 63; ders., Pioniere (1968), S. 226; Masius (1846), S. 98; Müssener (2008), S. 38 f. 214 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 50. 215 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 39. 216 P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 22 (bezeichnet die Gothaer als den ersten VVaG „moderner Prägung“); Müssener (2008), S. 35; vgl. von Zedtwitz (2000). 217 Vgl. auch Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 17. 218 Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 17; Müssener (2008), S. 35: P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 67.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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schlag zu einem Bunde unter den Deutschen Fabrikanten“.219 Zwei Jahre später erschien ein von Arnoldi publizierter Gründungsaufruf im „Allgemeinen Anzei­ ger der Deutschen“ von 2. September 1819, welcher der Öffentlichkeit die Idee einer Gegenseitigkeitsgesellschaft zur Versicherung deutscher Kaufleute gegen Feuergefahr unterbreitete.220 Der Gründungsaufruf traf auf rege Resonanz aus den umliegenden Städten. Schon am 01. 10. 1819 tagte die erste Versammlung von Gründungsmitgliedern, allesamt Kaufleute aus den Städten Erfurt, Gotha, Langen­ salza, Eisenach und Arnstadt.221 Schließlich konstituierte sich die Feuerversiche­ rungsbank durch Genehmigung der Herzoglich Sachsen-Gothaischen Regierung vom 02. 07. 1820222 und nahm am 01. 01. 1821 ihre Arbeit auf.223 Aufschluss über den Zweck der neu aus der Taufe gehobenen Versicherungsanstalt gab übrigens schon die erste Werbeschrift der Gothaer, veröffentlicht am 20. 10. 1820 im „All­ gemeinen Anzeiger der Deutschen“. Ihr vielsagender Titel lautete: „Wie die Angst vor Feuerunglück in Deutschland von den Engländern besteuert wird, und was geschehen ist, um vorerst wenigstens den Handels- und Fabrikantenstand dieser Zinsbarkeit zu entziehen?“224 In der Tat diente die Gothaer Feuerversicherungsbank zunächst nur den be­ schriebenen Bedürfnissen des deutschen Handelsstandes, ohne darüber hinaus einen eigenständigen Gewinnerzielungszweck zu verfolgen. Die kaufmännischen Versicherungsnehmer waren, wie § 13 S. 2 der Verfassung ausdrückte, „auf Ge­ winn und Verlust miteinander verbunden“. Sämtliche Überschüsse aus den jähr­ lich im Voraus eingezahlten Prämien, die nicht zur Deckung der Schäden eines Geschäftsjahres verwendet worden waren, flossen an die Versicherungsnehmer zurück und wurden unter diesen nach dem Verhältnis der jeweils gezahlten Jahres­ prämien verteilt.225 Umgekehrt hatten die Versicherungsnehmer im Falle einer Unterdeckung „außerordentliche Prämien“  – also Nachschüsse  – in der Höhe 219 P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 22 f.; ders., Geschichte der Versicherungswirt­ schaft (2012), S. 67; ders., Pioniere (1968), S. 230; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Le­ ben (1927), S. 1, 4. 220 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 183; ders., Geschichte der Lebensver­ sicherungsbank zu Gotha (1877), S. 17. 221 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 187 ff.; ders., Geschichte der Lebensver­ sicherungsbank zu Gotha (1877), S. 19; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 24; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 4. 222 Ob die Genehmigung der Sachsen-Gothaischen Regierung eine echte Konzession dar­ stellte, wird nach modernerer Forschung angezweifelt; es handelte sich bei dem an Arnoldi gerichteten Schreiben danach wohl er um eine informelle Billigung, die rechtlich gar nicht notwendig gewesen wäre. Dazu z. B. Mohr, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 115, 122. 223 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 184, 190 ff.; ders., Geschichte der Le­ bensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 20; Masius (1846), S. 35; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 4. 224 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 194. 225 § 13 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); vgl. Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 202 (Überschussverteilung als „gemeinnütziges Werk“); ders., Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 18; Müssener (2008), S. 33 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

von bis zu acht Jahresprämien beizusteuern.226 Der zunächst fehlende Gewinn­ erzielungszweck ändert freilich nichts daran, dass auch die Gothaer ihre Jahres­ prämien nach vergleichsweise sehr differenzierten versicherungsmathematischen Kriterien ermittelte. Der § 20 der Gothaer Bankverfassung gibt eine Vorstellung über die technische Funktionsweise früher, rationell arbeitender Feuerversiche­ rungsgesellschaften: die Prämie richtete sich ausdrücklich „nach der mehr oder weniger feuergefährlichen Beschaffenheit der zu versichernden Gegenstände“. Für „feuerfest gebaute Häuser, mit Schiefer, Kupfer oder Ziegeln gedeckt, und darin befindliche Gegenstände, wenn sie die Feuergefahr nicht vermehren“ hatte der Versicherungsnehmer pro Jahr mindestens 0,25 % bis 0,5 % der Versicherungs­ summe als Prämie zu entrichten, für „Häuser mit Rohr, Stroh oder Schindeln gedeckt und eben genannte Gegenstände“ sogar mindestens 0,75 % bis 1,5 %.227 Allerdings konnte die Gothaer diese Prämie je nach den Umständen des Einzel­ falles auf bis zu 2 % erhöhen, nämlich in „Städten, wo schlechte Löschanstal­ ten sind, für Gebäude, bei denen die Nachbarschaft die Feuersgefahr vermehrt, oder in denen selbst feuergefährliche Gewerbe getrieben werden, für leicht ver­ derbliche oder leicht feuerfangende Waren, für besondere Fabrik- und Maschinen­ werke usw.“228 Im Übrigen war bei der Gothaer Feuerversicherungsbank von 1820, wie schon bei der Berlinischen, der Versicherungsvertrag auf eine kurze Zeitdauer, vorliegend nämlich auf genau ein Jahr, befristet.229 Danach bestand wieder die Option einer einvernehmlichen Vertragsprolongation,230 wohingegen die Versicherung über mehrere Versicherungsperioden gegen eine entsprechende fortlaufende Prämien­ zahlung noch nicht zum technischen Repertoire der Gothaer gehörte. 4. Die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) Wenig später geriet auch der preußische Versicherungsmarkt wieder in Bewe­ gung. Falls man glauben sollte, das „Privilegium“ der Berlinischen Feuerversiche­ rungs-Anstalt von 1812 habe eine lebhafte Konkurrenz der privaten Versicherer unterbunden, so erweist sich diese Vermutung jedenfalls ab ca. 1820 als ein Irr­ tum: mit der Leipziger Feuer-Versicherungs-Anstalt, der Feuerversicherungs-Ge­ sellschaft zu Elberfeld, und der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft traten in den Jahren 1819, 1822 und 1825 gleich drei neue Akteure auf preußischem Bo­ 226

§ 11 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820). Insgesamt § 20 II Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820). 228 § 20 III Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820). 229 § 9 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); vgl. Emminghaus, Ge­ schichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 18. 230 Vorausgesetzt in §§ 13 S. 2, 14 S. 1, 29, aber nicht ausdrücklich geregelt, was darauf hin­ weist, dass das beschriebene „Prolongationsmodell“ zu dieser Zeit in der deutschen Feuerver­ sicherungsbranche eine Selbstverständlichkeit gewesen sein musste. 227

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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den auf.231 Im Zuge des Wiener Kongresses von 1815 hatte Preußen bedeutende Gebietsgewinne verzeichnen können, so auch im Rheinland um Köln, Aachen, Münster und Trier, welches ab 1815 als „Rheinprovinz“ dem Königreich Preu­ ßen zufiel.232 Die Monopolstellung der Berlinischen beanspruchte in den neuen Landesteilen aber – so die Rechtsauffassung der preußischen Behörden – keine Gültigkeit.233 Diese politischen Umstände begünstigten die Gründung der Aachener Feuer­ versicherungs-Gesellschaft234 im Jahr 1825. Ihr Schöpfer war der Kaufmann David Hansemann (1790–1864), ein ehemaliger Tuchhändler und späterer Eisenbahn- und Bankunternehmer aus Finkenwerder.235 Am 24. 06. 1825 erhielt Hansemann die Konzession zur Gründung einer Feuerversicherungs-Aktiengesellschaft mit Sitz in Aachen auf zunächst 25 Jahre.236 Dem vorausgegangen war eine Bittschrift an den preußischen König, in welcher er nicht nur das mittlerweile typische Argu­ ment vorbrachte, den Kapitalabfluss nach England durch eine genuin deutsche Versicherungsgesellschaft verringern zu wollen, sondern daneben noch weitere Zugeständnisse an den preußischen Staat machte. So sollte die Hälfte des Rein­ gewinnes der Aachener für gemeinnützige Zwecke verwendet werden;237 und wirk­ lich wurde zusammen mit der Feuerversicherungsgesellschaft auch der „Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit“ konzessioniert, der wohltätige Projekte zur „Selbsthilfe“ mittelloser Klassen wie etwa Spareinrichtungen, Arbeiterwohl­ fahrts-, Feuerwehr- oder Kriegsversehrtenvereine organisierte und dabei aus den Gewinnen der Privatversicherungsgesellschaft finanziert wurde.238 231 Brämer / Brämer (1894), S. 238; FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 66 f.; P. Koch, Pioniere (1968), S. 233; von Liebig (1911), S. 25 f.; Masius (1846), S. 112 ff.; Müssener (2008), S. 39 f. 232 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1492. 233 FS 150 Jahre Berlinische Feuerversicherung (1962), S. 66 f.; Müssener (2008), S. 38 f. 234 Zu den AVB der „Aachener“ s. Allgemeine Versicherungsbedingungen der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1825, in: Sammlung-AVB  I,  26. Vgl. auch Müssener (2008), S. 148, der darauf hinweist, dass die in der Sammlung-AVB enthaltenen Versiche­ rungsbedingungen fälschlicherweise auf 1829 datiert wurden, in Wahrheit aber schon von 1825 stammten. 235 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 17; P. Koch, Pioniere (1968), S. 233. Zu einer kurzen Biographie David Hansemanns, s. FS 125 Jahre Aachen-Münchener (1950), S. 21 ff.; Müssener (2008), S. 43 ff. 236 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 17 (mit einem Abdruck der Kon­ zessionsurkunde v. 25. 06. 1825 einer Einlage zwischen S. 16 und 17); FS 125 Jahre AachenMünchener (1950), S. 35 f.; P. Koch, Pioniere (1968), S. 236; Müssener (2008), S. 59, 75 ff.; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 87 f. 237 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 66; FS 125 Jahre Aachen-Mün­ chener (1950), S. 24; P. Koch, Bilder (1978), S. 90; ders., Geschichte der Versicherungswirt­ schaft (2012), S. 65 f.; Masius (1846), S. 116 f.; Müssener (2008), S. 59 f. Vgl. auch Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 116 (S. 527 Fn. 6); von Liebig (1911). 238 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 10 f., 65 f.; FS 125 Jahre AachenMünchener (1950), S. 30 ff., 106; P. Koch, Bilder (1978), S. 90; ders., Geschichte der Versiche­ rungswirtschaft (2012), S. 66; ders., Pioniere (1968), S. 236 f.; Müssener (2008), S. 87 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Mit einer ähnlichen Strategie gelang es der Aachener, ihren Wirkungskreis bald über die Grenzen Preußen hinaus zu erstrecken. Im Jahr 1834 expandierte sie nach Bayern, wo sie am 10.02. eine Konzession als „inländische“ bayerische Gesell­ schaft erhielt, also keine rechtlichen Nachteile gegenüber den in Bayern gegründe­ ten Gesellschaften in Kauf nehmen musste.239 Diese Konzession hatte die Aachener erwirkt, indem sie zusagte, einen Teil ihres Reingewinnes der bayerischen Lan­ desregierung zur freien Verfügung zu stellen, während die Aktien der bayerischen Niederlassung vornehmlich an bayerische Bürger ausgegeben wurden.240 Zudem durften sich die in den AVB der Aachener vorgesehenen Schiedsgerichte nur aus bayerischen Schiedsrichtern zusammensetzen und mussten stets einen bayerischen Gerichtsstand bestimmen.241 Die zahlreichen Zugeständnisse schienen sich zu lohnen, denn die bayerische Staatsregierung sprach nach der Konzessionierung sogar eine ausdrückliche öffentliche Empfehlung zugunsten der Aachener aus.242 Allenthalben durfte dieselbe fortan auf kernbayerischem Staatsgebiet nur unter dem Namen „Münchener und Aachener“ firmieren; in der linksrheinischen Pfalz, seit 1815 bayerisch geworden, war ihr hingegen die Firma „Aachener und Mün­ chener“ erlaubt, welche sie auch tatsächlich bis in die moderne Zeit führte.243 Auf ähnliche Weise gelang es der Aachener und Münchener in rascher Folge, ihren Geschäftskreis in den folgenden Jahren nach Hannover, Hessen-Darmstadt, Braun­ schweig-Lüneburg, Kurhessen und Baden auszudehnen. Es folgte 1836 die Expan­ sion nach Sachsen, desgleichen 1840 nach Württemberg.244 Die Aachner dürfte auf diese Weise ganz erheblich dazu beigetragen haben, die von ihr verwende­ ten Versicherungsbedingungen weit über die Grenzen Preußens hinauszutra­ gen – jedenfalls bescheinigte ihnen schon die Literatur des 19. Jahrhunderts, den „nachhaltigste[n] Einfluß auf die Entwickelung des Feuerversicherungswesens“ ausgeübt zu haben.245 Vor allen Dingen die standardisierten Versicherungsbedin­ gungen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Verband der Deutschen Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften zur Verwendung empfohlen wurden, deckten sich praktisch wörtlich mit den schon zuvor bei der Aachener und Mün­ 239

FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 18 (s. ebd. S. 79 ff. zu einem Ab­ druck der bayerischen Konzessionsurkunde v. 10. 02. 1834); FS 125 Jahre Aachen-Münche­ ner (1950), S. 42 f.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 66; Müssener (2008), S. 124 f. 240 § 1 Ziff. VI, VII der bayerischen Konzessionsurkunde vom 10. 02. 1834, abgedruckt in FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 80; ebd. S. 87 f.; Müssener (2008), S. 126 ff. 241 § 1 Ziff. X der bayerischen Konzessionsurkunde vom 10. 02. 1834, abgedruckt in FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 81; Müssener (2008), S. 127. 242 Müssener (2008), S. 125. 243 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 79; FS 125 Jahre Aachen-Münche­ ner (1950), S. 43; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 66; Müssener (2008), S. 126 f. 244 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 19; FS 125 Jahre Aachen-Münche­ ner (1950), S. 44; P. Koch, Pioniere (1968), S. 237; Müssener (2008), S. 130 ff. 245 Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 87 f. („nachhaltigster Einfluß auf die Entwickelung des Feuerversicherungswesens“); vgl. Müssener (2008), S. 148 f.

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chener benutzten AVB.246 Freilich darf auch nicht übersehen werden, dass schon die Berlinische und die Gothaer zahlreiche der Klauseln geformt hatten, welche ihrerseits in den AVB-Bestand der Aachener und Münchener Aufnahme fanden. Indessen vollzog die Aachener und Münchener einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der Versicherungstechnik und damit mittelbar auch in der Entwick­ lung des vertraglichen Versicherungsrechts. Bei der Aachener und Münchener konnten Verträge auf bis zu sieben Jahre geschlossen werden,247 wobei die mehr­ jährigen Versicherungen in einjährige Versicherungsperioden eingeteilt waren. Hatte der Versicherungsnehmer über mehrere Jahre gezeichnet, war zu Beginn jedes „Versicherungsjahres“ eine erneute laufende Prämie fällig. Das warf eine Reihe von rechtlichen Folgeproblemen auf: mit dieser Konstruktion entstand in­ nerhalb der AVB beispielsweise zum ersten Mal das Bedürfnis, Regeln für den Zahlungsrückstand des Versicherungsnehmers in Ansehung solcher fortlaufender Folgeprämien zu setzen.248 Mit der zunehmenden Dauer der Vertragslaufzeit ver­ lor aber auch die vorher übliche Praxis der Vertragsprolongation an Bedeutung. So ging dem Versicherer die Möglichkeit abhanden, in kurzen Zeitintervallen zu überprüfen, ob sich die versicherte Gefahr seit dem Vertragsabschluss vergrößert hatte und ob daher höhere Versicherungsprämien angemessen waren. Es waren in­ folgedessen Regelungen nötig, die es dem Versicherer ermöglichten, während der langen – hier: bis zu sieben Jahren dauernden – Vertragslaufzeit von einer zufällig eintretenden Gefahränderung Kenntnis zu erlangen. Die ersten AVB der Aache­ ner und Münchener von 1825 hatten es noch versäumt, derartige Vorkehrungen zu treffen,249 doch sollte sich das neu erweckte Bedürfnis nach einer entsprechenden Regelung auf die rechtliche Gestaltung folgender AVB und späterer Gesetze bis in die heutige Zeit niederschlagen. Im Wesentlichen hatten die Feuerversicherungs­ bedingungen zu diesem Zeitpunkt schon das Gesicht erhalten, das sie für das rest­ liche 19. Jahrhundert prägen sollte.

246

S. dazu etwa AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) und Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874). Müssener (2008), S. 145, weist darauf hin, dass die AVB der „Aachener und Münchener“ dem „Verband“ als Basis gedient haben. 247 § 5 I 1 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825); bei Vertragsschluss auf volle 7 Jahre musste für das letzte Jahr als „Rabattjahr“ keine Prämie mehr bezahlt werden (§ 5 I 2). Vgl. auch Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), S. 161 f. 248 § 5 III AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (zu den Fälligkeit der Fol­ geprämien überhaupt und zu den Säumnisfolgen im Speziellen). 249 § 10 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) enthielt, wie die AVB der Berlinischen und der Gothaer, nur Regeln über die vom Versicherungsnehmer absichtlich herbeigeführte Gefahrerhöhung. Eine zufällige, vom Willen des Versicherungsnehmers un­ abhängige Änderung der Gefahrumstände konnte diese Klausel aber noch nicht zuverlässig erfassen.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

5. Überblick über rechtliche Folgeprobleme der modernen Feuerversicherungstechnik Schon zu einem früheren Zeitpunkt hat diese Untersuchung die Prämisse ent­ faltet, dass die Versicherungstechnik und die rechtliche Ausgestaltung der AVB nicht einfach zusammenhanglos nebeneinander stehen, sondern notwendigerweise eng miteinander verwoben sind. Und so kann schon am Ende dieser kurzen Ge­ schichte der privatwirtschaftlichen Feuerversicherer das Fazit gezogen werden, dass die rationell kalkulierende Versicherungstechnik in den ältesten AVB zu ganz anderen rechtlichen Strukturen geführt hat, als sie bei den Gebäudefeuersozietäten anzutreffen waren. Die erwerbswirtschaftlich arbeitenden Privatversicherer benötigten detaillierte Kenntnis über die Gefahrumstände, die letzten Endes zur akkuraten Berechnung der Versicherungsprämie nötig waren; ganz im Gegensatz zu den staatlichen Feuer­ sozietäten, die keine Kategorisierung der Beiträge nach verschiedenen Gefahrklas­ sen vorsahen, forderten die AVB der Feuerversicherungs-Gesellschaften daher von ihren Versicherungsnehmern, im Vertragsantrag sämtliche relevante Gefahrum­ stände anzuzeigen – so etwa Bauart, Lage, Zweck und Nachbarschaft des Gebäudes, das versichert war oder das die versicherten Mobilien aufbewahrte.250 Eine entspre­ chende Anzeige oblag dem Versicherungsnehmer auch, wenn sich die übernommene Gefahr während der Vertragsdauer erhöhte.251 Alleine in der konkreten rechtlichen Ausgestaltung dieser Deklarationen differierten die AVB zum Teil erheblich.252 Die Prämie war aber nicht nur von der Gefahr, sondern auch von der Höhe der Versicherungssumme abhängig, welche bei den erwerbswirtschaftlichen Feuerver­ sicherern ganz der Disposition der Vertragsparteien unterlag. In dieser Hinsicht be­ gaben sich die Feuerversicherer des 19. Jahrhunderts ebenfalls in scharfen Kontrast zu der ganz überwiegenden Zahl öffentlicher Versicherer. Jene hatten die Beiträge der einzelnen Mitglieder zwar nach dem Gebäudewert abgestuft, ließen ihnen aber in aller Regel keine freie Wahl über die Höhe der eingeschriebenen Summe. Erst in den AVB der privaten Gesellschaften war daher überhaupt die Frage nach dem 250

Art. 36 II Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (Feuerfestigkeit des Gebäudes, gefährliche Nachbarschaft, Lagerung feuergefährlicher Materialien); § 22 Hs.  2 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Ausfüllung eines Deklarations­ bogens durch den Versicherungsnehmer); § 6  I AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1825) (Bauart, Lage und Umgebung des versicherten Gebäudes bzw. des Lagergebäudes versicherter Mobilien). Vgl. auch Müssener (2008), S. 213 (zur den AVB der Aachener). 251 Art. 40  I  1 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (vom Versiche­ rungsnehmer veranlasste Änderungen); § 30 I Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (vom Versicherungsnehmer veranlasste Änderungen, insb. Ortsveränderungen); § 10 I AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (gefahrvermehrende Verände­ rung an dem Gebäude, Einbringung feuergefährlicher Stoffe oder Errichtung feuergefährlicher Gewerbe). Vgl. auch Müssener (2008), S. 217 (zur den AVB der Aachener). 252 Dazu im Detail unter § 2 D VI 4 (zur Gefahranzeige bei Vertragsschluss), § 2 D VII 5 (zur Gefahrerhöhung).

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Verhältnis zwischen Versicherungswert und Versicherungssumme erwachsen  – und mithin nach der konkreten Ausgestaltung dogmatischer Problemfragen wie der Über-, Unter- oder der mehrfachen Versicherung.253 Dem deutschen Feuerversicherungsrecht neu war schließlich auch die Vorge­ hensweise der Privatversicherer im Falle eines Prämienrückstandes: die staatlichen Anstalten konnten hier einfach im Wege der öffentlichen Vollstreckung vorgehen, die überfälligen Beiträge im Endeffekt also wie Steuerschulden eintreiben. Den pri­ vaten Versicherern war ein solches Vorgehen selbstverständlich nicht möglich. Alle deutschen Versicherungsgesellschaften seit der Berlinischen machten den Beginn oder die Prolongation des Versicherungsschutzes stattdessen von der Zahlung der ersten oder einzigen Prämie, der sogenannten „Einlösung“ der Police abhängig,254 sodass sich insoweit gar keine Zahlungsrückstände ergeben konnten. Geringfügig später entstandene AVB, wie die Bedingungen der Aachener FeuerversicherungsGesellschaft mussten sich außerdem, wie vorhin schon angemerkt, auch mit dem Rückstand von laufenden Folgeprämien beschäftigen.255 Zuletzt legten die AVB der privaten Feuerversicherungsgesellschaften  – und zwar gerade die frühesten unter ihnen – einen gewichtigen Schwerpunkt auf die Ermittlung und Berechnung des eingetretenen Feuerschadens. Selbstverständlich fehlten den Feuersozietäten solche Regelungen nicht. Während jedoch die meis­ ten Sozietäten nur eine Feuerschau durch Sachverständige oder Beamte vorneh­ men ließen, auf deren Basis sie relativ pauschal abschätzen, welcher Bruchteil des Hauses eine Beschädigung erlitten hatte, wirkte das penibel niedergeschriebene Schadensberechnungsverfahren der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt we­ sentlich komplexer. Stellte die Gesellschaft an den abgebrannten Gegenständen eine Totalbeschädigung fest, so zahlte sie die gesamte Versicherungssumme aus;256 andernfalls fand jedoch ein bis in kleinste Details ausgestaltetes Sachverständigen­ verfahren statt, das zum Zweck hatte, den wirklichen Schaden unter Heranziehung von Handelsbüchern, Dokumenten, vergleichbaren Marktpreisen etc. exakt aus­ zumitteln und zu taxieren.257 Eine auch nur ansatzweise vergleichbare detaillierte 253

Z. B. Art. 46 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); §§ 24, 29 I Ver­ fassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); §§ 7, 14 AVB Aachener Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft (1825); vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 237; Müssener (2008), S. 249 ff. (zur den AVB der Aachener). Dazu im Detail unter § 2 D IV 4. 254 Z. B. Art. 38 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); § 28 S. 2, 3 Ver­ fassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); § 5 II AVB Aachener Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft (1825). Vgl. auch Müssener (2008), S. 196 (zur den AVB der Aachener). 255 Z. B. § 5 III AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825). Vgl. auch Müssener (2008), S. 207 (zur den AVB der Aachener). Dazu im Detail unter § 2 D V 2. 256 Art. 45 I Nr. 1, III Nr. 1 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); ähn­ lich z. B. §§ 23, 34 lit. a Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); § 6 I, 15 I AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825). Vgl. auch Müssener (2008), S. 257 ff. 257 Art. 44 III Nr. 3–5, 45 III Nr. 2 lit. a-d Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-­Anstalt (1812); ähnlich z. B. § 34 lit. b-f Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); §§ 15  III–V, 16  II,  III AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825). Vgl. auch ­Müssener (2008), S. 264 f. (zur den AVB der Aachener). Dazu im Detail unter § 2 D X 2 a.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Regelung wird man im öffentlich-rechtlichen Brandversicherungswesen vor 1800 vergeblich suchen. Bereits dieser erste, flüchtige Überblick über die prominentesten Vertreter der „Ersten Gründungswelle“ privater Feuerversicherer mag also einen Ein­ druck darüber vermitteln, wie zwischen den staatlichen Feuersozietäten und den Privatversicherern nicht nur ein weiter versicherungstechnischer Entwicklungs­ schritt lag. Gleichzeitig wurde auch der Schritt zu einem fundamental anders struk­ turierten Versicherungsrecht getan. Das Aufkommen der modernen Privatfeuer­ versicherer markierte also eine schlagartige Zäsur in der rechtspraktischen Ent­ wicklung.

III. Die „Erste Gründungswelle“ in der Lebensversicherung Die Entwicklung überregional tätiger privater Lebensversicherungsgesellschaf­ ten258 setzte in Deutschland erst einige Zeit später ein als die „Gründungswelle“ auf dem Feuerversicherungsmarkt. Doch auch die Gründung der ersten privaten Lebensversicherer war im Kern auf kaufmännische Bedürfnisse zurückzuführen: eine kapitalintensive Handelsunternehmung konnten viele Kaufleute erst wagen, sobald sie ihre Familie für den Fall ihres vorzeitigen Todes finanziell abgesichert hatten.259 Die Lebensversicherung basiert aber, verglichen mit der Feuerversiche­ rung, auf noch viel komplexeren versicherungsmathematischen Kalkulationen, wie schon der rasche Aufstieg und Niedergang kleinerer Witwen- und Waisenkassen während des 18. Jahrhunderts demonstriert hatte. So waren auch die ersten Versuche, eine privatwirtschaftliche Lebensversi­ cherungsgesellschaft in Deutschland zu errichten, noch nicht von Erfolg gekrönt. Im Jahr 1806 scheiterte der Hamburger Kaufmann Wilhelm Benecke, späterer Mitbegründer der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt, mit seinem Versuch, eine deutsche Lebensversicherung nach dem Vorbild der englischen Amicable Society zu installieren. Die Gründe für seinen Misserfolg lagen wohl vor allem in den Wirren der Napoleonischen Kriege.260 Die ersten beiden stabilen priva­ ten Lebensversicherungsgesellschaften entstanden indes erst im Jahr 1828: die 258 Zu den ältesten Gründungen auf dem Gebiet der Lebensversicherung von 1828–1845 s. Brämer / Brämer (1894), S. 83 ff. Einen sehr detaillierten Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung aller Privatlebensversicherungsanstalten von 1828–1876 liefert Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 238 ff.; sehr detailreich auch Masius (1846), S. 505 ff. 259 Rosin (1932), S. 95 (zur Parallelentwicklung in England). 260 Brämer / Brämer (1894), S. 83; Braun (2. Aufl. 1963), S. 212; Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 23 f.; P.  Koch, Geschichte der Versiche­ rungswirtschaft (2012), S. 62; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 80; ders., Pioniere (1968), S. 219; Masius (1846), S. 505; Rosin (1932), S. 64; von Staudinger (1858), S. 2.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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Lebens-­Versicherungs-Gesellschaft zu Lübeck und die Lebensversicherungsbank für Deutschland zu Gotha.261 Die Lübecker262 konnte zwar für sich beanspruchen, die zeitlich frühere dieser beiden Gründungen zu sein263 und sogar ein breiteres Sortiment von Lebensver­ sicherungsprodukten anzubieten. So bestand bei ihr nicht nur die Möglichkeit von lebenslangen oder kurzzeitigen Todesfallversicherungen.264 Im Gegensatz zur Gothaer offerierte sie auch verbundene Versicherungen auf zwei Leben, bei denen die Versicherungssumme an den Längerlebenden der beiden Versicherten ausge­ kehrt wurde, oder sogenannte Überlebungsversicherungen, welche die gezeichnete Summe nur auszahlten, falls der Begünstigte eine bestimmte andere Person über­ lebte.265 Ferner führte die Lübecker auch Aussteuer- und Rentenversicherungspro­ dukte266 oder Reiseversicherungen, also Todesfallversicherungen für die Dauer einer gefährlichen Reise,267 in ihrem Repertoire. Allerdings schaffte es erst die Gothaer Lebensversicherungsbank,268 ihren Ge­ schäftskreis auf weite Gebiete Deutschlands auszubreiten. Unterdessen verlief die wirtschaftliche Entwicklung der „Lübecker“ eher schleppend: nach 10 Jah­ ren Geschäftstätigkeit konnte sie nur ein Geschäftsvolumen von ca. 6 Millionen Mark aufweisen, während das der Gothaer zur gleichen Zeit bei über 43 Millionen lag.269 Etliche spätere Versicherer lehnten sich daher, wie später noch zu sehen sein wird,270 bei ihrer Gründung an das Vorbild der Gothaer; ihren AVB kam damit eine tragende Rolle bei der Entwicklung der deutschen Allgemeinen Lebensver­ sicherungsbedingungen zu.

261

Zu den ältesten Gründungen der privaten Lebensversicherung vgl. Braun (2. Aufl. 1963), S. 213 ff.; Rosin (1932), S. 65; Thalmann, SVZ 39 (1946), 342, 346 Fn. 18; von Zedtwitz (2000), S. 143 ff. 262 AVB der Deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Lübeck (1828) (SammlungAVB II, 21). Die AVB der Lübecker waren noch nicht in nummerierte Artikel unterteilt, son­ dern bildeten einen untergliederten Fließtext; vorliegend werden ihre AVB nach Absätzen dieses Textes zitiert. 263 Vgl. auch Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 238. 264 Abs. 15 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 84; Masius (1846), S. 536. 265 Brämer / Brämer (1894), S. 84 f. 266 Angedeutet in Abs. 20 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 84 f.; Masius (1846), S. 537. 267 Abs. 10 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828); vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 85. 268 Zu den AVB der „Gothaer“ s. Verfassung der Feuer-Versicherungsbank für den deutschen Handelsstand in Gotha (1820) (Sammlung-AVB I, 6). 269 Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 241; zum durchschlagenden wirtschaftlichen Erfolg der Gothaer s. auch Rosin (1932), S. 65. 270 S. dazu die detaillierteren Analysen unter § 2 D dieser Arbeit.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

1. Vorgeschichte und Gründung der Gothaer Lebensversicherungsbank (1828) Der Schöpfer der Gothaer Lebensversicherungsbank war wiederum Ernst ­ ilhelm Arnoldi. Er hatte 1820 schon die Feuerversicherungsbank für Deutsch­ W land zu Gotha ins Leben gerufen, aus deren Direktorium er 1822 allerdings aus­ schied.271 Noch im folgenden Jahr verfasste er eine erste Denkschrift,272 die den Vorschlag einer Lebensversicherungsgesellschaft beinhaltete. Die finanzielle Ab­ sicherung des einzelnen Bürgers könne zur Steigerung der Erwerbskraft des Ein­ zelnen und somit auch zu einem volkswirtschaftlichen Aufschwung führen – mit den Worten Arnoldis gesprochen: „Die rechte Nationalwirthschaft treibt am ge­ deihlichsten in den Hütten und Häusern ihr Wesen, Man fördere Ehefrieden, Er­ werbslust, Ordnung und Sparsamkeit bei den Einzelnen, und das Ganze wird von Wohlsein und Reichthum zeugen.“273 Neuen Anstoß bekamen die Pläne Arnoldis 1825 durch einen Streit der Gläubi­ ger des Herzogs Friedrich IV. von Sachsen-Gotha-Altenburg mit englischen Le­ bensversicherern. Einige Gläubiger des Herzogs – darunter auch Ernst Wilhelm Arnoldis Schwiegervater – hatten sein Leben bei fünf englischen Gesellschaften versichert, um ihre Zahlungsforderungen für den Fall seines frühzeitigen Able­ bens abzusichern. Allerdings litt der Herzog an einer schweren Geisteskrankheit. Als er am 11. 02. 1825 verstarb, verweigerten drei der beteiligten Versicherer die Zahlung, da die Ärzte des Herzogs bei Vertragsschluss nur dessen Sprachunfä­ higkeit, nicht aber dessen eigentliche Geisteskrankheit attestiert hatten. Gegen die drei englischen Versicherer – die „Atlas“, die „Eagle“ und die London Assurance Corporation – erhoben die Gläubiger des Verstorbenen eine Klage vor englischen Gerichten, welche sie schließlich aber wegen des enormen Kostenrisikos zurück­ nehmen mussten. Der Fall des Gothaer Herzogs schlug hohe Wellen in der deut­ schen Presse.274

271

Brämer / Brämer (1894), S. 83 f.; Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 233; ders., Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 23; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 3. 272 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 265 ff.; ders., Geschichte der Lebens­ versicherungsbank zu Gotha (1877), S. 24; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 68; ders., in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 24; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Le­ ben (1927), S. 1, 5. 273 Zit. Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 29; vgl. Körber, ZVersWiss 86 (1997), 491, 499. 274 Zum Streitfall um die Lebensversicherung des Herzogs Friedrich IV. insgesamt: Braun (2. Aufl. 1963), S. 213; Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 270 f.; ders., Ge­ schichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 36 ff.; Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 181 f.; P.  Koch, Bilder (1978), S. 89; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 68; ders., in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 24; ders., Pioniere (1968), S. 231 f.; Masius (1846), S. 505; Neugebauer (1990), S. 24; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 5.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

143

Im Nachgang dieser Affäre übersandte der Obermedizinalrat Ludwig von F ­ roriep im Jahr 1827 ein Exemplar seiner „Vergleichenden Darstellung der verschiedenen Lebens-Assekuranz-Gesellschaften“ an Arnoldi. Das Werk von ­Frorieps war eine Übersetzung des im Vorjahr erschienenen Standardwerks „A Comparative View of the Various Institutions for the Assurance of Lives“ von Charles Babbage, einem englischen Mathematiker und Ökonomen.275 Babbage hatte die Praxis englischer Lebensversicherer beleuchtet, vor allem deren Sterblichkeitsstatistiken, Prämienund Reservekalkulationen; andererseits hatte Babbages Schrift aber auch das seiner Ansicht nach intransparente und aggressiv gewinnorientierte Geschäftsgebaren der englischen Versicherer deutlich kritisiert.276 Für die Quellenforschung aufschlussreich ist vor allem die Widmung Ludwig von Frorieps, die er in das verschenkte Exemplar geschrieben hatte. Sie war mit dem an Arnoldi gerichteten Wunsch verbunden, „daß derselbe sich auch für Ein­ führung einer Lebens-Assecuranz-Gesellschaft auf dem Grundsatz der Wech­ selseitigkeit in Deutschland mit Erfolg interessiren möge.“277 Ein Auszug aus dem Dankesbrief, den Arnoldi an von Froriep verfasste, illustriert ein weiteres Mal die Unzufriedenheit mit den wirtschaftlich dominanten englischen Versi­ cherungsgesellschaften – übrigens jedoch auch mit den deutschen Witwen- und Waisenkassen:278 „Nicht unerheblich ist unter Anderem das Ergebniß der ‚Vergleichenden Darstellung‘, daß keine der englischen Anstalten als eine für die Nation vorhandene gelten kann, welche mehr nicht, als die Verwaltungskosten, gleich unserer Bank, von den deponirten Prämiengeldern in Anspruch nimmt; bei jeder sind ‚proprietors‘ im Hinterhalte, jede wuchert, keine legt vor der Welt genaue Rechnung am Schlusses jedes Jahres ab. Und ist es anders mit unseren Wittwen-Cassen? Wessen ist der Fonds, der sich im Lauf der Zeiten anhäuft?“

Die Idee der Lebensversicherungsbank für Deutschland trat danach in ein kon­ kreteres Stadium.

275

Braun (2. Aufl. 1963), S. 213; Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 42; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 68. 276 Babbage (1826), S. 12 f. zur Kritik an der englischen Versicherungspraxis. Vgl. ins­ gesamt zum Werk Babbages und seiner Bedeutung: Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 271 ff.; ders., Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 42 ff. („förmliches Compendium der Lebensversicherungswissenschaft“); Masius (1846), S. 506; ­Neugebauer (1990), S. 16. 277 Zit. Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 42. Vgl. auch Braun (2. Aufl. 1963), S. 213 f.; Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 273 f.; P. Koch, Bilder (1978), S. 82; ders., Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 68; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 84; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 5.  278 Brief Ernst Wilhelm Arnoldis an v. Froriep v. 12. 05. 1827, zit. Emminghaus, Ernst ­Wilhelm Arnoldi (1878), S. 275.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

2. Die AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank im Spiegel der englischen Lebensversicherungspraxis In den nächsten beiden Jahren nach der Anregung von Frorieps arbeiteten Ar­ noldi und seine Mitarbeiter das versicherungstechnische Modell sowie die Ver­ sicherungsbedingungen der Lebensversicherungsbank für Deutschland aus. Viele der technischen und rechtlichen Elemente, die Charles Babbage kurz zuvor in sei­ nem „Comparative View“ skizziert hatte, fanden ihren Eingang in die Versiche­ rungsbedingungen der Gothaer.279 Dabei sind die Zusammenhänge – im Gegensatz zur parallel liegenden, viel komplexeren Quellenlage im Feuerversicherungsrecht – so auffällig, dass sie schon an dieser Stelle auf Erwähnung drängen. Die Gesellschaft bot Todesfallversicherungen auf Lebenszeit oder auf kürzere Zeit, also auf ein oder mehrere Jahre, an.280 In beiden Fällen waren die jährlich zahlbaren Prämien nach dem Eintrittsalter der versicherten Person abgestuft,281 wobei für die auf Lebenszeit Versicherten beim Eintritt in die Versichertenge­ meinschaft zusätzlich ein einmaliger Aufschlag von „1/4 Antrittsgeld“ fällig wur­ de.282 Die Prämienzahlungspflicht entfiel aber, sollte eine versicherte Person ihren 90. Geburtstag erleben.283 Übereinstimmend mit den englischen Lebensversicherern, die Babbage be­ schrieben hatte, konnte die Versicherung nur auf das Leben einer Person genommen werden, die älter als 15 Jahre war, um das Versichertenkollektiv nicht mit der be­ 279

Vgl. Vorwort von Hrsg. Campbell-Kelly zu Babbage (1826) in der Ausgabe von 1989, S. 6. So auch Brämer / Brämer (1894), S. 83 f.; Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 277 f.; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 24; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 22. 280 Vom Abdruck der ausdrücklichen Regelung wurde in der Sammlung-AVB abgesehen. Jedoch unterschied § 9 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828) zwischen „wirklichen Mitgliedern“ (d. h. auf Lebenszeit Versicherten) und anderen; vgl. auch die ent­ sprechende Differenzierung in § 50  II zum Prämienrückstand oder die unterschiedlichen Prämientarife für „auf Lebenszeit“, „auf 5 Jahre“ und „auf 1 Jahr“ Versicherte in der ange­ hängten Tariftabelle. Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 83 f.; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 16. 281 § 48 S. 1 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828) (Prämientabelle als Anhang zu den AVB abgedruckt); zur (im Einzelnen stark unterschiedlichen) Prämienberech­ nung bei englischen Gesellschaften s. Babbage (1826), S. 32 ff.; z. B. Cl. 2–12 Deed of Settle­ ment of Equitable Society (1762). 282 § 48 S. 2 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); vgl. Babbage (1826), S. 67; z. B. Cl. 57 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (15 % Antrittsgeld, ab ByeLaw 1 [1770] Sect. 4 nur noch 5 %). 283 § 51 S. 1 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); vgl. auch Brämer /  Brämer (1894), S. 83 f.; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 16. Eine ent­ sprechende englische Praxis ergibt sich bei Babbage (1826) u. a. aus den im Anhang angefüg­ ten Prämientabellen. Vgl. zu dieser Praxis und ihrer versicherungsmathematischen Fundie­ rung ausdrücklich Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 87 f.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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sonders hohen Gefahr der Kindersterblichkeit zu belasten;284 ferner musste sowohl bei den englischen Gesellschaften als auch bei der Gothaer jede Person, auf deren Leben eine Versicherung genommen werden sollte, zunächst ihre ausreichende Gesundheit durch eine ärztliche Untersuchung nachweisen, während nicht hin­ länglich geimpfte Personen generell keine Aufnahme erhoffen durften.285 Erhöhte sich nach der Aufnahme das Sterblichkeitsrisiko drastisch, weil der Versicherte in den aktiven Kriegsdienst eingezogen wurde286 oder eine gefährliche Reise zu See oder „über den christlichen und kultivierten Teil von Europa hinaus“ unternahm, so konnte die Gothaer den Versicherungsvertrag kündigen oder aber die Prämien ad­ äquat anpassen.287 Auch über solche Vorkehrungen englischer Privatversicherer – mit teilweise großen Unterschieden in der Ausführung – hatte Babbage berichtet.288 Des Weiteren verfuhr die Gothaer auch im Falle eines Prämienzahlungsrück­ standes auf ganz ähnliche Weise, wie es in England üblich geworden war. Blieb ein Versicherungsnehmer die erste oder einzige Prämie schuldig, so galt das „Ein­ lösungsprinzip“, der materielle Versicherungsschutz lebte also überhaupt gar nicht auf; falls er aber eine der folgenden, laufenden Prämien für mehr als vier Wochen nicht einzahlte, so verfiel die Versicherung ipso iure.289 Angenommen, es verblieb nun nach alledem ein Überschuss aus den Prämien­ einnahmen bei der Gesellschaft, welcher nicht zur Deckung von Versicherungs­ fällen genutzt worden war, so floss dieser an die lebenslang Versicherten zurück. Er wurde nach dem Verhältnis der bislang insgesamt eingezahlten Prämien über diese Mitglieder verteilt, sobald diese – ebenfalls wie bei Babbage beschrieben – eine Mitgliedschaft von mindestens 6 Jahren vorweisen konnten.290 Falls die Ge­ 284

§ 47 S. 1 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); vgl. Babbage (1826), S. 4 ff.; nach Cl. 2 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) war sogar schon eine Le­ bensversicherung ab 8 Jahren möglich. Zu den versicherungsmathematischen Schwierigkeiten aufgrund der hohen Kindersterblichkeit vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 66. 285 § 44 I Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); vgl. S. 4 ff.; zu den eng­ lischen Gesellschaften s. z. B. Cl. 17 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Anzeige des Alters und Gesundheitszustandes; ab Bye-Law 15 [1781] auch einer Pocken- oder Gicht­ erkrankung, ab Bye-Law 30 [1802] auch „Small Pox“ und „Cow Pox“). 286 § 61 S. 1 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 94. 287 § 62 I, II Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828). 288 Vgl. Babbage (1826), S. 62 f. (meist keine Versicherung für Reisen außerhalb Englands, Praxis der englischen Lebensversicherer bei Seereisen oder zu Kriegszeiten uneinheitlich). 289 § 59 I, II Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); vgl. Babbage (1826), S. 70; zu den englischen Gesellschaften s. z. B. Cl. 67 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Verfall der Versicherung nach 30 Tagen Prämienrückstand). 290 § 13 S. 2 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); vgl. Babbage (1826), S. 39 ff., 59 ff.; zu den englischen Gesellschaften s. z. B. Cl. 70, 71 Deed of Settlement of Equi­ table Society (1762) (Aufschlag der Überschussdividenden auf die Versicherungssumme, ab Bye-Law 36 [1810], § 1 erst nach 6 Jahren Mitgliedschaft). Vgl. insgesamt auch Brämer / Brämer (1894), S. 83 f.; zur Unterscheidung zwischen lebenslänglichen und temporären Mitglieder insgesamt Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 63; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 6, 20.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

sellschaft ihre Verbindlichkeiten nicht mehr aus dem eigenen Vermögen tilgen konnte, drohte den lebenslang versicherten Mitgliedern jedoch umgekehrt eine finanzielle Nachschusspflicht, welche nach dem gleichen Verhältnismaßstab wie die erhofften Überschüsse verteilt wurde.291 3. Die Entwicklung des deutschen Lebensversicherungsmarkts nach der Gründung der Gothaer Die Pläne Arnoldis zu einer Lebensversicherungsbank wurden schließlich am 09. 07. 1827 durch „landesfürstliche Sanction“ des Herzogs zu Sachsen-Coburg und Gotha genehmigt. Die „Bank“ nahm am 01. 01. 1829 ihren Betrieb auf.292 Im ersten Jahr ihrer Tätigkeit konnte sie 1.300 Versicherungsnehmer mit einem gesamten Vertragsvolumen von ca. 7 Millionen Talern gewinnen.293 Bis in die 1850er Jahre expandierte sie in weite Teile des deutschsprachigen Raumes, unter anderem nach Preußen, Bayern, Hannover, Württemberg, Sachsen und sogar in die Schweiz, wo­ bei ihr auch das bereits bestehende Agentennetz der Gothaer Feuerversicherungs­ bank von großem Nutzen war.294 Seit der Gründung der Lebensversicherungsbank zu Gotha erschien in Deutsch­ land eine ganze Reihe von privaten Lebensversicherern – so zum Beispiel, um nur die Gründungen der 1830er Jahre aufzuzählen, die Leipziger Lebensversicherungs­ gesellschaft (1830), die Allgemeine Lebensversicherungsanstalt für das Königreich Hannover (1831), die Berlinische Lebensversicherungsgesellschaft (1836) sowie die Lebensversicherung der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank (1836).295 Insbesondere über die Leipziger hieß es schon in der zeitgenössischen Literatur, sie habe sich ganz vorwiegend an den Plänen der Gothaer orientiert.296 Begreifbar wird der Einfluss, den die Gothaer auf andere Lebensversicherungsgesellschaf­ ten ausgeübt haben muss, auch an der Episode der Hamburgischen „Lebensver­ sicherungs-Societät Hammonia“ von 1845, die den gesamten Plan der Gothaer samt der Sterblichkeitstabellen kopierte, ohne dabei zu prüfen, ob die statistischen Berechnungen der Gothaer überhaupt auf die Hamburgischen Verhältnisse pass­ 291

§§ 5, 14 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828) (nicht im Wortlaut abgedruckt, aber angedeutet); Babbage erwähnt die Nachschusspflicht nicht, zur Praxis eng­ lischer Gesellschaften vgl. jedoch z. B. Cl. 68 Deed of Settlement of Equitable Society (1762). Vgl. Insgesamt Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 7. 292 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 286; ders., Geschichte der Lebensver­ sicherungsbank zu Gotha (1877), S. 79, 95; P. Koch, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 13, 24; ders., Pioniere (1968), S. 232; Masius (1846), S. 507; Mohr, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 115, 122; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 5 f. 293 Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 304. 294 Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 120 ff. 295 Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 242 ff. 296 Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 242 f.; Hoffmann, Die Gartenlaube 21 (1881), 14, 15; Masius (1846), S. 514 f.

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ten;297 die „Hammonia“ musste 1859 wegen schlechter wirtschaftlicher Ergebnisse wieder liquidiert werden.298 Die hohe rechtliche Vorbildwirkung der Gothaer recht­ fertigt es, auch im Laufe der später folgenden analytischen Betrachtung einzelner rechtlicher Figuren einen ganz besonderen Schwerpunkt auf die ersten AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank von 1828 zu legen.

IV. Methodische Anmerkungen zur rechtshistorischen Forschung an den frühesten AVB Immer wieder wurde im Verlauf der bisherigen Untersuchung die Forschungs­ frage aufgeworfen, ob die außergewöhnlich frühe Kodifikation des Preußischen Landrechts nachhaltige Spuren in den deutschen Versicherungsbedingungen hin­ terlassen hat. Manche Autoren wie Erich Prölss, Peter Koch oder Ralph ­Neugebauer haben diese Hypothese gebildet;299 allenthalben ihr Beweis wurde im wissenschaft­ lichen Diskurs der Vergangenheit noch nicht unternommen. Eins der formulierten Ziele dieser Forschungsarbeit ist es, diese Lücke zu schließen. Daher soll die in Kürze folgende, rechtshistorische Analyse einzelner binnenversicherungsrecht­ licher Dogmen nicht nur nach der Genese des ALR fragen, sondern auch nach dessen möglicher Rezeption in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Doch ist es überhaupt möglich und sinnvoll, auf diese Frage eine Antwort zu geben? Zumeist freilich klingt die Frage, ob ein Gesetz die Praxis seines Rechtsgebiets beeinflusst hat, aus der Perspektive der Rechtsgeschichte eher trivial: jedes Ge­ setz hinterlässt selbstverständlich mehr oder minder seine Spuren im praktischen Rechtsleben. Diese Tatsache verdient keine außerordentliche rechtshistorische Aufmerksamkeit. Die dem Allgemeinen Landrecht teilweise zugeschriebene Rolle ist indessen eine ganz andere. Denn die Praxis der Mobiliarfeuerversicherung und der Lebensversicherung war im Jahr 1794 in Deutschland noch derart schwach aus­ geprägt, dass dem Landrecht eventuell sogar eine genuin rechtsschöpfende Rolle zufallen könnte; das ALR hätte das Binnenversicherungsrecht dann nicht nur re­ zipiert, sondern sogar selbstständig mitgeprägt. Die bisherige Forschung am ALR und den Arbeitsmethoden des preußischen Gesetzgebers hat diesen Verdacht eher erhärtet als entkräftet. Aus diesem – und nur aus diesem – Gesichtspunkt heraus rechtfertigt sich die nähere rechtshistorische Behandlung dieser Thematik.

297

Brämer / Brämer (1894), S. 89; Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 253. 298 Braun (2. Aufl. 1963), S. 216; Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 256. 299 Im Detail dazu s. schon den Überblick über die Narrative zum Binnenversicherungsrecht des ALR und seine Rezeption unter § 2 A.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

1. Methodische Wege und Sackgassen der Quellenforschung Zwar eröffnet die heutige Quellenlage einen guten Zugang jedenfalls zu den meisten historischen Versicherungsbedingungen des 19. Jahrhunderts, da der Deutschen Verein für Versicherungswissenschaft (DVfVW) bereits ab 1908 eine Auswahl der gebräuchlichsten Feuer- und Lebensversicherungsbedingungen seit 1812 erstellt und gedruckt hat.300 Dennoch bereitet es große methodische Schwie­ rigkeiten, ihre gedanklichen Wurzeln und Vorbilder freizulegen. Denn anders als die meisten modernen Gesetze haben die Architekten der AVB weder Motive noch irgendwelche anderen greifbaren Materialien hinterlassen, die Aufschluss über deren Genese geben könnten. In der überwiegenden Zahl der Fälle vermag man nicht einmal den Verfasser selbst zu identifizieren. Damit liegt der Ursprung fast aller AVB im Dunkeln und lässt sich nicht mit wissenschaftlicher Exaktheit nachvollziehen.301 Jedenfalls sollte man nicht aus einem oberflächlich ähnlichen Regelungsgehalt zwischen Allgemeinem Landrecht und den Allgemeinen Versicherungsbedingun­ gen den voreiligen Schluss ziehen, man habe einen gesicherten Überlieferungs­ weg aufgedeckt. Denn erstens beruhen bestimmte Klauseln beinahe zwingend auf den immanenten Bedürfnissen der zugrundeliegenden Versicherungstechnik – so wie etwa eine im größeren Maßstab operierende Versicherungsgesellschaft ihre Prämien nur dann rationell nach Gefahrklassen abstufen kann, wenn sie zuvor In­ formationen über alle relevanten Gefahrumstände eingeholt hat. Folglich könnten sich ähnlich klingende Klauseln auch unabhängig voneinander entwickelt haben. Das gilt vor allem in der Phase ab 1830, in der schon so viele verschiedene ähnlich lautende AVB bestanden, dass sich die Überlieferungslinien im Einzelnen mehr und mehr überkreuzen und verwirren. Zweitens steht die historische Erforschung von Rechtsdogmen bei Betrachtung der AVB aber noch vor dem generellen Problem, dass die rechtlichen Bestimmun­ gen einzelner AVB gar nicht erst den Anspruch rechtsdogmatisch-theoretischer Schärfe erheben wollten, sondern schlicht und ergreifend den Zweck hatten, den täglichen Wirtschaftsverkehr auf pragmatische Weise zu regeln. Raiser warnt da­ her ausdrücklich davor, den Ursprung Allgemeiner Geschäftsbedingungen mit herkömmlichen rechtshistorischen Methoden analysieren zu wollen. Man dürfe „die juristische Phantasie und Sorgfalt der Verfasser nicht überschätzen“ – viele Bestimmungen seien „translazistisches Gut und verbreiten sich wie Epidemien durch die AGB ganzer Wirtschaftszweige oder werden aus einzelnen fremden

300

Sammlung von Versicherungsbedingungen deutscher Versicherungsanstalten. Der erste (1908) und der zweite Band (1909) der insgesamt fünfbändigen Sammlung enthalten AVB his­ torischer Feuer- und Lebensversicherungsgesellschaften, insbesondere auch aus der frühesten Phase der Privatversicherungsgesellschaften. Auch die „Sammlung“ erhebt keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. 301 Ausdrücklich L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 42; so auch Neugebauer (1990), S. 136.

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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Vorlagen übernommen ohne allzuviel Kopfzerbrechen, ob sie auch an dieser Stelle notwendig und zweckentsprechend sind.“302 Will man also die teilweise geäußerte These überprüfen, ob oder inwieweit die deutsche Versicherungspraxis tatsächlich das materielle Versicherungsrecht des preußischen Landrecht rezipiert hat, so sollte zuerst sorgfältig geklärt werden, ob es irgendwelche zusätzlichen historisch gesicherten Anhaltspunkte oder Stützen gibt, mithilfe derer man auch den tatsächlichen Überlieferungsprozess mit hin­ reichender Wahrscheinlichkeit nachzeichnen kann, ohne dabei in die Gefahr vor­ eilige Fehlschlüsse zu geraten. 2. Methodische Ansätze zur Quellenforschung an den ältesten Feuerversicherungsbedingungen Eine solche Hilfestellung offenbart sich, wenn man einen näheren Blick auf die Entstehungsgeschichte der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt wirft, wie sie bereits im Laufe dieser Untersuchung skizziert worden ist. Es ist bekannt, dass der erste Bevollmächtigte der Berlinischen, Georg Friedrich Averdieck vormals als Agent bei der London Phoenix Fire Insurance Company, namentlich ihrer Zweigniederlassung in Hamburg, beschäftigt war. Es gehört da­ her – sehr nachvollziehbar – zum allgemeinen Tenor der versicherungsgeschicht­ lichen Literatur, dass Averdieck sich von den Policen der Phoenix inspirieren ließ. Insoweit dürfte sich die Quellenforschung also wirklich auf recht sicherem Ter­ rain bewegen. Wie aber sieht es mit den behaupteten Einflüssen des preußischen Landrechts aus? Im Gegensatz zur häufig erwähnten Agententätigkeit Averdiecks bei der Lon­ don Phoenix hat die rechtshistorische Forschung bislang kaum beachtet, dass der Hamburger Kaufmann Wilhelm Benecke, der Mitbegründer und erste Direktor der Berlinischen Privat-Feuerversicherungs-Anstalt, wirklich über einige veritab­ len Kenntnisse des ALR verfügt haben musste. Nur zwei Jahre vor der Gründung der Berlinischen hatte er die zweite Auflage seines fünfbändigen Lehrbuches über das „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ veröffentlicht, in dem er die versicherungsrechtlichen Gewohnheiten und Assekuranzgesetze aller damals füh­ renden Seehandelsnationen gegenüberstellte und erläuterte. Der vierte Band seines Werks enthielt daneben auch ein Kapitel über die Grundsätze der privatwirtschaft­ lichen Feuerversicherung,303 das sich hauptsächlich mit englischen und Hambur­ gischen Feuerversicherungseinrichtungen auseinandersetzte. In seine Darstellung des gesamten Seeversicherungs- und Mobiliarfeuerversicherungsrechts waren aber auch zahlreiche Passagen aus dem Allgemeinen Preußischen Landrecht ein­ 302 303

L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 42; vgl. auch Neugebauer (1990), S. 136. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 521 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

geflochten; er musste sich also bereits eingehender mit dessen Vorschriften aus­ einandergesetzt haben. Die besondere Aufmerksamkeit der Quellenforschung erregt vor allem eine – bereits zuvor behandelte – Klausel aus dem Bereich der Gefahranzeige beim Ver­ tragsschluss. Für den Fall, dass in der Versicherungslokalität neben dem versicher­ ten Gegenstand noch andere, nämlich feuergefährliche Waren eingelagert waren, bestimmte das preußische Landrecht gewohnt kasuistisch in Th. II Tit. §§ 2054 ff.: „§ 2054. Sind Schießpulver, Schwefel, Salpeter, Heu, Stroh, ungedroschenes Getreyde, Tabaksblätter, Hanf, Flachs, Heede, getheertes Tauwerk, Pech, Theer, Talch, Terpentinöl und Thran darunter befindlich: so müssen sie, bey Verlust des Rechts und der Prämie, aus­ drücklich benannt werden. […] § 2056. Ferner muß derjenige, welcher Versicherung gegen Feuersgefahr sucht, gewis­ senhaft angeben: ob die Sachen in feuerfesten Gebäuden aufbewahrt werden, oder ob sie gefährliche Nachbarschaft haben. § 2057. Feuerfeste Gebäude sind solche, welche von allen Seiten massive Mauern und Schornsteine haben. § 2058. Ein Gebäude, welches ganz oder zum Theil mit einer leicht brennbaren Materie, als Schindeln, Bretter, Stroh, Rohr, Schilf u. d. m. gedeckt ist, kann für feuerfest nicht ge­ achtet werden. § 2059. Für gefährliche Nachbarschaft wird gehalten, wenn im Gebäude selbst, oder in einem der drey nächsten Häuser, welche das versicherte Gebäude umgeben, gefährliche Gewerbe getrieben werden. § 2060. Ferner, wenn in einem dieser Gebäude feuerfangende Sachen in größerer Quanti­ tät, als zum gewöhnlichen Wirthschaftsgebrauche erforderlich ist, aufbewahrt sind. […] § 2063. Als leicht feuerfangende Sachen werden die im §. 2054 genannten betrachtet.“

Diese Vorschriften des Landrechts schienen Benecke so aussagekräftig zu sein, dass er sie in seinem Lehrbuch wortlautgetreu und sogar unter Nennung der ein­ schlägigen Paragraphen abdruckte, indem er dazu lediglich bemerkte, „daß wer sich nach ihnen richtet, nirgends Gefahr läuft zu wenig zu thun.“304 Dieser Umstand, für sich alleine genommen, wäre zum Zwecke der Quellenforschung noch wenig aufschlussreich, wenn dieselben Klauseln nicht neu arrangiert, aber trotzdem in weiten Teilen fast wortlautgleich in den AVB der Berlinischen auftauchen würden:305 Art. 36. [2] Der Versicherungsantrag muß enthalten: […] 2. Ob das Gebäude, welches versi­ chert werden soll, oder worin der zu versichernde Gegenstand sich befindet, feuerfest, von Fachwerk oder noch leichter Art gebaut, mit Ziegeln, Schindeln, Rohr, Stroh oder wie sonst gedeckt sei, ob darin ein Geschäft getrieben werde, welches eine größere als gewöhnliche Feuersgefahr veranlassen kann. 304

Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 530 f. Zu der großen Ähnlichkeiten zum Allgemeinen Landrecht auch schon Neugebauer (1990), S. 138. 305

C. Die „Erste Gründungswelle“ in der Privatversicherungswirtschaft 

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3. Wie die Nachbarschaft und Umgebung beschaffen sei, und ob bevorstehende Veränderun­ gen, welche die Feuersgefahr vermehren, dem Versicherer bekannt geworden; desgleichen 4. ob seines Wissens in dem Gebäude oder in der Nachbarschaft leicht feuerfangende Sachen in größerer Menge, als zum gewöhnlichen Wirtschaftsgebrauch erforderlich, be­ sonders ob Schießpulver, Schwefel, Salpeter, Teer, geteertes Tauwerk, Pech, Terpentin, Öl, Spiritus, Branntwein, Hanf, Flachs, Hede, unausgedroschenes Getreide, Heu, Stroh usw. aufbewahrt liegen, und ob ihm bekannt sei, daß es künftig der Fall sein werde.

Insbesondere Art. 36 II Nr. 4 der AVB enthielt praktisch eine fast wörtliche, nur in Details umformulierte Kompilation aus den Regeln der §§ 2054, 2060, 2063 ALR, während die AVB in Art. 36 II Nr. 2, 3 den Eindruck machen, als hätte man die Inhalte der §§ 2056–2059 ALR übernommen, leicht präzisiert und insbesondere auf die Gebäudefeuerversicherung angepasst. Das kann kaum noch Zufall sein. Es scheint in diesem Fall also höchstwahrscheinlich Benecke selbst gewesen zu sein, der die AVB der Berlinischen maßgeblich mitgestaltete. Wenn man sich folglich vor Augen hält, dass Wilhelm Benecke nachweislich fundierte Kenntnisse über das gesamte Versicherungsrecht im ALR besessen haben muss, immerhin bis dato die einzige Kodifikation des Binnenversicherungsrechts überhaupt, so könnte damit wirklich mit der gebotenen Vorsicht eine Hypothese formuliert werden, die den Einfluss des ALR auf die Feuerversicherungsbedin­ gungen der Berlinischen Anstalt erklärt. Die AVB der Berlinischen könnten dann gewissermaßen als „Pionierarbeit“ auch den AVB anderer Versicherungsgesell­ schaften als Vorbild gedient haben. Aus den vorangegangenen Erwägungen lassen sich zunächst hauptsächlich me­ thodische Schlussfolgerungen ziehen. Bei der rechtshistorischen Untersuchung der ältesten AVB müssen zwei wesentliche potentielle Quellen voneinander abgegrenzt werden: zum Ersten das Landrecht selbst, zum Zweiten die von Averdieck ein­ gebrachten Versicherungsbedingungen der London Phoenix. Bei alledem könnte das Assekuranzlehrbuch Wilhelm Beneckes, das „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“, wie gesehen, eine wertvolle Stütze liefern, da es jedenfalls mi­ nutiös aufzeigt, mit welchen Quellen Benecke sich bereits wissenschaftlich ausei­ nandergesetzt hatte, bevor er an der Verfassung der Berlinischen AVB mitwirkte.

3. Methodische Ansätze zur Quellenforschung an den ältesten Lebensversicherungsbedingungen Nachdem die Suche nach potentiellen Quellen der Feuerversicherungsbedin­ gungen, insbesondere der AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt, ei­ nigen Aufwand beansprucht hat, scheint die Quellenforschung auf dem Gebiet der Lebensversicherung um einiges einfacher zu sein. Denn dass Ernst Wilhelm Ar­ noldi im Besitz von Charles Babbages Werk „A Comparative View of the Various Institutions for the Assurance of Lives“ gewesen ist, lässt sich historisch belegen

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

und wird auch nirgends bestritten. Ebenso wurde schon weiter oben erläutert, dass die Lebensversicherungsbank für Deutschland zu Gotha tatsächlich sehr auffäl­ lige Parallelen zu den englischen Lebensversicherern aufwies, die bei Babbage Erwähnung gefunden hatten.306 Dennoch soll in der sogleich folgenden Analyse einzelner rechtlicher Figuren des Allgemeinen Landrechts noch darauf eingegangen werden, ob das preußische Landrecht – immerhin die einzige deutsche Kodifikation des Lebensversicherungs­ rechts – nicht auch eine gewisse Vorbildrolle für die Gothaer übernommen haben könnte. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist freilich eher gering. Nachdem aber schon ein Einfluss des ALR auf die deutschen Feuerversicherungsbedingungen naheliegt, soll das ALR der Vollständigkeit und der wissenschaftlichen Exaktheit halber auch als Einflussfaktor für die deutschen Lebensversicherungsbedingungen geprüft wer­ den – und sei es auch nur zur Abgrenzung. Allerdings soll die Darstellung insofern in der gebotenen Kürze gehalten werden, soweit sich schon bei erster Betrachtung herauskristallisiert, dass ein solcher Einfluss schlechthin ausgeschlossen ist. 4. Das weitere methodische Vorgehen Die vorangegangenen methodischen Erwägungen haben gezeigt, dass es prin­ zipiell möglich und potentiell fruchtbar sein könnte, nach Spuren des Allgemei­ nen Preußischen Landrechts in den AVB früher Versicherungsgesellschaften zu suchen – insbesondere bei den Feuerversicherern. Die tiefgreifenden Bedenken, die über ein solches Vorgehen geäußert wurden, sind dennoch nicht vollends ausgeräumt. Insbesondere droht, wie eingangs erörtert, immer noch die Gefahr eines methodisch fragwürdigen Fehlschlusses, wenn man versuchen würde, an ganz allgemeinen Merkmalen und Bedürfnissen des ratio­ nellen Versicherungsbetriebs eine unmittelbare Einflussrichtung aufzudecken. Ein solches Vorgehen wäre wenig zielführend. Wesentlich aufschlussreicher wird es sein, sich die von Raiser formulierte, pes­ simistische Erkenntnis zu Nutze zu machen, dass sich einige Klauseln auf kom­ pilatorischem Wege „wie Epidemien“ durch die Vertragswerke verbreitet hatten, ohne dass ihre Architekten sorgfältig darauf geachtet hätten, ob sie überhaupt den Zwecken des jeweils betriebenen Versicherungszweigs gerecht werden konnten. Ausgerechnet solche rechtlichen Fremdkörper, die aus ihrem ursprünglichen Zu­ sammenhang – hier: dem seerechtlich geprägten preußischen ALR – gerissen wur­ den und im Binnenversicherungsrecht eher zwecklos oder deplatziert erscheinen, geben der Quellenforschung ein umso wichtigeres Indiz für einen entsprechenden unmittelbaren Einfluss. Ebenso interessant für die rechtshistorische Arbeit sind filigranere systematische und dogmatische Strukturen, welche nicht zwingend Ausfluss eines allgemeinen versicherungstechnischen Bedürfnisses sein müssen. 306

Dazu unter § 2 C III 2.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Auf diese vorsichtige und zurückhaltende Weise könnte es am Ende möglich sein, sich Schritt für Schritt an belastbare Aussagen über die rechtshistorischen Wurzeln der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und insbesondere deren Re­ zeption des Preußischen Landrechts heranzutasten.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren Vor dem Hintergrund der bisher gewonnenen Erkenntnisse über Genese und Konzept des Allgemeinen Landrechts von 1794 sollen nachfolgend einige aus­ gewählte rechtsdogmatische Figuren der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR aus der Nähe beleuchtet werden. Erst die genauere Analyse einzelner dogmatischer Ent­ wicklungsstränge wird die bis zu diesem Punkt formulierten Hypothesen auf den Prüfstand stellen können. Dabei müssen zwei Fragen geklärt werden: erstens, welche Faktoren für die Heranbildung der noch jungen rechtsdogmatischen Strukturen des preußischen Landrechts selbst ausschlaggebend waren. Spielte hier eher das traditionsreiche Seeversicherungsrecht eine Rolle, wie es schon in der Hamburgischen Assecuranzund Havereyordnung niedergelegt war, oder haben doch auch die noch in ihren Kinderschuhen steckenden Feuer- und Lebensversicherer, vielleicht aber sogar die staatlichen Feuersozietäten und Witwen- und Waisenkassen einen Einfluss aus­ üben können? Mit ziemlicher Gewissheit kann bis jetzt bloß gesagt werden, dass sich ein recht eindimensionales Bild ergäbe und wesentliche Entwicklungsprozesse verborgen blieben, wenn man nur monokausal überprüfen würde, ob die Feuerver­ sicherungsbedingungen beispielsweise der Hamburgischen Assecuranz-Compag­ nien Eingang in das Landrecht gefunden haben. Stattdessen soll die Entstehung der Versicherungsrechtsdogmatik von den Assecuranz- und Haverey-Ordnungen bis zum preußischen Landrecht, soweit sinnvoll, nachvollzogen werden. In diesem Arbeitsprozess wird sich allmählich herauskristallisieren, welche Regelungen des ALR aus den früheren seeversicherungsrechtlichen Vorbildern abgeleitet sind und an welchen Stellen tatsächlich die vorgesetzliche Feuerversicherungspraxis ihre Spuren hinterlassen konnte. Sodann besteht Anlass, jeweils zu überprüfen, ob die Allgemeinen Versiche­ rungsbedingungen des frühen 19. Jahrhunderts, so wie gelegentlich behauptet, das Allgemeine Landrecht rezipiert haben, oder ob sie vielmehr ein bloßes Abbild englischer Vorbilder oder sogar deutsche Eigenschöpfungen waren. Jene Untersu­ chung zerfällt aber wiederum in zwei Teilfragen, nämlich: ob die AVB überhaupt das preußische Landrecht in sich aufgenommen haben, und, wenn das der Fall ist, ob dieser Einfluss auch nachhaltig prägend auf das deutsche Versicherungsver­ tragsrecht gewirkt hat.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

I. Die Beschreibung des Leistungsumfangs: Übernommenes Risiko und versicherte Gegenstände Bei unbefangener Betrachtung sollte man erwarten, dass selbst in einer aus­ führlichen Kodifikation des Versicherungsvertragsrechts kaum Aussagen darü­ ber getroffen werden, auf welche Gegenstände sich die Versicherung erstreckt oder welches Risiko im Einzelnen vom Versicherungsvertrag abgedeckt wird. Denn die Festlegung des konkreten Leistungsumfangs ist die ureigene Aufgabe der Vertragsparteien, während der Gesetzgeber nur den rechtlichen Rahmen für deren Geschäftsbeziehungen zeichnen kann.307 Umso überraschender ist es, dass im preußischen ALR verblüffend ausführlich geregelt war, welche einzelnen Mo­ bilien in der Feuerversicherung inbegriffen waren und welche einer gesonderten Nennung in der Police bedurften. Die Untersuchung der Problemkreise „übernommenes Risiko“ und „versicherte Gegenstände“ wirft damit ganz exemplarisch ein Licht darauf, mit welchen Metho­ den der preußische Gesetzgeber im 19. Jahrhundert das spärlich vorhandene Mate­ rial der Feuerversicherungspraxis verarbeitet hat. Es sei bereits vorweggenommen, dass ein jeder, der diesen Gesetzgebungsvorgang aus dem Blickwinkel der heutigen Versicherungsrechtsdogmatik betrachten möchte, auf ein wahres Durcheinander an verschiedensten dogmatischen Figuren stoßen wird, da der preußische Gesetz­ geber das Material, das er insoweit in den Praxisbedingungen vorfand, nach Be­ lieben aufgriff und neu arrangierte. Um diesen Gordischen Knoten verschiedener Rechtsinstitute zu entwirren, soll die vorliegende Untersuchung daher zunächst aufzeigen, welche Gegenstände und Gefahren nach der vorgesetzlichen Praxis zum Inhalt einer Versicherung gemacht werden konnten (1). Im Anschluss daran wird erörtert, mit welchen Methoden und vor allem mit welchem Ergebnis der Gesetzgeber dieses Material verarbeitet hat, bis es schließlich in die Form des Allgemeinen Landrechts gegossen wurde (2). Ab­ schnitt 3 wird zeigen, dass die Feuerversicherungspraxis des 19. Jahrhunderts der Lösung des ALR denkbar wenig abgewinnen konnte und sich daher wieder stärker an englischen Vorbildern orientierte. Schließlich muss noch geklärt werden, welche Rolle die öffentlichen Brandkassen während dieses gesamten Prozesses spielten (4). Dabei soll der nähere Fokus ausschließlich auf der Mobiliarfeuerversicherung liegen – die Regelungen zur Lebensversicherung erschöpften sich im ALR näm­ lich insoweit darin, dass sie eine Versicherung auf das Leben eines Menschen für zulässig erklärten,308 und sind deshalb für die Quellenforschung wenig ergiebig. 307 Vgl. zur Situation im heutigen Recht Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 448; Bruck / Möller /  Baumann (9. Aufl. 2008), § 1 Rn. 63 f.; Bruns (2015), § 13 Rn. 8 ff.; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 144 ff.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 805 ff. 308 § 1968 ALR (1794) (Lebensversicherung); § 1975 ALR (1794) (Freiheitsversiche­ rung); § 1979 ALR (1794) (Lösegeldversicherung) (abgedruckt in der Textausgabe von Hrsg. ­Hattenhauer, 3. Aufl. 1996).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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1. Die vorgesetzliche Praxis: eine inhomogene Sammlung verschiedenartiger Klauseln Auch wenn die deutschen Feuerversicherer vor dem ALR – vor allem die Asse­ curanz-Compagnien, die neben der Seeversicherung auch die Feuerversicherung betrieben – noch über sehr schmale rechtliche Regelungswerke verfügten, so spra­ chen sie sich immerhin sehr ausführlich darüber aus, welche Gegenstände von der Mobiliarfeuerversicherung erfasst waren. Die übereinstimmenden Pläne der Ersten und der Vierten Assecuranz-Compag­ nie aus den Jahren 1765 und 1772 waren selbst in diesem Punkt noch recht knapp gehalten: versicherbar gegen Feuersgefahr waren „Kaufmanns-Waaren trockne und nasse“ sowie „Kramwaaren und was nach dem Ausschnitte bey Kleinigkeiten verkauft wird.“309 Ausgedehntere Regeln sah bereits die Erneuerte Fünfte Asse­ kuranz-Compagnie vor, als sie 1789 die Mobiliarfeuerversicherung aufnahm. Sie unterschied in ihrem Feuerversicherungsplan zwischen drei verschiedenen Grup­ pen von Gegenständen: sie kannte erstens Gegenstände, die überhaupt nicht ver­ sicherbar waren und die sich nicht einmal an dem selben Ort wie die versicherten Sachen befinden durften; andererseits zählte sie Gegenstände auf, die besonders wertvoll waren und daher nur nach ausdrücklicher Nennung in der individuellen Police versichert waren. Eine dritte Gruppe von Gegenständen hatte der Versiche­ rungsnehmer anzuzeigen, wenn sie am selben Ort lagerten wie die versicherten Gegenstände. Die entsprechenden Vorschriften lauteten insgesamt:310 „Folgende Waaren dürfen an dem versicherten Orte nicht befindlich seyn, sonst ist die Compagnie zu keinem Ersatz verbunden: Pulver, Hanf, Flachs, Heede, getheertes Tauwerk, Pech und Theer. Wenn folgende Waaren daselbst liegen, muß es ausdrücklich in der Polize bemerkt werden, wenn die Assecuranz geschlossen wird, sonst ist die Assecuranz ungültig; wenn sie nach geschlossener Assecuranz dahin gelegt werden, muß sich der Versicherte mit der Compa­ gnie über eine Verbesserung der Prämie vergleichen, nämlich: Korn, Salpeter, Spiritus, Terpentinöl und Schwefel. Auf folgende Sachen ist die Assecuranz nur gültig, wenn sie in der Polize jede nahment­ lich angezeigt sind: Glas, Steingut, Gemählde, Kupferstiche, Bildhauerarbeit, Naturalien, Kunstsachen, Bücher, Instrumente, Prätiosa, goldene und silberne Sachen, und alles, was einen Preis der Liebhaberey hat.“

Die Vorschriften der Fünften Assecuranz-Compagnie dürften Anleihen bei den Vorschriften englischer Feuerversicherer getätigt haben. Ähnlich lautende Aufzählungen von besonders wertvollen oder feuergefährlichen Waren fanden sich auch in historischen englischen Policen. Diese Policen waren durchaus auch 309

Art. 3 lit. a, b Plan der Ersten und Vierten Assecuranz-Compagnie (1765/1772) (ineinan­ der integrierter Abdruck bei Engelbrecht, Bd. 1 [1787], S. 52). 310 Policenformular unter § 18 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789) (Allgemeine Handlungs-Zeitung 1789, 71).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

unmittelbar relevant für den deutschen Feuerversicherungsmarkt zur Zeit des ALR: viele englische Versicherer dehnten zu dieser Zeit ihren Geschäftskreis nach Deutschland aus. Vollkommen üblich war es in England, die versicherten Waren zum Zweck der Prämienberechnung in drei Gefahrenkategorien zu klassifizieren: „common“, „ha­ zardous“ und „doubly hazardous insurances“.311 Ein gutes Beispiel findet sich in einem nicht nach 1781 verfassten Policenmuster des Sun Fire Office, das zunächst einige versicherbare Waren explizit aufzählte (Cl. 1), um danach die Risiken in die drei soeben erwähnten Kategorien zu sortieren (Cl. 4):312 „Cl. 1. All policies shall be signed and sealed by three or more trustees or acting members: by which policies may be insured houses and other buildings, household furniture, printed books, goods, wares, merchandise, and utensils and implements in trade, being the property of the persons insuring; except all manner of writings, books of accompts, bills, bonds, tallies, ready money, jewels, gunpowder, pictures, drawings, and prints, not in trade. […] Cl. 4. The several heads of insurance; viz. Common insurances are buildings covered with slate, tile or lead, and built on all sides with brick or stone, and goods and merchandise therein, not hazardous, and where no hazardous trades are carried on. 2. Hazardous insurances are timber or plaister buildings, and goods and merchandise therein, not hazardous; or brick and stone buildings, wherein hazardous goods or trades are deposited or carried on; such as apothecaries, coopers, bread and biscuit-bakers, colour-men, ship and tallow-chandlers, stable-keepers, inn-holders, sail and rope-makers, malt-houses, hemp, flax, tallow, pitch, tar, and turpentine. 3. Doubly hazardous insurances are thatched buildings, and goods and merchandise therein; timber or plaister buildings, wherein hazardous goods or trades are deposited or carried on; also chemists, ship-carpenters, boat-builders, china, glass, or earthern wares, hay, straw, all manner of fodder, and corn unthrashed.“

Die Gegenüberstellung des englischen und des deutschen Policenmusters zeigt zwar, dass sich die Versicherungspraxis beider Länder in vielen Fällen ähnlich klingender, katalogartiger Aufzählungen von Gegenständen bediente, die zu sehr hoher Wahrscheinlichkeit miteinander verwandt waren. Es kann jedoch auch nicht übersehen werden, dass der Plan der Fünften Assekuranz-Compagnie die einzel­ nen genannten Gegenstände in eine völlig andere innere Ordnung brachte als das exemplarische englische Policenmuster. 311 Vgl. auch von Liebig (1911), S. 148 f.; Haines (1926), S. 134 ff. (zum Ursprung dieser Praxis). 312 Cl. 1, 4 Policy Form of Sun Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 538). Ähnlich Cl. 1–8 Proposals of London Assurance Company (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 340); Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1786) (Krügelstein [1800], Bd. 3 § 31 [S. 98]) (mit vorangestell­ ter „Berechnungstabelle der jährlichen Prämien“ in drei Gefahrenklassen); Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1790) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 324) (Gefahrenklassen in vor­ angestellter Prämientabelle). Im Gegensatz dazu zählten manche Bedingungen englischer Ver­ sicherer einfach nur katalogartig die versicherbaren Güter auf, ohne sie ausdrücklich in Gefah­ renklassen einzuordnen, z. B. Cl. 2 Terms of Union Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 558) (mit abstrakter Darstellung der Gefahrenklassen in Cl. 5); Policy Form of Royal Exchange (1800) (Marshall [1805], Appendix VII, S. 724) (ohne laufende Artikelnummerierung).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Wenn all jene Beispiele nun den Eindruck hinterlassen, noch keiner erkennba­ ren rechtlichen Linie zu folgen, so ist damit der vorgesetzliche Rechtszustand tat­ sächlich recht zutreffend beschrieben. Von einer einheitlich gewachsenen inneren Ordnung kann angesichts dieser inhomogenen Kataloge voller wertvoller oder feuergefährlicher Gegenstände keineswegs die Rede sein, auch wenn die Formu­ lierungen im Einzelnen wieder bemerkenswerte Übereinstimmungen zueinander aufwiesen: jeder Versicherer benutzte das vorhandene Material, wie es ihm gerade zweckentsprechend erschien. Ein anderes galt allerdings für die Beschreibung der übernommenen Gefahren: hier waren sich die meisten Hamburgischen und englischen Feuerversicherer einig, dass Großrisiken wie in etwa die Gefahr von Kriegen oder Erdbeben nicht zum Gegenstand der Versicherung gemacht werden konnten. Typisch war zum Beispiel eine Klausel, wie sie das Sun Fire Office um 1781 verwendete:313 „Cl. 7. No loss or damage to be paid on fire happening by invasion, foreign enemy, civil commotion, or any military or ursuped power whatever.“

Man muss jedoch nicht unbedingt im englischen Rechtsgebiet suchen, um ver­ gleichbare Klauseln zu finden. Auch die Fünfte Hamburgische Assecuranz-Com­ pagnie benutzte in ihren Feuerversicherungsbedingungen von 1789 eine ähnlich lautende Klausel, die wiederum mit den englischen Bedingungen verwandt sein dürfte:314 „Die Compagnie ersetzt allen Schaden, der den versicherten Sachen durch Feuer oder bey einer Feuersbrunst durch Beschädigung, durch Diebstahl, oder durch andere Zufälle zuge­ fügt wird, […] auch verhältnißmäßig die Kosten zur Rettung, die der Versicherte bezahlen muß. Nur den durch Erdbeben oder kriegerischen Ueberfall entstehenden Schaden ersetzt sie nicht.“

2. Das preußische Landrecht und sein Versuch einer systematischen Ordnung des Regelungsmaterials Als der preußische Gesetzgeber ab den 1780er Jahren die Regelungsmaterie in Angriff nahm, konnte er sich an den beiden Assecuranz- und Havereyordnungen, denen bei der Kodifikation des Versicherungsrechts im ALR oftmals eine tra­ gende Rolle zugeschrieben wird, insoweit freilich nicht orientieren. Die AHOen behandelten nur die Versicherung des Schiffskaskos, der Schiffswaren oder der

313

Ähnlich Cl. 12 Proposals of London Assurance Company (ca. 1781); Art. 7 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1786); Art. 7 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1790); Policy of Royal Exchange Assurance (1800) (ohne fortlaufende Artikelzählung). Zu der englischen Praxis insoweit auch Marshall (1. Aufl. 1805), S. 687 ff.; Ogis (2019), S. 99 f.; Weskett (1781), S. 215 ff. 314 Policenformular unter § 18 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Fracht- und Bodmereigelder315 gegen alle Risiken der Seefahrt.316 Zwar fand sich in der Hamburgischen AHO tatsächlich eine vereinzelte Klausel, welche die Ver­ sicherung von Hafengebäuden gegen Feuergefahr erlaubte.317 Allerdings ging jene Vorschrift in der preußischen AHO verloren; sie spielte bei der Kodifikation des ALR folglich keine Rolle mehr. Stattdessen zog der Gesetzgeber die kasuistisch gewachsene Praxis als Vorbild heran und versuchte zum Teil, sie in die starre Form eines Gesetzes zu gießen. a) Die kasuisitische Aufzählung gefährlicher und wertvoller Gegenstände in Th. II Tit. 8 §§ 2054, 2055 ALR An dieser Stelle mag man sich nochmals den Wortlaut der Th. II Tit. 8 §§ 2054, 2055 ALR zurück ins Gedächtnis rufen: „§ 2054. Sind Schießpulver, Schwefel, Salpeter, Heu, Stroh, ungedroschenes Getreyde, Tabaksblätter, Hanf, Flachs, Heede, getheertes Tauwerk, Pech, Theer, Talch, Terpentinöl und Thran darunter befindlich: so müssen sie, bey Verlust des Rechts und der Prämie, ausdrücklich benannt werden. § 2055. Gold, Silber, Gold- und Silbergeschirr, Juwelen, Porzellain, Emaille, Spiegel, Gläser, Gemälde, Kupferstiche, Cabinette von Antiquitäten-Naturalien oder Kunstsachen, Zeichnungen, Banknoten, Pfandbriefe, Wechsel oder andere Schuldverschreibungen, Con­ trakte oder Schriften, Handlungsbücher und Rechnungen, ingleichen Moventien (Th.  I. Tit. II. §. 17.) sind nicht für versichert zu achten, wenn sie nicht ausdrücklich genannt, und die Versicherung darauf mit gerichtet ist.“

Die weitläufige kasuistische Stoffsammlung des ALR, die bereits jetzt starke Assoziationen an den Wortlaut der oben zitierten Praxis weckt, endet hier jedoch nicht. In § 2062 ALR, der davon handelte, welche Gewerbe des Versicherungs­ nehmers oder seiner Nachbarn als „gefährlich“ galten und daher dem Versicherer anzuzeigen waren, hieß es weiter: „§ 2062. Gefährliche Gewerbe sind Pulvermühlen, Stückgießereyen, Vitriol- und SalmiakFabriken, Zuckersiedereyen, chemische Laboratoria, Apotheken, Goldschmiede, Kup­ ferschmiede, Gelbgießer, Grobgießer, Destillateurs, Brauer, Brandweinbrenner, Bäcker, Färber, Seifensieder, Lichtgießer und Töpfer.“

Was verraten Wortlaut und systematische Anordnung des ALR nun über sein Verhältnis zur Versicherungspraxis? In den Vorschriften der §§ 2054, 2055, 2062 315

Tit. I Art. 3 AHO (1731) (Dreyer [1990], S. 267); §§ 23 ff. PrAHO (1766) (NCC IV, 83); vgl. insgesamt Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 50 ff. 316 Tit. V Art. 5 AHO (1731); §§ 45, 64 ff. PrAHO (1766). 317 Tit. III Art. 2 S. 2 Hs. 2 AHO (1731) („Häuser, Pack-Räume und Keller, und sonst andere Sachen, wobey Gefahr zu besorgen“); vgl. Dreyer (1990), S. 124, der diese Norm auf eine singu­ läre Hamburger Versicherungsgewohnheit aus dem Holsteinischen Krieg von 1724 zurückführt, da zu dieser Zeit die genannten Gebäude oft das Ziel militärischer Angriffe geworden seien.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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lässt sich exemplarisch beobachten, wie der preußische Gesetzgeber die Regelungs­ materien der Praxis verarbeitet hat. Anstatt hier allerdings eine abstrakte Regelung zu schaffen, die einen flexiblen Rahmen für die vielfältigen Gestaltungsmöglich­ keiten der Praxis geboten hätte, verfolgte er den Anspruch, eine möglichst reiche Kompilation der in den Policen aufgezählten Gegenstände und Gewerbe herzu­ stellen. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als habe sich der Gesetzgeber zu diesem Zweck an der Kasuistik der wenigen deutschen Feuerversicherer bedient, insbesondere am „Feuerversicherungsplan“ der Fünften Hamburgischen Asse­ curanz-Compagnie. Eine nähere Betrachtung mündet aber in der ernüchternden Erkenntnis, dass jedenfalls der Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie nicht unmittelbar als Quelle gedient haben kann: die „Compagnie“ hat ihr Feuerversi­ cherungsgeschäft erst 1789 aufgenommen, während der versicherungsrechtliche Teil des EAGB schon 1785 erschienen war; er hatte aber schon ähnlich kasuistische Regeln enthalten wie später das ALR. Weil aber die Feuerversicherungspläne der früheren „Assecuranz-Compagnien“ in dieser Hinsicht denkbar unergiebig waren, drängt sich letzten Endes der Schluss auf, dass der preußische Gesetzgeber sich an der englischen Klauselpraxis orientiert haben muss. Das ist wesentlich plausibler als es nach der ersten Intuition klingt. Die englischen Versicherungsgesellschaf­ ten machten immerhin einen bedeutenden, wenn nicht sogar den bedeutendsten Anteil am gesamten deutschen Feuerversicherungsgeschäft aus; unter deutschen, vor allem auch preußischen Kaufleuten mussten die „proposals“ der englischen Versicherer wohlbekannt gewesen sein. Noch dazu waren einige wichtige engli­ sche Versicherungsbedingungen schon 1782 in Johann Andreas Engelbrechts Werk „Theorie und Praxis der Assekuranzen“ ins Deutsche übersetzt worden – unter an­ derem die Bedingungen des Sun Fire Office, des Union Fire Office, der London Assurance, der Royal Exchange oder der Hand in Hand.318 Auf dem einen oder anderen Wege werden also auch dem preußischen Gesetzgeber die wirtschaftlich starke englische Praxis und ihre Bedingungen bekannt geworden sein.319 Bei all seiner Kompilationstätigkeit sah sich der Gesetzgeber allerdings beru­ fen, die angesammelten Einzelstücke in eine äußere Ordnung zu fügen: § 2054 und § 2062 ALR benannten deklarationspflichtige Waren und Gewerbe, deren Nicht­ anzeige zur totalen Vertragsnichtigkeit führte; die beiden Vorschriften würden nach heutigem Verständnis in die dogmatische Kategorie der vorvertraglichen Gefahranzeige fallen. Demgegenüber beschrieb § 2055 ALR einen ganz anderen Fall: namentlich, dass bestimmte Luxusgegenstände oder Sachen mit rein ideel­ lem Wert nur dann als versichert galten, wenn sie in der Police speziell aufgeführt wurden.320 Man versuchte also, den rechtlichen Stoff in Eigenregie in eine zweck­ dienliche Ordnung zu zwängen. 318

Vgl. Weskett / Engelbrecht (1782), S. 100 ff. Auch der VVG-Kommentar von Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 23 Rn. 3 beschäftigte sich mit diesen Vorschriften und vermutete explizit eine Her­ kunft aus den AVB der „London Assurance Company“. 320 Zu §§ 2054 f. ALR (1794) vgl. auch Müssener (2008), S. 165; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 159. 319

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Die Kompilationstätigkeit, die der ALR-Gesetzgeber aus eigener Kraft durch­ geführt hat, lässt sich besonders bei einem Blick in den EAGB von 1784 erahnen: dort waren die genannten kasuistischen Fallbeispiele noch nicht in drei einzelnen Normen gebündelt, sondern über mehrere Paragraphen verstreut, was darauf hin­ weist, dass der Gesetzgeber hier zunächst tatsächlich das Material aus mehreren verschiedenen Quellen kompiliert haben musste. So enthielt Th. I Abt. II § 1628 EAGB,321 der direkte Vorgänger des zitierten § 2054 ALR, nur „Schießpulver, Heu, Stroh und ungedroschenes Getreyde“, während in § 1637 EAGB als leicht feuerfan­ gende Sachen „Schießpulver, Heu, Stroh, ungedroschenes Getreyde, Hanf, Flachs, Heede, getheertes Tauwerk, Pech, Theer, Talch, Terpentinöl und Thran“ genannt wurden. Erst das ALR vereinigte diese beiden Vorschriften zu § 2054.322 Hier zeigt sich übrigens, was Wüstendörfer meint, wenn er feststellt, das ALR habe der praktischen Fortbildung des Handels enge Grenzen gezogen:323 die über­ bordende Kasuistik, der niedrige Abstraktionsgrad und die dogmatisch starre Ein­ ordnung dieser Begriffe ins ALR waren nur geeignet, einen – in dieser Form ja gar nicht einmal bestehenden – Rechtszustand zu konservieren. Die Versicherungspra­ xis war zum Teil indessen selbst noch nicht dafür sensibilisiert, welche unprakti­ schen Auswirkungen das Vorgehen des Gesetzgebers mit sich bringen konnte: die Monita, welche von Praktikern zu den §§ 1628 ff. EAGB eingesandt wurden, regten durch die Bank eine noch weitere Anreicherung der gesetzlichen Kasuistik an.324 b) Die Erdbeben- und Kriegsgefahr: eine unerwartete Regelungslücke Wollte man jetzt angesichts dieser akribischen Kompilationstätigkeit zu der sehr naheliegenden Vermutung gelangen, dass auf die reichhaltige Katalogisierung ver­ sicherbarer Gegenstände eine ebenso umfängliche Abhandlung über Kriegs- und Erdbebenrisiken folgen müsste, so wird man vom Ergebnis schnell ernüchtert sein: über den Umfang der versicherten Feuergefahr traf das preußische Landrecht über­ haupt keine Regelung.325 321

Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 (2003). Hingegen war § 2055 ALR (1794) bereits in § 1629 EAGB (1785) und § 2062 ALR (1794) in § 1636 EAGB (1785) enthalten, ohne dass hier noch weitreichende Änderungen stattgefun­ den hätten. 323 V. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 16. 324 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 308 („Conferenz“ zu § 1628  EAGB = § 2054  ALR): gewünscht wurde die Hinzufügung von Schwefel, Salpeter, Terpentinöl und Spiritus; Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 373, (Instruktionssenat des KG zu § 1629 EAGB = § 2055 ALR): gewünscht wurde die Hinzufü­ gung von Porzellan und Emaille. Beiden Monita folgte der preußische Gesetzgeber durch eine entsprechende Anreicherung der Kasuistik in §§ 2054, 2055 ALR (1794). 325 Beachte nur §§ 2235–2239 ALR zu Bränden, die durch die Handlung dritter Personen entstanden sind; dazu vgl. im Detail § 2 D IX 2 zur eigenverschuldeten Herbeiführung des Ver­ sicherungsfalles. 322

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Warum aber waren im gesamten ALR keine Kriegs- oder Erdbebenklauseln ent­ halten, obwohl sie in der Praxis so verbreitet waren? Die Gesetzgebungsmaterialien treffen darüber keine Aussage; offenbar hat man die Aufnahme von Kriegsklau­ seln nicht einmal im Ansatz erwogen. Die plausibelste Erklärung findet sich in der Arbeitstechnik des historischen Gesetzgebers. Mithilfe der bisherigen Unter­ suchungen konnte nachvollzogen werden, dass dem Privatversicherungsrecht in Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR die Rechtsmaterie der Seeversicherung zugrunde lag. Nur dort, wo der Gesetzgeber das Seeversicherungsrecht nicht direkt auf die Binnenversicherung anwenden oder übertragen konnte, bediente er sich zweck­ entsprechender Analogien zu seeversicherungsrechtlichen Figuren oder füllte die Lücken mit dem Material, das die Feuerversicherungspraxis jener Zeit zur Ver­ fügung stellte. Das ganze Seeversicherungsrecht der AHOen war jedoch durch­ setzt von Klauseln, welche die Auswirkungen eines Kriegsfalls auf die Seeversi­ cherung behandelten,326 da die meisten Seeversicherer schlicht alle Gefahren der hohen See abdeckten. Etwas anderes galt nur, wenn der Seeversicherer „frei von Kriegsmolest“327 gezeichnet hatte. In der Seeversicherung herrschte im Grundsatz das Prinzip der „Universalität der Gefahr“.328 Nachdem aber die gesamte Seever­ sicherung gewöhnlich selbst das Risiko von Kriegen abdeckte, so liegt es gar nicht fern, wenn der Gesetzgeber auch in einem wissenschaftlich kaum durchdrungenen Randgebiete des Versicherungsrechts  – dem Mobiliarfeuerversicherungsrecht  – nicht zwingend von diesem Prinzip abweichen wollte. Unter die vorangegangene Analyse lässt sich letztlich ein differenziertes Fazit ziehen: teilweise arbeitete der Gesetzgeber mit gängigen Elementen aus der Pra­ xis, namentlich wenn es um die Bezeichnung der versicherungsfähigen Gegen­ stände ging. Er zwängte sie aber in eine willkürliche dogmatische Struktur, die nach modernem Verständnis weniger als „Beschreibung des Leistungsumfangs“ gelten, sondern eher in die Kategorie der „vorvertraglichen Anzeigeobliegenhei­ ten“ passen würde. Gerade die Betrachtung zu Kriegs- und Erdbebenklauseln im 326

In Tit. III Art. 2 AHO (1731) wird die Kriegsgefahr sogar ausdrücklich für versicherbar ge­ halten. Weitere Beispiele finden sich in den Vorschriften über die – entweder anzeigepflichtige oder verbotene – Versicherung von Kontrebandwaren (d. h. von Waren, die der Kriegsführung dienten, vgl. Tit. IV Art. 10 AHO [1731]; § 38 PrAHO [1766]; §§ 1955 ff., 2033 ff. ALR [1794]), der anzeigepflichtigen Versicherung von Prisenschiffen (d. h. von Schiffen, die im Krieg ge­ kapert worden waren, vgl. Tit. IV Art. 11 AHO [1731]; § 41 PrAHO [1766]; § 2032 ALR) oder prinzipiell in der schieren Existenz ganzer Versicherungszweige wie der Freiheits- oder Löse­ geldversicherung (vgl. Tit. III Art. 1, Tit. X, XV AHO [1731]; § 25 PrAHO [1766]; §§ 1975 ff., 1979 ff. ALR [1794]). 327 Vgl. Tit. IV Art. 7 AHO (1731) („frey von aller Christlichen Potentaten Beschwerden, Confiscation und Unkosten“; s. auch Art. 23 I Beständige Bedingungen der Hamburgischen Assecuranzcompagnien (1800) („frei von Kriegs-Molestationen“). 328 Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 3 S. 192 f.; § 445 (S. 92); Maurenbrecher / Walter, Bd. 2 (2. Aufl. 1855), § 445 (S. 92); Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 42 (S. 399); Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 307.II (S. 116); Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 599 (S. 257). Vgl. P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 307; ders., VersR 45 (1994), 629, 632 (ausdrücklich auch zur Über­ tragung auf das Feuerversicherungsrecht des ALR).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Feuerversicherungsrecht hat auf der anderen Seite gezeigt, dass das Landrecht nicht abgeneigt war, auf bestimmte Fragen der Binnenversicherung Antworten aus der Seeversicherung zu geben – wenn der Gesetzgeber also glaubte, die seerechtlichen Prinzipien würden eine Problemfrage bereits erschöpfend beantworten, so sah er allem Anschein nach gar keinen Anlass mehr, auf die recht schwach ausgeprägte Binnenversicherungspraxis zurückgreifen zu müssen. 3. Die komplexe Quellenlage der ältesten Feuerversicherungsbedingungen Wie wenig diese kasuistisch-starre Regelungstechnik des preußischen Land­ rechts den Bedürfnissen der Feuerversicherungspraxis entsprach, zeigt sich schon, wenn man sich mit den AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt von 1812 beschäftigt. Es sei bereits vorausgeschickt, dass die These, die AVB hätten einige Elemente aus dem preußischen Landrecht in sich aufgenommen, zumindest in dem hier untersuchten Regelungskomplex nicht bestätigen wird. Anderes gilt nur für den Th. II Tit. 8 § 2054 ALR, der zwar ganz ursprünglich seine Wurzeln in die­ sem Regelungskomplex hatte, aber vom preußischen Gesetzgeber in den Kontext der vorvertraglichen Anzeige gestellt wurde; jener wird später noch gesonderte Behandlung erfahren.329 Im Übrigen lässt sich an den AVB-Klauseln, die sich mit den versicherbaren Gegenständen und dem Umfang des übernommenen Feuerrisikos beschäftigten, besonders gut nachvollziehen, aus welchen Quellen sich die Versicherungsbedin­ gungen der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt bedienten. Die vorliegende Analyse mag daher auch als eine Art Exkurs verstanden werden, der einen näheren Einblick in den Schöpfungsprozess der ältesten Feuerversicherungsbedingungen bietet. Sie eignet sich damit auch, den gesamten methodischen Ansatz zur Unter­ suchung der ältesten Feuerversicherungsbedingungen ein weiteres Mal auf den Prüfstand zu stellen. Jener methodische Ansatz stützt sich namentlich auf die Überlegung, dass Wilhelm Benecke, der Gründer der „Berlinischen“, eine tragende Rolle bei der Schaffung der ältesten Feuerversicherungsbedingungen gespielt haben dürfte.330 Benecke hat sich in seinem wissenschaftlich-praktischen Handbuch zum „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ recht ausführlich mit der Frage des Gefahr­ umfangs bei Feuerversicherungen beschäftigt. Grundsätzlich, so führte Benecke aus, erstrecke sich die Risikoübernahme des Feuerversicherers „auf den Schaden sowohl, den der Versicherte durch das Feuer selbst erleidet, als auf den, welcher durch das beim Retten gebrauchte Wasser, durch Diebstahl u.s.w. entsteht.“331 Ei­ 329

Dazu im Detail nochmals unter § 2 D VI 4. Dazu bereits ausführlich unter § 2 C VI 2. 331 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 524. 330

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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nige Risikoquellen seien indes in der englischen und der Hamburgischen Feuer­ versicherungspraxis ausgeschlossen, beispielsweise Schäden, die durch Erdbeben, Krieg oder bürgerliche Unruhen entstanden waren. Nur die „Brand-VersicherungsAssociation“ – gemeint war offensichtlich die „Bieber’sche Association“ – ersetze auch Kriegsschäden. In der Tat beinhaltete die Verfassung der „Bieber’schen“ As­ sociation Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr eine Klausel, der zufolge die Gesellschaft „selbst den Feuerschaden, der entweder durch Krieg oder Erdbeben entsteht“, ersetzte. In diesem Punkt blieb die von Bieber ge­ gründete Gesellschaft aber eine Ausnahmeerscheinung.332 Mit dem Begriff des Feuerschadens durch eine „ursupirte Macht“ (ursuped power) bzw. durch eine „bürgerliche Unruhe“ (civil commotion) setzte sich Bene­ cke in seiner Darstellung ganz besonders eingehend auseinander, nämlich anhand zweier englischer Gerichtsurteile, die sich um die Auslegung jener von englischen Versicherern gebrauchten Begriffe drehten. Letztlich wurde entschieden, dass nur solche Schäden vom Ersatz ausgeschlossen seien, die unmittelbar auf einer kriegerischen Auseinandersetzung beruhten oder die durch die bürgerliche Un­ ruhe gerade bezweckt wurden.333 Die detaillierte Darstellung, die Benecke diesem Problem widmete, zeigt, wo die Schwerpunkte seiner Recherchen und Kenntnisse lagen, nämlich im englischen und Hamburgischen Recht. Wilhelm Benecke hat also nachweislich eine Vielzahl von verschiedenen Re­ gelungen aus Praxis und preußischer Gesetzgebung zusammengetragen, um sein Handbuch zu verfassen. Zudem kann als gesichert gelten, dass Benecke bei der Konzeption der „Berlinischen“ AVB insbesondere die in Hamburg verwendeten „Propositiones“ der London Phoenix vorlagen, denn diese hatte sein Geschäfts­ partner Georg Friedrich Averdieck von seiner früheren Agententätigkeit bei der Phoenix mitgebracht.334 Sie bezogen ausführlich dazu Stellung, welche Gegen­ stände von der Versicherung umfasst sein sollten. Auf zwei Klauseln, die bei der bisherigen Untersuchung noch nicht zum Tragen kommen konnten, soll hier noch­ mals gesondert hingewiesen werden. Sie handelten davon, welche Sachen zum Gegenstand einer Mobiliarfeuerversicherung gemacht werden konnten und welche Formalitäten dazu nötig waren:335 „Art. 3. […] [2] Wenn Hausrath zu versichern ist, so wird gewöhnlich alles folgendergestalt angezeiget, nämlich:

Mark Banco

Auf Hausgeräthschaften und Leinenzeug – – Auf Kleidung –  –  –  –  –  –  – 332

§ 1 II Nr. 1 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 278); vgl. ausdrücklich Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 426. 333 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 524 ff. 334 Zur Gründung der „Berlinischen“ im Einzelnen vgl. schon § 2 C II 2. 335 Entspr. auch Art. 3 II, 8 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1790).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Auf Silberzeug –  –  –  –  –  – – Auf Porcelain und Glas, –  –  –  – – Auf gedruckte Bücher, –  –  –  –  – Auf starke Getränke in Fässern oder in Flaschen –

Total Marc Banco. […]

Art. 8. Wechselbriefe, Schuldverschreibungen, Cautionsscheine, Urkunden und baar Geld, sind unter keiner Versicherung begriffen. – Medaillen, Juwelen, Geschmeide, Antiquitäten, Spiegel und Gemälde, jedes über 10 Pfund Sterl. am Werth, können auf specielle Bedin­ gungen versichert werden.“

Damit sind also mehrere potentielle Quellen identifiziert, auf die Benecke zu­ rückgegriffen haben könnte, um die Versicherungsbedingungen der neu gegrün­ deten Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt auszuarbeiten. Doch spiegeln sich all diese Gedanken auch wirklich in den AVB der Berlinischen336 wider? Zwar wird man zunächst feststellen, dass die einschlägigen Artikel der „Berlinischen“ über den gesamten Umfang ihrer AVB verteilt waren. Bei einem näheren Blick offenbart sich aber, dass in der Tat alle soeben entwickelten Ideen Eingang in die Bedingungen der Gesellschaft gefunden haben: „Art. 34. Die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt übernimmt unter den nachstehenden Bedingungen Versicherungen gegen Feuersgefahr im In- und Auslande auf alle Gegen­ stände, ausgenommen Dokumente und bares Geld. […] Art. 36. […] [2] […] 8. Bei Versicherungen auf Möbel ist folgende Einteilung, nebst Beifü­ gung des Taxwertes, zu machen: Rthlr. auf Möbel und Hausgeräte, ”

” Kleider und Leinenzeug,



” Silberzeug,



” Porzellan und Glas,



” Pretiosen und Juwelen,



” gedruckte Bücher,



” physikalische und andere Instrumente

Rthlr. 9. Gegenstände der Liebhaberei, Gemälde und andere Kunstsachen, Naturalien, Münz­ sammlungen, überhaupt alle Gegenstände, deren vorstehend nicht schon besonders gedacht worden, müssen speziell angegeben und wenn es verlangt wird, von Sachverständigen taxiert werden. […]

336

Sammlung-AVB I, 22.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Art. 43. [1] Feuerschäden, welche durch Erdbeben, höhere Gewalt, durch Krieg – das heißt, durch unmittelbare Folge kriegerischer Operationen auf militärischen Befehl, nicht aber sol­ che, welche bloß zurzeit und durch mittelbare Folgen des Krieges veranlaßt werden – ferner Feuerschäden, die durch Aufruhr, als dessen unmittelbare Folge, und endlich solche, welche durch Bosheit oder vorsätzlichen Mutwillen des Versicherten entstehen, werden nicht ver­ gütet. [2] Dagegen wird jeder andere Schaden, welcher die versicherten Gegenstände trifft und der die versicherte Summe nicht übersteigt, er sei übrigens durch Feuer selbst, durch Wasser oder durch die stattgefundenen Unkosten entstanden, von der Anstalt nach geführ­ tem Beweise zum vollen Betrage ohne Abzug innerhalb zweier Monate bar bezahlt, […]“

Aufgrund der hohen Anzahl von Schnittmengen, welche die AVB der „Berli­ nischen“ einerseits zu den Praxisbedingungen der London Phoenix, andererseits zu dem zwei Jahre zuvor verfassten wissenschaftlich-praktischen Werk Beneckes aufweisen konnten, mag man hier nicht mehr an einen reinen Zufall glauben. Die tabellarischen Auflistungen von versicherbaren, unversicherbaren und gesondert in der Police zu bezeichnenden Gegenständen in Art. 34, 36 der AVB wirken letztlich wie ein beinahe wortlautgetreues Abbild der Praxis der London Phoenix. Hingegen enthielt Art. 43 der AVB einige Elemente des englischen Feuerversicherungsrechts, die Benecke ausweislich seines „Systems“ aus der englischen Vertragspraxis und Rechtsprechung bekannt waren. Dazu gehörte die Praxis, den Feuerversicherten auch zu dann entschädigen, wenn erst das Löschwasser oder ein Diebstahl bei Ge­ legenheit des Brandes den Schaden verursacht hatte. Ausgeschlossen waren hin­ gegen Feuerschäden in der Folge von Erdbeben, Aufruhr oder Krieg337 – letzteres aber wiederum nur bei unmittelbaren, auf direkten militärischen Befehl entstan­ denen Bränden, wie in der englischen Praxis. Die so entwickelten Klauseln, welche die Berlinische erstmals in dieser kon­ kreten Fassung benutzte, wurden über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg zum absolut festen Bestandteil deutscher Feuerversicherungsbedingungen. Der Feuer­ versicherer trug stets den Schaden, der durch das Feuer selbst, durch das Löschen oder das Niederreißen der Versicherungslokalität entstanden war; umfasst war auch der Schaden, der entstand, weil die versicherten Gegenstände während der Löscharbeiten abhanden gekommen waren,338 sowie die Rettungsaufwendungen des Versicherten.339 Nicht versichert waren demgegenüber Brandschäden, deren 337 Speziell zur Behandlung der Kriegsschäden bei der „Berlinischen“ s. auch Müssener (2008), S. 178. 338 Insgesamt auch z. B. § 36 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Sammlung-AVB  I,  6); § 2  I,  II AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Sammlung-AVB I, 26); Art. 109 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1828) (Sammlung-AVB I, 14); Art. 13 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30); § 1 I Hs. 2 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB  I,  34); § 1  I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38). 339 So z. B. auch § 36 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); § 3 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825); Art. 11 S. 2 AVB Bayerische Hypothekenund Wechselbank (1836); § 1 I AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 1 I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Ursache in einem Krieg, in bürgerlichen Unruhen oder einem Erdbeben lag.340 Auch erstreckte sich die Versicherung niemals auf Bargeld oder Dokumente;341 bestimmte Luxusgüter bedurften der ausdrücklichen Nennung in der Police, um in den Kreis versicherter Gegenstände einbezogen zu sein.342 Mit den AVB der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1825 begann schließlich eine eigenständige Rechtsentwicklung in den deutschen Feuerversiche­ rungsbedingungen, die um Probleme wie Blitz- oder Explosionsschäden kreiste;343 mit den hier diskutierten Vorbildern der ältesten Feuerversicherungsbedingungen haben diese Fragestellungen aber nichts mehr zu tun. Damit hat sich gezeigt, dass nicht das ALR, sondern andere, der englischen und Hamburgischen Versicherungspraxis entstammende Vorbilder die vorliegend untersuchten AVB-Klauseln der ältesten deutschen Feuerversicherer geprägt ha­ ben. Die Ergebnisse dieses Kapitels gewähren vor allem einen tieferen Einblick in die methodische Arbeitsweise, welcher die Verfasser der ältesten deutschen Feuerversicherungsbedingungen nachgingen; damit mögen sie zu einem besseren Verständnis der Mechanismen beitragen, die zur Entstehung der deutschen AVB auf dem Gebiet des Feuerversicherungsrechts führten.

340

So z. B. auch § 37 I lit. a Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); § 4 I Hs. 2 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825); Art. 110 AVB Württembergi­ sche Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828); Art. 3 I 1 AVB Bayerische Hypothekenund Wechselbank (1836); § 1 II AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 1  II 1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (inkl. Risiko­ausschluss für Vulkanausbrüche). 341 So z. B. auch § 18 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); § 1 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825); Art. 57 AVB Württembergische PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaft (1828); Art. 1 S. 2 AVB Bayerische Hypotheken- und Wech­ selbank (1836); § 4 Hs. 1 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 2 S. 1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (nennt statt Geld nur noch „Wertpapiere“). 342 So z. B. auch Art. 53–57 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1828) (nennt zumindest Höchstversicherungssumme für einzelne Luxusgegenstände und impliziert damit die gesonderte Versicherung dieser Güter); Art. 3 II 2 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 4 Hs. 2 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Ge­ sellschaft (1845); § 2 S. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874). 343 § 4 II 2 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Brandentstehung auf­ grund einer Dampfmaschinenexplosion); Art. 1 S.3, Art. 3 I 2 AVB Bayerische Hypothekenund Wechselbank (1836) (Blitzschlag, Explosionsschäden nur bei Brandentstehung); § 1 I Hs. 1, III AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Blitzschlag, Explosionsschä­ den nur bei Brandentstehung); § 1 I, II 3, 4 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften (1874) (Blitzschlag, Leuchtgasexplosionen, sonstige Explosionsschäden nur bei Brandentstehung); vgl. auch Müssener (2008), S. 172 ff. (speziell zur den AVB der Aachener und Münchener).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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4. Ein signifikanter Einfluss der staatlichen Feuerkassen? Bei all diesen Erwägungen sind bis jetzt die staatlich organisierten Feuersozie­ täten außer Acht geblieben. Konnten nicht auch sie einen maßgeblichen Einfluss auf die Entwicklung des preußischen Landrechts und der deutschen AVB nehmen, wo sie doch immerhin die deutsche Gebäudefeuerversicherung zu dieser Zeit domi­ nierten? Ein – für die Praxis der staatlichen Sozietäten repräsentatives – Klausel­ beispiel aus dem Reglement zur Feuer-Societät für das platte Land in West-Preus­ sen von 1785 mag im ersten Augenblick einige Assoziationen wecken, was das von der Versicherung abgedeckte Risiko,344 insbesondere hinsichtlich etwaiger Kriegs­ schäden,345 angeht: „§ 18. [1] So viel die durch Krieg veranlaßte Feuers-Brünste betrift, so sind selbige, sie mögen vom Feinde oder Freunde verursachet seyn, zwar nicht ad Casus Societatis zu rechnen, jedoch sollen die Mitglieder der Societät, welche darunter gelitten, nicht eher zum Beytrage angehalten werden, als bis sie sich wieder aufgebauet. [2] Derjenige aber, welcher tempore und nicht Casu belli verunglücket, soll das incatastrirte Quantum ohne Weitläufigkeit erhalten. 344 Allerdings gestaltete sich die Praxis der öffentlichen Feuersozietäten hinsichtlich der übernommenen Risiken, und insbesondere hinsichtlich der Ersatzfähigkeit von Kriegs­ schäden, sehr schwankend. Zu den übernommenen Risiken insgesamt vgl. Art. 9 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse [1976], S. 118) (Niederreißen zur Brandbekämpfung); Art. 5 Nr. 2 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Schaefer [1911], Bd. 2 S. 232) (Löschen und Niederreißen zur Brandbekämpfung); Art. 15 Neue General-­Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Schaefer [1911], Bd. 1 S. 323) (Niederreißen bei Löscharbeiten); Art. 5 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Gerst­ lacher II, 476) (keine Ersatzfähigkeit von Wetter- und Erdbebenschäden); Art. 8 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (NCC IV, 5379) (Nachtragsvorschriften für den Insterburgschen Creiß) (Niederreißen zur Brandbekämpfung); § 54 Württembergische BrandSchadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Zeller / Mayer  III, 871) (Niederreißen zur Brand­ bekämpfung); § 3 III Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Scotti II, 810) (Ausschluss von Erdbeben-, Sturm- und Überschwemmungsschäden); § 13 S. 1, 3 Reglement vereinigte Land-­Feuersozietät Ostpreußen (1809) (NCC XII, 823) (Löschen und Niederreißen zur Brandbekämpfung, Blitzschlag nur bei Brandentwicklung); Art. 17 I 2 Brandversicherungs­ ordnung Bayern (1811) (BayRegBl 1811, 129) (Niederreißen zur Brandbekämpfung). Dazu auch ­Schaefer (1911), Bd. 2 S. 167 (zur Berliner Feuersozietät von 1718). 345 Zu den Kriegsschäden vgl. Art. 7 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (ausdrücklich ersatzfähig); Art. 10 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät) (nicht ersatzfähig); Art. 10 Re­ glement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Nachtragsvorschriften für den Inster­ burgschen Creiß) (nicht ersatzfähig); Art. 21 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät) (Ausschluss nur bei Verheerung ganzer Landstriche); § 20 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (nicht ersatzfähig bei Kriegshandlungen auf militärischen Befehl); § 15 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (nicht ersatzfähig); § 3 IV, VI Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (nicht ersatzfähig bei Kriegshandlungen auf militärischen Befehl); § 20 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (nicht ersatzfähig bei Kriegshandlungen auf militärischen Befehl); Art. 19 I, III Brandversicherungs­ordnung Bayern (1811) (BayRegBl 1811, 129) (Leistungskürzung um 2/3 bei Kriegshandlungen auf militärischen Befehl). Dazu auch Müssener (2008), S. 177.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

§ 19. Was durch Sturm, Wasser und Einstürzen der Gebäude, Mühlen etc. und sonsten bey Gewitter und Brand geschiehet, gehöret gleichfalls nicht ad Casus Societatis.“

Ein unmittelbarer Einfluss solcher Klauseln auf das spätere Feuerversicherungs­ recht, ganz gleich ob gesetzlich oder vertraglich, erscheint trotzdem wenig plausi­ bel. Das ALR traf – trotz seines Hangs zu ausufernder Kasuistik – überhaupt noch keine Regelungen zu Fällen des Krieges, zu Löschschäden oder zum Niederreißen eines versicherten Gebäudes. Da das Landrecht ohnehin nur die Mobiliarfeuerver­ sicherung behandelte, scheint der Gesetzgeber die staatlichen Gebäudefeuersozie­ täten gar nicht erst als Quelle in Erwägung gezogen zu haben. Ebenso hat die Forschung an den AVB gezeigt, dass sich alle ihrer Klauseln – inklusive einer Kriegsschadensklausel, die zwischen „mittelbaren“ und „unmit­ telbaren“ Kriegsschäden differenzierte – so gut wie lückenlos aus der englischen Praxis ableiten ließen. Die Reglements der staatlichen Sozietäten hat Wilhelm ­Benecke im „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ übrigens nicht ein­ mal am Rande erwähnt, was es als umso unwahrscheinlicher erscheinen lässt, dass er sie als unmittelbare Quelle für die AVB der „Berlinischen“ herangezogen hat. Letztlich kann einem unvoreingenommenen Betrachter durchaus nicht entge­ hen, wie die öffentlichen Sozietäten ähnliche Fragen regelten wie das ALR und die AVB der Privatversicherer. Am Ende sollte es sich aber eher um ein gleichzeitiges Nebeneinander ähnlicher Normen als um einen direkt nachweisbaren Einfluss der Feuersozietäten auf andere versicherungsrechtliche Institute gehandelt haben.

II. Das versicherbare Interesse unter besonderer Berücksichtigung des imaginären Gewinns Schon im Seeversicherungsrecht war die Frage aufgeworfen worden, welches vermögenswerte Interesse die Versicherung abdecken durfte oder sollte.346 Dass keine Versicherung Leistungen über das tatsächlich vorhandene Interesse des Versicherten hinaus gewähren darf, gehört schließlich zu den ganz zentralen We­ sensmerkmalen einer jeden Versicherung.347 Bei jenem „Interesse“ handelt es sich 346 Z. B. Tit. II Art. 3 AHO (1731) (Dreyer [1990], S. 267); § 21 PrAHO (1766) (NCC IV, 83). Auch in diesen Seeversicherungsquellen war das Interesse aber nicht auf das reine Eigentü­ merinteresse beschränkt: die Bestimmung der Hamburger AHO sah schon vor, dass jemand „directe oder indirecte, Antheil“ an Schiff oder Ware haben konnte. 347 Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 1 S. 257 (speziell zur Feuerversicherung Bd. 4 S. 523 f.); ­Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 2 § 116 (S. 527); Brämer / Brämer (1894), S. 15; W. Ebel, Feuerkon­ trakte (1936), S. 38 (zum Bereicherungsverbot schon bei den Hamburger Feuerkontrakten); Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 342; Marshall (1. Aufl. 1805), S. 80 f. (zum englischen Recht); Müssener (2008), S. 163; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 552 (S. 66 f.). Zum heute geltenden Recht: Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 484 ff.; Bruck / Möller / Baumann (9. Aufl. 2008), § 1 Rn. 65; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 245 f., 250 f.; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), Wandt (6. Aufl. 2016), vor § 74 Rn. 23.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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um den wirtschaftlichen Wert, den der Versicherte zu verlieren droht, wenn sich die versicherte Gefahr realisiert. Der Eigentümer eines bestimmten Gegenstandes hat also ein Interesse in Höhe seines tatsächlichen Sachwertes; aber auch NichtEigentümern wie Pfandgläubigern oder Mietern kann durchaus ein Interesse an dem Gegenstand zukommen, welches dann allerdings auch unterhalb des Sach­ wertes liegen mag, also durch die Höhe der pfandgesicherten Forderung oder des Nutzungsinteresses determiniert wird.348 Eine Versicherung, die Ersatz über das versicherbare Interesse hinaus gewäh­ ren will, schießt also über den eigentlichen Zweck einer Versicherung hinaus und kann daher nur als Wette bezeichnet werden. Das war auch im internationalen Ver­ sicherungsrecht des 18. Jahrhundert grundsätzlich widerspruchslos anerkannt: in England forderte der Marine Insurance Act von 1746 für jeden Seeversicherungs­ vertrag ein entsprechendes „interest insured“, wohingegen reine „wager policies“ (Wettassekuranzen) strikt verboten waren.349 In dieser gefestigten Tradition be­ stimmte auch das ALR eindeutig:350 „§ 1983. Durch Versicherungen muß der Versicherte sich nur gegen Schaden decken, nicht aber Bereicherung dadurch suchen. § 1984. Niemand darf eine Sache höher versichern lassen, als zum gemeinen Werthe der­ selben zur Zeit des geschlossenen Vertrages. (Th. I. Tit. II. §. 111.)“

Weil es sich bei diesem versicherungsrechtlichen Bereicherungsverbot um eine ganz allgemeine, weit verbreitete Grundbedingung des Versicherungsrechts handelt, ist es für die analytische Quellenforschung im 18. Jahrhundert an sich unergiebig. Uneinigkeit herrschte indes darüber, was überhaupt als versicherbares wirt­ schaftliches Interesse anzusehen war: konnten etwa auch der erwartete Gewinn an einer Sache oder konjunkturelle Schwankungen des Marktpreises versichert werden?351 Solche Probleme des Interessenbegriffs stellen sich nur innerhalb der Schadensversicherung, zum Beispiel also der See- oder Feuerversicherung, auf welche sich die folgenden Ausführungen daher beschränken werden.

348

V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 176 ff., 301 ff.; Malß, ZHR 8 (1865), 369 f.; Müssener (2008), S. 163 ff. Ähnliche Probleme wurden auch schon im Seerecht des 18. und 19. Jhdts. diskutiert, vgl. z. B. Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 1 S. 204 ff. (zum versicherbaren Interesse des Entleihers oder Kommissionärs). 349 Stat. 19 Geo. II c. 37. Vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 297 ff. (ausführlich zu dem Statut Georges II.); Ogis (2019), S. 139 f.; Raynes (2. Aufl. 1964), S. 162; dazu auch von Staudinger (1858), S. 94. 350 Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). Dazu auch P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 113. 351 Zur Frage der Versicherung imaginären Gewinns aus heutiger Sicht, vgl. Armbrüster (2.  Aufl. 2019), Rn.  1361; Bruck / Möller / Baumann (9. Aufl. 2008), § 1 Rn. 82; Deutsch / Iversen (7.  Aufl. 2015), Rn.  257; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), vor § 74 Rn. 105; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 693.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Die Reglements der öffentlichen Gebäudebrandkassen des 18. Jahrhunderts können die folgenden Ausführungen allerdings ebenso ausklammern: sie ließen Aussagen beispielsweise über die Versicherbarkeit des imaginären Gewinns ohne­ hin vermissen. Die Brandkassen bestimmten den ersatzfähigen Wert eines Ge­ bäudes, indem sie den Wert seiner „verbrennlichen“ Gebäudeteile taxieren und in ein amtliches Kataster einschreiben ließen.352 Damit war per se nicht mehr als der bauliche Wert des Gebäudes versichert und das versicherungsrechtliche Bereiche­ rungsverbot in der strengsten erdenklichen Weise umgesetzt. Fragen zu einzelnen Bestandteilen des versicherbaren Interesses kamen gar nicht erst auf. 1. Die zwei Spielarten der Gewinnversicherung in Seeversicherungspraxis und Hamburger AHO Die Versicherung imaginären Gewinns hat schon die Hamburger AHO von 1731 thematisiert:353 „Tit. III Art. 2. Auf verhoffendem oder sogenanntem imaginirten Gewinn, Provision, FeuerWassers- und Kriegs-Gefahr, auch Auf- und Abschlag der Waaren, und sonst in allen andern Fällen, hat die Versicherung gleichfalls statt. […]“

Dementsprechend weit verbreitet war die Versicherung auf imaginären Gewinn in der Hamburgischen Seeversicherungspraxis.354 Konsequent unterschied die zeit­ genössische wissenschaftlich-praktische Literatur aber zwischen zwei verschiede­ nen Spielarten der Gewinnversicherung. Die erste Konstellation war die Versiche­ rung reiner Kursgewinne. Wurde eine Handelsware von einem zu dem anderen Handelsplatz verschifft und dort gewinnbringend weiterverkauft, so verblieb dem Wareneigentümer eine bestimmte Gewinnmarge. Diese war zum Teil vom Ver­ handlungsgeschick des Verkäufers abhängig, zu einem beträchtlichen anderen Teil aber auch von der allgemeinen Konjunkturlage. Ein Sturz des Marktpreises am 352

Z. B. Art. 1 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Schaefer [1911], Bd. 2 S. 232); Art. 9 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Schaefer [1911], Bd. 1 S. 323); Art. 10–16 BadenDurlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Gerstlacher II, 476); Art. 2 S. 2, Art. 5 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (NCC  IV, 5379) (Vorschrif­ ten für die Brandenburgische Feuer-Societät); §§ 21–31 Württembergische Brand-Schadens-­ Versicherungs-Ordnung (1773); §§ 4–6 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (Anderson I, 13); §§ 3–8 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Scotti I, 973); § 7 Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (NCC VII, 3267); §§ 4, 5 Reglement BrandversicherungsGesellschaft Berg (1801) (Scotti II, 810); §§ 10, 27 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (NCC XII, 823). Vgl. auch Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuer­ kasse (1976), S. 1, 18, 20 ff. (zur Hamburger Generalfeuerkasse und ihrer Weiterentwicklung); Schaefer (1911), Bd. 1 S. 191 (zur Hamburger Neuen General-Feuer-Cassa-Ordnung von 1753), Bd. 2 S. 166 f. (zur Berliner Feuersozietät von 1718). 353 Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 192; Dreyer (1990), S. 124. 354 Dreyer (1990), S. 205 ff., mit der Anmerkung, dass die Versicherung imaginären Gewinns vor der Hamburger AHO im internationalen Seerecht oft verboten war, nach 1731 aber inter­ national immer mehr Verbreitung fand.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Zielort konnte für den Verkäufer unerwartete Verluste nach sich ziehen. Das kon­ junkturell bedingte Sinken der Preise an sich hielt man in der Literatur häufig für nicht versicherbar, da die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in das gewöhnliche Geschäftsrisiko eines Kaufmannes falle.355 In der zweiten Konstellation, der eigentlichen Versicherung imaginären Ge­ winns, ging es hingegen um die tatsächliche Beschädigung des versicherten Gegenstandes. Wenn das Schiff samt der Handelsware verunglückte, so entstand ein echter Schaden an der Ware; sollte dem Versicherten durch diese Beschädigung ein Ver­ kaufsgewinn entgangen sein, so hielt man den Ersatz dieser enttäuschten Gewinn­ erwartung für versicherungsrechtlich zulässig.356 Uneinig war man sich insoweit nur über die Art und Weise, wie dieser Gewinn berechnet werden durfte. Nach den Rechtsordnungen einiger Staaten musste der Versicherte seine Gewinnchance in tatsächlicher Hinsicht nachweisen. Demgegenüber hatte sich in Hamburg, London und den niederländischen Handelsplätzen die „Unsitte“ – so Benecke – eingebür­ gert, die Handelsware geringfügig über Wert zu versichern und 10 % der Versiche­ rungssumme dann im Zweifel als pauschalisierten Gewinnanteil zu behandeln.357 Ob der Versicherte im konkreten Einzelfall wirklich einen Gewinn erwirtschaftet hätte, war danach ohne Belang. Einen Nachweis solcher geläufiger Klauseln findet man noch in den „Beständigen Bedingungen“ der Hamburger Assekuradeure:358 „§ 16. Auf Versicherungen von imaginirtem Gewinn zahlen die Versicherer verhältnismäßig so viele Procente, als der particuläre Schaden an der Waare beträgt; jedoch keine große Haverei. Aber von geworfenen oder zur Bestreitung der Kosten im Nothhaven verkauften Gütern, welche nach den Einkaufspreisen in der großen Haverei berechnet sind, wird die Versicherung auf den imaginären Gewinn, pro rata, als totaler Schaden ersetzt. Wenn der imaginirte Gewinn nicht procentweise bestimmt ist; so werden 10 pCt. dafür angenommen und berechnet.“

355 Zu der Unterscheidung der beiden Arten der Gewinnversicherung insgesamt Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 135; vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 302. 356 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 135: „Nicht dass 10 pCt. Nutzen auf die Waaren seyn werde verspricht der Assekuradeur; sondern daß, im Fall bei glücklicher Ankunft, 10 pCt. Nutzen darauf gewesen sein würde, er diese bezahlen wolle, wenn die Waare nicht ankomme.“ Vgl. auch Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 2 (S. 85 f.); Langen­ beck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 28 (S. 390); Marshall (1. Aufl. 1805), S. 80; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 559.2 (S. 93). 357 Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 1 S. 138, 171 ff.; Engelbrecht, Bd. 2 (1791), S. 16; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 566 (S. 127). 358 Ähnliche Klausel waren im Seeversicherungsrecht schon vor den Arbeiten zum ALR ge­ wöhnlich; sie wurden u. a. von der Ersten, Zweiten und Fünften Hamburger Assecuranz-Com­ pagnie benutzt, vgl. z. B. Art. 8 Nachtrag (1775) zum Plan der Ersten und Vierten AssecuranzCompagnie (1765/1772) (ineinander integrierter Abdruck bei Engelbrecht, Bd. 1 [1787], S. 52); § 16 VI Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789) (Allgemeine Handlungs-­Zeitung 1789, 71). Zu einer Gegenüberstellung der damals gebräuchlichen Seeversicherungsbedingun­ gen s. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 53.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Allerdings hatten nur die Seeversicherungsbedingungen ausdrückliche Rege­ lungen zu dieser Thematik getroffen; die Feuerversicherungspläne der Assecu­ ranz-Compagnien und die Bedingungen der englischen Versicherer schwiegen sich über diese Frage ganz aus. Für die weitere Rechtsentwicklung bis zum ALR richtet sich das Interesse dieser Untersuchung also vornehmlich auf die seeversi­ cherungsrechtlichen Bestimmungen. 2. Die Versicherung des imaginären Gewinns und die Versicherung auf Kursverluste im ALR Die Art und Weise, wie die preußische AHO von 1766, der Entwurf eines All­ gemeinen Gesetzbuches und schließlich auch das Allgemeine Landrecht von 1794 mit diesen unterschiedlichen Arten der Gewinnversicherung umgingen, offenbart, wie gespalten der preußische Gesetzgeber zwischen den Gewohnheiten der See­ versicherungspraxis und seinem eigenen aufklärerisch-paternalistischen Anspruch war. Die Frage ist auch für das historische Mobiliarfeuerversicherungsrecht von Interesse: die Th. II Tit. 8 §§ 1991 ff. ALR, die sich mit den Arten der Gewinnver­ sicherung auseinandersetzten, bezogen sich trotz ihres seeversicherungsrechtlichen Ursprungs nunmehr auf alle Zweige der Versicherung. Den Blick noch alleine auf die Seeversicherung gerichtet, bestimmte § 34 der preußischen AHO in Anlehnung an die Hamburgische AHO, dass imaginärer Ge­ winn von der Versicherung erfasst sein sollte, sofern dies in der konkreten Police vereinbart wurde. Auch die Versicherung auf reine Konjunkturschwankungen ließ die preußische AHO in § 33 zu – allerdings nur unter der recht unbestimmt gehal­ tenen Bedingung, dass mit ihr keine „Spekulationsgeschäfte“ getrieben würden. Diese Tendenz setzte sich in Th. I Abt. II §§ 1579 ff. EAGB fort. Allerdings wollte der preußische Gesetzgeber einige seiner Ansicht nach schädliche Geschäftsprak­ tiken durch zahlreiche strenge Einschränkungen bekämpfen:359 „§ 1579. Nur Kaufleuten soll erlaubt seyn, auf zu hoffenden sogenannten imaginairen Ge­ winn, Versicherung zu schließen. § 1580. Es muß aber die Waare, auf die Gewinn gehoft wird, bestimmt angegeben werden. § 1581. Versicherungen auf das Steigen, und Fallen der Waarenpreise, sind nur unter Kauf­ leuten zuläßig. § 1582. Es muß jedoch dadurch keine dem gemeinen Wesen nachtheilige Preißsteigerung begünstigt werden. § 1583. Geschieht solches, so muß die zur Aufsicht über die Handlungspolizey verordnete Behörde, den Vertrag annulliren, und die Contrahenten, nach Befinden der Umstände, mit dem Verlust der Prämie bestrafen.“

359

Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 (2003).

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Gegen diese Normen erhob die Fachöffentlichkeit zahlreiche Einwendungen, und zwar in alle Richtungen. Auf der einen Seite wurde eine noch stärkere Regle­ mentierung der Gewinnversicherung gefordert: der Hamburgische Assekuradeur Hinrich Gaedertz wollte es dem Versicherten zur Pflicht machen, seinen entgange­ nen Gewinn tatsächlich nachzuweisen;360 er richtete sich damit vornehmlich gegen die in Hamburg weit verbreitete, für die Assekuradeure nachteilige Handelspraxis, eine pauschale Quote von 10 % der Versicherungssumme als imaginären Gewinn anzusehen. Im Verlauf der redaktionellen Arbeit scheinen Baumgarten, dem Re­ daktor der handelsrechtlichen Teile des Gesetzes, sogar selbst Zweifel an der Be­ rechtigung der aus der Praxis stammenden Gewinn- und Konjunkturversicherung gekommen zu sein. An gleich zwei Stellen seiner Bearbeitung der eingegangenen Monita notierte er kritische Anmerkungen: die Versicherung imaginären Gewinns könne möglicherweise im Konflikt mit dem versicherungsrechtlichen Bereiche­ rungsverbot stehen;361 durch eine Versicherung auf das Steigen und Fallen der Warenpreise hingegen seien sogar „Kämpfe der Agioteurs“ und gemeinschädliche Preissteigerungen zu befürchten.362 Andererseits wurde aber auch für eine liberalere Handhabung jener Gewinnver­ sicherungen plädiert: der Kaufmann Sieveking kritisierte zum Beispiel das weite und tatbestandlich unbestimmte Ermessen der „Handlungspolizey“ in § 1583 EAGB.363 Ferner regte das Berliner Kammergericht an, die Versicherung auf erwar­ teten Gewinn auch für Nicht-Kaufleute zu öffnen, denn schließlich könne auch ein „Edelmann“ seine Waren nach England verkaufen und dort auf einen Gewinn hof­ fen. Insbesondere das Monitum des Kammergerichts beantwortete Baumgarten zu­ nächst abschlägig, und zwar mit vielsagender Begründung: es sei überhaupt nicht die Aufgabe des Adelsstandes, mit dem Ausland Handel zu treiben.364 An dieser Stelle scheint sogar durch, dass der Redaktor des ALR bis zu einem gewissen Grade noch immer im ständischen Denken der voraufklärerischen Zeit verhaftet war. Letztlich drangen die Bedenken gegen die Handelsgewohnheiten der Gewinnund Konjunkturversicherung nicht durch. Im Gegenteil folgte der Gesetzgeber den Rufen nach einer Liberalisierung der Gewinnversicherung; von der ursprüng­ lich vorgesehenen Eingriffsbefugnis der „Handlungspolizey“ nahm er wieder Abstand. Zudem gewährte er, dem anfänglichen Widerstand Baumgartens zum 360 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 79 (Gaedertz zu § 1580 EAGB), mit ablehnender Anmerkung des Redaktors Baumgarten. 361 Anmerkung des Redaktors Baumgarten auf: Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 378 (anonymer Kritiker zu § 1579 EAGB). 362 Stellungnahme des Redaktors Baumgarten zu: Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 378 (Oberappellationsrat Lindenau zu § 1581 EAGB = § 1992 ALR). 363 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 341 (Sieveking zu § 1583 EAGB = § 1994 ALR); demnach sollten die Behörde im vornhinein schädliche Wettversiche­ rungen im Einzelfall verbieten können, „und niemand könnte nachher über Ungerechtigkeiten schreyen“. 364 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 378 (Instruktionssenat des KG zu § 1579 EAGB).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Trotz, auch Nicht-Kaufleuten die Möglichkeit, eine erhoffte Gewinnerwartung gegen Schadensfälle zu versichern. Die endgültige Fassung der §§ 1991 ff. ALR lautete schließlich:365 „§ 1991. Versicherungen auf gehofften oder sogenannten imaginairen Gewinn sind nur in so weit gültig, als sie ausdrücklich darauf geschlossen, und zugleich der Gegenstand, von welchem der Gewinn erwartet wird, bestimmt angegeben worden. § 1992. Versicherungen auf das Bestehen, Steigen und Fallen der Waarenpreise, sind nur den Kaufleuten erlaubt. § 1993. Es muß jedoch dadurch keine dem gemeinen Wesen nachtheilige Preissteigerung beabsichtiget werden. § 1994. Liegt diese zum Grunde: so ist der Vertrag ungültig; die Prämie verfällt dem Fis­ kus; und die Contrahenten müssen nach Vorschrift des Criminalrechts bestraft werden.“

Die Untersuchung über die verschiedenen Spielarten der Gewinnversicherung hat also gezeigt, dass der preußische Gesetzgeber zwar immer geneigt war, die bestehenden Handelsbräuche mit paternalistischer Strenge zu überformen, im Endeffekt aber die in der Praxis entwickelten Gewohnheiten in ihren Grundfesten nicht antasten wollte. So ordnete er per Gesetz die Nichtigkeit von reinen Kon­ junkturversicherungen an, wenn alleine schon die Absicht einer gemeinschäd­ lichen Preissteigerung bestand, und schlug die Versicherungsprämie aus solchen Verträgen noch dazu dem Fiskus zu. Im Großen und Ganzen jedoch wollte es die Versicherung auf imaginären Ge­ winn und sogar auf das reine Steigen und Fallen der Warenpreise nicht verbieten, obwohl gerade gegen die letztere sogar in der handelspraktischen Literatur tief­ greifende Bedenken vorgebracht worden waren. Selbst gegen die verbreitete „Un­ sitte“, den imaginären Gewinn pauschal als ein Zehntel der Versicherungssumme zu taxieren und keinen weitergehenden Nachweis vom Versicherten mehr zu for­ dern, unternahm das Landrecht keine Maßnahmen. Die §§ 1991 ff. ALR machen am Ende den Eindruck, als ob der Gesetzgeber sämtliche bestehenden Handels­ gewohnheiten akribisch erfassen wollte, gleichzeitig aber die Vorstellung hegte, ihren unerwünschten Auswirkungen mit scharfen gesetzlichen Sanktionsdrohun­ gen begegnen zu können. 3. Die Gewinnversicherung als unausgesprochene Selbstverständlichkeit in der Feuerversicherungspraxis Mit der Kodifikation der Gewinnversicherung in §§ 1991 ff. ALR wurde auch für die Feuerversicherung ein rechtlicher Rahmen geschaffen, obgleich sich die Diskussion im Gesetzgebungsprozess alleine an seerechtlichen Vorschriften und Handelspraktiken orientiert hatte. Gegenüber den ausführlichen Diskussionen, die 365 Vgl. auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 302; Prange, Theorie des Versi­ cherungswertes (1895), Bd. 1 S. 113.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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man um die Gewinnversicherung im ALR führte, wirken die Regelungen in den Feuerversicherungsbedingungen des frühen 19. Jahrhunderts geradezu schmal und pragmatisch. So enthielten die meisten AVB lediglich eine Klausel, die – wie hier am Beispiel der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft gezeigt  – ganz allgemein gehalten das versicherungsrechtliche Bereicherungsverbot zum Aus­ druck brachte:366 „§ 14. […] [2] Ist der Wert zur Zeit eines Brandes der vorhandenen versicherten Gegenstände geringer, als der Betrag der versicherten Summe, so wird nicht diese letztere, sondern nur der wirkliche Schaden vergütet.“

Die AVB schwiegen sich aber darüber aus, ob zu dem „wirklichen Schaden“ auch der imaginäre Gewinn zählen durfte. Hier offenbart sich, dass die vertrag­lichen Klauselwerke gar nicht erst den Anspruch erhoben, eine irgendwie geartete rechts­ dogmatische Ordnung des Versicherungsrechts zu schaffen: geregelt wurde in ers­ ter Linie, was aus pragmatischen Gesichtspunkten heraus regelungsbedürftig er­ schien. Auch wenn die AVB gar nicht expressis verbis auf den imaginären Gewinn zu sprechen kamen, wurde seine Versicherung zu dieser Zeit wie eine Selbstver­ ständlichkeit praktiziert. So bemerkte Art. 45 II der ersten AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt, dass der Wert der Waren nach dem jeweiligen Markt­ preis, hilfsweise nach dem Preis am nächstgelegenen Markt unter Berücksichti­ gung der Transportkosten, taxiert werden solle;367 eine solche Berechnung anhand von Marktpreisen umfasst aber automatisch auch eine mögliche Gewinnmarge. Erst das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz von 1837 sollte die Ge­ winnversicherung verbieten;368 auch schon die Feuerversicherungsbedingungen der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank hatten die enttäuschte Gewinn­ erwartung ausdrücklich für nicht versicherbar erklärt.369 Mittelbar zeigen auch 366

So auch Art. 46 Nr. 1 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (Samm­ lung-AVB I, 22); § 39 I lit. a Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Samm­ lung-AVB I, 6); Art. 60 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB  I,  14); § 10  I AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34) („daß die Versicherung nur Schadenersatz zum Zweck hat, nicht aber als Mittel zum Gewinn gemißbraucht werden darf“). Auch Müssener (2008), S. 254, geht davon aus, dass die Versicherung imaginären Gewinns in den frühen AVB problemlos möglich war. 367 So auch § 34 lit. b Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); Art. 118 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828). 368 § 1  I Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837 (PrGS 1837, 102) (Beschränkung der Versicherungssumme auf den „gemeinen Werthe zur Zeit der Versi­ cherungsnahme“); ähnlich bereits Art. 1 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (RegBl. Württemberg 1830, 207) (Beschränkung der Versicherungssumme auf den „wahren Werth der versicherten Vermögenstheile“). Vgl. auch Müssener (2008), S. 253. 369 Art. 1 S. 4, 5 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (SammlungAVB I, 30). Nach Erlass der Mobiliarfeuerversicherungsgesetze verboten die davon betroffe­ nen Versicherer die Gewinnversicherung, vgl. § 7 S. 1 Hs. 2 Verbands-AVB Deutscher PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38); § 7 I Hs. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB I, 75); vgl. auch Müssener (2008), S. 254.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

diese späteren Verbote, dass die Versicherung imaginären Gewinns bei den ältesten Feuerversicherern Gang und Gäbe war. Man hat insoweit wohl lückenlos an die ent­ sprechenden gefestigten seerechtlichen Gewohnheiten anknüpfen können.370 Das ALR stand dieser Entwicklung jedenfalls nicht im Weg, hat aber insoweit freilich keine eigentlich rechtsschöpfende Funktion übernommen.

III. Die Versicherung auf das Leben Dritter Das Pendant zur schadensversicherungsrechtlichen Frage nach dem versicherten Gegenstand lautet auf dem Gebiet der Todesfallversicherung: auf wessen Leben ist die Versicherung genommen? Als gänzlich unproblematisch erweist sich hier die Versicherung auf das eigene Leben. Aber auch die Versicherung auf das Leben dritter Personen ist möglich.371 Häufige Fälle einer solchen Versicherung waren schon in historischer Zeit die Versicherung der Eltern auf das Leben ihrer Kinder oder die Versicherung einer Frau auf das Lebens ihres Ehegatten – umso mehr, da im 18. Jahrhundert der Tod naher Familienangehöriger einen Ausfall des Lebens­ unterhalts bedeuten konnte.372 Oft ist in der zeitgenössischen Literatur aber auch von sogenannten Schuldnerversicherungen die Rede. Mit deren Hilfe konnte ein Gläubiger verhindern, dass seine Forderung durch den Tod des Schuldners prak­ tisch unrealisierbar wurde.373 1. Die vorgesetzliche Praxis: Einwilligungs- versus Interessekriterium Noch im 19. Jahrhundert brachten viele Autoren ihre Sorge zum Ausdruck, dass eine solche Versicherung am Ende zur Lebensgefahr für den versicherten Dritten geraten könnte.374 Man mag also aus der heutigen Perspektive intuitiv fordern, dass eine Versicherung auf fremde Leben von der Einwilligung der versicherten Person abhängig sein muss. Allerdings findet man in den Reglements der vor 1800 be­ stehenden Witwen- und Waisenkassen nur ganz gelegentlich entsprechende Klau­ 370

Die Vorschriften zur Berechnung des Warenwerts, die, wie dargestellt, auch die Ersatz­ fähigkeit imaginären Gewinns voraussetzen, werden näher unter § 2 D X 2 analysiert. 371 Zum heutigen Rechtszustand Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 2152; Bruck / Möller /  Winter (9. Aufl. 2008), § 150 Rn. 6 f.; Deutsch / Iversen (7.  Aufl. 2015), Rn.  374; Prölss / Martin /  Schneider (30. Aufl. 2018), § 150 Rn. 4); Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 1203. 372 Ähnlich Krünitz, Bd. 2 (1773), S. 598 f. (zum Gedanken der Unterhaltssicherung aus der Perspektive der Versicherung auf das eigene Leben: „daß der Versicherer seinen Nachgela­ ßenen die Revenüen, wofür er bei seinem Leben sein Capital angewandt, im Fall des Todes bezahle“); vgl. auch Babbage (1826), S. 16; Hagena (1910), S. 55. 373 Babbage (1826), S. 14 f.; Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 53, Bd. 4 S. 541 f.; Malß, Be­ trachtungen (1862), S. 59 f.; von Staudinger (1858), S. 86. 374 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 541 (spricht abstrakt vom „Mißbrauch“); Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 362 f.; von Staudinger (1858), S. 76 f. (hielt die Sorge vor Versicherungsmissbrauch für übertrieben).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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seln, was schlicht daran liegt, dass ein Mitglied jener Einrichtungen seine Familie meistens nur auf den eigenen Todesfall absichern konnte.375 Die preußische All­ gemeine Wittwen-Versorgungs-Anstalt von 1775 kannte im Gegensatz dazu auch eine singuläre Möglichkeit, eine Versicherung auf das Leben dritter Personen zu schließen:376 „§ 28. Es ist schon oben §.  19. berühret worden, und verstehet sich aus dem folgenden von selbst, daß außer dem Manne auch die Frau, oder ein Dritter zum Besten der Frau das Antritts-Geld und die jährlichen Beyträge erlegen, mithin überhaupt ein Dritter einer fremden Ehefrau, mit Beobachtung aller sonstiger Erfordernisse, eine Wittwen-Pension versichern lassen könne. Dergleichen Versicherung kann nur entweder auf den Todes-Fall des Ehemannes der Frau, oder auf den Todes-Fall des Dritten selbst gerichtet werden, im ersten Falle aber kann dieses nie ohne Wissen und Willen des Ehemannes geschehen. […]“

In anderen Ländern, allen voran England, war die Wirksamkeit einer derartigen Todesfallversicherung indes an ganz andere Erfordernisse geknüpft: dort forderte der Gambling Act von 1774 auch für jede Lebensversicherung, dass der Versi­ cherungsnehmer ein konkretes, betragsmäßiges Interesse beziffern müsse. Sollte der Versicherungsnehmer aber am Ende kein versicherbares Interesse nachweisen können, war der Lebensversicherungsvertrag als reine „wager policy“ nichtig377 – eine Regel, die aus der Warte des modernen deutschen Versicherungsrechts nur innerhalb der Schadensversicherung, keinesfalls aber innerhalb der Summenver­ sicherung zu suchen ist. Unproblematisch vorhanden war ein solches vermögens­ wertes Interesse, wenn ein Forderungsgläubiger sich auf das Leben seines Schuld­ ners versicherte: dort konnte durch den Tod des Schuldners wirklich ein der Höhe nach bezifferbarer Schaden entstehen.378 In der Regel nahm die englische Recht­ sprechung aber auch dann ein hinreichendes „insurable interest“ an, wenn der Versicherungsnehmer seinen Lebensunterhalt von der versicherten Person bezog, insbesondere also beim Vorliegen familiärer Verhältnisse.379 375 Das gilt der Natur der Sache nach vor allem bei den verbreiteten berufsständischen Witwenversorgungseinrichtungen: versichert war eben der Angehörige des jeweilige Berufs­ standes, vgl. Reglement Preußische Officier-Wittwen-Casse (1792) (NCC IX, 859); WittwenCasse für die Hamburger Reitdiener-Brüderschaft (1795) (Anderson IV, 77). Aber auch die Hamburgische Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (Textausgabe, 1778) hatte solche Be­ stimmungen nicht getroffen. 376 NCC V, 381. Vgl. jedoch bereits eine ähnliche Regelung in § 8 Verordnung Calenbergi­ sche Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766) (Spangenberg II, 164). 377 An act for regulating insurances upon lives, and for prohibiting all such insurances, except in cases where the persons insuring shall have an interest in the life or death of the persons insured, abgedruckt bei Marshall (1. Aufl. 1805), S. 672 f. Vgl. auch Bachmann (2019), S. 46 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123 125; Haines (1926), S. 197 f.; Ogis (2019), S. 147 ff.; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 554.2 (S. 75 f.); Raynes (2. Aufl.  1964), S. 131; Rosin (1932), S. 34; ­Weskett (1781), S. 336. 378 Malß, Betrachtungen (1862), S. 60; Ogis (2019), S. 148; von Staudinger (1858), S. 95; ­Weskett (1781), S. 336 ff. 379 R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 125 (hält die Versicherung auf das Leben von Fami­ lienmitgliedern sogar als die einzige noch zulässige Art der Lebensversicherung); Ogis (2019), S. 150 f.; Weskett (1781), S. 336 ff. (zum „natural interest“ einer Ehefrau am Leben ihres Mannes).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Umgekehrt war in England jedoch die Einwilligung des Dritten, an dessen Le­ ben der Versicherungsnehmer ein vermögenswertes Interesse besaß, nicht mehr nötig. Wie sich dies auf die englischen Lebensversicherungsbedingungen aus­ wirkte, lässt sich am Beispiel der Society for Equitable Assurances on Lives and Survivorships demonstrieren. In einem Bye-Law, das 1770 den ursprünglichen Statuten von 1762 hinzugefügt worden war,380 hieß es: „§ 13. That every person making assurance on the life of another shall by himself or agent sign a declaration, that he or she is interested in such life to the full amount of the sum to be assured; and give such further satisfaction to the Court of Directors concerning such interest, as the said Court shall in their discretion require.“

Nachdem englische Lebensversicherer auch auf den deutschen Märkten aktiv waren, gewannen solche Klauseln auch für die deutsche Rechtspraxis unmittel­ bar an Bedeutung. Im Dunstkreis der Versicherung auf fremde Leben standen sich also zwei kon­ träre Positionen gegenüber: die eine machte den Vertrag von der Einwilligung des Dritten abhängig, die andere forderte auch für die Lebensversicherung den Nach­ weis eines versicherbaren Interesses. 2. Der Sonderweg des ALR: das Verwandtschaftskriterium Wie hat sich nun also das Allgemeine Landrecht zwischen diesen beiden recht­ lichen Polen positioniert? Seine quellengeschichtlichen Vorläufer, die Hamburgi­ sche und die preußische Assecuranz- und Havereyordnung, problematisierten diese Frage noch kaum. In Tit. X der Hamburgischen AHO war die Lebensversicherung noch eng mit der seerechtlichen Versicherung gegen feindliche Gefangennahme, Lösegeldforderungen und gegen „Türcken-Risiko“ verwoben, welche sowohl auf die eigene Person als auch auf das Leben eines Dritten geschlossen werden konn­ ten.381 Es handelte sich bei all diesen Arten der Personenversicherung um Asseku­ ranzen gegen die Gefahren der hohen See – die abgesicherten Familienmitglieder oder Gläubiger warteten also zumeist auf dem Festland auf die wohlbehaltene Rückkehr des Versicherten. Zu der später heftig umstrittenen Frage, ob die Todes­ fallversicherung einen schädlichen Anreiz zur Tötung der versicherten Person liefen könnte, gab es hier keinen ernsthaften Anlass; im Falle der verwandten Freiheitsund Lösegeldversicherung stellte sie sich nicht einmal in der Theorie. So knüpfte der Hamburger Gesetzgeber die Versicherung auf fremde Leben an keine bestimm­ ten Voraussetzungen. Die preußische AHO bestimmte im Anschluss daran recht 380

§ 13 Bye-Law 1 (1770) zu Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Textausgabe von Hrsg. Morgan [1833]). Zur Praxis der Equitable Society, vgl. auch Bachmann (2019), S. 70 f. 381 Tit. X AHO (1731) (Dreyer [1990], S. 267), s. auch das angefügte Policenmuster VI. Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 53 f.; Dreyer (1990), S. 152 ff.; Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV §§ 68–73 (S. 409 ff.) (zur Seeversicherungspraxis noch vor der Hamburger AHO).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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vage, dass eine derartige Versicherung nur mit „Vorwissen“ des Dritten geschlos­ sen werden dürfe. Eine weitergehende Bedingung enthielt sie aber ebensowenig.382 Erst der Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches, der die Lebensversiche­ rung gleichsam von der hohen See auf das Festland zu holen versuchte, vertrat die Auffassung, dass auf fremde Leben nur unter vorsichtigen Einschränkungen ge­ zeichnet werden dürfe. Die Maßregeln, die der EAGB ergreifen wollte, umfassten aber weder ein Einwilligungs- noch ein Interessekriterium. Zwar musste in einem Lebensversicherungsvertrag auch unter dem EAGB ein „bestimmter Geldwerth: wie hoch der versicherte Gegenstand zu schätzen sey“ angegeben sein, um die Versicherung rechtsgültig zu machen.383 Ausweislich eines redaktionellen Kom­ mentars im Normtext des EAGB war dieses Vorgehen aber nur aus reinen Verein­ fachungsgründen notwendig, damit der Vertrag nicht am Ende „zu unabsehlichen Prozessen Anlaß geben würde.“384 Diese Vorschrift deutete damit nur in die Rich­ tung der heutigen Praxis, bei Lebensversicherungen schlicht und ergreifend eine Versicherungssumme in beliebiger Höhe zu vereinbaren; sie darf nicht etwa mit dem im englischen Rechtskreis geforderten Nachweis eines „insurable interest“ verwechselt werden. Das EAGB ging stattdessen einen dritten, eigenständigen Weg, um die Zulässigkeit der Versicherung auf fremde Rechnung zu beschränken: „§ 1565. Eltern, Kinder, Ehegatten, Braut und Bräutigam können, für eigne Rechnung, das Leben der Ihrigen versichern lassen. § 1566. Außer diesen kan niemand, zu seinem eigenen Vortheil, auf das Leben eines Dritten Versicherung nehmen.“

Im Endeffekt hatte der preußische Gesetzgeber die Versicherung auf das Leben Dritter damit auf einen ganz engen, familiären Kreis reduziert. Die Absicherung auf den Todesfall von Schuldnern, immerhin eine in der seerechtlichen Literatur häufig genannte Fallgruppe, kam überhaupt nicht mehr in Frage. Hier kommt er­ neut die paternalistische Ader des Gesetzgebers zum Vorschein. Die Motivation, die zu dieser strengen Regelung geführt hat, offenbarte der Entwurfsverfasser sogar ausdrücklich in einer weiteren redaktionellen Anmerkung zu Th. I Abt. II § 1566 EAGB:385 „Versicherungen auf das Leben eines Dritten, sind den Grundsätzen und der Analogie der gemeinen Rechte zuwider; sie können dem Dritten, auf dessen Kopf sie geschlossen sind, gefährlich werden. Die Erlaubniß, dergleichen Versicherungen zu nehmen, wird daher billig nur auf solche Personen eingeschränkt, denen, der Regel nach, an der Conservation des Versicherten mehr gelegen seyn muß, als an der Erhaltung des gezeichneten Quanti.“

382

§§ 24, 140 PrAHO (1766) (NCC IV, 83). Th. I Abt. II §§ 1569, 1570 EAGB (1785) (Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 [2003]). Vgl. P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631, zieht daraus sogar die Schlussfolgerung, das ALR habe die Lebensversicherung ganz als Schadensversicherung behandelt. 384 Redaktionelle Fn. im Originaltext zu § 1570 EAGB (1785). 385 Redaktionelle Fn. im Originaltext zu § 1566 EAGB (1785). 383

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Das hohe Maß an paternalistischer Strenge, welches noch den Entwurf von 1785 geprägt hatte, lockerte das preußische Landrecht in seiner finalen Fassung wieder geringfügig auf, indem es unter hohen Vorsichtsmaßnahmen Versicherungen auf fremde Leben auch außerhalb des engsten Familienzirkels gestattete.386 Eventuelle Verstöße waren allerdings unter strenge obrigkeitliche Strafandrohung gestellt, die gleich beide Vertragsparteien treffen sollte:387 „§ 1971. Aeltern, Kinder, Ehegatten, oder Verlobte, können für eigne Rechnung das Leben ihrer Kinder, Aeltern, des anderen Ehegatten oder Verlobten, versichern lassen. § 1972. Unter Kindern werden eheliche Descendenten in absteigender Linie überhaupt verstanden. (Th. I .Tit. I. §. 40. 41.) § 1973. Außer diesen kann niemand, zu seinem eignen Vortheile, auf das Leben eines Drit­ ten, ohne dessen gerichtliche Einwilligung, Versicherung nehmen. § 1974. Ist dies dennoch geschehen: so muß jeder, sowohl der Versicherer, als der Versi­ cherte, die gezeichnete Summe, zum Besten der Armen, als Strafe erlegen.“

Was aber hatte den Gesetzgeber erwogen, von seiner noch viel strengeren Posi­ tion in §§ 1565, 1566 EAGB abzurücken und die Einwilligung des Dritten wieder ins Gesetz zu bringen? Ein Hinweis ergibt sich aus den Gesetzgebungsmaterialien: zu den beiden Normen des EAGB war nach 1784 eine Menge kritischer Monita eingegangen. Einige Einsender forderten nur, den Kreis der Familienangehörigen in § 1565 EAGB in gewohnt kasuistischer Art auszudehnen,388 andere hingegen, darunter auch der Assekuradeur Gaedertz, verwiesen auf die deutlich liberalere Praxis der preußischen Assekuranz- und Havereyordnung, die Versicherungen auf das Leben Dritter bei deren „Vorwissen“ zugelassen hatte.389 Schließlich hatte sich auch der Redaktor Baumgarten von dieser Position über­ zeugt. Er notierte als Kommentar zu einem der genannten Monita, solche Versiche­ rungen auf das Leben Dritter könnten nach dem Grundsatz „volenti non fit inuria“ auch außerhalb von Verwandtschaftsverhältnissen zulässig sein – denn „unsere Sit­ ten sind auch nicht so schlecht, daß heimlicher Mord daraus zu befürchten wäre.“390 386

Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 541 f.; P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 31; von Staudinger (1858), S. 95 f. Benecke führt die Regelungen der §§ 1971 ff. ALR (1794) aller­ dings – ohne nähere Begründung – darauf zurück, dass in solchen Fällen ein Geldinteresse des Versicherungsnehmers bestehe. Das zeigt, wie in der damaligen rechtlichen Diskussion das versicherte Interesse und das erforderliche Verwandtschaftsverhältnis teilweise fließend ineinander übergingen. 387 Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). 388 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 376 (Regierungsadvokat Roeslin und Magdeburger Regierung zu § 1565 EAGB = § 1971 ALR); Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 377 (Instruktionssenat des KG zu § 1565 EAGB = § 1971 ALR). 389 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 78 (Gaedertz und Geheimer Oberrevisionsrat Goßler zu § 1566 EAGB = § 1973 ALR). 390 Stellungnahme des Redaktors Baumgarten zu: Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 376 (Regierungsadvokat Roeslin und Magdeburger Regierung zu § 1565 EAGB = § 1971 ALR).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Das gerichtliche Formerfordernis und die scharfe Strafandrohung in Th. II Tit. 8 §§ 1973, 1974 ALR flankierten diese sehr vorsichtige Liberalisierung, gewisser­ maßen als Kompromiss gegenüber der noch härteren Gangart des EAGB. Am Rande bemerkt verschwand die missverständliche Vorschrift des EAGB, die in Lebensversicherungspolicen die Angabe eines „bestimmten Geldwerths“ vor­ gesehen hatte, im ALR gänzlich. Ein Monitum hatte eine entsprechende Klarstel­ lung angeregt.391 Nach § 2089 ALR mussten Lebensversicherungen ausdrücklich nur noch die Versicherungssumme beinhalten; damit dürfte jeder zeitgenössische Zweifel beseitigt worden sein, dass der Nachweis eines versicherbaren Interesses in der Lebensversicherung unter dem ALR nicht nötig war. Letztlich hat der Gesetzgeber zwar in engem Dialog mit der Praxis, am Ende aber doch aus eigener Kraft ein Normgefüge geschaffen, das der Lebensversi­ cherung, aber auch der Seeversicherung in seiner Gesamtheit bisher fremd war. Schon der vergleichsweise hohe Begründungsaufwand des Gesetzgebers, der in den redaktionellen Fußnoten im EAGB zum Ausdruck kam, spricht dafür, dass die Bestimmungen im Kern eine eigene Schöpfung des Gesetzgebers wa­ ren. Die vereinzelten Normen in den Reglements der Witwen- und Waisenkassen standen mit dieser Entwicklung in keinem erkennbaren, unmittelbaren Zusam­ menhang. 3. Die ältesten deutschen Lebensversicherungsbedingungen: Rückkehr zur englischen Praxis Allerdings scheint es, als habe die Lösung, die der preußische Gesetzgeber ge­ funden hatte, vorerst keinen weiteren Einfluss auf die deutsche Versicherungs­ praxis nehmen können. Die Lebensversicherungsbank zu Gotha implementierte in ihren AVB von 1828 eine Regelung, die mehr an die Praxis der englischen Le­ bensversicherer erinnert:392 § 57. Um auf das Leben eines andern zu versichern, muß ein wirkliches Interesse an des­ sen Dauer z. B. durch nahe Verwandtschaft, durch eine Schuldforderung, Bürgschaft usw. nachgewiesen werden. Ist die Versicherung hierauf wirklich erfolgt, so behält sie auch ihre Gültigkeit in dem Falle, wenn jenes Interesse noch vor dem Tode der Person, auf welche die Versicherung lautet, erloschen wäre.

391 Vgl. dazu das Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 277 (Re­ gierungsadvokat Roeslin zu § 1569 EAGB = § 2089 ALR); Roeslin hat mit seinem Monitum den Beifall Baumgartens („Gegründet“) gefunden. Nach alledem handelte es sich aber nur um eine präzisere Formulierung, während auf inhaltlicher Ebene schon das EAGB keinen echten Nachweis des versicherten Interesses gefordert hatte. 392 Abgedruckt in Sammlung-AVB  II,  2. Ähnlich zum Erfordernis eines versicherbaren Interesses nur: Abs. 3 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828) (SammlungAVB II, 21).

182

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Dass sich so eine Regelung in deutschen AVB fand, ist auf den ersten Blick er­ staunlich, denn im deutschen Rechtsraum existierte gar keine Vorschrift, welche den Bestand einer Lebensversicherung von einem nachweisbaren Interesse ab­ hängig gemacht hätte. Die plausibelste Erklärung für diesen Befund liegt darin, dass die Gründer der Gothaer um Ernst Wilhelm Arnoldi Klauseln aus dem eng­ lischen Praxisrecht kopierten, zumal das Werk von Charles Babbage, das Arnoldi nachweislich vorgelegen hat, auf eine Vielzahl englischer Versicherer verwies. Besonders auch die Tatsache, dass die „nahe Verwandtschaft“ nach der Praxis der Gothaer ein versicherbares Interesse begründen konnte, entsprach der englischen Rechtsauffassung. Damit existieren keine plausiblen Anhaltspunkte, die das – auf den ersten Blick durchaus ähnlich wirkende – „Verwandtschaftskriterium“ in Th. II Tit. 8 §§ 1971– 1974 ALR in Verbindung zu den AVB der Gothaer bringen könnten. Am Rande bemerkt war die Gothaer Lebensversicherungsbank freilich auch nicht durch ge­ setzlichen Zwang verpflichtet, die Kriterien in §§ 1971–1974 ALR in ihren AVB umzusetzen, lag doch Sachsen-Coburg-Gotha schlichtweg nicht im Geltungsbe­ reich der preußischen Gesetze. Soweit die Gothaer in Preußen operierte, wird sie die Erfordernisse des ALR wohl in die Tat umgesetzt haben, zumindest auf ihre AVB-Gestaltung übte das jedoch keinen Einfluss aus. Lange überlebten solche Klauseln zum versicherbaren Interesse in der deutschen Lebensversicherung jedoch nicht: in den AVB vieler späterer Lebensversicherer bis ca. 1850 verschwand die Spur ausdrücklicher Regelungen zur Versicherung auf fremde Leben sogar vollständig.393 Untergegangen ist die Idee des preußischen Landrechts dennoch nicht. Auch wenn sie in der Praxis der Lebensversicherer vorerst verschwand, wurde sie von späteren Autoren394 und Gesetzgebern immer wieder in Erwägung gezogen.395 Schon an dieser Stelle sei verraten, dass der Gedanke, den der preußische Gesetz­ geber hier zum ersten Mal ausdrücklich kodifiziert hatte, bis ins letzte Drittel des 19. Jahrhunderts die legislatorische Diskussion in Deutschland wesentlich prägen sollte.396

393

Keine Regelungen zur Versicherung auf fremde Leben enthielten z. B.: AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830) (Sammlung-AVB II, 7); AVB Stuttgarter RentenAnstalt (1833) (Sammlung-AVB II, 54); AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB  II,  23); AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16). Zu der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 19. Jhdts. s. unter § 3 D III. 394 Z. B. Malß, Betrachtungen (1862), S. 12; von Staudinger (1858), S. 53 f. 395 Z. B. Art. 497 HGB-Entwurf Württemberg (1839) (Textausgabe 1839) mit Mot. zu Art. 497 (Textausgabe 1840): dort wird ausdrücklich auf die „Betheiligung“ des Versicherungsnehmers am Leben des Dritten oder sein „pecuniäres Interesse“ abgestellt. 396 Zur nachhaltigen Rezeption der §§ 1971–1974 ALR in der Kodifikationsdebatte des 19. Jhdts., s. ausführlich unter § 3 D III 1, 2.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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IV. Über-, Unter- und Mehrfachversicherung In den vergangenen Abschnitten war oft vom versicherbaren Interesse die Rede. Wenn sich nun das Interesse des Versicherten am versicherten Gegenstand erst einmal konkret bestimmen lässt, so entwickeln sich daraus  – natürlich nur für die Schadensversicherung – zwingende Folgefragen: was passiert, wenn die von den Parteien privatautonom vereinbarte Versicherungssumme nicht dem Wert des versicherbaren Interesses, also dem Versicherungswert, entspricht? In zwei Richtungen ist eine solche Diskrepanz denkbar: liegt die vereinbarte Summe über dem Versicherungswert, so entsteht eine Überversicherung, die in Konflikt mit dem versicherungsrechtlichen Bereicherungsverbot gerät.397 Liegt sie umgekehrt unter dem Versicherungswert, so handelt es sich um eine Unterversicherung.398 Eine etwas variierte Spielart der Überversicherung kann sich ergeben, wenn der Versicherungsnehmer bei mehreren unterschiedlichen Versicherern auf denselben Gegenstand zeichnet – problematisch ist namentlich der Fall, in welchem die ein­ zelnen Versicherungssummen zusammengenommen das versicherbare Interesse überschreiten.399 Die genannten Probleme der Über-, der Unter- und der mehrfachen400 Versi­ cherung entwickelten sich indes nur dann, wenn es den Parteien im Rahmen ihrer Vertragsfreiheit überhaupt erlaubt ist, eine willkürlich hohe Versicherungssumme zu vereinbaren. So wird man feststellen, dass die Reglements der öffentlichen Feuerversicherungsanstalten bis hinein ins 19. Jahrhundert keine entsprechenden Vorschriften enthielten: beim Eintritt des Versicherten in die Anstalt taxierte die

397

Zum heutigen Rechtszustand: Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1461 ff.; Deutsch / Iversen (7.  Aufl.  2015), Rn.  295; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 74 Rn. 3 ff.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 795 ff. 398 Zur Behandlung der Unterversicherung nach heutigem Recht, s. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1464 ff.; Deutsch / Iversen (7.  Aufl.  2015), S.  296 f.; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 75 Rn. 3 ff.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 787 ff. 399 Zur Problem der Mehrfachversicherung nach heutigem Recht, s. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1387 ff.; Deutsch / Iversen (7.  Aufl.  2015), Rn.  121 ff.; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 77 Rn. 4 ff.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 798 ff. 400 Im Hinblick auf die „mehrfache“ Versicherung – also die Versicherung bei mehreren Ver­ sicherern – wurden in der historischen Praxis und Gesetzgebung höchst uneinheitliche Begriffe verwendet. Nach dem heute geltenden § 78 VVG bezeichnet der Begriff „Mehrfachversiche­ rung“ eine Versicherung bei mehreren Versicherern, deren einzelnen Versicherungssummen in Addition den Versicherungswert übersteigen. Im historischen VVG von 1908 (§ 59 I) hieß diese Art von Versicherung jedoch „Doppelversicherung“, während der Begriff der „Mehrfach­ versicherung“ jede Versicherung bei mehreren Versicherern meinte, auch wenn diese einzel­ nen Versicherungen in der Summe den Versicherungswert nicht überstiegen. Viele historische Quellen arbeiten mit genau dieser Begriffsunterscheidung und können daher in der modernen Forschung missverstanden werden. Zum Zweck der vorliegenden Untersuchung sollen Miss­ verständnisse möglichst vermieden werden und daher die Begriffe der „Mehrfach-“ bzw. „Doppelversicherung“ nach Möglichkeit keine Verwendung finden; in Zweifelsfällen werden die Begriffe, die im historischen Kontext aufgefunden werden, eingehender umschrieben.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Sozietätsverwaltung einfach den „verbrennlichen“ Gebäudewert und trug diesen in ein öffentliches Kataster ein401 – zum Teil auch nur einen gesetzlich festgeschriebe­ nen Bruchteil desselben, alleine in seltensten Fällen verblieb dem Versicherten eine freie Wahl über die Einschreibungssumme.402 Zwar achteten auch die öffentlichen Anstalten in ihrer stetigen Angst vor Spekulationsbrandstiftungen darauf, dem Versicherten keine Bereicherungsmöglichkeit durch die Versicherung einzuräu­ men, indem sie etwa einen Teil des Gebäudes zwangsweise unversichert ließen403 oder die Gebäudetaxe periodisch überprüften,404 doch ausdrückliche Vorschriften zum Verhältnis zwischen dem Versicherungswert und einer frei gewählten Ver­ sicherungssumme bedurfte es bei alledem nicht. Erst recht kannten die staatlich monopolisierten Anstalten keine mehrfache Versicherung. Zur Domäne der Über-, Unter- und mehrfachen Versicherung war bis zum Ende des 18. Jahrhunderts alleine die Seeversicherung geworden, weil es dem Versiche­ rungsnehmer dort freistand, seine Versicherungssumme beliebig zu wählen. Im Übrigen wollte oder konnte wegen des enorm hohen Wertes von Hochseeschif­ fen kaum ein einzelner Assekuradeur auf den gesamten Schiffswert zeichnen; Unterversicherungen und Versicherungen bei mehreren Assekuradeuren waren folglich an der Tagesordnung.405 So hielt auch das seeversicherungsrechtlich orien­ 401

Vgl. dazu schon das Kapitel § 2 D II zum imaginären Gewinn. In den preußischen Feuersozietäten begann die Entwicklung zur frei wählbaren Versi­ cherungssumme erst nach Inkrafttreten des ALR, z. B. § 1 I Reglement BrandversicherungsGesellschaft Berg (1801) (Scotti II, 810); § 10 I Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ost­ preußen (1809) (NCC XII, 823); vgl. auch § 12 II Brandversicherungsordnung Bayern (1811) (BayRegBl. 1811, 129). Anderes galt im 18. Jahrhundert bei den Feuerkassen in und um Ham­ burg, vgl. Art. 6 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse [1976], S. 118); Art. 7 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Schaefer [1911], Bd. 1 S. 323); § 4 S. 3 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (Anderson I, 13). 403 Art. 2 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (Selbstversicherung zu 1/4, max. 15.000 Mk.): Art. 4 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Selbstversicherung zu 1/4); § 3 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (Selbstversicherung zu 1/2); § 7 II Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (NCC VII, 3267) (Taxationsobergrenze von 5.000 Ta­ lern). Zur verpflichtenden Selbstversicherungsquote in der Hamburger Generalfeuerkasse, vgl. auch Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 21 f.; Müssener (2008), S. 185; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 43 f.; zu entsprechenden Re­ geln bei der Billwärder Feuerkasse vgl. Schaefer (1911), Bd. 1 S. 183 ff. 404 Art. 17 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753); Art. 17, 19 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758); Art. 2 S. 2 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (NCC IV, 5379) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät); Art. 5 I Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät); Art. 2 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für den Insterburgschen Creiß); §§ 26, 27 Württembergische Brand-Schadens-VersicherungsOrdnung (1773) (Zeller / Mayer III, 871); § 4 I 2 Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801); §§ 10, 27 S. 1 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809); § 1 II lit. b, § 3 lit. f Instruktion zur Geschäftsführung zur Brandversicherungsordnung Bay­ ern (1811). 405 Insbesondere zur Bedeutung der Mehrfachversicherung in der Seeversicherung, vgl. schon § 1 C II 2. 402

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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tierte preußische Landrecht zahlreiche Vorschriften zu diesem Themenkomplex bereit.406 Auch die privaten Feuerversicherungs-Gesellschaften seit der 1812 gegründeten „Berlinischen“ sahen entsprechende Klauseln in ihren AVB vor.407 Ein Blick in erwähnte AVB löst aber zunächst Ernüchterung aus: meist erschöpften sie sich in der Wiedergabe des versicherungsrechtlichen Bereicherungsverbots und enthielten sporadische Regelungen darüber, welche Besonderheiten die Parteien bei der Scha­ densberechnung im Falle der Unterversicherung zu beachten hatten. Noch dazu waren die einzelnen Vorschriften meist zusammenhangslos über den kompletten Umfang der AVB verstreut. Anders das Allgemeine Landrecht: es war insbeson­ dere reich an Regelungen zur Versicherung bei mehreren Assekuradeuren, welche versuchten, ein differenziertes und ausgewogenes Regelungsgeflecht zu entwerfen. Die nun folgenden Ausführungen werden sich daher stark auf das ALR konzen­ trieren, und zwar zunächst auf die Überversicherung (1), dann auf die Versiche­ rung bei mehreren Versicherern (2) und schließlich auf die Unterversicherung (3). Abschnitt 4 wird schließlich zeigen, dass die AVB alle jene Phänomene äußerst sporadisch und fernab der dogmatischen Überlegungen des ALR behandelten. 1. Die Überversicherung Dass der Versicherer im Falle einer Überversicherung keinen Ersatz leisten darf, der betragsmäßig oberhalb des eingetretenen Schadens liegt, stellt eine voll­ kommen allgemeine und zwingende Folgerung aus dem Wesen des Versicherungs­ vertrages dar: alles andere wäre nicht als Versicherung, sondern als Wette zu bezeichnen. Das war in der Seeversicherung des 18. Jahrhunderts bereits selbstver­ ständlich: der Versicherer leistete in der Praxis maximal auf den tatsächlich ent­ standenen Schaden, bei manchen Seeversicherern unter geringfügigen Abzügen.408 406

§§ 1995–1997 ALR (1794) (zur Überversicherung); §§ 2264, 2268 ALR (1794) (zur Unter­ versicherung); §§ 2000–2010 ALR (1794) (zur mehrfachen Versicherung) (enthalten in der Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl. 1996]). 407 Art. 46 Nr. 1 Alt. 2 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (zur Über­ versicherung); dort auch Art. 43 II a. E., 46 Nr. 2 (zur Unterversicherung); Art. 36 II Nr. 10, 46 Nr. 3 (zur mehrfachen Versicherung) (insgesamt Sammlung-AVB I, 22). 408 Vgl. Art. III Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 29. 12. 1677 (Dreyer [1990], S. 253) (sofortiger Ersatz von 98 % des Schadens, wahlweise nach Wartezeit von zwei Mo­ naten 100 %); Art. 1 Beständige Bedingungen der Hamburgischen Assecuranzcompagnien (1800) (Benecke [2. Aufl. 1810], Bd. 3 S. 35) („alle totalen Schäden zu 100 pCt.“). Speziell zur Feuerversicherung der Assecuranz-Compagnien: Art. 6 Plan der Ersten und Vierten Assecu­ ranz-Compagnie (1765/1772) (ineinander integrierter Abdruck bei Engelbrecht, Bd. 1 [1787], S. 52) (Ersatz von 90 % des Schadens); Policenform unter § 18 Plan der Fünften AssecuranzCompagnie (1789) (Allgemeine Handlungs-Zeitung 1789, 71) (Ersatz von 90 % des Schadens). Vgl. dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 453 ff.; Dreyer (1990), S. 122 f.; Langenbeck (1. Aufl. 1727), § 29 (S. 390 f.).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Sollte sich hingegen der Wert der versicherten Sache schon während der Vertrags­ dauer als niedriger als zunächst angenommen erweisen, so billigten der Versicherer dem Versicherungsnehmer nach maritimem Handelsbrauch den Ristorno, also die Rückerstattung eines proportionalen Prämienanteils zu.409 Die nähere Ausgestaltung dieses Prinzips hat sich aber durchaus gewandelt, wie sich im direkten Vergleich zwischen der Hamburgischen AHO und dem preußi­ schen ALR erkennen lässt. Erstere beschränkte die Leistung des Versicherers auf den tatsächlich nachweisbaren Schaden (Tit. XIII Art. 1);410 gleichzeitig traf sie in Tit. VI Art. 1 Anordnungen, falls der Versicherungsnehmer schon während der Versicherungsdauer bemerkte, dass er sich überversichert hatte:411 „Tit. VI Art. 1. Wer mehr versichern lassen, als er würcklich Antheil und in einem Schiffe hat, und solches auf Erfodern zu erweisen oder allenfalls eydlich zu erhärten im Stande ist, der kan wegen desjenigen, was mehr versichert worden, sich die Prämie, gegen Zurücklas­ sung eines halben pro Cents, ristorniren oder wieder geben lassen. […] Tit. XIII Art. 1. Wer Schaden fodert, muß beweisen, daß er Schaden gelitten habe.“

Expressis verbis verboten war die Überversicherung nach der Hamburger AHO aber gerade nicht: wenn der Versicherungsnehmer die Überversicherung entdeckte – sei es zum Beispiel, weil das Schiff nach dem Vertragsschluss durch natürliche Abnutzung an Wert verloren hatte –, so konnte er lediglich einen An­ spruch auf die Reduktion der Versicherungssumme erheben. In der Folge durfte er auch die proportionale Rückzahlung eines Teils der Prämie erwarten. Sollte er von der Möglichkeit des Tit. VI Art. 1 AHO indes nicht Gebrauch gemacht haben, so zahlte er eben eine überhöhte Prämie, obwohl die Leistung des Versicherers wegen Tit. XIII Art. 1 AHO auf den tatsächlichen Schaden beschränkt war. Es lag, mit anderen Worten, im Eigeninteresse des Versicherungsnehmers, einer Überver­ sicherung möglichst aus dem Weg zu gehen.412 Ein ausdrückliches gesetzliches Verbot der Überversicherung statuierte 1766 erst die preußische AHO, indem sie untersagte, dass sich die Parteien schon zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses auf eine Überversicherung einließen:413 „§ 27. Das Schiff- und Schiffs-Gefäß, oder das sogenannte Casco und Gebäude, kann mit dessen ganzen Ausrehdung, Ausrüstung und Zubehör, mit dem dazu gehörenden Rundholz, den Ankern, Tauen, Segeln, Stücken, Kriegs- und Mund-Bedürfnissen, versichert werden; jedoch muß die Versicherung nicht über den, zur Zeit der Absegelung gewürdigten Werth des Schiffes und gedachter Zugehörungen gehen, und soll der Wert in der Police ausge­ 409 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 305 ff., 318; ein Hauptanwendungsfall dieser Regel war es nach Benecke, wenn ein Schiffer weniger Waren einlud als ursprünglich vereinbart. Vgl. zum Ristorno insgesamt auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 369 f.; Pöhls, Bd. 4/2 (1834), § 638 (S. 477 ff.). 410 Vgl. Dreyer (1990), S. 164; Malß, Betrachtungen (1862), S. 57; ders., ZVersR 1 (1866), 6. 411 Abgedruckt bei Dreyer (1990), S. 267. 412 Befürwortend: Sonnenfels, a. a. O., II 291/292; vgl. auch Hagena (1910), S. 65 f. 413 NCC IV, 83.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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drückt, und die Vergütigung ohne weitere Rechnung und Beweis darnach bestimmt und geleistet werden.“

Falls eine etwaige Überversicherung erst nachträglich, also durch den Wertver­ fall von Schiff oder Ware während der Vertragsdauer eintrat, beließen es die §§ 52, 104 S. 2 PrAHO inhaltlich exakt bei den Vorschriften ihres Hamburgischen Vor­ bildes. Im Gegensatz zu der Hamburger AHO hatte der preußische Gesetzgeber damit bereits zwischen der bei Vertragsschluss vereinbarten Überversicherung und der erst nachträglich eintretenden Überversicherung unterschieden. Bei der Abfassung des EAGB und schließlich auch des ALR gab man jene Unterscheidung im Endeffekt aber wieder auf. Das ALR sprach zum ersten Mal laut den programmatischen Leitsatz aus, dass niemand Bereicherung durch eine Versicherung suchen dürfe (Th. II Tit. 8 § 1983 ALR).414 Sodann hieß es in §§ 1995–1997 ALR415 für alle Zweige der Schadensversicherung, also auch für die Mobiliarfeuerversicherung: „§ 1995. Versicherungen auf Interesse oder Nichtinteresse sind auf keine höhere Summe gültig, als das in der Police angezeigte Interesse wirklich beträgt. § 1996. Wird vom Versicherer nachgewiesen, daß das wirkliche Interesse weniger, als die gezeichnete Summe betrage: so findet verhältnißmäßig das Ristorno statt. § 1997. Dagegen darf, auch bey dieser Art von Versicherungen, ein Mehreres, als die ge­ zeichnete Summe, von dem Versicherer niemals vertreten werden.“

Letztlich hat das Allgemeine Landrecht das Prinzip der beiden seerechtlichen Assekuranzordnungen auf den Kopf gestellt. Anfänglich, in den AHOen, hatte es noch im alleinigen Interesse des Versicherungsnehmers gelegen, Überversiche­ rungen zu verhindern – nämlich, um überhöhten Prämienzahlungen zu entkom­ men, welche in keinem adäquaten Verhältnis zum später ersatzfähigen Schaden standen. Die Konzeption des ALR intendierte stattdessen eher ein vorbeugendes gesetzliches Verbot von Überversicherungen: soweit die Versicherungssumme den Versicherungswert übertraf, war die Versicherung nach § 1995 ALR ipso iure teilnichtig.416 Gleichzeitig wurde aber gem. § 1996 ALR auch die Beweislast für das Vorliegen einer jeglichen Überversicherung dem Versicherer auferlegt. Der preußische Gesetzgeber ging ausweislich der umgekehrten Beweislast davon aus, dass es für den Versicherer selbst günstig und von größtem Interesse sei, wenn er eine Überversicherung aufdeckte und Versicherungssumme sowie Prämie dadurch reduzieren konnte.

414

Entspr. § 1574 EAGB (1785) (Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 [2003]). § 1995 ALR (1794) entspr. § 1584 EAGB (1785); die §§ 1996, 1997 ALR (1794) vertief­ ten den Grundsatz des § 1584 EAGB (1785) weiter, waren aber im Wortlaut noch nicht in der Fassung des EAGB enthalten. 416 Dazu auch Badstübner, ZVersWiss 6 (1906), 66; Malß, Betrachtungen (1862), S. 57; ­Müssener (2008), S. 188. 415

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Mit anderen Worten: hatte beim Hamburgischen Gesetzgeber und in der See­ versicherungspraxis noch das ausgewogene vertragliche Austauschverhältnis im Mittelpunkt gestanden, so ging es im preußischen Recht um die Verhinderung der missbrauchsanfälligen Überversicherung an sich. Jene paternalistische Geisteshal­ tung, die in den §§ 1995–1997 ALR recht subtil, aber doch spürbar zum Ausdruck kam, lag in ihrem Wesenskern übrigens gar nicht weit entfernt von den Anschauun­ gen, die das gedankliche Fundament für die Reglements der preußischen Brandver­ sicherungssozietäten bildeten – nur traten sie im seerechtlich dominierten ALR mit ganz anderen Symptomen hervor als bei der staatlichen Gebäudefeuerversicherung. 2. Die Versicherung bei mehreren Versicherern Besondere Beachtung fand im Allgemeinen Landrecht aber die Versicherung bei mehreren Versicherern, welcher die Th. II Tit. 8 §§ 2000–2010 ALR gewidmet wurden. Die Vorschriften galten für alle Zweige der Schadensversicherung, mach­ ten also keinen Unterschied zwischen Feuer- oder Seeversicherungsrecht. In jedem dieser Versicherungszweige steht die Versicherung bei mehreren Assekuradeuren vor einem gemeinsamen Hauptproblem: wenn die einzelnen Versicherungssum­ men insgesamt den Wert von Schiff oder Ware überschreiten, liegt zugleich eine Überversicherung vor. Inwieweit sollen die einzelnen Versicherungsverträge dann aber überhaupt wirksam sein, wie soll der Gesamtschaden zwischen den einzelnen Versicherern verteilt werden, und ferner: kann eine solche mehrfache Versicherung überhaupt nur mit dem Einverständnis aller Versicherer entstehen? a) Überblick über das Normengeflecht der Th. II Tit. 8 §§ 2000–2010 ALR Auf alle drei Fragen hielt das Allgemeine Landrecht von 1794 eine Antwort bereit.417 Seine vergleichsweise komplexen Bestimmungen zur mehrfachen Versi­ cherung seien hier auszugsweise wiedergegeben und erläutert, bevor an die Unter­ suchung ihres quellengeschichtlichen Ursprungs geschritten wird: „§ 2000. Niemand soll über einen und eben denselben Gegenstand, auf dessen nach § 1984. sqq. zu bestimmenden Werth, mehrere Versicherungen nehmen. § 2001. Wer Versicherung sucht, muß gewissenhaft anzeigen: ob und in welcher Art er bereits an einem andern Orte Versicherung genommen, oder zu deren Schließung Ordre ertheilet habe. § 2002. Wer bey einer solchen Anzeige eine vorsätzliche Unrichtigkeit, zum Schaden des Versicherers, oder eines Dritten begeht, soll außer dem Verluste seines Rechts aus den beyden oder mehrern Versicherungen, als ein Betrüger gestraft werden. 417

Dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 314 f.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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§ 2003. Ist die Anzeige aus grobem oder mäßigen Versehen unterlassen worden: so bleibt nur die älteste Versicherung bey Kräften, und es muß nichtsdestoweniger die bey der jün­ geren Versicherung bedungene Prämie bezahlt werden. § 2004. Das Datum der geschehenen Zeichnung bestimmt, welcher Contrakt der ältere sey, wenn auch die Police ein anderes Datum enthalten sollte. […] § 2007. Hat ein Correspondent ohne Ordre Versicherung für jemand genommen; dieser aber, weil es ihm unbekannt gewesen, einen solchen Vertrag ebenfalls geschlossen: so wird diejenige, welche zuletzt gezeichnet worden, ristornirt. […] § 2008. Ist in den vorstehenden Fällen, §. 2003. sqq., durch den ältern Contrakt eine Summe versichert, die den vollen nach §. 1984. sqq. zu bestimmenden Werth der Sache noch nicht erreicht: so gilt der zweyte auf das an diesem vollen Werthe noch fehlende Quantum; und in Ansehung des Ueberrestes findet die Rückforderung der Prämie nur in dem Falle des §. 2007. statt.“

Im Übrigen bestimmte das Landrecht, dass zwei Versicherungen auf denselben Gegenstand nicht als „mehrfache“ Versicherungen im gesetzlichen Sinne galten, wenn die zweite Versicherung aufschiebend bedingt bzw. befristet war, bis die Versicherungsdauer der ersten abgelaufen war (Th. II Tit. 8 § 2009 ALR) oder bis Schiff und Waren einen bestimmten Reiseabschnitt vollendet hatten, über den hi­ naus die erste Versicherung nicht gelten sollte (§ 2010 ALR) – dann war schließ­ lich nicht das identische Interesse zur selben Zeit von mehreren Assekuradeuren gedeckt.418 In solchen Konstellationen bestand die Gefahr einer übermäßigen Er­ satzleistung gar nicht erst. Der Schwerpunkt der Quellenforschung richtet sich vorliegend auf die recht unsauber formulierten §§ 2000–2004, 2008 ALR. Nach § 2001 ALR musste der Versicherungsnehmer zunächst jede anderweitige Versicherung anzeigen; dabei war es irrelevant, ob die einzeln gezeichneten Summen in Addition den Wert des versicherten Gegenstandes überstiegen oder nicht. Hingegen galten die abgestuften Rechtsfolgen der §§ 2002, 2003 ALR nur für den Fall, dass die beiden Versicherungen zusammen den Versicherungswert über­ schritten.419 War eine solche Versicherung in betrügerischer Absicht geschlossen, so waren beide Verträge nichtig. Demgegenüber war bei nur fahrlässigem Handeln des Versicherungsnehmers nur der jüngere Vertrag nichtig, soweit die addierten 418

Vgl. auch Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 4 S. 322 f.; Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 17 (zum identischen Grundsatz im ADHGB 1861). 419 Das ergibt sich aus dem Wortlaut des § 2002 ALR (1794), der den Versicherungsnehmer nur dann sanktionieren wollte, wenn die Anzeige „zum Schaden des Versicherers“ unterblie­ ben war; ein Schaden droht dem Versicherer aber nur dann, wenn die Versicherungssumme den Versicherungswert überschreitet. Für § 2003 ALR (1794) ergibt sich das Gleiche einerseits wegen der systematischen Nähe zu § 2002 ALR (1794), andererseits aus dem Rechtsgrundver­ weis in § 2008 ALR (1794), der ausdrücklich von der Konstellation sprach, dass die Versiche­ rungssumme des älteren Vertrages „den vollen nach §. 1984. sqq. zu bestimmenden Werth der Sache noch nicht erreicht“.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Versicherungssummen den Versicherungswert überschritten (§§ 2003, 2008). In keinem der beiden Fälle erhielt der Versicherungsnehmer indessen seine Prämie zurück, denn das war nur im Sonderfall des § 2007 ALR möglich.420 Um den materiellen Regelungsgehalt dieser reichlich unübersichtlichen Nor­ men besser zu erfassen, sei ihre Funktionsweise durch ein Beispiel näher veran­ schaulicht. Angenommen, ein Kaufmann möchte sein Warenlager im Wert von 5.000 Talern gegen Feuergefahr versichern. Er zeichnet daher am 20. Juni bei einem Feuerversicherer auf eine Summe vom 3.000 Talern zu einer Risikoprämie von 2 % und leistet dementsprechend sogleich 60 Taler an den Versicherer; zwei Tage nachher will er den Rest seines Warenlagers in Deckung bringen und schließt daher mit einem zweiten Versicherer einen Vertrag über eine Versicherungssumme von 3.000 Talern zu 3 % Prämie – also 90 Taler – ab, wobei er jedoch in der Hektik des Geschäftsbetriebs den aktuellen Wert seines Lagers falsch einschätzt und noch dazu vergisst, dem zweiten Versicherer von der ersten Versicherung Mitteilung zu geben. Im August, als der Kaufmann sich auf einer Reise befindet, zeichnet sein Kommissionär, ohne dazu einen Auftrag erhalten zu haben, nochmals auf eine Summe von 2.000 Talern und bezahlt dafür aus den Mitteln des Kaufmannes eine Prämie von 3 %, wiederum also 60 Taler. Ereignete sich nun ein Brandunglück, das den gesamten Warenbestand vernich­ tete, so könnte der fiktive Kaufmann gem. § 2003 ALR vom ersten Versicherer 3.000 Taler, vom zweiten nur 2.000 Taler und von dritten gar nichts beanspru­ chen – vom letzten Assekuradeur könnte er wegen § 2007 ALR aber immerhin die Prämie zurückfordern, nicht jedoch vom zweiten. Wie stünde es nun aber, wenn der Versicherungsnehmer die ihm nach § 2001 ALR obliegende Anzeige rechtzeitig gemacht hätte? Im Umkehrschluss aus §§ 2002, 2003 ALR blieben beide Verträge „bey Kräften“; doch über das weitere Vorgehen ließ das ALR den Rechtsanwen­ der im Dunkeln. Möglicherweise sollten auf den späteren Versicherungsvertrag in einer solchen Konstellation die unmittelbar vorgelagerten, gerade eben behandelten §§ 1995–1997 ALR zur Überversicherung zur Anwendung kommen; jedoch auch eine verhältnismäßige Haftung beider Versicherer als Teil- oder sogar als Gesamt­ schuldner lässt sich nach dem Wortlaut des ALR nicht ausschließen. Die recht ausführliche, wenngleich in der Rechtsanwendung schwierige Rege­ lung dieses Themenkomplexes spiegelte seine Bedeutung in der Seeassekuranzpra­ xis wider. Den enorm hohen Wert eines Schiffes oder einer gesamten Schiffsladung vermochte selten ein einzelner Seeversicherer alleine zu tragen, und so war die Zeichnung von Policen bei mehreren Assekuradeuren absolut üblich.421 Allerdings hatten die Normen der Hamburgischen und der preußischen Assecuranz- und Ha­ vereyordnung noch weitere Bestimmungen getroffen, die auf den ersten Blick kaum

420

Zu §§ 2000 ff. ALR (1794) insgesamt auch Müssener (2008), S. 190. Ausdrücklich Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 5 (S. 51); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893) S. 32; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 329. 421

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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mit denen des ALR verwandt zu sein scheinen. Im Folgenden lohnt sich daher ein schärferer Blick in die legislatorischen Prozesse, die schließlich zur Genese der §§ 2000 ff. ALR geführt haben. b) Die Hamburgische Seeversicherungspraxis und Gesetzgebung Die Eigenheiten der Seefahrt zwangen die vorgesetzliche maritime Praxis dazu, im Wesentlichen zwei Fallgestaltungen der mehrfachen Assekuranz auseinander­ zuhalten. Entweder wurden alle Versicherungen am selben Seehandelsplatz zur ungefähr gleichen Zeit geschlossen, bis schließlich der ganze oder jedenfalls ein Großteil des Schiffswertes unter Deckung gebracht worden war. In der Hambur­ gischen und preußischen Praxis geschah das meist unter Mithilfe eines Asseku­ ranzmaklers, der die Schiffs- oder Warenpolice von Assekuradeur zu Assekura­ deur trug und so für den Versicherungsnehmer möglichst viele Vertragsschlüsse zu vermitteln suchte. In diesem Falle unterschrieben also sämtliche Versicherer auf derselben Urkunde.422 Demgegenüber konnte sich das Schiff aber auch weit vom Ausgangshafen ent­ fernt aufhalten, ohne dass der Versicherungsnehmer Kenntnis über seinen genauen Zustand erlangen konnte. In dieser zweiten Konstellation besorgte meist ein Kom­ missionär, der sich zusammen mit dem Schiff in einem fremden Hafen befand, die Versicherung von Schiff und Ware. Sollte nun der Versicherungsnehmer, von den Tätigkeiten seines Kommissionärs nicht ins Bilde gesetzt, ebenfalls eine Ver­ sicherung auf die in weiter Ferne befindlichen Gegenstände schließen, so entstand auf diese Weise ebenso eine mehrfache Versicherung, und zwar unbeabsichtigt.423 In der AHO von 1731 fand sich noch die seerechtlich vorgezeichnete Differen­ zierung zwischen der Zeichnung aller Assekuradeure auf derselben Police und der 422

Ein unmittelbarer Nachweis dieser Praxis ist aus zeitgenössischen Berichten möglich, die dabei von einem regelrechten „Gewühl“ an preußischen Seehandelsplätzen sprechen: Moni­ tum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 242 (Büsch zu §§ 1675 ff. EAGB = §§ 2104 ff. ALR); Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 307 („Confe­ renz“) zu §§ 1675 ff. EAGB = §§ 2104 ff. ALR. Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 305, der die Unterzeichnung mehrerer Versicherer auf derselben Police als bereits als ein Spezifi­ kum des Seeversicherungsrechts erkennt; Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 §§ 16, 17 (S. 74, 79 f.); Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 56 (S. 405); Weskett (1781), S. 409 f. 423 Zur Diskussion um diese zweite Konstellation, nämlich der Erteilung einer „Ordre“ an einen Kommissionär: Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 234 (Büsch zu § 1590 EAGB = § 2006 ALR); Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 80 (Gaedertz zu § 1590 EAGB = § 2006 ALR); Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 342 (Sieveking zu § 1590 EAGB = § 2006 ALR). Zur Seeversicherungs­ praxis bei der Zeichnung auf unterschiedlichen Policen vgl.  auch Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 4 S. 318 ff.; Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 17 (S. 79 f.); Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 56 (S. 405); Weskett (1781), S. 409 f.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Zeichnung verschiedener Assekuradeure an verschiedenen Orten.424 Im Wortlaut hieß es dort: „Tit. VI Art. 3. [1] Wann jemand auf einerley Güter, an zween oder mehreren Orten, entwe­ der zu gleicher oder auch unterschiedener Prämie versichern lassen; so soll es nicht in des Assecurirten Wahl und Mächten stehen, welche Assecuranz er ristorniren oder aufheben wolle, auch hierbey auf den Unterschied der Prämie überall nicht gesehen werden; sondern die älteste Police, welche, dem dato nach, zuerst von den Assecurirenden gezeichnet wor­ den, es mögen dieselben mehr oder weniger Prämie als die jüngern und letztern empfangen haben, in ihrer völligen Krafft bleiben, die, dem Dato nach, jüngere oder zuletzt geschehene Assecuranz aber durch das Ristorno wieder aufgehoben, oder da der Assecurirte diesem, was jetzo verordnet, dennoch zuwidern handelte, solche letztere Versicherung von selbst für unverbindlich geachtet und von den darauf befindlichen Asseuradeurn, in allen Fällen, die völlige Prämie einbehalten werden. [2] Woferne aber auf einer und derselben Police und an einem Orte die Unterzeichnung zu unterschiedenen Zeiten von den Assecuradeurs geschehen, so gehet das Ristorno über sie alle insgesamt ohne Unterschied, nach Proportion der von einem jeden gezeichneten Summe, obgleich der eine mehr und der andere weniger Prämie empfangen.“

Der Unterschied zu der andersartigen Konstruktion in Th. II Tit. 8 §§ 2000 ff. ALR wird deutlich, wenn man nur das zum Allgemeinen Landrecht gebildete Bei­ spiel hier fortsetzt – selbstverständlich in der Abwandlung, dass es hier nicht um die Feuerversicherung eines Warenlagers, sondern um die Seeversicherung einer Transportware geht. Der fiktive Kaufmann könnte in jener Fallkonstellation nach Tit. VI Art. 3 I AHO zunächst auch vom ersten Versicherer 3.000 Taler, von zweiten 2.000 Taler und vom dritten gar nichts an Schadensersatz verlangen – allerdings käme es dabei gar nicht erst darauf an, ob er die mehrfache Versicherung zur An­ zeige gebracht hätte oder nicht. Darüber hinaus dürfte der Kaufmann seine Prämie vom dritten Assekuradeur in voller Höhe und vom zweiten immerhin zu 1/3, also in Höhe von 30 Talern, zurückfordern. Noch deutlicher wird der Unterschied zum preußischen Landrecht indes, wenn man sich vorstellt, die beiden älteren Versicherungen vom 20. und 22. Juni seien zustande gekommen, indem beide Versicherer in Hamburg auf demselben Policen­ dokument gezeichnet hätten, wie es in der Seeversicherung häufig passierte. Dann wären jene beiden Assekuradeure gem. Tit. VI Art. 3 II AHO zur Haftung auf je 2.500 Taler verbunden, müssten aber zugleich jeweils ¹⁄6 der geleisteten Risikoprä­ mien ristornieren. Der dritte Versicherer, der erst im August auf einer ganz anderen Police unterschrieben hat, würde aber im Verhältnis zu den beiden ersten Versiche­ rern noch immer als späterer Versicherer gelten und wäre daher nicht zum Scha­ densersatz verbunden, sondern müsste lediglich die volle Prämie zurückzahlen.425

424

Dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 305 ff.; Dreyer (1990), S. 142. Zu einem ähnlichen Beispiel vgl. Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 19 (aus Sicht des insoweit mit der AHO übereinstimmenden ADHGB von 1861). 425

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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c) Fortschreitende Verfremdung der seeversicherungsrechtlichen Dogmatik im preußischen Recht Jene seerechtlich veranlasste Differenzierung machte sich die preußische AHO zueigen. Allerdings geriet die Fallunterscheidung dort schon schematischer. Unter dem preußischen Assekuranzrecht lautete das maßgebliche Unterscheidungskri­ terium nur noch, ob die einzelnen Versicherungsverträge zur gleichen Zeit oder nacheinander abgeschlossen worden waren, ohne dass es dabei länger auf den Ort des Vertragsschlusses oder die Anzahl der Policen ankam.426 Noch abstraktere Regeln brachte anschließend der Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches mit sich. Die grundsätzliche Struktur der AHOen blieb zwar noch erkennbar, doch erklärte man die bisherige Vorgehensweise bei nacheinander ge­ schlossen Policen zum alleinigen gesetzlichen Leitbild. Die Regeln zur gleichmä­ ßigen Haftungsverteilung über alle Assekuradeure waren in Th. I Abt. II §§ 1591, 1592 EAGB hingegen zur bloßen Zweifelsregelung degradiert worden. Die wesent­ lichen Bestimmungen des EAGB waren am Ende schon weit von der praxisnahen Gestaltung der Hamburger AHO abgerückt: „§ 1586. Niemand soll, über einen und eben denselben Gegenstand, nach dessen vollen Werth, mehrere Versicherungen schließen. § 1587. Ist solches dennoch geschehen, so bleibt nur die älteste bey Kräften. § 1588. Das Datum der Zeichnung bestimmt, welcher Contrakt der ältere sey. […] § 1591. Sind mehrere Versicherungen dergestalt zu gleicher Zeit geschlossen, daß nicht bestimmt werden kan, welches die ältere sey, so sind dieselben zwar insgesammt gültig. § 1592. Es wird aber die von jedem gezeichnete Summe, nach Verhältniß der von allen ge­ zeichneten, gegen den vollen Werth der versicherten Sache, herunter gesetzt.“

Was mag den preußischen Gesetzgeber aber bewogen haben, sich von der see­ kaufmännischen Gewohnheit, die praxisnah zwischen der Zeichnung auf einer und der Zeichnung auf mehreren Policen unterschieden hat, so beträchtlich zu entfernen? Wieso also stellte der EAGB nur noch viel abstrakter darauf ab, ob die Versiche­ rungsverträge gleichzeitig oder nacheinander geschlossen worden waren? Die Ge­ danken des Gesetzgebers lassen sich wieder aus einer redaktionellen Fußnote zu § 1592 EAGB nachvollziehen. Die Anmerkung dokumentierte den Versuch, die handelsrechtlich-pragmatisch entwickelten Gewohnheiten in die dogmatischen Kategorien des gemeinen Rechts einzuordnen. So merkte der Entwurfsverfasser des EAGB mit Bezug auf die Vorgängernorm, § 109 PrAHO, in jener Fußnote wörtlich an:427 „Diese nähere Bestimmung des §. 109. der Assekuranzordnung gründet sich darauf, daß zwischen mehreren Versicherern, die zur gleichen Zeit gezeichnet haben, eine Societas 426 427

§§ 107–109 PrAHO (1766). Redaktionelle Fn. im Originaltext zu § 1592 EAGB (1785).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

incidens obwaltet, vermöge deren sie, alle zusammen, jedoch nur auf den einfachen Werth der versicherten Sache, und jeder von ihnen nur nach Verhältniß der von ihm gezeichneten Summe, verhaftet sind.“

Die societas incidens – die „Zufallsgemeinschaft“ – wurde im gemeinen Recht meistens benutzt, um zu beschreiben, wie sich die Kosten und der Ertrag einer Sache zwischen mehreren Miteigentümern verteilte.428 Wenn der preußische Ge­ setzgeber dieses Rechtsinstitut für die mehrfache Assekuranz fruchtbar machte, so bedeutete das im Endeffekt, dass mehrere Versicherer, die zur gleichen Zeit gezeichnet hatten, als Teilschuldner nach Proportion der gezeichneten Summen haften sollten, und zwar völlig unabhängig von den tatsächlichen Begleitumstän­ den der Vertragsschlüsse. Dieser dogmatisierenden Neuordnung der gewohnheitsrechtlichen Materie fügte der preußische Gesetzgeber in §§ 1596–1599 EAGB noch eine völlig neue Zutat hinzu, die den beiden AHOen noch gefehlt hatte: die ausdrückliche Verpflichtung des Versicherungsnehmers, dem Assekuradeur eine jede anderweitige Versiche­ rung anzuzeigen. Dabei war es gleichgültig, ob die Einzelverträge in summa den Versicherungswert überschritten oder nicht:429 „§ 1596. Jeder, welcher Versicherung sucht, ist schuldig, demjenigen, welcher sich mit ihm einlassen will, gewissenhaft anzuzeigen: ob und auf wie hoch er bereits an einem anderen Ort Versicherung genommen, oder zu deren Schließung Order ertheilt habe. § 1597. Unterläßt er diese Anzeige, und die geschlossene Versicherung ist nach obigen Vor­ schriften (§. 1586. sqq.) ungültig, so behält der Versicherer die Prämie. § 1598. Hat er bey der Anzeige eine vorsätzliche Unrichtigkeit, zum Schaden des Versi­ cherers, oder eines Dritten begangen; so muß er, noch außerdem, als ein Betrüger gestraft werden. § 1599. Ist aber, zur Zeit der gezeichneten Versicherung, die Existenz der ersten dem Ver­ sicherer noch unbekannt gewesen, so findet das Ristorno statt. (§. 1865.)“

Insbesondere knüpften §§ 1597–1599 EAGB also schon an die Unterlassung der Anzeige an sich eine eigenständige Rechtsfolge, die noch den beiden AHOen unbe­ 428

Kaser, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), § 99 (S. 410 ff.) (zum Miteigentümerverhältnis), § 138 (S. 590 f.) (zur Bruchteilsgemeinschaft); Puchta (9. Aufl.  1863), § 373 (S. 556 f.); von Vangerow, Bd. 3 (7. Aufl. 1869), § 657 (S. 485 f.). Die Autoren sprechen insoweit von der römisch-rechtlichen „communio incidens“, nicht von der „societas incidens“; dass das ALR hier stattdessen von einer „societas“ redete, passt aber zu dem Befund von Kaser, Bd. 2 (2. Aufl. 1975), § 267 (S. 409), der anmerkt, dass bei der vulgarrechtlichen Rezeption des römischen Rechts seit dem Mittelalter die Kategorien der „societeas“ und der „communio“ indifferent miteinander vermengt worden seien. 429 Dass es in Ansehung dieser Anzeige keine Rolle spielte, ob der Versicherungswert von der Summe aller Versicherungen überschritten wurde, ergibt sich e contrario aus § 1597 EAGB: der Prämienverfall traf den Versicherungsnehmer nur, wenn er die Anzeige unterließ und gleichzeitig die Voraussetzungen der §§ 1586 ff. (mehrfache Versicherung oberhalb des Ver­ sicherungswerts) vorlagen. Die Anzeige an sich war e contrario jedoch schon in jedem Fall einer Versicherung bei mehreren Assekuradeuren notwendig.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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kannt gewesen war. Aber was veranlasste den preußischen Gesetzgeber dazu, eine solche Regelung aufzunehmen, wenn eine solche im bisher kodifizierten Seever­ sicherungsrecht kein Vorbild hatte? Weder den Hamburgischen Assecuranz-Com­ pagnien, die vor Veröffentlichung des EAGB auf Feuergefahr gezeichnet hatten, noch den meisten englischen Versicherungsgesellschaften waren solche ausdrück­ lichen Vorschriften zur Anzeige einer Mehrfachversicherung bekannt. Wenn man in Anbetracht dessen nun reflexartig glauben möchte, es handele sich bei diesen Bestimmungen um eine Eigenschöpfung des preußischen Gesetzgebers, so muss man diesen Befund auf den zweiten Blick doch stark einschränken. Auch in der Zeit vor dem ALR dürften die Assekuradeure ein lebhaftes Inte­ resse daran gehabt haben, von anderen Versicherungen auf denselben Gegenstand zu erfahren. Alleine wenn – wie in der Seeversicherungspraxis üblich – alle Ver­ sicherer mithilfe eines Assekuranzmaklers auf derselben Police unterzeichneten, musste jedoch jedem Beteiligten ohnehin klar gewesen sein, dass er sich auf einen mehrfach versicherten Vertragspartner einließ. Anderes mag in der zweiten hier erörterten Fallgestaltung gelten, namentlich wenn mehrere Assekuradeure in ver­ schiedenen Erdteilen auf dasselbe Schiff zeichneten, ohne überhaupt miteinander in Kontakt treten zu können. In der ersten Konstellation dürfte ein ausdrücklich formuliertes Anzeigeerfordernis überflüssig gewesen sein – in der zweiten wäre es sinnlos gewesen. Ausgerechnet einige Feuerversicherer verlangten gegen Ende des 18. Jahr­ hunderts in ihren Policen aber wirklich eine entsprechende Anzeige  – so zum Beispiel das englische Sun Fire Office, das in einer um 1781 gebrauchten Police bestimmte:430 „Cl. 5. To prevent frauds, persons insured by this office shall receive no benefit from their policies, if the same houses or goods, &c. are insured in any other office, unless such insurance be first specified and allowed by an indorsement on the back of the policy, in which case this office will pay their ratable proportion on any loss or damage; […]“

Ein direkter Einfluss der englischen Feuerversicherungspraxis auf den EAGB lässt sich damit freilich nicht eindeutig nachweisen. Letzten Endes dürfte der preu­ ßische Gesetzgeber vielmehr auf ein allgemeines Bedürfnis reagiert haben, das in der internationalen Versicherungspraxis weit verbreitet war, wenngleich es auch nur in seltenen Fällen einen schriftlichen Ausdruck gefunden hatte. Der eigene Ver­

430

Abgedruckt bei Weskett [1781], S. 538. Ähnliche Klausel für die Feuerversicherung finden sich gegen Ende des 18. Jhdts z. B. unter Art. 11 Terms of Union Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 558); Policenform unter § 18 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789) (All­ gemeine Handlungs-Zeitung 1789, 71) (Nichtigkeit der Versicherung, falls die Anzeige einer anderweitig geschlossenen Versicherung unterlassen wird); Art. 5 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1786) (Krügelstein [1800], Bd. 3 § 31 [S. 98]); Policy of Royal Exchange Assurance (1800) (Marshall [1805], Appendix VII, S. 724) (ohne fortlaufende Artikelnumme­ rierung). Dazu auch Haines (1926), S. 151.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

dienst des EAGB ist es, die Bestimmungen zur Anzeige explizit auszuformulieren und vor allem mit einer differenzierten Rechtsfolgenanordnung zu versehen. Die konkrete Differenziertheit dieser Rechtsfolgen konnte der preußische Gesetzgeber tatsächlich nicht auf Vorbilder in der vorgesetzlichen Praxis stützen. d) Das ALR als Schlusspunkt eines langwierigen Entwicklungsprozesses In der Endfassung des ALR brach die Unterscheidung zwischen der gleich­ zeitig geschlossenen und der nacheinander geschlossenen Versicherung bei meh­ reren Assekuradeuren endgültig weg. Allenthalben in der kasuistisch wirkenden Spezialvorschrift des § 2007 ALR spiegelte sich noch schwach die seerechtlich geprägte Fallgruppe wider, in welcher ein „Correspondent ohne Ordre“ eine an­ derweitige Versicherung abschloss, ohne mit dem Versicherungsnehmer kommu­ nizieren zu können. Von dem ursprünglichen System des Hanseatischen Seeversi­ cherungsrechts hatten sich die PrAHO, der EAGB und schließlich das ALR damit Schritt für Schritt abgelöst, bis die Verwandtschaft des Preußischen Landrechts mit der Hamburgischen AHO für einen unbefangenen Betrachter kaum noch sicht­ bar war. Das ALR hat den materiellen Regelungsgehalt der EAGB-Vorschriften noch­ mals kräftig modifiziert. Die maßgeblichen Impulse hierzu gingen von den zu diesem Regelungskomplex zahlreich eingegangenen „Monita“ aus. Hervorzuheben ist vor allen Dingen, wie das Landrecht in den vor Kurzem zitierten §§ 2002, 2003 eine abgestufte Rechtsfolgenregelung konstruiert hat, die in den Vorgängernormen des EAGB431 noch nicht vorhanden war. Im Falle einer betrügerischen Mehrfachversicherung oberhalb des versicherbaren Interesses (§ 2002 ALR) sah das Landrecht nicht bloß die Nichtigkeit des jüngeren Versi­ cherungsvertrages vor, sondern bestimmte, gewissermaßen als abschreckende Vorsichtsmaßnahme, den Rechtsverlust aus beiden Versicherungsverträgen. Eine derart strenge Strafmaßnahme sah kein anderes europäisches Seeversicherungs­ gesetz vor – sie steht exemplarisch für den preußischen Paternalismus, der auch das Versicherungsrecht des ALR durchzog.432 Genau eine solche strikte Regelung hatte der Assekuradeur Gaedertz in einem Monitum zu § 1598 EAGB gefordert;433 die ureigenen Interessen der Versicherer und das Interesse des Gesetzgebers liefen hier also parallel, jedoch ohne dass die finale Fassung des § 2002 ALR eine Ent­ sprechung in der vorgesetzlichen Versicherungspraxis fand.

431

Insbesondere § 1586, 1587 EAGB. Kritisch dazu Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 396. 433 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 81 (Gaedertz zu § 1598 ALR) mit zustimmender Anmerkung des Redaktors Baumgarten („verdient Rücksicht“). 432

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Im Gegensatz dazu ordneten §§ 2003, 2008 ALR die – ggf. teilweise – Nichtig­ keit des jüngeren Versicherungsvertrages an, falls der Versicherungsnehmer die Anzeige aus bloßer Fahrlässigkeit unterlassen hatte. Auch diese Vorschrift stand in Zusammenhang mit einem Monitum, das zum EAGB von 1784 eingegangen war. Johann Georg Büsch hatte angeregt, die Versicherung bei mehreren Versi­ cherern nicht nur bei nachgewiesenem Betrug zu pönalisieren, sondern auch bei rein fahrlässiger Unkenntnis; sonst werde sich der Versicherte im Streitfall schließ­ lich immer auf seine „ignorantiam invincibilem“ (§ 1599 EAGB) berufen.434 Das ALR hat diesen Wunsch in die Tat umgesetzt. Bemerkenswert ist indes, wie nach dieser Umgestaltung nunmehr überhaupt keine Rechtsfolge mehr vorgesehen war, falls die mehrfache Assekuranz ordnungsgemäß angezeigt oder die Anzeige völlig schuldlos unterlassen wurde.435 Am Ende dieser Untersuchung über die mehrfache Versicherung lässt sich also das Bild eines Gesetzgebers zeichnen, der sich im Grundsatz auf die zugrundelie­ gende seeversicherungsrechtliche Praxis stützte, wie sie auch in der AHO von 1731 ihren Ausdruck gefunden hatte. Jedoch überformte er sämtliche Bestimmungen so ausgiebig mit dogmatischen und paternalistischen Erwägungen, dass die ver­ sicherungsrechtliche Literatur um 1800 davon ausgehen konnte, es handelte sich bei den §§ 2000 ff. ALR um eine ausschließlich preußische Sonderregelung, die von allen übrigen Seeversicherungsgesetzen Europas abweiche.436 Am Ende dieses Prozesses erschienen die Regeln in manchen Punkten sogar als lückenhaft oder inkonsequent. Auch am Beispiel dieser, erst in der Endfassung des ALR zu Tage tretender Unzulänglichkeiten lässt sich erahnen, wie der Gesetzgeber teilweise ohne nennenswerte Vorbilder aus der Praxis versucht hat, das Versicherungsrecht in eigener Regie zu formen und zu dogmatisieren. 3. Die Unterversicherung Viel weniger Anlass zu gesetzgeberischen Eingriffen lieferten die Regelun­ gen zur Unterversicherung. Betrug oder Missbrauch der Versicherung waren in dieser Konstellation ausgeschlossen. Entsprechend knapp bestimmte der preußi­ sche Gesetzgeber in Th. II Tit. 8 §§ 2264, 2268 ALR für die Schiffskargo- und Warenversicherung:437

434

Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 234 (Büsch zu § 1599 EAGB = § 2009 ALR). 435 Insbesondere bezog sich die Rechtsfolge des § 2008 ALR (1794) per Rechtsgrundverweis nur auf den Fall des § 2003 ALR (1794), also auf die fahrlässig herbeigeführte mehrfache Versicherung. Zu dieser inhaltlichen Schwäche des ALR, vgl. schon das Fallbeispiel unter § 2 D IV 2 a. 436 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 314. 437 § 2268 ALR (1794) entspr. § 1810 EAGB (1785). Eine dem § 2268 ALR (1794) entspre­ chende Regelung für die Schiffskaskoversicherung sah der EAGB allerdings noch nicht vor.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

„§ 2264. Ist der vormalige Werth des Schiffes in der Police bestimmt, und nicht voll versi­ chert: so wird der Schade nur nach Verhältniß der gezeichneten Summe vom Versicherer vergütet. […] § 2268. Beträgt die gezeichnete Summe weniger, als der nach vorstehenden Grundsätzen auszumittelnde Wert der Waaren: so muß der Schade zwischen beyden Theilen, nach Ver­ hältniß des Versicherungsquanti zum ausgemittelten Werthe, vertheilt werden.“

Sowohl bei Schiffen als auch bei Waren folgte der Gesetzgeber damit der soge­ nannten Proportionalitätsregel.438 Dem Wortlaut nach war jedenfalls § 2268 ALR nicht nur auf see-, sondern auch auf feuerversicherte Waren anwendbar. Ein letztes Beispiel mag diesen Mechanismus erläutern: man stelle sich etwa vor, ein Waren­ lager habe zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses zunächst einen Wert von 5.000 Ta­ lern besessen, der Versicherungsnehmer habe dabei aber nur auf die Summe von 3.000 Talern gezeichnet. Wenn nun der Wert der Waren durch natürliche Fäulnis439 bis zum Versicherungsfall auf 4.000 Taler gesunken wäre und schließ­ lich ein Lagerbrand einen Schaden von 2.000 Talern angerichtet hätte, so müsste der Versicherer nicht die volle Versicherungssumme von 3.000 Talern auszahlen. Stattdessen müsste die Versicherungssumme ins Verhältnis zum Versicherungs­ wert gesetzt und dann ein entsprechender Bruchteil des Schadens vergütet wer­ den. Im vorliegenden Beispiel belief sich die Versicherungssumme im Moment des Brandes440 noch auf eine Quote von 75 % des versicherten Warenwertes, und dementsprechend hätte der Versicherte gegen den Versicherer einen Anspruch in Höhe von 1.500 Talern geltend machen können. Der Grund für diese proportionale Schadenskürzung lag darin, dass der Asse­ kuradeur typischerweise nur ein proportional niedrigeres Risiko übernehmen wollte, wenn er eine Unterversicherung abgeschlossen hatte und infolgedessen auch nur einen entsprechenden Bruchteil der Versicherungsprämie erhielt. Die seeversicherungsrechtliche Proportionalitätsregel diente damit im Endeffekt der Aufrechterhaltung des vertraglichen Synallagmas. Jenes Rechenprinzip war schon vor dem Inkrafttreten des Allgemeinen Land­ rechts in der deutschen und der internationalen Praxis anerkannt, wenngleich es in

438 Zur „Proportionalitätsregel“ auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 535; Malß, Betrach­ tungen (1862), S. 57 f.; ders., ZVersR 1 (1866), 6, 14; Müssener (2008), S. 249; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 685 (S. 685). 439 Schäden, die an versicherten Waren durch natürlichen Verderb entstanden, waren nach §§ 2222, 2223 ALR (1794) nicht vom Versicherer zu ersetzen; vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 233 ff., 250 f. 440 Dass hierbei tatsächlich der Versicherungswert zur Zeit des Unfalles und nicht bei Ver­ tragsschluss maßgeblich war, ergibt sich schon daraus, dass §§ 2264, 2268 ALR (1794) im sys­ tematischen Kontext der Vorschriften zur „Berechnung des Schadens“ standen, die sämtlich eine Wertberechnung nach Eintritt des Unglücksfalles zum Gegenstand hatten. Etwas anderes galt gem. § 2264 ALR (1794) nur, wenn bei Schiffskaskoversicherungen „der vormalige Werth des Schiffes in der Police bestimmt“ war.

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den Vertragswerken nicht immer ausdrücklich zur Sprache kam441 und nicht einmal in der Hamburgischen oder preußischen AHO Erwähnung gefunden hatte. Selbst außerhalb des Seeversicherungsrechts, beispielsweise im Feuerversicherungsplan der Fünften Assekuranz-Compagnie, hieß es, die volle Schadenssumme könne nur ersetzt werden, „vorausgesetzt, daß ihr völliger Werth durch sie versichert sey, sonst in dem Verhältniß der versicherten Summe zu dem Werth“.442 Vorliegend hat der Gesetzgeber also wirklich bloß ein handelspraktisch gewachsenes Rechtsinstitut abgebildet, ohne weitergehende Änderungen vorzunehmen. 4. Die rudimentäre schadensversicherungsrechtliche Praxis im frühen 19. Jahrhundert Wie schon eingangs bemerkt, unterzogen die AVB der Berlinischen, der Gothaer oder der Aachener – so wie die meisten späteren Feuerversicherungsbedingungen – den Problemkreis „Über-, Unter- oder mehrfache Versicherung“ nur einer ganz ru­ dimentären Regelung, die nichts von den zahlreichen Erwägungen des preußischen Gesetzgebers erahnen ließ. In den Feuerversicherungsbedingungen der Berlini­ schen Anstalt von 1812 hieß es zu dem ganzen Themenkomplex zum Beispiel nur: „Art. 36. […] [2] Der Versicherungsantrag muß enthalten: […] 10. Ist oder wird der zu ver­ sichernde Gegenstand noch anderweitig versichert, so muß davon ausführliche Anzeige ge­ macht und der Police (siehe unten) beigefügt werden, bei Strafe der Ungültigkeit der Police. Art. 46. Der Schadenersatz wird nach folgenden Grundsätzen geleistet: 1. Ist der wirkliche Wert oder mehr versichert, so wird der ganze Schaden bezahlt. 2. Ist nicht der volle Wert versichert, so wird nur der Schaden im Verhältnis des vollen Werts zur versicherten Summe vergütet. 3. Ist derselbe Gegenstand noch anderweitig versichert, so vergütet die Anstalt nur so viel als auf ihren Anteil fällt.“

Ähnlich sporadische Klauseln kamen schon in den „Propositiones“ der London Phoenix vor,443 welche zumindest den Schöpfern der Berlinischen Feuerversiche­ rungs-Anstalt gut bekannt waren. Die deutschen Feuerversicherungsbeding­ungen des gesamten 19. Jahrhunderts verwendeten schließlich in größter Gleichförmig­

441

Die Regel scheint so selbstverständlich gewesen zu sein, dass sie nur selten ausgesprochen, sondern höchstens angedeutet oder vorausgesetzt wurde. Vgl. z. B. Büsch, Theoretisch-Prakti­ sche Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 22 (S. 85 f.), wo ein Rechenbeispiel unter Anwendung der „Proportionalitätsregel“ gebildet wird. 442 Policenmuster unter § 18 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789). 443 Art. 10 S. 2 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1786) (Über- und Unterver­ sicherung), ebd. Art. 5 (Anzeige einer anderweitigen Versicherung); inhaltlich identisch auch § 28 Nr. 1 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 278) (Überversicherung, Bereicherungsverbot), ebd. § 28 Nr. 1 S. 5 (Unterversiche­ rung, Proportionalitätsregel), § 26 S. 1 Hs. 2 (Haftungsverteilung unter mehreren Versiche­ rern), § 14 S. 2 Nr. 2 lit. c (Anzeige der anderweitigen Versicherung); zu diesen Regelungen auch ­Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 535.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

keit ähnliche Klauseln zur Überversicherung,444 Unterversicherung445 und mehr­ fachen Versicherung,446 wie sie die London Phoenix oder die Berlinische Feuer­ versicherungs-Anstalt vorgegeben hatten. Eine unmittelbare Rezeption des preußischen Landrechts mit seinen komplexen Regelungen vor allem zur mehrfachen Versicherung lässt sich hierbei freilich nicht erkennen. Im Gegenteil mussten besonders die preußischen Th. II Tit. 8 §§ 2000 ff. ALR auf die Praktiker einen so fremdartigen Eindruck gemacht haben, dass Wilhelm Benecke sie für ein exotisches preußisches Sonderrecht hielt.447 Augen­ scheinlich wollte die Feuerversicherungspraxis des frühen 19. Jahrhunderts nicht mit solchen Bestimmungen arbeiten, sondern hielt sich lieber an die knappen und pragmatischen Klauseln englischer Versicherer.

V. Die Zahlung der Versicherungsprämie und der Umgang mit Prämienrückständen Die Zahlung der Versicherungsprämie ist die einzige Hauptleistungspflicht des Versicherungsnehmers – und damit die einzige Leistung, die der Versicherer auf prozessualem Wege einklagen kann.448 Im vertraglichen Versicherungsrecht des 19. Jahrhunderts ist es allerdings üblich geworden, den Versicherer noch durch 444

§ 3 I lit. a Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Sammlung-AVB I, 6); § 14  I AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Sammlung-AVB  I,  26); Art. 60 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (SammlungAVB I, 14) (Verbot der Taxation oberhalb des wahren Wertes); Art. 4 S. 2, 19 S. 1 AVB Bayeri­ sche Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30) (inkl. präventivem Verbot der Überversicherung); §§ 10 I, 11 S. 3 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34); § 7 S. 1, 3 Verbands-AVB Deutscher Privat-FeuerversicherungsGesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38). 445 §§ 34 lit. e S. 2, 39 I lit. b Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (re­ dundante Regelung); § 14 I AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825); Art. 119 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828); Art. 19 S. 2 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 11 S. 2 AVB Magdeburger Feuerversi­ cherungs-Gesellschaft (1845); § 7 S. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-FeuerversicherungsGesellschaften (1874). Vgl. auch Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 13 f. (mit Verweis auf die damals gültigen AVB der „Providentia“). 446 § 24 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Anzeige einer ander­ weitigen Versicherung), ebd. § 39 I lit. c (Haftungsverteilung unter mehreren Versicherern); §§ 7, 8 S. 1 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Anzeige und Haftungs­ verteilung); Art. 10 I AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Anzeige), ebd. Art. 19 S. 3 (Haftungsverteilung); §§ 6 S. 2, 7, 8 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1845) (Anzeige), ebd. § 11 S. 1 (Haftungsverteilung); §§ 4, 5 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Anzeige), ebd. § 7 S. 2 (Haftungsverteilung). Vgl. auch Müssener (2008), S. 191 (zur „Aachener“). 447 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 314. 448 So auch nach heutigem Recht: Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1578; Bruns (2015), § 15 Rn. 3; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 184; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 508.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

201

weitere Vorsichtsmaßnahmen vor Zahlungsrückständen des Versicherungsneh­ mers zu schützen. Dabei unterschied die ganz überwiegende Zahl der AVB zwi­ schen der ersten, bereits bei Vertragsschluss fälligen und allen weiteren, laufenden Prämien. Das Allgemeinen Landrecht kodifizierte in Th. II Tit. 8 §§ 2104–2116 die Prä­ mienzahlung hauptsächlich aus dem Blickwinkel der Seeversicherung; einige Vorschriften waren jedoch unterschiedslos auf alle anderen Versicherungszweige anwendbar. Sie alle behandelten die Frage des Prämienrückstandes jedoch voll­ kommen anders als die spätere Praxis der Binnenversicherer. Selbst die rechtliche Trennung zwischen der ersten und den darauffolgenden Prämien war dem ALR noch fremd. In der rechtsdogmatischen Entwicklungsgeschichte der Prämienzah­ lungsvorschriften trat also mit dem Aufkommen der ersten Privatversicherungs­ gesellschaften eine scharfe Zäsur ein. 1. Die Th. II Tit. 8 §§ 2104–2116 ALR: ein Ausdruck lebendiger Seeversicherungspraxis Dass die Zahlung der Versicherungsprämie im Allgemeinen Landrecht noch eine ganz andere rechtliche Gestaltung gefunden hatte, rührte von dessen see­ versicherungsrechtlich geprägtem Charakter her. Neben einigen alleine auf die Seeversicherung anwendbaren Vorschriften, die hier nicht zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden, sah das ALR zu Prämienzahlung und Prämienrück­ stand unter anderem vor:449 „§ 2104. Der Versicherte ist hauptsächlich zur Entrichtung der versprochenen Prämie ver­ bunden. […] § 2109. Ist keine spätere Frist festgesetzt: so muß die Zahlung der Prämie bey Aushändigung der unterzeichneten Police erfolgen. § 2110. Wird die Zahlung verzögert: so kann der Säumige dazu, binnen Dreyßig Tagen nach der Zeichnung im Executivprozesse angehalten werden; und muß zugleich von der Prämie Eins vom Hundert monathlich an Zinsen bezahlen. (§. 2067.)“

Versicherungen mit laufenden Prämienzahlungen waren dem Seeversicherungs­ recht noch unbekannt, denn die Versicherung gegen Seegefahr war nur für die Dauer einer einzelnen Schiffsreise, manchmal noch für die Dauer der Rückreise konzipiert.450 Eine auf längere Zeitdauer angelegte Versicherung, die in ebenmä­ 449

Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). Zu den §§ 2109, 2110 ALR (1794) s. auch Duvinage (1987), S. 170; Müssener (2008), S. 206 f. 450 Die Versicherung dauerte dabei in der Regel vom Einladen bis zur „Löschung“ der Warenla­ dung: Tit. V Art. 11–13 AHO (1731) (Dreyer [1990], S. 267); §§ 53, 54 PrAHO (1766) (NCC IV, 83); §§ 2179–2183 ALR (1794). Sehr detailliert Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 2 S. 202 ff.; Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 12 (S. 66); Dreyer (1990), S. 139 f.; Hagena (1910), S. 64; Langenbeck (1. Aufl. 1727), IV § 47 (S. 401 f.).

202

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

ßige Versicherungsperioden unterteilt werden konnte, existierte dort nicht.451 Der Versicherungsnehmer schuldete dementsprechend eine einmalige Prämienzahlung für die gesamte Versicherung, sodass eine etwaige Differenzierung zwischen Erstund Folgeprämien der gesamten Seeassekuranz denkbar fern lag.452 Wenn der Versicherungsnehmer seine Einmalprämie schuldig blieb, änderte dies nichts am Bestand des Vertrages, sondern hatte lediglich die Folge, dass der Asse­ kuradeur die verzinste Prämie im „Executivprozess“ einfordern konnte. Dass die Prämienzahlung keinerlei Einfluss auf Bestand oder Nichtbestand des Vertrages hatte, entsprach einer internationalen Handelsgewohnheit, die sogar in der eng­ lischen Literatur beschrieben wurde.453 Entsprechend ruhig und gleichförmig haben sich die behandelten Vorschriften in der preußischen Gesetzgebung entwickelt. Die Fälligkeits- und Zinsregelung in Th. II Tit. 8 §§ 2109, 2110 ALR war seit der preußischen AHO von 1766 ein Teil der Seeversicherungsgesetze gewesen454 und tauchte in derselben Form auch schon im Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches auf.455 Bloß die Anordnung des „Executivprozesses“ hatte der EAGB noch nicht gekannt und stattdessen in Th. I Abt. II § 1677 noch ein gewöhnliches Gerichtsverfahren vorgesehen. Keine aus­ drücklichen Regeln zur Prämiensäumnis hatte indessen die AHO der Hansestadt Hamburg aufgestellt; der Hamburger Gesetzgeber hat für entsprechende Maßnah­ men angesichts der flächendeckend verbreiteten Praxis anscheinend nicht einmal ein Regelungsbedürfnis gesehen. Kontrovers diskutiert wurde während der Gesetzgebungsarbeiten allerdings eine Regelung, die sich mit der Quittierung der erhaltenen Versicherungsprämie 451

So ausdrücklich auch Neugebauer (1990), S. 34. Vgl. Art. I Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 29. 12. 1677 (Dreyer [1990], S. 253) und Art. VI Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 17. 03. 1697 (Dreyer [1990], S. 256) (Zahlung einer Einmalprämie, Absicherung durch Vertragsstrafe zugunsten lokaler Armenhäuser); vgl. auch Art. 21 lit. c S. 1 Beständige Bedingungen der Hamburgischen As­ securanzcompagnien (1800) (Benecke [2. Aufl. 1810], Bd. 3 S. 35), wonach sämtliche Prämien „en masse“ am 30. Juni und am 31. Dezember eingezogen wurden; ähnlich auch Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 344 (Sieveking zu § 1676 EAGB = § 2109 EAGB), wo von einer quartalsweisen Einziehung sämtlicher Prämien „en masse“ berichtet wird. Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 359 f.; Neugebauer (1990), S. 34. 453 Vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 361 f.; Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 10 (S. 60 f.); Marshall (1. Aufl. 1805), S. 240 („payment or non-payment of the premium therefore can have no effect upon the insurance“); Weskett (1781), S. 407. So auch Art. VI Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 17. 03. 1697; Art. I Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 22. 12. 1704 (reine Vertragsstrafe bei Prämienrückstand); Art. 21 lit. c S. 3 Beständige Bedingungen der Hamburgischen Assecuranzcompagnien (1800) (gerichtliche Einklagung der Prämie oder Ausstellung einer Unterwerfungserklärung, aber keine Vertragsbeendigung). Vgl. dazu auch Müssener (2008), S. 196. 454 § 92 PrAHO (1766) (Fälligkeitsregel), § 97 PrAHO (1766) (Verzinsung der rückständigen Prämie). 455 § 1677 EAGB (1785) (Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 [2003]) (Fälligkeit und Verzinsung). 452

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

203

beschäftigte. § 2214 ALR machte es dem Assekuradeur de facto möglich, die er­ folgte Prämienzahlung zu quittieren und dennoch den Versicherungsnehmer auf Zahlung der Prämie zu verklagen. Dort hieß es: „§ 2214. Hat der Versicherer in der Police selbst über den Empfang der Prämie quittirt: so soll ihm diese Quittung nicht im Wege stehn, wenn er die Prämie innerhalb Dreyßig Tagen nach der Zeichnung gerichtlich einfordert.“

Die Quittung war also letztlich ihres Beweiswertes beraubt. Die gleichlautende Vorgängernorm zu dieser Vorschrift, § 1680 EAGB, wurde deshalb mit Kritik überzogen: was nütze dem Assekuradeur die Quittung, wenn sie als Beweismittel faktisch wertlos sei?456 Man muss ein helleres Schlaglicht auf die vorgesetzliche Seeversicherungspraxis werfen, um zu erschließen, was den preußischen Gesetzgeber zu einer so wider­ spruchsbehafteten Regelung veranlasst hat. Sie lässt sich aus den umfangreichen Monita rekonstruieren, die zu den Prämienzahlungsvorschriften in §§ 1675 ff. EAGB eingegangen sind. Üblicherweise wurden Seeversicherungsverträge durch Assekuranzmakler geschlossen, die im Besitz der Police waren und Versicherer um Versicherer aufsuchten, um möglichst viele Zeichnungen auf dasselbe Schiff oder dieselbe Warenladung zu sammeln457 – Versicherungen bei mehreren Ver­ sicherern waren, wie schon zuvor erörtert, im maritimen Versicherungsgeschäft ganz üblich, weil die enorm hohen Versicherungswerte in der Seehandelspraxis gar nicht anders zu decken waren. Die Versicherer zogen die Prämien in praxi jedoch nicht sofort ein, sondern kreditierten sie dem Versicherungsnehmer; später war es oft wieder Aufgabe des Maklers, die Prämien einzuziehen und dem Versicherer abzuliefern.458 Sollte der Versicherungsfall inzwischen schon eingetreten sein, so blieb dem Versicherer immer noch die Möglichkeit, den Leistungsanspruch des Versicherten gegen die rückständige Prämie aufzurechnen.459 Andererseits legen die Monita ein Zeugnis darüber ab, wie unorganisiert diese Praxis gegen Ende des 18. Jahrhunderts an preußischen Seehandelsplätzen abge­ laufen sein muss. Büsch beklagte gar ein „Gewühl“ an preußischen Handelsplätzen. 456

Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 38 (Instruktionssenat des KG zu § 1680 EAGB = § 2214 ALR). 457 Zur Maklerpraxis s. auch Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 10 (S. 61 f.); Engelbrecht, Bd. 1 (1787), S. 95; Langenbeck (1. Aufl.  1727), Cap.  IV § 109 (S. 422 f.); Pöhls, Bd. 4/2 (1834), § 636 (S. 471). 458 Zu dieser Praxis auch Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 10 (S. 62); Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 109 (S. 422 f.). 459 Nachweis dieser Praxis z. B. aus Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 90 (Oberrevisionsrat Goßler zu § 1681 EAGB = §§ 2115, 2116 ALR), zu dem es in einer Anmerkung des Redaktors Baumgarten hieß, die Möglichkeit der „Compensation“ sei absolut unstreitig; vgl. auch Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 308 („Conferenz“ zu § 1681 EAGB = §§ 2115, 2116 ALR), das sich mit der Spezialfrage der Auf­ rechnung innerhalb einer Versicherung auf fremde Rechnung beschäftigt. Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 363 f.

204

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Häufig zogen die Assekuradeure oder die Makler die Prämien für lange Zeit nicht ein, da oft mehrere hundert Vertragsschlüsse an einem Tag erfolgten und es alle Parteien schlicht überfordert hätte, sich bei jeder einzelnen Zeichnung sofort um die Prämieneinziehung zu kümmern.460 In der Praxis erfolgte die Zahlung sämt­ licher Prämien dann an einigen wenigen Fälligkeitsterminen im Jahr „en masse“.461 Von dieser Gewohnheit gingen sogar noch die Beständigen Bedingungen der Ham­ burger Assekuradeure aus, indem sie festsetzten, sämtliche Prämien müssten stets am 30. Juni und am 31. Dezember an den Assekuranzmakler bezahlt werden.462 Trotzdem aber quittierten die preußischen Versicherer gewohnheitsmäßig die – in Wahrheit noch gar nicht erfolgte – Zahlung direkt bei Vertragsschluss auf der Police. In Preußen rührte diese Gewohnheit wohl, wie Büsch bemerkte, aus einer Vorschrift des Preußischen Seerechts von 1627 her,463 nach der ein Seeversiche­ rungsvertrag nur in Kraft trat, wenn der Versicherungsnehmer binnen 24 Stunden nach der Zeichnung die Prämie bezahlt hatte. Um folglich reihenweise unwirk­ same Verträge zu vermeiden, quittierte die preußische Praxis die Zahlung direkt bei Vertragsschluss, ohne sie in Wahrheit überhaupt erhalten zu haben.464 Von solchen Problemen der Rechtspraxis zeugt wiederum eine redaktionelle Fußnote, die der Verfasser des EAGB zur Rechtfertigung des umstrittenen § 1680 für nötig befunden hatte:465 „Diese Verordnung gründet sich auf die Vorschrift des gemeinen Rechts. Dadurch, daß manche Versicherer die Prämie, über deren Empfang sie in der Police quittirt haben, aus bloßer Fahrläßigkeit, noch länger in den Händen des Versicherten oder des Mäcklers lassen, kan eine Abweichung von dieser Regel noch nicht begründet werden.“

Bemerkenswert ist, dass der Gesetzgeber hier also an sich nicht begründete, warum sich der Assekuradeur über den Beweiswert der Quittung hinwegsetzen konnte. Im Gegenteil rechtfertigte er sich dafür, diese Praxis auf bloße 30 Tage nach der Quittierung zu beschränken; die Vorschrift schob der uferlosen seever­ 460

Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 242 (Büsch zu §§ 1675 ff. EAGB = §§ 2104 ff. ALR); ebenso Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 307 („Conferenz“ zu §§ 1675 ff. EAGB = §§ 2104 ff. ALR); Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 90 (Gaedertz zu § 1680 EAGB = § 2114 ALR). Dazu auch nochmals Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 10 (S. 62). 461 Nachweis dieser Praxis z. B. aus Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 344 (Sieveking zu § 1676 EAGB = § 2109 EAGB) (quartalsweise Einziehung aller Versicherungsprämien). Vgl. auch Dreyer (1990), S. 197 ff., wonach die Makler teilweise nur einmal im Jahr mit den Assekuradeuren abrechneten. 462 Art. 21 lit. c S. 1 Beständige Bedingungen der Hamburgischen Assecuranzcompagnien (1800). 463 Cap. 6 Art. 8 Königlich-Preussisches See-Recht (Textausgabe, Königsberg 1770). 464 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 242 (Büsch zu §§ 1675 ff. EAGB = §§ 2104 ff. ALR). Dazu auch nochmals Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 10 (S. 61). 465 Redaktionelle Fn. zu § 1680 EAGB (1785).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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sicherungsrechtlichen Praxis also immerhin einen zeitlichen Riegel vor, was in der Praxis übrigens nicht nur auf Beifall stieß.466 In Bausch und Bogen hatte der Gesetzgeber die gewachsene Handelspraxis aber nicht verbieten wollen. Alles in allem ist in den Vorschriften zu Prämienzahlung und Säumnis also die deutliche Handschrift der historischen Seehandelspraxis zu erkennen, auch wenn zaghafte regulatorische Ansätze in § 2114 ALR durchaus sichtbar werden. Bloß waren diese Regeln eben nicht nur auf das Seeversicherungsrecht, sondern auch auf das Feuer- und Lebensversicherungsrecht anwendbar. Damit hatte das ALR, insbesondere mit seiner Kodifikation des § 2114, Gewohnheiten des Seehandels unreflektiert auf die Binnenversicherung übertragen. Tatsächlich ging auch kein einziges Monitum auf etwaige binnenversicherungsrechtliche Aspekte ein – die gesamte Debatte hatte sich auf rein seerechtlichem Terrain abgespielt. 2. Eine Zäsur in der Rechtsentwicklung: deutsche AVB und der Einfluss der englischen Versicherungspraxis Aus den vorangegangenen Untersuchungen lässt sich schon erahnen, dass die Rechtsmaterie des Allgemeinen Landrechts hier kaum für die private Binnenver­ sicherungspraxis fruchtbar gemacht werden konnte. Erwartungsgemäß fanden sich schon in den AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt keine Spuren der Th. II Tit. 8 §§ 2104–2116 ALR mehr. Doch auch die Reglements der öffentlichen Versicherungsanstalten – sowohl der staatlichen Feuersozietäten als auch der Witwen- und Waisenkassen – eigneten sich für die Privatversicherer von vorneherein nicht zum Vorbild. Meist erlegten jene Anstalten ihren säumig gewordenen Mitgliedern Strafzahlungen auf und voll­ streckten rückständige Beiträge, die nach Ablauf einer gewissen Nachfrist noch immer nicht eingegangen waren, wie Steuer- oder Gebührenschulden.467 Das säu­ mige Mitglied auszuschließen, stellte hingegen für die ganz überwiegende Zahl 466

Ein Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 90 (Gaedertz zu § 1680 EAGB = § 2114 ALR) forderte ohne weitere Begründung, an der bisher bestehenden Praxis festzuhalten. 467 Art. 8, 10 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Schaefer [1911], Bd. 2 S. 232) (Bei­ treibung „durch würcklich bereiteste Executions-Mittel“, notfalls mit Militärgewalt); Art. 30 S. 3 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Gerstlacher II, 476); Art. 14 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (NCC IV, 5379) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät); Art. 8 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät); § 62 Württembergische Brand-SchadensVersicherungs-Ordnung (1773) (Zeller / Mayer III, 871); § 10 S. 2 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (Anderson I, 13); § 36 S. 1, 2 Reglement Preußische Allgemeine WitwenVerpflegungs-Anstalt (1775) (NCC V, 381) (jedoch gem. § 36 S. 3 nach dreimaliger Mahnung und Verhängung eines Strafgeldes sogar Ausschluss aus der Anstalt möglich); § 20  S. 1, 2 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (Textausgabe  1778) (nach dreimaliger Mahnung und Verhängung eines Strafgeldes sogar Ausschluss aus der Anstalt möglich); § 16

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

der öffentlichen Anstalten keine Option dar, war es doch gerade ihr Zweck, einen möglichst flächendeckenden Versicherungsschutz zu gewährleisten, um so das Wachstum und die Steuerkraft der Bevölkerung zu fördern.468 Ein ganz ähnliches Modell praktizierte übrigens auch die „Bieber’sche Association“ von 1795, die gegen säumige Mitglieder Strafzahlungen verhängte und ihnen ferner die „Strafe der promptesten extrajudiciellen Execution“ androhte.469 In dieser Hinsicht befand sich dieser private Versicherungsverein noch näher an den öffentlichen Brandkas­ sen als an der späteren Privatversicherungspraxis. So liefern die Klauseln der deutschen Feuerversicherungsbedingungen aus dem 19. Jahrhundert ein geradezu idealtypisches Beispiel dafür, wie sich die deutsche Versicherungspraxis an englische Vorbilder angelehnt hat. Die London Phoenix bestimmte in ihren „Propositiones“, die sie 1790 an ihrer Hamburgischen Zweig­ stelle verwendete, zum Thema des Prämienrückstandes:470 „Art. 4. Die Prämien müssen an baarem Gelde zu der Zeit da die Versicherung gemacht wird, bezahlet werden; und die Versicherung fängt von dem Augenblicke an, da solche be­ zahlet worden, und behält ihre volle Kraft solange als die Bezahlungen, bey jedesmaligem Verfluß des in der Police festgesetzten Termins, oder innerhalb fünfzehn Tagen nachher, bey der Assuranzkammer in London, oder bei dem Agenten dieser Societät in Hamburg, richtig gemacht werden; welche letztere ebenfalls gedruckte vollgültige Quittungen darüber ausstellen wird. […]“

Die „Phoenix“ als ein Beispiel englischer Feuerversicherungsgesellschaften differenzierte also schon zwischen der ersten Prämie und den laufenden Folge­ prämien. Bezahlte der Versicherungsnehmer die erste Prämie nicht, so konnte er keinen Versicherungsschutz beanspruchen, unabhängig davon, ob er die Nicht­ zahlung zu vertreten hatte. Damit hatten die Propositiones der London Phoenix in ihrem Art. 4 bereits das sogenannte „Einlösungsprinzip“ zur Regel erhoben. Bei der Zahlung der Folgeprämien setzte sich dieses Prinzip nahtlos fort: die Ver­ sicherung blieb so lange in Kraft, wie der Versicherungsnehmer seine Prämie pünktlich zahlte. Bei etwaigen Rückständen räumte die Phoenix ihm immerhin Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Scotti I, 973); § 8 I Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (NCC VII, 3267); § 9 Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Scotti II, 810); §§ 8 II 1, 24 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (NCC XII, 823); Art. 22 I 2 Brandversicherungsordnung Bayern (1811) (BayRegBl. 1811, 129). Strengere Regeln finden sich nur bei berufsständischen Witwenkassen, z. B. Art. 11 S. 3 Reg­ lement Preußische Officier-Wittwen-Casse (1792) (NCC IX, 859) (Ausschluss ipso iure). Vgl. auch Schaefer (1911), Bd. 2 S. 167 (zur Berliner Feuersozietät von 1718). 468 Sogar ausdrücklich § 10 S. 4, 5 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774). Dieser Gedanke klingt auch an bei Krug (1810), S. 98 f.; vgl. Hagena (1910), S. 46 ff. 469 § 23 Nr. 1 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 278). 470 So auch schon Art. 4 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1786) (Krügelstein [1800], Bd. 3 § 31 [S. 98]). Ähnlich Cl. 3 Policy of Sun Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 538); Cl. 10 Proposals of London Assurance Company (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 340). Dazu auch Ogis (2019), S. 121 f.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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eine „Respektfrist“ von 15 Tagen ein. Ob der Versicherungsnehmer die Säum­ nis zu vertreten hatte oder nicht, war aber auch in Ansehung der Folgeprämie irrelevant. Der erste Hauptbevollmächtigte der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt, Georg Friedrich Averdieck, hatte mit diesen Versicherungsbedingungen bereits während seiner Zeit als Angestellter der London Phoenix gearbeitet;471 auch ­Wilhelm Benecke, dem ersten Direktor, waren diese Regeln gut bekannt, wie er in seinem „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ zeigte.472 So kann es nicht erstaunen, wenn die AVB der Berlinischen im Ergebnis fast den gleichen Mechanismus vorsahen wie die Propositiones der Phoenix:473 „Art. 38. Die Versicherung tritt in Kraft, sobald die Prämie bezahlt ist, und beginnt von dem Tage mittags 12 Uhr, welcher in der Police bemerkt wird. […]“

Die Berlinische arbeitete mithin, genauso wie die London Phoenix, nach dem Einlösungsprinzip. Einen vermeintlichen Unterschied zu den Propositiones der Phoenix mag man auf den ersten Blick aber doch erkennen: eine Regel zum Rückstand der Folgeprä­ mie fand sich in den AVB der Berlinischen noch nicht. Der Befund lässt sich mit der Gesamtkonzeption der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt erklären: im Gegensatz zur Phoenix erstreckten sich die Versicherungsverträge der Berlinischen nur über eine einheitliche, relativ kurze Zeitdauer.474 Dafür schuldete der Versi­ cherungsnehmer eine einmalige Versicherungsprämie. Die Prämie, die Art. 38 S. 1 der AVB bezeichnete, war folglich noch eine reine Einmalprämie.475 War die Versicherungszeit abgelaufen, endete der Versicherungsschutz im Grundsatz, doch konnte er „unter den alten oder unter neuen Bedingungen“ verlängert werden, falls der Versicherungsnehmer die Prolongation des alten Vertrags wünschte.476 Eine solche Prolongation bedeutete faktisch nichts anderes als einen erneuten Vertrags­ schluss. Freilich galt für den erneuerten Vertrag wiederum das Einlösungsprinzip des Art. 38: um Versicherungsschutz zu erlangen, musste der Versicherungsnehmer ein weiteres Mal die Versicherungsprämie einzahlen. Letzten Endes nivellierten sich so die Unterschiede zwischen der London Phoenix und der Berlinischen An­ 471

Dazu ausführlicher § 2 C II 2. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 526 f. 473 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 22. Ähnlich § 28 S. 2 Verfassung der Feuer-Versiche­ rungsbank zu Gotha (1820) (Sammlung-AVB I, 6); Art. 3, 67, 84, 135 I lit. c AVB Württem­ bergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB I, 14). 474 Vorausgesetzt Art. 37, 38 S. 2 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (Vertragsschluss auf maximal fünf Jahre); ganz ausdrücklich § 9 S. 2 Verfassung der FeuerVersicherungsbank zu Gotha (1820) („die Versicherungen geschehen von Jahr zu Jahr; kürzere und längere Fristen sind mit der Einrichtung nicht vereinbar“). 475 So auch Neugebauer (1990), S. 138. 476 Art. 39 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); ähnlich § 29 Ver­ fassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); Art. 72–74 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828). 472

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

stalt in der Rechtspraxis. Nur die 15-tägige „Respektfrist“ der Phoenix kannte die Berlinische Anstalt noch nicht. In den 1820er Jahren gaben die Feuerversicherer jedoch allmählich jenes alte Modell der regelmäßig erforderlichen Vertragsprolongation auf. Stattdessen unter­ teilte die Versicherungspraxis die Vertragszeit in meist einjährige Versicherungs­ perioden, an deren Anfang zwar die laufende Prämie erneut fällig wurde, nicht aber eben der komplette Vertrag erneuert wurde. Bei der Aachener Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft bestand zum Beispiel schon 1825 die Möglichkeit, Versiche­ rungsverträge mit jährlicher Prämienzahlung auf eine Dauer von bis zu 7 Jahren zu schließen; erst nach Ablauf der vereinbarten Vertragszeit wurde tatsächlich wieder eine Prolongation nötig.477 Auch die deutschen AVB differenzierten infolgedes­ sen zwischen Erst- und Folgeprämie. Zu dieser Zeit näherten sich die deutschen Feuerversicherungsbedingungen dem englischen Modell noch näher an, wie das Beispiel der Aachener zeigt:478 „§ 5. […] [2] Bei Versicherungen auf ein Jahr oder kürzere Zeit geschieht die Zahlung der Prämien im voraus, bei Ausfertigung der Police, welche letztere erst nach erfolgter Prämien­zahlung Gültigkeit hat. [3] Bei Versicherungen auf mehrere Jahre ist allemal die Prämienzahlung vor Anfang eines Versicherungsjahres zu leisten. Unterläßt dies der Versicherte, auch ohne deshalb angemahnt zu sein, so hat die Gesellschaft das Recht, ihn entweder zur Erfüllung seiner Verbindlichkeit auf gerichtlichem Wege anzuhalten, oder durch eine bloße Anzeige an ihn, ohne alle Förmlichkeit, die Police aufzuheben. In jedem Falle verliert der Versicherte allen Anspruch auf Entschädigung für etwaigen Brandscha­ den während des Zeitraumes, für welchen die Prämie nicht bezahlt ist; selbst in dem oben vorgesehenen [sic] eines gerichtlichen Verfahrens.“

Im Übrigen erreichte diese grundlegende dogmatische Struktur der Säumnis­ folgen auch sehr bald die AVB der privaten Lebensversicherungsgesellschaften. Es ist gut vorstellbar, dass hier der Funke von den Feuer- auf die Lebensversiche­ rungsbedingungen übergesprungen ist, zumal die Gothaer Lebensversicherungs­ bank und der Gothaer Feuerversicherungsbank durch ihren gemeinsamen Gründer, Ernst Wilhelm Arnoldi, eng miteinander verbunden waren. So statuierte auch § 59 der Gothaer Lebensversicherungsbedingungen in Ansehung der Erstprämie das sogenannte Einlösungsprinzip. Dagegen konnte die Nichtzahlung einer Folgeprä­ mie den Vertrag zum Erlöschen bringen, allerdings erst, nachdem eine vierwöchige „Respektfrist“ verstrichen war:479 477 § 5 I 1 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Sammlung-AVB I, 26); vgl. auch Müssener (2008), S. 161. 478 In der Folge ähnlich: Art. 5 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB  I,  30); § 3 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34); § 3 II Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38). Vgl. auch Müssener (2008), S. 196 (zu den AVB der „Aachener“); Neugebauer (1990), S. 145 (ebenso zu den „Aachener“ AVB). 479 Abgedruckt in Sammlung-AVB  II,  2. Zur „Respektfrist“ in der Lebensversicherung vgl. auch Abs. 17 S. 2 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828) (SammlungAVB I, 14); § 12 S. 2, 3 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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„§ 59. [1] Jeder Neuversicherte muß auf die vom Agenten ihm gemachte Anzeige, daß die Po­ lice für ihn angekommen sei, die Prämie innerhalb von vier Wochen berichtigen, außerdem verliert die Police ihre Kraft. – Ohnehin wird diese dem Versicherten nicht eher eingehän­ digt, bis die Prämie bezahlt ist. [2] Auch die fortzusetzenden Prämienzahlungen müssen spä­ testens innerhalb vier Wochen vom Zahlungstermin an geleistet sein. [3] Wer dies unterläßt, wird als freiwillig abgehend angesehen und verliert alle künftigen Ansprüche an die Bank.“

Die englischen Lebensversicherungsgesellschaften, beispielsweise die „Equi­ table“, hatten demgegenüber schon vorgesehen, dass eine verfallene Lebensversi­ cherung wieder zu voller Kraft erstarken könne, wenn der Versicherungsnehmer die Prämie binnen 3 Monaten nachzahlte480 – ja sogar noch danach, falls den Ver­ sicherungsnehmer kein Verschulden am Zahlungsrückstand traf.481 Solche Ele­ mente fehlten der Gothaer noch und fanden erst später ihren Weg in die deutschen Lebensversicherungsbedingungen.482 Jedenfalls das preußische Landrecht, der zentrale Gegenstand dieser Unter­ suchung, konnte bei all diesen Prozessen weder im Feuer- noch im Lebensversi­ cherungsrecht eine tragende Rolle spielen; für die Fortentwicklung des deutschen Versicherungsvertragsrechts waren seine §§ 2104–2116 nicht mehr relevant.

VI. Die Gefahranzeige bei Vertragsschluss Seit dem Aufkommen der versicherungsmathematischen Klassifizierung von Risiken entwickelten sich in fast jedem rationell betriebenen Versicherungszweig vertragliche und gesetzliche Bestimmungen, die vom Versicherungsnehmer zum Vertragsschluss die Anzeige diverser Gefahrumstände verlangten. Bei der Feuer­ versicherung waren solche Umstände zum Beispiel die Bauart, die Zweckbestim­ mung oder die Nachbarschaft eines Gebäudes; bei der Lebensversicherung han­ delte es sich in erster Linie um das Alter, den Gesundheitszustand und zuweilen auch den Beruf des Versicherungsantragstellers. Die Kenntnis solcher Umstände ist für den Versicherer essentiell, wenn er seine Prämie an dem tatsächlichen Scha­ densrisiko bemessen will.483 AVB II, 23); § 43 II AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Samm­ lung-AVB  II,  16); §§ 21,  23  I  1 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31). 480 Cl. 67 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Textausgabe von Hrsg. Morgan [1833]); zur dieser in England bereits verbreiteten Praxis insgesamt Babbage (1826), S. 70; Bachmann (2019), S. 125. 481 Bye-Law 22 (1791) zu Deed of Settlement of Equitable Society (1762). 482 Z. B. § 12 S. 3 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); §§ 23 I 2, II AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857). Im späten 19. Jhdt. wurde dieses Element dann ganz typisch in der Lebensversicherungspraxis, dazu vgl. später unter § 3 D V 1. 483 Zum Sinn und Zweck der Gefahranzeige, s. auch Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 908; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 19 Rn. 1 („Ausgleich von Informationsasym­ metrien“); Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 815.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Im Gegensatz zur Prämienzahlung handelt es sich hier nicht um eine Haupt­ leistungspflicht des Versicherungsnehmers. In den Worten der heutigen Versiche­ rungsrechtsdogmatik würde man an dieser Stelle von „Anzeigeobliegenheiten“ reden: der Versicherer kann also keinen Rechtsanspruch auf eine entsprechende Anzeige geltend machen; ebensowenig kann er an die Verletzung der Anzeigeob­ liegenheit einen Schadenersatzanspruch knüpfen.484 Stattdessen knüpfen Gesetz­ gebung und Praxis die Nichterfüllung einer solchen Obliegenheit unter gewissen Umständen an Sanktionen, welche bis zum vollständigen Verlust des Leistungs­ anspruchs reichen können. Aus rechtshistorischer Perspektive wäre es allerdings irreführend, von einer „Anzeigeobliegenheit“ zu sprechen, denn der rechtliche Terminus der „Obliegenheit“ wurde erst von der moderneren Wissenschaft ge­ prägt.485 Zwar reden auch die historischen Quellen oft untechnisch davon, einer Vertragspartei „obliege“ eine gewisse Handlung, doch wollten sie damit teilweise auch einfach nur eine echte Hauptleistungspflicht benennen.486 Das Recht der Gefahranzeige ist in der vorliegenden Forschungsarbeit schon unter vielen Gesichtspunkten zur Sprache gekommen, denn es eignete sich in mancher Hinsicht geradezu idealtypisch dazu, einige zentrale Entwicklungstendenzen des Allgemeinen Landrechts zu illustrieren. Die folgende rechtshistorische Untersu­ chung soll hingegen den Schwerpunkt auf die historische Entwicklung des Rechts der Gefahranzeige legen. Dazu wird zunächst gezeigt, dass sowohl die Praxis der englischen Versicherer als auch der deutschen Gebäudebrandkassen überhaupt keine Regelungen zur Gefahranzeige verwendeten; anderes galt für die deutschen Witwenversorgungskassen (1). Damit formte die vorgesetzliche Praxis einen völli­ gen Gegensatz zu Th. II Tit. 8 §§ 2024–2063 ALR, die insoweit ausgedehnte Vor­ schriften zum Feuerversicherungsrecht, kaum aber zum Lebensversicherungsecht beinhalteten (2). Was aber sind die Gründe für dieses Phänomen (3) und wie wirkte es sich auf die spätere Binnenversicherungspraxis aus (4)? 1. Das Schweigen der staatlichen und englischen Versicherungspraxis zur Gefahranzeige Schon am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich in der Praxis und Rechtsprechung des englischen Versicherungsvertragsrechts die Rechtsfigur der „warranties“ eta­ 484

Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1652; Bruns (2015), § 16 Rn. 1; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 205; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 555. Allgemein zur Rechtsnatur der modernen „Ob­ liegenheiten“: Hähnchen, Obliegenheiten (2010), S. 1 f. 485 Zur terminologischen Abgrenzung zwischen echten Rechtspflichten und Obliegenheiten: R. Schmidt (1953), 102 f. Vgl. dazu auch Bruns (2015), § 16 Rn. 1; Hähnchen, Obliegenheiten (2010), S. 7 ff., 113 ff. 486 Noch § 59 I VVG (1908) (RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263) sprach z. B. von der Versicherungs­ leistung als einen Betrag, „dessen Zahlung [dem Versicherer] nach seinem Vertrag obliegt“; freilich handelt es sich nach modernem Verständnis um keine Obliegenheit, sondern um eine einklagbare Leistungspflicht.

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bliert: die vorvertraglichen Deklarationen des Versicherungsnehmers stellten eine verschuldensunabhängige Garantie über das Bestehen und Fortbestehen eines be­ stimmten Zustandes dar.487 Unter diesem Gesichtspunkt erklärt es sich auch, dass die englischen Policen zwar umfangreiche Deklarationspflichten über gefährliche oder luxuriöse Güter kannten,488 jedoch nur in ganz seltenen Fällen eine ausdrück­ liche Rechtsfolge vorsahen, falls der Versicherungsnehmer diese Anzeige unter­ lassen hatte.489 Die Rechtsfolge der Vertragsnichtigkeit ergab sich schon per se aus dem rechtlichen Charakter der Anzeigen als „warranties“. Die staatlichen Feuersozietäten kannten hingegen nicht einmal das Institut der Gefahranzeige an sich. Der Grund dafür ist ein anderer: bei der staatlichen Feuer­ versicherung herrschte vor 1800 noch ungeschmälert das „Unterstützungsprinzip“ vor, welches die Versicherungsbeiträge höchstens vom Wert der versicherten Im­ mobilie, niemals aber von einer rationell-mathematischen Risikoklassifizierung abhängig machte.490 Die staatlichen Sozietäten verspürten daher schlicht und er­ greifend kein Bedürfnis, von etwaigen Gefahrumständen Kenntnis zu erlangen. Auch die „Bieber’sche Association“, 1795 in Hamburg gegründet, schrieb dem Versicherungsnehmer lediglich die Deklaration wertvoller Gegenstände vor,491 obwohl die Association bereits begonnen hatte, ihre Versicherungsbeiträge nach Gefahrenklassen zu staffeln. Insoweit deuteten die Klauseln der „Bieber’schen“ noch nicht in Richtung der moderneren Versicherungspraxis. Etwas anderes galt auf dem Gebiet der Lebensversicherung. Die preußische All­ gemeine Wittwen-Verpflegungs-Anstalt von 1775 stufte beispielsweise ihre Bei­ träge nach dem Alter der versicherten Person und ihres Ehepartners ab.492 Auch der Gesundheitszustand und der Beruf der versicherten Person – namentlich die 487

Zu den „warranties“ nach englischem Recht, s. Marshall (1. Aufl. 1805), S. 248 ff.; Weskett (1781), S. 13, 600 ff. Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 16 ff., wonach die Auslegung von „warranties“ nur nach dem buchstäblichen Wortlaut möglich sei; V. Ehrenberg, Versiche­ rungsrecht (1893), S. 343; Hellwege, RabelsZ 76 (2012), 864, 870 (zum heutigen Zustand des englischen Rechts); Lewis (1889), S. 86 f.; Ogis (2019), S. 162 f., 19 ff. (explizit zur Beschreibung der feuerversicherten Gegenstände); Pöhls, Bd. 4/2 (1834), § 649 (S. 523 ff.). 488 Cl. 6 Policy of Sun Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 538); Art. 3 Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1790) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 324); Policy of Royal Exchange Assurance (1800) (Marshall [1805], Appendix VII, S. 724) (ohne fortlaufende Artikelnumme­ rierung). 489 So aber Cl. 6 Policy of Sun Fire Office (ca. 1781), wo es über die falsche Angabe einer Eigenschaft der versicherten Sache heißt: „such insurance shall be of no force, nor the person insuring receive any benefit by such policy, in case of any loss or damage.“ 490 Zum „Unterstützungsprinzip“ ausführlich unter § 1 C III 2. 491 § 14 S. 2 Nr. 3 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 278). 492 Vgl. § 23 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (NCC V, 381); zu einer noch differenzierteren Beitragsabstufung s. die umfassende Beitragstabelle der Allgemeinen Versorgungs-Anstalt (1778), Tabelle zu Tit.  VIII und IX (Textausgabe 1778). Ähnlich schon Anhang Lit. B Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-­Gesellschaft (1766) (Spangenberg II, 164).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Frage, ob sie im Militärdienst stand – spielten bei der Anstalt eine Rolle, weil etwa chronisch kranke Personen oder Berufssoldaten keine Aufnahme in die Anstalt finden konnten.493 Deshalb stellte die Wittwen-Verpflegungs-Anstalt schon zu die­ ser Zeit umfangreiche und streng förmliche Regeln zu Altersangabe und Gesund­ heitsuntersuchung auf. Sie lauteten:494 „§ 7. Es hat also zuförderst ein jeder der Theil nehmen will, in Ansehung des Alters, für sich und seine Frau einen Taufschein beyzubringen, welcher mit einem Certificat der Gerichte des Orts, daß der Prediger des Orts solchen würklich ausgestellet habe, zu begleiten ist. […] § 8. Hiernächst hat der Recipiendus, in so fern solches nicht notorisch ist, durch ein Attest der Obrigkeit seines Domicilii zu erweisen, daß er nicht in würklichen Militair-Diensten stehe und daß er nicht gewöhnlich zur See fahre. § 9. Endlich muß er ein Attest eines approbirten Medici Practici beybringen, worinn derselbe auf seine Pflicht und an Eides-Statt versichert, daß nach seiner besten Wissenschaft, der Re­ cipiendus weder mit der Schwindsucht, Wassersucht, noch einem anderen Morbo chronico, so ein baldiges Absterben befürchten ließe, behaftet, auch überhaupt zur Zeit nicht krank noch bettlägerig; sondern gesund, nach Verhältniß seines Alters bey Kräften, und fähig sey seine Geschäfte zu verrichten. Dieses Attest des Medici muß von Vier Mitgliedern der Wittwen-Societät, oder wenn solche nicht zu haben sind, von Vier andern bekannten red­ lichen Männern unterschrieben werden, welche bezeugen: daß ihnen der Recipiendus be­ kannt sey, und sie das Gegentheil von dem, was der Medicus attestiret, nicht wissen. Wohnet der Recipiendus ausserhalb Berlin, so ist noch ausserdem ein Gerichtliches, oder von einem Notario und Zeugen ausgefertigtes Certificat hinzuzufügen: daß sowohl der Medicus als die Vier Zeugen, das Attest eigenhändig unterschrieben haben, auch keiner von denselben ein Vater, Bruder, Sohn, Schwieger-Sohn oder Schwager des Recipiendi oder seiner Frauen sey; indem dergleichen nahe Verwandte, als Zeugen nicht admittiret werden können.“

2. Die Gefahranzeige im Versicherungsrecht des ALR In Anbetracht der Quellenlage im englischen Recht oder in den Reglements der öffentlichen Anstalten überrascht es zunächst, dass das preußische Landrecht mit reichhaltigen Regeln zur Anzeige feuergefährlicher Umstände aufwarten konnte – und es erstaunt sogar noch mehr, dass die Gefahranzeige in der Lebensver­ sicherung nur in einer einzelnen, äußerst knappen Norm erwähnt wurde, welche im völligen Kontrast zu den verhältnismäßig weit ausgebildeten Vorschriften der Wittwen-Verpflegungs-Anstalt von 1775 stand. Was gab also den Anstoß zu die­ ser Entwicklung? 493 §§ 3, 4 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775); ähnlich § 13, 73 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); ebenso schon § 3 III Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766). Vgl. Hagena (1910), S. 35 f. 494 Ähnlich dazu: §§ 12–15, 69 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778); ähnlich schon § 5 Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766). Vgl. auch Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 171, 193; Hellwege, ZRG 131 (2014), 226, 249; Weber, Bd. 1/2 (1805), S. 131 f. (jeweils zur preußischen Anstalt).

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Das rechtliche Element der „vorvertraglichen Anzeige“ hat diese Forschungs­ arbeit schon zu früheren Zeitpunkten einige Male gestreift.495 Anhand der Th. II Tit.  8 §§ 2024–2063 ALR ließ sich unter anderem idealtypisch demonstrieren, wie das Versicherungsrecht im ALR einerseits zwischen einer überbordenden Kasuistik, andererseits dem gesetzgeberischen Wunsch nach Schaffung abstrakter Generalklauseln schwankte. Der engere Fokus liegt nun aber auf der historischen Entwicklung jenes Rechtsinstituts. Zum Zweck der Quellenforschung seien die §§ 2024 ff. ALR daher nochmals kurz inhaltlich skizziert. Dem ganzen Komplex vorangestellt waren einige Generalklauseln über die Notwendigkeit einer Gefahranzeige sowie über die Folgen einer unterlassenen Deklaration:496 „§ 2024. Bey Schließung des Versicherungsvertrages sind beyde Theile zu besondrer Treue, Redlichkeit und Aufrichtigkeit verpflichtet; und es finden die Vorschriften des Ersten Teils, Tit. XI. §. 539. sqq. Anwendung. […] § 2026. Verschweigt der Versicherte Umstände, welche, nach dem vernünftigen Ermessen der Sachkundigen, auf den Entschluß des Versicherers, sich in den Vertrag einzulassen, hät­ ten Einfluß haben können: so ist die Assecuranz unverbindlich, und die Prämie verfallen. § 2027. Dagegen soll dem Versicherten die Entschuldigung, daß die erhaltene und ver­ schwiegene Nachricht noch unzuverläßig oder zweifelhaft gewesen sey, nicht zu statten kommen.“

Auf die Generalklauseln folgte dann eine überreiche, kasuistisch aufgefächerte Bandbreite an Normen über die Seeversicherung (§§ 2029–2049 ALR), die zum Beispiel die Bauart, die Größe oder den Zustand eines Schiffes sowie die Quali­ tät und Quantität der geladenen Waren betrafen. Es handelte sich um spezifisches Seeversicherungsrecht. Das lebhafte Interesse dieser Untersuchung wecken sodann wieder die leges speciales zur Feuer- und Lebensversicherung. Auch sie sind im Laufe dieser Untersuchung teilweise schon zum Thema gemacht worden. Trotz­ dem seien sie hier nochmals als Basis für die sogleich folgenden Analysen in vol­ lem Umfang zitiert:497 „§ 2050. Bey Versicherungen über das Leben eines Menschen muß vorzüglich dessen Alter, Gesundheitszustand, und Gewerbe angezeigt werden. […][498] § 2053. Werden Waaren, Mobilien und Effekten gegen Feuersgefahr versichert: so muß der Versicherte die Qualität dieser Sachen getreulich anzeigen. 495

Dazu § 2 B II 2 (zur Kasuistik der Gefahranzeigevorschriften im ALR), § 2 B II 3 b (zur Strenge der Rechtsfolgen) und § 2 C IV 2 (zur Rezeption des ALR in den AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt). 496 Abgedruckt in der Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). Vgl. zu den Ge­ neralnormen auch P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 631; Müssener (2008), S. 213, 241 ff. 497 Zu den feuerversicherungsrechtlichen §§ 2053–2063 ALR (1794) vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 529 ff.; P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 632; Müssener (2008), S. 215. 498 §§ 2051, 2052 ALR (1794) betrafen ausschließlich die seerechtliche Freiheits- und Fracht­ versicherung.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

§ 2054. Sind Schießpulver, Schwefel, Salpeter, Heu, Stroh, ungedroschenes Getreyde, Tabaksblätter, Hanf, Flachs, Heede, getheertes Tauwerk, Pech, Theer, Talch, Terpentinöl und Thran darunter befindlich, so müssen sie, bey Verlust des Rechts und der Prämie, ausdrücklich benannt werden. § 2055.  Gold, Silber, Gold- und Silbergeschirr, Juwelen, Porzellain, Emaille, Spiegel, Gläser, Gemälde, Kupferstiche, Cabinette von Antiquitäten-Naturalien und Kunstsachen, Zeichnungen, Banknoten, Pfandbriefe, Wechsel oder andere Schuldverschreibungen, Con­ trakte oder Schriften, Handlungsbücher und Rechnungen, ingleichen Moventien (Th.  I. Tit. II. §. 17.) sind nicht für versichert zu achten, wenn sie nicht ausdrücklich genannt, und die Versicherung darauf mit gerichtet worden. § 2056. Ferner muss derjenige, welcher Versicherung gegen Feuersgefahr sucht, gewis­ senhaft angeben: ob die Sachen in feuerfesten Gebäuden aufbewahrt werden, und ob sie gefährliche Nachbarschaft haben. § 2057. Feuerfeste Gebäude sind solche, welche von allen Seiten massive Mauern und Schornsteine haben. § 2058. Ein Gebäude, welches ganz oder zum Theil mit einer leicht brennbaren Materie, als Schindeln, Bretter, Stroh, Rohr, Schilf u. d. m. gedeckt ist, kann für feuerfest nicht ge­ achtet werden. § 2059. Für gefährliche Nachbarschaft wird gehalten, wenn im Gebäude selbst, oder in einem der drey nächsten Häuser, welche das versicherte Gebäude umgeben, gefährliche Gewerbe getrieben werden. § 2060. Ferner, wenn in einem dieser Gebäude feuerfangende Sachen in größerer Quantität, als zum gewöhnlichen Wirthschaftsgebrauche erforderlich ist, aufbewahrt sind. § 2061. Dergleichen, wenn eins der drey nächsten Gebäude, welche das Haus, worin sich die versicherten Sachen befinden, umgeben, mit leicht brennbaren Materien ganz oder zum Theil gedeckt ist. (§. 2058.) § 2062. Gefährliche Gewerbe sind Pulvermühlen, Stückgießereyen, Vitriol- und SalmiakFabriken, Zuckersiedereyen, chemische Laboratoria, Apotheken, Goldschmiede, Kupfer­ schmiede, Gelbgießer, Grobschmiede, Destillateurs, Brauer, Brandweinbrenner, Bäcker, Färber, Seifensieder, Lichtgießer und Töpfer. § 2063. Als leicht feuerfangende Sachen werden die im §. 2054. genannten betrachtet.“

Ins Auge sticht vor allem die Strenge der einzelnen Rechtsfolgen: § 2026 ALR ordnete die Nichtigkeit des Vertrages und den Verfall der Prämie an, wenn ein verschwiegener Gefahrumstand auch nur hypothetisch Einfluss auf den Rechts­ bindungswillen des Versicherers hätte ausüben können.499 Auf das Verschulden des Versicherungsnehmers kam es dabei nicht an. Im Gegenteil durfte sich der Versicherungsnehmer gem. § 2027 ALR nicht einmal damit exkulpieren, dass eine ihm bekannte Nachricht von der Sache – hauptsächlich von einem weit entfernten Schiff – noch unzuverlässig war.500 499

Ausdrücklich Minnier (1967), S. 52 ff.; Müssener (2008), S. 213, 241; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 159. 500 Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 109; Müssener (2008), S. 241.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Speziell bei der Nichtanzeige feuergefährlicher Waren kam es dann nicht einmal mehr darauf an, ob die unterlassene Anzeige auf die Entscheidung des Versicherers, den Vertrag abzuschließen, von Einfluss war: der Vertrag war nach § 2054 ALR schon dann totalnichtig, wenn ein einzelner der enumerativ aufgezählten Gegen­ stände vor Vertragsschluss nicht deklariert worden war. Im Gegensatz dazu wa­ ren die in § 2055 ALR genannten Waren schlicht nicht vom Versicherungsschutz umfasst, falls der Versicherungsnehmer sie nicht speziell in den Police notiert hatte501  – eine Norm, die nach heutigem Verständnis nicht ganz in das System der „vorvertraglichen Anzeigeobliegenheit“ passen will, sondern bloß die Reich­ weite des Versicherungsschutzes definiert. Gar keine Rechtsfolge war schließlich für die Unterlassung der nach §§ 2050, 2056–2063 ALR erforderlichen Anzeigen vorgesehen. Hier konnten denklogisch nur die Generalklauseln aus §§ 2026, 2027 ALR Anwendung finden. 3. Die Genese der Th. II Tit. 8 §§ 2024–2063 ALR: mehr als nur eine Analogie zum Hamburgischen Seeversicherungsrecht Alleine das Allgemeine Landrecht kann damit für sich beanspruchen, einerseits eine überreiche Kasuistik, andererseits sogar vage Ansätze einer Rechtsdogmatik zur Gefahranzeige entwickelt zu haben. Seinen Anfang hat auch dieser Entwick­ lungsprozess im Seeversicherungsrecht der Hamburger AHO genommen. a) Das Seeversicherungsrecht der AHOen: ein Konglomerat von Einzelfallregelungen In der Hamburger AHO waren nur vereinzelte Regelungen über die Notwen­ digkeit einer vorvertraglichen Anzeige anzutreffen. Im Tit. IV der AHO, „Von den Clausuln oder Bedingungen der Policen“, hieß es zum Beispiel sporadisch:502 „Tit. IV Art. 8. Wer auf leicht verderbliche Waaren, als Salz, Korn, Pflaumen, Rosinen, Victriol, truckne Fisch, Ocker, Hempff und Flachs auch ungetehrte Tauen und Cabelgarn und dergleichen versichern lassen will, der muß solche in der Police ausdrücklich benen­ nen. Inmaßen selbige unter dem generalen Namen von Kauffmannschafften nicht begriffen werden mögen.

501

Vgl. auch Müssener (2008), S. 161, der die §§ 2054, 2055 ALR (1794) nach der Systematik des heutigen Versicherungsrechtes und nicht im Zusammenhang mit den Vorschriften über die Gefahranzeige behandelt. 502 Abgedruckt in Dreyer [1990], S. 267. Zu den Hintergründen dieser spezifisch seeversi­ cherungsrechtlichen Klauseln, s. auch Dreyer (1990); Langenbeck (1. Aufl. 1727), IV §§ 39 f. (S. 397 ff.) (zur entsprechenden Hamburgischen Seeversicherungspraxis). Zur Deklaration eines Prisenschiffes s. Benecke (2. Aufl.  1810), S. 135 ff., zur Anzeige von „contrebanden Waaren“ ebd. S. 135 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Tit. IV Art. 9. Gold und Silber, gemüntzet oder ungemüntzet, wie auch Edelgesteine und Perlen, werden unter der allgemeinen Benennung von Kauffmannschafften mit verstanden. Tit. IV Art. 10. Contrebande Waaren, als Pulver und Bley, Stücke und Kugeln, Gewehr, Flinten und Pistohlen, Schwefel, Salpeter, Pech und Theer, Schiffs-Geräthschafften, an Tauen, Segeln und Masten, und mit kurtzem, alles dasejnige was von den im Kriege be­ griffenen Puissancen für contrebande geachtet, erklähret und offenbahr dafür bekannt gemacht wird, soll in Krieges-Zeiten, bey Straffe der Nullität des Contracts, in den Policen nahmentlich erwehnet, wenigstens überhaupt, daß Contrebande Waaren in dem Schiffe geladen, angezeiget werden. Tit. IV Art. 11. Wer in Kriegs-Zeiten eines Prise gekaufft, so annoch auf keinem freyen Strohm gewesen, und darauf versichern lässet, ist schuldig diesen Umstand in der Police kund zu machen: in Entstehung dessen die Versicherung von keiner Krafft noch Würde gehalten wird.“

All jene Klauseln zu Kontrebandwaren, Prisenschiffen und verderblichen Gü­ tern konnten auf eine lange Tradition in der Seeversicherungspraxis verweisen.503 Eine parallele Regelung zur Lebensversicherung fand sich nur in einem speziellen Tit. X, „Von der Assecuranz für Türcken Gefahr und auf der Menschen Leben“, welcher die Spezifika von Lebens- und Freiheitsversicherungspolicen beschrieb. Dort war festgelegt: „Tit. X Art. 2. Bey Versicherungen, die entweder die Lösung einer Person aus der Türcki­ schen Gefangenschafft, oder auch deren Leben betreffen, wann nehmlich letzteren falls dieselben im Gefechte gegen den Türcken blieben, oder in der Sclaverey ohne geschehne Lösung verstürbe, sollen, wie vorhin erwehnet, die unter No. 5. & 6. angedruckte Policen gebraucht und allemahl der Nahme, Stand und Condition derjenigen Person, wegen deren Freyheit oder Leben die Versicherung geschiehet, darin mit ausgedrücket werden.“

Eine spezielle Rechtsfolge für das Verschweigen all jener Tatsachen sah die AHO von 1731 noch nicht vor. Lediglich eine knappe, generalklauselartige Norm in Tit. XX Art. 1 AHO bestimmte, dass der Versicherungsnehmer in allen Fällen von Betrug schadensersatzpflichtig sei und strafrechtlich verfolgt werden solle.504

503

Vgl. Art. I Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 17. 03. 1697 (Dreyer [1990], S. 256) („insbesonderheit ob das Schiff vertrocken, oder noch liege, wie auch die Kauff­ mannschafften, darauf die Assecurance geschicht, sollen gespecificiret werden, um zu wissen, ob es auf bederbliche oder unbederbliche Waaren“); vgl. Dreyer (1990), S. 62. Zu ähnlichen Deklarationspflichten in der (späteren) Seeversicherungspraxis vgl. § 16 Nr. 2, 8 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789) (Allgemeine Handlungs-Zeitung 1789, 71) (Kürzung des Leistungsanspruchs um 50 % bei Falschanzeige der beim Schiffsbau ver­ wendeten Holzart, Anzeige von verderblichen oder flüchtigen Waren); Art. 6–8 Beständige Bedingungen der Hamburgischen Assecuranzcompagnien (1800) (Benecke [2. Aufl. 1810], Bd. 3 S. 35) (Beschaffenheit von Schiff und Ladung), ebd. Art. 19 lit. b (Anzeige von in Sä­ cken geladenem Zucker), Art. 25 (Anzeige von Prisenschiffen). Zur Praxis der vorvertrag­ lichen Anzeigen in der Seeversicherungspraxis insgesamt: Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 3 S. 90 ff. 504 Vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 117; Dreyer (1990), S. 180.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

217

Ein umklammerndes dogmatisches Element fehlte diesem Konglomerat von Ein­ zelvorschriften noch. Die weitere Rechtsentwicklung sowohl in der preußischen AHO als auch im Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches war zuvorderst von einem beträcht­ lichen Anschwellen der seerechtlichen Kasuistik gekennzeichnet. In der PrAHO existierte zum ersten Mal aber auch ein gesonderter Abschnitt unter dem Titel „Von den Obliegenheiten des Versicherten“ (§§ 89–95), der erste Anzeichen einer heran­ wachsenden, abstrakteren Dogmatik der Gefahranzeigevorschriften erkennen ließ. Ausschnittsweise hieß es darin:505 § 89. Da der Versicherungs-Vertrag auf beyden Seiten eine besondere Redlichkeit, Aufrich­ tigkeit und Treue voraussetzet und erfordert: so lieget dem Versicherten ob, dem Versicherer die wahre Beschaffenheit, Umstände, Eigenschaften des Schiffes und Gutes offenherzig anzuzeigen, ihm die davon habenden Nachrichten unverholen mitzutheilen, auch nichts davon gefährlicher Weise zu verschweigen. § 90. Er ist solchemnach verbunden, dem Versicherer aufrichtig anzuzeigen und in der Police auszudrücken, a) wo das Schiff gebaut, und von welcher Bauart, auch ob es von Eichen oder weicherem Holze gebaut sey, b) ob es eine aufgebrachte oder gemachte Prise sey. c) ob verbotene und Contrebandwaaren auf dem Schiffe befindlich seyn, d) ob und was für verderbliche und fliessende Waaren darin geladen seyn, e) ob das Schiff bereits abgegangen, f) wenn es abgesegelt, und welche Nachrichten und Zeitungen er davon habe, g) ob das Schiff mit oder ohne Bedeckung und Convoy gehen, und wo es darunter kommen oder dazu stossen soll.

An einem wesentlichen Element mangelte es § 89 PrAHO freilich noch immer: einer ausdrücklichen Rechtsfolge, falls der Versicherungsnehmer die geschuldete Anzeige unterlassen hatte. Eine solche Rechtsfolge beinhaltete noch jeder der ka­ suistisch über das ganze Gesetz verteilten Einzelfälle für sich selbst. Zum Beispiel bestimmte § 28 PrAHO, dass „in Kriegszeiten alle von den kriegenden Mächten für Contreband erklärte Dinge, Kriegs- und Lebensbedürfnisse in den Policen namentlich ausgedrückt“ werden mussten, oder „widrigenfalls die Versicherung für nichtig geachtet“ wurde. Die Vorschrift zur Lebens- und Freiheitsversicherung, welche die Hamburgi­ schen AHO in Tit. X Art. 2 geregelt hatte, verharrte hingegen auch in der PrAHO noch in einem spezialgesetzlichen 11. Abschnitt „Von Versicherungen über das Le­ ben und die Freyheit der Menschen besonders vor Türkengefahr“ (§ 138 PrAHO) – einen inneren Zusammenhang zu den vorvertraglichen Anzeigen in §§ 89, 90 PrAHO hatte der preußische Gesetzgeber offenbar noch nicht erkannt.

505

NCC IV, 83.

218

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

b) Die stufenweise Entwicklung von abstrakten Generalklauseln und feuerversicherungsrechtlichen leges speciales Als die Arbeiten zum späteren preußischen Landrecht ihren Anfang nahmen, beseitigte das EAGB in seinen Th. I Abt. II §§ 1608–1638 jene Ansammlung ver­ schiedenster Einzelfälle mit ihren speziellen Rechtsfolgen nicht.506 Seine Leistung war es aber, aus den zahlreichen seerechtlichen Vorschriften zwei Generalklau­ seln herauszudestillieren, die hinter die seerechtlichen Bestimmungen angefügt wurden: es handelte sich um Th. I Abt. II §§ 1623, 1624 EAGB, die den soeben zitieren §§ 2026, 2027 ALR bereits im Wortlaut entsprachen. In gewisser Weise stellten diese beiden Normen also die abstrahierte rechtliche Essenz aus den bis­ lang singulären Vorschriften zur Seeversicherung dar. Erst im unmittelbaren Anschluss an diese beiden Generalklauseln beschäftigte sich der Entwurf von 1785 mit speziellen Vorschriften für die Feuerversicherung (§§ 1627–1638 EAGB), welche mit einigen – zum Verständnis der Entwicklungs­ prozesse unwesentlichen  – Ausnahmen schon einen ähnlichen Wortlaut hatten wie die späteren §§ 2054–2063 ALR. Jene Systematik des EAGB, die sich in der Endfassung des ALR nicht mehr wiederfand, liefert übrigens ein verstecktes In­ diz für den Arbeitsprozess, an den sich der Gesetzgeber bei der Schöpfung des Allgemeinen Landrechts hielt: zuerst sammelte er kasuistisches Regelungsmate­ rial für die Seeversicherung (§§ 1608–1622 EAGB); aus den einzelnen Strängen des Seerechts flocht der Gesetzgeber eine allgemeinere Dogmatik (§§ 1623, 1624 EAGB); und erst ganz zum Ende, als das dogmatische Gerüst schon eine erkenn­ bare Gestalt angenommen hatte, versuchte er, die Binnenversicherung – hier: die Mobiliarfeuerversicherung  – zweckentsprechend in dieses System einzupassen (§§ 1627–1638 EAGB). Alleine die konkreten, tatbestandlichen Inhalte der §§ 1627–1638 EAGB, der späteren §§ 2054–2063 ALR, konnte der preußische Gesetzgeber freilich nicht aus dem Seeversicherungsrecht ableiten. Hier bot jedoch die Feuerversicherungspra­ xis der Assekuranz-Compagnien und der in Deutschland operierenden englischen Versicherer eine sprudelnde Quelle. Deren Policen hatten eine Palette an kasuisti­ schem Füllmaterial geboten, dem es allerdings noch vollständig an einer inneren Ordnung gefehlt hatte. Schon die nähere Analyse zum versicherungsfähigen Risiko hatte einige dieser Klauseln zum Gegenstand. Im Grunde genommen hatten die – ansonsten recht schmalen – Feuerversicherungspolicen in vorgesetzlicher Zeit Ka­ taloge von gefährlichen Waren, Gebäudeeigenschaften oder Gewerben aufgestellt, welche sie aber niemals konsequent in Zusammenhang mit der vorvertraglichen Anzeige gestellt hatten. Vielmehr dienten diese Kataloge meistens der Gruppie­ rung der versicherten Waren und Gebäude in die Kategorien von „common“, „ha­ zardous“ und „doubly hazardous assurances“. Außerdem kannten die englischen Policen häufig Aufzählungen von luxuriösen Gegenständen und Sachen mit ide­ 506

Abgedruckt in der Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 (2003).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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ellem Wert, wie zum Beispiel „all manner of writings, books of accompts, bills, bonds, tallies, ready money, jewels, gunpowder, pictures, drawings, and prints“, die entweder unversicherbar waren oder zumindest einer separaten Erwähnung in der Versicherungspolice bedurften.507 Der EAGB griff in seinem Streben nach einer möglichst reichhaltigen Kasuis­ tik viele dieser Klauseln auf und ordnete sie recht willkürlich in den Kontext der vorvertraglichen Gefahranzeige ein.508 So war der EAGB zu seiner kasuistischen Aufzählung von feuergefährlichen und wertvollen Waren (§§ 1628, 1629 EAGB),509 gefährlichen Gebäudebauweisen (§§ 1631, 1632 EAGB)510 oder gefährlichen Ge­ werben (§ 1636 EAGB)511 gekommen. Auch diese Arbeitstechnik ist im Laufe dieser Forschungsarbeit bereits zur Sprache gekommen. Um es nochmals auf den Punkt zu bringen: im Endeffekt hat der preußische Gesetzgeber nichts anderes getan, als das Klauselmaterial aus jenen Praxisbedingungen willkürlich zu kom­ pilieren und in die seerechtlich geprägten Strukturen des EAGB einzuflechten. Im Grundsatz hatte damit schon der EAGB die Vorschriften enthalten, die schließlich in §§ 2024–2063 ALR zum Gesetz wurden. Abgesehen davon, dass die beiden Generalklauseln (§§ 2026, 2027) im ALR an die Spitzen des ganzen Regelungskomplexes gezogen wurden, änderte sich die grundlegende Struktur der Vorschriften nicht mehr. In der inhomogenen Struktur der §§ 2054–2063 ALR, die teilweise eigene Rechtsfolgen statuierten und teilweise auf die Rechtsfolgen der §§ 2026, 2027 ALR angewiesen waren, lassen sich auch heute Überbleibsel des vielfältigen Kompilierungs- und Abstrahierungsprozesses erkennen, der schließ­ lich zur Genese der untersuchten Vorschriften führte. c) Die Gefahranzeige im Lebensversicherungsrecht des ALR: ein Produkt des Seeversicherungsrechts? Am Ende dieser Beschäftigung mit der Mobiliarfeuerversicherung bleibt al­ lerdings nach wie vor die Frage offen, wo die knapp gehaltene Norm zum Le­ bensversicherungsrecht ihren Ursprung hatte, nämlich Th. II Tit. 8 § 2050 ALR, der die Deklaration von „Alter, Gesundheitszustand und Gewerbe“ verlangte. Die Norm zeigt einige inhaltliche Überschneidungen zum Reglement der Allge­ 507 Hier: Cl. 1, 4 Policy of Sun Fire Office (ca. 1781). Eine ausführliche Darstellung der hier zitierten Klauseln sowie ähnlicher Klauseln, die bei mehreren englischen Versicherern zur Anwendung kamen, s. bereits eingehend sub § 2 D I 1; ebd. zur Begründung, warum der preußi­ sche Gesetzgeber sich jedenfalls zu hoher Wahrscheinlichkeit ausgerechnet auf das englische Recht gestützt hat. Von einem nochmaligen Abdruck der einschlägigen Klauseln wird daher abgesehen. 508 §§ 1627–1638 EAGB (1785), entspr. §§ 2053–2063 ALR (1794). 509 Entspr. §§ 2054, 2055 ALR (1794). 510 Entspr. §§ 2057, 2058 ALR (1794). 511 Entspr. § 2062 ALR (1794).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

meinen Wittwen-Versorgungs-Anstalt, das in seinen vorhin abgedruckten §§ 7–9 vergleichbare Anordnungen getroffen hatte. Dennoch liegt ein unmittelbarer Ein­ fluss der staat­lichen Lebensversicherungspraxis auf das ALR eher fern. Betrach­ tet man die starke Tendenz des preußischen Gesetzgebers, das gesamte Landrecht mit kasuistischen Einzelregelungen anzureichern, um möglichst jeden Aspekt des Versicherungsrechts vermeintlich laienverständlich abbilden zu können, so drängt sich dabei aber die Frage auf, warum der preußische Gesetzgeber die aus­ führlichen Reglements seiner staatlichen Witwen- und Waisenkassen auf eine so schmale Vorschrift wie § 2050 ALR hätte reduzieren wollen – noch dazu, wo doch beispielsweise die stark förmlichen §§ 7–9 des Witwenkassen-Reglements gut in den allgemein strengen und vorsichtigen Charakter des Gesetzes gepasst hätten. Stattdessen scheint sich § 2050 ALR aus den entsprechend knappen Normen zur Lebens- und Freiheitsversicherung gespeist zu haben, die schon in Tit. X Art. 2 der Hamburgischen oder § 138 der preußischen AHO vorhanden waren. Die As­ securanzordnung von 1731 hatte nur die Anzeige von „Nahme, Stand und Condi­ tion“ gefordert; nach der Assecuranzordnung von 1766 waren „Name, Stand und Alter“ zu deklarieren.512. Diese Vorschriften orientierten sich alleine am Leitbild einer kurzzeitigen Lebensversicherung, die über die Dauer einer Schifffahrt ge­ schlossen worden war, zielten im Kern aber nicht auf eine langfristige Alters- oder Witwenversorgung ab. Eine umfassende ärztliche Gesundheitsuntersuchung wie bei der Wittwen-Anstalt hatten all diese maritim geprägten Vorschriften jedoch gar nicht erst im Sinn. Das ALR dürfte sich letzten Endes das maritime Konzept zueigen gemacht haben, als es die seerechtliche Lebensversicherung auf das Bin­ nenland holte. Augenscheinlich nahm der preußische Gesetzgeber die längerfris­ tigen Rentenversicherungsprodukte der Witwenanstalten dabei gar nicht in den Blick, weil man die recht junge staatliche Witwen- und Waisenkasse als ausrei­ chend erachtete, um die flächendeckende Altersvorsorge der Untertanen zu ge­ währleisten. Der einzige dogmatische Fortschritt des ALR war es insoweit, die Regelung des § 2050 ALR aus ihrem spezifischen Kontext zur „Lebens- und Frei­ heitsversicherung“ herauszutrennen und sie in den systematischen Zusammenhang der §§ 2024 ff. ALR zu ziehen. 4. Die Rezeption des Th. II Tit. 8 § 2054 ALR in der Binnenversicherungspraxis – ein singuläres Phämomen? Welchen Einfluss speziell die Th. II Tit. 8 §§ 2053–2063 ALR auf die AVBKlauseln der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt ausüben konnten, wurde im Laufe dieser Untersuchung schon ausführlich beleuchtet.513 An ihrem Beispiel 512

Der EAGB (1785) hatte eine dem § 2050 ALR (1794) entsprechende Vorschrift demgegen­ über zunächst ausgespart. 513 Insgesamt bereits oben § 2 C IV 2. Auf den erneuten Abdruck der entsprechenden Passa­ gen aus den AVB wird an dieser Stelle verzichtet.

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konnte demonstriert werden, dass die Gründer der Berlinischen tatsächlich aktiv das preußische Landrecht rezipiert haben mussten. So hatte Art. 36 II Nr. 4 der AVB von 1812 eine Vorschrift des ALR beinahe wortlautgetreu übernommen: die Klausel, nach welcher der Versicherungsneh­ mer anzeigen musste, „ob seines Wissens in dem Gebäude oder in der Nachbar­ schaft leicht feuerfangende Sachen in größerer Menge, als zum gewöhnlichen Wirtschaftsgebrauch erforderlich, besonders ob Schießpulver, Schwefel, Salpeter, Teer, geteertes Tauwerk, Pech, Terpentin, Öl, Spiritus, Branntwein, Hanf, Flachs, Hede, unausgedroschenes Getreide, Heu, Stroh usw. aufbewahrt liegen“, war im Wesentlichen eine wörtliche Kopie der §§ 2054, 2060 ALR. Darüber hinaus musste sich die Anzeige nach den AVB der „Berlinischen“ auf die Bauart eines Gebäu­ des, das versichert war oder in dem versicherten Waren lagerten, sowie auf die Feuergefährlichkeit der Nachbarschaft und Umgebung erstrecken.514 Auch diese Vorschriften fanden sich zumindest sinngemäß in §§ 2056–2061 ALR. Lediglich die Rechtsfolge bei einer unterlassenen oder falschen Anzeige gestaltete sich in der frühen Feuerversicherungspraxis milder als im preußischen Landrecht: seinen Leistungsanspruch und seine Versicherungsprämie verlor nur derjenige, der die Versicherungsgesellschaft „absichtlich mit unrichtigen oder mangelhaften An­ gaben“ täuschte.515 Dass diese AVB so große Spuren aus dem Allgemeinen Landrecht in sich auf­ nehmen konnten, lag auch am Schweigen der englischen Feuerversicherungsbe­ dingungen zum Thema der Gefahranzeige: im Endeffekt hatte das Landrecht die erste abschließende Regelung in diesem Dunstkreis geschaffen. Wilhelm Benecke, der sich in seinem Werk über das „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ ohnehin schon wissenschaftlich mit den §§ 2053–2063 ALR auseinandergesetzt hatte, namentlich sogar unter wörtlicher Nennung und Zitierung der einschlägi­ gen Paragraphen,516 griff mangels anderer Vorbilder die Kasuistik des preußischen Gesetzes auf. Aber wie nachhaltig wirkte dieser Einfluss auf die deutsche Feuerversicherungs­ praxis? Schon zur Mitte der 1820er Jahre strebten die AVB der neu gegründeten Feuerversicherungsgesellschaften wieder einer immer weiteren Abstraktion ent­ 514 36  II Nr. 2, 3 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (SammlungAVB I, 22). 515 § 51 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); ähnlich auch noch § 7 I, III AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Sammlung-AVB  I,  26) (s. so­ gleich im Originaltext); Art. 135 I lit. a AVB Württembergische Privat-FeuerversicherungsGesellschaft (1828) (Sammlung-AVB I, 14) (Sanktion nur bei betrügerischen Falschangaben); Art. 10 S. 3 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30). Anders aber bereits § 25 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Samm­ lung-AVB I, 6) (kein Differenzierung nach schuldhaftem oder schuldlosem Handeln); § 5 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34) (Sanktionierung von jeder Form von Fahrlässigkeit). Dazu vgl. auch Neugebauer (1990), S. 138. 516 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 529 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

gegen, sodass die kasuistische Fülle der ersten AVB und mit ihr auch die Vor­ schriften des preußischen Landrechts wieder aus den Versicherungsbedingungen gedrängt wurden. So enthielten schon die ersten Bedingungen der Aachener Feuer­ versicherungs-Gesellschaft bloß noch vergleichsweise abstrakte Vorschriften:517 „§ 6. Jeder Versicherungsantrag muß enthalten: [1] a. Bei Gebäuden. Bezeichnung der örtlichen Lagen der nächsten Umgebungen, wenn solche die Gefahr vermehren, und der Bauart. […] [3] b. Bei beweglichen Gegenständen. Bezeichnung des Lokales, in welchem sie enthalten sind, ebenfalls nach der örtlichen Lage, den nächsten Umgebungen, wenn solche die Gefahr vermehren, und der Bauart; Benennen der Gegenstände, und Angabe, für welchen Betrag sie versichert werden wollen; sodann bei solchen, die wegen ihres hohen Kunstwertes einen Preis der Liebhaberei haben, oder sich durch materielle Kostbarkeit sehr auszeichnen, eine spezielle Wertangabe jedes einzelnen Gegenstandes. § 7. [1] Beim Antrage einer Versicherung darf der zu versichernde Gegenstand weder falsch angegeben, noch dabei absichtlich, – etwa um eine niedrige Prämie zu erzwecken, – ir­ gend ein auf den Prämiensatz einwirkender Umstand verschwiegen werde. […] [3] Der Versicherte hat keinen Anspruch auf Entschädigung, wenn er den Bestimmungen dieses Paragraphen entgegen gehandelt hat.“

Auf dem Gebiet der Lebensversicherung scheint es hingegen schon von An­ fang an keinen Einfluss des ALR gegeben zu haben. Die einzige Vorschrift des Landrechts zur Gefahranzeige, § 2050 ALR, hatte hauptsächlich die Lebensver­ sicherung auf hoher See im Blick. Zur Gestalt der privatwirtschaftlichen Lebens­ versicherungspraxis konnte diese Vorschrift nichts beitragen. Die erste private Lebensversicherungsgesellschaft in Deutschland, die Lebens­ versicherungsbank zu Gotha, in vielem ein Vorbild für die deutsche Praxis des 19. Jahrhunderts, orientierte sich stattdessen an der englischen Versicherungs­ praxis. Charles Babbage hatte in seinem „Comparative view of the various in­ stitutions for the assurance of lives“ die entsprechenden Vorkehrungen englischer Lebensversicherer näher erörtert; seine Schrift lag Ernst Wilhelm Arnoldi auch nachweislich vor. Die englischen Gesellschaften, die Babbage beschrieb, konnten ihre Sterblichkeitsraten deutlich senken, indem sie die den Versicherten vor Ver­ tragsschluss durch einen Arzt untersuchen ließen, oft noch unter Beiziehung von Zeugen. Personen mit besonderen Vorerkrankungen, z. B. der Gicht, schlossen sie sodann von der Versicherung aus; viele englische Versicherer forderten außerdem standardmäßig eine immunisierende Vorerkrankung mit den „cow pox“, bevor sie einen neuen Vertrag schlossen.518 Ließ sich der Versicherungsnehmer dabei „any 517

Ähnlich §§ 22 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (ohne kasuis­ tische Aufzählung der Gefahrumstände, stattdessen Ausfüllung eines „Deklarationsbogens“ vor Vertragsbeginn erforderlich); Art. 75, 135 I lit. a, II AVB Württembergische Privat-Feuer­ versicherungs-Gesellschaft (1828); Art. 9, 10 S. 3 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechsel­ bank (1836); § 5 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845). 518 Babbage (1826), S. 4 ff. Vgl. Cl. 17 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Text­ ausgabe von Hrsg. Morgan [1833]) (Abgabe einer vorvertraglichen Deklaration zu Alter, Be­ ruf und Gesundheitszustand); spätere Konkretisierung durch Bye-Law 15 (1781) zu Deed of

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artful, false, or fraudulent representation“ zuschulden kommen, konnte er keine Leistung des Versicherers beanspruchen.519 Die AVB der Gothaer Lebensversi­ cherungsbank widmeten der Gesundheitsuntersuchung entsprechend ausführliche Vorschriften:520 „§ 42. […] [4] Das Alter wird durch beigefügtes Taufzeugnis oder gerichtliches Attestat noch besonders nachgewiesen. [5] Über die Gesundheitsbeschaffenheit wird noch ein be­ sonderes ärztliches Gutachten und Zeugnis nach den in dem folgenden § 43 näher angege­ benen Bestimmungen beigebracht. […] § 43. Das eben gedachte Gesundheitszeugnis muß folgende Eigenschaften haben: 1. Es muß von einem vom Staate approbierten wirklichen Arzte, und zwar vom Hausarzte, d. h. dem, welcher den Betreffenden am längsten und in der neuesten Zeit ärztlich behandelt hat, ausgestellt und gerichtlich beglaubigt sein. 2. Es muß folgendes enthalten: a)  eine möglichst genaue und vollständige Schilderung der Konstitution des Betreffenden, sowohl nach der äußeren Form, in bezug auf Statur, Proportion des Körpers, Farbe und Ausdruck des Gesichtes usw., als auch nach den inneren Verhältnissen, insoweit ihn der Arzt aus der Beobachtung und Behandlung in vorgekommenen Krankheitsfällen hat beurteilen können. b) die Angabe, wie lange der Arzt denselben überhaupt kennt und ihn ärztlich behandelt hat, welchen Krankheitszufällen derselbe unterworfen gewesen, wie er sie überstanden hat und inwieweit sie Krankheitsanlagen zurückgelassen haben oder sonst von Folgen in Ansehung des Gesundheitszustandes gewesen sind. c) insbesondere auch die Angabe, ob derselbe die Kinderblattern oder die Kuhpocken, Scharlachfieber, Masern usw., und in wel­ chem Alter er diese Krankheiten überstanden hat. In Ansehung der Kuhpocken zugleich: ob sie ihren vollkommenen regelmäßigen Verlauf gehabt haben, so daß an ihrer schützenden Kraft nicht zu zweifeln ist. Im Falle über den Erfolg der stattgefundenen Kuhpockenimp­ fung ein Zeugnis von dem Arzte, der sie verrichtet hat, nicht mehr beizubringen wäre, so ist dieses besonders zu bemerken, und hat dann der das Gesundheitsattestat ausstellende Arzt aus der Beschaffenheit der Impfnarbe über den stattgefundenen Erfolg zu urteilen. d) die vom Arzte ausgesprochene Überzeugung, daß der zu Versichernde keine das Leben gefährdende oder verkürzende Krankheit oder Krankheitsanlage habe, und endlich. e) die Versicherung, daß der Arzt das Zeugnis ganz seiner Überzeugung und Amtspflicht gemäß ausgestellt und in Beziehung auf den Gesundheitszustand des betreffenden Subjekts nichts verschwiegen habe. […] Settlement of Equitable Society (1762) (Untersuchung auf Pocken und Gicht zum Zweck der Prämiendifferenzierung); ebd. Bye-Law 30 (1802) (ausdrücklich Untersuchung auf „cow pox“ and „small pox“ erforderlich). Ähnlich Bachmann (2019), S. 90 ff.; Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 544 ff. 519 Z. B. Cl.  17 Deed of Settlement of Equitable Society (1762). Vgl. Bachmann (2019), S. 68 f.; Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 544; Hellwege, ZRG 131 (2014), 226, 244; Marshall (1. Aufl. 1805), S. 667. 520 Abgedruckt in Sammlung-AVB II, 2. Ähnlich Abs. 5–7 AVB Lübecker Lebensversiche­ rungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB II, 21) (mit eidesstattlicher Versicherung zweier Zeugen über die Richtigkeit der Angaben in Abs. 6 S. 3); §§ 26 S. 2, 28, 35 S. 1 AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830) (Sammlung-AVB II, 7); §§ 6, 7, 25 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB II, 23) (ebenso mit eidesstattlicher Versicherung zweier Zeugen); §§ 33, 47 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stutt­ gart (1854) (Sammlung-AVB II, 16); §§ 6 II, III, IV, 30 I Nr. 2, 4 AVB Germania Lebens-Ver­ sicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

§ 60. Wenn sich nach erfolgter Aufnahme eines Versichernden finden sollte, daß er bei sei­ ner Deklaration und in Ansehung der beigebrachten Zeugnisse nicht aufrichtig und ehrlich zu Werke gegangen wäre, so verliert er sein Recht an die Bank, ingleichen die etwa schon eingezahlten Gelder.“

Die AVB der Gothaer mögen also auf den ersten Blick recht viele Gemein­ samkeiten beispielsweise mit dem Reglement der preußischen Wittwen-Verpfle­ gungs-Anstalt von 1775 aufweisen, doch lässt sich der Ursprung der deutschen Lebensversicherungsbedingungen eben auch lückenlos mit den Bestimmungen der englischen Versicherer erklären.521 Fest steht auf alle Fälle, dass das preußische ALR mit seinen seerechtlich fundierten Regelungen völlig abseits dieses Entwick­ lungsprozesses stand. 5. Fazit: wie nachhaltige wirkte das ALR auf die deutschen Feuerversicherungsbedingungen? Das preußische Landrecht hat dem Recht der Gefahranzeige also zum ersten Mal eine sichtbare dogmatische Struktur gegeben. Auf die AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt konnten seine Tit. II Tit. 8 §§ 2053–2063 einen nach­ weislichen Einfluss ausüben. Anderes gilt aber für die Bedingungen der deutschen Lebensversicherer. Schließlich schwand die kasuistische Fülle des ALR auch wie­ der merklich aus den deutschen Feuerversicherungsbedingungen. Hatten die Vor­ schriften des Allgemeinen Landrechts nun doch keine nachhaltigere Bedeutung für die deutsche Binnenversicherungspraxis? Das Vorbild des ALR wirkte subtiler auf die Praxis als auf den ersten Blick ersichtlich. Mit dem ALR kam zum ersten Mal die Idee einer ausdrücklichen, schriftlich niedergelegten Sanktionsfolge ins Versicherungsrecht, falls der Versi­ cherungsnehmer eine Gefahranzeige fehlerhaft oder gar nicht getätigt hatte.522 In der vorgesetzlichen Praxis hatte für solche Rechtsfolgenanordnungen noch über­ haupt kein Bedürfnis bestanden. Diese neue dogmatische Struktur blieb dem deut­ schen Feuerversicherungsrecht auch erhalten, als die Gefahranzeigevorschriften der AVB zunehmend abstrakter wurden. Die Entwicklung dieser stabilen und einheitlichen Praxis dürften die erstmals in §§ 2026, 2027 ALR laut ausgesprochenen Generalklauseln zumindest rasch beför­ dert haben. An dieser ausdrücklich formulierten und von vielen AVB verwendeten Sanktionsnorm entfachte sich im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts eine breite wissenschaftliche Debatte, unter welchen Bedingungen die Versicherungsgesell­ 521 Zur Herkunft der Klauseln zur Gesundheitsuntersuchung aus dem englischem Recht ganz ausdrücklich Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 22; zur Parallelität der englischen und deutschen Bedingungen auch Hellwege, ZRG 131 (2014), 226, 249 ff. 522 P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 633, meint sogar, das ALR habe zum ersten Mal überhaupt klar den Unterschied zwischen Pflichten und Obliegenheiten herausgearbeitet.

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schaften das scharfe Schwert des vollständigen Anspruchsverfalls zur Hand neh­ men durften. Gerade diese Debatte griff die Rechtsgedanken der §§ 2024 ff. ALR sogar ausdrücklich wieder auf und konnte schließlich nachhaltig zur Entwicklung allgemeiner versicherungsrechtlicher Grundsätze beitragen.523

VII. Die Gefahrerhöhung Das Problemfeld der „Gefahrerhöhung“ ist im Endeffekt ein Produkt der glei­ chen versicherungstechnischen Bedürfnisse, die schon zu Regeln über die vorver­ tragliche Gefahranzeige geführt hatten. Wie soll der Versicherer reagieren, wenn sich während der Vertragsdauer das übernommene Risiko erheblich erhöht? Schon in der historischen Feuerversicherung konnte das beispielsweise daher rühren, dass die Bauart eines Gebäudes verändert oder plötzlich ein feuergefährliches Gewerbe in der Nachbarschaft aufgenommen wurde.524 In der Lebensversicherungspraxis ließen sich die Fallgruppen der Gefahrerhöhung demgegenüber meist vergleichs­ weise scharf konturieren: eine relevante Gefahrerhöhung konnte zum Beispiel in der Aufnahme eines riskanten Berufes, der Einziehung in den Kriegsdienst oder in Reisen zu gefährliche Erdteilen liegen.

1. Das Schweigen der staatlichen und englischen Versicherungspraxis zur Gefahrerhöhung Sucht man jedoch in englischen Versicherungsbedingungen oder in den Regle­ ments der Feuersozietäten nach rechtlichen Lösungsansätzen zu dieser Problema­ tik, so wird man dort ein weiteres Mal feststellen müssen, dass ihnen entsprechende Klauseln schlichtweg unbekannt waren. Der Grund ist der gleiche wie schon bei der vorvertraglichen Gefahranzeige: die öffentlich-rechtlichen Brandkassen kannten überhaupt keine risikoadäquate Prämientarifierung, sodass auch etwaige Gefahr­ erhöhungen sie überhaupt nicht tangierten. In der englischen Rechtsordnung trug jede Gefahranzeige den rechtlichen Cha­ rakter einer „warranty“. Mit den Angaben, die der Versicherungsnehmer bei Ver­ tragsschluss tätigte, garantierte er im Zweifel nicht nur den Bestand, sondern auch den Fortbestand der deklarierten Umstände. Erhöhte sich die Gefahr, ohne dass die Vertragsparteien eine ausdrückliche Regelung hierüber für nötig befunden

523 Zu dieser Entwicklung, die erst später im 19. Jhdt. einsetzte, die aber immer wieder Be­ züge zum ALR aufwies, s. später unter § 3 D VI 2. 524 Zu Gefahrerhöhung nach heutigem Recht inkl. weiteren Beispielen, vgl. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1251 ff.; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 152 ff. (mit zahlreichen Bei­ spielen); Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 23 Rn. 7 ff.; Wandt (6. Aufl.  2016), Rn. 853 f.

226

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

hatten, so erlosch einfach die vertragliche Verpflichtung des Versicherers.525 Für die deutsche Binnenversicherung konnte dieser Gedanke der englischen Rechts­ ordnung nicht so einfach fruchtbar gemacht werden. Dennoch ließen die frühen Assecuranz-Compagnien des 18. Jahrhunderts, soweit sie überhaupt gegen Feuer­ gefahr zeichneten, den Rechtsanwender über die Frage der Gefahrerhöhung im Ungewissen, so etwa die Erste und Vierte Hamburgische Assecuranz-Compag­ nie, die letztlich überhaupt keine Vorkehrungen in dieser Hinsicht trafen. Erst die Fünfte Hamburgische Assecuranz-Compagnie sprach im Jahr 1789 eine sehr knappe Regel für den Fall aus, dass der Versicherungsnehmer durch sein Verhalten eine Gefahrerhöhung herbeiführte:526 „Wenn sich die Gefahr nach Schließung der Assecuranz durch Zuthun des Versicherten ver­ größert, so ist er verbunden, der Compagnie davon unter dieser Polize Anzeige zu machen, und sich über die Verbesserung der Prämie mit ihr zu vergleichen, oder dem Ausspruch von Schiedsrichtern zu unterwerfen.“

Was die Lebensversicherung betraf, so sah auch die preußische Witwen-Ver­ pflegungs-Anstalt noch keine ausdrücklichen Rechtsfolgen für die Aufnahme eines gefährlichen Berufes oder ähnlicher Gefahrerhöhungen vor, während zur gleichen Zeit die Hamburgische Versorgungs-Anstalt nur einen eng umrissenen Einzelfall regelte, nämlich dass die versicherte Person nach Eintritt in die Anstalt eine ge­ fährliche Seereise unternahm.527 Im Kontrast zu den äußerst schwach ausgebildeten Regeln der Feuer- und Le­ bensversicherungspraxis warteten Th. II Tit. 8 §§ 2117–2163 ALR mit einer ganzen Reihe an Vorschriften zur Gefahrerhöhung auf, davon zwei zur Lebensversiche­ rung (§§ 2152, 2153) und sieben zur Feuerversicherung (§§ 2157–2163). Wurden die gesetzlichen Regeln zur Gefahrerhöhung also wieder zum Teil aus dem Seever­ sicherungsrecht der Assecuranz- und Havereyordnungen entwickelt, wie es auch schon an anderen Stellen beobachtet werden konnte?

525

Zu den „warranties“ nach englischem Recht, s. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 16 ff.; Marshall (1. Aufl. 1805), S. 193 ff., 248 ff.; Ogis (2019), S. 198 (explizit zur Gefahreröhung in der Feuerversicherung). Einige englische Versicherer verwendeten allerdings Klauseln, die die­ sen Sachverhalt zum Ausdruck brachten, z. B. Cl. 9 Policy Form of Sun Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 538) (allerdings nur zum begrenzen Einzelfall der Translokation versicher­ ter Mobilien); Policy of Royal Exchange Assurance (1800) (Marshall [1805], Appendix VII, S. 724) (ohne fortlaufende Artikelzählung). 526 Policenform unter § 18 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789) (Handlungs-­ Zeitung 1789, 71). Daneben hieß es in demselben Policenmuster im Zusammenhang zu den de­ klarationspflichtigen feuergefährlichen Waren, dem Versicherer müsse auch angezeigt werden, „wenn sie nach geschlossener Assecuranz dahin gelegt werden“. Auch darin liegt eine etwas versteckte Regel zur Gefahrerhöhung. Ein weiteres Mal sei aber darauf hingewiesen werden, dass die Fünfte Assecuranz-Compagnie die Feuerversicherung erst 1789 aufnahm und daher die Normen des ALR, welche schon im EAGB von 1785 formuliert waren, nicht unmittelbar geprägt haben konnte. 527 §§ 23–25, 74 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (Textausgabe 1778).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

227

2. Erste Ansätze von Gefahrerhöhungsvorschriften im Seeversicherungsrecht der AHOen, des EAGB und des ALR Damit nimmt die Untersuchung ihren Ausgang wieder im Seeversicherungsrecht der Hamburgischen AHO. Sie regelte lediglich eine Handvoll an Einzelfällen, die assoziativ und ohne systematischen oder dogmatischen Zusammenhang über das gesamte Gesetz verstreut waren. Die einschlägigen Vorschriften betrafen in ers­ ter Linie die Änderung der vertraglich vorgesehenen Schifffahrtsroute oder die Auswechslung des ursprünglichen Schiffs.528 Tit. V Art. 18 AHO behandelte einen notwendigen, durch Naturgewalten erzwungenen Schiffswechsel, und zwar im ge­ setzessystematischen Zusammenhang mit dem „Risico oder der Gefahr der Asse­ curadeurs“ (Tit. V); dagegen stand die willkürliche Verlegung der Reiseroute durch den Schiffer in Tit. VII Art. 5 AHO unter der Titelüberschrift „Von des Schiffers und Schiffs-Volcks Versehen“ (Tit. VII).529 Trotz des mangelnden inneren Zusam­ menhangs zeigten beide Normen allerdings schon eine wertende Differenzierung zwischen zwei hauptsächlichen Fallgestaltungen: das maßgebliche Unterschei­ dungskriterium lautete, ob die Änderung durch Zufall eingetreten oder vom Ver­ sicherungsnehmer veranlasst worden war. In den beiden Normen der AHO hieß es: „Tit. V Art. 18. Wann ein Schiff strandet, oder sonst durch Sturm und Ungewitter in ei­ nen solchen Zustand geräth, daß es seine vorgehabte Reise nicht vollführen kan, und der Schiffer ein anders Schiff zu weiterer Fortbringung der Ladung oder der geborgenen Güter häuret, so bleiben die Assecuradeurs nichts destoweniger für alle ausserordentliche Kosten, auch Gefahr und Schaden verbunden, der den Gütern in solchen gehäureten Schiffen oder Fahr-Zeugen, bis dieselben an den zur Löschung bestimmten Ort angekommen, zustossen mögte: Es soll aber der Assecurirte, so bald es geschehen kan, den Assecuradeurs von sol­ cher Veränderung des Schiffs Nachricht ertheilen. […] Tit. VII Art. 5. Wenn ein Schiffer seine Reise verkürzet, ist der Risico geendiget, und die Prämie verdienet. Verlängert er aber dieselbe, z. E. daß er an einen anderen Ort hingehet, als wohin er destiniret ist, und es geschiehet solches mit Wissen und Willen des Assecur­ irten, so ist der Assecuradeur, für den Schaden der dem Schiffe oder den Gütern auf einem solchen Umwege zustoßen mögte, überall nicht gehalten.“

Die Arbeitstechnik der nun folgenden preußischen Gesetzgebungsarbeiten wirkt bereits vertraut: zunächst reicherten die Gesetzgeber die seerechtliche Kasuistik 528 Auch Dreyer (1990), S. 76, vermutet die Vorschriften zur Reiseveränderung des Schif­ fes als Vorläufer der Gefahrerhöhungsvorschriften. Zu der seerechtlichen Kasuistik auf die­ sem Gebiet vgl. auch Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap.  3 § 13 (S. 70) (ausdrücklich zu den seeversicherungsrechtlichen Fallgruppen des ALR); Marshall (1. Aufl. 1805), S. 193 f.; vgl. Hagena (1910), S. 64; Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV §§ 52, 53 (S. 404); Pöhls, Bd. 4/1 (1832). 529 Abgedruckt bei Dreyer (1990), S. 267. Zum Verschulden des Schiffers in der Hamburger AHO auch Dreyer (1990), S. 144 ff., wonach die Haftung des Assekuradeurs für die Schuld oder Nachlässigkeit des Schiffers eine Neuschöpfung nach Vorbild spezifisch Hamburgi­ scher Seeversicherungsgewohnheiten sei. Zudem zu diesem Themenkomplex vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 209 f., 224 ff.; ebd. Bd. 4 S. 282 spezifisch zu Tit. VII Art. 7 AHO (1731).

228

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

innerhalb solcher Bestimmungen an. Die preußische Assecuranz- und Haverey­ ordnung, das EAGB und ALR befassten sich, neben der Veränderung des Schiffes und der Schiffsroute,530 auch mit Fällen wie der Auswechselung des Schiffers,531 dem Absegeln eines Schiffes ohne den vereinbarten schützenden Schiffskonvoi,532 dem Aufschub des Reisebeginns bis zu einer „gefährlichen Jahreszeit“,533 dem Zurücklassen eines Teils der Ware oder der Verladung der Waren auf andere als die vereinbarten Schiffe.534 Jede einzelne Norm erhielt dabei, wie es schon im Hamburgischen Seeversi­ cherungsrecht der Fall gewesen war, eine selbstständige Rechtsfolge, sodass es sich bei dem gesamten Regelungskomplex der „Gefahrerhöhung“ ursprünglich um nicht mehr als ein gebündeltes Konvolut von Einzelvorschriften handelte. Die Rechtsfolgen, die diese punktuellen Vorschriften anordneten, spiegelten im Einzel­ nen die Differenzierung wider, welche schon die AHO von 1731 verwendet hatte: eine willkürliche Veränderung der Umstände ohne vorherige Parteiabrede befreite den Assekuradeur stets von seiner Leistungsverpflichtung.535 Über eine zufällige Veränderung musste der Versicherungsnehmer dem Assekuradeur in den meisten Fällen aber lediglich eine Anzeige erstatten.536 Auffällig ist vor allen Dingen, dass innerhalb dieser kleinteiligen Sammlung von Vorschriften noch nicht alle die eigentliche Erhöhung der Gefahr adressierten. Schon die erwähnten Bestimmungen über das Zurücklassen eines versicherten Wa­ renteils lassen sich nach heutigem Verständnis eher unter das Schlagwort „Fortfall des versicherten Interesses“ fassen. Andere Normen wie die Th. II Tit. 8 §§ 2119, 2120 ALR537 befanden sich zwar im systematischen Zusammenhang zu den Ge­ fahrerhöhungsvorschriften, handeln im Kern aber von der Schuld oder Nachlässig­ 530

§ 77–80 PrAHO (1766) (NCC IV, 83); Th. I Abt. II §§ 1685, 1686 EAGB (1785) (Textaus­ gabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 [2003]); Th. II Tit. 8 §§ 2122, 2123 ALR (1794) (Text­ ausgabe von Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl. 1996]). 531 § 2139 ALR (1794) (ohne entsprechendes Vorbild in EAGB oder PrAHO). 532 § 86 PrAHO (1766); §§ 1760, 1761 EAGB (1785) (systematisch insoweit noch im Abschnitt zur „Art der Gefahr“ angesiedelt); §§ 2211, 2121 ALR (1794). Vgl. zu einer ähnlichen Klausel schon Tit. IV Art. 3, 4 AHO (1731); Dreyer (1990), S. 126 ff. 533 § 76 PrAHO (1766); §§ 1689–1695 EAGB (1785); §§ 2126–2139 ALR (1794). 534 § 105 PrAHO (1766); §§ 1696–1704 EAGB (1785); §§ 2140–2049 ALR (1794). 535 So z. B. § 2121 ALR (1794) (vgl. § 86 PrAHO [1766], § 1761 EAGB [1785]) zum freiwil­ ligen Verzicht (des Schiffers) auf den vereinbarten Schiffskonvoi oder § 2122 ALR (1794) zur „eigenmächtigen“ Verlängerung oder Veränderung der Reise (vgl. § 77 PrAHO [1766]; § 1685 EAGB [1785]). 536 So z. B. § 2124 ALR (1794) (vgl. § 77 PrAHO [1766]; § 1687 EAGB [1785]) zur Änderung der Schiffroute wegen „Seesturm und Ungewitter, Verfolgung von Feinden oder Räubern, oder andere unvermeidliche Zufälle“. In einigen spezifisch seeversicherungsrechtlichen Konstel­ lationen machte eine Anzeige der Gefahrerhöhung freilich keinen Sinn: wenn zum Beispiel der Schiffer „durch Wind und Wetter zu [der Convoy] stoßen verhindert“ war (§ 2211 ALR [1794], vgl. § 1760 EAGB [1785]), so musste der Versicherer schlicht alle dadurch verursachten Schäden ersetzen. 537 Entspr. § 68 PrAHO (1766); § 1684 EAGB (1785).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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keit des Versicherten, der den Versicherungsfall selbst verursacht hat. Dass solche Normen über die selbstverschuldete Verursachung des Versicherungsfalles noch im Allgemeinen Landrecht mit den Vorschriften über die Gefahrerhöhung vermischt waren, rührte allem Anschein nach daher, dass auch das regelungstechnische Vor­ bild, die Hamburgische AHO, einzelne Fälle der Gefahrerhöhung (Tit. VII Art. 5 AHO) zunächst als einen Fall „Von des Schiffers und Schiffs-Volcks Versehen“ aufgefasst hatte.538 3. Auf dem Weg zu einer Gefahrerhöhungsdogmatik: die Generalklauseln in Th. II Tit. 8 §§ 2117, 2118 ALR Die nachhaltige Leistung des Landrechts liegt – wie so oft – auch hier in sei­ ner Bestrebung, aus der fast unüberblickbaren Fülle kasuistischen Materials eine allgemeingültige Generalklausel zu destillieren, welche die Wertungen des See­ versicherungsrechts auf einen gemeinsamen Nenner brachte. So stellte man dem ganzen Themenkomplex zur Gefahränderung bzw. -erhöhung bereits im Entwurfs­ stadium die Th. I Abt. II §§ 1682, 1683 EAGB – die späteren Th. II Tit. 8 §§ 2117, 2118 ALR – voran: „§ 1682. Während der Versicherungszeit, darf der Versicherte, bey Verlust seines Rechts, nichts vornehmen, oder geschehen lassen, wodurch die Umstände, unter welchen die Ver­ sicherung geschlossen worden, zu des Versicherers Nachtheil geändert, oder seine Gefahr vergrößert werde. § 1683. Von Vorfällen dieser Art, welche sich ohne sein Zuthun ereignen, muß der Versi­ cherte die erhaltenen Nachrichten dem Versicherer unverzüglich mittheilen.“

Nahm der Versicherungsnehmer eigenmächtig eine Erhöhung oder Änderung der Gefahr vor oder duldete er sie zumindest, so musste der mit einem Verlust sei­ nes Anspruchs rechnen. In allen anderen Fällen, in denen sich die übernommene Gefahr nur aus objektiven, zufälligen Gründen erhöhte oder zum Nachteil des Assekuradeurs veränderte, waren die neuen Umstände dem Assekuradeur anzu­ zeigen, sodass die Parteien sich über das weitere Vorgehen verständigen konnten. Allerdings wurde bald nach Veröffentlichung des Entwurfes moniert, dass der § 1683 EAGB keine ausdrückliche Rechtsfolge enthalte. Der Verlust des Leistungs­ anspruchs solle besser – so meinte die „Conferenz“ aus Johann Georg Büsch und den Praktikern Moller und Gaedertz – „expresse verordnet werden“, falls „erhal­ tene Nachrichten“ von Schiff und Ladung dem Versicherer nicht angezeigt wur­ den.539 Eine entsprechende Rechtsfolgenanordnung hatte der Entwurfsverfasser offensichtlich noch nicht für nötig gehalten oder gar nicht in Erwägung gezogen – 538

Zu einer detaillierten rechtsvergleichenden Analyse über die Entwicklung jener rechts­ dogmatischen Kategorie, s. unter § 2 D IX 3.  539 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 309 („Conferenz“ zu § 1683 EAGB = § 2118 ALR).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

tatsächlich war sie ja auch in den historischen Versicherungsbedingungen bis dato kaum niedergeschrieben worden. Die Anregung der „Conferenz“ fand Berück­ sichtigung. Während § 2117 ALR seinen Vorgänger aus § 1682 EAGB praktisch wortlautgemäß übernahm, ergänzte der Gesetzgeber in § 2118 ALR die geforderte ausdrückliche Sanktionsfolge: „§ 2118. Ereignen sich Vorfälle dieser Art, ohne Zuthun des Versicherten: so muß er die erhaltenen Nachrichten, bey Verlust seines Rechts in Ansehung aller nachher sich ereig­ nenden Unglücksfälle, dem Versicherer binnen der im Ersten Theile Tit.  V. §.94. sqq. bestimmten Fristen mittheilen; auch zur Abwendung des daraus entstehenden Nachtheils, schleunig zweckmäßige Vorkehrungen treffen.“

4. Die Schöpfung von Parallelvorschriften für das Binnenversicherungsrecht Welche Auswirkungen hatte das Vorgehen des Gesetzgebers aber nun auf die – auch hier typischerweise als Annex zur Seeversicherung geregelte – Feuer- und Lebensversicherung? In der vorangegangenen Untersuchung über die Gefahran­ zeige beim Vertragsschluss wurde schon herausgearbeitet, wie der Gesetzgeber mithilfe der abstrakten dogmatischen Strukturen, die er aus der Seeversicherung herauskristallisiert hatte, im Anschluss auch ein zweckentsprechendes Feuer- und Lebensversicherungsrecht konstruierte. a) Die Gefaherhöhungsvorschriften in §§ 2152–2163 ALR als Fortführung der seerechtlichen Dogmatik Auch auf dem Gebiet der Gefahrerhöhung ahmten die feuer- und lebensversi­ cherungsrechtlichen Spezialvorschriften gewissermaßen in Kleinform die Struktur des Seeversicherungsrechts nach. Das begann schon damit, dass der Gesetzgeber die Vorschrift des Th. II Tit. 8 § 2156 ALR – eine Norm, die sich mit der Verur­ sachung des Versicherungsfalles durch den Versicherungsnehmer befasste – mit dem Themenkomplex der Gefahrerhöhung verwob. Ganz ähnliches war ja schon im Seeversicherungsrecht geschehen. Aber auch inhaltlich führten die Normen den wertungsmäßigen Unterschied zwischen „gewillkürter“ und „objektiver“ Gefahrerhöhung fort:540 „§ 2152. Hat jemand sein eignes Leben versichern lassen: so hört die Versicherung auf, wenn er ohne des Versicherers Einwilligung außer Europa, oder in den Krieg, oder zur See geht, oder sonst eine für sein Leben gefährliche Lebensart ergreift; es sey denn, daß die Versicherung auf diese Fälle ausdrücklich gerichtet. 540

Dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 532 zur Feuerversicherung, ebd. Bd. 4 S. 549 f. zur Lebensversicherung; Müssener (2008), S. 161 ff.; Neugebauer (1990), S. 35.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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§ 2153. Giebt aber der Versicherte noch in Zeiten dem Versicherer von einem solchen Vor­ haben Nachricht, so findet für die noch nicht abgelaufene Zeit das Ristorno statt. […]541 § 2157. Wird ein Theil der versicherten Sachen an einen andern als den in der Police be­ stimmten Ort der Aufbewahrung gebracht: so hört die Gefahr des Versicherers in so weit auf, und er behält dennoch die ganze Prämie. § 2158. Wird aber des Versicherten Wohnung, oder der in der Police bestimmte Ort der Aufbewahrung sämmtlicher versicherten Sachen verändert: so muß dieses, bey Verlust des Rechts, dem Versicherer schleunig bekannt gemacht werden. § 2159. Alsdann hat der Versicherer innerhalb der §. 2137. bestimmten Frist die Wahl: ob er den Contrakt fortsetzen, oder davon abgehen, und nach Verhältniß der noch nicht abge­ laufenen Zeit, das Ristorno statt finden lassen wolle. § 2160. Wenn durch Veranlassung des Versicherten eine gefährliche Nachbarschaft entsteht: so ist der Versicherer für den daraus erwachsenden Schaden nicht verhaftet. § 2161. Ein Gleiches findet statt, wenn die gefährliche Nachbarschaft zwar ohne des Versi­ cherten Zuthun entstanden ist, derselbe aber die davon erhaltene Nachricht dem Versicherer nicht binnen der §. 2137. bestimmten Frist mitgetheilt hat. § 2162. Ist die Anzeige gehörig geschehen: so hat es bey der Vorschrift des §. 2159. sein Bewenden. § 2163. Eine Veränderung in der Person des Eigenthümers der versicherten Sache, ändert nichts in der Versicherung, wenn nicht damit zugleich eine Veränderung des Orts, der Auf­ sicht, der Art der Aufbewahrung, oder der Nachbarschaft verbunden ist.“

Für die vorliegend konkret benannten Fallgruppen der Feuerversicherung – den Ortswechsel versicherter Mobilien, die Entstehung einer gefährlichen Nachbar­ schaft, die Veränderung der versicherten Person – finden sich in den Plänen der Hamburger Assecuranz-Compagnien oder den Reglements der staatlichen Brand­ kassen keine direkten Vorbilder. Etwas anderes gilt sehr bedingt, wie vorhin ge­ zeigt, für die Lebensversicherung. Freilich liegt auf der anderen Seite der Gedanke fern, der preußische Gesetz­ geber habe sie praktisch willkürlich aus dem Blauen geschöpft. Allerdings wie­ sen die §§ 2152–2163 ALR auffällige Parallelen zu den kasuistisch gesammelten, vor Vertragsschluss anzuzeigenden Risikofaktoren (§§ 2050–2063 ALR) auf. Bei der Lebensversicherung handelte es sich dabei vor allem um den Beruf des Ver­ sicherten,542 bei der Mobiliarfeuerversicherung um die Beschaffenheit des Ortes, an dem die versicherten Gegenstände aufbewahrt wurden, oder um dessen Nach­ barschaft.543 Nachdem der preußische Gesetzgeber überhaupt erst auf die Idee ge­ kommen war, diverse Gefahrumstände zusammenzutragen und in Gesetzesform zu 541

§§ 2154–2156 ALR (1794) behandelten, wie angedeutet, die Frage des Eigenverschuldens des Versicherten am Versicherungsfall. Dazu insgesamt unter § 2 D IX 2. 542 § 2050 ALR (1794); dazu s. auch oben § 2 D VI 2 und 3 b. 543 §§ 2053–2063 ALR (1794); dazu s. auch oben § 2 D VI 2 und 3 c.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

gießen, dürfte nur noch ein kleiner Schritt zur zweckentsprechenden Konstruktion und Kodifikation der §§ 2152–2163 ALR gefehlt haben – zumal, da der Gesetz­geber kurz vorher entsprechende abstrakte dogmatische Strukturen geschaffen hatte. Bei den lebensversicherungsrechtlichen Normen in §§ 2152, 2153 ALR könnten ergänzend auch die Klauseln herangezogen worden sein, welche in Hamburg und bei den in Deutschland tätigen englischen Versicherern gebräuchlich waren. In der englischen Rechtspraxis waren gefährliche Berufe, Seereisen oder Reisen in gefährliche Erdteile zwar nicht explizit als Gefahrerhöhungstatbestände im Sinne des ALR, jedoch teilweise als Kriterien zur Prämientarifierung oder als völlige Ausschlussgründe benutzt worden.544 Ein solches Vorgehen würde jedenfalls zur Arbeitstechnik des preußischen Ge­ setzgebers passen, der schon in anderen Fällen das Material aus der Versicherungs­ praxis – auch aus der englischen – aufgegriffen, neu sortiert und in eine ihm zweck­ mäßig erscheinende, seeversicherungsrechtlich geprägte Struktur eingepasst hat. b) Die Th. II Tit. 8 §§ 2158, 2163 ALR als nachweisliche Eigenschöpfungen des preußischen Gesetzgebers Zwei Normen des Landrechts, Th. II Tit. 8 § 2158 und § 2163 ALR, brachten allerdings noch nachweisbar neue Gedanken in das Feuerversicherungsrecht und verdienen daher besondere Aufmerksamkeit. § 2158 ALR privilegierte den Versicherungsnehmer, wenn dieser den Aufbewah­ rungsort sämtlicher versicherter Mobilien änderte, also einen kompletten Umzug vornahm.545 Die Norm war im EAGB noch nicht enthalten und trat zum ersten Mal während der Umarbeitung des Entwurfs zu Tage. Baumgarten notierte während der Redaktion der Monita zu Th. I Abt. II § 1707 EAGB – dem späteren § 2157 ALR – eine Anmerkung in die Gesetzesmaterialen: es erschien ihm angebracht, zwischen der nur teilweisen und der vollständigen Ortsveränderung der versicher­ ten Mobilien zu differenzieren. Der Umzug von einer Mietwohnung in persönliches Eigentum sei dem Versicherungsnehmer „nützlich“.546 Jene Argumentation könnte 544 Nach Cl.  11 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Textausgabe von Hrsg. ­ organ [1833]) wurde für gefährliche Berufe („hazardous assurance“) ein höherer Prämien­ M satz verlangt; gem. Bye-Law 15 (1781) zum Deed of Settlement betrug der Prämienaufschlag für Militärangehörige 22 %. Babbage (1826), S. 62 f., hat jedoch im Detail nachgewiesen, dass einige andere englische Gesellschaften z. B. Seereisen oder Reisen in gefährliche Erdteile ganz vom Risiko ausschlossen; insgesamt wies er auf große Unterschiede in der Praxis einzelner Gesellschaften hin. Insgesamt dazu auch Bachmann (2019), S. 294 ff. 545 Zu §§ 2157–2159 ALR (1794) auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 529; Müssener (2008), S. 220 ff. 546 Anm. Baumgartner zu einem Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 75. 386 (Ostfriesische Regierung zu § 1705 EAGB = §§ 2157, 2158 ALR); das Monitum der Ostfriesischen Regierung selbst lieferte nur sprachliche Anmerkungen zu § 1705 EAGB und ist an sich für die Quellenforschung unbedeutend.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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durchaus noch auf überkommenes Gedankengut aus der kameralistischen Staats­ theorie hinweisen. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass zur gleichen Zeit zahl­ reiche staatliche Brandkassen die Erhaltung und den Wiederaufbau von Grund­ eigentum bezweckten, so liegt es gar nicht fern, dass Baumgarten auch bei der Redaktion des ALR noch gewisse kameralistische Auffassungen vertrat und daher den Erwerb von Grundeigentum begünstigen wollte – namentlich als Garant für eine gesunde Privatwirtschaft, ein vitales Bevölkerungswachstum und sprudelnde Steuereinnahmen. Jedenfalls schaffte es der redaktionelle Vorschlag Baumgartens wirklich, in die Endfassung des ALR aufgenommen zu werden. Dogmatisch weitreichendere Auswirkungen sollte im späteren 19. Jahrhundert ein Gedanke haben, den der preußische Gesetzgeber in § 2163 ALR geäußert hatte. Nach der Vorschrift sollten die Veräußerung der versicherten Sache oder ein sons­ tiger Eigentümerwechsel keinen Einfluss auf den Bestand der Versicherung haben, wenn der Eigentumsübergang nicht zugleich eine Gefahrerhöhung darstellte.547 Mit anderen Worten: sämtliche Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsver­ trag gingen im Wege einer cessio legis auf den neuen Eigentümer über, falls keine gefahrerhöhenden Umstände dazwischen traten. Die auch in Deutschland tätigen englischen Versicherungsgesellschaften hatten für Fälle des Eigentümerwechsels ein ganz anderes Modell gewählt. Wie der Assekuradeur Gaedertz in einem Mo­ nitum zum EAGB ausdrücklich bemerkte, brachte eine Sachveräußerung nach englischem Recht das Interesse des Veräußerers zum Erlöschen; damit endete die Versicherung also, es sei denn, der Erwerber der versicherten Sache verständigte sich mit dem Versicherer über die Fortsetzung des Vertrages.548 Die Hamburgi­ schen Compagnien hatten für den Veräußerungsfall gar keine ausdrücklichen Vor­ kehrungen getroffen. Welcher Quelle der Gesetzgeber die dogmatische Konstruktion des § 2163 ALR entnommen hat, bleibt auch in den Gesetzgebungsmaterialien im Dunkeln. Eine beinahe gleichlautende Norm war allerdings schon in § 1711 EAGB enthal­ ten, sodass den Monita der Handelspraktiker insoweit kein ursächlicher Beitrag zugeschrieben werden kann. Einiges spricht daher letzten Endes für eine Eigen­ schöpfung des Gesetzgebers. Wie oben gesehen, hat der Gesetzgeber ohnehin die Bestimmungen über die Gefahrerhöhung noch nicht von den Vorschriften zur eigenverschuldeten Verursachung des Versicherungsfalles (§§ 2119, 2120, 2156 ALR) getrennt. Auch die Person des Versicherungsnehmers begriff der preußische Gesetzgeber schlichtweg als Faktor des versicherten Risikos – so dürfte es gar nicht mehr fern gelegen haben, den Wechsel der versicherten Person nach § 1711 EAGB bzw. § 2163 ALR als einen Unterfall der Gefahrerhöhung zu behandeln. 547

Vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 533; P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 632; Müssener (2008), S. 242. 548 Vgl. dazu die Bemerkung von Gaedertz im Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 95 (Gaedertz zu § 1711 EAGB = § 2163 ALR). Dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 533; Marshall (1. Aufl. 1805), S. 699 f.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Dabei handelt es sich freilich nur um eine plausibel scheinende Hypothese, nicht um einen Beweis. Zumindest lässt sich aber nachweisen, dass es definitiv in der vollen Absicht des Gesetzgebers gelegen hat, sich insoweit vom englischen Sys­ tem abzuwenden: auf das soeben genannte Monitum des Assekuradeurs Gaedertz, der anstellte des § 1711 EAGB die englische Praxis adaptieren wollte, merkte der Redaktor Baumgarten an, eine Veräußerung sei nur insoweit erheblich, als durch sie eine „gefährliche Handthierung“ entstehe. Der Problemfall der Sachveräuße­ rung solle daher mit den Vorschriften des EAGB zur Gefahrerhöhung (§§ 1708, 1709) gelöst werden.549 Von einer „cessio legis“ oder dergleichen sprach der Ge­ setzgeber, ganz in den Kategorien der Gefahrerhöhung denkend, gar nicht aus­ drücklich – und doch war diese Idee damit praktisch beiläufig in das Feuerver­ sicherungsrecht geraten. 5. Das preußische Landrecht als Basis für eine eigeständige deutsche Versicherungspraxis? Obwohl die vorgesetzliche Praxis – abgesehen von wenigen schwach ausgepräg­ ten Ansätzen – noch frei von Gefahrerhöhungsregeln gewesen war, behandelten seit der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt alle privaten Feuerversicherer jene Problematik mit ausgedehnten AVB-Klauseln. Haben sich die ältesten Feuer­ versicherer also auch hinsichtlich der Gefahrerhöhungsvorschriften aus dem kasu­ istischen Fundus des Allgemeinen Landrechts bedient, wie es die Berlinische in Ansehung der vorvertraglichen Gefahranzeige getan hatte? a) Die Bedeutung des ALR für die Gefahrerhöhungsklauseln der deutschen Feuerversicherungspraxis Ein Blick in die AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt offenbart an dieser Stelle zumindest keine absolut wörtlichen Übereinstimmungen zum ALR. Sie bestimmten in Art. 39–41:550 „Art. 39. [1] Wird die Prolongation einer Police verlangt, so muß zugleich die Anzeige geschehen, ob die Umstände unverändert geblieben und wenn dies nicht der Fall ist, eine neue Aufgabe nach Art. 36 gemacht werden. [2] (…) Art. 40. [1] Werden die versicherten Gegenstände an einen andern als den in der Police be­ merkten Ort gebracht, oder beabsichtigt der Versicherer eine Veränderung der Umstände, welche nach Art. 36 bei Schließung der Versicherung angezeigt werden müssen, so ist er verpflichtet, vorher davon der Anstalt Anzeige zu machen und hat sich, wenn dieselbe es geraten findet, das veränderte Risiko zu übernehmen, erforderlichenfalls über eine den 549

Anmerkung Baumgartens zu einem Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 95 (Gaedertz zu § 1711 EAGB = § 2163 ALR). 550 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 22.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Umständen angemessene Erhöhung der Prämie zu vereinigen. Die Veränderung der Um­ stände und die etwaige Erhöhung der Prämie müssen auf der Police bemerkt werden. [2] Wenn zwischen der Anstalt und dem Versicherten keine Vereinigung zu erreichen ist, so hört von dem Augenblick des Anfanges der beabsichtigten Veränderung die Versicherung auf. Wer die vorgeschriebene Anzeige versäumt, verliert bei entstehendem Feuerschaden allen Anspruch auf Ersatz. Art. 41. Auf Verlangen überträgt die Anstalt das Risiko unentgeltlich auf andere Gegen­ stände oder auf andere Personen, vorausgesetzt, daß es ohne Vergrößerung der Gefahr geschehen könne. Dergleichen Übertragungen sind aber nur gültig, wenn sie von den ver­ waltenden Direktionsmitgliedern auf der Police schriftlich genehmigt werden.“

Wenngleich diese Klausel der Berlinischen in einigen Punkten von der Rechts­ ordnung des Allgemeinen Landrechts abwich, so lassen sich einige inhaltliche Ge­ meinsamkeiten doch nicht übersehen. Das beginnt bei der Klausel in Art. 40 I 1, nach dem jede Ortsveränderung eines versicherten Gegenstandes der Versiche­ rungsgesellschaft angezeigt werden musste; daraufhin stand dieser ein Wahlrecht zu, ob sie den Vertrag auflösen oder eine höhere Prämie verlangen wollte. Umge­ kehrt erlosch der Anspruch des Versicherten aber, falls die Anzeige der Ortsver­ änderung oder anderer Gefahrumstände ganz unterblieben war (Art. 40 II 2).551 Letztlich entsprach dies den Vorschriften in Th. II Tit. 8 §§ 2158, 2159 ALR zum Umzug des gesamten Hausstandes, die während des Gesetzgebungsprozesses auf eigene Initiative des Redaktors Baumgarten entwickelt worden waren. Die Schöp­ fer der „Berlinischen“ AVB, zu höchster Wahrscheinlichkeit Wilhelm Benecke, hatten die versichertenfreundliche Lösung der §§ 2158, 2159 ALR lediglich noch verallgemeinert, sodass diese nun für alle Ortswechsel galten. Auch die ausdrückliche Sanktionsandrohung in Art. 40 II 2 spiegelte im Kern die Rechtsfolgenanordnungen des Landrechts wider. Weder in §§ 2117, 2118, 2158, 2161 ALR noch in Art. 40 II 2 der AVB war diese Sanktion übrigens davon abhän­ gig, ob der Versicherungsnehmer die Gefahrerhöhungsanzeige schuldhaft unter­ lassen hatte oder ob ein Kausalnexus zwischen der veränderten Gefahr und dem schließlich eintretenden Schaden bestand. Zuletzt verrät auch der systematische Standort der AVB-Klausel zur Sachver­ äußerung (Art. 41) einiges über die Quellen der „Berlinischen“ AVB: man setzte die Klausel systematisch in engen Zusammenhang zu den vorangegangenen Ge­ fahrerhöhungsvorschriften, was bislang nur das ALR getan hatte. Auf einem an­ deren Blatt steht, dass der materielle Gehalt des Art. 41 indes wieder mehr an die englische Rechtsgewohnheit erinnert, den Übergang der Versicherung von der Genehmigung der Gesellschaft abhängig zu machen.552 551

Ähnlich § 30 I Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (SammlungAVB I, 6). 552 Ähnlich § 31 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820), der ebenfalls im systematischen Zusammenhang zur Gefahrerhöhung steht; die Gothaer hatte sich dabei vor­ behalten, bei einem solchen Eigentümerwechsel eine Prämienerhöhung wegen erhöhter Gefahr vorzunehmen und die Klausel damit als Gefahrerhöhungsvorschrift ausgestaltet.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Könnten diese Schnittmengen am Ende aber nur historische Zufälle sein? Vieles spricht dagegen. Wilhelm Benecke berief sich in seinem Lehrbuch zum „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ sogar ausdrücklich und ausschließlich auf die Bestimmungen des preußischen Landrechts, soweit es um die Gefahr­ erhöhung ging; noch auf derselben Seite seines Werkes verwies er hinsichtlich des Eigentumswechsels übrigens schwerpunktmäßig auf die englische Feuerver­ sicherungspraxis.553 Insgesamt liegt es angesichts all dieser Indizien sehr nahe, dass Wilhelm Benecke die zitierten Art. 39–41 der AVB aus seinen vorhandenen Kenntnissen über das preußische Gesetz und die englische Praxis in eigener Re­ gie kompiliert hat. Ein ganz einschneidender Unterschied zur Rechtsmaterie des ALR fällt dennoch ins Auge:554 im Gegensatz zu den §§ 2117, 2118, 2158, 2159, 2161, 2162 ALR dif­ ferenzierte die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt nicht zwischen den beiden Kategorien der gewillkürten und der rein objektiven Gefahrerhöhung – immerhin ein ganz zentrales Merkmal der Gefahrerhöhungsdogmatik des ALR. Dafür lassen sich, aus der Nähe betrachtet, jedoch gleich zwei Gründe finden. Erstens schloss die Berlinische noch relativ kurz laufende Verträge mit einer Dauer von einem Jahr bis zu maximal fünf Jahren ab; danach war es den Vertragsparteien möglich, den Versicherungsschutz einvernehmlich zu prolongieren. Die Prolongation wurde aber de facto als neuer Vertragsschluss behandelt, sodass der Versicherungsneh­ mer ohnehin die kompletten, bei Vertragsschluss abgegebenen Gefahranzeigen erneuern musste.555 Das Bedürfnis der Gesellschaft, von einem zufälligerweise erhöhten Brandrisiko Kenntnis zu erlangen, dürfte dadurch bereits regelmäßig be­ dient worden sein. Die zweite Begründung lag in Wilhelm Beneckes persönlicher Einstellung gegenüber der Methode, wie das Landrecht eine objektive Gefahrerhö­ hung behandelte. Regelungen wie §§ 2053–2063 ALR hielt er expressis verbis für „[h]art und wider die allgemeinen Versicherungsgrundsätze“ – denn die Parteien hätten sich, so Benecke, gerade über die Übernahme des Risikos als Ganzes ge­ einigt; eine „Vergrößerung der Gefahr, welche nach dem Contracte ohne Schuld des Versicherten entsteht, muß keine Aenderung im Contracte hervorbringen.“556 Bei der Schöpfung der „Berlinischen“ Feuerversicherungsbedingungen scheint Benecke in der Tat ganz dieser Wertung gefolgt zu sein. Als die „Erste Gründungswelle“ der Privatversicherungswirtschaft immer mehr an Dynamik gewann, näherten sich die AVB verschiedener Gesellschaften dem 553

Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 532. Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 139, der die AVB der „Berlinischen“ als Rückschritt im Vergleich zum ALR betrachtet. 555 Art. 39 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); ähnlich § 29 Verfas­ sung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Vertragsprolongation schon nach einem Jahr erforderlich); Art. 71–74 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB I, 14) (Vertragsprolongation mit erneuter Anzeige von Gefahrumstän­ den alle 5 Jahre). 556 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 532. 554

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Preußischen Landrecht sogar noch näher an. So hieß es in den ältesten AVB der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft unter §§ 9–11:557 „§ 9. Eine gleiche Anzeige ist zu machen, wenn versicherte Gegenstände ganz oder zum Teil die in der Police angegebenen Eigentümer wechseln, mit Ausnahme jedoch von Erb­ schaftsfällen. § 10. [1] Wenn wesentliche die Gefahr vermehrende Veränderungen an den Gegenständen vorgenommen, oder neue Anlagen mit denselben verbunden werden; wenn feuergefähr­liche Gewerbe in dem versicherten Lokale, oder in demjenigen, welches versicherte Gegen­ stände enthält, errichtet; oder wenn feuergefährlichere Gegenstände, als die ursprünglich versicherten, darin niedergelegt werden, so ist hiervon unverzüglich Anzeige zu machen […] [6] Der Gesellschaft bleibt in den durch diesen und den 9. Paragraphen vorgesehenen Fällen überlassen, zu bestimmen: ob die Versicherung zu dem bisherigen, oder – bei etwa erhöhtem Risiko – zu einem höheren Prämiensatze fortdauern, oder aber ganz aufhören soll. In jedem Falle verbleibt die gezahlte Prämie der Gesellschaft. § 11. [1] Die Anzeigen, welche durch die §§ 8, 9, 10 vorgeschrieben sind, müssen späte­ stens innerhalb 14 Tagen nach den bezeichneten Veränderungen geschehen, und zwar bei derjenigen Agentur, bei welcher die ursprüngliche Versicherung stattfand. Unterläßt der Versicherte diese Anzeigen in dem vorgeschriebenen Zeitraume, so verliert er, ohne daß es deshalb irgend einer Förmlichkeit von seiten der Gesellschaft bedürfte, jeden Anspruch auf Entschädigung im Falle eines Brandes und büßt zugleich die bereits gezahlte Prämie ein, welche der Gesellschaft verfällt. [2] Die Versicherung beweglicher Gegenstände hört auf, wenn solche aus den Räumen gebracht werden, in welchen sie versichert sind; es sei denn, daß der Versicherte sich deshalb mit der Gesellschaft vorher verständigt habe.“

Die Grundkonzeption der Aachener AVB hatte sich nicht wesentlich gegenüber den Bedingungen der Berlinischen geändert. Noch immer galt: im Fall einer Gefahr­ erhöhung oblag es dem Versicherungsnehmer, binnen einer bestimmten Frist eine entsprechende Anzeige an den Versicherer zu tätigen;558 wurde die Frist versäumt, so löste schon alleine die Säumnis per se Sanktionen in Form von Anspruchsverlust und Prämienverfall aus, und zwar, ohne dass es auf das Verschulden des Versiche­ rungsnehmers oder auf die Kausalität zwischen dem jeweiligen Gefahrumstand und dem Versicherungsfall ankam.559 Hielt der Versicherungsnehmer die Anzeigefrist hingegen ein, so kam der Gesellschaft freies Ermessen zu, ob sie den Vertrag gegen adäquate Prämienanpassung fortsetzen oder ob sie ihn aufkündigen wollte.560 Selbst die Veräußerung der versicherten Sache hatten die AVB der Aachener in §§ 9, 11 I 557

Dazu auch Müssener (2008), S. 217 ff. Ähnlich Art. 8 I 1, 2 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (SammlungAVB I, 30); § 7 I, II AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (SammlungAVB I, 34). 559 Ähnlich Art. 8 III AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 7 II AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); leicht modifiziert § 5 S. 1, 2 VerbandsAVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38) (prä­ ventive Suspension des Versicherungsschutzes bei allen Arten von nicht genehmigten Gefahr­ erhöhungen, Wiederinkraftsetzung durch Versicherer möglich). 560 Ähnlich Art. 8 I 1, 3 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 8 I AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); leicht modifiziert § 5 S. 3 Verbands 558

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

nun komplett den Gefahrerhöhungsvorschriften untergeordnet,561 während § 11 II im Falle einer Ortsveränderung – genauso wie § 2157 ALR – gar keine Anzeige an den Versicherer mehr vorsah, sondern den Vertrag ipso iure erlöschen ließ. Bemerkenswert ist nur, wie auch die „Aachener“ AVB noch immer nicht kon­ sequent zwischen gewillkürter und objektiver Gefahrerhöhung unterschieden. Sie adressierten nur den Fall der gewillkürten Gefahrerhöhung,562 obwohl die Versiche­ rungsdauer sich schon auf bis zu sieben Jahre erstrecken konnte und erst am Ende dieses Zeitraumes wieder im Rahmen der Vertragsprolongation überprüft werden konnte, ob das zugrundeliegende Risiko sich zufälligerweise geändert hatte.563 Erst gegen Ende des 19. Jahrhundert sollte sich diese Differenzierung wieder fest in den AVB vieler Feuerversicherungsanstalten etablieren.564 Ein Versicherungs­ nehmer, der willkürlich eine Gefahrerhöhung vornahm, verlor seinen Anspruch auf die Versicherungsleistung von Rechts wegen.565 Trat selbige aber zufällig und ohne Zutun des Versicherungsnehmers ein, so schrieben sämtliche AVB bis hinein ins 20. Jahrhundert eine fristgebundene Anzeige vor566 und gewährten der Ver­ sicherungsgesellschaft nach ordnungsgemäßer Deklaration das einseitige Recht, den Vertrag entweder aufzulösen oder die Versicherungsprämie zu erhöhen;567 wurde die Anzeige versäumt, sanktionierten die Gesellschaften schon diese Tat­ sache alleine mit dem Verlust des Versicherungsanspruches und zogen trotzdem die geschuldete Prämie ein.568 Ob diese später ganz geläufige Differenzierung sich aus eigenen Überlegungen der privaten Versicherungsanstalten entwickelt hat oder ob auch die §§ 2117, 2118, 2158, 2159, 2161, 2162 des preußischen Landrechts – immerhin bis ins 20. Jahr­ AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Wahlrecht des Versicherers auf Wiederinkraftsetzung des suspendierten Versicherungsschutzes, s. vorherige Fn.). 561 Ähnlich Art. 9 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 7 I lit. b AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 5 S. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-­Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); vgl. Müssener (2008), S. 222 f. (zu den AVB der „Aachener“). 562 § 10  I AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Sammlung-AVB  I,  26) ist in dieser Hinsicht recht indifferent formuliert und könnte rein nach seinem Wortlaut auch auf rein objektive Gefahrerhöhungen angewandt werden; alleine die beschriebenen gefahrer­ höhenden Handlungen waren typischerweise solche Handlungen, die vom Versicherten oder Versicherungsnehmer selbst vorgenommen wurden. Auch im Kontext anderer zeitgenössischer AVB dürften die Klauseln der Aachener nur den Fall der gewillkürten Gefahrerhöhung im Blick gehabt haben, während andere Konstellationen bei der Klauselgestaltung wohl gar nicht in Erwägung gezogen wurden. 563 Vgl. § 5 I 1 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825); vgl. Müssener (2008), S. 161. 564 Insgesamt dazu Müssener (2008), S. 220. Dazu auch ausführlich unter § 3 D VII 1 a. 565 Z. B. § 5  I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB I, 75). 566 Z. B. § 5 II 1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886). 567 Z. B. § 5 II 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886). 568 Z. B. § 5 II 1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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hundert die einzige Kodifikation des deutschen Binnenversicherungsrechts – diese Weiterentwicklung der AVB angeleitet haben, wird sich nicht endgültig klären las­ sen. Zu hoher Wahrscheinlichkeit steht aber fest, dass die dogmatische Struktur der §§ 2117 ff. ALR der deutschen Versicherungspraxis einen bedeutenden Impuls für die Entwicklung ihrer Gefahrerhöhungsvorschriften gegeben hat, welcher das deut­ sche Versicherungsrecht nachhaltig von der englischen Rechtsordnung entfremdete und so die Basis für eine spezifisch nationale Entwicklungsdynamik schuf. Das gilt vor allem auch für die rechtliche Behandlung der Sachveräußerung in § 2163 ALR.569 Mit ihr ist, möglicherweise ohne dass der preußische Gesetzgeber dies beabsichtigt hatte, erstmals die Idee der cessio legis in das Versicherungsrecht ge­ raten – und auch wenn die AVB diese Idee zunächst nicht in identischer Form in sich aufnahmen, so sollte sie bis hinein ins 20. Jahrhundert die akademische und legislatorische Diskussion prägen.570 b) Ein mittelbar wirkender Einfluss des ALR auf die Lebensversicherungspraxis? Am Ende dieser Betrachtungen zur Gefahrerhöhung lohnt sich noch ein rascher Seitenblick auf die parallel liegenden Klauseln in den privatwirtschaftlichen Le­ bensversicherungsbedingungen. Auch hier beinhalteten schon die ersten und ältes­ ten aller AVB umfangreiche Klauseln zur Erhöhung der übernommenen Gefahr. Eine solche lag hauptsächlich vor, wenn die versicherte Person in den Kriegsdienst trat oder See- bzw. Landreisen in gefährliche Erdteile unternahm. Die AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank bestimmten 1828 in dieser Hinsicht:571 „§ 61. Wenn ein Versicherter in aktiven Kriegsdienst oder in Seedienst geht, wird die sein Leben betreffende Police ungültig. Es bleibt aber dem Eigentümer einer Police unbenom­ men, vor erfolgter Annahme solcher Dienste über die Füglichkeit einer bedingten Fortdauer der Versicherung mit der Bank zu unterhandeln. 569 In diesem Sinne auch P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 633, der ausdrücklich meint, die versicherungsrechtlichen „Obliegenheiten“ und der Übergang des Versicherungsverhältnisses seien durch das ALR geschaffen und dann von den AVB rezipiert worden; dasselbe suggeriert auch die Darstellung bei Müssener (2008), S. 242. 570 Vgl. dazu auch ausführlich unter § 3 D VII 3 a. 571 Abgedruckt in Sammlung-AVB II, 2. Ähnlich Abs. 10 AVB Lübecker Lebensversiche­ rungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB II, 21); §§ 35 S. 1, 36 AVB Leipziger Lebensver­ sicherungs-Gesellschaft (1830) (Sammlung-AVB II, 7); §§ 20, 21 AVB Berlinische Lebensver­ sicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB II, 23) (zudem Leistungsfreiheit gem. § 34 bei „mutwilliger Lebensgefährdung“); §§ 35 II 2, 48, 49 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnis­ bank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16) (außerdem Erlöschen des Vertrages gem. § 51 bei lebens- oder gesundheitsgefährdendem Verhalten, insbesondere bei gefährlicher Berufswahl); §§ 31, 35 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (SammlungAVB II, 31) (mit weiteren Gefahrerhöhungstatbeständen wie der Aufnahme eines gefährlichen Berufes oder eines lasterhaften, lebens- oder gesundheitsgefährdenden Lebenswandels). Vgl. Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 26 (zu den AVB der Gothaer); Verwaltung der Lebensversicherungsbank für Deutschland, Masius’ Rs. 38 (1888), 117, 118 (ebenso).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

§ 62. [1] Will ein Versicherter größere See- oder Landreisen unternehmen, so muß dem Agenten, bei welchem sein Leben versichert ist, zeitig Anzeige davon geschehen, auch das Ziel und die wahrscheinliche Dauer der Reise angegeben werden. Ist die Reise von der Art, daß die Bank eine größere Gefahr dadurch zu übernehmen besorgen muß, so wird die Prämie nach Ermessen erhöht oder aber die ganze Versicherung suspendiert. Unterbleibt die Anzeige, oder wird die Entscheidung der Bank nicht abgewartet, so verliert die Police in dem Falle, daß der Versicherte während des Aufenthaltes außer Landes sterben oder aber mit sehr geschwächter Gesundheit, als offenbarer Folge dieser Reise, zurückkehren sollte, ihre Gültigkeit. [2] Zu den größern und bedenklichen Reisen gehören in dieser Hinsicht solche, die sich über den christlichen und kultivierten Teil von Europa hinaus erstrecken; ferner Reisen nach einem sehr kalten oder sehr heißen Erdstrich, oder in Länder, wo Kriegsoder innere Unruhen, wo ansteckende Krankheiten herrschen usw.“

Die tatbestandsmäßig hier aufgezählten Fallgruppen entsprachen größtenteils denen der englischen Rechtspraxis, wo, wie soeben erörtert, die Thematik des Mi­ litärdienstes oder der Seereise in Klauseln über „hazardous assurances“ vorkamen. Jedoch auch auf dem Feld der Lebensversicherung schwiegen sich die englischen Versicherer – ganz typisch – über konkrete Rechtsfolgen aus. Die innere Struktur in §§ 61, 62 der Gothaer AVB erinnert mit ihrer Verpflichtung zur Anzeige einer Ge­ fahrerhöhung, mit ihrer harten Sanktion im Falle der Nichtanzeige und schließlich auch mit dem einseitigen Wahlrecht der Gesellschaft zwischen Prämienerhöhung oder Vertragssuspension frappierend an die Klauseln der Feuerversicherungsbe­ dingungen. Schon kurz zuvor wurde im Laufe dieser Untersuchung der Verdacht begründet, dass die Gothaer Lebensversicherungsbank sich teilweise an die AVB ihrer älteren Schwester, der Feuerversicherungsbank, angelehnt hat. Dieser Ver­ dacht erhärtet sich jetzt. Über diesen Umweg ist der dogmatische Impuls, der von der ersten Kodifikation des Versicherungsrechts im ALR ausgegangen war, wohl auch auf das Lebensversicherungsrecht übergesprungen. Ein direkter Einfluss des ALR mit seinen insoweit äußerst sporadischen Regeln zur Lebensversicherung kommt hingegen keinesfalls in Frage.

VIII. Die Anzeige des Versicherungsfalles Das Verhältnis zwischen den Vertragsparteien tritt schlagartig in ein neues Sta­ dium, wenn der befürchtete Versicherungsfall wirklich eintritt: wenn also das ver­ sicherte Haus oder Mobiliar abbrennt oder wenn die versicherte Person verstirbt. Dem Versicherten erwächst nun ein subjektiver Anspruch auf die Auszahlung der Versicherungsleistung. Bevor der Versicherte – bzw. in der Lebensversicherung: der Begünstigte – diesen Anspruch geltend machen kann, muss er zunächst aber den Unglücksfall an seinen Versicherer melden.572 Doch hat auch jene Schadensoder Todesfallanzeige in der historischen Entwicklung ganz unterschiedliche recht­ liche Ausprägungen erfahren. 572

Zum heutigen Rechtszustand Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1330 ff.; Prölss / Martin /  Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 30 Rn. 2 ff.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 970 f.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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1. Die Schadens- oder Todesanzeige als Bedingung des Leistungsanspruches Die meisten staatlichen Feuersozietäten des 18. Jahrhunderts hielten eine der­ artige Anzeige nicht einmal für nötig. Die Besichtigung der Brandstelle und die Berechnung des ersatzfähigen Feuerschadens wurden oft schon von Amts wegen angestoßen.573 Das war wahrscheinlich nur deshalb möglich, weil die einzelnen Sozietäten recht kleinräumig operierten und dabei von der jeweiligen Ortsobrig­ keit verwaltet wurden. Dem lokalen Verwaltungsapparat dürfte der Brand in der eigenen Stadt oder im eigenen Dorf freilich kaum verborgen geblieben sein. Im Gegensatz dazu kannte beispielsweise die preußische Wittwen-Verpfle­ gungs-Anstalt von 1775 kein Amtsermittlungsverfahren mehr, was den Todesfall eines versicherten Mitgliedes betraf. Sie forderte von dessen Hinterbliebenen, den Todesfall zur Anzeige zu bringen, und zahlte die eingezeichnete Pension nur aus, wenn der Anspruchsberechtigte den Totenschein des Verstorbenen an die An­ staltsverwaltung einsandte; zugleich musste er durch ein Attest beweisen, dass er selbst noch am Leben war. Die Witwe oder die Waisen verloren ihren Anspruch, falls sie solche Unterlagen nicht bis zum regulären jährlichen Auszahlungstermin eingereicht hatten.574 Die ungefähr zur selben Zeit in Deutschland arbeitenden, hauptsächlich engli­ schen oder Hamburgischen Privatversicherer statuierten eine solche ausdrückliche Verfallsregelung noch nicht. Die Fünfte Hamburgische Assecuranz-Compagnie in etwa bedachte in ihrem Feuerversicherungsplan von 1789 die Schadensanzeige mit keiner einzigen Klausel – ebensowenig die „Bieber’sche Association“ in Ham­ burg. Deren englische Konkurrenten, unter anderem die in Hamburg tätige Lon­ don Phoenix Fire Assurance Company, verlangten im Versicherungsfall zwar eine 573

Vgl. Art. 6 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Schaefer [1911], Bd. 2 S. 232); Art. 12, 13 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Schaefer [1911], Bd. 1 S. 323); Art. 21 BadenDurlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Gerstlacher II, 476); Art. 7 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (NCC IV, 5379) (Vorschriften für die Branden­ burgische Feuer-Societät); Art. 11 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät); Art. 3 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für den Insterburgschen Creiß); § 50 Württembergische BrandSchadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Zeller / Mayer  III, 871); § 8 Neue Feuer-CassenOrdnung Billwärder (1774) (Anderson I, 13); § 6 Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Scotti II, 810); Art. 31 I, II Brandversicherungsordnung Bayern (1811) (BayRegBl. 1811, 129). Ausdrückliche Anzeige des Schadensfalles nur gefordert in § 11 Reglement BrandSocietät Westphalen (1778) (Scotti I, 973); § 15 S. 1 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (NCC XII, 823) (jedoch in beiden Fällen mit anschließender Ermittlung der Schadenshöhe von Amts wegen). 574 § 38 Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (NCC V, 381); ähnlich schon §§ 18, 20 Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766) (Spangenberg II, 164) (aber ohne Anspruchsverfall am Jahresende). Anders aber z. B. Art. 23 Reglement Preußische Officier-Wittwen-Casse (1792) (NCC IX, 859) (Erstattung eines Regiments-Berichts über den Tod eines Offiziers von Amts wegen).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

streng förmliche Schadensanzeige, sprachen aber keine Rechtsfolge aus, falls der Versicherte dieselbe versäumt hatte. Rechtscharakter und Wirkungsweise jener Schadensanzeige lassen sich am Beispiel der Propositiones der London Phoenix illustrieren, welche sie ab 1790 in Hamburg verwendete:575 „Art. 10. Wenn einiger Verlust oder Schaden an dem von dieser Societät versicherten Vermögen, durch Feuer verursachet worden, so wird der Eigenthümer desselben ersucht, solches sobald als möglich anzuzeigen, und solche genaue Nachrichten davon, als es die Umstände erlauben, samt dem Zeugnisse der Nachbarn oder Bedienten, die zur Zeit des Zufalles zugegen waren, wie auch solcher Personen, die qualificirt waren den Werth der verbrannten Güther gehörig zu beurtheilen, an die Assuranzkammer in Lombard-Street London, oder an den Agenten in Hamburg, einzusenden. Sobald diese Documente (deren Gültigkeit mit dem Siegel und Unterschrift eines Notarius Publ. oder einer Magistratsper­ son, nach den Gesetzen der Ortes, allwo der Schaden geschehen, bekräftiget seyn müssen) der besagten Assuranzkammer in London, oder dem Agenten in Hamburg, zu Gunsten des Verunglückten, durch eine gehörig bevollmächtigte Person vorgezeigt werden, so soll der Betrag des Verlustes (wenn solcher nicht die versicherte Summe übersteiget) sogleich ohne einigen Abzug für Disconto, Abgaben, Stempel oder sonstige Auflagen, von welcher Art sie auch seyn mögen, unverzüglich bezahlet werden.“

Die förmliche Schadensanzeige war letzten Endes also eine objektive Vorausset­ zung für die Auszahlung der Versicherungsleistung, denn erst „[s]obald diese Do­ cumente […] vorgezeigt“ waren, konnte der Geschädigte einen Anspruch gegen die Gesellschaft erheben.576 Davon unterschied sich die Praxis englischer Lebensver­ sicherer nicht. Auch sie behandelten die Anzeige des Todesfalls als Rechtsbedin­ gung („condition precedent“) für die Entstehung des Versicherungsanspruches: die Equitable Assurance forderte von dem Begünstigten schon 1762 die Vorlage von „authentic certificates“ über Zeit und Ort des Todes, und zwar schlicht „upon ma­ king their claims“, also um die versicherte Summe einzufordern.577 An eine starre Frist gebunden waren all diese Anzeigen jedoch noch nicht. Wer den Schaden zu spät anzeigte, hatte wegen der späten Anzeige per se also keine Rechtsnachteile zu befürchten. Rechtliche Vorkehrungen wie beispielsweise bei der preußischen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt hatten in der in- und ausländischen Praxis also keine weite Verbreitung erlangt.

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Abgedruckt bei Krünitz, Bd. 92 (1803), S. 324. Ähnlich Cl. 10 Policy Form of Sun Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 538), die ebenso die Auszahlung der Versicherungsleistung an die Schadensanzeige als objektive Rechtsbedingung knüpft („but, till such affidavit and certificate of such of the insured’s loss shall be made and produced, the loss-money shall not be payable“); Cl. 13 Proposals of Lon­ don Assurance Company (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 340). Vgl. Auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 536, der berichtet, dass der Leistungsanspruch selbst ausgeschlossen war, wenn die Dokumentenvorlage schlicht unmöglich war; Marshall (1. Aufl. 1805), S. 704. 577 Cl. 73 Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Textausgabe von Hrsg. Morgan [1833]); vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 550 f. Zur Schadensanzeige als „condition prece­ dent“ im historischen englischen Versicherungsrecht vgl. auch Hellwege, RabelsZ 76 (2012), 864, 873 ff.; ders., ZRG 131 (2014), 226, 251 ff. (jeweils zum Feuerversicherungsrecht). 576

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

243

2. Die objektiv-rechtliche Ausschlussfrist in Th. II Tit. 8 § 2164 ALR und ihre Entwicklung Die Handhabung der Schadens- oder Todesfallanzeige als rein anspruchsbegrün­ dende Handlung änderte sich aber mit dem Allgemeinen Landrecht, das schon die Anzeige an sich an eine einzelfallabhängige Frist band; schon alleine das Verstrei­ chen dieser Frist per se bestrafte es mit dem Verlust des Leistungsanspruches. Die einschlägige Vorschrift, Th. II Tit. 8 § 2164 ALR,578 war unterschiedslos auf alle Versicherungszweige anwendbar. Auch ihre ursprünglichen Wurzeln reichten bis ins Seerecht zurück. Nach der Assecuranz- und Havereyordnung der Hansestadt Hamburg war der Versicherte verpflichtet, einen etwaigen Schaden sofort an den Assekuradeur zu melden, nach­ dem er von ihm Kenntnis erlangt hatte. Darüber hinaus hatte der Geschädigte nach einiger Zeit den Schaden „anzudeuten“, also dessen ungefähre Höhe zu beziffern.579 Ihr zentraler Artikel zur Anzeige und Andeutung des Schadens lautete:580 „Tit. XVI Art. 1. So bald ein Schiff geblieben, oder als eine unstreitige Priese aufgebracht worden, und die versicherte Nachricht eingelauffen, daß nichts von der Ladung geborgen, oder keine Hoffnung zu Wieder-Freymachung des Schiffs und der Güter vorhanden sey; so soll der Assecurirte, so fort als er Nachricht davon erhält, durch den Mäckler den Assecu­ radeurs solches anzeigen lassen, und diese innerhalb zween Monathen den Schaden, nach gewöhnlichen Abzug der 2. pro Cent, bezahlen: Jedoch daß der Schade vorher mit allen nöthigen Documenten und Belegen erwiesen werde.“

In gleicher Manier erklärte es die preußische AHO für notwendig, den Versi­ cherungsfall „sogleich“ nach Erhalt einer „zuverlässigen Nachricht“ anzuzeigen581 und den Schaden „anzudeuten“; der Schaden musste dann binnen zweier Monate nach seiner Andeutung reguliert werden.582 Auch die Vorschriften der AHOen implizierten also schon, dass ohne die rechtzeitige Anzeige und Andeutung des Schadens kein Leistungsanspruch des Versicherten bestehen könne:583 solange der Versicherte den Schaden nicht angezeigt hatte, begann schlicht und ergreifend die zweimonatige Auszahlungsfrist nicht zu laufen. Noch bis in den Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches existierte jedoch keine ausdrückliche gesetzliche Sanktion für den Fall, dass der Versicherte den 578

Abgedruckt in der Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). Vgl. auch Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 4 S. 352 (zur ähnlich gelagerten Anzeige einer Schiffsstrandung in Tit. XVI Art. 1 AHO, aber ohne Beschreibung einer Rechtsfolge), ebd. Bd. 4 S. 355 f. (zur generellen Anzeige und Andeutung des Schadens); Dreyer (1990), S. 171 ff. 580 Abgedruckt bei Dreyer (1990), S. 267. 581 §§ 94, 186 PrAHO (1766) (NCC IV, 83). 582 § 187 PrAHO (1766). 583 Dreyer (1990), S. 173, konnte dabei insbesondere nachweisen, dass es sich um objektivrechtliche, also verschuldensunabhängige Fristen handelte, denn einem ausdrücklichen ent­ sprechenden Antrag der Hamburger Kaufmannschaft, die Andeutungsfrist bei unverschuldeten Verzögerungen zu verlängern, war der Gesetzesverfasser nicht gefolgt. 579

244

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Schaden nicht rechtzeitig anzeigte. Während der EAGB von 1785 die „Andeutung“ des Schadens als eigenständiges Rechtsinstitut gar nicht mehr kannte, bestimmte er zur Anzeige des Schadensfalles:584 „§ 1713. Sobald der Versicherte in Erfahrung bringt, daß der Gegenstand der Versicherung verunglückt, oder beschädigt sey, muß er den Versicherer davon unverzüglich benachrich­ tigen. § 1714. Sobald solches geschehen kann, muß er sich über die ferner zu treffenden Maaßre­ geln mit dem Versicherer berathschlagen. § 1715. In der Zwischenzeit muß er alles, was zur Rettung des versicherten Schiffs oder Guts gereichen kan, nach bestem Vermögen und Einsicht vorkehren.“

Erst nachdem der Entwurf der Öffentlichkeit zur Kritik übergeben worden war, kam die Diskussion um eine ausdrückliche Rechtsfolge für das Unterlassen der Schadensanzeige auf. Wieder war es der Assekuradeur Hinrich Gaedertz, der in einem seiner Monita die Frage aufwarf, was denn eigentlich die Folge sei, wenn der Versicherte die in Th. I Abt. II § 1713 EAGB vorgeschriebene Anzeige unter­ lasse: „welche Strafe dann für ihn?“585 Der Redaktor Baumgarten kommentierte das Monitum von Gaedertz in den Gesetzgebungsmaterialien:586 „Wenn der Versicherer noch hat Maasregeln treffen können, die Sache zu retten, oder den Schaden zu verringern, fält in so weit seine Verbindlichkeit zur Schadens Ersetzung weg.“

Weitergehende „Strafen“ für den Versicherten, der den Schaden verspätet ange­ zeigt hatte, nannte Baumgarten trotz der ausdrücklichen Nachfrage von Gaedertz nicht. Im Endeffekt teilten sich § 1713 EAGB und die sich nahtlos anfügenden §§ 1714, 1715 EAGB nach der originären Vorstellung des Gesetzgebers also ein und denselben Sinn und Zweck: alle drei Vorschriften dienten dem einzigen Ziel, durch rasches Handeln eine etwaige Schadensvertiefung zu vermeiden. Mit einer starren Ausschlussfrist hatten diese Vorschriften hingegen noch nichts zu tun. Das liefert auch einen Hinweis darauf, wie die Seehandelspraxis mit den vorstehenden Vorschriften der beiden AHOen umgegangen sein muss: es dürfte gar nicht son­ derlich üblich gewesen sein, dass der Versicherungsanspruch in vollem Umfang verfiel, wenn der Versicherte den Schaden nicht „unverzüglich“ angezeigt hatte.587 584

Abgedruckt in der Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 (2003). Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 95 (Gaedertz zu § 1713 EAGB = § 2164 ALR). 586 Anmerkung Baumgartens zu einem Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 95 (Gaedertz zu § 1713 EAGB = § 2164 ALR). 587 In diese Richtung deutet auch die legislatorische Diskussion im 19. Jhdt., welche die starre Ausschlussfrist des § 2164 ALR einmütig als „viel zu hart“ und im Endeffekt als Fremdkör­ per innerhalb des Seeversicherungsrechts bezeichnete. Wenn der Versicherte die Anzeigefrist versäume und der Schaden dadurch noch vertieft werde, solle der Versicherer im Einklang mit den internationalen Seehandelsgewohnheiten lediglich einen (aufrechenbaren) Schadens­ 585

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

245

Bei der Umarbeitung des EAGB folgte man indessen der Auffassung Baumgar­ tens nicht, sondern nahm das Monitum von Gaedertz zum Anlass, die Anzeige des Schadensfalles wirklich mit einer selbstständigen „Strafe“ zu verknüpfen. Das ALR schrieb schließlich in § 2164 fest, dass der Versicherte seinen Leistungsan­ spruch bereits dann verlieren sollte, wenn er den Schaden nicht innerhalb einer bestimmten Frist gemeldet hatte:588 „§ 2164. Sobald der Versicherte in Erfahrung bringt, daß der Gegenstand der Versicherung verunglückt oder beschädigt sey, muß er, bey Verlust seines Rechts, den Versicherer binnen der §. 2137. bestimmten Frist davon benachrichtigen; und sich über die ferner zu treffenden Maasregeln mit demselben berathschlagen, auch nach dessen Anweisung verfahren. § 2165. In der Zwischenzeit muß er alles, was zur Abwendung oder Verminderung des Schadens gereichen kann, vorkehren.“

Der § 2164 ALR hat die Frist zur Schadensanzeige zum ersten Mal ausdrück­ lich als eine objektiv-rechtliche Ausschlussfrist begriffen. Damit unterschied er sich von großen Teilen der vorgesetzlichen Praxis. Zu den recht ähnlich anmuten­ den Bestimmungen im Reglement der preußischen Wittwen-Verpflegungs-An­ stalt bestand dabei allem Anschein nach keine innere Verbindung. Es handelte sich wohl nur um eine zeitliche Korrelation vergleichbarer Regeln, nicht aber um einen unmittelbaren Entwicklungszusammenhang, lässt sich die Entstehung des § 2164 ALR doch auch lückenlos aus dem seerechtlichen Quellenmaterial erklä­ ren. Der preußische Gesetzgeber hat die Idee einer solchen Ausschlussfrist an­ scheinend erst gewonnen, als er sich mit den zum EAGB eingegangenen Monita auseinandersetzte. 3. Das System abgestufter Ausschlussfristen in der Praxis des 19. Jahrhunderts Die deutschen Feuerversicherungsgesellschaften des 19. Jahrhunderts entfernten sich in der Frage der Schadensanzeige rasch von ihren englischen Mitbewerbern. Bereits die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft hatte 1825 ein ausgefeiltes dreistufiges Anzeigeverfahren angewendet, das keinerlei Vorbilder im englischen Recht fand. Steht auch diese Entwicklung auf die eine oder andere Weise im Zu­ sammenhang mit dem preußischen ALR? Es ist in der Tat auffällig, wie alle privaten Feuerversicherer seit der Wende zum 19. Jahrhundert ein Regime unterschiedlicher Anzeigefristen entwickelt hatten und schon deren fruchtloses Verstreichen per se mit dem Verfall des Leistungsanspru­

ersatzanspruch gegen den Versicherten erwerben (dazu ausführlich unter § 3 D IX 2 dieser Forschungsarbeit). Im Ergebnis entspricht diese Handhabung der ursprünglichen Auffassung Baumgartens. 588 Vgl. auch Minnier (1967), S. 56 f.; Müssener (2008), S. 226.

246

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

ches sanktionierten.589 An der Quelle dieser Rechtsentwicklung standen die AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt von 1812. Sie hatten noch kein komple­ xes, mehrstufiges Anzeigeverfahren vorgesehen, sondern bestimmten lediglich:590 „Art. 42. Bei eingetretener Feuersbrunst ist der Versicherte verbunden, nach allen Kräften die versicherten Gegenstände zu retten und in Sicherheit zu bringen. Er ist ferner ver­ pflichtet, von dem eingetretenen Feuerschaden sogleich eine vorläufige Anzeige an die Anstalt oder deren Agenten zu machen. Wer diese Anzeige nicht spätestens innerhalb von vier Wochen, vom Tage des Brandes an gerechnet, macht, verliert allen Anspruch auf Schadensersatz.“

Art. 42 S. 2, 3 der AVB entsprachen inhaltlich weitgehend den Bestimmungen des Th. II Tit. 8 § 2164 ALR. Ihr einziger Unterschied zum ALR bestand darin, dass die Anzeigefrist hier nicht mit der Kenntnis des Versicherten vom Brand­ schaden, sondern mit dem Brandereignis an sich begann. Aber war die parallele Regelung des ALR auch das unmittelbare Vorbild für die vorliegenden AVB? Wilhelm Benecke, der die AVB der Berlinischen nach allen bisherigen Erkennt­ nissen gestaltet hat, hatte 1810 in seinem „System des Assekuranz- und Bodme­ reiwesens“ nur die englische Feuerversicherungspraxis beschrieben. Dabei stützte er sich zwar auf die Bedingungen englischer Feuerversicherer und einzelne Ent­ scheidungen der englischen Rechtsprechung – von einer objektiv-rechtlichen Aus­ schlussfrist, wie sie im ALR verwendet wurde, berichtete Benecke dabei jedoch nicht explizit.591 An dieser Stelle stößt also auch die Quellenforschung an ihre methodischen Grenzen; sie kann sich nur darauf beschränken, plausible Hypo­ thesen aufzustellen. Einige Auffälligkeiten lassen sich aber kaum von der Hand weisen. Nach dem preußischen Landrecht fand in der Feuerversicherungspraxis ein plötzlicher Ent­ wicklungssprung statt. Sowohl der Wortlaut der beiden AHOen und des EAGB als auch die Notizen Baumgartens hatten noch darauf hingedeutet, dass die Ver­ knüpfung der Schadensanzeige mit einer objektiv-rechtlichen Ausschlussfrist in der vorgesetzlichen Seeversicherungspraxis alles andere als geläufig war. In der Regel dürfte eine verspätete Anzeige nur einen Schadensersatzanspruch des Ver­ sicherers gegen den Versicherten nach sich gezogen haben, falls sich der Schaden in der Zwischenzeit noch vertieft hatte.592 Auch nach der englischen Feuerversi­ cherungspraxis erlosch der Versicherungsanspruch – wie Benecke wusste – nicht ipso iure mit dem Verstreichen einer starren Anzeigefrist. Seit dem ALR jedoch, nämlich im kompletten 19. Jahrhundert, operierte der ganz überwiegende Teil der 589

Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 139. Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 22. Vgl. auch Hellwege, ZRG 131 (2014), 226, 256. 591 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 535 f. Zu der richterrechtlich geprägten Rechtslage in England, vgl. auch Marshall (1. Aufl. 1805), S. 704 ff. 592 Dazu vgl. auch nochmals die legislatorische Diskussion des 19. Jhdts. (dazu später aus­ führlich unter § 3 D IX 2), die ganz einmütig davon ausging, dass ein solcher Schadensersatz­ anspruch den internationalen Seeversicherungsgewohnheiten entspreche. 590

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

247

deutschen Feuerversicherer mit eben solchen Ausschlussfristen. Dass so unver­ mittelt eine stabile Praxis entstand, könnte von starken äußeren Einflussfaktoren rühren – etwa der Vorbildwirkung des § 2164 ALR. Ein verstecktes Indiz für einen solchen Einfluss liegt auch in der Regelungssystematik des Art. 42 der AVB: par­ allel zur Schadensanzeige hatte der Versicherte für die Rettung und Erhaltung des beschädigten Gegenstandes zu sorgen. Das entsprach dem inneren Zusammenhang der §§ 2164, 2165 ALR. Der englischen Praxis beispielsweise der London Phoenix war diese systematische Verwebung von Schadensanzeige und Schadensverhütung hingegen fremd. Dafür beschrieb sie oft ausführlich die Förmlichkeiten der Scha­ densanzeige, wie die Bezeugung des Brandes durch einen Nachbarn; das wiederum war dem ALR und den „Berlinischen“ AVB fremd. Am Ende wird die Forschung über diese begründete Hypothese nicht hinaus­ gelangen. Als gesichert darf wieder gelten, dass die deutsche Feuerversicherungs­ praxis ab den 1820er Jahren eine eigene Dynamik entwickelte, die sich auch mit dem plausiblen Vorbild des ALR nicht mehr erklären lässt. Nach der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt bildete die Feuerversicherungspraxis ihre AVB-Klau­ seln zur Schadensanzeige stetig fort. Im Gegensatz zur „Berlinischen“ verwendete die Gothaer Feuerversicherungsbank im Jahr 1820 schon ein zweistufiges Anzei­ geverfahren, bestehend aus der sofortigen Anzeige des Versicherungsfalles an sich und der späteren Nachlieferung von Beweisdokumenten:593 „§ 32. Wenn ein bei der Bank versicherter Gegenstand durch Feuersbrunst ganz oder teil­ weise vernichtet oder beschädigt wird, so hat der Versicherte, bei Verlust seiner Ansprü­ che, dem nächsten Agenten sogleich persönlich oder mit dem nächsten Posttage schriftlich Anzeige davon zu machen und dabei die vermutliche Ursache des Brandes, als auch den wahrscheinlichen Belauf des Schadens anzugeben, längstens aber binnen 4 Wochen die genauen vorschriftsmäßigen Beweise des Verlustes beizubringen.“

Ihre endgültige, gleichsam dreistufige Form erhielt die Klausel dann in den ers­ ten AVB der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft:594 „§ 12. […][2] Innerhalb vierundzwanzig Stunden nach dem Brande hat der Versicherte sich seiner Ortsbehörde zur Vernehmlassung über die bekannte oder mutmaßliche Ur­ sache des Feuers und über die zur Unterdrückung desselben angewendeten Mittel, sowie zur Angabe der Beschaffenheit und des ungefähren Betrages des Schadens zu stellen. [3] Von dem hierüber aufgenommenen amtlichen Protokolle muß der Versicherte eine beglau­ bigte Abschrift innerhalb zehn Tagen nach dem Brande an die Agentur, bei welcher die Versicherung geschah, auf zuverlässigem Wege einsenden. [4] Der Versicherte hat jedoch 593

Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 6. Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 26. Dazu auch Müssener (2008), S. 227 ff., der ausführt, ab 1840 hätten die einzelnen Stufen der Anzeige in den AVB der „Aachener und Münchener“ ihre Reihenfolge getauscht: zuerst hatte der Versicherte die Anzeige an den Versicherer, dann an die Ortspolizeibehörde zu erstatten und schließlich ein polizeiliches Vernehmungspro­ tokoll an den Versicherer einzusenden. Vgl. zur „dreistufigen“ Anzeigefrist auch Hellwege, ZRG 131 (2014), 226, 25 f. (vermutet insoweit eine Beeinflussung durch englische Bedingun­ gen); ­Neugebauer (1990), S. 146.

594

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

der nämlichen Agentur schon früher, und zwar längstens innerhalb drei Tagen nach dem Brande, die Anzeige von demselben, ebenfalls auf zuverlässige Weise, zu machen. [5] Ist der Versicherte zur Zeit des Brandes krank oder abwesend, so ist eine Ausdehnung der in dem Paragraphen festgesetzten Fristen zulässig; sonst aber müssen dieselben bei Beachtung der hier vorgeschriebenen Förmlichkeiten, genau eingehalten werden, und verliert widri­ genfalls der Versicherte seinen Anspruch auf Entschädigung.“

Die Neuerungen der Gothaer und der Aachener Gesellschaft folgten keinem erkennbaren Vorbild aus der ausländischen Rechtspraxis oder gar aus der Gesetz­ gebung mehr. Die umfassende Fortbildung der Klauseln kann nur aus der eigenen Kraft heraus erfolgt sein; davon zeugt nicht zuletzt auch die Tatsache, dass sich jene komplexen Klauseln erst stufenweise, über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren, und nicht – wie in vielen anderen Fällen – abrupt herangebildet haben. Da­ bei war allen AVB gemein, dass sie die einzelnen Stufen des Anzeigeverfahrens mit starren Ausschlussfristen verbanden, sodass der Versicherte seinen Anspruch schon dann verlor, wenn er die jeweilige Anzeige nicht rechtzeitig getätigt hatte; ob ihm dabei schuldhaftes Handeln vorwerfbar war, spielte dagegen keine Rolle.595 Die AVB der deutschen Lebensversicherer zeigten schließlich ihrerseits starke Anklänge an die Praxis der Feuerversicherungsgesellschaften. Die Lebensversi­ cherungsbedingungen der Gothaer von 1828 sahen ein ganz ähnliches, nämlich „zweistufiges“ Schadensanzeigeverfahren vor, wie es schon 1820 bei der Gothaer Feuerversicherungsbank praktiziert worden war:596 „§ 64. Wenn ein bei der Bank Versicherter stirbt, so haben dessen Hinterbliebene oder die Eigentümer der Police sofort demjenigen Agenten, welcher die Police besorgt hat (oder dessen Nachfolger in der Agentur) persönlich oder mit nächstem Posttage schriftlich An­ zeige zu machen und dabei die bekannte oder vermutliche Ursache des Todes anzugeben, längstens aber vier Wochen über die letzte Krankheit oder sonst über die Todesursache genauere Beweise, sowohl durch amtlichen Totenschein als auch durch ärztliches, gericht­ lich beglaubigtes Zeugnis des Hausarztes oder des Physikus, nach Umständen, auch durch Sektionsbericht beizubringen.“

Die konkreten Abläufe der Todesanzeige erinnern wiederum stark an die Praxis englischer Versicherer oder etwa sogar der preußischen Wittwen-Verpfle­ gungs-Anstalt: auch diese forderten die Vorlage von bestimmten Attesten bzw. „authen­tic certificates“, zum Beispiel dem Totenschein oder dem Zeugnis eines Hausarz­tes. Speziell von dieser Praxis englischer Versicherer hatte auch Babbage 595

Art. 121, 135  I lit.  f AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB I, 14) (einstufige Anzeigeverpflichtung ähnlich der „Berlinischen“); Art. 11 S. 3, 12, 16 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (SammlungAVB I, 30) (drei Anzeigen wie bei der „Aachener“); § 9 lit. b AVB Magdeburger Feuerver­ sicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34) (dreistufige Anzeige); §§ 6 I lit. b, 11, 13  II Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Samm­ lung-AVB I, 38) (dreistufige Anzeige). Vgl. zur Irrelevanz des Verschuldenskriterium auch ­Hellwege, RabelsZ 76 (2012), 864, 877 f. 596 Abgedruckt in Sammlung-AVB II, 2.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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berich­tet;597 Ernst Wilhelm Arnoldi, der Gründer der Gothaer, wiederum besaß gesicherte Kenntnis von Babbages Ausführungen, wie schon häufiger im Fortgang dieser Untersuchung erwähnt. Schon die „Gothaer“ Lebensversicherungsbedingungen hatten der Todesfall­ anzeige allerdings eine starre Frist von vier Wochen gesetzt; die im Übrigen sehr ähnlich gestalteten AVB späterer Lebensversicherungsgesellschaften sprachen dar­ über hinaus ausdrücklich aus, dass mit dem objektiv-rechtlichen Verstreichen jener Frist der Versicherungsanspruch verfalle.598 Darin unterschieden sich die deutschen Lebensversicherer also wieder von den englischen. Eher lassen sich Parallelen zu den AVB der deutschen Feuerversicherer entdecken. Zu hoher Wahrscheinlichkeit hat also der erste Impuls, den § 2164 ALR gesetzt hatte, bis zum Beginn der 1830er Jahre bereits zur Genese einer selbstständigen und verfeinerten deutschen Binnenversicherungspraxis geführt.

IX. Die Verursachung des Versicherungsfalles durch den Versicherten Hin und wieder wird der Versicherer bei der Abwicklung eines angezeigten Ver­ sicherungsfalles aber auf Tatsachen stoßen, die ihn darauf hinweisen, dass letzte­ rer nicht rein zufällig eingetreten sein kann. Was also, wenn sich erweist, dass der Versicherte den Unglücksfall vorsätzlich verursacht oder zumindest durch eigene Nachlässigkeit herbeigeführt hat?599 Die Konstellation von Vorsatz oder Arglist beantwortet sich freilich von selbst. Kein Versicherer muss dafür einstehen, wenn der Versicherte den Schaden bewusst und gewollt selbst verursacht – das darf zu den allgemeinen Prinzipien des Versicherungsrechts gezählt werden. Solche Vor­ kommnisse stellen schon keinen „Unglücksfall“ dar.600 Uneinigkeit bestand in 597

Babbage (1826), S. 71. Mit „zweistufiger“ Anzeigefrist ähnlich der Gothaer: § 27 AVB Berlinische Lebensver­ sicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB II, 23); §§ 37, 38 AVB Germania LebensVersicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31). In der ersten Hälfte des 19. Jhdts. wurde demgegenüber häufig noch eine „einstufige“ Anzeige- und Dokumentenvor­ lagefrist verwendet: Abs. 22 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828) (Samm­ lung-AVB  II,  21); § 37 AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830) (Samm­ lung-AVB II, 7); §§ 53 I, II AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16). In jedem Fall war die Versäumung der Frist jedoch ausdrücklich an das Erlöschen des Vertrages geknüpft. 599 Zur Herbeiführung des Versicherungsfalles nach heutigem Recht: Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1310 ff.; Deutsch / Iversen (7.  Aufl.  2015), Rn.  276 f.; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 81 Rn. 8 ff.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 928 ff. 600 Vgl. auch Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 3 S. 192 f., 196 ff., der die gesamte Thematik unter dem Gesichtspunkt des vom Assekuradeur übernommenen Risikos diskutiert; er be­ zeichnet diese Regel sogar als unabdingbaren Grundsatz. In diese Richtung auch Marshall (1. Aufl. 1805), S. 477 (für das englische Recht); Weskett (1781), S. 159, 225; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 614 (S. 313). 598

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

der historischen Praxis nur über die Fälle leichter oder grober Fahrlässigkeit; das Allgemeine Landrecht traf noch dazu ungeahnt ausführliche Vorschriften zu der Konstellation, dass ein dem Versicherten nahestehender Dritter den Versicherungs­ fall verschuldet hatte. 1. Rudimentäre Klauseln im Feuerversicherungsrecht versus elaborierte Praxis im Lebensversicherungsrecht Wenn große Teile der vorgesetzlichen Privatversicherungspraxis, vor allem der englischen, für solche Fälle gar keine Vertragsklauseln bereithielten, dann geschah das freilich nicht, weil sie selbst die vorsätzliche Schadensverursachung für ersatz­ fähig hielten – im Gegenteil wurde es in der maritimen Versicherungspraxis und bei den binnenländischen Feuerversicherungs-Compagnien schlicht als selbstver­ ständlich betrachtet, dass der Versicherer nur „für Zufall“ haften musste,601 ohne dass es dafür eine dezidierte Regelung benötigt hätte. Über die gerade aufgewor­ fene Frage, ob denn auch die grobe oder leichte Unachtsamkeit des Versicherten noch einen anspruchsauslösenden „Zufall“ im Rechtssinne darstellen sollte, gaben die Praxisbedingungen keine definitive Antwort. Ausdrücklich sprach sich nur die Fünfte Hamburgische Assecuranz-Compagnie zur Frage des Eigenverschuldens­ maßstabes aus, indem sie in ihrem Feuerversicherungsplan von 1789 immer noch recht beiläufig, aber unzweideutig erklärte:602 „Wenn durch unverantwortliche Unachtsamkeit des Versicherten Feuer entsteht, oder der Schade vergrößert wird; wenn er gerettete Sachen verheimlicht, oder auf andere Art be­ trieglich handelt, so ist die Compagnie zu keinem Schadenersatz verbunden.“

Geringere Einschränkungen sahen die meisten staatlichen Versicherungsein­ richtungen vor. Die öffentlichen Brandkassen zielten – ganz im Zeichen der kame­ ralistischen Staatsauffassung – auf den möglichst raschen und flächendeckenden Wiederaufbau feuergeschädigter Gebäude ab.603 Obgleich die Furcht vor speku­ 601

Die Formulierung, die den Versicherer nur für „Zufälle“ oder „Unglücksfälle“ haftbar machte, war in vielen Versicherungsbedingungen enthalten, z. B. Präambel im Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 29. 12. 1677 (Dreyer [1990], S. 253) („um diesen Anordnungen vorzubeugen“); Policenformular unter § 18 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789) (Allgemeine Handlungs-Zeitung 1789, 71) („oder durch andere Zufälle“); Präambel der Pro­ positiones der London Phoenix in Hamburg (1790) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 324) („bey vor­ fallenden Unglücksfällen“). 602 Policenformular unter § 18 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789). Wiederum ist darauf hinzuweisen, dass die Fünfte Assecuranz-Compagnie nicht unmittelbar ursächlich für die Regelungen des ALR sein konnte, sondern nur als Indiz für eine verbreitete Handels­ gewohnheit dienen kann. Ähnlich §§ 1 I, 26 S. 1 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 278), die „gegen alle und jede, nicht dolose ver­ anlaßte Feuersgefahr“ versicherte. 603 Vgl. die kameralistische Literatur bei Jung (1788), § 901 (S. 384); Krünitz, Bd. 13 (1788), S. 216. Vgl. Hagena (1910) S. 73; Müssener (2008) S. 20; Prange, Theorie des Versicherungs­ wertes (1895) Bd. 1 S. 40; von Zedtwitz (2000), S. 160.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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lativer Brandstiftung in der zeitgenössischen Literatur stark ausgeprägt war,604 bestraften die meisten Feuersozietäten nur den Vorsatz und gelegentlich auch die grobe Fahrlässigkeit (culpa lata) des Versicherten mit Leistungsverlust, leisteten jedoch bei leichter Fahrlässigkeit vollen Schadensersatz.605 Eine parallel gelagerte Praxis verfolgten auch die öffentlichen Witwen- und Waisenkassen, denen die Hamburgische Versorgungs-Anstalt von 1778 insoweit ähnelte. In aller Regel konnten die Erben des Versicherten in zwei Fallgruppen keinen vollen Ersatz beanspruchen: erstens, wenn die versicherte Person Selbst­ mord begangen hatte, oder zweitens, wenn sie durch ein Strafgericht zum Tode verurteilt worden war; bei manchen Kassen bestand ferner keine Leistungspflicht, wenn der Versicherte im Duell ums Leben gekommen war.606 Das Reglement der preußischen Allgemeinen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt von 1775 zeigt aber, dass der Staat der Witwe nur in Extremfällen jeden Pensionsanspruch nehmen wollte: „§ 26. […] [2] […] d) Wenn der Mann durch einen Mord oder Unglücks-Fall ums Leben kommt, wegen eines Verbrechens am Leben gestraft wird, und die Frau an dem Verbrechen keinen Theil hatte, soll die Wittwe in Ansehung der Pension nicht leiden, sondern solche gleich andern unverkürtzt zu genießen haben. e) Wenn der Mann sich selbst entleibt, erhält die Wittwe von der ihr versicherten Pension nur die Hälfte.“

604 Vgl. die kameralistische Literatur bei Jung (1788), § 892 (S. 381). Vgl. Hagena (1910) S. 28 f.; Neugebauer (1990), S. 25 f. 605 Art. 12 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Schaefer [1911], Bd. 2 S. 232) (Auszah­ lung in jedem Fall, bei grober Nachlässigkeit aber ggf. Zwang zum Verkauf des Gebäudes an einen Dritten zum Zweck des Wiederaufbaus); Art. 5, 6 Baden-Durlachische Brand-Ver­ sicherungs-Ordnung (1758) (Gerstlacher II, 476) (Leistungsfreiheit nur bei Vorsatz, bei Fahr­ lässigkeit aber ggf. Kriminalstrafe); Art. 13 S. 2 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (NCC IV, 5379) (Vorschriften für die Saalfeld’sche Sozietät) (nur Vorsatz); § 79 Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Zeller / Mayer  III, 871) (Leistungsfreiheit bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit); § 23 Reglement Brand-Societät West­ phalen (1778) (Scotti I, 973) (Leistungsfreiheit bei Vorsatz); § 13 Reglement Brand-­Societät West-Preussen (1785) (NCC VII, 3267) (Leistungsfreiheit nur bei Vorsatz); § 3 VII, VIII Re­ glement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Scotti II, 810) (Leistungsfreiheit bei Vorsatz, Auszahlung unter Vorbehalt der zivilrechtlichen Rückforderung bei Nachlässigkeit); § 17 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (NCC XII, 823) (Leistungs­ freiheit bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit). Vgl. auch Müssener (2008), S. 272, der befindet, der Anspruchsverlust finde bei öffentlichen Sozietäten nur sehr selten statt. 606 §§ 26–28 Anordnung Allgemeine Versorgungs-Anstalt (1778) (Textausgabe 1778). Ähn­ lich § 26 II lit. c, d Reglement Preußische Allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt (1775) (NCC V, 381) (Leistungsfreiheit wegen Todesstrafe nur bei Tatbeitrag der Witwe, Halbierung der Witwenpension bei Selbstmord des Versicherten); Art. 28 Reglement Preußische Offi­ cier-Wittwen-Casse (1792) (NCC IX, 859) (Leistungskürzung um 50 % bei Selbstmord); ähn­ lich schon §§ 24, 25 Verordnung Calenbergische Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (1766) (Spangen­berg II, 164) (nur Verlust des Antrittsgeldes bei Duelltod und Selbstmord in unzu­ rechnungsfähigem Zustand). Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 549, der von einer Hamburger Witwenversorgungsanstalt berichtet, die auch in den genannten Fällen eine „bil­ lige Vergütung“ gewährte; Weber, Bd. 1/2 (1805), § 34 (S. 143).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Auch dieses Vorgehen der Wittwen-Verpflegungs-Anstalt stand im Einklang mit der kameralistischen Staatsräson, die zu dieser Zeit die Witwenversorgung be­ reits als wertvolles Instrument gegen die Armut der Untertanen anerkannt hatte.607 Übrigens war die Praxis der hier untersuchten staatlichen Witwenversorgungsein­ richtungen in puncto Eigenverschulden der englischen Lebensversicherungspraxis gar nicht unähnlich: auch dort verloren die Begünstigten bei Suiziden, Zweikampf­ toden oder Hinrichtungen üblicherweise ihren Anspruch gegen die „assurance company“.608 2. Die inhaltliche Redundanz der Vorschriften im preußischen ALR Das preußische Landrecht andererseits kannte auch an dieser Stelle reichhal­ tige Regeln, die weder in der staatlichen noch in der privaten Versicherungspraxis verwendet worden waren. Vor allen Dingen die Th. II Tit. 8 §§ 2235–2239 ALR sahen ausdifferenzierte Regeln zum schadensverursachenden Verschulden dritter Personen vor – genauer gesagt für den Fall, dass sich ein Brand durch die Mitwir­ kung der Verwandten, Hausgenossen oder Bediensteten des Versicherten entzündet hatte.609 Selbst im heute geltenden Versicherungsvertragsgesetz sind solche Fälle nicht mehr kodifiziert; sie werden nur noch mit dem richterrechtlich entwickelten Institut der „Repräsentantenhaftung“ behandelt.610 Daneben fanden sich Normen zur selbstverschuldeten Herbeiführung des Versicherungsfalles aber auch noch an diversen anderen Stellen im Versicherungsrecht des ALR; auffällig wird so vor allem, wie unsystematisch und zum Teil sogar redundant die gesamte Thematik im Landrecht geregelt worden war. Auf einige dieser Regelungen muss hier besonders hingewiesen werden, bevor ihre historischen Wurzeln freigelegt werden können. Der preußische Gesetz­geber 607

Vgl. die kameralistische Literatur bei von Justi (2. Aufl. 1759), § 269 (S. 198); Krug (1810), § 33 (S. 130 ff.); von Sonnenfels (1781), § 250 (S. 277); Weber, Bd. 1/2 (1805), § 33 (S. 122). Dazu auch Hagena (1910), S. 16 (zur Preußischen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt von 1775); Rosin (1932), S. 75 f. 608 In der englischen Lebensversicherungspraxis der „Equitable“ (Textausgabe von Hrsg. Morgan [1833]) geben nur modifizierende Bye-Laws Aufschluss darüber, dass jede Art von vorsätzlicher Herbeiführung des Versicherungsfalles zur Leistungsfreiheit führten: § 8 ByeLaw 1 (1770) zu Deed of Settlement of Equitable Society (1762) regelte z. B., dass der Selbst­ mord der versicherten Person nur dann nicht zur Leistungsfreiheit führte, wenn die versi­ cherte Person nicht mit dem Versicherungsnehmer identisch war, d. h. bei Versicherungen auf fremde Leben. Vgl. zur Praxis der englischen Lebensversicherer auch Bachmann (2019), S. 253; ­Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 548 f.; Marshall (1. Aufl. 1805), S. 677 (Todesfälle „by suicide, duelling, or the hand of justice“ nicht versichert). 609 Abgedruckt in der Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). 610 In jüngerer Zeit etwa BGHZ 107, 229; BGH VersR  2012, 219 Rn. 31; Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1669 ff.; Bruns (2015), § 5 Rn. 27 ff.; Deutsch / Iversen (7. Aufl.  2015), Rn. 230; Müssener (2008), S.  272; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), Rn. 6 f.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 941 ff.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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entwarf mit §§ 2119, 2120 ALR zunächst zwei Generalklauseln zum Eigenverschul­ den des Versicherten, die indes keinen eigenen systematischen Standort zugeteilt bekamen, sondern mit den Vorschriften über die Gefahrerhöhung („bey vorgehen­ den Veränderungen“)611 verwoben waren: „§ 2119. In so weit der Versicherte, oder dessen Commissionair, durch eigne Schuld oder Nachläßigkeit, irgend einigen Schaden veranlaßt haben, ist der Versicherer zu dessen Ver­ gütung nicht verbunden. § 2120. Welchen Grad des Versehens ein Versicherter zu vertreten habe, ist nach den allge­ meinen Vorschriften des Tit. V. §. 278. sqq.[612] zu beurtheilen.“

Die folgenden spezialgesetzlichen Vorschriften über die Seeversicherung kreis­ ten stets um die Problematik, ob der Versicherte auch nach dem Eintritt gefahr­ erhöhender oder gefahrändernder Umstände einen Anspruch gegen den Asseku­ radeur erheben konnte – in etwa, wenn die Reise „ohne Schuld des Versicherten bis zu einer gefährlichen Jahreszeit aufgeschoben“ wurde (§ 2126 ALR) oder wenn der „Versicherte Waaren, die bereits an Bord gebracht worden, ohne Noth wieder aus- oder umladen“ ließ (§ 2149 ALR). In der gesetzessystematischen Gesamtkon­ zeption dieses Abschnitts flossen gewissermaßen das Verschulden am Eintritt des Unglücksfalles und das Verschulden an der vorgelagerten Gefahränderung nahtlos ineinander. Eine klare dogmatische Trennung zwischen den beiden Fragen exis­ tierte zu dieser Zeit noch nicht. Von besonderem Interesse sind vorliegend aber wieder die leges speciales zur Feuerversicherung, die sich unmittelbar an die erwähnten seeversicherungsrecht­ lichen Normen anschlossen. In § 2156 hieß es aber lediglich:613 „§ 2156. Bey Feuerversicherungen haftet der Versicherer für keinen Schaden, der von dem Versicherten selbst, dessen Ehegatten, Kindern, oder Enkeln verursacht worden.“

Die folgenden §§ 2157 ff. ALR kodifizierten wiederum bloß Regeln über die Gefahrerhöhung im Feuerversicherungsrecht; sie wurden bereits an anderer Stelle im Detail untersucht.614 Überraschenderweise sucht man zwischen den hier untersuchten Normen ver­ geblich nach Spezialvorschriften zur Lebensversicherung. Solche fanden sich in ganz anderem systematischen Zusammenhang. Die §§ 1968, 1969 ALR waren 611 Zu den Vorschriften zur Gefahrerhöhung und deren Verflechtung mit Bestimmungen zum Eigenverschulden des Versicherten, s. auch schon oben § 2 D VII 2. 612 Gemeint waren Th. II Tit. 5 §§ 278 ff. ALR (1794), die einen differenzierten Verschuldens­ maßstab für alle Arten von Verträgen entwickelt hatten; für das Versicherungsrecht war damit insbesondere Th. II Tit. 5 § 279 ALR (1794) relevant: „Haben beyde Theile unmittelbar aus dem Vertrage selbst Vortheile zu erwarten, so sind beyde auch aus einem mäßigen Versehen wechselseitig verpflichtet.“ Diese Vorschrift hatte Th. I Tit. 5 § 283 ALR (1794) allerdings ausdrücklich für dispositiv erklärt. 613 Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 526; Müssener (2008), S. 266. 614 Zur ausführlichen Untersuchung der §§ 2157–2163 ALR (1794), s. bereits § 2 D VII 4.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

unter die Überschrift „Gegenstände in den Versicherungen“ (§§ 1952–1982 ALR) gestellt, welche den zulässigen Inhalt einer Lebensversicherung beschrieben. Da­ bei trafen sie praktisch en passant auch Anordnungen über den selbstverschuldeten Tod der versicherten Person:615 „§ 1968. Jedermann kann sein eigenes Leben versichern lassen. § 1969. Auf einen durch Verbrechen verwirkten Verlust des Lebens kann jedoch eine solche Versicherung weder gegeben, noch gedeutet werden.“

Bis jetzt lassen sich also drei systematisch vollkommen verschiedene Standorte für die Regelungen des untersuchten Problemkreises zählen. Dazu gesellt sich aber noch ein vierter: die §§ 2235–2239 ALR beschäftigten sich damit, ob dem Feuerversicherten das Verschulden dritter Personen zugerechnet werden muss. Eingruppiert hat der Gesetzgeber diese Vorschriften unter die Überschrift „Art der Gefahr“ (§§ 2209–2241), die sich im Großen und Ganzen mit der Frage be­ schäftigten, welches konkrete Risiko der Assekuradeur tragen musste. Der Schwer­ punkt lag dabei – wie gewöhnlich – auf maritimen Fallgestaltungen. Es mag auf den ersten Blick befremdlich wirken, wenn diese Untersuchung ein Streiflicht auf einige ausgewählte Aspekte des Seeassekuranzrechts wirft. Doch mag dieses Vorgehen bereits dazu dienen, das inhaltlichen Gesamtkonzept der §§ 2209–2241 ALR besser illustrieren. Innerhalb der Seeversicherung war zum Beispiel „jeder Schade, den die Sache durch äußere Vorfälle leidet“ (§ 2209 ALR) ersatzfähig, besonders das Risiko von „Sturm, Ungewitter, Schiffbruch, An- und Uebersegelung, Triebeis, Strandung, Brand, Repressalien, feindliche Aufbringung, oder Plünderung von Kriegsschiffen, Kreuzern, Kapern und Seeräubern; Diebstahl und dergleichen“ (§ 2210 ALR). Die Masse der anschließend folgenden Normen beschäftigte sich, wie üblich, ebenso mit der Seeversicherung. Besonders problematisierte das Gesetz in § 2215 ALR denjenigen Schaden, „welcher dem versicherten Gute durch Schuld der Rheder, oder eines Dritten, der nicht die Stelle des Versicherten vertritt, ohne des letzteren Zuthun entsteht.“ Auch dafür musste der Assekuradeur einstehen; er konnte sich danach aber im Regresswege an den Schadensverursacher halten. Speziell zum Verschulden der Schiffsbesatzung bestimmte § 2216 ALR:616 „§ 2216. Ferner haftet der Versicherer für allen Schaden, der dem versicherten Schiffe oder Gute, durch des Schiffers, der Steuerleute, oder des Volks Unerfahrenheit, Unvorsichtig­ keit, Nachläßigkeit, Muthwillen oder Bosheit zugefügt wird; in soweit der Versicherte aus dem Vermögen des Schuldigen, und aus dem Schiffe, nebst der Fracht, seine Befriedigung nicht erlangen kann.“

Ein häufiger Anwendungsfall dieser Vorschrift lag zum Beispiel darin, dass der Schiffer oder seine Mannschaft „das Schiff übel versehen und gedichtet, oder die

615 616

Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 549 f. Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 211.; Müssener (2008), S. 247.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Güter schlecht gestauet, oder durch darauf gelegte nasse und fliessende Waaren verdorben“ hatten (§ 2217 ALR). Abweichend von §§ 2216, 2217 ALR konnte der versicherte Schiffseigentümer jedoch keinen Ersatz vom Assekuradeur verlangen, wenn er „bey der Auswahl des Schiffers ein grobes Verschulden begangen“ hatte (§ 2218 ALR). Die vorangehende, vergleichsweise tiefe Darstellung des unter dem ALR gelten­ den Seerechts mag einige gedankliche Parallelen zu den nun folgenden §§ 2235 ff. ALR offenbaren, welche unter der separaten Überschrift „Besonders bey Feuerver­ sicherungen“ die Gedanken des vorherigen Abschnitts über die „Art der Gefahr“ nahtlos fortführten.617 Sie lauteten: „§ 2235. Bey Feuerversicherungen haftet der Versicherer für allen Feuerschaden, welcher der versicherten Sache, ohne Verschulden des Versicherten selbst, dessen Ehegatten, Kinder oder Enkel, verursacht wird. § 2236. Er haftet auch alsdann wenn das Feuer durch Verschuldung der Hausgenossen und Domestiken des Versicherten entstanden ist. […] § 2239. Nur alsdann ist der Versicherer frey, wenn solche Umstände vorhanden sind, daß der Versicherte, nach Vorschrift des Ersten Theils Tit. VI. §. 56–64., auch die unerlaubten Handlungen seiner Hausgenossen oder Dienstboten vertreten muß.“

Die Normen in Th. I Tit. 6 §§ 56–64 ALR, auf welche § 2239 ALR Bezug nahm, handelten im Wesentlichen vom Auswahl- und Überwachungsverschulden des Hausherren. Der Versicherer haftete demnach nicht, wenn der Versicherte unzu­ verlässige Hausgenossen aufnahm oder diese nicht gehörig beaufsichtigte. § 2339 ALR rechnete dem Versicherten also kein fremdes Verschulden zu, sondern sprach vom eigenen Organisationsverschulden des versicherten Hausherren. Letztlich mangelte es dem gesamten hier untersuchten Problemkreis also noch völlig an einer einheitlichen rechtsdogmatischen Behandlung. Besonders deutlich wird das am Beispiel der Vorschriften § 2156 und § 2235 ALR, die sich an zwei verschiedenen systematischen Standorten auf redundante Weise mit ein und der­ selben Fragestellung aus der Feuerversicherung beschäftigten. Dabei kannte der Haftungsausschluss in § 2156 ALR paradoxerweise nur ein Verursachungskrite­ rium, während § 2235 ALR ein Verschuldenselement in den Raum stellte. In keiner vorgesetzlichen Quelle findet sich eine annähernd vergleichbare Bewältigung der Eigenverschuldensfrage – weder bei den privaten, noch bei den staatlichen Ver­ sicherern. Woher kommen also die inhaltlich reichen, aber systematisch ebenso verworrenen Regelungen zum Eigenverschulden des Versicherten?

617

Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 526; Müssener (2008), S. 266 ff.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

3. Die verflochtenen Wurzeln der Vorschriften im preußischen Landrecht Über die Wurzeln der untersuchten Regelungen gibt ausgerechnet die breite, un­ systematische Streuung der oben zitierten Normen Aufschluss. Im Wesentlichen bewegten sich die einschlägigen Vorschriften nämlich im Dunstkreis verschiede­ ner anderer Rechtsfiguren: auf der einen Seite bei den Regeln „bey vorgehenden Veränderungen“ (Th. II Tit. 8 §§ 2119, 2120, 2156 ALR), auf der anderen Seite bei der Beschreibung der „Gegenstände in den Versicherungen“ sowie der „Art der Gefahr“ (§§ 1968, 1969, 2235–2239 ALR). Tatsächlich lassen sich zarte Ansätze jener verschiedenen rechtlichen Kategorien bis zur Assecuranz- und Havereyord­ nung der Hansestadt Hamburg zurückverfolgen. a) Die erste Wurzel: Tit. V der Hamburger AHO („Von dem Risico oder der Gefahr der Assecuradeurs“) Die tieferen Wurzeln der Regelungen, die das versicherte Risiko beschrieben (Th. II Tit. 8 §§ 2209–2241 ALR) reichten bis in Tit. V der Hamburgischen AHO zurück. Der Titel „Von dem Risico oder der Gefahr der Assecuradeurs“, bewegte sich selbstverständlich nur auf dem Terrain der Seeversicherung. Auch die AHO ließ den Seeversicherer für alle Zufälle haften. Dazu zählte auch das Verschulden dritter Personen wie beispielsweise des Schiffers. Eine explizite Aussage über das Verschulden des Versicherten traf die AHO jedoch noch nicht.618 In Tit. V Art. 1 AHO hieß es lediglich:619 „Tit. V Art. 1. Der Assecuradeur trägt allen Risico und Gefahr, Schaden und Verlust, wel­ cher den Schiffen und Gütern auf eine oder die andere Weise, es sey durch Sturm, Ungewit­ ter, Schiffbruch, Uebersegelung, Strandung, Werffung, Brand, Nehm- und Plünderungen, feindliche Anhaltung fremder Puissancen, Kriegs Declarationen und Repressalien, Miß­ handlung und Versehen oder Versäumnis des Schiffers und seines Volckes, zustossen kann; und überhaupt alle andere bedachte und unbedachte Zufälle: in so ferner nicht dieselben besonders in dieser Ordnung eingeschränckt und ausgenommen, oder in den Policen ein anderes ausdrücklich verglichen worden.“

Dass Schäden, die vom Versicherten selbst herbeigeführt waren, keinen „Zu­ fall“ darstellten und daher nicht in den Risikobereich des Assekuradeurs fielen, war im Seeversicherungsrecht wohl derart offensichtlich, dass der Hamburger Ge­ setzgeber eine ausdrückliche Regelung noch nicht für nötig befand. Nur beiläufig erwähnte er noch in Tit. V Art. 8, dass der Assekuradeur zum Ersatz verpflichtet sei, wenn der versicherte Gegenstand „durch dazu kommende äußerliche Gewalt und fremde Ursachen“ Schaden gelitten habe. Der hier wiedergegebene Tit.  V 618 Zum Inhalt des Tit. V der Hamburger AHO insgesamt Dreyer (1990), S. 136 ff.; vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 193. 619 Abgedruckt bei Dreyer (1990), S. 267.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Art. 1 AHO und die Normen in seinem Gefolge lassen schon auf den ersten Blick einige Schnittmengen zu den späteren §§ 2209 ff. ALR erkennen, die sogleich noch näher betrachtet werden sollen. b) Die zweite Wurzel: Tit. VII der Hamburger AHO („Von des Schiffers und des Schiffs-Volcks Versehen“) Ob jedoch der Versicherer auch diejenigen Schädigungen ersetzen musste, die auf das Verschulden des Schiffers und seiner Mannschaft zurückzuführen waren, regelte erst der siebte Titel der AHO im Detail.620 Hier lagen nun die Wurzeln der Vorschriften zur Haftung des Schiffers (Th. II Tit. 8 §§ 2116 ff. ALR), die im ALR ein unselbstständiger Teil des Reglungskomplexes über die „Art der Gefahr“ geworden waren. Gleich zu Beginn dieses Titels „Von des Schiffers und SchiffsVolcks Versehen“ statuierte die AHO: „Tit. VII Art. 1. [1] Aller Schade, der den Schiffen oder Gütern, durch des Schiffers, SteuerLeute und Schiffs-Volcks Schuld, Versehen, Versäumniß und Mißhandlung, es sey auf was Weise es wolle, wiederfähret, bleibet zu der Assecurirenden[621] Lasten, und muß von den­ selben gut gethan werden. [2] Es wird ihren aber der Regreß, gestalten Umständen nach, an den Schiffer, Steuer-Leute und Schiffs-Volck billig vorbehalten.“

Unter die Haftung des Versicherers für „des Schiffers und Schiffs-Volcks Ver­ sehen“ fiel nach Tit. VII Art. 2, 3 AHO unter anderem, wenn die Schiffsladung mangelhaft verstaut war oder das Schiff nicht hinreichend repariert oder abge­ dichtet war. Lediglich hatte „der Assecurirte, vor der Bezahlung, alle Mühe anzu­ wenden, von dem Schiffer oder aus dem Schiffe und den Fracht-Gelder die Erset­ zung seines Schadens zu erlangen“ (Tit. VII Art. 2, 3 AHO). Der siebte Titel der seit 1731 geltenden AHO regelte damit schon bemerkenswert genau, was später in §§ 2216 ff. ALR Eingang finden sollte.

620 Zum Verschulden des Schiffers und der Schiffsmannschaft in der Hamburger AHO, s. Dreyer (1990), S. 144 ff., nach dessen Forschungen die Haftung des Assekuradeurs für ein Fehlverhalten des Schiffers eine spezifisch Hamburgische Handelsgewohnheit sei. Vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 209 f. 621 Der Terminus der „Assecurirenden“ wird in der Hamburger AHO nur selten verwendet. Aus dem Gesamtzusammenhang der AHO wird aber offenbar, dass damit die Versicherer, nicht die Versicherungsnehmer bezeichnet werden sollen. So heißt es im unmittelbar darauf­ folgenden Tit. VII Art. 2 I AHO (1731), bei „nicht gnugsahmer Garnir- und übler Stauung der eingeladenen Güter“ durch die Schiffsbesatzung seien „die Assecuradeurs oben erwehnter maßen verpflichtet, solchen Schaden zu vergüten, es soll aber der Assecurirte, vor der Be­ zahlung, alle Mühe anwenden, von dem Schiffe und den Fracht-Geldern die Ersetzung seines Schadens zu erlangen.“ Nur wenn dies nicht möglich sei, ordnete Tit. VII Art. 2 I AHO (1731) wiederum an, dass „der Assecuradirende den Schaden zu bezahlen schuldig“ sei. Übrigens redete auch Tit. VI Art. 3 I AHO (1731) im Zusammenhang mit der mehrfachen Versicherung von mehreren „Assecurirenden“, d. h. Versicherern.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

c) Die redaktionelle Neuordnung des Regelungsmaterials durch den preußischen Gesetzgeber Alles in allem hatte mithin schon die Hamburger AHO von 1731 fast den ge­ samten späteren Regelungsgehalt der §§ 2209 ff., 2216 ff. ALR abgedeckt – frei­ lich nur für die Seeversicherung. Allerdings hat der preußische Gesetzgeber nun in seiner stetigen Bestrebung, den Rechtsstoff nach systematischen und logischen Kriterien zu ordnen, den ursprünglichen systematischen Zusammenhang der AHO zerrissen und das gesamte Material nach – seiner Meinung nach zweckmäßigen – inhaltlichen Kriterien neu arrangiert. Die preußische AHO von 1766 ließ den Versicherer ebenfalls nur für zufällige Schäden einstehen (§ 45 PrAHO).622 Darunter zählte gem. § 64 PrAHO ausdrück­ lich auch das Verschulden des Schiffers und der Schiffsbesatzung. Auch hier stan­ den die Risikobeschreibung und die Regelungen zum Verschulden Dritter somit noch gesetzessystematisch separat voneinander, wie es in Tit. V und Tit. VII der Hamburger AHO der Fall gewesen war. Allerdings schuf die preußische AHO mit ihrem § 68 bereits eine Generalklausel, welche erstmals abstrakt und expressis verbis formulierte, dass der Versicherte seinen Anspruch einbüßte, wenn er den Schaden selbst verschuldet hatte: „§ 68. Er ist auch überhaupt von der Vergütigung aller derjenigen Schäden frey, welche durch die Handlungen, Gefährde oder Verschuldung des Versicherten entstehen.“

Diese klar gefasste Generalklausel blieb über den gesamten weiteren Entwick­ lungsprozess erhalten.623 Sie fand schließlich, nachdem der Gesetzgeber den Ver­ schuldensmaßstab noch etwas feiner ausdifferenziert hatte, Eingang in die oben zi­ tierten Th. II Tit. 8 §§ 2119, 2120 ALR. Bemerkenswert ist nur, dass der preußische Gesetzgeber diese Normen, wie erwähnt, neuerdings in den Kontext der Gefahrerhö­ hung – „bey vorgehenden Veränderungen“ – einordnete. Im Gegensatz zu jener Ge­ neralklausel verharrte die Norm zum Verschulden der Schiffsbesatzung, der frühere § 64 PrAHO, weiterhin im Kontext des Regelungsabschnitts „Art der Gefahr“;624 in ihr lag der Keim der späteren §§ 2216–2218 ALR. Die Verfasser des EAGB und des ALR haben die Rechtsmaterie also gewissermaßen kräftig durchgemischt. d) Ein Erklärungsansatz zur Genese der feuerversicherungsrechtlichen Th. II Tit. 8 §§ 2156, 2235 ff. ALR Der dargestellte Entwicklungsprozess kann stellvertretend stehen für den Versuch des Gesetzgebers, das System des Versicherungsrechts nach inhaltlichen Kriterien zu durchdringen, zu abstrahieren und gegebenenfalls vollkommen neu zu ordnen. 622

NCC IV, 83. Vgl.  Th.  I Abt.  II § 1684 EAGB (1785) (Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 [2003]), Th. II Tit. 8 § 2119 ALR (1794). 624 §§ 1757 ff. EAGB (1785). 623

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Das Resultat freilich entsprach nicht dem heutigen Verständnis der Versicherungs­ rechtsdogmatik. Vor dem Hintergrund dieser systematischen Umwälzungen, die der Gesetzgeber für geboten hielt, lassen sich nun auch die auffälligen Redundan­ zen im Feuerversicherungsrecht besser verstehen. Um die verworrene Regelung der Eigenverschuldensfrage im ALR zu verstehen, muss man also zwei ineinander verschlungenen Entwicklungslinien folgen: der ersten Linie, die zu Th. II Tit. 8 §§ 2235 ff. ALR führte, und der anderen, deren Endprodukt § 2156 ALR war. Die §§ 2235–2239 ff. ALR625 zum Verschulden der Familienangehörigen, Haus­ genossen und Angestellten des Versicherten, übertrugen den Rechtsgedanken der Haftung für Drittverschulden (§§ 2216–2218 ALR)626 auch auf die Feuerversiche­ rung. Davon zeugt schon die amtliche Überschrift der §§ 2235 ff.: „Besonders bey Feuerversicherungen“. Jene feuerversicherungsrechtlichen Normen waren nicht anderes als eine zweckentsprechende Fortführung der vorausgegangenen §§ 2209– 2234 ALR zur „Art der Gefahr“. Ein solches Vorgehen scheint im Licht der bisherigen Untersuchungen jeden­ falls sehr plausibel zu sein. Es würde der mittlerweile schon häufig beobachteten Arbeitsmethode des ALR-Gesetzgebers entsprechen, vermeintliche Lücken im Binnenversicherungsrecht durch Analogieschlüsse aus der Seeversicherung zu schließen. Und wirklich lassen sich auch die inhaltlichen Parallelen kaum überse­ hen: wie der Seeassekuradeur627 musste auch der Feuerversicherer grundsätzlich für das Verschulden der beim Versicherten angestellten dritten Personen haften.628 Allerdings stand der Versicherte sowohl in der See-629 als auch in der Feuerver­ sicherung630 leistungsfrei, wenn er selbst bei der Auswahl und Überwachung der für ihn arbeitenden Personen nachlässig gehandelt hatte. Neu war insoweit nur, dass der Feuerversicherte auch dann keine Leistung beanspruchen konnte, wenn ein unmittelbar aus seiner Sphäre stammender Dritter – also sein Ehegatte, Kind oder Enkel – den Schaden verschuldet hatte.631 Diese gesetzliche Wertung folgte keinem erkennbaren seeversicherungsrechtlichen Vorbild. Sie stellt allem Anschein nach eine eigene Gestaltung des preußischen Gesetzgebers dar. Woher kam aber nun die redundant wirkende Vorschrift des § 2156 ALR,632 die ebenfalls die Feuerverursachung durch nahestehende Verwandte betraf? Sie 625

Entspr. §§ 1783–1787 EAGB (1785). Entspr. §§ 1757, 1758 EAGB (1785). 627 § 2216 ALR (1794), entspr. § 1757 EAGB (1785); ausdrücklich zum Auswahlverschulden des Seeversicherten Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 211. 628 § 2236 ALR (1794), entspr. § 1784 EAGB (1785); zum Überwachungsverschulden des Feuerversicherten s. Müssener (2008), S. 271. 629 § 2218 ALR (1794); eine abstrakte Klausel zum Überwachungsverschulden existierte im EAGB noch nicht, jedoch enthielt § 1758 EAGB (1785) schon eine vergleichbare Norm mit niedrigerem Abstraktionsgrad, welche die mangelhafte Wartung des Schiffs etc. betraf. 630 § 2239 ALR (1794), entspr. § 1787 EAGB (1785).  631 § 2235 ALR (1794), entspr. § 1783 EAGB (1785).  632 Entspr. § 1706 EAGB (1785).  626

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

scheint wie eine Analogie zu den Generalklauseln in §§ 2119, 2120 ALR.633 Jene hatte der Gesetzgeber, wie gesagt, in systematischer Hinsicht als Gefahrerhöhungs­ vorschriften begriffen. Dementsprechend stand auch § 2156 ALR in unmittelbarem systematischem Zusammenhang zu den Normen, welche inhaltlich um die Erhö­ hung der Feuergefahr kreisten (§§ 2157 ff. ALR). Auch hier lassen sich inhaltliche Parallelen zwischen See- und Feuerversicherungsrecht kaum übersehen: § 2119 ALR handelte von Verschulden des Seeversicherten und seines Kommissionärs, § 2156 ALR vom Verschulden des Feuerversicherten und seiner Familienmitglie­ der. Der Rechtsgedanke war in beiden Fällen derselbe: dem Versicherten wurde das Verschulden dritter Personen zugerechnet, die in seiner rechtlichen Risiko­ sphäre standen. Um es mit klaren Worten auf den Punkt zu bringen: der Gesetzgeber hat hier wahrscheinlich gleich zwei Mal an völlig verschiedenen Stellen eine ähnliche klin­ gende Analogie zum Seeversicherungsrecht gezogen, und es bis zum Inkrafttreten des ALR versäumt, die dabei entstehenden Redundanzen zu beseitigen. Anders lässt es sich kaum erklären, dass § 2156 ALR und § 2235 ALR inhaltlich sogar ge­ ringfügig divergierten, indem § 2156 mit einem Verursachungs-, § 2235 hingegen mit einem Verschuldenskriterium arbeitete. e) Ein Erklärungsansatz zur Genese der lebensversicherungsrechtlichen Th. II Tit. 8 §§ 1968, 1969 ALR Vollkommen außerhalb dieser verworrenen Systematik des See- und Feuerver­ sicherungsrechts bewegten sich schließlich die Th. II Tit. 8 §§ 1968, 1969 ALR zum Lebensversicherungsrecht. Eine Vorgängernorm zu jenen Paragraphen tauchte erstmals im EAGB auf, wo in Th. I Abt. II § 1564 bestimmt war, auf „einen durch Hochverrath, Mord, Brandstiftung, Straßenraub, oder Diebereyen, verwürkten Verlust des Lebens“ könne eine Versicherung nicht geschlossen werden. In den beiden Assecuranz- und Havereyordnungen kannte man eine solche Norm noch überhaupt nicht. Vermutlich hatte das Freiheits- und Lebensversicherungsprodukt der AHOen, das einen Seefahrer vor allen möglichen Gefahren einer einzelnen, vergleichsweise kurzen Seereise schützte, einfach kein sonderlich großes Bedürf­ nis nach einer entsprechenden Vorschrift beispielsweise zur Verhängung und Voll­ streckung der Todesstrafe hervorgerufen. Ein ordentliches Strafgericht war auf die Dauer einer maritimen Lebensversicherung schlichtweg nicht zu erreichen. Andererseits liegt aber auch eine Beeinflussung des § 1564 EAGB durch die staatlich geführten Witwen- und Waisenkassen eher fern. Einerseits regelten deren Reglements noch viele weitere Ausschlussgründe neben dem strafrechtlich „ver­ würkten Verlust des Lebens“; andererseits sahen sie im Einzelnen wesentlich dif­ ferenziertere Rechtsfolgen vor als das ALR. Sollte man eine direkte Einflusslinie 633

Entspr. § 1684 EAGB (1785). 

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

261

von den Witwenversorgungseinrichtungen des 18. Jahrhunderts bis zum ALR zie­ hen wollen, so müsste man sich erneut die Frage gefallen lassen, warum das ALR mit seinem ausgeprägten Hang zur Kasuistik nicht einmal im Ansatz die detailge­ nauen Vorschriften der Witwenkassen nachgeahmt hat. Viel plausibler scheint es, dass das ALR hier aus eigener Kraft einen naheliegenden Rechtsgedanken kodi­ fiziert hat, zumal die Fallgruppe „Todesstrafe“ in der damaligen Zeit wohl keiner sonderlichen juristischen Phantasie bedurfte. Die endgültige Fassung der §§ 1968, 1969 ALR erfuhr gegenüber § 1564 EAGB dann nur noch sprachliche Änderungen. Am Ende lässt sich auch anhand der Bestimmungen zur selbstverschuldeten Verursachung des Versicherungsfalles demonstrieren, wie wenig die vorgesetz­ liche Praxis zu einigen Normkomplexen des Allgemeinen Landrechts beitragen konnte. Stattdessen bieten diese Normen des ALR ein weiteres gutes Beispiel, um den komplexen und manchmal alles andere als geradlinig ablaufenden Transforma­ tionsprozess zu untersuchen, mit dem der preußische Gesetzgeber zwischen 1766 und 1794 das geltende Seeversicherungsrecht erst systematisieren und dann auch für die Binnenversicherung fruchtbar machen wollte. 4. Die Feuer- und Lebensversicherungspraxis: Abkehr vom komplexen Regelungsgefüge des ALR Die außerordentlich differenzierten Regeln des ALR zur Feuerversicherung, die insbesondere in Th. II Tit. 8 §§ 2235 ff. Ideen zur Verschuldenszurechnung bzw. zum Auswahl- und Überwachungsverschulden des Versicherten entwickelt hat­ ten, fanden in der Feuerversicherungspraxis nach 1800 keinerlei Anklang mehr. Die AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt widmeten der gesamten Selbstverschuldensfrage eine denkbar knappe Klausel, die mit dem komplexen Regelungsgefüge des ALR wenig gemein hatte. Sie regelte die Frage des Eigen­ verschuldens bloß beiläufig, und zwar im Zusammenhang mit der Beschreibung des versicherten Risikos. Auch Wilhelm Benecke hatte die preußischen Regelun­ gen in seinem „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ nur im Vorüber­ gehen, gewissermaßen als Annex zu längeren Ausführungen über den Umfang des übernommenen Feuerrisikos gestreift.634 Entsprechend berücksichtigten auch die AVB der „Berlinischen“ die §§ 2156, 2235 ff. ALR nicht mehr. In der erwähnten AVB-Klausel hieß es nur:635 „Art. 43. [1] Feuerschäden, welche durch Erdbeben, höhere Gewalt, durch Krieg  – das heißt, durch unmittelbare Folge kriegerischer Operationen auf militärischen Befehl, nicht aber solche, welche bloß zurzeit und durch mittelbare Folgen des Krieges veranlaßt wer­ den – ferner Feuerschäden, die durch Aufruhr, als dessen unmittelbare Folge, und endlich solche, welche durch Bosheit oder vorsätzlichen Mutwillen des Versicherten entstehen, werden nicht vergütet. […]“ 634 635

Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 526. Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 22.

262

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Sie scheint eher der vorgesetzlichen Praxis der Fünften Assecuranz-Compagnie oder der Bieber’schen Association nachempfunden zu sein, die jene Frage – wie vorhin gezeigt – auch eher im Vorübergehen erwähnt hatten, namentlich als Teil der Risikobeschreibung. Die spätere Feuerversicherungspraxis schwankte allent­ halben in der Frage, welcher Verschuldensgrad denn nun zum Anspruchsverlust führen solle – gemein war allen AVB-Bestimmungen aber stets, dass sie das Thema als ein Problem des versicherten Risikos behandelten.636 Warum die Feuerversicherungspraxis sich in dieser Hinsicht nicht am ALR orientierte, unterliegt nur Mutmaßungen: vermutlich hielten die Praktiker die Re­ geln des ALR für zu exotisch, zu verworren, zu starr oder zu holzschnittartig. In jedem Fall bleibt das ALR bis heute das einzige deutsche Gesetz, das überhaupt Zurechnungsvorschriften wie die §§ 2235 ff. ALR kodifiziert hat; diese Konstruk­ tion des ALR verschwand nach 1794 wieder völlig aus der Gesetzgebung. Ebensowenig fanden die lebensversicherungsrechtlichen Vorschriften der §§ 1968, 1969 ALR Eingang in die Versicherungspraxis. Die Lebensversiche­ rungsbank zu Gotha bewegte sich etwa in weiter Ferne von den Vorschriften des preußischen Landrechts, indem sie in ihren AVB bestimmte:637 „§ 63. [1] Die Versicherung wird null und nichtig, wenn der Versicherte im Zweikampf, durch Selbstmord oder durch die Hände der Gerechtigkeit fällt, oder wenn er auf eine un­ verantwortlich mutwillige Weise sein Leben auf das Spiel gesetzt und es dadurch verloren oder seinen Tod dadurch beschleunigt hat. [2] Auch ein lasterhafter Lebenswandel, wodurch die Lebensdauer entschieden verkürzt wird, gehört dahin. – Die Bank wird sich erlauben, in solchen Fällen den Versicherten oder den Eigentümer der Police an die Gefahr, ausge­ schlossen zu werden, durch den Agenten zu erinnern.“

636

§ 37  I lit.  b Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (SammlungAVB  I,  6) (Leistungsfreiheit bei „Bosheit, Mutwillen oder grobe Nachlässigkeit“ des Ver­ sicherten); § 4 I Hs. 1 AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (SammlungAVB  I,  26) (Ausschluss von „böslicherweise veranlaßten“ Schäden); Art. 135  I lit.  d AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB  I,  14) („Bosheit oder Versschuldung“); Art. 3 I 1 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30) („Bosheit oder Frevel“); § 1 II AVB Magdeburger Feuerversi­ cherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34) („Bosheit, vorsätzlichen Mutwillen oder grobe Fahrlässigkeit“). Vgl. auch Müssener (2008), S. 271 (zu den AVB der „Aachener“). 637 Ähnlich Abs. 11 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828) (SammlungAVB II, 21) (Selbstmord, Duelltod oder Todesstrafe); § 35 S. 1 AVB Leipziger Lebensversi­ cherungs-Gesellschaft (1830) (Sammlung-AVB II, 7) (Tod durch Selbstmord, Duell, Todes­ strafe bzw. lebensgefährliche Handlungen oder ausschweifender Lebenswandel); § 24 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB  II,  23) (Tod durch Selbstmord, Duell, Todesstrafe oder „mutwillige Lebensgefährdung“); § 51 AVB Lebensver­ sicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16) (Tod durch Selbst­ mord, Duell oder Todesstrafe) – nach den AVB der „Stuttgarter“ genügte eine gefährliche Lebensweise sogar an sich schon zur Aufhebung des Versicherungsvertrags, bevor sie den Tod herbeigeführt hatte. Dazu auch Masius (1846), S. 504; Samwer, Masius’ Rs. 17 (1905), 97 (zur ältesten „Selbstmordklausel“ der Gothaer).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

263

Die Klausel dürfte an die englische Rechtspraxis angelehnt sein, zu deren ge­ festigten Gewohnheiten es gehörte, den Leistungsanspruch in den genannten Fall­ gruppen von Suizid, Duelltod oder Hinrichtung auszuschließen. Auch die Klausel zum „lasterhaften Lebenswandel“ dürfte sich auf diese Weise erklären lassen: in der englischen Rechtspraxis verweigerten die Lebensversicherer beispielsweise häufig die Leistung, wenn die versicherte Person der Trunksucht verfallen war.638 Ein bedeutender rechtsschöpferischer Einfluss des ALR ist insoweit auch im Le­ bensversicherungsrecht nicht nachweisbar.

X. Die Ermittlung und Berechnung des Feuerschadens Hat der Versicherte nach alledem dem Grunde nach einen Anspruch auf die Versicherungsleistung erworben, so stellt sich nur noch die Frage, in welcher kon­ kreten Höhe er für seinen Verlust entschädigt wird. Alle Formen der Summen­ versicherung, so auch die Lebensversicherung, werfen diese Frage nicht auf – zur Auszahlung kommt einfach die gezeichnete Versicherungssumme, und zwar in voller Höhe.639 Anders liegt die Situation in der Schadensversicherung, vor allen Dingen also in der See- und der Feuerversicherung: hier kommt es darauf an, den durch den Versicherungsfall verursachten Schaden auf tatsächlicher Ebene zu er­ mitteln und dann seiner Höhe nach zu berechnen.640 Auch insoweit überließ es das Allgemeine Landrecht nicht einfach dem pragma­ tischen Vorgehen der Versicherungspraxis, den erstattungsfähigen Schaden zu er­ mitteln und zu berechnen. Stattdessen gab es den Vertragsparteien mit Th. II Tit. 8 §§ 2242–2274 eine breite Palette an Regularien an die Hand.641 Dieses kasuistische Vorgehen darf als typisch für das ALR bezeichnet werden. Völlig untypisch war allerdings, dass all diese Vorschriften sich nur mit Schäden an Schiffen und deren Kargo beschäftigten, spezielle Regeln für die Feuerversicherung aber völlig außen vor ließen. Dennoch lohnt sich auch auf diesem Problemfeld eine nähere Analyse: einerseits entspräche es nicht dem so üblichen Vorgehen des Landrechts, wenn es offensichtliche Lücken im Feuerversicherungsrecht ließe. Andererseits lassen sich in den AVB der Berlinischen, Gothaer und Aachener Feuerversicherungsgesell­ schaft einige bemerkenswerte Parallelen zu den §§ 2242–2274 ALR entdecken, welche einen Kontrast zur vorgesetzlichen Praxis bildeten. Diese scheinbaren Wi­ dersprüche verdienen eine nähere Untersuchung.

638

Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 546 f. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 468; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), vor § 74 Rn. 24; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 1202. 640 Zu den sehr spärlichen Bestimmungen im geltenden Recht und ihren Ausformungen in der Praxis, vgl. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 2039 f.; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), vor § 74 Rn. 63 ff. 641 Abgedruckt in der Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). 639

264

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

1. Die Schadensberechnungsvorschriften des ALR als reines Seerecht Die Vorschriften in Th. II Tit. 8 §§ 2242–2274 ALR mit ihren zwei Abschnitten zur „Ausmittelung des Schadens“ (§§ 2242–2261 ALR)642 und zur „Berechnung des Schadens“ (§§ 2262–2274 ALR)643 besaßen einen rein seeversicherungsrechtlichen Inhalt. Noch dazu waren all jene Regeln bereits im Seerecht der Assecuranz- und Havereyordnungen angelegt,644 sodass eine detaillierte rechtshistorische Untersu­ chung von den AHOen bis zum preußischen Landrecht kaum neue Erkenntnisse für das Binnenversicherungsrecht zu Tage fördern wird. Die seeversicherungsrechtliche Schadensermittlung des ALR unterschied in erster Linie danach, ob ein totaler oder ein partieller Schaden am versicherten Gegenstand eingetreten war. a) Der Totalschaden und das uneingeschränkte „Prinzip der taxierten Police“ Hatte ein Seeunglück das Schiff oder seine Ladung vollkommen zerstört, so galt Th. II Tit. 8 § 2242 ALR:645 „§ 2242. Ist nach vorstehenden Grundsätzen an einem versicherten Schiffe, Gute, oder andern Objekte ein Totalschaden entstanden, welchen der Versicherer zu vertreten hat: so bestimmt sich das von ihm zu entrichtende Quantum aus der Police selbst.“

Diese Regelung kodifizierte, wie auch schon ihre rechtlichen Vorbilder in den AHOen,646 das im Seerecht zweckmäßige „Prinzip der taxierten Police“: der Wert der versicherten Gegenstände war in der Versicherungspolice notiert und kam in voller Höhe zur Auszahlung, wenn die Gegenstände einen Totalschaden erlitten.647 642

Entspr. §§ 1790–1804 EAGB (1785) (Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2 [2003]) zur „Vergütung des Schadens“. 643 Entspr. §§ 1804–1811 EAGB (1785) zur „Berechnung des Schadens“. Die weiteren Normen im Abschnitt über die „Berechnung des Schadens“, §§ 2275–2278 ALR (1794), betrafen hingegen den Regress gegen schadensversursachende Dritte und werden hier nicht weiter beleuchtet. 644 Vgl. Tit. XII, XIII AHO (1731) (Dreyer [1990], S. 267) („Von Taxirung des Schadens“ und „Von der Beweisung des Schadens“); §§ 178–185 PrAHO (1766) (NCC IV, 83) („Siebenzehnter Abschnitt. Von Würdigung des Schadens“), ebd. §§ 186–188 („Achtzehnter Abschnitt. Von Andeutung und wirklicher Vergütigung des Schadens“). Zu der entsprechenden Seeversiche­ rungspraxis zur Zeit der Hamburger AHO, vgl. Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV §§ 76–82 (S. 412 ff.). 645 Entspr. § 1790 EAGB (1785). 646 Vgl. Tit. I Art. 5 S. 1, Tit. XII Art. 4 I, Tit. XIII Art. 2 AHO (1731); §§ 27, 178 PrAHO (1766); vgl. auch Dreyer (1990), S. 209 f. zur Rezeptionsgeschichte der Taxationsvorschriften in der PrAHO (1766). 647 Malß, Betrachtungen (1862), S. 58; Marshall (1. Aufl. 1805), S. 530; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 591 (S. 219 f.); Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 114.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Die grundsätzliche Gefahr einer solchen Vorgehensweise liegt darin, dass nach dem Vertragsschluss eintretende Wertminderungen, zum Beispiel die natürliche Abnutzung des Schiffes oder der Verderb der geladenen Waren, vom Assekuradeur ersetzt werden könnten.648 Mit klaren Worten: im Falle zwischenzeitlicher Wert­ minderungen gerät der Versicherte in die Situation, aus dem Vertrag eine versi­ cherungsrechtlich verbotene Bereicherung ziehen zu können. Für die Parteien des maritimen Versicherungsvertrages hatte diese Klausel den­ noch ihre volle Berechtigung: der Totalschadensfall bedeutete in der Praxis häufig, dass das Schiff auf hoher See versunken war oder an einem weit entfernten Ort gestrandet war – wie sonst hätte der Versicherer also den Schaden berechnen sol­ len, wenn nicht mit einer vorab taxierten Police?649 Zudem hatten sich innerhalb der Seeversicherung Vorgehensweisen entwickelt, um den geschilderten Gefah­ ren zu begegnen. Wenn sich schon während der Vertragslaufzeit offenbarte, dass die vorvertragliche Taxe erheblich übersetzt war, sei es nur wegen zwischenzeit­ licher Wertverminderungen, gewährte § 2170 ALR650 dem Versicherer das Recht, die Herabsetzung der Taxe zu verlangen. In systematischer Hinsicht war die Vor­ schrift geregelt bei den Pflichten des Versicherten „bey entstehendem Schaden“; sie bestimmte:651 „§ 2170. Nur von dem Nachweise des Werths ist der Versicherte frey, wenn derselbe schon in der Police bestimmt worden; jedoch steht dem Versicherer der Beweis offen, daß diese Taxe mehr als Zehn Prozent über den nach §. 1984. sqq. zu bestimmenden vollen Werth betrage.“

b) Die differenzierte Berechnungspraxis bei Partialschäden Wenn hingegen Schiff und Ware nur eine Teilbeschädigung davongetragen hat­ ten, so sah Th. II Tit. 8 § 2246 ALR652 vor, dass der wirklich entstandene Schaden konkret ausermittelt werden musste: „§ 2246. Ist die versicherte Sache nur beschädigt worden, oder nur zum Theil verloren ge­ gangen: so muß der eigentliche Betrag des Schadens ausgemittelt werden.“

648

Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 534 f.; vgl. Dreyer (1990), S. 188. Vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 479 (Erleichterung der Beweisführung als Zweck der taxierten Police); ebd., S. 502, wird darauf hingewiesen, dass nicht taxierte Policen für Schiffskaskoversicherungen aus Gründen der Rechtssicherheit absolut unüblich seien; ebd., Bd. 4 S. 328 f. (besondere Schwierigkeiten der Schadensberechnung bei Schiffen auf hoher See). Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 7 führte die „taxierte Police“ in Seeversicherungen außer­ dem darauf zurück, dass der Wert von Handelswaren von Ort zu Ort bzw. konjunkturbedingt unterschiedlich hoch sein konnte, sodass die Taxation der Waren jedenfalls im Innenverhält­ nis zwischen Assekuradeur und Versichertem Rechtssicherheit schaffen konnte. 650 Vgl. § 1720 EAGB (1785); diesem fehlte jedoch noch der hier entscheidende Hs. 2. 651 Vgl. Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 1 S. 487; Malß, Betrachtungen (1862), S. 58; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 591 (S. 220); Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 115. 652 Entspr. § 1791 EAGB (1785). 649

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Erst jetzt, bei Partialschäden, differenzierte das Gesetz noch weiter zwischen Schäden am Schiffskörper und Schäden an der verschifften Ware. Bei einem Schiffsschaden musste die Schadenshöhe sachverständig veranschlagt werden,653 zu welchem Zweck ein „erfahrner Schiffer, Schiffsbaumeister, Repschläger und Segelmacher“ von den Parteien zu erwählen oder von der Obrigkeit zu bestimmen war. Die Sachverständigen waren in jedem Falle unter Eid zu stellen.654 Den so er­ mittelten Teilschaden hatte der Assekuradeur dann zu ersetzen.655 Komplizierter stellte sich das Verfahren bei teilbeschädigten Waren dar. Für jene waren differenziertere Regelungen notwendig, denn der Wert von Handelswaren kann von Marktplatz zu Marktplatz starken Schwankungen unterworfen sein – im Gegensatz zu Schiffen, deren Sachwert in der Regel auch bei Reisen in einen anderen Erdteil konstant bleibt.656 Die beschädigten Waren mussten gem. § 2249 ALR657 zunächst von den unbeschädigten abgesondert und anschließend von ver­ eidigten Taxatoren „gewürdigt“ werden. Sodann folgte nach derselben Vorschrift ihr öffentlicher Verkauf. Der so erzielte Verkaufserlös war nach § 2265 ALR an den Versicherten auszukehren. Was danach noch vom Assekuradeur an Versiche­ rungsleistung zu zahlen war, bestimmten §§ 2265–2267 ALR in Anlehnung an die beiden Assecuranzordnungen:658 „§ 2265. Bey beschädigten Waren ergiebt sich die zu vergütende Summe aus Vergleichung des gelösten Geldes, gegen den comptanten Marktpreis am Bestimmungsorte. § 2266. Wird aber die beschädigte Waare im Nothhafen verkauft: so muß der Einkaufspreis ausgemittelt werden. § 2267. Dies geschieht auf den Grund der Faktur und Einkaufsrechnung, mit Zuschlagung der Ladungskosten, der Fracht, des Beytrages zur kleinen Haverey, der Versicherungsprä­ mie, und anderer Unkosten, welche die Waare gewöhnlich bis zum Verkauf am Bestim­ mungsorte erfordert.“

Das oben in Ansehung der Totalschäden erörterte Problem, dass die versicher­ ten Gegenstände während der Versicherungsdauer an Wert einbüßen konnten, be­ rücksichtigten sowohl die gängige Handelspraxis als auch das ALR: nach einer in § 2274 ALR659 kodifizierten kaufmännischen Gewohnheit, die sich schon in der 653

§ 2247 ALR (1794); entspr. § 1792 EAGB (1785); § 179 PrAHO (1766); Tit.  XII Art. 1 AHO (1731). 654 § 2248 ALR (1794); entspr. § 1792 EAGB (1785); § 179 PrAHO (1766); Tit. XII Art. 1 AHO (1731). 655 § 2263 ALR (1794); entspr. § 1806 EAGB (1785). 656 Auf diesen inneren Grund für die komplexen Vorschriften zu Teilschäden an Waren wies im Gesetzgebungsverfahren ausdrücklich der Assekuradeur Hinrich Gaedertz hin, vgl. Mo­ nitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 77. 106 (Gaedertz zu § 1806 EAGB = § 2263 ALR). 657 Entspr. § 1793 EAGB (1785); § 182 PrAHO (1766); vgl. Tit. XII Art. 2 AHO (1731). 658 Entspr. §§ 1807–1809 EAGB (1785); § 183 PrAHO (1766); vgl. Tit. XII Art. 4 I AHO (1731). 659 Entspr. § 1811 EAGB (1785); § 210 PrAHO (1766); Tit.  XXI Art. 7 AHO (1731). Die Bagatellschadensgrenze war in den beiden AHOen aber noch eine Besonderheit bei großen ­Havereien, während sie in EAGB und ALR auf alle Schadensfälle Anwendung fanden.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

267

Zeit vor der Hamburgischen AHO nachweisen lässt,660 ersetzte der Assekuradeur den Schaden nur oberhalb einer Bagatellgrenze von 3 % der Versicherungssumme; bei Waren, die besonders schnell an Wert verloren, lag jene Schwelle in der Pra­ xis noch höher.661 Den beiden dargestellten Schadensberechnungsmethoden für partialbeschädigte Schiffe und Waren war lediglich das förmliche Verfahren gemein. Die sachverstän­ dige Ermittlung musste „bey Schiffen an dem Orte, wo sie zuerst einlaufen, und bey Waaren an dem Orte, wo sie ausgeladen werden, geschehen“ (§ 2258 ALR), und zwar gem. §§ 2259, 2260 ALR „unter gerichtlicher Aufsicht.“ Zur Schadensermitt­ lung waren die Vertragsparteien oder deren Vertreter beizuziehen.662 Am Rande bemerkt darf durchaus in Zweifel gezogen werden, ob dieses förmliche Verfahren unter allen Aspekten der Seehandelspraxis entsprach: so bemerkten während des Gesetzgebungsverfahrens gleich zwei Monita, die Schadensberechnung an Waren dürfe nicht bereits beim Ausladen des Schiffes geschehen, also noch bevor der Adressat die Güter in Empfang genommen habe. Dies laufe „gegen die Usanz der vorzüglichsten Handelsstädte“663 und sei in kleineren Häfen, die über keinen ge­ räumigen Ausladeplatz verfügten, auch gar nicht möglich.664 An der Fassung des § 2258 ALR änderten diese Bedenken jedoch nichts. Ganz vehement drängt sich im Angesicht dieser Normen des Landrechts nun aber die Frage auf, warum der Gesetzgeber hier nicht näher auf die Mobiliarfeuer­ versicherung einging, wie er es ansonsten tat.665 Möglicherweise war er der Ansicht, auch feuerbeschädigte Mobilien könnten unproblematisch unter den Begriff der 660

Vgl. Vergleich der Assecuratoren in Hamburg vom 09. 02. 1693 (Dreyer [1990], S. 255), der auf eine entsprechende Klausel aus niederländischen Seeassekuranzverträgen verwies („vry van 3 pro Cento Avarie, als die niet hooger loopt“); die Pläne der späteren Seeassekuranz-­ Compagnien verwiesen insoweit auf die Regeln der Hamburger AHO, vgl. z. B. § 16 Plan der Fünften Assecuranz-Compagnie (1789) (Allgemeine Handlungs-Zeitung 1789, 71). Zu den Ver­ gleichen der Hamburger Assecuratoren s. insoweit auch Dreyer (1990), S. 54 f.; ebd. S. 189 (zur Aufnahme dieser Regelung in die Hamburgischen AHO). Allgemein zu Bagatellschadengren­ zen in der maritimen Praxis: Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 235 f.; Büsch, Theoretisch-Prak­ tische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 7 (S. 56 f.); vgl. Hagena (1910), S. 63 f.; L ­ angenbeck (1. Aufl. 1727), IV § 23 (S. 388); Pöhls, Bd. 4/1 (1832), S. 367 ff. 661 Nach § 2274 ALR (1794) lag die Bagatellgrenze bei verderblichen Waren bei 10 % der Versicherungssumme; noch differenziertere Vorschriften enthielt Art. 19 I lit. a Beständige Bedingungen der Hamburgischen Assecuranzcompagnien (1800) (Benecke [2. Aufl. 1810], Bd. 3 S. 35), der nach der Länge der Schiffsreise sowie nach der Sorte des Zuckers unterschied und daraus eine Bagatellschadensgrenze von bis zu 15 % kalkulierte. 662 §§ 2258–2260 ALR (1794) entspr. §§ 1800–1802 EAGB (1785); vgl. auch §§ 179, 180, 182 PrAHO (1766); Tit. XII Art. 4 AHO (1731). Die beiden AHOen sahen allerdings noch keine gerichtliche Aufsicht vor und verlangten auch nicht, dass der Schaden direkt bei der Ausladung der Waren taxiert werden solle. 663 So ausdrücklich Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.49.349 (­Sieveking zu § 1795 EAGB = § 2251 ALR). 664 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.49.321 („Conferenz“ zu §§ 1795, 1796 EAGB = §§ 2251, 2252 ALR). 665 P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 632.

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

„versicherten Waren“ in §§ 2249 ff. ALR subsumiert werden. Bei einigen isolierten Vorschriften wie § 2265 ALR wäre das auch tatsächlich gangbar gewesen. Alleine die meisten Vorschriften des Regelungskomplexes, wie zum Beispiel §§ 2266, 2267 ALR, waren ausschließlich auf die Seeversicherung zugeschnitten und entbehrten jeglichen Zwecks in der Feuerversicherung. Dem Gesetzgeber dürfte übrigens durchaus nicht verborgen geblieben sein, dass die seerechtliche Schadensberechnungsmethode der §§ 2242–2274 ALR in anderen Versicherungszweigen Probleme aufwerfen könnte. Die wissenschaftlichpraktische „Conferenz“ aus dem Professor Büsch und den beiden Assekuranz­ praktikern Moller und Gaedertz hatte zum entsprechenden Abschnitt des EAGB moniert, dass der Feuerversicherte seinen Schaden selten anhand seiner Han­ delsbücher berechnen könne, wie es § 2267 ALR vorschrieb – einfach deshalb, weil diese häufig ebenfalls den Flammen zum Opfer fallen würden. Stattdessen sei dem Gesetz­geber zu raten, eine Hamburgische Feuerversicherungspraxis zu kodifizieren: in der Hansestadt würden meist sachverständige „gute Männer“ nachträglich eine Taxe des Feuerschadens anfertigen.666 Damit konnte nur die Pra­ xis der Hamburgischen Assecuranz-Compagnien gemeint sein.667 Deren „Pläne“ gaben aber kaum schriftliche Zeugnisse über ihre tatsächliche Schadensermitt­ lungspraxis ab. So bestimmten die inhaltsgleichen Feuerversicherungspläne der Ersten und der Vierten Assecuranz-Compagnie von 1765 bzw. 1772 nur äußerst abstrakt:668 „Art. 7. Der Schaden muß durch die Bücher, allenfalls durch Bediente oder Arbeitsleute, und bey etwannigem Zweifel eidlich erwiesen werden. […] Art. 9. Der Schade wird vom Dispacheur aufgemacht – Art. 10. Und zwey Monat nach vollführtem Beweise bezahlt. Art. 11. Die Untersuchung des Beweises geschieht von den beyden ältesten Directeurs und dem Bevollmächtigten, allenfalls mit Zuzuiehung zweier Mäkler.“

666

Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 324 („Conferenz“ zu §§ 1684 ff. EAGB = §§ 2242 ff. ALR). 667 Freilich könnte man an dieser Stelle auch an die ebenfalls recht rudimentären Bestim­ mungen der Hamburger Feuerkasse denken, nach denen der Brandschaden durch vereidigte Maurer- und Zimmermeister geschätzt wurde, vgl. Art. 8 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676); Art. 12, 13 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753). Allerdings drehte sich das erwähnte Monitum der „Conferenz“ um Schäden, die an kaufmännischen Warenvorräten etc., also an feuerversicherten Mobilien, entstanden waren, während die Generalfeuerkasse alleine für die Gebäudefeuerversicherung zuständig war. Es lässt sich jedoch auch nicht aus­ schließen, dass die Praktiken der Generalfeuerkasse und der Assecuranz-Compagnien sich insoweit gegenseitig befruchtet haben. 668 Ineinander integrierter Abdruck beider Pläne bei Engelbrecht, Bd. 1 (1787), S. 52. Zu einer noch knapperen Klausel vgl. Policenformular unter § 18 Plan der Fünften AssecuranzCompagnie (1789), wo „eine für die Compagnie oder die etwa zu erwählenden Schiedsrichter befriedigende Art“ des Schadensbeweises gefordert wurde.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

269

Das Monitum der „Conferenz“ fand im ALR keine Berücksichtigung. Alle In­ dizien deuten also darauf hin, dass der preußische Gesetzgeber zwar gerne und häufig rechtliches Material aus schriftlichen Praxisquellen kompilierte; wo es jedoch an einer schriftlichen Niederlegung der Praxis fast gänzlich mangelte, da fehlte es ihm aller Wahrscheinlichkeit nach an der nötigen eigenen Erfahrung, um sich auf gesetzliche Regeln zur Binnenversicherung festzulegen. So beließ er es in diesem Punkt bei den maritim geprägten §§ 2242–2274 ALR, welche ja zu­ mindest der freien Disposition der Parteien unterlagen (§ 2101 ALR). Insoweit ist die Regelung des Binnenversicherungsrechts im ALR auch als teilweise fragmen­ tarisch zu bezeichnen. c) Das Abandonrecht: ein seerechtliches Spezifikum? Die einzige Vorschrift des ALR, die sich ausschließlich mit der Schadensbestim­ mung im Feuerversicherungsrecht beschäftige, war ausgerechnet im Zusammen­ hang mit den Vorschriften zum seerechtlichen Abandon zu finden. Nach Th. II Tit. 8 § 2231 ALR durfte der Versicherer anstelle des Partialschadens nach seiner Wahl die volle Versicherungssumme zur Auszahlung bringen. Damit erwarb er eo ipso das Eigentum an den Überresten der beschädigten Mobilien:669 „§ 2331. Hat aber, bey Feuerassecuranzen, der Versicherer die gezeichnete Summe bezahlt: so gehört ihm alles, was von den versicherten Sachen gerettet, oder aufgefunden wird. § 2332. Der Versicherte ist schuldig, dem Versicherer dazu die ihm bekannt gewordenen Nachrichten mitzutheilen, und sich auf Erfordern darüber eidlich zu reinigen.“

Die beiden Bestimmungen zum „Abandon“ feuerversicherter Gegenstände  – also zum Recht des Versicherers, das Eigentum an beschädigten Gegenstände zu übernehmen – wurden im Laufe dieser Forschungsarbeit bereits näher beleuchtet, da sie ganz idealtypisch für die Tendenz des Gesetzgebers stehen, Rechtsfiguren der Binnenversicherung aus dem Seeversicherungsrecht abzuleiten.670 Weil aber die §§ 2331, 2332 ALR möglicherweise die weitere Rechtsentwicklung im 19. Jahrhun­ dert beeinflusst haben – dazu sogleich –, sollen die Ergebnisse jener Untersuchung hier in aller Kürze rekapituliert werden. Das Abandonnieren war ursprünglich ein ausschließlich seeversicherungs­ rechtliches Instrument: der Versicherte konnte durch die Erklärung des Aban­ donnements sämtliche Rechte an Schiff und Ware an den Assekuradeur abtreten, wenn das Schiff über eine längere Zeit ohne jegliche Nachricht verschollen war, und durfte im Gegenzug einen großen Teil der Versicherungssumme fordern.671 669

Zum Abandon insgesamt Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 3 S. 485 ff.; Dreyer (1990), S. 156 ff. (zum Abandon in der Hamburger AHO); Müssener (2008), S. 285. 670 Vgl. dazu unter § 2 B II 1 b. 671 §§ 2304–2329 ALR (1794); entspr. §§ 1842–1863 EAGB (1785); §§ 150–162 PrAHO (1766); Tit. XI AHO (1731).

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Noch im Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches wollte der Gesetzgeber dieses In­strument auch ausdrücklich auf die Seeassekuranz beschränken (Th. I Abt. II § 1864 EAGB). Erst ein Monitum Johann Georg Büschs672 legte dem Gesetzgeber nahe, den Gedanken des Abandons zweckentsprechend für die Bedürfnisse der Mobiliarfeuerversicherung weiterzuentwickeln, was schließlich zu den beiden Re­ geln in §§ 2331, 2332 ALR führte. Nach heutigem Begriffsverständnis würde man das in § 2331 ALR kodifizierte Recht freilich nicht mehr als „Abandon“, sondern vielmehr als das „Übernahmerecht“ des Versicherers bezeichnen. Letztlich han­ delte es sich um eine Bestimmung, die der vorgesetzlichen Feuerversicherungs­ praxis noch vollkommen fremd gewesen war; sie wurde nach der Anregung des Handelstheoretikers Büsch gleichsam auf dem grünen Tisch des Gesetzgebers erschaffen. 2. Die Brandschadensermittlung in der Praxis des 19. Jahrhunderts Nach all diesen Erkenntnissen dürfte man eigentlich mit Fug und Recht davon ausgehen, dass die AVB der frühesten Privatfeuerversicherungsgesellschaften zum Themenkreis der Schadensermittlung ebenso spärliche Regelungen trafen wie etwa die Hamburgischen Assecuranz-Compagnien. Das gilt erst recht, als selbst das preußische ALR auf diese Fragestellung keine spezifisch feuerversicherungs­ rechtlichen Antworten präsentiert hatte, einmal abgesehen von dem Recht des Feuerversicherers, das Eigentum an teilbeschädigten Gegenständen durch Zahlung der vollen Versicherungssumme zu erwerben (Th. II Tit. 8 § 2231 ALR). Überra­ schenderweise bildeten die Vorschriften zur Schadensberechnung aber sogar einen absoluten Schwerpunkt in den Feuerversicherungsbedingungen der Berlinischen, der Gothaer und der Aachener. a) Die Praxis der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt Insbesondere bei der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt von 1812, der ältesten dieser Gesellschaften, waren zahlreiche Regeln zum Schadensermitt­ lungsverfahren und zur Berechnung der konkreten Schadenshöhe zu einem schier unauflöslichen Knoten verschnürt. Um sich den Prozessen anzunähern, die bei ihrer Genese eine Rolle gespielt haben könnten, muss man sich die einschlägi­ gen Klauseln der „Berlinischen“ AVB in ihrer vollen Länge vor Augen führen:673

672

Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 281 (Büsch zu § 1864 EAGB = § 2242 ALR). 673 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 22. Sehr ähnlich noch §§ 33, 34 Verfassung der FeuerVersicherungsbank zu Gotha (1820) (Sammlung-AVB I, 6).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

271

„Art. 44. Zum Beweise des Schadens wird erfordert: 1. Eine gerichtliche Verhandlung über die gleich nach dem Brande zu veranstaltende Untersuchung der Ursachen des Feuers. 2. Im Fall der versicherte Gegenstand ganz verbrannt ist, eine von der Gerichtsbehörde über den Beweis aufgenommene Verhandlung. 3. Bei Partialschäden an Gebäuden und Schiffen, eine unter Leitung der Gerichtsbehörde durch zwei Sachverständige aufgenommene und an Eidesstatt unterzeichnete Spezifikation und Taxation des Schadens und desjenigen, was beschädigt oder unbeschädigt nachgeblieben. 4. Bei Partialschäden an Waren, Fabrikaten und Fabrikgeschäften, ein befriedigender Beweis über die Wirklichkeit und Größe des Schadens, welcher etwa geführt werden könnte: durch Handlungsbücher, letzte Bilanz oder Inventarium, durch Original-Rechnungen, durch beglaubigte Erklärungen des Eigentü­ mers, seiner Leute und solcher Personen, welche das Eigentum kannten und den Wert der verbrannten und beschädigten Güter gehörig zu beurteilen imstande sind. Auf Verlangen müssen alle diese Beweismittel eidlich bestärkt werden. 5. Bei Partialschäden an Möbeln und Hausgeräten, eine Spezifikation der verbrannten und beschädigten Sachen und deren Wertes, welche durch eine Erklärung an Eides Statt bekräftigt und mit Zeugnissen von glaubwürdigen Personen begleitet sein muß. Art. 45. [1] Bei der Ausmittelung des Schadens wird die Taxe zugrunde gelegt. Die Taxe wird entweder: 1. durch Übereinkunft schon bei der Versicherung bestimmt und in der Police durch „taxiert“ ausgedrückt, 2. sie wird erst nach dem Werte zur Zeit des Brandes ausgemittelt. [2] Von Waren und Fabrikaten wird die Taxe nach dem Marktpreise des Ortes bestimmt. Besteht daselbst kein Marktpreis, so müssen die Preise des nächsten Marktes, mit Berücksichtigung der Transportkosten, angenommen werden. Von Waren aber, die gar keinen Marktpreis haben, sowie von allen anderen Gegenständen, ist der Wert durch eine Taxation sachkundiger Leute auszumitteln. [3] Bei der Ausmittelung des Schaden-Betrages wird ferner nach folgenden Grundsätzen verfahren: 1. Ein Totalschaden ist so groß wie die Taxe. 2. Ein Partialschaden ist so groß wie ein gleichmäßiger Teil der Taxe, und hierzu gibt die nötige Anleitung: a) bei Gebäuden und Schiffen der Art. 44 und No. 3; b) bei Waren und Fabrikaten aber die Taxe selbst; indem das Unbeschädigte vom Eigentümer zurückgenom­ men werden muß, welches ihm nach dem Verhältnis der Taxe angerechnet wird. Was nach dem anzustellenden bestmöglichen Verkauf der beschädigten Güter dann noch an dem Be­ lauf der ganzen Taxe fehlt, ergibt die Größe des Schadens; c) bei Fabrik-Gerätschaften, eine Taxation des Geretteten von sachkundigen Leuten angefertigt. Die Versicherungsanstalt hat sodann die Wahl, ob sie sie für die taxierte Summe übernehmen oder dem Versicherten anrechnen will; d) bei Möbeln und Hausgeräten, eine Taxation der geborgenen Sachen, welche dem Eigentümer selbst zu machen überlassen bleibt. Die Anstalt hat sodann die Wahl, selbige dem Eigentümer für die Taxe anzurechnen oder sie öffentlich verkaufen zu lassen; e) bei Pretiosen, Gold und Silber, Gegenständen der Liebhaberei und Kunstsachen, der Schade, welcher nur von den beschädigten und vermißten Stücken gerechnet wird.“

Im Anschluss an diese ausgedehnten Berechnungsvorschriften regelte Art. 47 der AVB ein Vorgehen in Streitfällen, das zum Kanon späterer Feuerversiche­ rungsbedingungen zählen sollte: waren sich die Vertragsparteien über die konkrete Schadenshöhe uneinig, so durfte jede Partei einen „unparteiischen Schiedsrichter“ aus den Kreisen sachverständiger Kaufleute, Gewerbetreibender oder Gutsbesitzer ernennen. Falls eine der Parteien ihren Schiedsrichter binnen 14 Tagen noch nicht ernannt hatte, ging das Wahlrecht aber auf die jeweils andere Partei über. Konnten sich die beiden Sachverständigen nicht auf einen konkreten Schadensbetrag eini­

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

gen, so zogen sie im Zweifelsfalle noch einen dritten Obmann bei, welcher von den beiden Sachverständigen notfalls durch das Los zu bestimmen war.674 b) Englische Versicherer oder staatliche Feuersozietäten als Vorbilder der „Berlinischen“ AVB? Das preußische Landrecht kann, angesichts seiner rein seerechtlichen Ausrich­ tung, für die Entwicklung dieses komplexen Regelungsgeflechts nicht ursächlich gewesen sein – so möchte man jedenfalls denken. Zog die Berlinische Anstalt ihr komplexes Schadensermittlungs- und -berechnungsverfahren etwa aus der Pra­ xis englischer Feuerversicherer, etwa den Versicherungsbedingungen der London Phoenix, die Georg Friedrich Averdieck und Wilhelm Benecke unbestritten als Blaupause für die deutschen AVB gedient haben? Allerdings erreichten auch die Bedingungen der Phoenix in dieser Hinsicht nicht annähernd den Regelungsum­ fang der „Berlinischen“ AVB. In den „Propositiones“ der Phoenix, die sie 1790 in Hamburg verwendete, hieß es zum Thema „Schadensermittlung“ bloß:675 „Art. XI. Der Verlust auf versicherte Gebäude muß durch zwey Baumeister oder dazu ver­ ordnete Arbeiter eidlich attestirt warden, welche davon einen Plan oder Beschreibung zu machen haben, worin sie den Umfang des Gebäudes, ehe das Unglück entstand, und die Ausdehnung des Schadens specificiren; wie auch, welche Kosten benöthigt seyn werden, um dasselbige wieder aufzubauen oder in Stand zu setzen in gleichem Umfang, und mit Materialien von selbiger Qualität. Art. XII. [1] In Ausmachung des Verlusts auf Hausrath oder Güter, hat der Verunglückte allein so viel zu berechnen, wie nöthig, um Güter von selbiger Qualität auf dem gewöhn­ lichen Markt- oder Einführplatze wieder einkaufen zu können: nähmlich die Einkaufs­ preise, und die wirklichen Unkosten von Einfuhr, und nichts mehr. [2] Alle Unkosten für die Ausräumung der versicherten Güter, während der Zeit der Feuersgefahr, werden von dieser Societät auch sogleich ersetzt.“

In den AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt fanden sich mehrere Elemente aus den „Propositiones“ der Phoenix wieder. Wie die Phoenix kannte auch die Berlinische sowohl den Einsatz zweier sachverständiger „Baumeister“ zur 674 So auch § 15  III, IV AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825) (Samm­ lung-AVB I, 26); Art. 17 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (SammlungAVB I, 30); § 14 S. 2 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (SammlungAVB I, 34); § 9 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38). Vgl. Müssener (2008), S. 261 f. (zu den AVB der „Aachener“). 675 Abgedruckt bei Krünitz, Bd. 92 (1803), S. 324. Ähnlich Cl. 10 Policy Form of Sun Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 538) („in case any difference arise between the office and the insured, touching any loss or damage, such difference shall be submitted to the judge­ ment and determination of arbitrators indifferently chosen, whose award, in writing, shall be conclusive and binding to all parties“). Die Propositiones der London Phoenix in Hamburg (1786) (Krügelstein [1800], Bd. 3 § 31 [S. 98]) enthielten entsprechende Klauseln hingegen noch nicht.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

273

Ermittlung von Gebäudeschäden (Art. 44 Nr. 3) als auch die Praxis, den Wieder­ beschaffungswert beweglicher Gegenstände anhand des gewöhnlichen Marktprei­ ses zu ermitteln (Art. 45 II). Allerdings regelten jene beiden kurzen Normen die englische Methode der Schadensermittlung nicht abschließend. Sie wurden durch ungeschriebene Ge­ wohnheiten ergänzt: so war Wilhelm Benecke eine Praxis englischer Feuerversi­ cherungsgesellschaften bekannt, wonach der Versicherte nach dem Schadensfall ein komplettes Verzeichnis aller infolge des Brandes beschädigter, vernichteter, abhanden gekommener oder geretteter Mobilien einzureichen hatte. Auf dessen Grundlage fand dann die eigentliche Schadensberechnung statt, wie Benecke in seinem „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ berichtete.676 Versatz­ stücke einer entsprechenden englischen Praxis dürften sich in Art. 44 Nr. 5 und Art. 45 III Nr. 2 lit. d der „Berlinischen“ AVB manifestiert haben. Nur erklären diese bruchstückhaften Einzelteile aus der englischen Praxis nicht befriedigend, wie es zu den zahlreichen anderen Differenzierungen und Einzel­ fallregelungen in den AVB – unter anderem zu dem in Art. 45 I Nr. 1, III Nr. 1 fi­ xierten „Prinzip der taxierten Police“ – kommen konnte. Die „Propositiones“ der London Phoenix hatten es in dieser Form jedenfalls nicht geregelt. Läge es nicht nahe, eine zweite Wurzel dieser Regelungsfülle in den Regle­ ments der staatlich geführten Sozietäten zu suchen, die doch immerhin große Teile der Gebäudefeuerversicherung monopolartig in der Hand hielten? In der Tat war in deren Reglements ein Verfahren weit verbreitet, das der Verwendung von „taxierten Policen“ wie in Art. 45 I Nr. 1, III Nr. 1 der „Berlinischen“ AVB recht ähnlich sah.677 Sobald ein neues Mitglied in die Sozietät eintrat, bestimmte deren Verwaltungsapparat den vollen „verbrennlichen“ Wert der versicherten Immobi­ lie und notierte ihn in einem öffentlichen Kataster; im Falle eines Totalschadens zahlte die Sozietät dann jene volle Gebäudetaxe aus.678 An dieser Stelle endeten 676 Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 4 S. 535 f. Vgl. zu dieser Klausel z. B. Cl.  13 Proposals of London Assurance Company (ca.  1781) (Weskett [1781], S. 340). Dazu auch Marshall (1. Aufl. 1805), S. 704 (zur entsprechenden englischen Praxis); Müssener (2008), S. 230 (zu den AVB der „Aachener“ von 1825); Ogis (2019), S. 195 ff. Die Hamburger „Propositiones“ der London Phoenix enthielten hingegen keine solche Klausel. 677 So ausdrücklich von Liebig (1911), S. 177, der ausdrücklich die Reglements der öffent­ lichen Brandkassen als Vorbilder für das „Prinzip der taxierten Police“ in den privaten AVB bezeichnete. 678 Art. 6 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) (300 Jahre Hamburger Feuerkasse [1976], S. 118); Art. 1 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (Schaefer [1911], Bd. 2 S. 232); Art. 4, 12 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) (Schaefer [1911], Bd. 1 S. 323) (Heran­ ziehung der „Schoss-Summe“, d. h. des steuerlichen Grundstückswerts); Art. 11, 14–16, 22 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Gerstlacher II, 476); Art. 5 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (NCC IV, 5379) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät); Art. 5 I, 11 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät); Art. 2, 5 Reglement Feuersozietä­ ten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für den Insterburgschen Creiß); §§ 21–31, 51

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§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

die Gemeinsamkeiten zwischen den AVB der Berlinischen und den Feuersozietä­ ten-Reglements allerdings schon: die Reglements strebten ganz überwiegend nach einer Vereinfachung und Pauschalisierung der Berechnungsmethoden, um den Ver­ waltungsaufwand für die Anstalt so weit wie möglich zu minimieren. Davon legt, stellvertretend für viele andere Sozietäten, das Reglement der Feuer-Societät für das platte Land in West-Preussen aus dem Jahr 1785 ein Zeugnis ab. Dessen § 11 brachte klar zum Ausdruck:679 „§ 11. [1] Weil auch die Erfahrung lehret, daß allerley Streitigkeiten daraus entstehen, wenn ein eingeschriebenes Gebäude nicht gänzlich abbrennet, sondern zum Theil stehen blei­ bet, und sodann dasjenige, was gerettet worden, von der Vergütigungs-Summe abgezogen werden soll, da sich denn öfters zutragen könnte, daß wenn ein Gebäude mit einem nied­ rigen Satz eingeschrieben worden, der gerettete Ueberrest nach der Taxe noch mehr werth wäre, als die bey der Feuer-Societät angegebene Summe, folglich nach diesem Principio der Eigenthümer nichts bekommen könnte. [2] So wird, um allen Irrungen dieser Art vor­ zubeugen, festgesetzet, daß ein jedes Gebäude, wovon das Dach ganz oder größtentheils niedergebrannt, nach der Summe, wie es geschrieben, völlig vergütet werden soll, ohne davon den geretteten Ueberrest abzurechnen. [3] Wenn aber auch der Fall vorkommen könnte, daß große und lange Familien-Häuser oder andere Gebäude, die unter einem Dach erbauet sind, nur zum Theil wegbrennen; so muß in dem Fall von dem Creyß Landrath oder Beamten der Schade nach Proportion des Einsatz Quanti taxiret und in dem UntersuchungsProtocoll deutlich angemerket werden, aus wie viel Wohnungen das beschädigte Gebäude Württembergische Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung (1773) (Zeller / Mayer  III, 871); §§ 6, 8 S. 1 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (Anderson I, 13); §§ 3 S. 1, 5–9 Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Scotti I, 973); §§ 6 I lit. d, 7 I, 11 I Reglement Brand-Societät West-Preussen (1785) (NCC VII, 3267); §§ 4 I, 5 II, III, 6 III Reglement Brand­ versicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Scotti II, 810); §§ 14 I, 27 S. 3 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (NCC XII, 823); Art. 14 II, 31 III 1 Brandversicherungs­ ordnung Bayern (1811) (BayRegBl. 1811, 129). Vgl. zu den entsprechenden Regelungen der Hamburger Generalfeuerkasse von 1676: Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 16, 21 (auch zu den Reformen der Neuen Generalfeuerkasse von 1753); W. Ebel, Feuerkontrakte (1936), S. 54; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 43 ff. (auch zu den Reformen von 1753); Schaefer (1911), Bd. 1 S. 176, 191 (auch zu den Reformen von 1753). 679 Diverse Hinweise auf ähnliche Verfahrensvereinfachungen finden sich bei Art. 22 Baden-­ Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Überreste kompensieren Ausräumkos­ ten); Art. 7 II 2, 3 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät) (Schadenstaxe „ex aequo & bono“, wobei aber „auf Kleinigkeiten nicht zu reflectiren sey“); Art. 13 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem plat­ ten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät) (Totalschadensauszahlung bei Zerstörungsquote von 50 %, keine Erstattung von Bagatellschäden); Art. 7 Reglement Feuer­ sozietäten auf dem platten Lande (1769) (Nachtragsvorschriften für den Insterburgschen Creiß) (Totalschadensersatz bereits, wenn das Gebäude „zum größten Theil nach abbrennt“); § 12 IV Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (Überreste kompensieren Ausräumkosten); § 6 III Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Totalschadenersatz, wenn der Wiederaufbau unmöglich ist); § 14 I, II Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (Totalschadenersatz bei Fachwerk- oder Holzgebäuden schon beim Abbrennen des Da­ ches); Art. Art. 31 III 1 Brandversicherungsordnung Bayern (1811) (Überreste kompensieren Ausräumkosten).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

275

bestanden, oder wie viel Fuß dasselbe lang gewesen, und wie viel hingegen davon würklich abgebrannt und ruiniret sey.“

Auch etliche andere Feuersozietäten verringerten ihren Verwaltungsaufwand, indem sie bei Partialschäden anstelle einer individuellen Schadensberechnung nur noch eine bestimmte grobe Schadensquote abschätzten und dann einfach die katastermäßig erfasste Taxe mit dieser Quote multiplizierten.680 Exakte Schadens­ berechnungen anhand von Handelsbüchern und -dokumenten nahmen die öffent­ lichen Sozietäten dagegen nicht vor – in vielen Fällen beriefen sie, wie die hier zitiere westpreußische Anstalt, nicht einmal Sachverständige zur Schadensschät­ zung, sondern ließen die besagte grobe Schadensquote durch Beamte der inneren Verwaltung schätzen.681 Erst recht verlangten die öffentlichen Anstalten keine förmliche gerichtliche Verhandlung über die Brandursachen, wie sie Art. 44 Nr. 1 der „Berlinischen“ AVB für jeden einzelnen Schadensfall forderte. Umgekehrt war eine überwiegende Zahl der staatlichen Brandversicherer be­ müht, Wertverminderungen an dem eingeschriebenen Gebäude zu registrieren, um im Schadensfall nicht eine überhöhte Taxe zur Auszahlung zu bringen. Man unterzog die Versicherungskataster deshalb in periodischen Abständen einer Revi­ sion und korrigierte den eingeschriebenen Gebäudewert gegebenenfalls von Amts wegen nach unten.682 Eine auch nur vergleichbare Korrekturmöglichkeit fehlte der 680

Art. 17 II Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Brandenburgische Feuer-Societät); Art. 5, 13 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät); §§ 52–54 Württembergische BrandSchadens-Versicherungs-Ordnung (1773); § 3  III,  V Reglement Brand-Societät Westphalen (1778); § 6 III Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801); § 14 III Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809); Art. 31 III 2 Brandversicherungsordnung Bayern (1811). Dazu auch Bergius, Bd. 3 (2. Aufl. 1786), S. 73 f. 681 Art. 8 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa (1676) („verordnete Herren Bürgere der Feuer-Ordnung“ unter Zuziehung von Maurer- und Zimmerleuten); Art. 6 Reglement Berliner Feuersozietät (1718) (vier außenstehende „Deputirte“ unter Beiziehung von je vier Zimmer­ männern und vier Maurern); Art. 13 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753) („verordnete Herren“ unter Beiziehung von Maurer- und Zimmermeistern); Art. 21 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758) (Oberämter und Gerichte, ggf. unter Beiziehung von Sachverständigen); 7 I, II 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vor­ schriften für die Brandenburgische Feuer-Societät); Art. 11 S. 1 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für die Saalfeldsche Societät) (Kreisdeputierte); Art. 3 Reglement Feuersozietäten auf dem platten Lande (1769) (Vorschriften für dem Insterburg­ schen Creiß) (Direktor und ein anderes Mitglied); § 50 Württembergische Brand-SchadensVersicherungs-Ordnung (1773) (Oberbeamte, Magistrate und Ortsvorsteher); § 8 S. 2, 3 Neue Feuer-Cassen-Ordnung Billwärder (1774) (Zimmer- und Maurerleute); § 12 I, II Reglement Brand-Societät Westphalen (1778) (beeidigte Bausachverständige); § 6 I Reglement Brandversi­ cherungs-Gesellschaft Berg (1801) („Obrigkeit“); § 15 S. 2 Reglement vereinigte Land-Feuerso­ zietät Ostpreußen (1809) (drei Mitglieder der Sozietät); Art. 31 I, II Brandversicherungsordnung Bayern (1811) (Polizei und Gericht unter Beiziehung eines Mauer- und Zimmermeisters). 682 Art. 17 Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung (1753); Art. 17–19 Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung (1758); §§ 38–43 Württembergische Brand-Schadens-Versi­ cherungs-Ordnung (1773). Vgl. Müssener (2008), S. 184 (zur insoweit unveränderten Rechts­ lage im 19. Jhdt.); Schaefer (1911), Bd. 1 S. 192 (zur neuen Generalfeuerkasse von 1753).

276

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt. Wenn überhaupt, haben die Reglements der öffentlichen Sozietäten mithin nur einen ganz untergeordneten Einfluss auf die AVB der Privatversicherer ausüben können.

c) Das Allgemeine Landrecht als Vorbild der „Berlinischen“ AVB? Nachdem die Suche bei den englischen oder Hamburgischen Versicherern und sogar bei den staatlichen Gebäudefeuersozietäten noch zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hat, bleibt nun umso deutlicher die Frage im Raum stehen, ob sich Wilhelm Benecke nicht vielleicht doch an der Regelungsmaterie des Allge­ meinen Landrechts bedient hat – so wie ja auch schon einige Aspekte der vorver­ traglichen Gefahranzeige oder der Gefahrerhöhung ihren Weg vom ALR in die AVB der Berlinischen gefunden hatten. Aus Beneckes „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ lässt sich an dieser Stelle, anders als bei vorhergehenden Fragestellungen, nicht eindeutig er­ kennen, dass Benecke sich in seiner Abhandlung zum Feuerversicherungsrecht eingehender mit den Th. II Tit. 8 §§ 2242–2274 ALR beschäftigt hätte. Im Gegen­ teil fügte Benecke seinen Ausführungen zu diesem Themenkomplex, abgesehen vom oben erwähnten Hinweis auf das englische Recht, ausnahmsweise überhaupt keine näheren Quellenangaben bei,683 sodass auch die bislang bewährte Untersu­ chungsmethode hier an ihre Grenzen stößt. Wohl aber finden sich in der Verfas­ sung der „Bieber’schen Anstalt“, der Association Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr von 1795, zahlreiche Passagen, die das Recht der Schadensermittlung und -berechnung in einem ähnlich eng geknüpften Regelungs­ geflecht wie die Berlinische regelten. Die Verfassung der „Bieber’schen“ verwen­ dete dabei teilweise sogar einen ähnlichen Wortlaut wie die Art. 44, 45 der erörter­ ten AVB.684 Beispielsweise unterschied auch die „Bieber’sche Anstalt“ zwischen verschiedenen Berechnungsmethoden, je nachdem, ob Gebäude, Gebäudeanteile, Kaufmannsgüter, Luxusgegenstände oder andere Mobilien wie Haushaltsgerät­ schaften beschädigt worden waren.685 Letztlich ist es wahrscheinlich, dass sich die „Berlinische“ zumindest auch an der Verfassung jener Anstalt bedient hat, zumal

683

Vgl. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 534 ff. §§ 27, 29, 30 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 278). Aufgrund ihres im Vergleich zur Berlinischen Anstalt z. T. ohnehin ähnlichen Wortlauts soll vorliegend von einer wörtlichen Wiedergabe der insoweit sehr um­ fangreichen „Bieber’schen“ Verfassung abgesehen werden und stattdessen der Fokus auf die gemeinsame Quelle dieser Klauseln gelegt werden. 685 Zu „Kaufmannsgütern“ und „Fabrikaten“: §§ 27 Nr. 1, 29 I Nr. 1 Verfassung der Asso­ ciation Hamburgischer Einwohner (1795); zu anderen „Mobilen“ und „Prätiosen“: ebd., §§ 27 Nr. 2, 29 I Nr. 2, II; zu „Häusern und Gebäuden“: ebd., §§ 27 Nr. 3, 30 I, II; zum „unversicherten Theil der Erben“ (d. h. Versicherung von Gebäudewertquoten, die bei der Hamburger General­ feuerkasse nicht versichert wurden): ebd. §§ 27 Nr. 3, 30 III. 684

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

277

die Verfassung der „Bieber’schen“ an anderen Stellen in Beneckes „System“ ein häufig gesehener Gast war.686 Die Frage nach dem Ursprung dieser Klauseln verlagert sich damit aber nur auf eine andere Ebene: wie nämlich waren diese komplexen und umfangreichen Klauseln überhaupt in so kurzer Zeit in die Versicherungsbedingungen der „Bie­ ber’schen“ und später der „Berlinischen“ Anstalt gelangt? Angesichts der recht dunklen Quellenlage wird man sich dem wahren historischen Entwicklungsprozess hier nur mithilfe begründeter Hypothesen annähern können. Das gilt vor allem auch für die Rolle, die das preußische ALR dabei spielte. Es stechen tatsächlich mehrere, teilweise widersinnig wirkende Parallelen der §§ 2242–2272 ALR zu Art. 44, 45 der „Berlinischen“ AVB bzw. zu den insoweit fast gleichlautenden Passagen aus der Verfassung der „Bieber’schen Association“ ins Auge. Erstens wendete die Berlinische das „Prinzip der taxierten Police“ sowohl auf Mobilien als auch auf Immobilien an. Wenn ein Totalschaden eintrat, kam also in jedem Fall schlicht der beim Vertragsschluss fixierte Taxbetrag zur Auszahlung (Art. 45 I Nr. 1, III Nr. 1);687 in der gleichen Weise hatte das ALR das „Prinzip der taxieren Police“ gleichmäßig auf Waren und Schiffe zur Anwendung gebracht, solange nur ein Totalschaden vorlag.688 Erst im Falle eines Partialschadens dif­ ferenzierte Art. 45 III Nr. 2 weiter zwischen Gebäuden und Mobilien. Auch dies entsprach der Struktur des ALR, das ebenfalls erst bei Partialschäden weiter zwi­ schen Schiffen689 und Waren690 unterschied. Während eine derartige Vorgehensweise, wie erörtert, im seeversicherungs­ rechtlichen Kontext des ALR durchaus seine Rechtfertigung in sich trug, konnte sie bei der Mobiliarfeuerversicherung zu sehr bedenklichen Ergebnissen führen. Der Wert von Haushaltsgegenständen, Fabrikmaschinen oder anderen Mobilien kann sich über die gesamte Versicherungsdauer enorm abnutzen; im Schadens­ fall kann das zu einer Bereicherung des Versicherten auf Kosten des Versicherers führen. Nach dem Seeversicherungsrecht des ALR konnten etwaige zwischen­ zeitliche Wertverluste aber via § 2170 ALR korrigiert werden, indem der Asseku­ radeur sein Recht auf Herabsetzung der überhöhten Taxe geltend machte;691 jeg­ 686

Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 522 bezeichnete die „Brand-Versicherungs-Association“ sogar als „eine Gesellschaft nach einem musterhaften Plane“. 687 Ähnlich § 30 I Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795), welche das „Prinzip der taxierten Police“ jedoch nur auf Gebäude, nicht auch auf Mobilien anwandte. Zu der Anwendung des „Prinzips der taxierten Police“ auf Mobiliar- und Gebäudeschäden vgl. von Liebig (1911), S. 176 f.; Müssener (2008), S. 181 f., 257 (zu einer ähnlichen AVB-Klausel der „Aachener“ von 1825), der diese Entwicklung sogar in den engeren Kontext des ALR stellt; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 49. 688 § 2242 ALR (1794). 689 § 2263 ALR (1794). 690 §§ 2265–2269 ALR (1794). 691 Vgl. auch Müssener (2008), S. 257.

278

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

liche zweckentsprechende Korrekturmechanismen fehlten aber in den AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt. Die AVB machen auf diese Weise den Eindruck, als hätten sie versucht, das im Kern seerechtliche „Prinzip der taxierten Police“ in das Feuerversicherungsrecht zu implantieren, ohne dabei den besonderen Bedürfnissen eines auf lange Dauer geschlossenen Feuerversicherungsvertrages Rechnung zu tragen. Der Korrekturmechanismus des § 2170 ALR, der in der Ge­ setzessystematik des ALR völlig abseits der eigentlichen Schadensberechnungs­ vorschriften stand, ist den Schöpfern der Berlinischen dabei aber allem Anschein nach entgangen.692 Auch in anderer Hinsicht wiesen die AVB der Berlinischen überraschend weitge­ hende Parallelen zu den §§ 2242–2272 ALR auf. So tauchte sowohl in den AVB der Berlinischen als auch im preußischen Landrecht eine Regelung auf, wonach Schä­ den an beweglichen Gegenständen „durch Handlungsbücher, letzte Bilanz oder In­ ventarium“ bestimmt werden sollten (Art. 44 Nr. 4).693 Die AVB lassen sich insoweit mit § 2267 ALR vergleichen, der eine Berechnung „auf den Grund der Faktur und Einkaufsrechnung“ vorgeschrieben hatte – gewissermaßen den seehandlungsrecht­ lichen Pendants zu den Handelsbüchern des binnenländischen Kaufmannes. Das wäre für sich alleine genommen noch wenig auffällig. Allerdings war schon im Gesetzgebungsverfahren seitens der „Conferenz“ von Büsch, Moller und Gaedertz bemerkt worden, es entspreche nicht der Handelsgewohnheit Hamburger Feuer­ versicherer, solche Handelsdokumente zur Schadensberechnung zu verwenden; darüber hinaus sei ein solches Verfahren auch gar nicht zweckmäßig, da die be­ sagten Handels­bücher regelmäßig den Brand selbst nicht heil überstünden.694 Die Methode, sich bei der Schadensberechnung auf die Handelsdokumente des Ver­ sicherten zu stützen, war also vor 1794 ein Fremdkörper in der bisherigen Feuer­ versicherungspraxis gewesen – kurz nach dem Inkrafttreten des ALR tauchte sie aber in den Bedingungen deutscher Feuerversicherer auf. Auch in diesem Punkt scheint es, als hätte die Berlinische mit der vorgesetzlichen Feuerversicherungs­ praxis gebrochen und sich stattdessen am gesetzlichen Vorbild des ALR orientiert. Auch der öffentliche Verkauf beschädigter „Waren und Fabrikaten“ (Art. 45 III Nr. 2 lit. b)695 oder die zwingende gerichtliche Verhandlung über Brandursachen (Art. 44 Nr. 1) standen im Kontrast zur vorgesetzlichen Feuerversicherungspraxis 692 Zu diesem Befund passt auch, dass Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 534 das Problem der Wertschwankungen von Mobilien- und Warenvorräten sogar erkannt hatte, aber zugleich meinte, dieses Problem mithilfe einer – notfalls beeideten – Aufstellung aller zum Zeitpunkt des Brandes vorhandenen und beim Brand beschädigten, vernichteten oder abhanden gekom­ menen Mobilien lösen zu können, vgl. Art. 44 Nr. 5 Verfassung Berlinische Feuerversiche­ rungs-Anstalt (1812); über andere Lösungsmöglichkeiten machte er sich keine Gedanken. 693 Ähnlich schon § 27 Nr. 1 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795). 694 Monitum zum EAGB, GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 324 („Conferenz“ zu § 1864 EAGB = § 2242 ALR). 695 Ähnlich § 29 I Nr. 1 S. 4 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (zu „Kaufmannsgütern und Fabrikaten“); edb. § 29 I Nr. 2 (zu sonstigen Mobilien).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

279

der englischen und Hamburgischen Assecuranz-Compagnien. Sie wirken wieder­ rum wie ein Nachklang der §§ 2249, 2259 und 2265 ALR. Zu guter Letzt lohnt sich ein näherer Blick auf Art. 45 III Nr. 2 lit. c S. 2 der AVB: er räumte dem Versicherer das Recht ein, teilbeschädigte Fabrikgerätschaf­ ten oder andere Mobilien selbst zu „übernehmen“, wenn er im Gegenzug dafür die volle Versicherungssumme auszahlte.696 Inhaltlich entsprach das exakt dem Übernahmerecht, das § 2331 ALR dem Feuerversicherer eingeräumt hatte. Auch das könnte eine rein zufällige Korrelation sein. Ein bloßer Zufall scheint jedoch unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass jenes Übernahmerecht zum ersten Mal durch die Initiative Johann Georg Büschs in die Feuerversicherung eingeführt wor­ den war, namentlich als ein Derivat aus dem seerechtlichen Abandon, während sich Th. I Abt. II § 1684 EAGB noch kategorisch gegen jede Anwendung des Abandon­ rechts außerhalb der Seeassekuranz gesperrt hatte. Auch das Übernahmerecht des Versicherers war damit erstmals im Jahr 1794 im Dunstkreis der Feuerversicherung aufgetaucht, nämlich mit dem Inkrafttreten des ALR. Dass es sich wenig später auch bei der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt wiederfand, begründet ein starkes Indiz für den tatsächlichen Einfluss des ALR auf diese AVB. Die Parallelen zwischen dem preußischen ALR und den AVB der Berlinischen Anstalt lassen sich am Ende kaum noch übersehen. Das gilt gerade für all diejeni­ gen Regeln, die dem privaten Feuerversicherungsrecht bislang unbekannt waren, wie etwa das Übernahmerecht des Versicherers, oder die – wie das „Prinzip der taxierten Police“ – sogar wie deplatzierte Fremdkörper innerhalb der Feuerver­ sicherung wirken. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich hierbei bloß um eine An­ häufung von historischen Zufällen handelt, dürfte also denkbar gering sein. Unter dem Strich steht also die Entwicklungshypothese, dass sich Wilhelm Be­ necke, der mutmaßliche Verfasser der ersten „Berlinischen“ Feuerversicherungs­ bedingungen von 1812, entweder an der Mobiliarfeuerversicherung des ALR orientiert, oder entsprechende Einflüsse zumindest mittelbar aus der Verfassung der „Bieber’schen Association“ rezipiert hat. Die AVB-Klauseln zu Schäden an beweglichen Gegenständen konnten sich dabei weitestgehend an die landrechtli­ chen Vorschriften für Warenschäden anlehnen, während die gesetzlichen Normen zu Schiffsschäden als Vorbild für die AVB-Klauseln zu Gebäudeschäden gedient haben sollten. Interessanterweise redete Art. 44 Nr. 3 der AVB sogar ausdrücklich von einem „Partialschaden an Gebäuden und Schiffen“ – offenbar standen ­Benecke und Averdieck tatsächlich noch an der gedanklichen Schnittstelle zwischen Seeund Feuerversicherung, kaum anders als es das Allgemeine Landrecht tat.

696

Ähnlich § 29 I Nr. 1 S. 5 Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner (1795) (zu „Kaufmannsgütern und Fabrikaten“); ebd. § 29 I Nr. 2 (zu sonstigen Mobilien).

280

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

d) Die eigenständige Entwicklungsdynamik der deutschen Feuerversicherungspraxis nach 1812 Die vorstehende Analyse hat gezeigt, wie die ältesten deutschen Feuerversiche­ rungsbedingungen nicht nur die Schadensermittlungs- und Schadensberechnungs­ methoden des englischen Recht kopiert haben, sondern sich in dieser Hinsicht aus einer Vielzahl von Quellen speisten. Dabei gerieten auch diverse Elemente des Seeversicherungsrechts, die sehr wahrscheinlich aus der Quelle des preußischen Landrechts flossen, in die Feuerversicherung. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich beobachten, wie all jene Elemente nach und nach wieder aus dem Feuerversicherungsrecht der AVB verschwanden, sodass der Umfang der Schadensberechnungsvorschriften wieder merklich ab­ nahm. Noch die Gothaer Feuerversicherungsbank von 1820 oder die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1825 wendeten Berechnungsmethoden an, welche denen der Berlinischen stark ähnelten. Insbesondere übernahmen auch sie das „Prinzip der taxierten Police“ für die Mobiliarversicherung.697 Dasselbe galt für das Übernahmerecht des Versicherers; allein die Aachener nahm schon 1825 eine erste Modifikation in jener Rechtsmaterie vor, indem sie das Übernahmerecht weiter abstrahierte und nicht nur für „Fabrik-Gerätschaften“ zuließ, sondern auf alle beliebigen anderen Mobilien ausweitete.698 Ab den 1830er Jahren verschwand das „Prinzip der taxierten Police“ allmäh­ lich aus den AVB: eine Taxe des Versicherungswerts war beim Vertragsschluss zwar nach wie vor zulässig, doch ihr kam nur noch eine Vermutungswirkung zu. Dagegen verhinderte sie nicht länger den Nachweis des Versicherers, dass der tat­ sächliche Versicherungswert während der Vertragslaufzeit erheblich gesunken war.699 Dieser Entwicklung vorausgegangen war die Erkenntnis der Versicherungs­ gesellschaften, dass eine „taxierte Police“ den Versicherten in die gefährliche Position bringen kann, aus der Mobiliarversicherung eine Bereicherung zu ziehen. Der Gründer der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft, David Hansemann, 697 § 34 lit. a Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) („die Taxe macht al­ lezeit die Grundlage der Ausmittelung aus“); §§ 15 I, 16 I AVB Aachener FeuerversicherungsGesellschaft (1825); vgl. Müssener (2008), S. 181 ff.; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 49. 698 § 16 II AVB Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1825); anders noch § 34 lit. f Nr. 3 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Abandon nur für „Fabrik­ gerätschaften“). Vgl. Müssener (2008), S. 285 (zu den AVB der „Aachener“). 699 Art. 112, 113 lit. a,  b AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828); Art. 18 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Schadensberechnung „nach dem baulichen Zustande, in welchem sie sich vor dem Ausbruche des Brandes befun­ den“); § 10 II 1 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 8 S. 2 VerbandsAVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (sogar Abschaffung der Be­ weisvermutung durch die taxierte Police). Vgl. von Liebig (1911), S. 140, 176 f.; Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 10; Müssener (2008), S. 184, 259 ff. (zu den Reformen der „Aachener“); Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 90.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

281

hatte 1830 sogar ein Gutachten verfasst,700 das auf einen erheblichen Anstieg der Brandstiftungsdelikte hinwies, welche seiner Ansicht nach auf die Verwendung von „taxierten Policen“ zurückzuführen seien. Schließlich hatten die Klauseln zur Ermittlung und Berechnung des Feuerscha­ dens bis 1850 in den meisten AVB eine bedeutende Verschlankung erfahren. Nach der Abschaffung der starr taxierten Policen, welche nur im Totalschadensfall zur Anwendung gekommen waren, unterschied man häufig nur noch zwischen Ge­ bäude- und Mobiliarschäden. Die regelungssystematische Differenzierung zwi­ schen Total- und Partialschäden hingegen wurde bald aufgegeben. So bestimm­ ten die AVB der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft 1845 wesentlich nüchterner:701 „§ 10. [1] Bei der Feststellung eines Schadens muß, ohne irgend eine Ausnahme, von dem Grundsatze ausgegangen werden, daß die Versicherung nur Schadenersatz zum Zwecke hat, nicht aber als Mittel zum Gewinne gemißbraucht werden darf. [2] Alle völlig verbrannten oder beim Brande abhanden gekommenen, versicherten, beweglichen Gegenstände werden nach dem Werte, den dieselben am Tage des Brandes hatten, vergütet und die Vergütung auf die beschädigten wird nach demselben Wertmaßstabe festgestellt. Der Versicherte behält diese, wenn die Gesellschaft nicht vorzieht, sie selbst zu übernehmen; […] § 14. Ein Brandschaden an Gebäuden ist von zwei Bauverständigen in einer von densel­ ben zu unterschreibenden Berechnung speziell zu taxieren und zugleich das Verhältnis desselben zum gesamten Werte der versicherten Gebäude festzusetzen. Die Bauverstän­ digen, deren einer von dem Versicherten und einer von der Gesellschaft gewählt wird, geben überall ihr Gutachten, das sich auf den Bauwert des Gebäudes, mit Rücksicht auf Verminderung durch Gebrauch und Veraltern stützen muß, an Eides Statt ab. Weichen die Abschätzungen voneinander ab, und können sich die Taxatoren nicht einigen, so gibt der Durchschnitt den Ausschlag.“

Im Endeffekt hatten die deutschen Feuerversicherer also nach rund 30 Jahren praktischer Erfahrung aus eigener Kraft zu der Form zurückgefunden, welche die englische Rechtspraxis schon vor 1800 besessen hatte. Nur eine der vorliegend untersuchten, ursprünglich seerechtlich fundierten Figuren blieb dem deutschen Feuerversicherungsrecht nachhaltig erhalten – nämlich das auch in § 10 II 2 der AVB der „Magdeburger“ enthaltene Übernahmerecht des Versicherers, welches der ALR-Gesetzgeber in Eigenregie aus dem seerechtlichen Abandon entwickelt hatte (Th. II Tit. 8 § 2231).702 Zwar spielte es im Versicherungsvertragsgesetz von 1908 700

Vgl. zu dem Gutachten Hansemanns: von Liebig (1911), S. 141; Müssener (2008), S. 259. Ähnlich §§ 8, 9, 11 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); §§ 8, 9 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB I, 75). 702 Z. B. Art. 114 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828); Art. 20 S. 2 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 10 II 2 Hs. 1 AVB Mag­ deburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 12 S. 2 Verbands-AVB Deutscher PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaften (1874). Erst in den Verbands-AVB von 1886 verschwand das Abandonrecht wieder, vgl. Müssener (2008), S. 286 (zu den entsprechenden Entwicklungen 701

282

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

keine Rolle als gesetzliche Regelung mehr; doch bis heute enthalten die meisten Hausratsversicherungen eine entsprechende Klausel, die sich nach den Ergebnissen dieser Untersuchung bis auf § 2231 ALR zurückverfolgen lässt.703

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die zurückliegenden Analysen haben die komplexen Entwicklungsprozesse aufgedeckt, in deren Verlauf der preußische Gesetzgeber das traditionsreiche See­ versicherungsrecht Schritt für Schritt adaptiert, nach seinen Vorstellungen um­ gearbeitet und schließlich sogar auf die Binnenversicherung ausgedehnt hat. Das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten, das Produkt dieses Prozesses, erscheint damit selbst in seinen binnenversicherungsrechtlichen Passagen weniger als ein Abbild der Feuer- oder Lebensversicherungspraxis, sondern vielmehr als eine zweckdienliche Fortschreibung des Seeversicherungsrechts. Diese Erkennt­ nis steht aber nicht bloß auf dem Sockel der Rechtsgeschichte. Sie ist für die Fort­ entwicklung des deutschen Binnenversicherungsrechts nach 1800 von Relevanz. Gerade weil das ALR die Feuer- und Lebensversicherung schon 1794 zur Kodifi­ kation bringen wollte, obwohl sie zu dieser Zeit noch in einem jungen, unfertigen Stadium ihrer Entwicklung steckte, konnte die spätere Praxis des 19. Jahrhunderts nachhaltige Entwicklungsimpulse aus dem ALR schöpfen. Es hat das Gesicht des deutschen Privatversicherungsrechts damit unter einigen Gesichtspunkten nach­ haltig geformt. Die wesentlichen Forschungsergebnisse des vorstehenden Kapitels § 2 über das preußische Landrecht sollen hier noch einmal abschließend gebündelt werden, um ein einheitliches Bild all jener Prozesse zu zeichnen, welche am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts entscheidend zur materiellen Gestal­ tung des deutschen Binnenversicherungsrechts beigetragen haben.

I. Das preußische Binnenversicherungsrecht als ein Spiegel des Seeversicherungsrechts Die Genese des Binnenversicherungsrechts in den Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR kann niemals isoliert von der Geschichte der Seeassekuranz betrachtet wer­ den. Im Endeffekt setzten die Prozesse, an deren Ende das Feuer- und Lebensver­ sicherungsrecht des Landrechts stand, schon mit der Hamburger Assecuranz- und Havereyordnung von 1731 ein. Gedanklich lässt sich das Vorgehen des preußischen Gesetzgebers dabei in drei Arbeitsschritte unterteilen. in den AVB der „Aachener und Münchener“). Vgl. noch am Ende des 19. Jhdts. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 451. 703 Z. B. Allgemeine Hausrat Versicherungsbedingungen des GdV (VHB 2016 – Quadratme­ termodell), Ziff. 24. 2. 2.1; das „Übernahmerecht“ steht dort, im Gegensatz zu den historischen AVB, sowohl zur Wahl des Versicherten als auch des Versicherers.

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

283

Am Anfang stand zunächst lediglich die Adaption des Hamburgischen Seever­ sicherungsrechts für die Bedürfnisse der preußischen Seehandelsplätze. Die Ham­ burgische Assecuranz- und Havereyordnung von 1731 diente als Vorbild für die preußische Assecuranz- und Havereyordnung aus dem Jahre 1766. Als ab 1780 die Kodifikationsarbeiten zum preußischen ALR einsetzten, hatte sich der Gesetzgeber selbst zum Ziel erkoren, alle bekannten Rechtsmaterien vom Staatsrecht bis zum Zivil- und Handelsrecht in einer einzigen preußischen Universalrechtskodifikation mit abschließendem Charakter zu vereinigen; dazu zählte auch das Versicherungs­ recht als ein etabliertes Instrument des Seehandels. Der Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches (EAGB) von 1784, der später zum Allgemeinen Landrecht umgearbei­ tet werden sollte, hatte sich für seinen versicherungsrechtlichen Teil in Th. I Abt. II §§ 1529–1891  wiederum zu großen Teilen an der preußischen Assecuranz- und Havereyordnung bedient. Nachdem die Entwurfsfassung im Jahr 1785 veröffent­ licht und eingehender öffentlicher Kritik unterzogen worden war – unter anderem mithilfe zahlreicher „Monita“ des Handelswissenschaftlers Johann Georg Büsch und des Assekuradeurs Hinrich Gaedertz – arbeitete der preußische Gesetzgeber den versicherungsrechtlichen Teil des Entwurfs schließlich zu §§ 1934–2358 ALR um. Diese traten am 01. 06. 1794 für das ganze preußische Staatsgebiet in Kraft. Seine tieferen Wurzeln hat das Versicherungsrecht des ALR also erkennbar im Hamburgischen Seeversicherungsrecht – eine schlichte Kopie der Hamburger AHO war das ALR allerdings nicht. Während der einzelnen Schritte der Rechtsetzung, von den AHOen bis zum fertigen Landrecht von 1794, war zum einen ein starkes Anschwellen der seerechtlichen Kasuistik zu erkennen. Die pragmatischen und ver­ gleichsweise schlanken Regeln der Hamburger AHO wandelten sich zu einer breit gefächerten Ansammlung einzelfallbezogener Rechtssätze, die bis in alle Einzel­ heiten des Seeversicherungsrechts vorzudringen suchten. Gleichzeitig drückte der preußische Gesetzgeber dem kaufmännisch-liberalen Seeversicherungsrecht der AHOen aber den Stempel seines aufklärerischen Paternalismus auf: das Recht des ALR beinhaltete oft auch eine erzieherische Komponente. Im Versicherungs­ recht äußerte diese sich vor allen Dingen in strengen Präventivvorschriften, die jeder erdenklichen Möglichkeit des Versicherungsmissbrauchs vorbeugen sollten. Besonders deutlich wurde die paternalistische Ader des preußischen Gesetzgebers bei den Rechtsfolgen einer fehlerhaften Gefahranzeige – meist reichte schon eine objektiv falsche Angabe, damit der ganze Vertrag für nichtig erachtet wurde und die Prämie trotzdem dem Assekuradeur verfiel.704 In anderen Fällen, wenn zu Bei­ spiel eine Versicherung auf das Leben eines Dritten geschlossen wurde, der weder mit dem Versicherungsnehmer verwandt war noch gerichtlich eingewilligt hatte, verfiel die Versicherungssumme zur Strafe sogar an den Fiskus.705 704

Dazu unter § 2 D VI 2 zu den §§ 2024–2063 ALR (1794). Im Übrigen konnte aus den Gesetzgebungsmaterialien nachgewiesen werden, dass es dem preußischen Gesetzgeber bei seinen verschuldensunabhängigen Sanktionen tatsächlich um die Vermeidung von Versiche­ rungsmissbrauch ging, dazu ausführlich § 2 B II 3 b. 705 Dazu unter § 2 D III 2 zu den §§ 1971–1974 ALR (1794).

284

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Als großer Verdienst des preußischen ALR darf es jedoch gelten, dass es – in einem gedanklich zweiten Schritt  – aus der schier endlosen Masse an Einzel­ normen einige allgemeine Prinzipien des Versicherungsrechts herausdestillierte. So stellte es einer bislang wild gewachsenen Anzahl von Einzelfallvorschriften über die Veränderung der Schiffsroute, über Reiseverzögerungen, über verpasste Schiffskonvois oder über das Verschulden des Schiffers zwei zentrale Vorschrif­ ten voran (§§ 2117, 2118 ALR),706 die zum ersten Mal ausdrücklich einen zentralen Rechtsgedanken der Gefahrerhöhungsdogmatik auf den Punkt brachten – nament­ lich die Unterscheidung zwischen zufällig eintretenden und vom Versicherungs­ nehmer beabsichtigten Gefahrerhöhungen. Ähnliche Generalnormen entwickelte der Gesetzgeber für die Gefahranzeigen, die der Versicherungsnehmer dem As­ sekuradeur vor Vertragsabschluss machen musste (§§ 2024–2027 ALR),707 oder für den Fall, dass der Versicherte oder ein ihm nahestehender Dritter den Versi­ cherungsfall selbst herbeigeführt hatte (§§ 2156, 2235 ALR).708 Insgesamt trat mit dem EAGB und dem ALR also die Tendenz hervor, dem Seeversicherungsrecht eine feste dogmatische Struktur zu geben, auch wenn die Versuche des preußi­ schen Gesetzgebers aus der heutigen Perspektive freilich noch als inkonsequent gelten würden. Für die Feuer- und Lebensversicherung entscheidend war schließlich der dritte Arbeitsschritt: die Übertragung seeversicherungsrechtlicher Strukturen auf die Binnenversicherung. Manche Vorschriften des Seeversicherungsrechts, wie bei­ spielsweise die Regeln zum versicherbaren Interesse, zum Prämienrückstand, zur Überversicherung oder zur Versicherung bei mehreren Assekuradeuren, wollte der Gesetzgeber ohne Abstriche auch auf die Binnenversicherung anwenden.709 Anderen seeversicherungsrechtlichen Vorschriften, wie zur Deklaration von Ge­ fahrumständen, zu Gefahrerhöhungen oder zum Eigenverschulden des Versi­ cherten, mussten erst zweckentsprechende Normen des Feuer- oder Lebensversi­ cherungsrechts zur Seite gestellt werden. Diese lehnten sich freilich pragmatisch an die vorgegebenen dogmatischen Strukturen des Seeversicherungsrechts an.710 Letztlich entstand auf diese Weise das von vielen Autoren beschriebene „bunte Durcheinander“ von See- und Binnenversicherungsrecht,711 das aber immerhin die erste abschließende gesetzliche Kodifikation des Binnenversicherungsrechts überhaupt darstellte. Mancherorts führten die Versuche des Gesetzgebers noch zu denkbar fragmentarischen Resultaten – so wie das ALR etwa einen umfangreichen 706

Zur Entwicklung dieser Generalklauseln vgl. § 2 D VII 2. Zur Entwicklung dieser Generalklauseln vgl. § 2 D VI 3 b. 708 Zur Entwicklung dieser Generalklauseln vgl. § 2 D IX 3 d. 709 Vgl. zum versicherten Interesse bzw. zum imaginären Gewinn § 2 D II 2, zum Prämien­ rückstand § 2 D V 1, zur Überversicherung § 2 D IV 1, zur Versicherung bei mehreren Versi­ cherern § 2 D IV 2 a. 710 Vgl. zur Gefahranzeige § 2 D VI 3 b / c, zur Gefahrerhöhung § 2 D VII 4, zum Eigenver­ schulden des Versicherten am Versicherungsfall § 2 D IX 3 d / e. 711 Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158. Vgl. auch Atzpodien (1982), S. 7; P.  Koch, VersR 45 (1994), 629, 630; Neugebauer (1990), S. 31. 707

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

285

Regelungskomplex zur Berechnung von Schäden an Schiffskasko und -kargo zur Kodifikation gebracht hatte, den Rechtsanwender jedoch gleichzeitig vollkommen im Dunkeln ließ, wie Feuerschäden zu ermitteln waren.712

II. Die Rolle der vorgesetzlichen Versicherungspraxis bei der Genese des ALR Welche Rolle spielte in diesem komplexen Transformationsprozess nun aber eigentlich die Feuer- und Lebensversicherungspraxis des 18. Jahrhunderts? Was das vorgesetzliche Mobiliarfeuerversicherungsrecht angeht, so befand es sich um das Jahr 1794 noch in einem unausgereiften Stadium, jedenfalls rechtsdogmatisch gesehen: mehrere Hamburgische „Assecuranz-Compagnien“ boten schon Feuer­ versicherungen an, die jedoch lediglich in einem Annex zu ihren Seeversicherungs­ bedingungen geregelt waren. Das Gros der Mobiliarfeuerversicherungen in Ham­ burg oder Preußen übernahmen aber noch englische Versicherungsgesellschaften. Dass der preußische Gesetzgeber diesen binnenländischen Zweig des Versiche­ rungsrechts überhaupt zur Kodifikation bringen wollte, dürfte nur seinem akribi­ schen Streben nach einer allumfassenden preußischen Universalrechtsordnung zu verdanken sein, nicht aber dem rechtlichen Entwicklungsstand der vorgesetzlichen Versicherungsbedingungen. Obgleich viele Versicherungsgesellschaften zum Ende des 18. Jahrhunderts schon nach versicherungsmathematisch-rationellen Kriterien operierten, befanden sich ihre rechtlichen Klauseln noch in einem unorganisierten Zustand. Den größten Teil insbesondere der englischen Versicherungsbedingun­ gen nahmen Kataloge näher bezeichneter Waren ein, die teilweise in verschie­ dene Gefahrenklassen eingeordnet wurden, teilweise für ganz unversicherbar erklärt wurden. Eine klare, vor allem aber einheitliche systematische Struktur fehlte dem schriftlich fixierten Praxisrecht aber noch. Es diente dem preußischen Gesetz­geber letztlich als Stoffsammlung, gewissermaßen als kasuistisches Füll­ material, welches er akribisch zusammentrug und in die maritim geprägte Syste­ matik des ALR zwängte. Als Quellen dienten dabei vor allem auch die englischen Vertragsklauseln. Diese beherrschten immerhin den Großteil des deutschen Mo­ biliarfeuerversicherungsmarktes; vor allem aber waren sie ab den 1780er Jahren auch in der deutschsprachigen Assekuranz-Literatur übersetzt und abgedruckt worden.713 Der dogmatischen Struktur des ALR mussten sie sich aber unterord­ nen: nicht selten riss der Gesetzgeber das kasuistische Praxisrecht aus seinem ursprünglichen Zusammenhang und ordnete es in die maritim vorgeprägte Dog­ matik des ALR ein, wie etwa im Falle der Th. II Tit. 8 §§ 2054, 2055, 2058, 2062 ALR geschehen. Die dort aufgezählten feuergefährlichen Gegenstände kannte die 712

Dazu unter § 2 D X 1. Besonders im Werk von Weskett / Engelbrecht (1782), Theorie und Praxis der Asseku­ ranzen. Zum Umgang des preußischen Gesetzgebers mit dem vorgesetzlichen Praxisrecht, insbesondere mit den englischen Versicherungsbedingungen, s. vor allem unter § 2 D I 2. 713

286

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Praxis etwa, weil sie dort als Kriterien zur Klassifizierung von Gefahren und Prä­ mien verwendet worden waren – im ALR wurden daraus Kataloge gefährlicher Gegenstände, Gebäudeeigenschaften oder Gewerbe, die der Versicherungsnehmer dem Versicherer anzeigen musste, wollte er nicht die Nichtigkeit des Vertrages riskieren.714 Wie aber gezeigt wurde, war nicht der gesamte Gehalt des Feuerversicherungs­ rechts im ALR überhaupt in der vorgesetzlichen Praxis verankert: wo es dem Gesetzgeber als sinnvoll oder notwendig erschien, übertrug er bestimmte Rechts­ gedanken des Seeversicherungsrechts auch auf die Feuerversicherung, um ver­ meintliche Lücken im Gesetz zu schließen. Dieser Vorgang prägte das Feuerver­ sicherungsrecht des ALR um einiges stärker als es die sporadische vorgesetzliche Praxis tat. An kaum einer Stelle wird dieser Prozess deutlicher als am Beispiel des Abandons, eines eigentlich rein seeversicherungsrechtlichen Instituts, das bis zum EAGB keinerlei Verbindungen zum Binnenversicherungsrecht vorzuweisen hatte und erst durch die Initiative des Gesetzgebers für die Feuerversicherung fruchtbar gemacht wurde, nämlich indem dem Feuerversicherer das Recht gewährt wurde, gem. § 2331 ALR das Eigentum an teilbeschädigten Mobilien zu erwerben, wenn er die ganze Versicherungssumme auszahlte.715 Gleiches war im Dunstkreis der Gefahrerhöhung zu beobachten, wo §§ 2153–2163 ALR letzten Endes die seever­ sicherungsrechtliche Differenzierung der §§ 2119, 2120 ALR analog auf die Feuerund Lebensversicherung übertrugen. Dabei war auch der Übergang der Versiche­ rung auf einen Erwerber der versicherten Sachen als Unterfall der Gefahrerhöhung begriffen worden; falls die Veräußerung keine Gefahrerhöhung mit sich brachte, ging der Versicherungsvertrag ipso iure auf den Erwerber über. Diese cessio legis war ein Novum im deutschen Feuerversicherungsrecht (§ 2163 ALR).716 Derselbe Prozess wird auch am Beispiel der §§ 2235 ff. ALR deutlich, welche die Haftung des Feuerversicherten für Handlungen nahestehender Personen zu hoher Wahr­ scheinlichkeit nach dem Vorbild seerechtlicher Zurechnungsvorschriften für Fälle „Von des Schiffers und des Schiffs-Volcks Versehen“717 konstruiert haben.718 Ein ganz anderes Resultat hat indes die Untersuchung des Lebensversiche­ rungsrechts im ALR zu Tage gefördert. Hier wäre dem preußischen Gesetzgeber mit der Hamburger Allgemeinen Versorgungs-Anstalt oder der staatlichen preu­ ßischen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt schon eine kleine Zahl reichhaltigerer Quellen aus der Rechtspraxis zur Verfügung gestanden. Doch der Gesetzgeber ließ sie ungenutzt. Die Lebensversicherung des Landrechts war ein Derivat jener 714

Vgl. unter § 2 D I 2 (zum Ursprung dieser Klauseln als Kataloge gefährlicher Gegen­ stände) und § 2 D VI 3 b (nochmals zur Verarbeitung dieser Klauseln zu Tatbeständen im Recht der Gefahranzeige). 715 Vgl. unter § 2 B II 1 b und § 2 D X 1 c. 716 Zu den miteinander verwobenen Problemen der Gefahrerhöhung und der Sachveräuße­ rung, s. insgesamt unter § 2 D VII 4 b. 717 Tit. VII AHO (1731). 718 Dazu unter § 2 D IX 3 d.

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

287

seerechtlichen Lebens- und Freiheitsversicherungen, die schon in der Hamburger AHO knapp geregelt worden und auf die Versicherung während einer einzelnen Seefahrt zugeschnitten waren. Konzipiert war sie also zur Versicherung gegen einen Todesfall während eines verhältnismäßig kurzen Zeitraums, nicht aber für die lebenslängliche Vorsorge. Ausführliche Regelungen zur Gesundheitsuntersu­ chung oder zum Selbstmord der versicherten Person, wie sie in der vorgesetzlichen Lebensversicherungspraxis anzutreffen waren, fehlten dem ALR letztlich ganz.719 An dieser Grundkonzeption des Allgemeinen Landrechts haben auch die einge­ hend analysierten „Monita“, die zum Entwurf von 1785 eingegangen waren, nichts mehr ändern können. Nennenswerte Elemente der vorgesetzlichen Feuer- oder Le­ bensversicherungspraxis trugen sie jedenfalls nicht ins Landrecht. Zum Binnen­ versicherungsrecht hatten sich besonders häufig der Mathematiker und Handels­ wissenschaftler Johann Georg Büsch sowie der Assekuradeur Hinrich Gaedertz geäußert. Die Monita sorgten damit weniger für eine breite öffentliche Mitwir­ kung von Feuer- oder Lebensversicherungspraktikern am Gesetzgebungsprozess, sondern brachten nur die Ideen und Meinungen individueller Persönlichkeiten ein. Büsch brachte dabei zahlreiche kreative Ideen ein, wie das Feuerversicherungs­ recht zweckentsprechend ausgestaltet und weitergebildet werden könnte, während Gaedertz zwar aus der Warte des Seehandelspraktikers argumentierte, dabei aber persönlich dem vorsichtigen Paternalismus des preußischen Gesetz­gebers gar nicht abgeneigt zu sein schien.

III. Die dogmatischen Impulse des ALR auf die Feuerversicherungspraxis des 19. Jahrhunderts Die außergewöhnlich frühe Kodifikation des Binnenversicherungsrechts ist nicht spurlos an der deutschen Versicherungspraxis vorübergegangen. Das gilt vor allem für das Feuerversicherungsrecht: einige dogmatische Ideen, die der Gesetzgeber des ALR zum ersten Mal klar formuliert hatte, haben der privaten Feuerversicherung einen nachhaltigen Entwicklungsschub gegeben, der einiges zur Ausgestaltung der deutschen Versicherungspraxis ab dem 19. Jahrhundert beigetragen hat. Am Anfang dieser Untersuchung stand jedoch zunächst das von Raiser formu­ lierte methodische Dilemma, dass weder der Schöpfer noch die Rechtsquellen der AVB, die ab dem 19. Jahrhundert standardmäßig zur Anwendung gebracht wurden, zweifelsfrei identifizierbar sind.720 Am Schluss jener Betrachtungen steht daher auch das Bedürfnis, die hier verwendete Methode einer Evaluation zu unterzie­ hen. So wurde eingangs vermutet, dass bei der Gründung der Berlinischen Feuer­ 719

Zur Gesundheitsuntersuchung unter § 2 D VI 4, zum Selbstmord der versicherten Person unter § 2 D IX 3 e. 720 L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 42.

288

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

versicherungs-Anstalt im Jahr 1812, einer Vorreiterin auf dem Gebiet der privaten Feuerversicherung, zwei hauptsächliche Quellen zusammengeflossen sein dürften: zum einen brachte Georg Friedrich Averdieck, der erste Bevollmächtigte der An­ stalt, fundierte Erfahrungen aus dem Geschäft der englischen London Phoenix mit, bei deren Hamburger Zweigniederlassung er vormals beschäftigt war. Zum anderen verfügte der erste Direktor der Anstalt, Wilhelm Benecke, über vertiefte Kenntnisse im internationalen Seeversicherungsrecht, aber auch im Feuerversi­ cherungsrecht englischer Gesellschaften und des ALR. Diese Kenntnisse hatte er in seinem fünfbändigen Werk über das „System des Assekuranz- und Bodmerei­ wesens“ minutiös festgehalten. Dem literarischen Werk Beneckes kommt bei der Arbeit mit den historischen Quellen eine nicht zu unterschätzende Funktion zu: Beneckes wissenschaftliche Ausführungen zum Feuerversicherungsrecht liefern einen Überblick über etliche zeitgenössische Quellen des Versicherungsrechts, von der Praxis der englischen „insurance companies“ bis zum Feuerversicherungsrecht des ALR. Am Beginn ihrer rechtsdogmatischen Betrachtungen hat diese Untersuchung auf die denk­ würdige Tatsache hingewiesen,721 dass Benecke die Th. II Tit. 8 §§ 2054 ff. ALR zur Gefahranzeige sogar wörtlich zitierte,722 woraufhin wenig später sehr ähnlich klingende Passagen in den AVB der Berlinischen auftauchten.723 Im Fortgang der vorliegenden Analysen hat sich dieses Phänomen aber mehrmals wiederholt, sei es bei den Ausführungen Beneckes über die Gefahrerhöhung und die Sachver­ äußerung, sei es im Kapitel über den Umfang der übernommenen Gefahr: in der ganz überwiegenden Zahl von Fällen ähnelten die AVB der Berlinischen Feuer­ versicherungs-Anstalt genau denjenigen Quellen, mit denen Benecke sich in sei­ nem Werk jeweils besonders eingehend beschäftigt hatte. Die AVB erscheinen in vielen Punkten gewissermaßen als ein Spiegel der Gedanken Beneckes, wie er sie kurz zuvor in seinem „System“ zusammengetragen hatte. Dadurch können trotz aller gebotener methodischer Vorsicht zwei Schlussfol­ gerungen gezogen werden: erstens, dass Benecke tatsächlich einen bestimmenden Einfluss auf die AVB der Berlinischen Anstalt ausgeübt hat, zweitens aber, dass durch Beneckes Mitwirkung einige Rechtsfiguren des ALR in die deutsche Feuer­ versicherungspraxis geraten sind. Die Grenzen jenes methodischen Ansatzes sind freilich dort gezogen, wo auch das wissenschaftliche Werk Beneckes keinen Auf­ schluss darüber liefert, mit welchen Quellen des Feuerversicherungsrechts er sich im Detail auseinandergesetzt hatte. Das war zum Beispiel bei der Ermittlung und Berechnung des Brandschadens der Fall. Doch auch hier haben sich in den AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt frappierende Parallelen zum preußi­ schen Landrecht finden lassen, die zum Teil dogmatische Innovationen im Feuer­ 721

Dazu insgesamt unter § 2 C IV 2. Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 530 f. 723 Art. 36 II Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (Sammlung-AVB I, 22). 722

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

289

versicherungsrecht darstellten – so etwa das vom seerechtlichen Abandon inspi­ rierte Übernahmerecht des Versicherers (§ 2331 ALR), das überhaupt erst seit der Endfassung des ALR zu einem Teil des Feuerversicherungsrechts gemacht worden war.724 In der vorgefundenen Häufigkeit kann es sich bei all diesen Phänomenen kaum noch um eine zufällige Korrelation handeln. Eine mitgestaltende Rolle bei der Entwicklung der „Berlinischen“ AVB und anderer früher Feuerversicherungsbedingungen mag übrigens auch die „Associa­ tion Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr“ gespielt ha­ ben, die sogenannte „Bieber’sche Association“ von 1795. Deren Verfassung hatte schon einige, wenngleich nicht alle rechtlichen Ansätze angedeutet, die später für die AVB der Berlinischen und der Gothaer zentral wurden. Das war etwa bei der rechtlichen Gestaltung der Brandschadensermittlung der Fall, die wiederum auf­ fällige Parallelen zur maritimen Schadensermittlung in §§ 2242–2272 ALR auf­ wies. Auch Wilhelm Beneckes „System“ beschäftigte sich gelegentlich mit der Verfassung der Bieber’schen Association.725 Bei der „Bieber’schen“ dürfte es sich um ein entwicklungshistorisches Durchgangsstadium handeln, gewissermaßen um ein Brückenglied, mit dessen Hilfe einige weitere Gedanken des englischen Rechts oder eben auch des ALR auf Umwegen in die AVB der später gegründeten Feuerversicherungsgesellschaften gelangten sein könnten. Den exakten histo­ rischen Tatsachen und Vorgängen kann die Forschung sich insoweit nur vorsich­ tig annähern. An der inhaltlichen Gesamtaussage der vorliegenden Untersuchung ändert sich dadurch aber ohnehin nichts. Am Ende des Tages lässt sich die Praxis der Berlinischen FeuerversicherungsAnstalt – und nach ihr vieler weiterer deutscher Feuerversicherungsgesellschaf­ ten – auf zwei wesentliche Einflüsse zurückführen: zu einem Teil wurde schlicht die englische Feuerversicherungspraxis, allen voran die Praxis der London Phoe­ nix adaptiert und verarbeitet. Explizit lässt sich das an den Klauseln zum Umfang des versicherten Risikos, zu den versicherbaren Gegenständen oder zum Prämien­ rückstand beobachten.726 Bislang nur wenig beachtet wurden indessen die Einflüsse des Allgemeinen Landrechts, aus dessen reichem kasuistischen Fundus die privaten Feuerversiche­ rer im 19. Jahrhundert schöpfen konnten. Es stellte damit eine zweite wesentliche Einflussquelle für die Praxis deutscher Feuerversicherer dar. Mit dem Vorbild des ALR kamen neben dem schon erwähnten Übernahmerecht des Versicherers auch andere neuartige Elemente in die Versicherungspraxis, zum Beispiel das aus­ nahmslos bei allen Totalschäden geltende „Prinzip der taxierten Police“.727 Auch 724

Zum „Abandonrecht“ in § 2331 ALR (1794), vgl. nochmals § 2 B II 1 b und § 2 D X 1 c; zu seiner Rezeption in der AVB der Berlinischen, vgl. § 2 D X 2. 725 Dazu insgesamt unter § 2 D X 2 a (zur Schadensermittlung und -berechnung). 726 Vgl. zu den versicherten Gegenständen und den übernommenen Risiken unter § 2 D I 3; vgl. zum Prämienrückstand unter § 2 D V 2. 727 Dazu insgesamt unter § 2 D X 2.

290

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

die Gewohnheit, die Veräußerung des versicherten Gegenstandes als rechtssyste­ matischen Unterfall der Gefahrerhöhung zu behandeln, ist im Endeffekt dem Vor­ bild des ALR zu verdanken.728 Als den wohl nachhaltigsten Einfluss des ALR kann man jedoch die rechtsdogmatische Behandlung der Anzeigen betrachten, welche der Versicherungsnehmer sowohl vor Vertragsschluss als auch im Falle einer Ge­ fahrerhöhung zu tätigen hatte. Insbesondere für Gefahrerhöhungen hatte das ALR ein differenziertes System geschaffen, das bei jeder rein zufälligen Erhöhung der Feuergefahr eine entsprechende Anzeige an den Versicherer forderte und schon das Unterlassen der Anzeige an sich mit dem Verlust des Versicherungsanspruches und dem Verfall der Versicherungsprämie sanktionierte. Den englischen oder Ham­ burgischen Feuerversicherern des 18. Jahrhunderts war eine derartige Dogmatik noch unbekannt gewesen; in den Feuerversicherungsbedingungen ab 1812 gehörten entsprechende Klauseln dagegen zum absoluten Standard.729 Eine ungefilterte Übernahme des preußischen Landrechts, auf der anderen Seite, kann und soll damit nicht behauptet werden. Gerade auch das Beispiel der unterlassenen oder fehlerhaften Gefahranzeige hat gezeigt, wie die Feuerversiche­ rungsbedingungen in ihren frühen Jahren sogar weniger vorsichtig und weniger streng gegen die Versicherungsnehmer vorgingen als das Landrecht: die Berlini­ sche Feuerversicherungs-Anstalt griff etwa nur zur Sanktion des Anspruchsverlust, wenn der Versicherungsnehmer jene Anzeige schuldhaft unterlassen hatte.730 Im Gegensatz zum ALR sah die Berlinische sogar ganz von Konsequenzen ab, falls eine Gefahrerhöhung eintrat, die der Versicherungsnehmer nicht intendiert hatte; Wilhelm Benecke hatte es schlicht und ergreifend für „[h]art und wider die allge­ meinen Versicherungsgrundsätze“ gehalten, wenn der Versicherungsnehmer schon wegen einer rein zufälligen Änderung der Gefahrumstände seines Versicherungs­ anspruchs verlustig gehen konnte.731 Dass die AVB zu dieser Zeit im Vergleich zur späteren Feuerversicherungspraxis noch ausgesprochen milde waren, dürfte in ers­ ter Linie mit der Zweckrichtung jener ältesten Gesellschaften zu begründen sein. Sie sollten verhindern, dass das Kapital des deutschen Handelsstandes fortwährend in den Händen ausländischer, nämlich englischer Versicherungsgesellschaften ver­ sickerte.732 Man könnte diese ersten Gründungen also als eine Art „Selbsthilfe-Ein­ richtung“ der deutschen Kaufmannschaft betrachten, die eine möglichst große Zahl an Kaufleuten zu verhältnismäßig günstigen Konditionen unter Deckung bringen wollte; ein diametraler Gegensatz zwischen den Interessen der Versicherer und den Interessen der Versicherungsnehmer bestand dabei noch nicht. Die bisher von Autoren wie Neugebauer oder Peter Koch proklamierte These, das Allgemeine Landrecht habe mit seinen rechtsdogmatischen Schöpfungen die 728

Dazu unter § 2 D VII 5. Dazu ebd. 730 Dazu unter § 2 D VI 4. 731 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 532; dazu insgesamt unter § 2 D VII 5. 732 Dazu insgesamt unter § 2 C I. 729

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

291

deutsche Versicherungspraxis nachhaltig geprägt,733 kann zumindest zum Teil be­ stätigt werden. Die rechtlichen Elemente, welche frühe Feuerversicherungsgesell­ schaften wie die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt, die Gothaer Feuerver­ sicherungsbank oder die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft in ihre AVB aufgenommen hatten, breiteten sich mit der territorialen Expansion der Versiche­ rungsgesellschaften im 19. Jahrhundert weit über den räumlichen Geltungsbereich des ALR hinaus aus. Damit wirkte das Allgemeine Landrecht auf das deutsche Feuerversicherungsrecht nicht nur regulierend, sondern zum Teil auch originär rechtsschöpfend. Überschätzen oder überinterpretieren sollte man diese Wirkung des ALR in­ dessen nicht. Die reiche Kasuistik des Landrechts, beispielweise zur Thematik der Gefahranzeige bei Vertragsschluss, hatten nur die AVB der Berlinischen und der Gothaer beinahe wortlautgetreu in sich aufgesogen; nach 1830 war sie wieder aus den deutschen Feuerversicherungsbedingungen verschwunden.734 Genauso tilgten die Versicherungsgesellschaften das seerechtlich geprägte, rigorose „Prinzip der taxierten Police“ aus eigener Kraft wieder aus ihren Bedingungen.735 Der langanhaltende Effekt, den das Allgemeine Landrecht auf das deutsche Binnenversicherungsrecht hatte, lag nicht etwa darin, den AVB nachhaltig eine große Zahl kasuistischer Einzelfallregelungen zu schenken. Er war bedeutend subtiler: das ALR hatte dem deutschen Feuerversicherungsrecht zum ersten Mal eine  – dem Seeversicherungsrecht entlehnte  – dogmatische Struktur verliehen, die sich erheblich von den Strukturen der englischen Versicherungsbedingungen und ihren „warranties“ unterschied. Während die private Feuerversicherung im 18. Jahrhundert bloß als eine Ansammlung organisch gewachsener, unvollstän­ diger und uneinheitlicher Klauseln bezeichnet werden kann, hatten die AVB der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt und aller nachfolgender Feuerversiche­ rungsgesellschaften binnen weniger Jahre eine feste innere Struktur erhalten. Das preußische Landrecht darf am Ende für sich den Verdienst beanspruchen, auf sub­ tile Weise ein dogmatisches Skelett für die deutsche Feuerversicherung geschaffen zu haben, an dessen Strukturen sich die Versicherungspraxis über das gesamte 19. Jahrhundert eigenständig fortentwickeln konnte. Nur in diesem Sinne sollte etwa das Votum Peter Kochs verstanden werden, der meint, das Landrecht habe schon Figuren wie die „Obliegenheiten“ des Versicherungsnehmers enthalten, die später zum Kernbestand aller AVB gehörten.736 Das ALR hat die deutsche Feuer­ versicherung nicht komplett neu erfunden, doch es hat ihrer weiteren Entwicklung unbewusst eine Bahn vorgezeichnet.

733 P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 308; ders., VersR 45 (1994), 629, 633; Neugebauer (1990), S. 46, 143, 154. 734 Dazu unter § 2 D VI 4. 735 Dazu unter § 2 D X 2 d. 736 So z. B. P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 633.

292

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Das gilt jedoch nur für die Feuerversicherungspraxis. Auf dem Terrain der Le­ bensversicherung konnte das Allgemeine Landrecht nicht als direktes Vorbild für spätere AVB wirken, war es doch denkbar knapp gehalten und noch immer an der Struktur der seerechtlichen Lebens- und Freiheitsversicherungen ausgerichtet. Die ersten deutschen Lebensversicherungsgesellschaften des 19. Jahrhunderts, allen voran die Gothaer Lebensversicherungsbank von 1828, orientierten sich mehr an englischen „assurance companies“. Dabei konnte insbesondere der Einfluss von Charles Babbages Schrift „A Comparative view of the various institutions for the assurance of lives“ auf die deutsche Lebensversicherungspraxis nachgewiesen werden. Diese lag dem Direktor der Gothaer, Ernst Wilhelm Arnoldi, erwiese­ nermaßen vor und geriet so gewissermaßen zu einer Schablone für das deutsche Lebensversicherungsrecht.737 Allenthalben das neu gewonnene, abstrakte dogmatische Skelett der Feuerver­ sicherungspraxis diente zu hoher Wahrscheinlichkeit teilweise auch als Stütze der deutschen Lebensversicherungsbedingungen. Zum Beispiel wiesen dogmatische Figuren wie die Deklaration von Gefahrumständen sowohl in den Feuer- als auch in den Lebensversicherungsbedingungen auffällig parallele Rechtsstrukturen auf, die sich alleine mit dem Vorbild der englischen „life assurance companies“ nicht restlos erklären lassen.738 Das verwundert kaum, wenn man erwägt, dass etliche Versicherungsgesellschaften – unter anderem auch die Gothaer – die Lebensver­ sicherung erst aufnahmen, nachdem sie zuvor schon für geraume Zeit das Feuer­ versicherungsgeschäft betrieben hatten. Auf diese Weise sind allem Anschein nach doch noch einige dogmatische Elemente aus dem ALR auf weiten Umwegen in die deutsche Lebensversicherungspraxis gelangt.

IV. Die staatlich organisierten Feuerkassen – ein Mythos der akademischen Literatur? In das hier gezeichnete Bild der Versicherungsgesetzgebung und der frühen Versicherungsvertragspraxis will bloß der bislang enge Fokus der akademischen Literatur auf die öffentlich-rechtlichen Brandkassen nicht recht passen. Man sollte angesichts der enormen Fülle an rechtshistorischer Literatur zu den staatlichen Feuerversicherern doch annehmen dürfen, dass diese einen erheblichen Einfluss auf das modernere deutsche Feuerversicherungsrecht ausübten, sei es auf das ALR, sei es auf die Feuerversicherungspraxis nach 1800. In den rechtsdogmatischen Analysen haben sich indes keine Belege finden las­ sen, mit deren Hilfe eine unmittelbare Einwirkung jener Feuersozietäten-Regle­ ments auf das deutsche Privatversicherungsrecht nachgewiesen werden konnte. 737

Dazu unter § 2 C III 2 und § 2 C IV 3. Zur Gefahranzeige, insbesondere zur Gesundheitsuntersuchung in der Lebensversiche­ rungspraxis, vgl. § 2 D VI 4. 738

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

293

Für das Allgemeine Landrecht erklärt sich dieser Befund alleine schon deswegen, weil das ALR alleine das Mobiliarfeuerversicherungsrecht regeln wollte. In den sachverständigen Monita, die zum EAGB von 1785 eingegangen waren, hatte die Rechtspraxis der öffentlichen Feuerversicherungsanstalten nicht einmal am Rande Erwähnung gefunden. Ebensowenig vermochten die öffentlichen Versicherer und ihre Reglements aber der Versicherungspraxis des frühen 19. Jahrhunderts ihren Stempel aufzudrücken. Zwar fallen auf den ersten Blick einige Parallelen zwischen dem Recht der Sozie­ täten und den privatwirtschaftlichen AVB des 19. Jahrhunderts auf: dazu gehört zum Beispiel, dass sowohl die öffentlichen als auch die privaten Versicherer kei­ nen Ersatz für Kriegsschäden leisteten.739 Außerdem war es in beiden Systemen üblich, den versicherten Gegenstand vor Vertragsschluss zu taxieren, sodass im Totalschadensfall dann schlicht die volle Taxe zur Auszahlung kommen konnte.740 All diese rechtlichen Korrelationen lassen sich allerdings  – wie gezeigt  – auch mit dem Einfluss der englischen Praxis oder des preußischen ALR erklären und weisen daher nicht zwingend auf unmittelbare Überlieferungswege zwischen So­ zietäten und Privatgesellschaften hin. Nebenbei bemerkt hatte sich auch Wilhelm Benecke bei den Recherchen für sein wissenschaftlich-praktisches „System des Assekuranz- und Bodmereiwesens“ mit zahlreichen privaten Versicherern innerund außerhalb Deutschlands beschäftigt – die staatlichen Feuerkassen gehörten aber niemals dazu. Zugleich hat sich während der einzelnen rechtsdogmatischen Analysen im Kontext dieser Forschungsarbeit gezeigt, dass das staatliche und das privatwirt­ schaftliche System des Versicherungsrechts gewissermaßen „inkompatibel“ zuei­ nander waren, da sie in vielfacher Hinsicht auf unterschiedlichen versicherungs­ technischen Voraussetzungen aufbauten. In letzter Konsequenz unterschied sich auch ihre Rechtsdogmatik in derart fundamentalen Punkten voneinander, dass das öffentliche Feuerversicherungsrecht des 18. Jahrhunderts für das ALR oder die AVB der Privatgesellschaften kaum als Vorbild taugen konnte. Die öffent­ lichen Versicherer differenzierten beispielsweise bei der Berechnung ihrer Versi­ cherungsbeiträge nicht nach der Höhe des übernommenen Feuerrisikos, sondern verteilten alle Schäden solidarisch über sämtliche Mitglieder. So spielten aber auch die – für die Privatversicherer ganz essentiellen – dogmatischen Figuren der Gefahr- oder Gefahrerhöhungsanzeige in der Praxis der öffentlichen Brandkassen keinerlei Rolle.741 Letztlich machen jene Überlegungen begreifbar, warum weder aus den Gesetzgebungsmaterialien zum ALR noch aus den Quellen im unmittel­ baren Umkreis der AVB irgendeine inhaltliche Beschäftigung mit dem Recht der öffentlichen Feuersozietäten ersichtlich wird. 739

Dazu unter § 2 D III 3/4. Dazu unter § 2 D X 2 b. 741 Dazu unter § 2 D VI 1 (zur Gefahranzeige bei Vertragsschluss) und unter § 2 D VII 1 (zur Gefahrerhöhung). 740

294

§ 2 Das Binnenversicherungsrecht und sein Verhältnis zur Versicherungspraxis

Wie lässt sich dann aber erklären, dass die rechtshistorische Forschung gerade im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert einen allzu starken Schwerpunkt auf das Recht der staatlichen Feuersozietäten oder der mittelalterlichen bzw. frühneuzeit­ lichen Gilden gesetzt hat? Um den regen Diskurs um Gilden und Sozietäten nachzuvollziehen, muss auf der anderen Seite berücksichtigt werden, dass es sich bei einer Vielzahl der Werke gar nicht um rechtshistorische Werke im engeren Sinne handelt; eine gerade dog­ mengeschichtliche Entwicklungslinie von den Gilden oder Sozietäten bis zum modernen Versicherungsrecht wollten sie gerade nicht zeichnen. Einige Autoren wie beispielsweise Schmitt-Lermann742 oder Zwierlein,743 um nur zwei Autoren zu nennen, nähern sich dem Versicherungsrecht vornehmlich aus kulturhistorischem Interesse, suchen also nach dem Ursprung des „Versicherungsgedankens“ in der deutschen Geistesgeschichte. Andere, wie von Liebig,744 Brämer745 oder Manes,746 untersuchten die Feuerversicherung schwerpunktmäßig unter Gesichtspunkten der Volkswirtschaft und deren Geschichte. Auf die eigentliche rechtsdogmatische Di­ mension der Versicherung kam es dabei nur im zweiten Rang an. Selbst der Rechts­ historiker von Gierke, der das Diktum der Feuerversicherung als ein Produkt des „germanischen Associationsgeistes“ begründet hat,747 interessierte sich mehr für die genossenschaftlichen Strukturen des Gilden- und Sozietätenwesens als für die eigentliche Dogmatik des materiellen Feuerversicherungsrechts. Wenn durch all diese historischen Forschungsarbeiten der Eindruck entsteht, die Gilden und Feuersozietäten hätten vieles zur Entstehung des Versicherungswesens in Deutschland beigetragen, so hat dieser Befund also durchaus seine Berechti­ gung, denn das kulturhistorische, das wirtschaftshistorische und das rechtshisto­ rische Urteil über diese Einrichtungen können durchaus auseinanderfallen. Einige Autoren des angebrochenen 20. Jahrhunderts wiesen auf dieses Problem der wis­ ­ hrenberg senschaftlichen Interdisziplinarität sogar ausdrücklich hin:748 Richard E meinte etwa, der Versicherungsgedanke per se habe sich durch die starke Präsens 742

Schmitt-Lermann (1954), Der Versicherungsgedanke im deutschen Geistesleben des Ba­ rock und der Aufklärung. Schmitt-Lermann behandelt insbesondere den Einfluss merkanti­ listischer, kameralistischer und aufklärerischer Ideen auf die Entwicklung der Versicherung. 743 Zwierlein (2011), Der gezähmte Prometheus. Feuer und Sicherheit zwischen Früher Neu­ zeit und Moderne. Vgl. dort S. 359: Zwierlein macht die Versicherung „im Natur / Mensch-­ Verhältnis, die Konjunktur und Qualität der Brandgefahr im Übergang von Vormoderne zu Moderne, das Verhältnis von ‚Sicherheit und Moderne‘ und das Verhältnis der Sicherheits­ regime zu den Wahrnehmungsaspekten von Zeit und Raum“ zu Objekten seiner Forschung. 744 von Liebig (1911), Das deutsche Feuerversicherungswesen. 745 Brämer / Brämer (1894), Das Versicherungswesen. 746 Manes (1905), Versicherungswesen. 747 von Gierke, Bd. 1 (1868), S. 3. 748 Zum Problem der Interdisziplinarität der Versicherungswissenschaften insgesamt v. a. Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 9, 23 (Versicherungswissenschaft als „Sammelwissenschaft“); vgl. auch Bruns (2015), § 2 Rn. 37; Dreher (1991), S. 31; P. Koch, Geschichte der Versicherungs­ wissenschaft (1998), S. 4 ff. Zahlreiche historische und moderne Forschungsarbeiten zeigen

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

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staatlicher Brandversicherer in Deutschland so weit ausgebreitet, dass die Privat­ versicherer zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Deutschland rasend schnell Fuß fassen konnten.749 Für die eigentlich rechtsdogmatische Entwicklung der privaten Feuerversicherungsgesellschaften hielt er aber – wie übrigens viele andere deutsche Autoren750 – eher den Einfluss der Seeversicherung für maßgeblich.751 Zu irreführenden Fehlschlüssen gelangt man allenthalben, wenn man die kultur-, wirtschafts- und rechtshistorische Dimension der Versicherung undifferenziert miteinander vermengt. Diesen Fehler begehen aber die Autoren, die im Recht der Gilden und Sozietäten die Manifestation einer „deutschen Volkspsyche“ erken­ nen wollen, nur um dann ihren dogmengeschichtlichen Blick ausschließlich auf das Recht dieser Einrichtungen zu verengen. Von einer solchen Auffassung zeugt etwa ein Votum Helmers, der expressis verbis seeversicherungsrechtliche Ein­ flüsse auf das Versicherungsrecht der Hamburger Feuerkontrakte von vornherein ausschließt, weil die „kapitalistische“ Denkweise der niederländischen Seeasse­ kuranz dem gemeinschaftsorientieren „deutschen Volksgeist“ schließlich völlig fremd gewesen sei.752 Vor allen Dingen die gedankliche Vermischung unterschiedlicher historischer Argumentationsebenen kann letzten Endes den Eindruck erwecken, als sei prak­ tisch das gesamte deutsche Versicherungsrecht von den Einflüssen der öffentlichrechtlichen Brandversicherer durchdrungen. Jedes Narrativ, das ausdrücklich einen signifikanten und nachhaltigen rechtsgeschichtlichen Einfluss der staatlich geführten Feuersozietäten des 17. und 18. Jahrhunderts oder gar der frühneuzeit­ lichen Gilden auf die moderne deutsche Versicherungsrechtsdogmatik behauptet, sollte daher kritisch hinterfragt werden.

ebenfalls ein Bewusstsein für die Interdisziplinarität der Versicherungswissenschaft und den daraus resultierenden Pluralismus der wissenschaftlichen Blickwinkel: Boehart (1985), S. 27 (Ideengeschichte der Versicherung im Vergleich zur Sozialgeschichte der Versicherung gut erforscht); R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 101 (Unterscheidung zwischen Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Versicherung); ders., ZVersWiss 2 (1902), 123 (Entwicklung der Lebens­ versicherungswirtschaft vor der Lebensversicherungstechnik); Neugebauer (1990), S. 2 (allge­ meine Geistesgeschichte der Versicherung besser erforscht als Versicherungsrechtsgeschichte). 749 R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 35, 40 f. 750 Beseler (4. Aufl.  1885), Bd. 2 § 266 (S. 1227); W.  Ebel, Feuerkontrakte (1936), S. 42 f.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 35; Hagena (1910), S. 12; Malß, ZVersR 1 (1866), 1, 3; Manes (1905), S. 21. 751 R. Ehrenberg, ZVersWiss 1 (1901), 101, 107. 752 Helmer, Geschichte, Bd. 1 (1925), S. 227. Ausdrücklich kritisch zu solchen Ansätzen auch Hellwege, in: idem (Hrsg.), S. 9, 14. 

§ 3 Die Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts im Versicherungsrecht und das Versicherungsvertragsgesetz (1908) A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung Das 19. Jahrhundert gab dem privaten Feuer- und Lebensversicherungsrecht sein modernes, noch heute vertrautes Gesicht. Die beiden Versicherungszweige wandelten sich zu einem gesellschaftlichen Massenphänomen, hinter dem eine enorme volkswirtschaftliche Kraft steckte. Damit ging jedoch auch eine sich allmählich abzeichnende, faktische Rechtset­ zungsmacht vor allem der Feuerversicherungsgesellschaften einher: bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten sie gegenüber der Masse geschäftlich unerfah­ rener Versicherungsnehmer eine wirtschaftlich so überlegene Position gewonnen, dass sie den Inhalt ihrer AVB nach ihrem eigenen, einseitigen Ermessen diktieren konnten. Aber auch die Lebensversicherung drang während des 19. Jahrhunderts in alle gesellschaftlichen Schichten vor und entwickelte dabei eine reiche Diversität von unterschiedlichen Lebensversicherungsprodukten. Daneben wuchsen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts jüngere Versicherungszweige wie die Hagel-, Vieh-, Un­ fall- oder Krankenversicherung zu einer namhaften volkswirtschaftlichen Größe heran.1 Am Ende des 19. Jahrhunderts blühten dann für fast alle Sicherungsbe­ dürfnisse des täglichen Lebens maßgeschneiderte Versicherungsprodukte auf, so etwa auch gegen Wasserschäden, Frostschäden, Glasbruch, Schimmelbefall oder sogar Kursverluste und Kreditausfall.2 Die gesamte wirtschaftliche Progression auf dem Binnenversicherungsmarkt wurde allmählich, beginnend in den 1850er Jahren, von einem wachsenden aka­ demischen, insbesondere rechtswissenschaftlichen Interesse begleitet.

1

Insgesamt zum wirtschaftlichen Aufschwung der Versicherung: Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 38; Manes (1905), S. 25 f.; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 46; Neugebauer (1990), S. 20 f.; von Zedtwitz (2000), S. 175. Zur Wirtschaftskraft der Binnenversicherung um 1900, s. Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXXI f. 2 Brämer / Brämer (1894), S. 74 ff.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 67 f.; ­Manes, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 392 ff. (mit detaillierter Beschreibung vieler „kleiner“ Versiche­ rungszweige); Müssener (2008), S. 73 ff.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 164; von Zedtwitz (2000), S. 175.

A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung 

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Nur ein wesentlicher Faktor fehlte durch das gesamte 19. Jahrhundert hindurch: die Gesetzgebung. Zwar hatten sich die Gesetzgeber der einzelnen deutschen Par­ tikularstaaten durchaus an einer Kodifikation des Binnenversicherungsrechts ver­ sucht – Früchte dieser Bemühungen waren die Entwürfe eines württembergischen3 und eines preußischen Handelsgesetzbuches4 aus den Jahren 1839 und 1857 sowie der „Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern“ von 1861.5 Sie beinhalteten jeweils auch einen Titel zum Versicherungsrecht; alleine keiner dieser Entwürfe gelangte zum rechtsverbindlichen Gesetz. Das gleiche gilt für den Dresdener Obligationenrechtsentwurf von 1866,6 der ein einheitliches Schuldrecht für alle deutschen Teilstaaten schaffen wollte, dabei aber scheiterte. Bloß das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch7 kodifizierte 1861 tatsächlich Normen zum Versicherungsrecht; doch beschränkte es sich alleine auf Fragen der Seeversicherung, während Versicherungszweige wie die Feuer-, oder Lebensversi­ cherung nach wie vor in einem gesetzlich ungeregelten Zustand verharrten. Damit avancierten die Versicherungsgesellschaften, die mit ihren AVB das Vertragsrecht faktisch einseitig gestalten konnten, gleichsam zum Ersatzgesetzgeber.8 Erst im frühen 20. Jahrhundert gelang mit dem Versicherungsvertragsgesetz von 1908 (VVG)9 schließlich eine umfängliche gesetzliche Kodifikation des gesam­ ten Binnenversicherungsrechts. Es beansprucht in seinen Grundstrukturen noch heute Gültigkeit. Wenn man sich nun die Tatsache vor Augen hält, dass dem VVG ein fast hundertjähriges, von staatlicher Seite beinahe ungehindertes Wachstum des Binnenversicherungsrechts vorausgegangen ist, so scheint wohl nichts nahe­ liegender als der Schluss, dass das VVG sich zu einem überwältigenden Teil an der reichen Materie des Praxisrechts bedient hat. Sucht man nun allerdings in der rechtswissenschaftlichen Literatur nach einem fundierten Beleg für jene These, so wird man einmal mehr mit dem nüchternen Gefühl zurückbleiben, dass die zahl­ reichen, oft mit großer Überzeugung vorgetragenen Thesen am Ende mehr Fragen 3 Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg mit Motiven (Text­ ausgabe, 1839). 4 Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten. Nebst Motiven. Erster Theil: Entwurf (Textausgabe, 1857). 5 Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern. Theil  I. Haupt­ stück… Von den Rechtsgeschäften. Theil  II. Recht der Schuldverhältnisse (Textausgabe, München 1861). 6 Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse, bearbeitet von den durch die Regierungen von Oesterreich, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Hes­ sen-Darmstadt, Meklenburg-Schwerin, Nassau, Meinigen und Frankfurt hierzu abgeordneten Commissaren, und im Auftrage der Commission herausgegeben von Dr. B. Francke (Textaus­ gabe, 1866). 7 Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch nach den Beschlüssen der dritten Lesung. Zu­ gleich fünftes Heft des Beilagenbandes der Protokolle der Kommission zur Berathung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches, im Auftrage dieser Kommission herausgegeben von J. Lutz (Textausgabe, 4. Aufl. 1861). 8 Duvinage (1987), S. 52; Malß, Betrachtungen (1862), S. 3 f.; Neugebauer (1990), S. 185. 9 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263–305.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

aufwerfen als sie beantworten. Die historischen Hintergründe haben in der moder­ nen Versicherungsrechtsdogmatik überhaupt eine höchstens ganz untergeordnete Stellung eingenommen: so beklagt auch Neugebauer, Wissenschaft und Rechtspre­ chung betrachteten das VVG heute gleichsam als ein ahistorisches Produkt, ge­ wissermaßen als ein singuläres Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts, ohne sich eigentlich seiner geschichtlichen Wurzeln gewahr zu sein. Das führe in der moder­ nen Rechtspraxis zur künstlichen Überdogmatisierung des Versicherungsrechts.10 Tatsächlich waren die rechtsgeschichtlichen Hintergründe des Versicherungs­ vertragsgesetzes – ganz im Gegensatz zum übrigen Zivilrecht – noch bis ins späte 20. Jahrhundert hinein weitestgehend unerforscht, bis Autoren wie Duvinage oder Neugebauer sich um seine historische Fundierung verdient gemacht haben. Eine tiefergehende Analyse darüber, bis zu welchem Grade das VVG sich tatsächlich als rechtlicher Spiegel der Versicherungspraxis bezeichnen darf, steht jedoch bis heute noch aus. Sie soll daher einen Großteil der restlichen Untersuchung einneh­ men. Zunächst sollen aber, wie schon aus dem Kapitel zum preußischen Land­ recht gewohnt, die eben erwähnten Narrative und Thesen gebündelt werden, um auf dieser Basis einen Fahrplan für die weitere wissenschaftliche Auseinanderset­ zung mit dem VVG und seinem Verhältnis zur Versicherungspraxis zu entwerfen. Im Gegensatz zu den rechtshistorischen Narrativen über die Zeit des Allgemei­ nen Landrechts stößt man bei der Erforschung des Versicherungsvertragsgesetzes immerhin schon auf zwei relativ klar umrissene gedankliche Hauptströmungen, welche sich in gegensätzlicher Weise zu der aufgeworfenen Frage positioniert ha­ ben. Dass die Allgemeinen Versicherungsbedingungen ein wichtiges Fundament der Gesetzgebung gebildet haben, bestreitet keine dieser Thesen;11 über das Aus­ maß jenes Einflusses herrscht jedoch Uneinigkeit.

I. Das VVG und die „Schutztheorie“ Die eine, recht häufig vertretene Ansicht – gelegentlich als „Schutztheorie“ be­ zeichnet – nimmt an, der Gesetzgeber habe mit dem VVG im Wege staatlicher Intervention in die Vertragspraktiken der großen Versicherungsgesellschaften eingreifen wollen, um die Versicherungsnehmer vor einseitig abgefassten, stark nachteiligen oder sogar missbräuchlichen AVB-Klauseln zu schützen. So meint schon Raiser, das VVG habe vornehmlich dem „Schutz des geschäftsungewand­ ten Publikums“ gedient.12 Das VVG habe die gebräuchlichen Versicherungs­ bedingungen also nicht lediglich in eine gesetzliche Form transferiert, sondern 10

Neugebauer (1990), S. 3 f. Z. B. Duvinage (1987), S. 202; Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 32; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXV; F. Ebel, in: HdV (1988), 617, 623; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 319; Neugebauer (1990), S. 107; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 167. 12 L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 50. 11

A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung 

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im Gegenteil vielen einseitigen Praktiken der Gesellschaften einen Riegel vorge­ schoben.13 Als der wohl wichtigste Beweis ihrer Ansicht gilt es den Vertretern der „Schutztheorie“, dass sich die Gesetzgebungstechnik des Reichsgesetzgebers zahlreicher halbzwingender Normen bediente; das VVG hat mithin Vorschriften geschaffen, von denen die Vertragsparteien nur zugunsten, nicht aber zuungunsten des Versicherungsnehmers abweichen durften.14 Die sogenannte „Schutztheorie“ ist schon seit der Entstehungszeit des VVG fest in der wissenschaftlichen Literatur verankert. So äußerten sich zahlreiche Sach­ verständige noch während des Gesetzgebungsprozesses, der Gesetzgeber habe mit dem VVG die Interessen beider Vertragsparteien in einen gerechten Ausgleich gebracht und dabei auch den „Schutz des Schwächeren“ im Blick gehabt.15 Das suggeriert freilich, dass die AVB der vorgesetzlichen Versicherungspraxis, denen in der zeitgenössischen Literatur immerfort vorgeworfen worden war, die Ver­ sicherungsgesellschaften einseitig zu übervorteilen,16 nicht alleine maßgeblich gewesen sein konnten. Ein Teil der modernen Lehrbuchliteratur zum Privatver­ sicherungsrecht hat die Formel vom „Konsumentenschutz“ im VVG schließlich übernommen und seitdem etliche Male reproduziert, ohne sie dabei freilich noch kritisch zu hinterfragen.17

II. Das VVG als „Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“ Demgegenüber wandte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem Gärtner vehement gegen die „Schutztheorie“ – von ihm stammt der bereits zuvor zitierte, überaus plakative Satz, das VVG sei im Kern nichts anderes als die „ge­ glättete und bereinigte Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“. Der Gesetz­ geber habe in erster Linie die geltenden AVB der Versicherungsgesellschaften zur 13 So auch Duvinage (1987), S. 203, 206; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXXII; Müssener (2008), S. 317, 358; Möller, VersR 9 (1958), 352, 353; Neugebauer (1990), S. 102 ff.; R. Schmidt, VersR 9 (1958), 358, 359; von Zedtwitz (2000), S. 175. 14 Duvinage (1987), S. 203; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXV; L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 50. 15 Zu den Äußerungen im Gesetzgebungsverfahren, vgl. Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 92; Denkschrift Berliner Metall-Industrieller (1903) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justiz­ ministerium, Nr. 5580.155 ff.), S. 1; Denkschrift der Feuerversicherungs-VVaG v. 08. 10. 1903 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.103 ff.), S. 1; Denkschrift der Lebens­ versicherer v. 06. 10. 1903 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.93 ff.), S. 1; Otto, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 16, 20. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 111, 124; Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XX. 16 So in etwa Brämer / Brämer (1894), S. 49 f., 265; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 79; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 337 f.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 37 f. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 54; Müssener (2008), S. 311. 17 Bruns (2015), § 3 Rn. 13; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 162 f. (bezeichnet die Eingriffe des VVG-Gesetzgebers allerdings als noch relativ „liberal“).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Kodifikation gebracht und höchstens einige Anpassungen in dogmatischen Detail­ fragen vorgenommen.18 Dem häufig bemühten Argument, der VVG-­Gesetzgeber habe vor allem durch die Verwendung halbzwingender Rechtsnormen seine „kon­ sumentenschützenden“ Absichten zum Ausdruck gebracht, tritt Gärtner vehement entgegen. Nicht auf die formale Verwendung halbzwingender Normen komme es an, sondern auf den materiellen Gehalt des Rechts; man dürfte schließlich nicht „Formales mit Inhaltlichem“ gleichsetzen. Dieser Fehler unterlaufe aber den An­ hängern der „Schutztheorie“.19 Als Beispiel führt Gärtner einerseits die strengen „Anzeigeobliegenheiten“ ins Felde, die dem Versicherungsnehmer im VVG auf­ erlegt werden; andererseits weist er auf das sogenannte „Einlösungsprinzip“ hin: der materielle Versicherungsschutz kommt erst zum Tragen, sobald der Versiche­ rungsnehmer die erste Versicherungsprämie bezahlt hat. Ob der Versicherungs­ nehmer den Rückstand mit der ersten Prämie überhaupt zu vertreten hat, ist dabei irrelevant (§ 38 I VVG). Diese Regel sei für den Versicherungsnehmer viel ungüns­ tiger als die allgemeine Verzugsregel des § 286 BGB.20 Die Gedanken Gärtners erinnern an die Position, die Otto Prange, der Geschäfts­ führer des versichertenfreundlichen „Feuerversicherungs-Schutzverbandes“, wäh­ rend des Gesetzgebungsverfahrens im Interesse der Versicherungsnehmer vertreten hatte. Im Gegensatz zu vielen anderen Sachverständigen meinte Prange, die Ver­ sicherungsgesellschaften hätten mit einer „mühsam unterdrückten Zufriedenheit“ auf den VVG-Entwurf von 1903 reagiert, denn im Wesentlichen habe der Entwurf gänzlich den Wünschen der Versicherungswirtschaft entsprochen.21 Im Übrigen bedient sich der von Gärtner geprägten Formel von der „Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“ am Ende des 20. Jahrhunderts auch Duvinage. Sie verweist zur Begründung insbesondere auch auf eine Rede des Staatssekre­ tärs Nieberding, der den VVG-Entwurf als dessen Referent am 22. 01. 1906 dem Reichstagsplenum vorlegte und dabei erklärte, „daß der Entwurf, abgesehen von einer Anzahl organisatorischer Bestimmungen und einer Anzahl von Grundsätzen mehr allgemeiner geschäftlicher Natur, im wesentlichen eine Zusammenfassung derjenigen Bedingungen enthält, unter welchen die Gesellschaften mit ihren Ver­ sicherten grundsätzlich die Verträge abschließen, d. h. eine Zusammenfassung der allgemeinen Versicherungsbedingungen“.22 Nieberdings eigene Aussage sei – so Duvinage – der schlagkräftigste Beweis dafür, dass das VVG im Wesentlichen nur das vorgesetzliche Recht der AVB kopiert habe. Korrigiert habe der Gesetz­ geber die vorgefundene praxisrechtliche Materie lediglich „in Randbereichen“.23 18

Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 32. Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 31, 46. 20 Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 33, 53 f. 21 Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 12 f. 22 Rede Nieberdings im Reichstag v. 22. 01. 1906 (25. Sitzung der 12. Legislaturperiode), abgedruckt in: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck 1963), S. 571, 572. Vgl. Duvinage (1987), S. 123. 23 Duvinage (1987), S. 202. 19

A. Stand der Forschung und weiterer Gang der Untersuchung 

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Die Gesamtaussage Duvinages wirkt am Ende aber doch deutlich differenzierter als das Votum Gärtners: noch im selben Kontext zeigt Duvinage anhand einiger Beispiele auf, wie der Gesetzgeber missbräuchlichen oder einseitigen Klauseln aus der Versicherungspraxis zum Schutz der Versicherungsnehmer entgegenge­ wirkt hat.24

III. Die weit verbreiteten „indifferenten“ Narrative Eine dritte Strömung in der Literatur suggeriert schließlich nur zum Schein, dass die Versicherungspraxis die so gut wie ausschließliche Rechtsquelle des VVG war – ein Phänomen, das so häufig anzutreffen ist, dass es hier gesonderte Erwäh­ nung finden soll. Erich Prölss war schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in einem – eher überblicksartigen und kaum ins Detail gehenden – Zeitschriften­ aufsatz zu dem Schluss gelangt, das VVG habe sich die Bedingungen der Feuerver­ sicherungspraxis vielfach zum Vorbild genommen, ohne dabei selbst wesentliche Innovationen auf dem Gebiet des Feuerversicherungsrechts zu schaffen.25 Teile der moderneren wissenschaftlichen Literatur berufen sich auf die Aussagen jenes Aufsatzes. So äußert sich beispielsweise Peter Koch im Tone einer Feststellung, schon Prölss habe nachgewiesen, dass ein Großteil des heute geltenden gesetz­ lichen Versicherungsrechts seinen Ursprung in der Vertragspraxis der AVB habe.26 Bei einem unbefangenen Leser kann dieses Narrativ allerdings den voreiligen Eindruck erwecken, als würde eine herrschende Auffassung die AVB als die na­ hezu singuläre Rechtsquelle des Versicherungsvertragsgesetzes betrachten. Das behaupten indes weder Prölls noch Koch: auch Prölls wies darauf hin, dass nach der Kodifikation des VVG eine umfassende Neugestaltung der AVB nötig gewesen sei, während viele Grundsätze, welche dem Schutz der Versicherungsnehmerseite dienen, ursprünglich nicht durch die Initiative der Praxis, sondern unter dem Ein­ fluss der Versicherungsaufsicht und der Rechtsprechung entwickelt worden sei­ en.27 Peter Koch stellt sich in einer seiner zahllosen Schriften gar als ein Vertreter der soeben umrissenen, klassischen „Schutztheorie“ heraus.28 Vor allen Dingen Gärtner vertritt also mit ganz nachdrücklicher Überzeugung die These, das VVG sei nichts anderes als kodifiziertes Praxisrecht.

24

Vgl. Duvinage (1987), S. 170 ff. mit einer ausführlichen Darstellung der Vorschriften des VVG zur Prämienzahlung. 25 Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 176. 26 P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 319. Ähnlich ders., Bilder (1978), S. 219; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 105. 27 Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 176. Ähnlich Duvinage (1987), S. 108; P. Koch, Bil­ der (1978), S. 210; Manes (1905), S. 87; Müssener (2008), S. 318 f., 359 f.; Neugebauer (1990), S. 154 f.; Prang (2003), S. 191 (VVG als Kodifikation der vorgesetzlichen Rechtsprechung). 28 Z. B. P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 184.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Am Ende dieses kurzen Überblicks bleibt der ernüchternde Eindruck haften, der gesamte akademische Diskurs sei vor allem von subjektiven Diktionen und Bewertungen geprägt. Das zeigt auch schon die oben erwähnte Arbeit Duvinages, die zwar einerseits eigene Quellenstudien betreibt und dabei auf einige ausge­ wählte „konsumentenschützende“ Teilaspekte des VVG hinweist, sich aber ande­ rerseits wiederum Gärtners plakativem Votum vom VVG als einer „Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“ anschließt. Der Großteil der übrigen akade­ mischen Werke verzichtet ganz auf eine nüchtern-analytische Untersuchung der historischen Primärquellen. Die Aufgabe der vorliegenden Forschungsarbeit soll es daher sein, die wissenschaftliche Debatte um das Verhältnis von Binnenver­ sicherungspraxis und Gesetzgebung auf eine greifbare, breite analytische Grund­ lage zu stellen.

IV. Weiterer Gang der Darstellung Zu diesem Zweck wird diese Untersuchung zuerst gleichsam von außen auf die Entwicklungsgeschichte der Versicherungspraxis (B) und der Gesetzgebung (C) im 19. Jahrhundert blicken. Sodann soll ein gewichtiger Schwerpunkt dieser Untersuchung schließlich wieder einzelne rechtsdogmatische Figuren des Versi­ cherungsrechts herausgreifen, diese auf ihre Wurzeln untersuchen und so aufklä­ ren, wie stark die Versicherungspraxis letzten Endes tatsächlich auf die Gesetzge­ bung eingewirkt hat (D). Bei alledem wird sich die weitere Untersuchung auf die Feuer- und die Lebensversicherung konzentrieren, die gleichsam als die ältesten und einflussreichsten „Prototypen“ der Schadens- und der Summenversicherung gelten.29 Wenn die folgende Forschungsarbeit indes immer wieder auch auf die Rechtswissenschaft, vor allem aber auf die vier versicherungsrechtlichen Kodi­ fikationsentwürfe des 19. Jahrhunderts zurückkommt, dann hat das den Zweck, die schrittweise Entwicklung versicherungsdogmatischer Ideen über das gesamte Jahrhundert nachzuvollziehen. Es wäre nämlich zu kurz gegriffen, das VVG als isoliertes Phänomen des frühen 20. Jahrhunderts zu begreifen; es bildet vielmehr nur den Schlusspunkt einer sich über das 19. Jahrhundert erstreckenden Kodifi­ kationsbewegung. Nach alledem ist die wissenschaftliche und legislatorische Dis­ kussion des 19. Jahrhunderts von großem Interesse, um die Quellen des deutschen VVG von 1908 zu hinterfragen.

29 Insbesondere zur Feuerversicherung als „Prototyp“ der Schadensversicherung: Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 19; Müssener (2008), S. 5, 73 ff.; Neugebauer (1990), S. 136; Prölss, Vers­ Arch 14 (1942/43), 156, 166.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850 Die Geschäftsgewohnheiten der Versicherungsgesellschaften drückten dem deutschen Binnenversicherungsrecht über das gesamte Jahrhundert hinweg ganz maßgeblich ihren Stempel auf. Einen Überblick über die Fortschritte der Binnen­ versicherungspraxis im 19. Jahrhundert zu gewinnen, ist daher unerlässlich, wenn man die Eigenheiten der Kodifikationsdebatte, die ab der Mitte des Jahrhunderts zunehmend an Fahrt aufnahm, wissenschaftlich durchdringen will. Zunächst lohnt es dabei, den Blick auf die allgemeinen Entwicklungen in der Versicherungswirtschaft des 19. Jahrhunderts zu richten und diese vor einen brei­ teren historischen Kontext zu stellen (I). Die folgenden Ausführungen unter II und III haben sodann den Zweck, die wichtigsten technischen und rechtlichen Fort­ schritte im Feuer- und Lebensversicherungsrecht zu beleuchten; besondere Be­ achtung verdienen dabei freilich die rechtlich Aspekte des Binnenversicherungs­ rechts, die in den Allgemeinen Versicherungsbedingungen der Privatversicherer sowie den Reglements der öffentlichen Versicherungsanstalten ihren Niederschlag gefunden haben. Zuletzt sollen aber zwei gewichtige Einflussfaktoren Erwähnung finden, die ab den 1850er Jahren maßgeblich an der dogmatischen Durchdringung des Binnenversicherungsrechts Anteil hatten und daher in keinem Fall aus dem ge­ samten rechtlichen Entwicklungsprozess ausgeklammert werden sollten: nämlich die Rechtswissenschaft und die Rechtsprechung, die sich zum Ende des 19. Jahr­ hunderts intensiv mit dem Versicherungsrecht befassten (IV).

I. Die „Zweite Gründungswelle“ in der deutschen Versicherungswirtschaft Die Prozesse der Industrialisierung hatten in den 1820er Jahren eine regelrechte „Gründungswelle“ auf dem Feuer- und Lebensversicherungsmarkt losgetreten: während dieser Zeit waren etliche bis in die moderne Zeit existierende Gesell­ schaften aus der Taufe gehoben worden, beispielsweise die Gothaer Feuer- und Lebensversicherungsbank oder die Aachener und Münchener Feuerversicherungs­ gesellschaft. Bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatten besonders die Feuer­ versicherer, aber auch die Lebensversicherer ihr Geschäft allerdings hauptsächlich auf Gewerbebetriebe konzentriert, wo das Bedürfnis nach finanzieller Absicherung am ehesten ans Licht getreten war, während die Versicherung privater Haushalte eher noch ein Dasein als Randerscheinung fristete. Um das Jahr 1850 dehnte sich das Versicherungsgeschäft nun auch mit Nach­ druck auf den rein privaten Lebensbereich aus: die Versicherung wandelte sich von einem ursprünglich kaufmännischen Phänomen zu einem zivilrechtlichen Mas­ sengeschäft, das in allen Bereichen des täglichen Lebens an Bedeutung gewann.30 30

Brämer / Brämer (1894), S. 90 ff.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 38; Manes (1905), S. 25; Müssener (2008), S. 140; von Zedtwitz (2000), S. 175.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Der Bevölkerung aller gesellschaftlichen Schichten war es nun möglich, ihre Wohnhäuser, Möbel oder Wertgegenstände gegen Brände zu versichern oder ihre Familie finanziell zu versorgen, falls der Ernährer der Familie vorzeitig verstarb oder umgekehrt ein so hohes Alter erreichte, dass er selbst auf die Hilfe seiner Familie angewiesen war. Hand in Hand mit dem Aufkommen des „Massengeschäfts“ erlebte die deutsche Versicherungswirtschaft aber auch eine erneute „Gründungswelle“, welche in den 1850er Jahre anebbte und eine Vielzahl neuer Akteure auf den Versicherungsmarkt schwemmte.31 Gerade im Lebensversicherungsrecht war ein sprunghafter Anstieg der Gründungen zu verzeichnen: zu dieser Zeit entstanden etwa die Aktiengesell­ schaft „Teutonia“ (1852), die „Concordia Kölnische Lebens-Versicherungs-Gesell­ schaft“ (1853), die „Lebens-, Personen- und Leibrenten-Versicherungs-Gesellschaft Iduna“ (1854), die „Stuttgarter Lebensversicherungs- und Ersparnisbank“ (1854), die „Magdeburger Lebens-Versicherungs-Gesellschaft“ (1855) oder die „LebensVersicherungs-Gesellschaft Germania“ (1857)  – alleine um einige Gründungen der 1850er Jahre zu nennen.32 Doch auch auf dem deutschen Feuerversicherungs­ markt traten neue Mitbewerber auf, zum Beispiel die „Providentia“ von 1856 – ab dem Folgejahr auch als Lebensversicherer tätig –, die „Gladbacher Feuerversiche­ rungs-Aktiengesellschaft“ (1861) oder die „Hoyaische Provincial-Mobiliar-Feuer-­ Versicherungs-Bank auf Gegenseitigkeit Concordia“ (1864).33 Eine statistische Sammlung des Nationalökonomen Manes stellte etwa fest, dass die Zahl der „grö­ ßeren“ Privatversicherungsgesellschaften von 56 im Jahr 1850 auf 82 im Jahr 1860 und 120 im Jahr 1870 gestiegen sei.34 Das alles bedeutete auch, dass der marktwirtschaftliche Wettbewerb zwischen den einzelnen Versicherungsgesellschaften erheblich an Schärfe gewann. Um die Jahrhundertmitte hatten viele Versicherungsgesellschaften ein ausgedehntes, hie­ rarchisches Netz aus General-, Haupt- und Unteragenturen geflochten, zuständig für die Akquise neuer Versicherungsverträge.35 An ihre Agenten schütteten die Versicherungsgesellschaften zeitgenössischen Berichten zufolge pro Vertragsab­ schluss eine reiche Provision von 12 bis 15 % der Versicherungssumme aus – ein 31

Brämer / Brämer (1894), S. 89 ff.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 83 ff.; Manes (1905), S. 44 ff. (mit ausführlichen statistischen Tabellen). 32 Eine Auflistung aller Gründungen auf dem Lebensversicherungsmarkt zwischen 1850 und 1876 findet sich bei Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 257 ff.; ausführlich dazu auch P.  Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 89 ff. 33 Ausführlich dazu P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 95 f. 34 Manes (1905), S. 44. Manes erklärte allerdings nicht, was er unter „größeren“ Versiche­ rern verstand; vermutlich diente dieser Begriff dazu, die hohe Zahl kleiner, nachbarschaftlich organisierter Brandversicherungsvereine etc. nicht in die Statistik einfließen zu lassen. De­ tailliertere Statistiken finden sich etwa bei Brämer / Brämer (1894), S. 245 f., 266 ff. (speziell zur Feuerversicherung) oder bei Manes (1905), S. 206 ff. (speziell zur Lebensversicherung). 35 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 40; von Liebig (1911), S. 117 ff.; Müssener (2008), S. 115 f.; von Staudinger (1858), S. 125 f.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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Anzeichen dafür, wie hart umkämpft der Versicherungsmarkt um 1850 gewesen sein musste.36 1. Die Historischen Hintergründe: Industrialisierung, Professionalisierung, Liberalisierung Was waren aber die Ursachen, die den Versicherungsvertrag um die Mitte des 19. Jahrhunderts von einem spezialisierten kaufmännischen Sicherungsgeschäft zu einem verbreiteten Massenphänomen verwandelten? Zum einen befand sich die deutsche Volkswirtschaft noch immer in einem Prozess der fortschreitenden Industrialisierung, der sich anfänglich vor allem auf die Kaufmannschaft und deren Produktionsmethoden ausgewirkt hatte, jetzt aber auch die Lebensweise der breiten Bevölkerungsmassen veränderte. Die Industria­ lisierung brachte nicht nur neuartige Brandherde wie etwa Dampfkessel, Leucht­ gase oder – am Ende des 19. Jahrhunderts – die Elektrizität mit sich.37 Darüber hinaus sorgte sie auch für eine zunehmende Verstädterung der vormaligen Land­ bevölkerung; sobald jedoch viele Menschen ohne nennenswertes Eigenkapital auf engstem Raum zusammenlebten, erwuchs daraus auch ein erhöhtes Bedürf­ nis nach der Absicherung gegen wachsende Brandrisiken.38 Auch der Wunsch nach einer privaten Todesfall- oder Altersvorsorge gewann mit den gewandelten gesellschaftlichen Verhältnissen an Bedeutung: nicht mehr die eigene Landwirt­ schaft oder das eigene Handwerk bildeten das finanzielle Rückgrat der neuen Stadtbevölkerung, sondern alleine der Arbeitslohn, regelmäßig in der industriel­ len Fabrikarbeit erwirtschaftet. Falls der finanzielle Versorger vorzeitig starb oder aber ein unerwartet hohes Alter erreichte, entfiel folglich die einzige Erwerbsquelle für seine Familie39 – hier vermochten die Lebensversicherer Abhilfe zu leisten. Auf der anderen Seite gingen mit der Industrialisierung aber auch gewandelte politische Vorstellungen einher, die das massive Wachstum des Versicherungs­ marktes zusätzlich begünstigten. Die Gedanken von Liberalismus, Kapitalismus und freier Marktwirtschaft waren schon während der „Ersten Gründungswelle“ der 1820er Jahre keine unbekannten Ideen gewesen, hatten sich aber zumindest in Deutschland noch in einer recht frühen Entwicklungsphase befunden. Wie erläu­ tert, mussten beispielsweise die in Preußen ansässigen Versicherer in jener frühen Phase noch den „Oktroi“ der Regierung, also die einzelgesetzliche Erlaubnis einho­ len, wenn sie das Versicherungsgeschäft in Form einer Aktiengesellschaft betreiben wollten – jene Erlaubnis erteilte das zuständige preußische Finanzministerium in 36

Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 29 f., 136 f.; von Liebig (1911), S. 56, 125. Zu den Auswirkungen der Industrialisierung: vgl. auch Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 34; Dreher (1991), S. 17 ff.; FS 125 Jahre Aachen-Münchener (1950), S. 49; Neugebauer (1990), S. 17; von Zedtwitz (2000), S. 163. 38 Zum Aspekt der Urbanisierung ausdrücklich auch Müssener (2008), S. 29. 39 Vgl. Körber, ZVersWiss 86 (1997), 491, 500 f. 37

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

der Regel nur, wenn es von der „Gemeinnützigkeit“ der Gesellschaft überzeugt war.40 30 Jahre nach dem Aufkommen der ersten großflächig operierenden Ver­ sicherungsgesellschaften hatten sich aber die Gedanken des Marktliberalismus in Preußen endgültig durchgesetzt. Schließlich war der Gedanke zur Staatsräson geworden, dass das freie, ungehinderte Wirken der Marktteilnehmer in der indus­ triellen Epoche einen effektiveren Beitrag zur Staatswirtschaft leisten könne als der staatliche Dirigismus des 18. Jahrhunderts.41 Dieser Gesinnungswandel lässt sich auch an der preußischen Reglementierung des formellen Konzessionsverfahrens ablesen. In den 1840er Jahren war das unge­ schriebene Oktroi-Verfahren in Preußen durch eine gesetzliche Regelung abgelöst worden, welche die förmliche Konzession von Versicherungsgesellschaften vor­ schrieb. Dabei hatte die Aufsichtsbehörde zunächst noch in ihrem eigenen Ermes­ sen zu beurteilen, ob überhaupt ein gesamtwirtschaftliches Bedürfnis nach einer weiteren Versicherungsgesellschaft bestehe.42 Per Erlass vom 02. 07. 185343 fiel dann auch die Bedürfnisprüfung weg: ab diesem Zeitpunkt überprüfte der preußi­ sche Staat endgültig nur noch materielle Konzessionsbedingungen, beispielsweise ob die Versicherungsgesellschaft über ein hinreichendes Aktienkapital bzw. eine ausreichende Anfangsbeteiligung verfügte oder ob der Versicherungsunternehmer als zuverlässig galt.44 Eigene volkswirtschaftliche Zweckmäßigkeitserwägungen ließ der preußische Staat jedoch zugunsten freier Marktmechanismen fallen. Andere deutsche Teilstaaten, insbesondere in Süddeutschland, gingen zwar einen anderen Weg, wie in etwa Württemberg, wo der Gesetzgeber nach wie vor an der ökonomischen Bedürfnisprüfung festhielt.45 Insgesamt war das formelle Konzessionssystem bis zum Inkrafttreten des Versicherungsaufsichtsgesetzes von 1901 jedoch in derart viele einzelstaatliche Reglements und Verordnungen zersplit­ tert, dass eine wirksame Kontrolle von Gesellschaftsgründungen kaum möglich 40

Zum Oktroi-Verfahren bereits unter § 2 C II 2. Zu den Ideen des Liberalismus: Atzpodien (1982), S. 80 f.; Brämer / Brämer (1894), S. 49 f.; R. Ehrenberg, ZVersWiss 2 (1902), 123, 129; von Liebig (1911), S. 31; Manes (1905), S. 24 f.; Müssener (2008), S. 319. 42 Allerhöchste Kabinettsorder vom 30. Mai 1841, die Ausdehnung der Bestimmungen in den §§.  14.  und 15. des Gesetzes über das Mobiliar-Feuer-Versicherungs-Wesen vom 8. Mai 1837 auf Versicherung von Immobilien bei in- und ausländischen Feuer-Versiche­ rungsgesellschaften betreffend (PrGS 1841, 122); das förmliche Verfahren der Konzession regelte aber erst das Gesetz, betreffend den Geschäftsverkehr der Versicherungsanstalten v. 17. 05. 1853 (PrGS 1853, 293). Vgl. Atzpodien (1982), S. 60 ff.; Brämer / Brämer (1894), S. 40; ­Duvinage (1987), S. 12; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 155, 163; Müssener (2008), S. 108. 43 Allerhöchster Elaß vom 2. Juli 1859, betreffend das Verfahren bei der Konzessionierung und Zulassung von Versicherungsgesellschaften (PrGS 1859, 394). 44 Atzpodien (1982), S. 65, Brämer / Brämer (1894), S. 36 ff.; V. Ehrenberg, Versicherungs­ recht (1893), S. 163 ff.; Müssener (2008), S. 109. 45 Dazu s. z. B. Art. 10 I 2 Gesetz, betreffend Abänderungen des Gesetzes vom 25. Mai 1830 über die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens (RegBl. Württemberg 1852, 125); vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 42 f. 41

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war.46 Schon Zeitgenossen kritisierten, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts, unter anderem durch das inhomogene staatliche Konzessions- und Auf­ sichtswesen, dem „Gründungsschwindel“ finanziell instabiler Gesellschaften Tür und Tor geöffnet werde und die marktwirtschaftliche Konkurrenz ungesunde For­ men annehme.47 Die teils gewollt zurückhaltende, teils schlicht und ergreifend ineffektive staatliche Aufsicht über das Versicherungswesen beförderte folglich die zahlreichen privaten Initiativen der 1850er und 1860er Jahre und trug so auch zum beinahe ungehemmten Wachstum des Versicherungsmarktes bei. Ein dritter Faktor, der den Sprung der Versicherung zu einem Massengeschäft begünstigt hat, lag zuletzt in der Professionalisierung der Versicherungstechnik selbst. Um das Jahr 1850 konnten die Versicherer schon auf einen reichhaltigen Erfahrungsschatz aus der Binnenversicherungspraxis zurückgreifen. Für die Technik der Feuerversicherung leistete ausgerechnet die Brandkata­ strophe von Hamburg im Jahre 1842 einen nicht zu unterschätzenden Beitrag. Der Brand war zunächst in einem Speicher im Hamburger Nikolaifleet ausgebrochen und wütete drei volle Tage zwischen dem 5. und dem 8. Mai 1842. Ihm fielen 4.219 Gebäude, sieben Kirchen und sogar das Hamburger Rathaus zum Opfer, das man gesprengt hatte, um die weitere Ausdehnung des Feuers zu unterbinden.48 Die Katastrophe belastete auch die involvierten Feuerversicherer schwer: die so­ genannte „Bieber’sche Anstalt“, die Association Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr, konnte nur rund 25 % aller Schäden decken und löste sich anschließend nach eingetretener Zahlungsunfähigkeit auf. Demgegen­ über konnte die seit 1676 bestehende Hamburger Generalfeuerkasse ihren Zah­ lungsverpflichtungen nur noch nachkommen, indem sie Staatsanleihen aufnahm, welche sie während der folgenden 40 Jahre nur mithilfe enormer Nachschussleis­ tungen ihrer Mitglieder zurückzahlen konnte.49 Doch auch viele auswärtige Ver­ sicherer wie die Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft oder die Gothaer Feuerversicherungsbank waren mit hohen Summen an der Abwicklung der Hamburger Brandschäden beteiligt.50 46

Alexander-Katz, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 56, 57; Dreher (1991), S. 25 f.; Duvinage (1987), S. 37; von Liebig (1911), S. 116; Manes (1905), S. 147 f.; Müssener (2008), S. 104. 47 Brämer / Brämer (1894), S. 89; Duvinage (1987), S. 37; Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 20; von Liebig (1911), S. 124. 48 Schaefer (1911), Bd. 1 S. 197 (zu den statistischen Daten). Vgl. auch Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 31 ff.; P. Koch, Geschichte der Versicherungs­ wirtschaft (2012), S. 80 f.; Masius (1846), S. 3; Ohlmeier / Spohnholtz, in: FS 300 Jahre Ham­ burger Feuerkasse (1976), S. 51, 63; Zwierlein (2011), S. 270 f. 49 Brämer / Brämer (1894), S. 244 f.; Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 33; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 81; Masius (1846), S. 4; Schaefer (1911), Bd. 1 S. 198. 50 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 33; FS 100 Jahre MünchenAachener in Bayern (1934), S. 19; FS 125 Jahre Aachen-Münchener (1950), S. 46 f.; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 81 f.; Masius (1846), S. 4; Müssener (2008), S. 63 f.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Das Feuerversicherungswesen nahm unter anderem die Brandkatastrophe von 1842 zum Anlass, seine Erfahrungen statistisch aufzubereiten, um auf künftige Großbrände ähnlichen Ausmaßes vorbereitet zu sein. Aus der Zeit nach dem Ham­ burger Brand stammen die ersten Brandursachenstatistiken, die von den Feuerver­ sicherungsgesellschaften gesammelt und ausgetauscht wurden; im Endeffekt konn­ ten alle beteiligten Versicherer ihre Risikoprämien so auf identischen tatsächlichen Grundlagen aufbauen.51 Der Versicherungsmathematik war es in der Folge mög­ lich, hinreichende Versicherungsprämien mit wesentlich größerer Exaktheit zu bestimmen. Auch auf die Entstehung eines rationellen Rückversicherungsbetriebs wird dem Hamburger Stadtbrand ein maßgeblicher Einfluss zugeschrieben.52 2. Die Symptome: Einseitige Rechtssetzungsmacht und Verbandsbildung unter den Versicherern All diese Gründe hatten zur Mitte des 19. Jahrhunderts schließlich denkbar günstige Rahmenbedingungen geschaffen, um den Sprung des Versicherungsver­ trages zu einem Massengeschäft zu ermöglichen. Das Interesse der hier vorliegen­ den Untersuchung wecken nun aber in erster Linie die Auswirkungen, die parallel zu jenem volkswirtschaftlichen Entwicklungsschritt auf versicherungsrechtlicher Ebene stattfanden, bevor das gesamte Rechtsgebiet im Jahr 1908 schließlich zur Kodifikation gelangte. Die einzelnen rechtlichen Fortschritte, die das Gesicht der Feuer- und Lebens­ versicherungsbedingungen nach 1850 veränderten, werden im Zentrum der beiden folgenden Abschnitte stehen. Eine Gemeinsamkeit lässt sich jedoch in allen Zwei­ gen des Binnenversicherungsrechts feststellen: statt einer verhältnismäßig über­ schaubaren Anzahl von geschäftsgewandten Kaufleuten stand dem Versicherer jetzt eine Masse an anonymen Versicherungsnehmern gegenüber. Er befand sich nicht mehr in der Rolle als gleichgeordneter Vertragspartner, der bei der Kauf­ mannschaft um einzelne Vertragsabschlüsse werben musste, sondern war de facto in der Lage, den Versicherungsnehmern praktisch einseitig sämtliche Vertrags­ bedingungen zu diktieren, ohne noch auf ernsthafte Widerstände zu stoßen. Dem individuellen Versicherungsnehmer blieb meist keine andere Option, als den Ver­ trag mit seinen vorgegebenen Bedingungen insgesamt zu akzeptieren oder eben komplett ohne Versicherungsschutz dazustehen.53 51

von Liebig (1911), S. 196 ff.; Masius (1846), S. 4. Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 33 f.; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 37; Döge (2016), S. 169; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 85 ff. (ausführlich zu einzelnen Rückversicherungsgesellschaften); ders., in: HdV (1988), 689, 692; von Liebig (1911), S. 146; Masius (1846), S. 4; Neugebauer (1990), S. 21. 53 Vgl. Alexander-Katz, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 56, 57; Brämer / Brämer (1894), S. 49 f.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 25, 79; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIV; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 336 f.; L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 21 (allgemein zur Entwicklung von AGB als einseitig verfasstem Vertragsrecht). 52

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Man mag nun einwenden, dass die einzelnen Versicherungsgesellschaften sich doch unter Gesichtspunkten der marktwirtschaftlichen Konkurrenz – ganz dem marktwirtschaftlichen Ideal entsprechend  – gegenseitig davon abhalten sollten, ihre Versicherungsbedingungen zu stark zum eigenen Vorteil auszugestalten. Al­ leine entsprach das nicht der Realität. Insbesondere im Feuerversicherungsrecht erfolgte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine weitreichende Verbandsbildung unter den größeren Feuerversicherungsanstalten, welche den Wettbewerb um eine publikumsfreundliche Gestaltung der AVB weitestgehend verhinderte. Erfolglose Initiativen zur Gründung solcher Verbandsorganisationen, vornehm­ lich noch zum systematischen Austausch von Wissen und Erfahrungen, hatten 1846 und 1852 schon Ernst Albert Masius und Friedrich Knoblauch unternommen.54 Von großem Einfluss auf die deutsche Feuerversicherungswirtschaft war aber erst der Verband deutscher Privat-Feuer-Versicherungs-Gesellschaften, eine Vereini­ gung, die am 29. 11. 1871 von 18 Mitgliedsgesellschaften aus der privaten Feuer­ versicherungswirtschaft begründet worden war.55 Der „Verband“ veröffentlichte in den Jahren 1874 und 1886 jeweils standardisierte Feuerversicherungsbedingungen, die freilich für die Mitgliedsgesellschaften nicht letztverbindlich waren, aber de facto von vielen Versicherern in zumindest ähnlicher Weise verwendet wurden.56 Neben jenen Verband von 1871 trat 1896 der Verband deutscher Feuer-Versiche­ rungsgesellschaften auf Gegenseitigkeit, dessen wirtschaftlich stärkstes Mitglied die Gothaer Feuerversicherungsbank war.57 Schließlich reorganisierten sich zahlreiche Feuerversicherungsgesellschaften am 15. 11. 1900 in der 40 Mitglieder umfassenden „Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungsgesellschaften“.58 Diese trieb die Vereinheit­ lichungstendenzen auf dem Feuerversicherungsmarkt noch weiter voran, indem sie für bestimmte industrielle und landwirtschaftliche Brandversicherungen „Mi­ nimaltarife“ festlegte, also gewisse, risikoabhängig gestaffelte Mindestversiche­ rungsprämien, die keiner der beteiligten Versicherer unterschreiten sollte.59 Über die „Vereinigung“ ergoss sich schon bald nach ihrer Gründung die Kritik, sie sei ein reines Preiskartell – und tatsächlich hatte sie kurz nach ihrer Gründung öffent­ 54

Dreher (1991), S. 23; von Liebig (1911), S. 189; Müssener (2008), S. 142; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 16 Fn. 1. 55 Duvinage (1987), S. 53; von Liebig (1911), S. 191; Müssener (2008), S. 143; Manes (1905), S. 84; Neugebauer (1990), S. 149; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 16 Fn. 1. 56 Allgemeine Versicherungs-Bedingungen des Verbandes Deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38); Allgemeine Versicherungs-Bedingun­ gen des Verbandes deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (SammlungAVB  I,  75). Vgl. Duvinage (1987), S. 53 f.; Müssener (2008), S. 145 f.; Neugebauer (1990), S. 149 f.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 163. 57 von Liebig (1911), S. 193; Manes (1905), S. 84; P. Koch, Geschichte der Versicherungs­ wirtschaft (2012), S. 105. 58 Duvinage (1987), S. 55; von Liebig (1911), S. 193; Manes (1905), S. 85. 59 Vgl. Duvinage (1987), S. 55; von Liebig (1911), S. 194 (Regulierung des Wettbewerbs als satzungsmäßige Aufgabe der „Vereinigung“); Manes (1905), S. 85; Müssener (2008), S. 360.

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lich zum Boykott eines jungen Mitbewerbers, der Feuerversicherungs-­Gesellschaft der Leipziger Buchdrucker, aufgerufen, weil der neue Akteur relativ versicherten­ freundliche AVB verwendet hatte und sich darüber hinaus nicht an die gemeinsa­ men Preisabsprachen gehalten hatte.60 Derartige Absprachen über gemeinsame AVB und vereinheitlichte Versiche­ rungsprämien dominierten allerdings vornehmlich das Feld der Feuerversiche­ rung, während die Lebensversicherungspraxis von solchen Vorgängen relativ unberührt blieb. Auch in der Lebensversicherungsbranche zeigten sich zwar zur gleichen Zeit einige Tendenzen zur Verbandsbildung: 1869 war der Verein Deut­ scher Lebensversicherungs-Gesellschaften ins Leben gerufen worden.61 Seine Aufgabe beschränkte sich jedoch auf den wissenschaftlichen Austausch von Ver­ sicherungsstatistiken und anderen Erfahrungen. Ein Projekt zur Vereinheitlichung der Allgemeinen Lebensversicherungsbedingungen hatte der Verein in Angriff genommen und bis 1875 standardisierte AVB für Lebensversicherungsverträg entwickelt,62 allenthalben gelangten diese in der Praxis kaum zur Anwendung.63 Mutmaßlich hatte die Lebensversicherungspraxis zu dieser Zeit bereits ein so viel­ fältiges Repertoire an maßgeschneiderten Versicherungsprodukten entwickelt, dass sich deren diverse Spielarten einfach nicht mehr praxistauglich auf einen ge­ meinsamen Nenner bringen ließen.64 So hatten sich bis ins 20. Jahrhundert hinein kartellartige Strukturen besonders im Feuerversicherungsrecht verfestigt. Ein wirtschaftliches Gegengewicht zu den Organisationen der Feuerversicherer bildete sich hingegen erst viel später. In den 1880er Jahren drängten zum Beispiel Landwirtschafts- und Industrieverbände auf eine Reform der strengen, als stark einseitig empfundenen Feuerversicherungs­ bedingungen von 1874.65 Solche Initiativen von Seiten der Versicherungsnehmer beschränkten sich aber lange auf den Bereich der gewerblichen Feuerversicherung, bis 1902 mit dem Deutschen Feuerversicherungs-Schutzverband auch eine Orga­ nisation privater Versicherungsnehmer entstand.66 Als der Gesetzgeber sich um die Jahrhundertwende ernsthaft mit der Kodi­ fikation eines gesamtdeutschen Versicherungsvertragsgesetzes befasste, stieß er folglich auf eine Versicherungslandschaft, die zu großen Teilen noch immer von der faktisch einseitigen Vertragsgestaltungsmacht der Versicherungsgesellschaf­ ten dominiert war. Im Feuerversicherungsrecht kam noch die starke Position 60

von Liebig (1911), S. 53; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 242. Duvinage (1987), S. 53; Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 186. 62 Allgemeine Versicherungsbedingungen der zum Verein Deutscher LebensversicherungsGesellschaften gehörigen Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44). 63 Darauf weist der Deutsche Verein für Versicherungswissenschaft in der 1909 herausge­ gebenen Sammlung-AVB II, S. 1 ausdrücklich hin. 64 Zu den zahlreichen Spielarten der Lebensversicherung s. sogleich unter § 3 B II 2. 65 Duvinage (1987), S. 54; Müssener (2008), S. 146. 66 Duvinage (1987), S. 55; Manes (1905), S. 90 f. 61

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der erwähnten Verbandsorganisationen hinzu, welche den marktwirtschaftlichen Wettbewerb – insbesondere auch um die Gestaltung der Feuerversicherungsbedin­ gungen – weitgehend unterbunden hatte. Welche Eindrücke all diese Rahmenum­ stände nun im vertraglichen Binnenversicherungsrecht hinterlassen haben, soll im Folgenden jeweils für das Feuer- und das Lebensversicherungsrecht eingehender eruiert werden.

II. Die Entwicklung der Feuerversicherungspraxis ab den 1850er Jahren Die wirtschaftliche Überlegenheit, die den Versicherungsgesellschaften gegen­ über der anonymen Masse von Versicherungsnehmern allmählich zufiel, schlug sich ganz besonders in der rechtlichen Ausgestaltung der Feuerversicherungs­ bedingungen nieder. Die AVB der einzelnen Versicherer67 strebten im 19. Jahrhun­ dert allmählich einer uniformen Gestaltung entgegen. Nach den Erkenntnissen des vorangehenden Abschnitts dürfte es kaum noch überraschen, dass sich die Versi­ cherungsbedingungen dabei zunehmend zu Ungunsten der Versicherungsnehmer wandelten, wo doch die einzelnen Versicherungsnehmer auf die Gestaltung des Vertragsrechts überhaupt keinen bestimmenden Einfluss geltend machen konnten. Tatsächlich gelten die standardisierten Bedingungen des Verbands deutscher Pri­ vat-Feuerversicherungs-Gesellschaften von 1874 in der moderneren Literatur als Höhepunkt dieser Rechtsentwicklung;68 erste Tendenzen in diese Richtung haben sich aber nicht erst mit der Verbandsbildung, sondern schon knapp vor 1850 ge­ zeigt69 – in einer Phase, in der die Feuerversicherung gerade an der Schwelle zum Massengeschäft stand. 67 Im Folgenden verwendete Primärquellen: Verfassung der Berlinischen Feuerversiche­ rungs-Anstalt (1812) (Sammlung-AVB  I,  22); Verfassung der Feuer-Versicherungsbank für den deutschen Handelsstand in Gotha (1820) (Sammlung-AVB I, 6); Allgemeine Versiche­ rungs-Bedingungen der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1825 (SammlungAVB I, 26); Statuten der Württembergischen Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB I, 14); Allgemeine Versicherungs-Bedingungen der Assecuranz-Anstalt der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30); Allgemeine Ver­ sicherungs-Bedingungen der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Samm­ lung-AVB  I,  34); Allgemeine Versicherungs-Bedingungen der Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1860 (Müssener [2008], S. 378); Allgemeine Versi­ cherungs-Bedingungen des Verbandes Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaf­ ten (1874) (Sammlung-AVB I, 38); Allgemeine Versicherungs-Bedingungen des Verbandes deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB  I,  75); Allge­ meine Versicherungs-Bedingungen der Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesell­ schaft von 1888 (Müssener [2008], S. 383); Vorläufige Allgemeine Versicherungsbedingun­ gen der Württembergischen Privatfeuerversicherung auf Gegenseitigkeit in Stuttgart (1905) (Sammlung-­AVB I, 71). 68 Vgl. Neugebauer (1990), S. 150, wonach sich die AVB nach 1874 wieder leicht zugunsten des Versicherungsnehmers geändert hätten (dazu sogleich). 69 Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 144 ff. (zum Zustand der Praxis nach ca. 1830).

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1. Diversifizierung und Ausweitung der versicherten Risiken Wenngleich in der akademischen Literatur häufig die Wandlung der AVB zum Nachteil der Versicherungsnehmer hervorgehoben wird, so darf auch nicht über­ sehen werden, dass die Feuerversicherer zur gleichen Zeit das Repertoire ihrer Versicherungsleistungen signifikant vergrößerten.70 Die Gefahren, gegen die sich ein Versicherungsnehmer absichern konnte, wurden immer vielfältiger, während innerhalb der Feuerversicherungspraxis etliche Unterarten von industriell oder landwirtschaftlich orientierten Versicherungsmodellen heranwuchsen. Noch die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft hatte in ihren ersten AVB von 1825 alleine Brandschäden samt den dazugehörigen Löschschäden für ersatz­ fähig gehalten.71 Zur „Explosion von Dampfmaschinen und Gasapparaten“ hieß es aber ausdrücklich, solche würden „nicht wie ein Brandschaden betrachtet, insofern nicht dadurch ein wirklicher Brand entsteht“, und selbst im letzteren Fall waren nicht die Schäden an der Maschine selbst, sondern nur an den übrigen versicherten Gegenständen des Betriebs ersatzfähig.72 Man muss gar nicht einmal bis zur zweiten Jahrhunderthälfte schreiten, um zu beobachten, wie sich der Katalog der versiche­ rungsfähigen Risiken fortwährend verlängerte: schon vor 1850 hatten viele Gesell­ schaften begonnen, auch gegen Blitzschlag zu versichern, und zwar auch gegen den sogenannten „kalten Schlag“, den Blitz ohne anschließende Brandentwicklung.73 Desgleichen antworteten die Feuerversicherer auf den enormen industriellen Fortschritt der Haushalts- und Fabriktechnologie mit einer parallelen Fortbildung ihrer Versicherungstechnik: nach den ersten „Verbandsbedingungen“ von 1874 ersetzte der Versicherer zum Beispiel auch „Schäden durch Explosion des in den Versicherungsgebäuden angewandten Leuchtgases“, namentlich unabhängig von einer darauffolgenden Brandentwicklung.74 In den zweiten Verbandsbedingungen 70

Ausdrücklich von Liebig (1911), S. 81; Neugebauer (1990), S. 144. § 2 I, II AVB Aachener Feuerversicherung-Gesellschaft (1825). Ähnlich Art. 43 II Ver­ fassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); Art. 109 AVB Württembergische Pri­ vat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828). Vgl. von Liebig (1911), S. 81 f. 72 § 4 II 1 AVB Aachener Feuerversicherung-Gesellschaft (1825); ähnlich Art. 3 I 2 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 1 III AVB Magdeburger Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft (1845); § 1 S. 3 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1860). Vgl. Müssener (2008), S. 173 (zu den AVB der „Aachener“); Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 163. 73 Art. 1 S. 3 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 1 I Hs. 1 AVB Mag­ deburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 1 S. 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 1 I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften (1874); § 1 I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaften (1886); § 1 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); Art. 28  I  1 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 231; von Liebig (1911), S. 83; Müssener (2008), S. 172 (der diese Entwicklung auf die Spruchpraxis der Rheinischen Rechtsprechung zurückführt). 74 § 1 II 3, 4 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); so auch § 1 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888). Vgl. von Liebig (1911), S. 83; Müssener (2008), S. 173. 71

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von 1886 wurde sogar schon die Möglichkeit angedeutet, dass „die Gesellschaft durch besondere Übereinkunft die Versicherung gegen andere, als durch Leucht­ gas hervorgerufene Explosionsschäden übernommen hat.“75 Zeitgleich dazu spezialisierten sich einige privatwirtschaftliche Versicherungs­ produkte zusehends auf bestimmte Formen industrieller oder landwirtschaftlicher Risiken. Neben die standardmäßig verwendeten Allgemeinen Versicherungsbe­ dingungen traten damit sogenannte „Besondere Versicherungsbedingungen“, die ebenfalls nichts anderes waren als einseitig vorformulierte Vertragstexte, nur dass sie dabei alleine auf spezifische Berufsgruppen oder Feuerrisiken maßgeschnei­ dert waren.76 So existierten gegen 1900 beispielsweise spezielle Versicherungen, die Mühlen oder landwirtschaftliche Erzeugnisse vor Feuergefahr schützten;77 ebenso hatten viele Gesellschaften spezielle Policen für Handwerksbetriebe oder industrielle Dampfkessel entwickelt, um nur einige unter vielen Beispielen auf­ zuzählen.78 Die Feuerversicherungslandschaft hatte damit einen hohen Grad an Diversität gewonnen. Allerdings warfen solche spezialisierten Policen vor allen Dingen versiche­ rungstechnische, weniger aber versicherungsrechtliche Fragen auf. Die meisten von ihnen beinhalteten nur Sorgfaltsmaßregeln zur Prävention und Bekämp­ fung von Bränden: die Literatur beschäftigte sich zum Beispiel mit sogenannten „Hobelspäne­k lauseln“, nach denen ein Tischler Tag für Tag nach Betriebsschluss alle Holzspäne vom Fußboden auffegen musste, wenn er nicht seinen Versiche­ rungsschutz riskieren wollte.79 Oftmals führten die von den Versicherern vorge­ schriebenen Sorgfaltsmaßregeln jedoch auch dazu, dass in zahlreichen Betrieben 75 § 1  II Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886). So auch § 1 II AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); Art. 28 I 2 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905). Zum Ersatz von Explosionsschäden auch Brämer / Brämer (1894), S. 231; Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVers­ Wiss 3 (1903), 253, 256; von Liebig (1911), S. 84; Müssener (2008), S. 173; Neugebauer (1990), S. 144; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 63. 76 Brämer / Brämer (1894), S. 26; Müssener (2008), S. 150; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 9; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 163. 77 Vgl. z. B. Bedingungen für landwirtschaftliche Versicherungen der Magdeburger Feuer­ versicherungs-Gesellschaft von 1848 (Sammlung-AVB I, 110); Besondere Bedingungen für Mühlenversicherungen der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1879 (Samm­ lung-AVB I, 112); Bedingungen für landwirtschaftliche Versicherungen des Verbandes Deut­ scher Privat-Feuerversicherung-Gesellschaften von 1884 (Sammlung-AVB I, 116). 78 Vgl. z. B. Besondere Versicherungs-Bedingungen für Fabriken und gewerbliche Anlagen der Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften von 1899 (Sammlung-AVB I, 118). 79 Zu solchen Klauseln in der Praxis, s. z. B. Ziff. 10 Mühlenversicherungsbedingungen der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1879); § 15 II gewerbliche Versicherungsbe­ dingungen der Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaften (1899). Zu den „Hobelspäne-Klauseln“ insgesamt auch Denkschrift der Feuerversi­ cherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 274; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 222; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 372.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Brandschutzeinrichtungen wie zum Beispiel Sprinkleranlagen eingebaut wurden – so waren zahlreiche Fortschritte in der Brandprävention dem Wirken der Feuer­ versicherungsgesellschaften zuzuschreiben.80 Für die Genese allgemeiner rechtsdogmatischer Grundsätze konnten jene „Be­ sonderen Versicherungsbedingungen“ indessen kaum einen Beitrag leisten, und so wird sich die Untersuchung im Folgenden wieder auf die Allgemeinen Versiche­ rungsbedingungen der Feuerversicherungsgesellschaften fokussieren. 2. Zunehmende Härten in den Feuerversicherungsbedingungen des 19. Jahrhunderts Während die Feuerversicherer im Lauf des 19. Jahrhunderts große versiche­ rungstechnische Fortschritte unternommen hatten, immer komplexere Risiken unter Deckung bringen konnten und so praktisch in alle gewerblichen und pri­ vaten Lebensbereiche vordrangen, stand dieser durchaus versichertenfreund­ lichen Entwicklung tatsächlich eine stetige Verschärfung der Vertragsbedingun­ gen gegenüber.81 a) Gründe und Symptome der Rechtsentwicklung bis in die 1880er Jahre Die Versicherungsgesellschaften selbst gründeten diese Tendenz zu immer härteren AVB-Klauseln in ihren Publikationen auf die „Sicherheit des Geschäfts­ betriebes“, die nur gewährleistet werden könne, wenn der Versicherungsnehmer für jegliches vertragswidriges Verhalten sanktioniert werde. Ansonsten werde dem Missbrauch der Versicherung Tür und Tor geöffnet, die vorsätzliche „Spe­ kulationsbrandstiftung“ befördert oder zumindest der Versicherte zu einem nach­ lässigen Umgang mit den versicherten Gegenständen animiert.82 Darüber hin­ aus wollten die Gesellschaften durch die erörterten strengen Sanktionsklauseln auch das Gleichgewicht von vertraglicher Leistung und Gegenleistung gewahrt wissen: wenn also beispielsweise ein Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss oder während der Versicherungsdauer wesentliche feuergefährliche Umstände verschweige, so trage der Versicherer im Endeffekt ein unerkannt hohes Risiko, zu dem die gezahlte Versicherungsprämie kein hinreichendes Äquivalent mehr 80

FS 125 Jahre Aachen-Münchener (1950), S. 108 ff.; von Liebig (1911), S. 74, 77; Manes (1905), S. 35; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 224 ff. (zu den „Vorsichtsbedingun­ gen“). 81 Insgesamt Brämer / Brämer (1894), S. 49 f., 265; Duvinage (1987), S. 54; Müssener (2008), S. 311; Neugebauer (1990), S. 145. 82 Während des Gesetzgebungsverfahrens zum VVG u. a. ausdrücklich eingewandt von Bischoff, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 65, 70; Lexis, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 50, 51; Vatke, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 375, 376. Vgl. Duvinage (1987), S. 56; V. Ehrenberg, Versicherungs­ recht (1893), S. 80.

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darstelle. Dadurch würden jedoch die Grundlagen der rationell kalkulierenden Versicherungstechnik erodieren oder zumindest enorme Prämiener nötig sein, und so müsse es dem Versicherer möglich sein, jede Störung des vertraglichen Synal­ lagmas effektiv zu unterbinden.83 Besonders ein Beispiel aus dem rechtlichen Bereich der Gefahrerhöhung kann schlaglichtartig illustrieren, wie derartige Erwägungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die Richtung immer härterer AVB-Klauseln zulasten der Versicherungsnehmer führten. Zur Veranschaulichung muss man lediglich ent­ sprechende AVB-Klauseln aus der ersten Hälfte und aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einander gegenüberstellen. Wenn sich während der Dauer des Versicherungsverhältnisses die übernommene Gefahr erhöht hatte, etwa weil in der unmittelbaren Nachbarschaft ein feuergefährlicher Tischlerbetrieb errichtet worden war, so oblag es dem Versicherungsnehmer schon vor 1850, der Versiche­ rungsgesellschaft schnellstmöglich eine Gefahrerhöhungsanzeige zu erstatten, wenn er seinen Versicherungsschutz behalten wollte. Eine für jene Zeit typische Klausel findet sich unter anderem in den AVB der Magdeburger Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft von 1845:84 „§ 7. [1] Während der Dauer der Versicherung ist der Versicherte in folgenden Fällen zu einer sofortigen Anzeige an den Agenten der Gesellschaft, durch dessen Vermittlung die Versicherung geschlossen ist, verpflichtet: […] c) wenn wesentliche die Gefahr vermeh­ rende Veränderungen an den versicherten, oder versicherte Gegenstände enthaltenden Gebäuden vorgenommen, wenn feuergefährliche Gewerbe in demselben, oder an diesel­ ben grenzend errichtet, wenn innerhalb einer Entfernung von fünfzig Schritten von den­ selben: Stroh-, Heu oder Fruchtschober, Strohdächer, Teerkochereien, Schauspielhäuser, Magazine und Fabriken für Schießpulver oder chemische Zündhölzer, Spiritus-, Zucker-, Sirup- oder Krappfabriken – oder innerhalb einer Entfernung von zwanzig Schritten: Holz­ dächer, Maschinenspinnereien oder Papierfabriken eingerichtet oder erbaut, wenn endlich feuergefährlichere Gegenstände, als die ursprünglich angegebenen, darin niedergelegt werden; d) wenn bewegliche Gegenstände aus den Räumen gebracht werden, in welchen sie versichert sind. [2] Diese Anzeigen müssen vor, oder wenigstens unmittelbar nach den Veränderungen geschehen und zwar schriftlich, auf zuverlässigem Wege, sonst wird die Versicherung ungültig. § 8. [1] Ist in vorstehenden Fällen die Anzeige gemacht, so hängt es von der Gesellschaft ab, zu bestimmen, ob die Versicherung zu dem bisherigen oder – bei etwa erhöhtem Risiko – zu einem erhöhten Prämiensatze fortdauern, oder aber ganz aufhören soll. [2] In allen Fällen, wo 83

Jolly, Zs. f. dt. Recht 11 (1847), 317, 387 (aus der Sicht einer Versicherungs-Aktienge­ sellschaft); Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 34; Lexis, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 50, 52; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 37 f. (betont die einseitige Entwicklung zugunsten der Ge­ sellschaften); vgl. Rüdiger, ZVersWiss 3 (1903), 241, 242. 84 Ähnlich schon Art. 40 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); § 30 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Sammlung-AVB I, 6); §§ 10, 11 S. 1 AVB Aachener Feuerversicherung-Gesellschaft (1825); Art. 8 I AVB Bayerische Hypothekenund Wechselbank (1836). Vgl. auch von Liebig (1911), S. 174; Malß, Betrachtungen (1862), S. 44; Müssener (2008), S. 217 ff. (zu den AVB der „Aachener“); Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 356.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

die Versicherung vor dem Ablaufe derselben aufhört, verbleibt die für das laufende Jahr gel­ tende Prämie der Gesellschaft; doch wird die Direktion in solchen Fällen, wo die das Aufhö­ ren der Versicherung veranlassende Veränderung nicht vom Willen des Versicherten abhing, freiwillig eine teilweise Rückzahlung der Prämie nach Verhältnis der Zeit gewähren.“

Die Privatversicherer hatten in dieser Hinsicht schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit recht strengen Maßstäben operiert: sollte der Versicherungs­ nehmer die Erhöhung der Feuergefahr nicht unmittelbar zur Anzeige bringen, so drohte ihm ipso iure der Verfall seines Versicherungsvertrages, ohne dass es in irgendeiner Weise auf sein Verschulden an der unterlassenen Anzeige ankam.85 Auch wenn der Versicherungsnehmer im obigen Beispiel die Existenz des Tisch­ lerbetriebs beispielsweise alleine aufgrund eines Poststreiks nicht angezeigt hatte, traf ihn mithin die harte Sanktion der Vertragsnichtigkeit bei gleichzeitigem Prä­ mienverfall (§ 7 II). Doch selbst, wenn er die vorgeschriebene Anzeige ordnungs­ gemäß getätigt hatte, verblieb der Gesellschaft die willkürliche Entscheidung, ob sie den Vertrag fortführen oder aber auflösen wollte (§ 8 I). Die Verbandsbedingungen von 1874, vom Verband deutscher Privat-Feuerver­ sicherungs-Gesellschaften de facto einseitig festgelegt, gingen gegen den Versi­ cherungsnehmer jedoch noch um eine weitere Stufe härter vor. Nach dem Willen der Verbandsgesellschaften brachte nunmehr jegliche Gefahrerhöhung, ganz gleich ob vom Versicherungsnehmer herbeigeführt oder zufällig eingetreten, den Vertrag schon präventiv zum Erlöschen. Es war sodann ins Belieben der Gesellschaft ge­ stellt, ihn wieder in Kraft zu setzen:86 „§ 8. Wenn im Laufe der Versicherung die Feuergefährlichkeit sich vermehrt, oder ver­ sicherte Gegenstände noch anderswo versichert werden, so erlischt die Entschädigungs­ verpflichtung bezüglich der betroffenen Gegenstände. Wenn versicherte Gegenstände transloziert werden, oder, außer Erbschaftsfällen, den Eigentümer wechseln, so erlischt die Entschädigungsverpflichtung bezüglich der betroffenen Gegenstände. Die Entschädigungs­ verpflichtung tritt jedoch wieder in Kraft, wenn die Gesellschaft nach Kenntnisnahme des betreffenden Umstandes sich zur Fortsetzung der Versicherung schriftlich bereit erklärt hat. Zur Rückerstattung der für das laufende Jahr gezahlten Prämie ist die Gesellschaft in keinem Falle verbunden.“

Damit mussten die Versicherer unter keinen Umständen mehr eine auch nur kurzzeitige Störung des vertraglichen Austauschverhältnisses befürchten. Die rechtliche Stellung des Versicherungsnehmers hingegen hatte sich im Vergleich zur ersten Jahrhunderthälfte nochmals um Einiges verschlechtert. Der beobachtete Hang zu einseitigen, den Vertragspartner benachteiligenden AVB zeigt – neben­ bei bemerkt – deutliche Parallelen zur generellen Entwicklung Allgemeiner Ge­ 85

Ähnlich Duvinage (1987), S 57 (zum gleichen strengen, verschuldensunabhängigen Maß­ stab bei fehlerhafter vorvertraglicher Gefahranzeige). 86 Ähnlich § 5 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860). Zur Behandlung der Gefahrerhöhung in den meisten AVB, vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 304 ff.; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 34; Lewis (1889), S. 199 f.

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schäftsbedingungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf. Auch im Transport-, Gast- oder Mietgewerbe lässt sich also zur gleichen Zeit eine ähnliche Tendenz zu unilateralen, scharfen AGB-Klauseln feststellen.87 b) Die Verbandsbedingungen von 1886: das Ende des Entwicklungstrends zu immer härteren AVB-Klauseln Mit der Fassung jener Verbands-AVB hatte die Entwicklung zu immer nachtei­ ligeren Vertragsbedingungen allerdings tatsächlich ihren Zenit erreicht. Seit den 1880er Jahren hatten sich auch einige gewerbliche, landwirtschaftliche und indust­ rielle Versicherungsnehmer zu Verbandsorganisationen zusammengeschlossen, die ein wirtschaftliches Gegengewicht gegenüber dem Verband der Feuerversicherer bilden konnten. Diese Versichertenverbände drängten in der Folge darauf, die Ver­ bandsbedingungen auch den Bedürfnissen der versicherten Wirtschaftszweige an­ zupassen. Im Jahr 1886 reformierte der Verband nach zwei Jahren intensiver Ver­ handlungen mit dem Deutschen Landwirtschaftsrat, der Berliner Kaufmannschaft und mehreren Handelskammern seine standardisierten AVB; wie auch schon die AVB von 1874 dienten die AVB von 1886 als „Musterbedingungen“ sowohl für den gewerblichen als auch für den privaten Bereich.88 Auch wenn der Zuschnitt dieser überarbeiteten Verbandsbedingungen noch immer die überlegene wirtschaftliche Position der Versicherungsgesellschaften erkennen ließ, waren einige Bestimmun­ gen tatsächlich merklich abgemildert worden. Entsprechendes lässt sich wiederum exemplarisch an der einschlägigen AVB-Klausel zur Gefahrerhöhung ablesen, wel­ che den Versicherungsnehmern nunmehr einige Zugeständnisse machte:89 „§ 5. [1] Wenn der Versicherte im Laufe der Versicherung 1. eine Vermehrung der Feuerge­ fährlichkeit herbeiführt oder zuläßt, 2. versicherte Gegenstände noch anderweit versichert, 3. sie in eine andere Lokalität als diejenige, wo sie versichert sind, verbringt oder verbringen läßt, oder wenn 4. versicherte Gegenstände, abgesehen von Erbschaftsfällen, den Eigentü­ mer wechseln, so ruht bis zur schriftlichen Genehmigung dieser Veränderungen seitens der Gesellschaft oder bis zur Wiederherstellung des früheren Zustandes die Entschädigungs­ verpflichtung der Gesellschaft, und zwar in den Fällen unter 1. und 2. bezüglich aller, in den Fällen unter 3. und 4. bezüglich der davon betroffenen versicherten Gegenstände. [2] Umstände, welche, unabhängig von dem Willen des Versicherten eintretend, die Feuer­

87

Dazu vertieft Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 141 ff. Duvinage (1987), S. 54; Neugebauer (1990), S. 150 f.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 163 f. Prölss merkt dabei an, dass kurz zuvor auch die auf den gewerblichen oder landwirt­ schaftlichen Sektor spezialisierten „Besonderen Versicherungsbedingungen“ einer Reform unterzogen worden waren; die „Allgemeinen Versicherungsbedingungen“ von 1874 bzw. 1886 waren demgegenüber nicht auf den gewerblichen Bereich beschränkt. 89 So auch § 5 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); ähnlich Art. 25, 26 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905). Vgl. auch Denk­ schrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 273; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 218 (beton die anhaltende Strenge der AVB). 88

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

gefährlichkeit vermehren, werden nur dann den unter 1. aufgeführten Umständen gleich geachtet, wenn der Versicherte unterläßt, der Gesellschaft nach erlangter Kenntnis davon ohne Verzug schriftlich Anzeige zu machen. Erstattet aber der Versicherte diese Anzeige ohne Verzug, so ist die Gesellschaft, falls sie die Versicherung nicht fortsetzen will, berech­ tigt, die letztere durch schriftliche Anzeige mit Ablauf von zwei Wochen nach Zustellung jener Anzeige aufzuheben.“

Immerhin konnte sich der Versicherungsnehmer dank der Intervention der Landwirtschafts- und Gewerbeverbände nun wieder darauf verlassen, dass er sei­ nen Leistungsanspruch nicht einfach ipso iure verlor – möglicherweise sogar, be­ vor er selbst von den gefahrerhöhenden Tatsachen Kenntnis erlangt hatte. Doch alle Nachteile und Härten, die der Versicherungsnehmer nach den Verbandsbedin­ gungen in Kauf zu nehmen hatte, fielen auch 1886 nicht restlos weg. Im Gegenteil zeugen auch die zweiten Verbandsbedingungen noch von der überlegenen Markt­ stellung der Feuerversicherer: zum Beispiel spielte es auch unter den reformierten Bedingungen keine tragende Rolle, ob der Versicherungsnehmer die Gefahrer­ höhungsanzeige schuldhaft90 unterlassen hatte oder ob sich der streitige Gefahr­ umstand letztlich überhaupt kausal auf den Eintritt eines etwaigen Versicherungs­ falles ausgewirkt hatte. 3. Die materielle Versicherungsaufsicht im Feuerversicherungsrecht vor 1901 Zwar waren die gesetzgeberischen Initiativen zur Kodifikation des Binnenver­ sicherungsrechts während des gesamten 19. Jahrhunderts niemals mit Erfolg ge­ krönt – doch immerhin fanden sich in einigen deutschen Einzelstaaten schon ab den 1830er Jahren punktuelle Vorschriften zur materiellen Versicherungsaufsicht. Sie waren auf die Feuerversicherung beschränkt. Angesichts der soeben illustrier­ ten, einseitigen Vertragsbestimmungen, deren Entwicklungstendenz jedenfalls bis 1874 vollkommen zulasten des Versicherungsnehmers ging, sollte man aus der heutigen Perspektive doch erwarten, dass jene Vorschriften der Versicherungs­ aufsicht wenigstens punktuell gegen die ein oder andere Praxis der Feuerversi­ cherungsgesellschaften intervenierten. Die materielle Versicherungsaufsicht ab den 1830er Jahren ließ allerdings nichts davon erkennen. Im Gegenteil gewinnt man sogar den Eindruck, als hätten die partikularstaatlichen Gesetzgeber das Misstrauen der Feuerversicherungsgesellschaften gegen ihre Versicherungsneh­ mer noch geteilt. Im Kern ging es bei diesen versicherungsaufsichtsrechtlichen Maßnahmen stets um eine rigorose Durchsetzung des versicherungsrechtlichen Bereicherungsverbots. 90

In den Terminus des „Verzuges“, der in § 5 II der AVB verwendet wird, ist nicht zwingend ein „verstecktes“ Verschuldenselement hineinzulesen, da erst mit § 285 BGB (1896) (heute § 286 IV BGB) endgültig geklärt wurde, dass der „Verzug“ auch ein Verschuldenselement be­ inhaltet. Zu dieser Frage ausführlicher s. § 3 D V 1 dieser Untersuchung.

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Ein Beispiel für solche Vorschriften findet sich im preußischen Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen vom 08. 05. 1837,91 dessen Regelungs­gehalt per Kabinettsordre vom 30. 05. 184192 auch auf die private Immobiliarfeuerversi­ cherung ausgedehnt wurde.93 Ähnliche Gesetze mit derselben Stoßrichtung wurden unter anderem in den Königreichen Sachsen und Württemberg erlassen.94 Diese Mobiliarfeuerversicherungsgesetze wollten – „zur Abwendung von Miß­ bräuchen bei der Versicherung“95 – jeden einzelnen Versicherungsvertrag mit den Mitteln des Polizeirechts überprüfen lassen, um jeglicher verdächtigen Überver­ sicherung schon im Voraus beizukommen.96 So sahen §§ 1, 4 des besagten preußi­ schen Gesetzes von 1837 vor, dass kein beweglicher Gegenstand höher versichert werden durfte „als nach dem gemeinen Werthe zur Zeit der Versicherungsnah­ me“.97 Um die Einhaltung dieses Gebots effektiv kontrollieren zu können, war je­ der neu abgeschlossene Mobiliarfeuerversicherungsvertrag der örtlichen Polizei­ behörde vorzulegen, bevor der materielle Versicherungsschutz eintrat; sollte dabei ans Licht kommen, dass die gezeichnete Summe den Versicherungswert des ver­ sicherten Gegenstandes überschritt, so war „die Orts-Polizei-Behörde befugt und schuldig, den Versicherungsvertrag auf den gemeinen Werth zurückführen zu lassen“.98 Inhaltlich identisch ging das Mobiliarfeuerversicherungsgesetz in Württemberg vor.99 Verstieß der Versicherungsnehmer gegen diese Vorschriften wissentlich und schloss eine entsprechende Überversicherung ab, so hatte er unter der preußischen Versicherungsaufsicht eine „dem Betrage der Ueberschreitung gleichkommende 91

PrGS 1837, 102. Allerhöchste Kabinettsorder vom 30. Mai 1841, die Ausdehnung der Bestimmungen in den §§. 14. und 15. des Gesetzes über das Mobiliar-Feuer-Versicherungs-Wesen vom 8. Mai 1837 auf Versicherung von Immobilien bei in- und ausländischen Feuer-Versicherungsgesell­ schaften betreffend. (PrGS 1841, 122). 93 Duvinage (1987), S. 12; von Liebig (1911), S. 127; Müssener (2008), S. 118. 94 Zur württembergischen Gesetzgebung: Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschrän­ kungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (RegBl. Württemberg 1830, 207) i. F. v. 15. 05. 1852; zur sächsischen Gesetzgebung: Gesetz, das Mobiliar- und Privat-Feuerversicherungswesen betreffend v. 28. 08. 1876 (GBl. Sachsen 1876, 427). Dazu auch Badstübner, ZVersWiss 6 (1906), 66, 78 ff. (auch zu den entsprechen­ den Vorstößen kleinerer deutscher Staaten); Brämer / Brämer (1894), S. 41 ff.; Duvinage (1987), S. 12 ff.; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 123 f. 95 Präambel zum Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen von 08. 05. 1837. 96 Insgesamt Atzpodien (1982), S. 26 f.; Badstübner, ZVersWiss 6 (1906), 66, 67; Brämer /  Brämer (1894), S. 40 ff.; Duvinage (1987), S. 11; V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 150 f.; von Liebig (1911), S. 127; Müssener (2008), S. 118; Neugebauer (1990), S. 89; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 119; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 160. 97 § 1 I Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen (1837). 98 § 4 I 1 Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen (1837). 99 Vgl. für Württemberg: Art. 1, 6 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830; so später auch in Sachsen: §§ 10 I, 12 Gesetz, das Mobiliar- und Privat-Feuerversicherungswesen betreffend v. 28. 08. 1876. 92

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Geldbuße verwirkt.“100 Ein inhaltlich ähnliches Verbot galt für Versicherungen bei mehreren Versicherungsgesellschaften, wobei nicht nur die mehrfache Feuer­ versicherung oberhalb des versicherbaren Interesses, sondern schon alleine die Zeichnung bei mehreren Feuerversicherern verboten war.101 Über das eigentliche Ziel, den missbräuchlichen Spekulationen einzelner Ver­ sicherungsnehmer einen Riegel vorzuschrieben, war der Partikulargesetzgeber bei Weitem hinausgeschossen. Das tief ausgeprägte Misstrauen des preußischen Staates gegen seine feuerversicherten Untertanen wird an dieser Bestimmung ganz besonders anschaulich. Die Literatur des späten 19. Jahrhunderts urteilte sogar, die versicherungsaufsichtsrechtliche Gesetzgebung der Partikularstaaten habe den Versicherungsnehmer von vornherein zum Betrüger abgestempelt.102 Selbst als der preußische Staat später tendenziell den Lehren des wirtschaft­ lichen Marktliberalismus folgte und zum Beispiel seine Konzessionspraxis 1859 bedeutend liberalisierte, kamen die Vorteile solcher Reformen hauptsächlich den Versicherungsgesellschaften zugute. Die Mobiliarfeuerversicherungsgesetze der einzelnen Partikularstaaten blieben dementsprechend bis ins frühe 20. Jahrhun­ dert – nämlich bis zum Inkrafttreten des deutschen Versicherungsaufsichtsgesetzes von 1901 – unverändert in Kraft. Letztendlich ist damit zu konstatieren, dass die materielle Versicherungsaufsicht in Preußen und anderen deutschen Teilstaaten die einseitige AVB-Gestaltung der Versicherungspraxis keinesfalls eingedämmt, sondern möglicherweise sogar noch implizit begünstigt hat:103 das Misstrauen des Gesetzgebers galt fast das ganze 19. Jahrhundert hindurch nicht den Versicherern, sondern den Versicherten.

100 § 20 I Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen (1837). Ähnlich in Württem­ berg: Art. 15, 16 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (Geldbuße für das Unterlassen der präventivpolizeilichen Kontrolle), ebd. Art. 18 (Verfall der gesamten Versicherungsleistung an den Fiskus, falls eine Versicherung oberhalb des polizeilich festgestellten vollen Wertes abgeschlossen wurde); ähnlich später in Sachsen: § 17 Gesetz, das Mobiliar- und Privat-Feuer­ versicherungswesen betreffend v. 28. 08. 1876 (Verfall der Versicherungsleistung an den Fiskus im Falle eines Brandes). 101 § 2 S. 1 Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen. Anderes hatte gem. § 2 S. 2 nur bei „kaufmännischen Waarenlägern und andern großen Vorräthen statt, welche einen Werth von mindestens Zehntausend Thalern haben“; aber auch dann durfte der „Gesammt­ betrag der einzelnen Versicherungen […] nicht über den gemeinen Werth des VersicherungsGegenstandes hinaus gehen“ (§ 2 S. 3). Im Umkehrschluss aus S. 3 ergibt sich, dass § 2 S. 1 tatsächlich jegliche Versicherung bei verschiedenen Versicherern verhindern wollte. So auch Müssener (2008), S. 106. 102 Ausdrücklich Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 124. 103 So auch Müssener (2008), S. 357.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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4. Die Rolle des öffentlichen Brandversicherungswesens im 19. Jahrhundert Bis zu diesem Punkt war stets von den Veränderungsprozessen die Rede, die während des 19. Jahrhunderts im selbstgegebenen Recht der deutschen Feuerver­ sicherungsgesellschaften vonstattengingen  – doch trugen unterdessen auch die staatlich geführten Feuersozietäten,104 deren Entwicklung bis zum Jahr 1800 ja immerhin im zentralen Fokus der Wissenschaft gestanden war, zur Fortentwick­ lung des Feuerversicherungsrechts bei? a) Öffentliche und private Versicherer in offenem marktwirtschaftlichem Wettbewerb In der Epoche der „ersten Gründungswelle“ – als Feuerversicherer wie die Ber­ linische Feuerversicherungs-Anstalt, die Gothaer Feuerversicherungsbank oder die Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft entstanden – koexistierten private und öffentliche Anstalten zunächst, ohne dass es zwischen beiden Systemen nen­ nenswerte Berührungspunkte gegeben hätte. Das lag vornehmlich daran, dass die meisten öffentlichen Sozietäten in ihrem Wirkungskreis das Monopol für Gebäu­ deversicherungen hielten, sodass den privaten Gesellschaften nur die Versicherung von Mobilien oder von besonders feuergefährlichen Gebäuden übrig blieb, welche bei den Staatsanstalten keine Aufnahme gefunden hatten. Zwischen den Zuständig­ keitsbereichen der staatlichen und der privatwirtschaftlichen Versicherer verlief, mit anderen Worten, eine scharfe Trennlinie.105 104

Im Folgenden: Brandversicherungs-Gesellschaft des Herzogthums Berg v. 26. 09. 1801 (Scotti II, 810); Reglement der vereinigten Land-Feuersozietät im Bezirk der Ostpreußischen Landschaft v. 22. 04. 1809 (NCC  XII, 823); Allgemeine Verordnung, die Vereinigung der Brandversicherungs-Gesellschaften zu einer allgemeinen Anstalt für die ganze Monarchie betreffend v. 02. 02. 1811, inkl. Brandversicherungsordnung (Brandversicherungsordnung Bayern, BayRegBl 1811, 129); Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung vom 03. 05. 1833 (Lappenberg  XII, 258); Reglement für die Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz v. 05. 01. 1836 (PrGS 1836, 13); Reglement für die Feuersozietät der Hauptund Residenzstadt Königsberg i.Pr. v. 22. 05. 1846 (PrGS 1846, 171); Revidirtes Reglement für die Westphälische Provinzial-Feuersozietät v. 26. 09. 1859 (PrGS 1859, 477); Revidirtes Reglement für die Feuersozietät der Stadt Königsberg i.Pr. v. 04. 11. 1861 (PrGS 1862, 80); Revidirtes Reglement für die Feuersozietät des platten Landes des Herzogthums Sachsen v.  24. 09. 1863 (PrGS  1863,  545); Revidirtes Reglement für die Feuer-Sozietät der Provinz Posen v. 1863 (PrGS 1863, 578); Gesetz, betreffend die Hamburger Feuercasse v. 28. 08. 1867 (HambGS  1867,  66); Statut wegen Versicherung von Mobilien bei der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft für Westpreußen v. 29. 03. 1871 (PrGS  1871, 163); Revi­ dirtes Reglement für die Feuersozietät des platten Landes von Altpommern v.  17. 01. 1872 (PrGS 1872, 122); Badisches Gebäudeversicherungsgesetz v. 10. 09. 1902 (Sammlung-AVB I, 79); Reglement und allgemeine Versicherungsbedingungen der Provinzial-Feuer-Versiche­ rungsanstalt der Rheinprovinz vom 1903 (Sammlung-AVB I, 99). 105 Zum Wirkungskreis der privaten Versicherer zu Beginn des 19. Jhdts., vgl. bereits § 2 C II dieser Untersuchung.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Im preußischen Staat der 1830er Jahre änderte sich das jedoch. Im Lichte der neu gewonnenen Staatsräson, des wirtschaftlichen Liberalismus, baute Preußen allmählich die staatlichen Monopole ab, welche bis dato den öffentlich-rechtlichen Sozietäten zugestanden hatten. Nur in einigen preußischen Großstädten, näm­ lich Berlin, Breslau, Stettin und Thorn, hielt der Staat noch an seinem exklusiven Versicherungsmonopol fest.106 In den meisten preußischen Gebieten standen die Privatversicherungsgesellschaften von nun an also in offener Konkurrenz zu den traditionsreichen Feuersozietäten – ein Wettbewerb, bei dem die öffentlichen An­ stalten einen signifikanten Teil ihrer bisherigen Mitglieder einbüßten. Sie hatten bis dahin noch immer am Unterstützungs- bzw. Solidarprinzip festgehalten, ihre Beitragssätze also stets nur von der Höhe des Gebäudewertes, niemals aber von dem Grad des übernommenen Feuerrisikos abhängig gemacht.107 All den Gebäude­ eigentümern, die einem vergleichsweise geringen Feuerrisiko ausgesetzt waren, konnten die Privatversicherer somit deutlich günstigere Versicherungsprämien bieten. Infolgedessen wanderten zahlreiche jener niedrigen Risiken in Richtung der privaten Versicherer ab; den öffentlichen Versicherern verblieb hauptsächlich ein Kollektiv von versicherungstechnisch schwer handhabbaren Risiken. Ab dem Ende der 1830er Jahre gerieten sie deshalb zunehmend in finanzielle Schieflage.108 Dem wirtschaftlichen Verfall seiner Gebäudebrandversicherer konnte der preu­ ßische Staat nur noch entgegensteuern, indem er die Sozietäten selbst im Sinne rationeller, versicherungstechnischer Prinzipien reformierte.109 Ab dem Jahr 1840 schafften die meisten preußischen Anstalten das überkommene Unterstützungs­ prinzip ab und begannen, die von ihnen getragenen Brandrisiken nach Faktoren wie der Bauart, der Lage, der Zweckbestimmung oder der Nachbarschaft des ver­ sicherten Bauwerks zu gruppieren; dementsprechend stuften sie von da an auch ihre Beitragstarife nach versicherungsmathematischen Kriterien ab und nahmen so 106 Brämer / Brämer (1894), S. 238 f.; Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 20; von Liebig (1911), S. 27; Müssener (2008), S. 27 f. Selten kam die Abschaffung der öffentlich-rechtlichen Monopolstel­ lung direkt in den Sozietäten-Reglements zum Ausdruck; expressis verbis dokumentiert ist sie aber z. B. in § 8 I Hs. 1 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846); vgl. auch Art. 11 II Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863). Demgegenüber bestand z. B. noch ein ausdrückliches Staatsmonopol nach § 1 S. 2 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der RheinProvinz (1836). Endgültig verbot erst das preußische Gesetz, betreffend die Revision – be­ ziehentlich die Abänderung – der Reglements der öffentlichen Feuersozietäten v. 31. 03. 1877 (PrGS 1877, 121) jede Rechtsvorschrift in Feuersozietäten-Reglements, die in den Geschäfts­ betrieb der Privatversicherer hinsichtlich der Gebäudefeuerversicherung eingriff, vgl. dazu auch Müssener (2008), S. 111. 107 So etwa in den preußischen Gebieten des frühen 19. Jhdts. noch § 7 I Reglement Brand­ versicherungs-Gesellschaft Berg (1801) (Umlageverfahren); § 21 S. 1 Reglement vereinigte Land-Feuersozietät Ostpreußen (1809) (Umlageverfahren). Die preußischen Sozietäten, die noch im 18. Jhdt. gegründet worden waren, arbeiteten sämtlich nach dem Unterstützungs­ prinzip, dazu s. auch oben § 1 C III 2. 108 Brämer / Brämer (1894), S. 239; P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 103; von Liebig (1911), S. 27; Müssener (2008), S. 167. 109 Zu den Reformen der öffentlichen Sozietäten insgesamt Brämer / Brämer (1894), S. 30, 36; von Liebig (1911), S. 27.

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im Endeffekt aktiv am marktwirtschaftlichen Wettbewerb teil.110 Tatsächlich hatte sich die wirtschaftliche Situation der öffentlichen Versicherer in Preußen bis zu den 1860er Jahren wieder stabilisiert, sodass sie ihrerseits an der wirtschaftlichen Blüte des gesamten Feuerversicherungsmarktes partizipierten.111 Zu Beginn der 1870er Jahre gingen wenige staatliche Versicherungssozietäten sogar noch einen Schritt weiter und weiteten ihren Geschäftsbereich auf die Mobiliarfeuerversiche­ rung aus,112 einen Geschäftszweig, der bislang alleine von den Privatgesellschaften dominiert worden war. b) Reger Gedankenaustausch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Doch hatten sich jene erfolgreichen Reformen des preußischen Sozietätenwesens auch auf die materiell-rechtliche Gestaltung der Sozietäten-Reglements ausge­ wirkt? Man kann sich an diesem Punkt einmal mehr die Prämisse vergegenwärti­ gen, dass die technischen und die rechtlichen Aspekte innerhalb des Rechtspro­ duktes „Versicherung“ beinahe zwangsläufig miteinander verwoben sind. Sobald die preußischen Feuerversicherungsanstalten die versicherungsmathe­ matische Gefahr- und Beitragsklassifizierung adaptiert hatten, entstand dadurch umgehend auch das Bedürfnis, möglichst rasch von allen maßgeblichen Gefahrum­ ständen Kenntnis zu erlangen – sowohl vor dem Vertragsschluss als auch während 110

§§ 29–34 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836) (7 schematische Gefahrenklassen nach Bauart und Zweck); § 23 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846) (3 schematische Gefahrenklassen nach Bauart und Zweck); §§ 31, 32, 40–42 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (6 Gefahrenklassen nach Bauweise des Gebäudes mit weiteren Unterteilungen nach Lage oder Zweck); §§ 18–20 Revidirtes Regle­ ment Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (3 Gefahrenklassen mit zahlreichen Unterteilun­ gen nach Lage, Zweck oder Inhalt); §§ 27, 29–31 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (8 schematische Gefahrenklassen nach Bauart, Lage und Gewerbe); § 24 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (Tarifierung nach Lage, Beschaffenheit, Einrichtung und Benutzung des Gebäudes); §§ 38 I, 42 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (4 schematische Gefahrenklassen nach Bauart und Gewerbe); A § 9 Nr. 10 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Tarifierung durch AnstaltsKuratorium). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 239 (der diese Entwicklung erst um 1860 ansiedelt); von Liebig (1911), S. 27. 111 Brämer / Brämer (1894), S. 266. 112 Z. B. Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871); §§ 43 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (enthält hin­ sichtlich der Mobiliarversicherung lediglich Verweis auf die Verwaltungsordnung der Sozie­ tät); § 6 II Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (enthält hinsichtlich der Mobiliarversicherung lediglich eine Ermächtigung des Kommunallandtages zum Erlass ent­ sprechender AVB); Teil B Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903). Eine Liste sämtlicher öffentlich-rechtlicher Brandversicherer im Jahr 1908 findet sich bei Mot. VVG (Nachdruck 1963), S. 486 ff.; dort wurde ausdrücklich hervorgehoben, welche dieser Versicherer auch die Mobiliarfeuerversicherung betrieben. Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 239; Dreher (1991), S. 25; von Liebig (1911), S. 27; Manes (1905), S. 67; Müssener (2008), S. 28.

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der laufenden Vertragsdauer. Zweckdienliche AVB-Klauseln zum Problemkreis der Gefahrerhöhung konnten bei den Privatversicherern schon seit langem auf eine gefestigte Praxis verweisen. Prinzipiell läge es also gar nicht einmal fern, dass sich die öffentlichen Anstalten insoweit aus dem rechtlichen Fundus der Privatver­ sicherer bedienten. Tatsächlich lässt sich ab ungefähr 1860 beobachten, wie sich einige öffentlichen Reglements partiell an die Versicherungsbedingungen privater Gesellschaften annäherten. Um beim oben verwendeten Beispiel der Gefahrerhöhung zu bleiben, seien hier – stellvertretend für viele andere öffentliche Versicherer – einige einschlägige Passagen aus dem Revidirten Reglement der Feuersozietät der Haupt- und Resi­ denzstadt Königsberg von 1862 zitiert:113 „§ 22. Wenn während der Versicherungszeit in oder an dem Gebäude bauliche Verände­ rungen oder Anlagen gemacht, oder in dem Gebäude feuergefährliche Gewerbe betrieben oder besonders feuergefährliche Gegenstände gelagert werden, so daß grundsätzlich die Versetzung des versicherten Gebäudes in eine andere zu höheren Beiträgen verpflichtende Klasse (§§. 19. 20.) stattfinden müßte, so ist der Versicherte verpflichtet, der Feuersozietäts-­ Deputation sofort und spätestens an dem Tage, von welchem ab das Gebäude zu dem durch die Veränderung bestimmten Zwecke gebraucht, oder von dem ab feuergefährliche Gewerbe darin betrieben oder besonders feuergefährliche Gegenstände darin gelagert werden, An­ zeige zu machen und sich der aus der größeren Feuergefährlichkeit folgenden Beitragser­ höhung zu unterwerfen. […] § 24. [1] Geschieht im Falle des §. 22. die Anzeige später als in dem vorgeschriebenen Zeit­ punkte, oder wird von der Feuersozietäts-Deputation entdeckt, daß ein Gebäude durch die Schuld des Versicherten nicht zu den vorschriftsmäßigen Beiträgen katastrirt ist, so muß der Eigenthümer eines solchen Gebäudes von dem Zeitpunkte der Veränderung (§. 22) resp. von dem Tage der Versicherung die höheren Beiträge nachzahlen. [2] Unterbleibt die Anzeige oder die Entdeckung ganz, und das Gebäude wird durch Feuer beschädigt oder vernichtet, so ist der Eigenthümer jedes Anspruches auf Brandvergütigung verlustig, sofern er nicht den Nachweis zu führen vermag, daß die Anzeige ohne sein Verschulden unterbleiben ist. [3] In keinem dieser Fälle findet eine Zurückerstattung der gezahlten Feuerkassenbeiträge statt.“

Die hier exemplarisch zitierte Königsberger Brandversicherungsanstalt hat die gebräuchlichen Vorschriften der privaten AVB jedoch nicht einfach kopiert. In der Grundstruktur folgte die Vorschrift des Reglements zwar der privatwirtschaft­ lichen Praxis, indem sie das versicherte Mitglied zur Anzeige einer jeden für die Beitragsberechnung relevanten Gefahrerhöhung verpflichtete (§ 22 S. 1) und schon 113

Ähnliche, der privaten Feuerversicherung insoweit angenäherte Tatbestände finden sich unter §§ 27–29 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846); §§ 46, 48, 49 Revidirtes Reg­ lement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859); §§ 32 II 1, 34, 35 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); § 36 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863); § 18 Sta­ tut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871); § 40 Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872); B § 3 Reglement Provin­ zial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (für alle Arten von Versicherungen); ebd. A §§ 17, 18 (speziell zur Gebäudefeuerversicherung). Zu einer eingehenden Untersuchung der dogmatischen Feinheiten im Recht der Gefahrerhöhung s. aber unten § 3 D VII.

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an die Versäumung der Anzeige selbst eine Sanktionsfolge knüpfte (§ 24  I). In diesem Rahmen kam es – ebensowenig wie bei den Privatversicherern – darauf an, ob der gefahrerhöhende Umstand überhaupt kausal zum Versicherungsfall geführt hatte. Auf der anderen Seite verhängte ein großer Teil der reformierten öffentlichen Reglements, wie auch das vorliegende Beispiel, nur sehr selten die Sanktion des völligen Anspruchsverlusts gegen das versicherte Mitglied: sollte die gefahrerhöhende Tatsache noch vor dem Brandunglück aufgedeckt werden, hatte das betroffene Mitglied nur die Beiträge nachzubezahlen, welche der Anstalt im Falle einer ordnungsgemäßen Anzeige zugestanden hätten (§ 24 I);114 selbst, wenn der Schaden schon eingetreten war, eröffnete das Reglement dem Sozietätsmitglied noch eine Möglichkeit, sich zu exkulpieren (§ 24 II a. E.). Auch aus den Reglements der marktwirtschaftlich reformierten Feuersozietäten sprach in gewisser Weise noch der Wunsch, einen möglichst großen Anteil der preußischen Untertanen gegen den Verlust ihres Gebäudeeigentums abzudecken. Für die versicherten Mitglieder erwiesen sich die staatlichen Reglements oftmals als wesentlich vorteilhafter als die entsprechende Praxis der Privatversicherer115 – eine Tatsache, die den Sozie­ täten allmählich wieder zu einem positiven Bild in der Öffentlichkeit verhalf.116 Allerdings wanderte bei alledem aber nicht einfach das Gedankengut der pri­ vaten Versicherungspraxis in die Reglements der preußischen Feuersozietäten ein, gewissermaßen entlang einer Einbahnstraße. Ungefähr zur gleichen Zeit, als die öffentlichen Anstalten Einflüsse aus der Rechtsmaterie der AVB in sich aufnah­ men, entlehnten auch die Privatversicherer einen prominenten Rechtsgedanken aus der öffentlichen Versicherungspraxis. Schon seit dem 17. Jahrhundert hatten sogenannte „Wiederaufbauklauseln“ zum absoluten Kernbestand der SozietätenReglements gezählt; das abgebrannte Bauwerk musste also, wenn der Versicherte die Brandentschädigung für sich beanspruchen wollte, in seiner bisherigen Gestalt neu errichtet werden.117 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren den priva­ 114

Vgl. Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 236 f. Zur vergleichsweise versichertenfreundlichen Gestaltung der Feuersozietäten-Reglements vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 265 f. 116 So jedenfalls die Wertung von Brämer / Brämer (1894), S. 240. 117 Zu den ganz typischen Wiederaufbauklauseln in den Feuersozietäten des 18. Jhdts., s. ausführlich oben unter § 1 C III 2. Entsprechende Klauseln fanden sich aber auch bei den So­ zietäten des 19. Jhdts.: § 11 Reglement Brandversicherungs-Gesellschaft Berg (1801); § 59 Re­ glement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); § 61 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846); § 65 S. 3 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuer­ sozietät (1859) (Wiederaufbaupflicht nur bei hypothekarischer Belastung); § 35 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (Verzicht auf Wiederaufbau nur bei Einwil­ ligung aller Hypothekengläubiger); § 66 II Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (Wiederaufbaupflicht nur bei hypothekarischer Belastung); § 59 I Revidirtes Reglement Feu­ ersozietät Sachsen (1863) (Verzicht auf Wiederaufbau gem. § 52 II lit. a, b nur bei Einwil­ ligung aller Hypothekengläubiger); § 63 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872); A §§ 29–32 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (bei unterlassenem Wiederaufbau nur Auszahlung der Versicherungsleistung an die Real­ gläubiger). 115

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ten Versicherungsgesellschaften derartige Ideen vollkommen fremd. Im Kontrast dazu bestimmten die bereits mehrfach zitierten Bedingungen des Verbands deut­ sche Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften von 1874:118 „§ 10. Wenn auf versicherte Gebäude Hypothekschulden oder andere Realverpflichtungen vor dem Brandfalle eingetragen sind, so wird die Entschädigung nur behufs der Wieder­ herstellung und nachdem letztere gesichert worden, bezahlt, die sämtlichen Hypothekenresp. Realgläubiger müßten denn in die unbedingte Auszahlung willigen, oder selbst zur Empfangnahme berechtigt sein. Geht aber der Entschädigungsanspruch des Versicherten durch seine Schuld verloren, so verwendet die Gesellschaft die Entschädigung, soweit nötig, zur Befriedigung der erwähnten Gläubiger gegen Zession ihrer Rechte.“

Auch die privaten Versicherungsgesellschaften waren weit davon entfernt, das Recht der öffentlichen Sozietäten-Reglements lediglich unreflektiert zu kopieren. Zum einen diente die Wiederaufbauverpflichtung des § 10 S. 1 nicht öffentlichen Interessen, wie es bei den Sozietäten der Fall war, namentlich, um dem Staat eine hinreichende Besteuerungsgrundlage zu erhalten. Die Privatversicherer verwende­ ten jene Verpflichtung alleine, um die Kreditsicherungsinteressen der Realgläubi­ ger zu bedienen; das lässt sich schon daran ablesen, dass jene in letzter Konsequenz einvernehmlich auf ihr Wiederaufbaurecht verzichten konnten.119 Zum anderen hatten die AVB jener Wiederaufbauverpflichtung aber noch den Rechtssatz des § 10 S. 2 hinzugefügt, wonach die Realgläubiger persönlich die Auszahlung der Versicherungsleistung verlangen konnten, falls der Versicherte seinen Anspruch infolge einer vertraglichen Sanktion eingebüßt hatte.120 Am Ende standen die pri­ vaten und die öffentlichen Versicherer also, sobald sie erst in marktwirtschaftliche Konkurrenz zueinander getreten waren, in fruchtbarem Gedankenaustausch. Der Einfluss der privaten Feuerversicherer auf die staatlichen Sozietäten gestaltete sich indes um einiges intensiver als der entgegengesetzte Impuls, welchen die staat­ lichen Versicherer auf die privaten ausübten.121 118

Ausdrücklich zum diesbezüglichen Einfluss der Sozietäten: Müssener (2008), S. 273 ff.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 258; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 164. 119 Ähnlich auch § 15 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Auszah­ lung nur mit Einwilligung der Hypothekengläubiger, Sicherstellung durch „Maßnahmen“ der Gesellschaft); § 12 S. 1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Verzicht auf Wiederaufbau nur bei Zustimmung sämtlicher Hypothekengläubiger). Vgl. auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 470; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 256 (zu den Verbandsbedingungen von 1886). 120 Ähnlich auch § 16 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 12 S. 2, 3 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886). Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 471; Müssener (2008), S. 275 (zu den AVB der „Aache­ ner“); Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 256 f. (zu den Verbandsbedingungen von 1886). Müssener legt an angegebener Stelle dar, die fragliche Klausel sei aufgrund des Drucks der Landeskreditkassen in die privaten Feuerversicherungsbedingungen aufgenommen wor­ den. 121 So auch von Zedtwitz (2000), S. 163, 214. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 41; Manes (1905), S. 340; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 11; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 168.

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Jene hier skizzierten Entwicklungen beschränkten sich freilich lediglich auf das preußische Staatsgebiet, wo seit den 1830er Jahren das Gebäudeversicherungs­ monopol der öffentlichen Brandversicherer weggefallen war. Andere deutsche Partikularstaaten hatten das Nebeneinander des öffentlichen und privaten Ver­ sicherungssektors ganz anders ausgestaltet als es in Preußen der Fall war. Die meisten Teilstaaten hielten bis ins 20. Jahrhundert hinein an ihrem Monopol für die Gebäudefeuerversicherung fest, insbesondere in Süddeutschland;122 die Hamburger Generalfeuerkasse bediente sich in ihrem „revidirten Reglement“ von 1817 gar zum ersten Mal in ihrer Geschichte überhaupt der Methode des Versicherungszwangs.123 Konsequenterweise hatte sich in all diesen Staaten auch niemals das Bedürf­ nis nach einer tiefgreifenden, marktwirtschaftlich orientierten Reform des öffent­ lichen Feuerversicherungswesens offenbart. Die meisten Brandkassen außerhalb der preußischen Landesgrenzen verharrten daher im Großen und Ganzen in der rechtlichen Gestalt, welche sie schon zwischen 1750 und 1800 besessen hatten.124 Das Badische Gebäudefeuerversicherungsgesetz – nur um ein Beispiel zu nennen – arbeitete noch im Jahr 1902 mit einem schlichten Schadensumlageverfahren.125 Einen im Voraus zu entrichtenden Versicherungsbeitrag kannte die badische Lan­ desanstalt nicht, ganz zu schweigen von einer rationellen, risikoadäquaten Bei­ tragstarifierung; all die erörterten rechtlichen Folgefragen, welche solche versi­ cherungstechnischen Entwicklungen für gewöhnlich mit sich bringen, behandelte ihr Reglement daher gar nicht erst. Letzten Endes war der staatliche Feuerversicherungssektor, der sich um 1800 noch als so homogen dargestellt hatte, nicht einmal hundert Jahre später in einen Flickenteppich unterschiedlichster Regelungen zerfallen.126 Zum Zweck der vor­ liegenden Untersuchung lohnt sich nur eine nähere Analyse derjenigen staatlichen Brandversicherungs-Reglements, die sich den privaten Feuerversicherungsgesell­ schaften auf beträchtliche Weise angenähert hatten, denn das VVG von 1908 hatte seinen inhaltlichen Fokus ausschließlich auf das private Versicherungsrecht gelegt. Es dehnte seinen Anwendungsbereich überhaupt nur auf diejenigen Staatsanstalten aus, die nicht mehr mit den Mitteln des Versicherungszwanges arbeiteten (§ 192 Nr. 1 VVG).127 Angesichts der hier gefundenen Erkenntnisse wird es im Fortgang 122

Zu einer Aufstellung sämtlicher öffentlicher Brandversicherer inkl. einer entsprechenden Kennzeichnung der noch bestehenden Monopolanstalten, s. Mot.  VVG (Nachdruck 1963), S. 486 ff. Brämer / Brämer (1894), S. 241; von Liebig (1911), S. 27; Prange, Kritische Betrach­ tungen (1904), S. 11. 123 Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 25; W. Ebel, Feuerkontrakte (1936), S. 57; Schaefer (1911), Bd. 1 S. 194. Vgl. auch später §§ 1, 2 III Neu revidirte Hambur­ gische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833); § 3 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867). 124 So ausdrücklich auch Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 60 ff. 125 Z. B. §§ 55, 56 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902). 126 Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 241 f.; von Liebig (1911), S. 36 ff. (Überblick zu den landesrechtlichen Sozietäten um ca. 1910); Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 333. 127 Vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XVIII f.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 167.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

dieser Untersuchung ferner wenig zielführend sein, das öffentliche und das privat­ wirtschaftliche Feuerversicherungssystem länger als zwei gegensätzliche, struktur­ verschiedene Akteure zu behandeln, wie es noch bei der Analyse des preußischen ALR notwendig war.

III. Die Entwicklung der Lebensversicherungspraxis ab den 1850er Jahren Ebenso wie die Feuerversicherer konnten auch die Lebensversicherungsgesell­ schaften im 19. Jahrhundert – de facto – die alleinige Vertragsgestaltungsmacht für sich beanspruchen. Auch die Lebensversicherung war als Massengeschäft in breite Teile der Bevölkerung vorgedrungen, während die standardmäßig verwen­ deten Lebensversicherungsbedingungen128 für den einzelnen Versicherungsneh­ mer nicht mehr ernsthaft zur Disposition standen. Haben die ähnlich wirkenden Rahmenumstände in der Lebensversicherungswirtschaft also zu einer Rechtsent­ wicklung geführt, die weitestgehend parallel zu den Entwicklungstendenzen des privaten Feuerversicherungsrechts lag? Diese Frage hat in der rechtshistorischen Forschung bislang relativ wenig Auf­ merksamkeit erhalten, indem sich die meisten wissenschaftlichen Untersuchun­ gen ausschließlich mit den rechtlichen Elementen der Feuerversicherung befasst haben. Wirklich scheint es zur Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst so, als hätten die AVB der Lebensversicherer das rechtliche Schicksal der Feuerversicherungs­ bedingungen – nämlich die Tendenz zu einer einseitig vorteilhaften Gestaltung zugunsten der Versicherungsgesellschaften – geteilt. Zur Jahrhundertwende, kurz vor Beginn der Gesetzgebungsarbeiten am VVG, wird man jedoch auf einen völ­ lig anderen Befund stoßen.

128

Im Folgenden verwendete Primärquellen: Allgemeine Versicherungsbedingungen der Deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Lübeck (1828) (Sammlung-AVB  II,  21); Verfassung der Lebensversicherungsbank für Deutschland zu Gotha (1828) (SammlungAVB  II,  2); Statuten der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig (1830) (SammlungAVB II, 7); Geschäftsplan der Berlinischen Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Samm­ lung-AVB II, 23); Statuten der Lebensversicherungs- und Ersparnisbank in Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16); Geschäftsplan der Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesell­ schaft zu Stettin (1857) (Sammlung-AVB II, 31); Allgemeine Versicherungsbedingungen der zum Verein Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften gehörigen Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44); Satzung der Gothaer Lebensversicherungsbank auf Gegenseitigkeit (1904) (Sammlung-AVB II, 62); Allgemeine Versicherungsbedingungen der Victoria zu Ber­ lin, Allgemeine Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Sammlung-AVB II, 98); All­ gemeine Versicherungsbedingungen der Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt auf Gegen­ seitigkeit (1906) (Sammlung-AVB II, 81).

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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1. Die Wandlung vom kaufmännischen Vorsorgegeschäft zum Sparprodukt für ein breites Publikum Um sich den rechtlichen Fortschritten in den Lebensversicherungsbedingungen ab ungefähr 1850 annähern zu können, gebietet sich an erster Stelle ein Blick auf den grundlegenden Funktionswandel, dem das Institut der Lebensversicherung ab dieser Zeit unterworfen war. Die Lebensversicherung tat nämlich um das Jahr 1850 einen entscheidenden Schritt zu einem multifunktionalen Sparprodukt, das oft gar nicht mehr nur zu dem Zweck der eigentlichen Todesfall- oder Altersvor­ sorge geschlossen wurde. a) Die Prämienreserve: ein „Sparguthaben“ des Versicherungsnehmers Im Keim war diese Entwicklung schon bei den ältesten deutschen Lebensver­ sicherungsgesellschaften wie der Gothaer Lebensversicherungsbank angelegt. Die rationelle Versicherungstechnik spaltete schon in den 1820er Jahren die Lebens­ versicherungsprämie in zwei essentielle Bestandteile auf: einerseits die eigentliche Risikoprämie, die der Versicherer anhand der Sterblichkeitsstatistik berechnen konnte, die also die rechtliche Gegenleistung für die Gefahrübernahme darstellte; andererseits aber die Prämienreserve, die notwendig war, um dem Versicherungs­ nehmer über die gesamte Vertragsdauer hinweg – also oft bis an sein Lebensende – eine gleichmäßige Jahresprämie berechnen zu können.129 Würde der Versicherer keine Prämienreserve, sondern nur eine Risikoprämie verlangen, so müsste sich diese von Versicherungsperiode zu Versicherungsperiode steigern, da auch die statistische Sterbewahrscheinlichkeit von Lebensjahr zu Lebensjahr wächst. Eine solche versicherungstechnische Kalkulation mit progressiven Jahresprämien war im 19. Jahrhundert durchaus noch praktiziert worden,130 brachte jedoch für den alternden Versicherungsnehmer einige Unannehmlichkeiten mit sich. Indem aber der Versicherer schon in den ersten Jahren nach dem Vertragsschluss einen Reserveanteil auf die nackte Risikoprämie aufschlug, konnte er seinem Ver­ tragspartner gleichbleibende Bruttoprämien anbieten. Versicherungsmathematisch gesehen wuchs dabei der Anteil der echten Risikoprämie an der Bruttoprämie von Jahr zu Jahr immer weiter an, während der Reserveanteil in gleichem Maße ab­ nahm. Der Versicherungsnehmer aber zahlte unter dem Strich Jahr für Jahr die gleiche Prämie, und zwar dank der angesparten Prämienreserven selbst noch im 129

Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 2140; Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 88 f.; Deutsch /  Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 390; Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 291 f.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 27; Manes (1905), S. 224 ff. 130 Vgl. Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 244, der ein solches Modell noch bei der Allgemeinen Lebensversicherungsanstalt für das Königreich Hannover (1831) beschrieb; vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 543, der auf die Praxis progressiver Lebensversicherungsprämien verwies.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

hohen Alter.131 Vom rechtlichen Standpunkt aus stand folglich nur der Risikoprä­ mienanteil in einem echten vertraglichen Synallagma zur Leistung des Versiche­ rers. Die Prämienreserven hingegen waren nichts anderes als ein nach und nach angespartes Guthaben, welches der Versicherungsnehmer in die Hände seines Le­ bensversicherers gelegt hatte.132 Genau diese Kalkulationsmethode wendete schon 1828 die Gothaer Lebensversicherungsbank an.133 Jenes Sparguthaben ist grundsätzlich bei jeder Art von Todesfallversiche­ rung denkbar, um die Prämienprogression abzufedern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts avancierte es jedoch zu einer festen, unverzichtbaren Größe der Versicherungsmathematik. Zwischen 1850 und 1860 bildeten sich in der Lebens­ versicherungspraxis neuartige Versicherungsprodukte wie die „gemischte“ bzw. „kapitalbildende“ Lebensversicherung aus, welche bis zum Ausgang desselben Jahrhunderts die klassischen Formen der Todes- oder Erlebensfallversicherung an Popularität bei Weitem überholt hatten. Der Versicherer zahlte die Versicherungs­ summe entweder aus, wenn die versicherte Person ein bestimmtes vertragsmäßig definiertes Alter erreicht hatte, jedoch auch schon dann, wenn sie bereits vorher verstarb.134 Letzten Endes hatte die Versicherungstechnik also die Todes- und die Erlebensfallversicherung zu einem einzigen Rechtsprodukt verschmolzen; unge­ wiss war nicht mehr der Eintritt des Versicherungsfalles an sich, sondern nur noch dessen Zeitpunkt. Solche neuen Lebensversicherungsmodelle bildeten einen fundamentalen Gegensatz zur den klassischen Formen der Lebensversicherung: sie mussten die Versicherungsprämien nunmehr so kalkulieren, dass jedes Mitglied des Versicher­ tenkollektivs seine Versicherungsleistung im rechnerischen Durchschnitt selbst finanzierte; das Risiko wurde also nur noch insoweit auf mehrere Schultern ver­ teilt, als einige Versicherte unerwartet früh, andere unerwartet spät starben.135 131

Vgl. schon Babbage (1826), S. xiv ff. Vgl. zu den entsprechenden Erwägungen aus Sicht der heutigen Versicherungstechnik: Büchner / Winter (9. Aufl. 1986), S. 47; Reichel, in: HdV (1988), 431, 434. 132 Zum Sparzweck der Lebensversicherung ausdrücklich Brämer / Brämer (1894), S. 132 ff.; Bruck / Möller / Winter (9. Aufl. 2008), § 169 Rn. 1; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 40; Lexis, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 50, 54 f.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 61 („Sparkas­ sen-Einlage“); Rautmann, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 20, 23; Reichel, in: HdV (1988), 431, 435. 133 Vgl. § 48 S. 1 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828). Zur Entstehung dieser Klausel vgl. Emminghaus, Ernst Wilhelm Arnoldi (1878), S. 291 f.; ders., Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 68 f. 134 Ausdrücklich erwähnt wird diese Möglichkeit nicht in allen AVB, vgl. aber z. B. § 1 II Nr. 4 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857); § 2 Nr. 2 AVB Go­ thaer Lebensversicherungsbank (1904) („Abgekürzte Versicherung“); § 1 lit.  b AVB Stutt­ garter Lebensversicherungsanstalt (1906) („Alternative [abgekürzte Ab- oder Erlebens-] Versicherung“). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 69, 149 f.; P. Koch, Geschichte der Ver­ sicherungswirtschaft (2012), S. 69; Malß, Betrachtungen (1862), S. 22; von Staudinger (1858), S. 30 f. („abgekürzte Versicherung“). 135 Brämer / Brämer (1894), S. 126 ff.; Goldschmidt, System des Handelsrechts (4. Aufl. 1892), § 167.1 (S. 258 f.); Malß, Betrachtungen (1862), S. 27 f. Aus heutiger Perspektive: Büchner / 

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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Solche „kapitalbildenden“ Modalitäten der Lebensversicherung waren letzten Endes zwingend mit einem Sparvorgang gekoppelt: bis die versicherte Person das vertraglich vereinbarte Höchstalter erreichte, musste schließlich eine hinreichend große Erlebensfallleistung aufgebaut worden sein, während die Versicherung pa­ rallel aber auch noch das Risiko eines vorzeitigen Todes decken musste. In der Lebensversicherung des späteren 19. Jahrhunderts war es daher absolut üblich ge­ worden, dass jeder Versicherungsnehmer sein individuelles Sparguthaben beim Versicherer stehen ließ.136 b) Die Professionalisierung der Rückkauf- und Umwandlungstechnik Dieses Spar- oder Kapitalguthaben  – die Prämienreserve  – beinhaltete letzt­ lich ein enormes Potential für die weitere Entwicklung des Lebensversicherungs­ wesens, denn nun konnte jeder einzelnen Versicherungspolice ein individueller, kapitalisierter Barwert zugeordnet werden. Schon die ältesten deutschen Lebensversicherer hatten dem Versicherungsneh­ mer die Möglichkeit eingeräumt, vor Ablauf der Vertragsdauer freiwillig aus dem Vertrag auszuscheiden und dabei eine angemessene „Abgangsentschädigung“ bzw. den sogenannten „Rückkaufwert“ ausgezahlt zu bekommen.137 Mit dem Bewusst­ sein für eine versicherungstechnisch greifbare, rechnerisch exakt kapitalisierte „Prämienreserve“ konnte dieses Verfahren jedoch professionalisiert werden;138 damit gewann die Lebensversicherungstechnik eine fast unbegrenzte Flexibilität. Zum einen wurde die bislang schon bestehende Rückkaufoption versicherungs­ mathematisch viel exakter ausgestaltet. Verlangte ein Versicherungsnehmer vom Versicherer den Rückkauf seiner Lebensversicherungspolice, so zahlte der Versi­ cherer ihm nicht mehr nur willkürlich einen „angemessenen“ Betrag als Abgangs­ Winter (9. Aufl. 1986), S. 81; Deutsch / Iversen (7.  Aufl. 2015), Rn.  364; Prölss / Martin / Schneider (30. Aufl. 2018), vor § 150 Rn. 12 („Versicherung mit unbedingter Leistungspflicht“); Wandt (6. Aufl. 2016). 136 Zur Notwendigkeit eines Sparanteils bei kapitaldeckenden Lebensversicherungen, s. z. B. Maurer (3. Aufl. 1995), S. 61; Schwebler, in: HdV (1988), 417, 424. 137 Abs. 13 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828) (Berechnung der Ab­ gangsentschädigung als ein „nach Billigkeit sich zu berechnender Preis“); § 18 AVB Berlini­ sche Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) („nach liberalen Grundsätzen zu bestimmender Preis“). Ähnliche Verfahren hatten schon englische Lebensversicherer im 18. Jahrhundert an­ gewendet, vgl. Bye-Law 6 (1772) zu Deed of Settlement of Equitable Society (1762) (Textaus­ gabe, Hrsg. Morgan, 1833). Bei der Gothaer Lebensversicherungsbank (1828) oder der Lebens­ versicherungs-Gesellschaft zu Leipzig (1830) fanden sich hingegen noch gar keine Vorschriften zur „Abgangsentschädigung“. Vgl. auch Braun (2. Aufl. 1963), S. 217; Bruck / Möller / Winter (9. Aufl. 2008), § 169 Rn. 1; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 25 (zur Aus­ zahlung einer Abgangsvergütung in Praxis der „Gothaer“ ab 1831). 138 Braun (2. Aufl. 1963), S. 311, weist darauf hin, dass die Aufspaltung der Bruttoprämie in eine „Risikoprämie“ und eine „Sparprämie“ erst in den 1860er Jahren wissenschaftlich auf­ bereitet wurde.

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entschädigung aus, sondern einen in den AVB exakt festgelegten Bruchteil der rechnerischen Prämienreserve. Das galt jedenfalls dann, wenn der Vertrag schon wenigstens für eine bestimmte Anzahl an Jahren bestanden hatte. Einen anderen Teil des Sparguthabens behielt der Versicherer typischerweise ein, um davon sei­ nen Verwaltungsaufwand zu decken.139 Zum Zweiten gewährten viele Lebensversicherer dem Versicherungsnehmer neben dem Rückkauf der Lebensversicherung das Recht, den Vertrag ohne weitere Prämienzahlung fortzuführen. Eine solche Praxis wurde durch das angesparte Prä­ mienreserveguthaben überhaupt erst möglich. Machte der Versicherungsnehmer von seinem Umwandlungsrecht Gebrauch, so behandelte der Versicherer ihn so, als hätte er sich die volle Prämienreserve auszahlen lassen und dieselbe dann wieder im vollen Volumen eingezahlt, und zwar in Form einer einmaligen Prämie für die gesamte Versicherungsdauer. Falls der Versicherungsnehmer diese Option wählte, so konnte er freilich nur noch eine verminderte Versicherungssumme beanspru­ chen; dafür hatte er bis zum Versicherungsfall keine Prämien mehr zu zahlen.140 Ein Beispiel mag dieses Rechenmodell anschaulicher machen: wenn ein Drei­ ßigjähriger eine „kapitalbildende“ Lebensversicherung abschlossen hatte und diese im Alter von 50 Jahren in eine prämienfreie Versicherung umwandelte, so wurde er so gestellt, als habe er mit 50 Jahren eine neue Lebensversicherung abgeschlossen und dabei die gesamte, über die letzten 20 Jahre angesammelte Prämienreserve als einmalige Prämie geleistet. Er war dann von jeglichen weiteren Prämienzahlungen befreit. Allerdings war er auch nur noch in Höhe derjenigen Summe versichert, zu welcher auch jeder andere Fünfzigjährige versichert gewesen wäre, der einen neuen Vertrag geschlossen und eine entsprechende einmalige Prämie eingezahlt hätte. 139

Insgesamt § 45 V AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Rück­ zahlung von mindestens 50 % der Prämienreserve); § 28 S. 2 AVB Germania Lebens-Versiche­ rungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (mindestens 75 % der Prämienreserve); § 7 I Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (exakt 75 % der Prämienreserve); § 4 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (60–100 % der Prämienreserve je nach Verhältnis zwischen Prämienreserve und Versicherungssumme); § 51 II AVB Gothaer Le­ bensversicherungsbank (1904) (bis zu 100 % der Prämienreserve je nach Verhältnis zwischen Prämienreserve und Versicherungssumme); §§ 11 III AVB Stuttgarter Lebensversicherungs­ anstalt (1906) (75–100 % der Prämienreserve je nach Verhältnis zwischen Prämienreserve und Versicherungssumme). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 130 f.; Denkschrift der Lebensversiche­ rer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 249; Emminghaus, Geschichte der Lebensver­ sicherungsbank zu Gotha (1877), S. 108 (zur Entwicklung bei der Gothaer); Hecht, DVfVWVeröff. 2 (1904), 304, 308; Lewis (1889), S. 333 ff.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 77 f.; von Staudinger (1858), S. 174 f. 140 § 25 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857); § 7 I VerbandsAVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 3 AVB Victoria VersicherungsAktien-Gesellschaft (ca. 1904) (automatische Umwandlung in prämienfreie Versicherung bei längerfristigem Prämienrückstand); § 49 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 13 VI AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906). Vgl. Denkschrift der Lebensver­ sicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 249; Emminghaus, Geschichte der Lebens­ versicherungsbank zu Gotha (1877), S. 115 (zur Einführung der prämienfreien Versicherung bei der Gothaer); Manes (1905), S. 229.

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Die Optionen des Rückkaufs und der Umwandlung einer Lebensversicherung waren vor allem interessant für Versicherungsnehmer, die in finanzielle Schwierig­ keiten geraten waren und ihre laufenden Prämien nicht mehr aufbringen konnten. Ein Rückkauf der Lebensversicherung konnte ihnen rasch finanzielle Liquidität verschaffen, während die Umwandlung sich als günstig für solche Versicherungs­ nehmer erwies, die trotz ihrer Finanzknappheit nicht auf den gesamten Versiche­ rungsschutz verzichten wollten.141 Abseits solcher Erwägungen half das kapitalisierbare Sparguthaben der Le­ bensversicherung allerdings auch, zu einem eigenständigen, verkehrsfähigen Ver­ mögensgegenstand zu werden. Nachdem einer jeden Lebensversicherungspolice fortan ein mathematisch fixierbarer Wert innewohnte, fiel es dem Rechtsverkehr nicht mehr schwer, Lebensversicherungspolicen beliebig zu veräußern, zu zedie­ ren, zu beleihen oder zu verpfänden.142 Entsprechende Vorschriften waren in den meisten AVB enthalten.143 Die Lebensversicherung hatte sich letztlich vom Zweck der reinen Altersvorsorge abgekehrt und zu einem multifunktionalen Finanzins­ trument gewandelt. 2. Ein Streifzug durch die zahlreichen Lebensversicherungsmodelle des späten 19. Jahrhunderts Die fortschreitende mathematische Durchdringung der Lebensversicherung brachte eine beinahe unbeschränkte Fülle von Lebensversicherungsprodukten mit sich, welche auf die Bedürfnisse der Versicherungsnehmer praktisch maßgeschnei­ dert werden konnten. Ein nahezu idealtypischer Katalog der Versicherungsmoda­ litäten, welche schon in den 1850er Jahren praktiziert werden konnten, findet sich 141

Dazu s. etwa die ausdrücklichen Erwägungen der Sachverständigenkommissionen zum VVG, archiviert unter „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.163 ff. (Lebensversicherung 5. Sitzung zu § 153 RJA-E = § 178 VVG). Dazu noch eingehend unter § 3 D VIII 2 b aa. 142 Vgl. Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 117 (S. 532) (Lebensversicherung als Instrument zur Kreditbeschaffung); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 40; Jolly, Zs. f. dt. Recht 11 (1847), 317, 419; Malß, Betrachtungen (1862), S. 18, 77 f.; Manes (1905), S. 215 f.; von Staudinger (1858), S. 163 ff. 143 Die Zession der Police an sich war schon bei den Lebensversicherern der „Ersten Grün­ dungswelle“ möglich, da es hierbei nicht auf deren exakt quantifizierten Wert ankam: § 4 II Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); § 4 S. 3 AVB Leipziger Lebens­ versicherungs-Gesellschaft (1830); § 17 I AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); § 13 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857); § 48 I AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904). Hingegen war eine Beleihung bzw. Verpfändung der Police erst ab den 1850er Jahren möglich, da die Beleihung der Police zunächst die Be­ rechnung des Rückkaufwertes, d. h. des Beleihungswertes, erforderte: § 29 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857); § 2 II Verbands-AVB Deutscher Lebens­ versicherungs-Gesellschaften (1875); § 4 S. 4 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesell­ schaft (ca. 1904); § 50 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 12 AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906).

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in den AVB der Stettiner Lebensversicherungsgesellschaft „Germania“ aus dem Jahr 1857. Die dort abgedruckte Liste von Lebensversicherungsprodukten – und zwar nach eigenem Bekunden nur der „hauptsächlichsten“ – spricht am besten für sich selbst:144 „§ 1. Geschäftskreis der Gesellschaft. Die Lebensversicherungs-Aktien-Gesellschaft „Ger­ mania“ zu Stettin schließt innerhalb des in § 2 ihrer Statuten bezeichneten Geschäftskreises Versicherungen jeder Art ab. Die hauptsächlichsten sind folgende: A. Versicherungen auf den Todesfall. I. Von Kapitalien. Das Versicherungskapital wird zahlbar: 1. bei dem Tode der versicherten Person, gleichviel wann derselbe erfolgt (lebens­ längliche Versicherung); 2. bei dem Tode der versicherten Person, sofern derselbe innerhalb eines bestimmten Zeitraumes erfolgt (kurze Lebensversicherung); 3. bei dem Tode der versicherten Person, sofern derselbe erst nach Ablauf eines bestimmten Zeitraums erfolgt (aufgeschobene Lebensversicherung); 4. bei dem Tode der versicherten Person oder schon früher, sobald letztere ein bestimmtes Alter erreicht hat; 5. bei dem Tode der von zwei im Versicherungsvertrage genannten Personen zuerst sterbenden; 6. bei dem Tode der von zwei im Versicherungsvertrage genannten Personen zuletzt sterbenden; 7. bei dem Tode der versicherten Person, sofern alsdann eine zweite im Versicherungsvertrage genannte Person noch lebt (Überlebungsversicherung). II. Von Renten. Die Versicherte Rente wird gezahlt: 1. zum ersten Male 1 Jahr nach dem Tode der versicherten Person in dem Falle, daß dann eine zweite im voraus bestimmte Per­ son noch lebt, und von da ab jährlich bis zum Tod der letzteren; 2. In derselben Weise wie ad 1, jedoch zum ersten Male jedenfalls erst 1 Jahr nach Ablauf eines vorher bestimmten Zeitraums; 3. zum ersten Male 1 Jahr nach dem Tode der von zwei Personen, welche im Versicherungsvertrage genannt sind, zuerst sterbenden, und von da an bis zum Tode der von ihnen am längsten lebenden; 4. in derselben Weise wie ad 3, jedoch zum ersten Male jedenfalls erst 1 Jahr nach Ablauf eines vorher bestimmten Zeitraums. B. Versicherungen auf den Lebensfall. I. Von Kapitalien. Das versicherte Kapital wird zahl­ bar: 1. wenn das versicherte Kind einen im voraus bestimmten Termin erlebt (Aussteuer­ versicherung); 2. wenn der Versicherte ein bestimmtes Alter erlebt. […]“

Ähnliche Möglichkeiten deklinierten die AVB der „Germania“ anschließend auch noch für die Rentenversicherung auf den Erlebensfall. Jedes dieser Produkte bedurfte freilich einer gesonderten versicherungsmathematischen Wahrschein­ lichkeitsrechnung. Sofern die Versicherungsgesellschaft jedoch über die nötigen mathematischen Fähigkeiten verfügte, begrenzte praktisch nur noch die juristische Phantasie ihre Gestaltungsfreiheit. 144 Zu den verschiedenen Modalitäten der Lebensversicherung auch Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 117 (S. 531 ff.); Brämer / Brämer (1894), S. 68 ff., 85 ff. (mit einer detaillierten Aufzäh­ lung größerer Lebensversicherungsgesellschaften und den von ihnen betriebenen Modellen); ebd. S. 149 ff. (eingehend zur rechtlichen Funktionsweise dieser Modalitäten); Emminghaus, Geschichte der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1877), S. 238 ff. (mit einer detaillierten Beschreibung aller Lebensversicherungsgesellschaften bis 1876 und den von ihnen angebote­ nen Modellen); Endemann (1. Aufl. 1865), § 176.III (S. 839 ff.); Malß, Betrachtungen (1862), S. 21 ff.; Manes (1905), S. 230 ff.; von Staudinger (1858), S. 20 ff.

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Sobald man bei alledem einer jeden Police einen individuellen Barwert zuord­ nen konnte, war es im Übrigen ohne weiteres möglich, von einer Vertragsmodalität rechnerisch in eine andere überzugehen, eine lebenslange Todesfallversicherung beispielsweise in eine „gemischte“ umzuwandeln. Um das dadurch steigende Ri­ siko rechnerisch zu kompensieren, musste der Versicherer nur die bereits ange­ sammelte Prämienreserve ausschöpfen.145 Darüber hinaus praktizierten einige Ge­ sellschaften auf Wunsch sogar Lebensversicherungen auf der Basis eines fiktiven, von der Realität abweichenden Eintrittsalters:146 ein Vierzigjähriger konnte sich unproblematisch zu den Vertragskonditionen eines Dreißigjährigen versichern las­ sen, wenn er zu Vertragsbeginn nur genügend Kapital einzahlte, um den Versiche­ rer rechnerisch so zu stellen, als hätte er bereits seit zehn Jahren eine ausreichend hohe Prämienreserve angesammelt. Nach diesem kurzen Streifzug durch die mathematischen Untiefen der Lebens­ versicherungstechnik lässt sich, nebenbei bemerkt, auch eine plausible Hypothese entwickeln, wieso es unter den Lebensversicherern zwar zu Ansätzen einer Ver­ bandsbildung, niemals jedoch zur Vereinheitlichung der Allgemeinen Versiche­ rungsbedingungen kam. Auf einen gemeinsamen Nenner ließen sich die einzel­ nen Versicherungsmodalitäten wohl schlicht und ergreifend nicht mehr bringen. Neben dieser hoch diversifizierten privatwirtschaftlichen Lebensversicherungs­ praxis existierten freilich noch zahlreiche alte Sterbe- oder Begräbniskassen, berufsständische Versorgungseinrichtungen und staatliche Witwen- und Waisen­ kassen fort, deren Entwicklungslinie sich bis weit vor das Aufkommen größerer Lebensversicherungsgesellschaften zurückverfolgen lässt. Indes spielten sie – im Gegensatz zu den traditionsreichen, staatlich geführten Feuersozietäten – weder in der zeitgenössischen Literatur noch in der legislatorischen Diskussion eine tra­ gende Rolle. Etliche staatliche Witwen- und Waisenkassen wurden im Verlauf des 19. Jahrhunderts geschlossen,147 während andere, beispielsweise die preußische Wittwen-Verpflegungs-Anstalt von 1775, lediglich ihre Beitragstarife verbesser­ ten, im Übrigen aber an den rechtlichen Strukturen festhielten, die sie schon im 145

Z. B. § 51 V AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 13 AVB Stuttgarter Le­ bensversicherungsanstalt (1906). Allgemein zum Übergang von einer Versicherungsmodalität zu einer anderen vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 153 f. 146 Z. B. § 39 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854); § 42 I AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Versicherung hoher Lebensrisiken geschieht durch fiktive Annahme eines höheren Eintrittsalters); § 6 III 2, 3 AVB Stuttgarter Lebensversiche­ rungsanstalt (1906). Vgl. zu dieser Möglichkeit schon von Staudinger (1858), S. 111. 147 Zur Schließung von Witwenversorgungsanstalten in Preußen, vgl. z. B. Verordnung, be­ treffend die Schließung mehrerer in den neuen Landestheilen bestehender Staatsdiener-Witt­ wen- und Waisenkassen v. 15. 09. 1867 (PrGS 1867, 1646): betroffen von der Schließung waren die Hof- und Civildiener-Witwenkasse Hannover v. 08. 05. 1838, die Civildiener-Witwenkasse Hessen v. 20. 11. 1823, die Civil-Wittwen- und Waisengesellschaft Hessen v. 29. 03. 1827, die Central-Wittwen- und Waisenversorgungs-Anstalt Nassau v. 23. 12. 1820, die Wittwen- und Waisenkasse der höheren Civil-Staatsdiener Nassau v. 02. 06. 1860 sowie die Allgemeine Versor­ gungs-Anstalt für Wittwen und Waisen Landgräflicher Diener Hessen-Homburg v. 31. 10. 1837.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

18. Jahrhundert besessen hatten.148 Völlig verschieden zu den privaten Lebens­ versicherungsgesellschaften gingen hingegen diverse berufsgenossenschaftliche Vorsorgeeinrichtungen vor, indem sie unter anderem ihre Versicherungsbeiträge nicht nach versicherungsmathematischen Prinzipien, sondern nach der Höhe des Arbeitslohns berechneten;149 wieder anderes funktionierten einige privat organi­ sierte kleinere Sterbekassen, die an ihre Mitglieder bis ins 20. Jahrhundert hinein lediglich ein Sterbegeld oder die anfallenden Begräbniskosten zahlten, wobei sie sich zum Teil noch immer des einfachen Umlageverfahrens bedienten.150 In den Gesetzgebungsmaterialien zum VVG, ja selbst in den Motiven jener Gesetzesentwürfe, die sich im 19. Jahrhundert an der Kodifizierung des Lebens­ versicherungsrechts versucht hatten, tauchten all jene Versorgungseinrichtungen nur zur Abgrenzung von den erwerbswirtschaftlichen Lebensversicherungen auf: die Formen der berufsgenossenschaftlichen, staatlichen oder vereinsmäßig orga­ nisierten Lebensversicherungseinrichtungen seien schlicht zu vielfältig, als dass sie Gegenstand einer allgemeinen gesetzlichen Kodifikation werden könnten.151 Dementsprechend erklärte das VVG von 1908 einige seiner Normen auf kleinere Sterbekassen für unanwendbar (§ 189 I VVG), während es die eingeschriebenen Hilfskassen und einige berufsgenossenschaftliche Einrichtungen ganz von sei­ nem Anwendungsbereich ausnahm (§ 190 VVG). Die tiefere rechtsdogmatische Untersuchung der Lebensversicherungspraxis wird sich im weiteren Fortgang dieser Untersuchung daher ebenfalls auf die erwerbswirtschaftlichen Versiche­ rungsprodukte, vor allem die beliebten „kapitalbildenden“ Lebensversicherungen beschränken.

148

Beispiele für diese Entwicklungstendenz finden sich in § 1 Gesetz, einige Abänderungen des Patents über die Errichtung der Allgemeinen Wittwenverpflegungs-Anstalt vom 28. De­ zember 1775 betreffend, vom 17. 05. 1856 (PrGS 1856, 477), das die versicherungsmathemati­ schen Berechnungen der preußischen Wittwen-Verpflegungs-Anstalt (NCC V, 381) reformierte (Antrittsgelder, Jahresprämien, Pensionshöhen, Karenzfristen), i. Ü. aber das ursprüngliche Reglement unberührt ließ. Zur Hamburger Versorgungsanstalt von 1778 vgl. auch Boehart (1985), S. 72 f. („lediglich kleinere Korrekturen der ursprünglichen Verfassung“ bei der Ham­ burger Versorgungs-Anstalt); Brämer / Brämer (1894), S. 82. 149 Z. B. Art. 62 I Königliches Gesetz, betreffend die Volksschulen v. 29. 09. 1836 (RegBl. Württemberg 1836, 491); §§ 6–8 Revidirte Verordnung der Pensions-Casse für die Wittwen und Waisen der Beamte und Officianten des Hamburgischen Staats, in Folge Rath- und Bürger­ schlusses vom 01. 07. 1847 (Lappenberg XX, 167); §§ 5, 7 Ordnung der Pensions-Casse für die Wittwen und Waisen der Angestellten des Hamburgischen Staats v. 10. 05. 1871 (HambGS 1871, 33). Vgl. zu den berufsständischen Versorgungseinrichtungen auch Brämer / Brämer (1894), S. 65 f. 150 Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1904 (GStA  PK, I.  HA Rep. 84  a Justizministerium, Nr. 5582.46), S. 6. Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 66; von Knebel Doeberitz, ZVersWiss 2 (1902), 1 f.; Manes (1905), S. 244 f. 151 So ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu §§ 159 ff. (Vorbemerkung) (abgedruckt in: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz [Nachdruck 1963], S. 59–266). Zum 19. Jahrhundert, s. auch Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 504 (abgedruckt in: Entwurf für ein Handelsgesetz­ buch für das Königreich Württemberg mit Motiven. II. Theil. Motive, Textausgabe 1840).

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3. Die tendenziell versichertenfreundliche Gestaltung der Lebensversicherungsbedingungen im späten 19. Jahrhundert Angesichts des hochgradig diversifizierten und flexiblen Lebensversicherungs­ marktes musste auch die rechtliche Ausgestaltung der Lebensversicherungs­ bedingungen vielfältiger und uneinheitlicher sein, als es zeitgleich bei den AVB der Feuerversicherer der Fall war. Während des 19. Jahrhunderts befand sich die Praxis in einem fortlaufenden Entwicklungs- und Gestaltungsprozess, in dessen Lauf die Position des einzelnen Versicherungsnehmers tendenziell sogar stärker statt schwä­ cher wurde. Trotz der einseitigen Vertragsgestaltungsmacht, die de facto auch den Lebensversicherern zufiel, hatte das Lebensversicherungsrecht damit einen ganz anderen Weg beschritten als zur selben Zeit das Feuerversicherungsrecht. Als die Lebensversicherung in den 1850er Jahren einige nennenswerte techni­ sche und mathematische Fortschritte erzielt hatte und ebenfalls an der Schwelle zum Massengeschäft stand, teilte sie mit der Feuerversicherung zunächst noch eine Tendenz zu vorsichtigen und strengen Sanktionen, die den Versicherungsnehmer bei jeglichem Fehlverhalten treffen sollten. Die bereits zuvor zitierten AVB der „Germania“ von 1857 können auch hierfür als Beispiel dienen, denn sie bündelten sämtliche Sanktionsvorschriften recht kompakt in ihrem § 30:152 „§ 30. Erlöschen der Versicherungen. [1] Jeder Versicherungsvertrag ist ohne weiteres aufgehoben, mit der Wirkung, daß eine jede Verpflichtung der Gesellschaft zur Zahlung der versicherten Gelder erloschen ist und ihr alle von dem Versicherten bezahlten Beiträge unbedingt verfallen sind: 1. Wenn die Prämie nicht jedesmal rechtzeitig und vollständig bezahlt wird. (§ 23.) 2. Wenn in den Deklarationen (§ 6) oder unter Mitwissen des Antrag­ stellers oder der versicherten Person in den Attesten und Schriftstücken, auf Grund deren die Versicherung abgeschlossen wurde, unrichtige Angaben oder Erklärungen abgegeben sind, oder etwas verschwiegen ist, was auf den Entschluß der Gesellschaft, in den Versi­ cherungsvertrag bedungenermaßen sich einzulassen, hätte Einfluß haben können. 3. Wenn in den Schriftstücken und Zeugnissen, welche zum Zweck der Erhebung der versicherten Gelder der Gesellschaft vorgelegt werden, unter Mitwissen der Person oder Personen, wel­ che aus dem Versicherungsvertrag Rechte herleiten, unrichtige Angaben oder Erklärungen abgegeben sind, oder etwas verschwiegen ist, was die Verpflichtung der Gesellschaft zur Zahlung der versicherten Gelder ganz oder teilweise aufheben oder modifizieren würde. Sind mehrere berechtigte Personen vorhanden, so erlischt der Versicherungsvertrag nur in Ansehung desjenigen, dem die Unredlichkeit zur Last fällt. Die Ansprüche der anderen werden hiervon nicht betroffen. 4. Wenn die Atteste zu 2 und 3 gefälscht sind. [2] Auf Grund solcher unrichtiger Schriftstücke ad 2–4 von der Gesellschaft bereits geleistete Zahlungen müssen nebst Zinsen zurückerstattet werden.“

152

Vergleichbar §§ 62, 63 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828); §§ 35, 36 AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830); §§ 20–22, 24 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); §§ 48–52 AVB Lebensversicherungs- und Erspar­ nisbank Stuttgart (1854); § 10 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Der § 31 der AVB der „Germania“ setzte diesen Katalog noch in derselben Weise fort. Er ordnete die Rechtsfolge des § 30 auch dann an, wenn der Begüns­ tigte selbst die versicherte Person getötet hatte. Ferner stand der Begünstigte leis­ tungsfrei, wenn die versicherte Person einen Selbstmord begangen oder jedenfalls einen Suizidversuch unternommen hatte, wenn sie im Duell umgekommen oder verletzt worden war, wegen eines schweren Verbrechens zu mindestens drei Jah­ ren Freiheitsstrafe verurteilt wurde, in den Krieg zog, sich auf eine Reise zur See oder in gefährliche Erdteile begab, einen gefährlichen Beruf aufnahm oder wenn sie der Trunksucht oder sonst einem „lasterhaften Lebenswandel“ verfiel.153 Die wohl bedeutendste Härte dieser Bedingungen lag indes darin, dass der Versicherte im Sanktionsfall restlos alle gezahlten Beiträge verlor (§ 30 I), ohne dass die „Ger­ mania“ aber feiner zwischen der eigentlichen Risikoprämie und den angesparten Prämienreserven differenzierte154 – das Sparguthaben, welches der Versicherungs­ nehmer in die Hände der Gesellschaft gelegt hatte, fungierte gewissermaßen als zusätzliches Faustpfand für den Fall eines vertraglichen Fehlverhaltens. In den folgenden Jahrzehnten gab die Lebensversicherungspraxis jedoch diese restriktive Handhabung wieder auf und begann zunehmend, zwischen den beiden rechnerischen Teilen der Versicherungsprämie, der eigentlichen Risikoprämie und der angesparten Prämienreserve, zu differenzieren. Jedenfalls, wenn der Ver­ sicherungsvertrag erlosch oder gekündigt wurde, weil der Versicherungsnehmer mit seinen laufenden Prämienzahlungen in Rückstand geraten war, zahlte die ganz überwiegende Praxis jenem seine Prämienreserve zurück; manche Gesellschaften benutzten die Reserve sogar, um die Versicherung in eine prämienfreie umzuwan­ deln.155 Viele Lebensversicherer gingen sogar noch weiter und tendierten konse­ quent dazu, in jedem Fall der Vertragsauflösung den Rückkaufwert oder sogar die volle Prämienreserve zu erstatten – gleichgültig, ob der Versicherungsnehmer den Vertrag freiwillig aufgelöst hatte oder ob die Versicherung zum Beispiel we­ 153

Zu den Beendigungstatbeständen insgesamt Brämer / Brämer (1894), S. 119 ff.; von Staudinger (1858), S. 80 ff., 92, 174 (auch zur Rechtsfolge der völligen Leistungsfreiheit). 154 Im Falle des Krieges oder einer gefährlichen Land- oder Seereise erlaubte aber auch die „Germania“ bereits die vorübergehende Suspendierung des Vertrages (§ 35); falls die versi­ cherte Person während der einvernehmlich vereinbarten Suspensionszeit starb, konnten die Begünstigten immerhin doch die Prämienreserve erstattet verlangen. Andere Lebensversi­ cherer erstatten das „Deckungskapital“ auch schon zu dieser Zeit, falls die versicherte Person durch ihr eigenes Verschulden zu Tode gekommen war: § 51 AVB Leipziger Lebensversiche­ rungs-Gesellschaft (1830); § 24 I AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); § 11 S. 1 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875). Vgl. dazu auch von Staudinger (1858), S. 171. 155 Ähnlich §§ 47  II, 51 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Auszahlung des Rückkaufwertes bei Prämienverzug in den ersten beiden Versicherungsjahren); ebd. § 47 III (Umwandlung in prämienfreie Versicherung bei Prämienverzug nach den ersten beiden Ver­ sicherungsjahren); § 3 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Umwand­ lung in prämienfreie Versicherung bei Prämienverzug nach den ersten drei Versicherungsjah­ ren); §§ 10 VIII, 13 VI AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (auf Antrag bei hinreichend großem Volumen der Prämienreserve). Vgl. schon Malß, Betrachtungen (1862), S. 61 (mit weiteren Nachweisen aus der Praxis); von Staudinger (1858), S. 172.

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gen einer fehlerhaften Anzeige erloschen war.156 Besonders weit gingen in etwa die AVB der Stuttgarter Lebensversicherungsbank, die im Jahr 1906 bestimmten: „§ 11. [1] Die Versicherung kann von dem Inhaber der Police jederzeit ganz oder teilweise gekündigt werden. […] [3] Als Rückvergütung werden 75 Prozent der Prämienreserve und sofern letztere 80 Prozent der Versicherungssumme oder mehr beträgt, die ganze Prämienreserve und eventuell die rückständige Dividende gemäß Art. 27 A I der Satzung gewährt. Sind aber auf die gekündigte Versicherung noch nicht volle drei Jahresprämien gezahlt, so wird an dem Rückvergütungsbetrag 1 Prozent der Versicherungssumme in Abzug gebracht. […] § 16. [1] Vorausgesetzt, daß die statuarischen Bestimmungen hinsichtlich der zu leistenden Zahlungen erfüllt werden und die in den §§ 14 bis 15 erwähnten Fälle der Auflösung nicht zutreffen, ist der Versicherungsvertrag nur dann hinfällig, wenn sich früher oder später ergeben sollte, daß in den zum Behufe der Versicherung ausgestellten, der Bank und dem Vertrauensarzte abgegebenen Erklärungen gegen besseres Wissen eine Unwahrheit an­ gegeben oder absichtlich der wahre Sachverhalt verschwiegen und dadurch die Bank zur Aufnahme veranlaßt wurde. [2] Die hierdurch erloschenen Versicherungen werden gegen Rückgabe der Police wie im Falle der Kündigung (§ 11) abgefertigt. [3] War die unwahre Angabe oder absichtliche Verschweigung nur auf die Bedingungen für die Aufnahme von Einfluß, so wird die Versicherung nicht hinfällig, die Bank ist aber berechtigt, nachträglich die entsprechende Prämienerhöhung in Anrechnung zu bringen. [4] Unrichtige Angabe des Alters wird als Irrtum behandelt und bei sich herausstellendem höheren Alter dadurch berichtigt, daß die Versicherungssumme nach Maßgabe der gezahlten Prämie unter Zugrun­ delegung der zur Zeit im Gebrauch befindlichen Tarifsätze für das wahre Alter herabgesetzt wird; war dagegen das Alter ein niedrigeres als der Versicherte angegeben, so wird aus der Prämienreserve die entsprechende Differenz zurückvergütet. [5] Berufsänderung ist auf den Fortbestand der Versicherung ohne Einfluß.“

Aus dem Beispiel wird allerdings nicht nur ersichtlich, wie die Lebensversiche­ rungspraxis stringent zwischen den beiden Teilen der Versicherungsprämie diffe­ renzierte und so einen Teil der Prämienreserve bei jeder Vertragsbeendigung aus­ kehrte (§ 16 II i. V. m. § 11 III), sondern auch, dass das Vertragsverhältnis überhaupt nur noch im Falle arglistiger Vertragsverletzungen aufgelöst wurde (§ 16 I).157 Die unrichtige Altersangabe schadete dem Bestand des Vertrages indessen gar nicht mehr, selbst wenn sie mit vollem Vorsatz erfolgt war.158 Es war den Versicherern, 156

Ähnlich §§ 53 I 3, 54 III, § 59 S. 2 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Rei­ sen in gefährliche Erdteile, Antritt des Kriegsdienstes, eigenverantwortlicher Selbstmord nach zwei Jahren Versicherungsdauer); § 1 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca.  1904) (Tod durch Selbstmord oder Duell, dazu s. auch sogleich); §§ 16  II, 17  III AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (vorvertragliche Falschangaben, Fälle des nicht versicherten Selbstmordes). 157 Ähnlich § 56 III AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (arglistiges Verschweigen von Gefahrumständen bei Vertragsschluss nach Bestand des Vertrages von über zwei Jahren); § 16 I AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (arglistiges Verschweigen von Ge­ fahrumständen bei Vertragsschluss). 158 So auch § 55 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 16 IV AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906). Vgl. Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 245 f.

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wie vorhin gezeigt, ohnehin problemlos möglich, die Versicherungsmodalitäten mithilfe rechnerischer Anpassungen zu verändern – zum Beispiel auch, indem man der versicherungsmathematischen Kalkulation ein fiktives Eintrittsalter zu Grunde legte. Diese Kenntnisse wandte die Stuttgarter Lebensversicherungsbank – ebenso wie zahlreiche andere Versicherungsgesellschaften – sogar an, um absichtlich fal­ sche Altersangaben nachträglich zu korrigieren.159 In alledem zeichnete sich eine zweite Entwicklungstendenz ab, die vor allen Dingen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts immer deutlicher hervortrat: namentlich das Bestreben der Versicherungsgesellschaften, das Vertragsverhältnis insgesamt nicht mehr bei jeder Form der Vertragsverletzung zu beenden, sondern nach Möglichkeit in geringfügig modifizierter Form aufrecht zu erhalten. Vor­ aussetzung für jene privilegierte Behandlung des vertragswidrig handelnden Ver­ sicherungsnehmers war in den meisten Fällen nur, dass seit dem Vertragsschluss eine ausreichend lange Karenzfrist verstrichen war. Nach dieser Zeit, meist zwei oder drei Jahre, hatten sich üblicherweise die Vertragsabschlusskosten der Ver­ sicherungsgesellschaft amortisiert und der Versicherer konnte, ohne einen finan­ ziellen Verlust befürchten zu müssen, den Vertrag ins Stadium der „Unanfechtbar­ keit“ oder „Unverfallbarkeit“ treten lassen.160 Besonders kompakt und gebündelt fasste zum Beispiel die Gegenseitigkeitsgesellschaft „Victoria“ in ihren AVB von 1904 jene Prinzipien zusammen, die sich in weiten Teilen der Praxis etabliert hatten:161 „§ 1. Stirbt die versicherte Person in dem ersten Versicherungsjahre infolge Selbstmordes oder Duells, so ist die Victoria zu Berlin nur zur Zahlung der vollen Prämienreserve der betreffenden Versicherung verpflichtet. § 2. Unanfechtbarkeit. Stirbt die versicherte Person nach einjährigem Bestand der Versiche­ rung, so kann die Victoria den Vertrag aus keinem Grunde anfechten, vorausgesetzt, daß die Prämien in der nach §§ 6 bis 8 festgesetzten Höhe und Zeit bezahlt sind. § 3. Unverfallbarkeit. Nach dreijährigem Bestehen einer Versicherung erlischt dieselbe nicht mehr durch Nichtzahlung der Prämien, sondern wird unter Reduktion der Versicherungs­ summe nach dem Verhältnis der tatsächlich geleisteten zur vertragsmäßig bedungenen Anzahl von Prämien in eine beitragsfreie umgewandelt, für welche indessen Dividenden nicht mehr gewährt werden.“

159

Ähnlich z. B. § 14  II Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 55 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904). 160 Zum Prinzip der „Unanfechtbarkeit“ auch Brämer / Brämer (1894), S. 116 ff.; Braun (2. Aufl. 1963), S. 285 f.; Emminghaus, Assek.-Jb. 9 (1885), 3, 7 ff. Zum Prinzip der „Unver­ fallbarkeit“ auch Manes (1905), S. 214 f. 161 Ähnlich §§ 47 III, 54 II, 56 III, 59 S. 1 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Wirkungslosigkeit fast aller Sanktionsandrohungen nach zwei Jahren Versicherungsdauer); § 15  I  1 AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (Versicherungsanspruch trotz jeder Art von Selbstmord nach zwei Jahren Versicherungsdauer). Vgl. auch Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 1, 25 zum Prinzip der „Unverfallbarkeit“.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatten sich die Feuer- und die Lebensversi­ cherungspraxis also in ganz gegenteilige Richtungen entwickelt. Die erstere hielt für lange Zeit an einer Klauselgestaltung fest, die den Versicherungsgesellschaf­ ten eine übermäßig starke rechtliche Position einräumte, die letztere machte ihren Versicherungsnehmern hingegen zahlreiche Zugeständnisse, und zwar aus eigener Kraft. Über die Gründe für diese bedeutend publikumsfreundlichere Entwicklung der Lebensversicherungsbedingungen lassen sich mehrere Hypothesen aufstellen. Die Herausforderungen, vor welche die Rechtspraxis den Lebensversicherer stellte, waren ganz vornehmlich auf der versicherungstechnischen oder mathe­ matischen Ebene angesiedelt.162 Während also die Feuerversicherer ihren Ver­ tragspartnern, wie vorhin illustriert, mit stetigem Misstrauen begegneten und daher jedem vertraglichen Fehlverhalten vorbeugen wollten, trugen die Lebens­ versicherer solche Befürchtungen nicht in gleichem Maße. Die Hemmschwelle für Mord und Selbstmord dürfte freilich noch um einiges höher liegen als für entsprechende Betrugsversuche gegen den Feuerversicherer.163 Verhielt sich der Versicherungsnehmer doch einmal vertragswidrig, so konnte dieses Fehlverhalten zu einem beträchtlichen Teil mit den Werkzeugen der Versicherungsmathematik geglättet werden, wie beispielsweise die Klauseln zu unrichtigen Altersangaben oder zur automatischen Vertragsumwandlung bei Prämienrückständen gezeigt haben. Erleichterungen zugunsten des Versicherungsnehmers oder der Begünstig­ ten waren in der Lebensversicherung also rechtlich leichter umsetzbar als in der Feuerversicherung. Dass sie indes in der Praxis wirklich eine Umsetzung erfuhren, dürfte allem Anschein nach der marktwirtschaftlichen Konkurrenz zuzuschrei­ ben sein.164 Zwar konnten theoretisch auch die Lebensversicherer das anwendbare Vertragsrecht unilateral diktieren, doch war es hier niemals zu einem branchen­ weiten Einverständnis über gemeinsame Versicherungsbedingungen gekommen, welches – wie in der Feuerversicherungspraxis – den freien Wettbewerb um die besten Versicherungsmodalitäten erstickt hätte165. Die zahlreichen unterschiedlichen Versicherungsmodalitäten und die reiche Vielfalt an rechtlichen Bestimmungen, die in den Lebensversicherungsbedingun­ gen einzelner Gesellschaften gewachsen waren, offenbaren aber letztlich auch das zentrale Problem, das sich einem jeden Gesetzgeber hier stellte: in vielen Punkten war das deutsche Lebensversicherungsrecht weit von einer einheitlichen Praxis­ gestaltung entfernt. Die gesetzgeberische Tätigkeit erforderte daher gerade auf 162

Auch Brämer / Brämer (1894), S. 183 f. nennt die höhere mathematische Komplexität der Lebensversicherung als wichtigen Unterschied zu den Elementarschadensversicherungen; s. auch Malß, Betrachtungen (1862), S. 31. 163 Ausdrücklich Rautmann, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 20, 23. 164 So auch Manes (1905), S. 210; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 366 ff., der die Verbreitung des Rückkaufs- und Umwandlungsrechts in der Lebensversicherung alleine auf die marktwirt­ schaftliche Konkurrenz zwischen den Gesellschaften zurückführte. 165 Zum fehlgeschlagenen Versuch, branchenweit einheitliche Lebensversicherungsbedin­ gungen zu schaffen, vgl. schon unter § 3 B I 2.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

dem Terrain des Lebensversicherungsrechts ganz besondere Vorsicht, um die Ent­ wicklung maßgeschneiderter Lebensversicherungsprodukte nicht durch übermäßig starre gesetzliche Bestimmungen zu behindern.

IV. Die Rolle von Wissenschaft und Rechtsprechung im Binnenversicherungsrecht des 19. Jahrhunderts Wenn in der Literatur behauptet wird, die Versicherungsgesellschaften hätten sich im 19. Jahrhundert gleichsam zum „Ersatzgesetzgeber“ aufschwingen können, dann rührt das daher, dass die Feuer- und Lebensversicherungsbedingungen, die in den vorigen Kapiteln porträtiert worden sind, während des gesamten Jahrhun­ derts in keinen gesetzlichen Rahmen gefasst worden sind. Zwei wichtige Akteure flankierten die Entwicklung des Versicherungsrechts dennoch: nämlich die Rechts­ wissenschaft und die Rechtsprechung. Beide begannen nach 1850 allmählich, das Binnenversicherungsrecht auch rechtsdogmatisch tiefer zu durchdringen. Ihr Ein­ fluss auf die junge Rechtsmaterie sollte nicht unterschätzt werden. Die Versiche­ rungsgesellschaften konnten zwar mit ihren AVB ein pragmatisches Praxisrecht mit teilweise detailscharfen Einzelbestimmungen schaffen – doch diese oft bruch­ stückhafte, mancherorts noch unvollständige Rechtsmaterie zu systematisieren und in ein innerlich kohärentes System von Rechtssätzen zu verwandeln, versuchten erst die Wissenschaft und die Rechtsprechung. So war im späten 19. Jahrhundert – noch immer bar jeder gesetzlichen Grundlage – ein Bewusstsein von elementaren Prinzipien des Binnenversicherungsrechts gewachsen, die zusehends sogar mit dem herrschenden Praxisrecht in Konflikt geraten konnten, statt dasselbe nur abzubil­ den. Im Folgenden sollen daher die Beiträge der Wissenschaft und Rechtsprechung zum deutschen Binnenversicherungsrecht grob skizziert und in den rechtshistori­ schen Gesamtkontext eingeordnet werden. 1. Die Entwicklung einer geschlossenen Binnenversicherungsdogmatik in der Rechtswissenschaft Bis ungefähr in die 1850er Jahre hinein hatte die Rechtswissenschaft der neu­ artigen Materie des Binnenversicherungsrechts kaum Beachtung geschenkt. In ihren frühesten Anfängen hatte sich die Versicherungswirtschaft des 19. Jahrhun­ derts hauptsächlich auf kaufmännische Kreise konzentriert; der Rechtswissen­ schaft, deren Interesse zu jener Zeit vornehmlich den tradierten Sätzen des römi­ schen Rechtes galt, blieben die Eigenheiten der handelspraktischen Sondermaterie „Versicherung“ vorläufig fremd.166 Das änderte sich in der Epoche der „Zweiten Gründungswelle“, welche die Versicherung zum Massengeschäft erhob und in die privaten Haushalte trug. 166

Malß, Betrachtungen (1862), S. 3; Neugebauer (1990), S. 120 ff.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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a) Die historische Rechtsschule und ihre Relevanz für das deutsche Binnenversicherungsrecht Zum Ende der 1850er Jahre begannen sich auch einzelne Rechtswissenschaftler für die systematische Aufbereitung des Binnenversicherungsrechts einzusetzen, allen voran eine Zahl wissenschaftlich forschender Versicherungspraktiker.167 Eine Vielzahl der frühesten rechtsdogmatischen Abhandlungen über das Binnen­ versicherungsrecht stammten von Conrad Malß, einem Rechtsberater der Versi­ cherungsgesellschaft „Providentia“.168 Den „Stubengelehrten“ hingegen attestierte Malß zu dieser Zeit – wie ja ganz zu Beginn dieser Forschungsarbeit erwähnt –, die Versicherung sei ihnen „nahezu unverständlich geblieben“.169 Ein anderer nen­ nenswerter Vertreter dieser ersten, hauptsächlich noch aus den Kreisen der Versi­ cherungswirtschaft stammenden Schriftsteller war Ernst Albert Masius, der an der Gründung gleich mehrerer Versicherungsgesellschaften beteiligt war; sein wissen­ schaftlicher Fokus lag aber weniger auf den rechtlichen, sondern auf den ökono­ misch-technischen Aspekten des Versicherungswesens.170 Schließlich beschäftigte sich mit Julius von Staudinger, der 1858 seine Dissertation zur „Rechtslehre vom Lebensversicherungsvertrag“ vorlegte, auch ein erster Vertreter der akademischen Rechtswissenschaften mit dem Versicherungsrecht;171 es sollte jedoch noch eine Weile dauern, bis andere Akademiker von Staudingers Beispiel folgten. Die wissenschaftlich-dogmatische Durchdringung des Versicherungsrechts nach 1850 kann allerdings kaum isoliert von den Lehren der damals allgemein vorherrschenden historischen Rechtsschule betrachtet werden. Im frühen 19. Jahr­ hundert hatten sich deren Denkweise und Methoden innerhalb der gesamten Rechtswissenschaft etabliert, nachdem sie zum ersten Mal klar von Friedrich Carl von Savigny formuliert worden waren. Im Kern postulierte die historische Rechtsschule, dass das Recht sich ursprünglich aus historisch gewachsenen Sitten, Gebräuchen und Gewohnheiten eines Volkes herangebildet hatte.172 Die Vertreter jener ganz herrschenden Auffassung gingen also von der Existenz eines „orga­ nisch“ gewachsenen Gewohnheitsrechts aus, das neben den geschriebenen Rechts­ quellen stand, und auch ohne gesetzliche Kodifikation bereits zum allgemein ver­ bindlichen, positiven Recht geworden war. In der rechtstheoretischen Literatur aus 167

Müssener (2008), S. 318; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 166. P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 101 f.; Neugebauer (1990), S. 126 f. 169 Malß, Betrachtungen (1862), S. 3. 170 Vgl. etwa eines der Hauptwerke von Masius, Lehre der Versicherung und statistische Nachweisung aller Versicherungs-Anstalten in Deutschland (1846). Zur publizistischen Tä­ tigkeit von Masius, vgl. auch P.  Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 112 ff.; ders., Pioniere (1968), S. 263. 171 P. Koch, Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 102; Neugebauer (1990), S. 124 f. 172 von Savigny (1814), S. 8 f., 117 f. (Plädoyer für eine „strenge historische Methode“, falls es an gesetzlichen Normen zu einem bestimmten Sachverhalt fehlt). 168

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

jener Zeit war beispielsweise vielfach die Rede von einer „Gestaltung und Ausbil­ dung“ des Rechts „durch die im Volke ruhende, Recht erzeugende Kraft“.173 Um ein solches Gewohnheitsrecht zur Anwendung zu bringen, müsse man zunächst die anwendbaren Rechtssätze aus den anerkannten Rechtsgewohnheiten eines Volkes abstrahieren.174 Als den Ausgangspunkt für die beschriebene „organische“ Rechtsbildung erachtete die historische Rechtsschule jedoch vor allen Dingen das römische Recht, das in der Antike praktisch ein einheitliches, allgemeingültiges Fundament für die Rechtsentwicklung im deutschen Raum gesetzt habe. Letzt­ endlich lief die zentrale Aufgabe der Rechtswissenschaft also darauf hinaus, die ursprünglichen Grundsätze des römischen Rechts herauszuarbeiten. Darauf kon­ zentrierten sich jedenfalls diejenigen Teile der Rechtswissenschaft, die sich der romanistischen Strömung der historischen Rechtsschule zugeneigt fühlten;175 demgegenüber legten die Vertreter der germanistischen Strömung ein stärkeres Gewicht auf die spezifischen Rechtssätze, die sich im deutschen Mittelalter her­ ausgebildet hatten.176 Das relativ junge Versicherungsrecht, das aus den Bedürfnissen der Handelspra­ xis gewachsen war, ließ sich indes nicht mit den Grundsätzen des römischen Rechts erklären und fiel damit durch das Raster der romanistisch orientierten historischen Rechtsschule,177 wenngleich – wie bald noch zu beobachten sein wird – einige Au­ toren und in deren Fahrwasser sogar einige Gesetzgeber178 dennoch den Versuch unternahmen, es mit dogmatischen Figuren des römischen Rechts zu überfor­ men. Ebensowenig lieferte aber das Recht des deutschen Mittelalters verwertbare

173 So ausdrücklich zum Versicherungsrecht: Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 340; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 362. Zum Gewohnheitsrecht und seinen Ursprüngen insgesamt: Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 16 (S. 47), § 29 (S. 82 f.); Bluntschli / Dahn (3. Aufl. 1864), § 6.2 (S. 12 f.); Endemann (1. Aufl. 1865), § 6.III (S. 32); Gerber (5. Aufl. 1855), § 30 (S. 67); Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1 (2. Aufl. 1875), § 35 (S. 316 ff., 338) (zu Handelsusancen als Quellen des positiven Rechts); Malß, ZVersR 1 (1866), 1; Walter (1855), Ziff. 10 (S. 9 f.). Vgl. auch Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 655 ff.; Rüfner, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1 S. 829, 830; Wesel (2010), S. 481. 174 Beseler (4. Aufl.  1885), Bd. 1 § 17 (S. 51); Lang, Bd. 1 (1861), S. 6; ebd., Bd. 2 S. 213; ­Rückert, in: HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 1048, 1051; Rüfner, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1 S. 829, 830. 175 Grundlegend zur integrierenden Rolle des römischen Rechts von Savigny (1814), S. 118. Dazu auch Endemann (1. Aufl. 1865), § 6.III (S. 33); Gerber (5. Aufl. 1855), § 28 (S. 60 ff.). Vgl. Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 658; Rüfner, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1 S. 829, 832. 176 Zu einem starken Fokus auf „germanische“ Rechte, s. z. B. Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 30 (S. 86 f.); Walter (1855), Ziff. 11 (S. 10 ff.). Vgl. Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 664; Rüfner, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1 S. 829, 832. 177 Neugebauer (1990), S. 120 ff.; von Staudinger (1858), S. 37. 178 Vgl. dazu insbesondere die Debatten bei der versuchten Kodifikation des Versicherungs­ rechts im Dresdener Obligationenrechtsentwurf (1866); sie waren stark wissenschaftlich-­ dogmatisch geprägt und rekurrierten gelegentlich auch auf Kategorien des römischen Rechts. Im Detail dazu s. unter § 3 C 5 c.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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Erkenntnisse über das Versicherungsrecht.179 Aus welcher „rechtserzeugenden“ Quelle aber wollte man die Gewohnheiten des Feuer- oder Lebensversicherungs­ rechts dann ableiten? Sehr häufig fanden sich in der rechtlichen Diskussion An­ sätze, die einzelne Prinzipien des Seeversicherungsrechts per Analogieschluss auf die Binnenversicherung übertragen wollten.180 Gerade ausländischen Gesetzen und Entwürfen wie dem französischen Code de Commerce von 1807, dem nieder­ ländischen Wetboek van Koophandel von 1838 oder dem portugiesischen Codigo Commercial von 1830 kam dabei eine tragende Rolle als Rechtsquelle zu. Das glei­ che galt für die deutschen Gesetzesentwürfe zum Versicherungsrecht,181 die zwar nie zum Gesetz wurden, aber dennoch als Erkenntnisquelle des positiv geltenden Gewohnheitsrechts dienen konnten.182 Jedenfalls im Versicherungsrecht erhoben die meisten Autoren gegen eine solch breite Kompilationstätigkeit, die selbst aus­ ländische Quellen mit einbezog, keine Bedenken, da dem Versicherungsrecht ein „universeller Charakter“ zugeschrieben wurde.183 Vor allem aber auch das preu­ ßische Allgemeine Landrecht, das als einziges deutsches Gesetz neben seinen seerechtlichen Grundsätzen sogar einige spezifische Normen zur Feuer- und Le­ bensversicherung enthielt, sollte sich als durchaus brauchbare Erkenntnisquelle erweisen.184 Auf der anderen Seite lag es aber für die Rechtswissenschaft überaus nahe, die Allgemeinen Versicherungsbedingungen  – besonders die Feuerversicherungs­ bedingungen, die ja bis 1850 einen recht hohen Grad an Uniformität erreicht hat­ ten – zur Gewinnung allgemeingültiger Rechtsprinzipien zu nutzen. Als einer der ersten Wissenschaftler überhaupt beschrieb Julius von Staudinger im Jahr 1858 die zweifache Bedeutung der AVB für das Versicherungsrecht: erstens nämlich

179

von Staudinger (1858), S. 38. Diese Tatsache hielt von Staudinger allerdings nicht davon ab, das Versicherungsrecht nach der Terminologie der historischen Rechtsschule als „deutsch­ rechtliches Institut“ zu bezeichnen, namentlich im Gegensatz zu den „römischrechtlichen In­ stituten“. 180 Z. B. Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 116 (S. 527); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 42; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 339; Malß, ZVersR 1 (1866), 1, 3 f. Vgl. auch Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIV. 181 Zu den deutschen Gesetzesentwürfen noch ausführlich unter § 3 C III. 182 Insbesondere die Darstellung bei Kübel, ZVersR 1 (1866), 321 und ZVersR 2 (1868), 1 war durchdrungen von rechtsvergleichenden Betrachtungen in- und ausländischen Quellen; vgl. aber auch von Staudinger (1858), mit zahlreichen Verweisen auf den preußischen HGBEntwurf von 1857 den Code de Commerce. Zum kompilativen Charakter der historischen Versicherungsrechtswissenschaft, s. auch Neugebauer (1990), S. 123. 183 Ausdrücklich zum „universellen“ Charakter des Handels- bzw. Versicherungsrechts V. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 9; ders., Versiche­ rungsrecht (1893), S. 22; Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1 (2. Aufl. 1875), § 3 (S. 11); Lewis (1889), S. 6; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 362; ders., ZVersR 1 (1866), 1 f.; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328. 184 Zur Rezeption einzelner binnenversicherungsrechtlicher Sätze der Th. II Tit. 8 §§ 1934– 2358 ALR in Wissenschaft und Gesetzgebung, s. ausführlich die dogmengeschichtlichen Ana­ lysen unter § 3 D.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

als individuelle lex contractus, zweitens aber als Quelle des allgemeinen, positiven Rechts. Auch wenn von Staudinger sicher nicht nachgerade als klassischer Ver­ treter der historischen Rechtsschule bezeichnet werden kann, so tauchten in seiner rechtlichen Argumentation doch einige Motive auf, die eine gewisse Verwandt­ schaft zu den Gedanken jener vorherrschenden Auffassung über die Ursprünge des Rechts nahelegen. Die auszugsweisen Ausführungen von Staudingers sprechen insoweit für sich:185 „In jenem wie in diesem Fall sind wir aber, selbst des historischen Fundaments ermangelnd, darum hieher anwendbarer Rechtsnormen keineswegs baar. Wie der Mensch im Augen­ blicke seines Entstehens seine Seele in sich trägt, so bringt auch jedes Rechtsinstitut, das neu sich bildet, bei seinem Entstehen stets sein belebendes Rechtsprinzip mit. […] Dies muss man anerkennen, wenn man anders das Recht nicht als ein todtes Aggregat einzelner Sätze, sondern als ein geistiges Element, das alle äußeren Lebensverhältnisse beherrscht und regelt und darum auch für alle und mit allen vorhanden ist, auffaßt. […] Von der größten Wichtigkeit sind für die Erkenntniß des Rechtsverhältnisses die Statuten der ver­ schiedenen Lebensversicherungsgesellschaften. Ihre Bedeutung ist sowohl eine conkrete als eine abstrakte. I. Conkret ist sie, weil jene die Grundlage der einzelnen Lebensver­ sicherungsverträge bilden. Gemäß des Wesens des Vertrages, als einer Willenseinigung mehrerer Personen behufs einer durch die Uebereinstimmung ihres Willens zu bewirkenden Begründung, Modification oder Aufhebung von Rechtsverhältnissen […] gilt als nächste Norm für die Beurtheilung desselben der Wille der Paciscenten, soweit derselbe in seiner Uebereinstimmung Inhalt des Vertrages selbst geworden (sog. Lex contractus) und nicht absolut gebietenden oder verbietenden Bestimmungen des positiven Rechts entgegen ist. […] II. Bei dem Umstande, daß Lebensversicherungsverträge wohl nur höchst selten von Einzelnen, sondern in der Regel von Gesellschaften als Versicherern abgeschlossen wer­ den, gelten die Statuten der Assecuranzgesellschaften als Normen für je eine ganze lange Reihe von Verträgen. Es gelangen dadurch die Grundlagen des Geschäfts zu einer großen Gleichmäßigkeit und Beständigkeit. Diese wird noch erhöht durch den übereinstimmenden Charakter der einzelnen Statuten selbst. Hieraus ergibt sich ihre abstracte Bedeutung. In dieser Uebereinstimmung derselben spiegelt sich der allgemeine Charakter der Geschäfts überhaupt und sie gewähren so als ‚Erklärungen der Parteien über dasjenige, was sie in solchen Verhältnissen für Recht halten, einen ganz sichern Boden, um von da aus den all­ gemeinen theoretischen Gedanken zu erfassen, der allen einzelnen Erscheinungen des Ver­ hältnisses zu Grunde liegt.‘ […] Faßt man noch dazu die genetische Wirksamkeit ins Auge, die in ihnen als Trägern eines allgemeinen Herkommens liegt, […] so wird es gerechtfertigt erscheinen, auf dieselben als Erkenntnißquellen vielfach zu reflectiren.“

Ähnliche Ansichten teilte die gesamte Versicherungsrechtswissenschaft jener Zeit: aus der Gesamtheit aller AVB ergebe sich also eine positive, obgleich nicht gesetzlich kodifizierte Rechtsordnung.186

185

von Staudinger (1858), S. 38–40, 42. Vgl. Duvinage (1987), S. 52; Endemann (1. Aufl. 1865), § 174.I (S. 824); Gerhard / Hagen /  von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIV; Jolly, Zs. f. dt. Recht 11 (1847), 317, 318; vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 340 f.; Lewis (1889), S. 6 f.; vgl. Neugebauer (1990), S. 125 (insbesondere zur Arbeitstechnik von Staudingers). 186

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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b) Die unkritische Rezeption der AVB in der frühen Wissenschaft des Binnenversicherungsrechts Aus heutiger Sicht mag man die AVB als Produkt einer faktisch einseitigen Rechtssetzung der Versicherungsgesellschaften begreifen. Innerhalb einer wissen­ schaftlichen Strömung, welche die gebräuchlichen AVB zur einer der wichtigsten Erkenntnisquellen des Binnenversicherungsrechts erhob, konnte dieses Bewusst­ sein zunächst allerdings kaum durchdringen. Die Konsequenzen dieser Denkart lassen sich gut an einer einzelnen, heftig diskutierten Fragestellung illustrieren: darf der Versicherer den Versicherungs­ nehmer auch dann mit vertraglichen Sanktionen belegen, wenn dieser nur objek­ tiv-rechtlich – also möglicherweise sogar unverschuldet – gegen Bestimmungen der AVB verstoßen hatte? Die aufgeworfene Frage war unter anderem dann streit­ entscheidend, wenn der Versicherungsnehmer einen Feuerversicherungsvertrag abgeschlossen, dem Versicherer dabei aber unverschuldet Angaben über feuer­ gefährliche Tatsachen vorenthalten hatte. Eine derartige Fallkonstellation ist zum Beispiel denkbar, wenn der Versicherungsnehmer der Gesellschaft die besondere Bauart seines Dachstuhls nicht zur Anzeige gebracht hat, weil er weder erkannt hat noch erkennen konnte, dass spezifische Konstruktionsdetails dessen Brand­ risiko erheblich steigern. Wie viele andere Feuerversicherungsbedingungen be­ stimmten die AVB der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1845 für einen solchen Fall:187 „§ 5. Wer in dem Versicherungsantrage den Gegenstand oder den Ort der Versicherung, oder die Lage und Nachbarschaft desselben falsch angibt, oder sich sonst in seiner Angabe eine Unwahrheit oder ein wissentliches Verschweigen eines auf die Feuergefährlichkeit einwirkenden Umstandes zuschulden kommen läßt, der verliert seine Versicherung, selbst dann, wenn der verschwiegene oder falsche Umstand auch keinen Einfluß auf den Schaden gehabt haben sollte, und es ist dieselbe völlig nichtig.“

Völlig irrelevant war demnach, ob der Versicherte schuldhaft oder schuldlos ge­ handelt hatte oder ob der nicht deklarierte Gefahrumstand – hier: die Kon­struktion des Hausdaches – überhaupt kausal zu dem schädigenden Brandereignis geführt hatte; alleine hing die Sanktion davon ab, ob der Versicherungsnehmer von der schieren Existenz des Umstandes selbst Kenntnis erlangt hatte. Der Versicherungs­ nehmer verlor im obigen Beispiel in fast jeder erdenklichen Konstellation seinen Anspruch gegen den Versicherer – also selbst, falls der Brand durch zündelnde 187 Ähnlich und insbesondere ohne Verschuldenskriterium auch § 5 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 4 AVB Aachener und Münchener Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft (1860) (ohne ausdrückliche Rechtfolgenanordnung, wohl zeittypisch als wesentlicher Vertragsinhalt behandelt); § 4 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften (1874); § 3 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaften (1886); § 3 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 1 I 1, 2 I AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). Vgl. auch Prange, Kritische Betrach­ tungen (1904), S. 120 (zu den Verbandsbedingungen von 1886).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Kinder im Erdgeschoss entstanden war und den besagten Dachstuhl gar nicht ein­ mal erfasste. Die Wissenschaft akzeptierte in ihrer frühen Entwicklungsphase dieses Ergeb­ nis überwiegend und versuchte sogar, es durch innere rechtsdogmatische Gründe zu untermauern. Die meisten Autoren wie etwa auch Conrad Malß beriefen sich zu diesem Zweck auf die allgemeine zivilrechtliche Rechtsgeschäftslehre: alle Gefahrumstände, deren Kenntnis zur Berechnung der Versicherungsprämie von Belang waren, sollten demnach zu den essentialia negotii des Versicherungsver­ trages zählen. Wenn der Versicherungsnehmer, sei es auch unverschuldet, einen solchen erheblichen Umstand nicht deklariert habe, so herrsche zwischen den Par­ teien kein Konsens über wesentliche Teile des Vertragsinhaltes und der gesamte Versicherungsvertrag sei nichtig.188 Dass sich durch eine solche Handhabung für den Versicherungsnehmer einige Härten ergeben konnten, hatten auch die frühen Autoren schon erkannt. Das sei jedoch widerspruchslos hinzunehmen, da die AVB eine individuelle, freiwillige Vereinbarung zwischen den Vertragsparteien darstell­ ten, eine „lex contractus“, die im Endeffekt als zulässiger Ausfluss der Privatauto­ nomie zu qualifizieren sei.189 Allen anderen Auffassungen entgegnete etwa Malß, es möge „vielleicht nicht unnatürlich sein, wenn sich die humane Theilnahme bei großen Unglücksfällen, wie Brand oder Tod, auf die Seite der betroffenen Indivi­ duen neigt, und gegen die ‚reichen Versicherungsgesellschaften‘, die wie man sagt, nur nehmen, nicht geben wollen. Allein das juristische Urtheil sollte sich solchen Scheingründen nicht gefangen geben.“190 In jener ersten Phase der binnenversicherungsrechtlichen Wissenschaft war man folglich noch nicht zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich bei den AVB der Privatversicherer de facto um einseitig abgefasste Vertragsklauseln handelte, auf deren Gestaltung der Versicherungsnehmer schwerlich Einfluss hatte. Angesichts der Tatsache, dass die meisten wissenschaftlichen Autoren zu dieser Zeit aus dem Dunstkreis der Versicherungsgesellschaften stammten, fällt die moderne For­ schung heute überwiegend das Urteil, die noch junge Rechtswissenschaft habe sich „tendenziös“ um die Interessen der Versicherungsgesellschaften bemüht.191

188

Malß, Betrachtungen (1862), S. 29 f., 32 f.; Maurenbrecher / Walter, Bd. 2 (2. Aufl. 1855), § 443 (S. 89), § 447 (S. 95); von Staudinger (1858), S. 146 f. (zur Lebensversicherung); Walter (1855), Ziff. 382 (S. 434). Ablehnend dazu jeweils Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 9; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 339 f. 189 Vgl. Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 116 (S. 530); von Staudinger (1858), S. 39 f. 190 Malß, Betrachtungen (1862), S. 38. 191 So ausdrücklich Müssener (2008), S. 318.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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c) Ein Richtungswechsel in der Wissenschaft: die AVB als einseitig vorformulierte Vertragswerke In der Zeit ab den 1860er Jahren trat die Wissenschaft jedoch allmählich in eine neue Phase, in der sie sich zunehmend kritischer und differenzierter mit den Ver­ sicherungsbedingungen auseinandersetzte. Zu dem vormals engen, von Vertretern der Versicherungswirtschaft dominierten Autorenkreis stießen nun auch andere Rechtswissenschaftler. Nach und nach emanzipierte die Rechtswissenschaft sich von ihrem ehemals starken, recht unkritischen Fokus auf die gebräuchlichen AVB; kurz vor der Jahrhundertwende war das Binnenversicherungsrecht – noch immer ein Recht ohne Gesetz – schließlich wissenschaftlich derart solide fundiert, dass die ersten Lehrbücher erschienen, die sich monographisch mit dem System des Binnenversicherungsrechts befassten, allen voran die Werke von William Lewis und Victor Ehrenberg aus den Jahren 1889 und 1893.192 Zwei wesentliche Entwicklungen prägten die Rechtswissenschaft in dieser Zeit ganz besonders. Erstens war im Jahr 1861 das Allgemeine Deutsche Handelsge­ setzbuch in Kraft getreten. Mit ihm hatte sich der gesamte Deutsche Bund auf ein einheitliches Seeversicherungsrecht geeinigt.193 Zwar waren die ungeschriebenen Gewohnheiten und Rechtsgrundsätze der Seeversicherung schon zuvor als Er­ kenntnisquelle des Binnenversicherungsrechts behandelt worden, doch mit ihrer Kodifikation im ADHGB waren diese Grundsätze erstmals für alle deutschen Gebiete in eine eindeutige gesetzliche Form gegossen worden. Der Wissenschaft war es jetzt umso leichter geworden, die niedergeschriebenen Prinzipien des See­ versicherungsrechts durch Analogieschlüsse, soweit sinnvoll, auch auf die Bin­ nenversicherung zu übertragen.194 Gewarnt wurde allenthalben vor einer „kritikund gedankenlosen Anwendung z. B. seerechtlicher Normen auf binnenländische Versicherungen“, da einige Normen des Seeversicherungsrechts eben nur charak­ teristische Wesenszüge des Seehandels widerspiegelten und sich damit als nicht analogiefähig erwiesen.195 So bestimmten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu einem großen Teil seeversicherungsrechtliche Ideen die Diskussion auch im Binnenversicherungsrecht.

192

V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893); Lewis, Lehrbuch des Versicherungsrechts (1889). Vgl. auch Duvinage (1987), S. 52; Müssener (2008), S. 318; Neugebauer (1990), S. 128; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 166. 193 Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch nach den Beschlüssen der dritten Lesung (Textausgabe, 4. Aufl. 1861). Vgl. auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 42; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 331 f.; Müssener (2008), S. 53. Zur Kodifikation des ADHGB und seiner verzögerten Inkraftsetzung in einigen deutschen Staaten, vgl. insgesamt unter § 3 C III. 194 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 22 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIV; Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1 (2. Aufl. 1875), § 49.I (S. 584); Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 339; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 364; ders., ZVersR 1 (1866), 1, 2 f. 195 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 24; Malß, ZVersR 1 (1866), 1, 4.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Zweitens jedoch reifte mit der enormen wirtschaftlichen Macht der Versiche­ rungsgesellschaften auch die Erkenntnis heran, dass die AVB gerade kein ideal­ typisches Produkt einer privatautonomen Vertragsverhandlung waren, sondern es in der Rechtspraxis faktisch im freien Ermessen der Versicherungsgesellschaften stand, das vertragliche Rechtsverhältnis zwischen den Parteien auszugestalten. Franz Philipp Kübel, ein Mitglied der Dresdener Konferenzen, die bis 1866 ein gemeinsames deutsches Obligationenrecht schaffen wollte, äußerte etwa die Mei­ nung, dass bestimmte Vertragspraktiken der Feuerversicherungsgesellschaften kein wahrer Ausfluss der Privatautonomie seien, sondern im Gegenteil sogar die Privatautonomie verzerrten, da den einzelnen Versicherungsnehmern kein Mitent­ scheidungsrecht über den Vertragsinhalt mehr zukomme.196 Insgesamt bestand also der wissenschaftliche Rechtsfindungsprozess am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr bloß daraus, entweder seerechtliche Prinzipien oder die branchenüblichen AVB-Klauseln weitestgehend unkritisch zur Anwen­ dung zu bringen. Victor Ehrenberg nannte die AVB zwar nach wie vor eine „wich­ tige Erkenntnisquelle des Gewohnheitsrechts“, differenzierte aber weiter:197 „Die Allgemeinen Bedingungen enthalten also die typische Gestaltung des Vertragsinhalts und sind daher für die Erkenntnis des nicht kodifizierten Versicherungsrechts von gros­ sem Wert, obwohl sie sich begrifflich nur als Vertragspropositionen darstellen. Vielfach haben sich zahlreiche Versicherungsgesellschaften derselben Versicherungsart über einen identischen Wortlaut ihrer Allgemeinen Bedingungen geeinigt, und je grösser die Zahl der Beteiligten ist, um so sicherer lässt sich aus diesen Bedingungen der regelmässige Inhalt der Versicherungsverträge ermitteln, in welchem dann, meist allerdings in Verbindung mit einer konstanten Rechtsprechung, immer schärfer die Umrisse einer gewohnheitsrecht­ lichen Regelung gewisser Momente hervortreten. […] Sind diese Allgemeinen Bedingungen also von grosser Bedeutung für die Erkenntnis des unkodifizierten Versicherungsrechts, so muss doch auch vor ihrer Überschätzung gewarnt werden. Denn sie geben regelmässig nur der Anschauung der einen beim Versicherungsverkehr beteiligten Interessengruppe, nämlich der Versicherer, Ausdruck, es sei denn, dass diesen – wie bei der Seeversicherung, der kaufmännischen (Fabrik-)Feuerversicherung – eine social gleich kräftige und gleich geschäftsgewandte Interessentengruppe gegenübersteht […]“

Jener Gesinnungswandel, der sich innerhalb der Versicherungsrechtswissen­ schaft Bahn gebrochen hat, nimmt beispielsweise feste Konturen an, wenn man die weitere Debatte um die Sanktionierung des Versicherungsnehmers, der unver­ schuldet gegen vertragliche Verhaltensanforderungen verstoßen hat, verfolgt. Oben war das Beispiel eines Versicherungsnehmers gebildet worden, der dem Versicherer aus unverschuldeter Unwissenheit ein erhebliches Feuerrisiko nicht zur Anzeige gebracht hatte. Die Feuerversicherungsbedingungen sahen auch gegen Ende des 196

Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 336 f. Ähnlich auch Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 9; V. Ehren­ berg, Versicherungsrecht (1893), S. 25, 79; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIV. Zu dieser Tendenz in der Wissenschaft insgesamt Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 183 f.; Neugebauer (1990), S. 105. 197 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 24 f.

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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19. Jahrhunderts noch vor, dass in einem solchen Fall selbst ein rein objektiver Verstoß zur Nichtigkeit des Versicherungsvertrages und zum Verfall der bezahlten Versicherungsprämie führen solle.198 Die Rechtswissenschaft, die in den 1850er Jahren jene rechtliche Konsequenz noch schlicht als eine zulässige Ausübung der Privatautonomie betrachtet hatte, positionierte sich jetzt ganz anders: nicht mehr alleine der nackte Wortlaut der Ver­ tragsvereinbarung, sondern der Gedanke von „Treu und Glauben“ präge den Ver­ sicherungsvertrag. Das Versicherungsverhältnis sei, rechtsdogmatisch betrachtet, ein „contractus uberrimae fidei“, gekennzeichnet vor allen anderen Dingen durch ein besonderes Maß von gegenseitigem Vertrauen.199 Die frühesten Vertreter die­ ser Theorie, vor allem von Staudinger, hatten übrigens noch stark unilateral die Pflichten des Versicherungsnehmers betont, die diesem aus seiner besonderen Nähe zum versicherten Gegenstand erwuchsen; damit war es etwa für von Stau­ dinger noch gar kein Widerspruch, den rechtstheoretischen Charakter der Versi­ cherung als „contractus uberrimae fidei“ zu betonen, gleichzeitig aber Probleme im Dunstkreis der vorvertraglichen Anzeige mit den Werkzeugen der Rechtsge­ schäftslehre zu lösen.200 Mit späteren Autoren wuchs hingegen auf dem Fundament des „besonderen Treueverhältnisses“ eine verfeinerte Dogmatik, welche die Ver­ antwortungssphären des Versicherungsnehmers und des Versicherers in differen­ zierter Weise abschichtete. Dieses verfeinerte rechtliche Fundament trug nach der herrschenden Ansicht der Rechtswissenschaft – vertreten auch in den Lehrbüchern von Lewis und Eh­ renberg  – die Konsequenz nach sich, dass die formularvertraglich vorgesehene Sanktion nur noch dann in Frage kam, wenn dem Versicherungsnehmer eine vor­ sätzlich oder fahrlässig unterlassene Gefahranzeige vorgeworfen werden konnte201. Methodisch ließ sich dieses Ergebnis durch eine versichertenfreundliche Ver­ tragsauslegung unter den Gesichtspunkten von Treu und Glauben gewinnen.202 Victor Ehrenberg plädierte darüber hinaus sogar dafür, de lege ferenda absolute Rechtsgrundsätze zum Schutz des Versicherten zu schaffen, mit deren Hilfe ent­ 198 Zu der dahingehenden Praxis der Feuerversicherungsgesellschaften mit weiteren Quel­ lennachweisen vgl. schon die vorherigen Ausführungen unter § 3 B II 2 a. 199 Beseler (4. Aufl.  1885), Bd. 1 § 116 (S. 530); Bluntschli / Dahn (3. Aufl.  1864), § 161.5 (S. 499 f.); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 73 ff., 352; Endemann (1. Aufl. 1865), § 174.III (S. 829); Goldschmidt, System des Handelsrechts (4. Aufl.  1892), § 158.6 (S. 252); ­Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 7 f.; Lewis (1889), S. 76; Maurenbrecher / Walter, Bd. 2 (2. Aufl. 1855), § 443 (S. 89); Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 305 (S. 111); von Staudinger (1858), S. 145 (der allerdings nichtsdestotrotz die Konsequenzen der Irrtumslehre zieht). Vgl. dazu auch Neugebauer (1990), S. 33. 200 Vgl. von Staudinger (1858), S. 145. 201 Vgl. Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 116 (S. 530); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 244; Endemann (1. Aufl. 1865). § 174.III (S. 830); Goldschmidt, System des Handelsrechts (4. Aufl. 1892), § 158.6 (S. 252); Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 340 f. (Beschränkung auf Vor­ satz gefordert). 202 Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 92; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 86.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

sprechende AVB-Klauseln nötigenfalls für nichtig erklärt werden konnten – und zwar „nicht unter dem Schleier einer Interpretation, die scheinbar daran festhält, sondern offen und ehrlich.“203 Der rechtswissenschaftliche Diskurs, wenigstens in der Theorie immer noch im Boden der historischen Rechtsschule verwurzelt, hatte kurz vor der Jahrhundert­ wende also eine enorme Eigendynamik gewonnen, welche die Debatte im Kern auf zwei verschiedene Fragen lenkte: erstens, welche seeversicherungsrechtlichen Normen des ADHGB auf die Binnenversicherung übertragbar waren, und zwei­ tens, inwieweit der Versicherungsnehmer vor einer stark einseitigen Gestaltung der AVB geschützt werden müsse. 2. Die reichseinheitliche Rechtsprechung als wesentlicher Entwicklungsfaktor des Binnenversicherungsrechts In der allmählichen Entwicklung, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Rechtswissenschaft ergriffen hatte, lassen sich einige Parallelen zu dem lang­ samen Wandel erkennen, dem die deutsche Rechtsprechung zum Binnenversiche­ rungsrecht unterworfen war: auch die Gerichte waren den AVB zunächst relativ unkritisch gegenüber gestanden; gegen Ende des 19. Jahrhunderts positionierten sie sich aber zunehmend kritisch gegenüber der Vertragspraxis. a) Der Zustand der Binnenversicherungsrechtsprechung vor der Schaffung eines einheitlichen deutschen Obergerichts Zahlreiche Beispiele einer binnenversicherungsrechtlichen Rechtsprechung fin­ den sich jedoch erst ab den 1860er Jahren. Zu der Zeit, als die Versicherung noch hauptsächlich ein Instrument des kaufmännischen Handels war, hatten nämlich alle Versicherungsgesellschafen in ihren AVB vorgesehen, dass rechtliche Streitig­ keiten zwischen den Vertragsparteien ausschließlich vor Schiedsgerichten ausge­ tragen werden sollten.204 Der staatlichen Justiz brachte die Kaufmannschaft dem­ 203

V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 82 f. Zu der kritischen Forderung Ehrenbergs nach einer „offenen Inhaltskontrolle“ der AVB, s. auch Hellwege, Allgemeine Geschäfts­ bedingungen (2010), S. 183 f. 204 Art. 47 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812); § 42 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820); § 20 AVB Aachener Feuerversicherung-Gesell­ schaft (1825), nach dessen Abs. 4 „weniger nach den Vorschriften des strengen Rechtes, als nach Rücksichten der Billigkeit“ zu entscheiden war; § 67 Verfassung der Lebensversiche­ rungsbank zu Gotha (1828); Art. 136–147 AVB Württembergische Privat-FeuerversicherungsGesellschaft (1828); § 40 AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830); Art. 22 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 32 AVB Berlinische Lebensversi­ cherungs-Gesellschaft (1839) (Zuständigkeit von Schiedsgerichten nur noch bei Individualver­ einbarung); § 20 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 5 III AVB Ger­

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gegenüber denkbar geringes Vertrauen entgegen: man befürchtete, die ordentlichen Gerichte, hauptsächlich in der Auslegung des römischen Rechts geschult, würden der handelspraktisch gewachsenen Materie des Versicherungsrechts mit großem Unverständnis gegenüberstehen und schließlich überraschende oder sachfremde Entscheidungen treffen.205 Die kaufmännischen Schiedsgerichte, von denen sich die Vertragsparteien praxisgerechtere Lösungen erhofften, tagten in der Regel aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit, weswegen aus den Jahren vor 1860 bloß eine Handvoll an Gerichtsentscheidungen zum Binnenversicherungsrecht überliefert ist: alleine, wenn eine Partei gegen ein schiedsrichterliches Urteil eine Nichtigkeits­ beschwerde eingelegt hatte, weil etwa ein Schiedsgericht rechtswidrig besetzt war, gelangten Assekuranzstreitigkeiten überhaupt an die ordentliche Gerichtsbarkeit.206 Auch das änderte sich aber, sobald sich die Versicherung in ein Massengeschäft verwandelte. Zu dieser Zeit wuchs auf Seiten der Versicherungsgesellschaften das Bedürfnis nach einer einheitlichen, rechtssicheren Grundlage für ihren Ge­ schäftsbetrieb.207 Zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren daher die gebräuchlichen Schiedsklauseln aus den AVB verschwunden,208 und ab 1860 erlebte die Justiz einen enormen Bedeutungszuwachs als Rechtsquelle des Feuer- und Lebensversi­ cherungsrechts.209 Nichts illustriert diese Tatsache besser als zwei Werke des As­ sekuranzpraktikers und -schriftstellers Conrad Malß von 1862 und 1869: noch 1862 war Malß zum Schluss gelangt, dass es „im Verhältnis zur Zahl der geschlossenen Versicherungen auf keinem Rechtsgebiete weniger Streitigkeiten gibt; so wenige, daß in der That die Rechtsprechung keinen nachweisbaren Einfluß auf die Aus­ bildung dieses Institutes hat üben können“210 – im Jahr 1869 konstatierte er völlig mania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Zuständigkeit von Schiedsgerichten nur noch bei Individualvereinbarung). Vgl. Bluntschli / Dahn (3. Aufl. 1864), § 161.9 (S. 501); Müssener (2008), S. 139 f., 239; Neugebauer (1990), S. 158; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 325 f. 205 L. Raiser (1. Aufl. 1935), S. 41 f. 206 Müssener (2008), S. 299; Neugebauer (1990), S. 158. In Preußen ergab sich die Möglich­ keit einer Nichtigkeitsbeschwerde aus Th. I Tit. II §§ 174, 172 PrAGO (1793) (Textausgabe, 1822); ausdrücklich vorbehalten wurde sie etwa in § 20  III AVB Magdeburger Feuerversi­ cherungs-Gesellschaft (1845); Art. 147 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschaft (1828) schloss sogar die Nichtigkeitsbeschwerde aus. 207 Müssener (2008), S. 299. 208 Ausdrückliche Klauseln zur Zulässigkeit des ordentlichen Rechtsweg bzw. zur ordent­ lichen Gerichtszuständigkeit: § 14 Verbands-AVB Deutscher Privat-FeuerversicherungsGesellschaften (1874); § 18 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 15 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886); § 62 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 11 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-­ Gesellschaft (ca. 1904); §§ 17 V, 20 AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906). Aty­ pisch ist die Regelung in Abs. 14 S. 3 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828), die schon in der Frühphase des Lebensversicherungsrechts den Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten zuließ. Vgl. insgesamt Müssener (2008), S. 300; Neugebauer (1990), S. 148; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 325. 209 Neugebauer (1990), S. 159 f.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 165 f. 210 Malß, Betrachtungen (1862), S. 4.

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Gegensätzliches, dass nämlich die „Sammlung und Veröffentlichung gerichtlicher Erkenntnisse“ in letzter Zeit „eine ungemeine Ausdehnung gewonnen“ hätte. Die gerichtlichen „Präjudicien“ würden inzwischen sogar „beinahe die Stelle eines geschriebenen Rechtes“ einnehmen.211 In diesem frühesten Stadium der Versicherungsrechtsprechung produzierten die partikularstaatlichen Gerichte aber noch teilweise gegensätzliche, einander häufig widersprechende Entscheidungen. Insbesondere fehlte es den deutschen Staaten an einem einheitlichen Obergericht, das eine überregional gültige, konsistente Recht­ sprechung hätte schaffen können.212 Inhaltlich bewegten sich die Entscheidungen dabei überwiegend auf der Linie der neu aufkeimenden rechtswissenschaftlichen Literatur: als die wichtigste Quelle des Versicherungsrechts sahen die Gerichte die AVB der Versicherungspraxis an. Diese interpretierte die Rechtsprechung als eine gewöhnliche und einvernehmliche Vertragsvereinbarung, an der sich beide Parteien festhalten lassen müssten.213 Auch an dieser Stelle hatte sich also noch nicht die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Versicherer kraft seiner wirtschaftlich überlegenen Verhandlungsposition praktisch alleine über den Inhalt der AVB be­ stimmen konnte. Konkreter demonstrieren lassen sich die Auswirkungen jener Grundhaltung ein­ mal mehr an dem oben konstruierten Beispiel eines Versicherungsnehmers, der eine ihm vertraglich obliegende Gefahranzeige unterlassen hat. Die meisten Versi­ cherungsgesellschaften erlegten dem Versicherungsnehmer in solchen Fällen – wie nun schon öfter demonstriert214 – strenge, insbesondere verschuldensunabhängige Sanktionen auf. Die noch junge Versicherungsrechtsprechung erblickte in solchen Klauseln, dem Wortlaut der AVB folgend, meist eine objektive Rechtsbedingung für den Leistungsanspruch des Versicherten. War die Anzeige also objektiv ge­ sehen unrichtig oder unvollständig, konnte der Versicherte keinen Schadensersatz vom Versicherer verlangen215 – auch auf den Kausalzusammenhang zwischen dem nicht deklarierten Gefahrumstand und dem später ausgebrochenen Brand kam es konsequenterweise nicht mehr an.216

211

Malß, ZHR 13 (1869), 45. Duvinage (1987), S. 57. 213 Ganz ausdrücklich OAG Lübeck, SeuffA 5 Nr. 2 („mit klaren Worten vorgeschrieben“); Stadtgericht Frankfurt a. M., ZVersR 1 (1866), 155, 157 (Anfechtung wegen Irrtums möglich); KG Dessau ZVersR 2 (1868), 308, 309. Dazu auch Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingun­ gen (2010), S. 181 f.; Neugebauer (1990), S. 160, 169; Scherner, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 714, 724. 214 S. dazu etwa nochmals unter § 3 B II 2 a. 215 AG Marienwerder, Teilabdruck bei Malß, ZHR 13 (1869), 45, 76 f.; OLG Dessau, ZVersR 1 (1866), 175. 216 OAG Lübeck, SeuffA 1 Nr. 219; 5 Nr. 2. Vgl. Malß, Betrachtungen (1862), S. 32. 212

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b) Die Entwicklung einer tendenziell versichertenfreundlichen Rechtsprechung seit der Gründung des Bundesoberhandelsgerichtes Günstigere Rahmenbedingungen für eine einheitliche deutsche Rechtsprechung wurden erst in den 1870er Jahren geschaffen. Seit dem 05. 08. 1870 residierte in Leipzig das Bundesoberhandelsgericht (BOHG) als zentrales höchstes Handels­ gericht des Norddeutschen Bundes.217 In seine Zuständigkeit fielen auch alle Arten von Versicherungsstreitigkeiten, da das Versicherungsrecht historisch bedingt noch immer zum Handelsrecht zählte, solange die beteiligte Versicherungsgesellschaft eine Aktiengesellschaft war.218 Schon im darauffolgenden Jahr, nach der Schaffung des Deutschen Kaiserreiches, wandelte sich das Bundesoberhandelsgericht zum Reichsoberhandelsgericht (ROHG), dessen Zuständigkeit sich von jetzt ab auf das gesamte deutsche Reichsgebiet erstreckte. Im Jahr 1879 endete die Geschichte der spezialisierten Handelsgerichtsbarkeit: das Reichsoberhandels­gericht ging schließ­ lich im neu gegründeten Reichsgericht (RG) auf, dem nunmehr die Funktion einer obersten Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit im gesamten Reich zufiel.219 Mit der Schöpfung des Bundes- und Reichsoberhandelsgerichts war die Versi­ cherungsrechtsprechung auch bald materiell-rechtlich in eine neue Phase getreten, welche in den Entscheidungen des Reichsgerichts schließlich eine kontinuierliche Fortsetzung fand. Die obersten Gerichte entwickelten die Rechtsgrundsätze des Binnenversicherungsrechts nun konsequent auf zwei hauptsächlichen Pfeilern: einerseits stützten sie sich auf die seeversicherungsrechtlichen Bestimmungen des ADHGB, die sie häufig im Wege des Analogieschlusses auf die Binnenver­ sicherung übertrugen, allerdings nur, soweit sie kein spezifisches Gedankengut der Seeversicherung enthielten.220 Andererseits wird auch aus der Rechtsprechung deutlich, wie die AVB der Versicherungsgesellschaften eine zentrale Stellung bei der Rechtsfindung einnahmen  – wiederum in einer doppelten Funktion, näm­ lich sowohl als individualvertragliche Vereinbarungen als auch als eigenständige Rechtsquellen, aus denen mitunter allgemeingültige Prinzipien des Binnenversi­ cherungsrechts abstrahiert werden konnten.221 Was die Quellen des Binnenversi­ 217

Duvinage (1987), S. 57; Müssener (2008), S. 318; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 166; Scherner, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 714, 727. 218 Vgl. Art. 271 Nr. 3 ADHGB. Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 75 ff.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 328, 338; Malß, Betrachtungen (1862), S. 10; Neugebauer (1990), S. 74. 219 Insgesamt zu ROHG und RG: Duvinage (1987), S. 57; Prang (2003), S. 39 ff.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 166; Scherner, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 714, 727. 220 S. dazu statt vieler die Urteile RGZ 6, 177; 35, 48, 60, die erörterten, ob die seeversi­ cherungsrechtlichen Regeln zur mehrfachen Versicherung auf das Feuerversicherungsrecht übertragen werden können (verneint). Vgl. dazu insgesamt Duvinage (1987), S. 58; Müssener (2008), S. 139 f.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 167. 221 S. dazu z. B. das Urteil BOHGE 1, 108, 111, das sich mit einer AVB-Klausel zur Anzeige des Schadensfalls auseinandersetzte und die Frage, ob dieser Klausel eine allgemeine Han­ delsgewohnheit entnommen werden könne, ausdrücklich verneinte. Vgl. insgesamt Duvinage (1987), S. 58; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 166.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

cherungsrechts anbelangte, teilten die Gerichte also im Wesentlichen die Auf­ fassung, die zur gleichen Zeit als herrschende Lehrmeinung in der Wissenschaft verankert war. Schon die ältesten Urteile des ROHG verharrten aber nicht bei einer strikten wörtlichen Auslegung der Versicherungsbedingungen, wie es viele partikularstaat­ liche Gerichte zuvor getan hatten.222 Dieser Umschwung in der Rechtsprechung war freilich kein isoliertes Phänomen des Binnenversicherungsrechts; im Gegenteil hatte sich nach 1850 insgesamt in der Rechtsprechung zu Allgemeinen Geschäfts­ bedingungen – etwa auch den AGB im Transport- oder Mietrecht – die Tendenz zur einschränkenden Auslegung standardisierter Vertragsklauseln abgezeichnet.223 Von Anfang an begriff das ROHG den Versicherungsvertrag als ein Rechtsver­ hältnis, das besonders stark von beiderseitigem Treu und Glauben geprägt war.224 Die strikten Sanktionsklauseln, die in den meisten AVB Verwendung fanden, waren daher nach der Ansicht der höchstrichterlichen Rechtsprechung also letzt­ lich unter Beachtung jenes Grundsatzes von Treu und Glauben auszulegen.225 Ein letztes Mal soll hier das Beispiel der versäumten Gefahranzeige bemüht werden: die einschlägigen AVB-Klauseln, die den Versicherungsnehmer bei jeder – wenn auch unverschuldet – unterlassenen Gefahranzeige mit dem Verlust seines Leis­ tungsanspruchs und dem Verfall seiner Prämie bestraften, wollte das ROHG nicht mehr als rein objektive Rechtsbedingungen ansehen. Der eigentliche Rechtsgrund der Sanktion sei die Verletzung des besonderen Vertrauensverhältnisses, das zwi­ schen den Vertragsparteien herrsche. Ein zur Verwirkung aller Ansprüche führen­ des Fehlverhalten des Versicherungsnehmers sei deshalb nur anzunehmen, wenn dieser seine Anzeige vorsätzlich oder wenigstens fahrlässig unterlassen hatte.226

222

Vgl. aber Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 172 ff.; ders., RabelsZ 76 (2012), 864, 881 ff., wonach einige Ansätze einer verdeckten Inhaltskontrolle von AVB bereits in der Rechtsprechung der partikularstaatlichen Gerichte vor 1870 erkennbar waren. 223 Ausführlich dazu Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 146 ff., der bereits von einer offenen richterlichen Inhaltskontrolle von AGB spricht. 224 BOHGE 1, 109, 111; 2, 183 f.; später RGZ 10, 158, 159 („bona fides“). Vgl. auch Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 116 (S. 530); Duvinage (1987), S. 58; Müssener (2008), S. 140; Prang (2003), S. 70, 190. 225 Ausdrücklich z. B. RGZ 4, 161 und RG JW 1900, 416 (jeweils zur Auslegung von „Selbst­ mordklauseln“); vgl. dazu schon in der partikularstaatlichen Rechtsprechung BayHAG Slg. 1, 178, 185 f. (Schaffung eines Verschuldenserfordernisses im Wege der Vertragsauslegung). Zur Methode der extensiven Vertragsauslegung: Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 9; Hellwege, Allge­ meine Geschäftsbedingungen (2010), S. 183; Neugebauer (1990), S. 164 f. 226 BOHGE  1,  108,  111 (ganz grundlegend zur ähnlich gelagerten Konstellation der ver­ säumten Schadensanzeige); 2, 183 f.; ROHGE 5, 298, 303; RGZ 10, 158, 159; 22, 201, 206 ff.; 27, 151, 153. Zum „Verschuldensprinzip“ in der Rechtsprechung einiger partikularstaatlicher Gerichte vor 1879, s. bereits PrOTr, Teilabdruck bei Malß, ZHR 13 (1869), 419, 447; BayHAG Slg. 1, 178, 185 f. Vgl. insgesamt dazu Minnier (1967), S. 59 ff.; Müssener (2008), S. 140, 236, 244; Neugebauer (1990), S. 161, 170 (insbesondere auch zu den frühen Tendenzen in der par­ tikularstaatlichen Rechtsprechung).

B. Das deutsche Binnenversicherungswesen ab ca. 1850

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Mit solchen Entscheidungen hatte das ROHG nachhaltig den Verschuldens­ grundsatz im deutschen Binnenversicherungsrecht etabliert.227 Mithilfe der hier skizzierten Urteilsbegründung konnte im Endeffekt fast jede formularvertragliche Sanktion abgeschwächt werden, indem die Gerichte den Betroffenen konsequent eine Gelegenheit zur Exkulpation einräumten. Über den Hebel der – durchaus recht extensiven – Vertragsauslegung führte die höchstrichterliche Rechtsprechung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts noch eine Reihe weiterer ungeschriebener Rechts­ sätze in das Binnenversicherungsrecht ein, die sich ganz überwiegend gegen eine rigoristische, wortlautgetreue Interpretation gebräuchlicher AVB-Klauseln stellten. Das ROHG sprach etwa bereits in den 1870er Jahren den Grundsatz aus, dass der Versicherungsnehmer dem Versicherer vor Vertragsschluss nur solche Tatsachen anzeigen musste, welche für dessen Entscheidung, den Versicherungsvertrag mit seinem konkreten Inhalt zu schließen, erheblich waren.228 Hatte der Versicherungs­ nehmer von einem gefährlichen Umstand hingegen noch nicht einmal selbst Kennt­ nis erlangt, konnte ihn der Versicherer auch nicht mit einer Sanktion belegen.229 In späteren Entscheidungen fügte das ROHG noch hinzu, der Versicherer könne an eine fehlerhafte oder unterlassene Gefahranzeige keinen Rechtsnachteil knüpfen, wenn er selbst bereits aus anderen Quellen von der anzeigepflichtigen Tatsache unterrichtet war – die Treuepflicht des Versicherungsnehmers ende nämlich dort, wo der Versicherer gar nicht mehr auf die Anzeige angewiesen war.230 Unter dem Strich hatte die Rechtsprechung – größtenteils im Einklang mit der Rechtswissenschaft – also bis zur Jahrhundertwende einige Grundsätze ins Bin­ nenversicherungsrecht eingeführt, die dem Schutz des Versicherungsnehmers oder des Versicherten vor den Härten einer einseitigen AVB-Gestaltung dienten.231 Al­ lerdings war es auch der Rechtsprechung dabei nicht möglich, die Auslegung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen über die absolute Grenze ihres Wortsinns hinaus zu dehnen. Das ROHG hatte ausdrücklich anerkannt, dass es nicht mehr methodisch vertretbar sei, wenn die Rechtsprechung sich mit ihrer Vertragsinter­ pretation offen in Widerspruch zum Wortlaut der geltenden AVB setzte.232 Den Versicherungsgesellschaften war es also nach wie vor möglich, durch eindeutige Formulierungen in ihren AVB einer versichertenfreundlichen Vertragsauslegung durch die Gerichte zuvorzukommen. Eine offensive AVB-Kontrolle, wie sie Teile 227

Duvinage (1987), S. 58; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 81; Minnier (1967), S. 65; Neugebauer (1990), S. 164. 228 ROHGE  14, 412, 413; RGZ  13,  107, 109 f.; 20, 137, 138. Vgl. Duvinage (1987), S. 59; ­Müssener (2008), S. 216. 229 ROHGE 9, 65, 67 f.; RGZ 7, 1, 3 f. Vgl. Duvinage (1987), S. 59; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 12. 230 ROHGE 12, 170. Vgl. Duvinage (1987), S. 59. 231 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 9; Duvinage (1987), S. 59 f.; Möller, VersR 9 (1958), 352, 353; Neugebauer (1990), S. 181; Schmoeckel (2008), Rn. 198. 232 ROHGE 11, 271. Vgl. Duvinage (1987), S. 59 f.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 82; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIV; ­Müssener (2008), S. 318; Neugebauer (1990), S. 164 f.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

der Literatur forderten, war in der Rechtsprechung von BOHG, ROHG und RG also noch nicht zu erblicken. Nichtsdestotrotz dürfen die Wissenschaft und die Rechtsprechung insgesamt aber einen bedeutenden Anteil an der Entwicklung des – nach wie vor nicht ko­ difizierten  – Versicherungsrechts für sich beanspruchen, indem sie einer allzu einseitigen Vertragsgestaltung von Seiten der Versicherungsgesellschaften in zu­ nehmendem Maße entgegentraten. Besonders lag ihre Leistung aber darin, die Binnenversicherung auf eine breite rechtsdogmatische Basis zu stellen, in etwa, indem sie ihren Rechtscharakter als „contractus uberrimae fidei“ zusehends klarer herausarbeiteten. Diese rechtsdogmatische Durchdringung der Binnenversiche­ rung sollte auch an der gesetzgeberischen Debatte des 19. und des frühen 20. Jahr­ hunderts, die schließlich in der Kodifikation des Versicherungsvertragsgesetzes mündete, nicht spurlos vorübergegen.

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts Obgleich während des gesamten 19. Jahrhunderts in den deutschen Gebieten keine einzige Kodifikation des Binnenversicherungsrechts glückte, kann man den zahlreichen deutschen Partikulargesetzgebern keinesfalls attestieren, einer solchen Kodifikation mit Gleichgültigkeit gegenübergestanden zu haben. Im Gegenteil war das gesamte 19. Jahrhundert erfüllt von dem Gedanken, den verworrenen Zustand des geltenden Rechts – und nicht nur des Versicherungsrechts – durch umfassende Kodifikationsarbeiten zu bereinigen. Dennoch gelang es erst dem Reichsgesetz­ geber des frühen 20. Jahrhunderts, mit dem Versicherungsvertragsgesetz von 1908 endlich einen Schlusspunkt an die Kodifikationsbewegung zu setzen. Das VVG von 1908 ist damit freilich keine völlig neuartige Idee des 20. Jahr­ hunderts, sondern steht am Ende einer langen Kette von Kodifikationsversuchen, die sich – parallel zum wirtschaftlichen Aufstieg der Versicherungspraxis – über weite Teile des 19. Jahrhunderts erstreckte. Im Folgenden soll ein Licht auf jene lang anhaltende Bewegung, ihren geschichtlichen Kontext, ihre Ziele, vor al­ len Dingen aber auf ihre Ansätze zur Kodifikation des Binnenversicherungs­ rechts geworfen werden. Zunächst werden zu diesem Zweck einige der wesent­ lichen Rahmenbedingungen und Grundgedanken der Kodifikationsbewegung im 19. Jahrhundert skizziert (I). Die darauffolgenden Ausführungen werden sich den einzelnen partikularstaatlichen Versuchen, das Binnenversicherungsrecht in eine gesetzliche Form zu bringen, widmen: nämlich dem Entwurf für ein Handelsge­ setzbuch für das Königreich Württemberg von 1839, dem 1857 veröffentlichten Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preußischen Staaten sowie schließlich dem Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern, welcher 1861 erschien. Besondere Beachtung verdient schließlich auch der Entwurf für ein

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts 

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gemeinsames deutsches Obligationenrecht, den eine Gesetzgebungskommission in Dresden bis 1866 erarbeitet hat; wie die drei partikularstaatlichen Entwürfe enthielt auch er einen Abschnitt zum Binnenversicherungsrecht (II). Schließlich mündet die Untersuchung in einer Darstellung der Gesetzgebungsarbeiten, die im Jahr 1908 das VVG hervorgebracht haben (III). Die folgenden Kapitel werden sich  – nach dem gleichen Muster, das schon bei der Erforschung des ALR zur Anwendung gekommen ist – zunächst gleichsam von außen an die einschlägigen Entwurfs- und Gesetzgebungsarbeiten herantasten, also vor allem die Quellen und die inhaltliche und systematische Gesamtkonzeption jener Arbeiten beleuchten. Auf dem Fundament der so gewonnen Erkenntnisse wird dann wiederum – später unter D – die rechtshistorische Analyse ausgewählter dogmatischer Figuren des Binnenversicherungsrechts aufbauen können.

I. Die Kodifikationsbewegung im 19. Jahrhundert und ihre historischen Fundamente Das Recht in den deutschen Territorien verharrte zur Mitte des 19. Jahrhunderts größtenteils noch immer im Zustand einer feingliedrigen Rechtszersplitterung. Das galt in erster Linie deswegen, weil die legislative Gewalt in Deutschland nach dem Wiener Kongress von 1815 auf eine Reihe von partikularen Staaten verteilt war – einige davon Klein- oder Kleinststaaten, deren politische Grenzen sich durch Erb­ fälle oder Hochzeiten zwischen den Adelshäusern stetig verschoben.233 Für diese Staaten war entweder noch das gemeine römische Recht oder das jeweilige parti­ kuläre Landesrecht maßgeblich.234 Im Königreich Baden waren während der fran­ zösischen Besetzung sogar die fünf Napoleonischen „Codes“ als geltendes Recht eingeführt worden, eine Stellung, die das französische Recht dort auch nach 1815 noch für sich beanspruchte.235 Aber nicht einmal innerhalb größerer Staaten wie dem Königreich Preußen, das ab 1815 zur Hegemonialmacht unter den deutschen Staaten avancierte, war ein einheitliches Rechtssystem anzutreffen. Der Versuch, mit dem Allgemeinen Land­ recht von 1794 eine einzige, abschließende Universalrechtskodifikation für ganz Preußen zu erschaffen, war gescheitert: wie bereits eingehend erörtert,236 hatten die territorialen Verschiebungen, die mit den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress einhergingen, das preußische Königreich in mehrere Rechtsge­ 233 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1423; zur äußeren Verfassung der deut­ schen Territorialstaaten schon vor Zerbrechen des Reiches, s. Gehrke, in: Coing Bd. II/2 (1976), S. 310 (insbes. S. 357 f. zur Teilung der sächsischen Staaten seit dem 15. Jhdt.). 234 Ein kartographischer Überblick über die einzelnen Rechtskreise findet sich bei Wesel (2010), S. 480. 235 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2855; vgl. Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1422. 236 Dazu bereits unter § 2 B I 4.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

biete zergliedert. Das ALR besaß noch volle Geltung in der Mark Brandenburg, in Pommern, Ost- und Westpreußen und Schlesien, während im preußischen Rhein­ land, genauso wie in Baden, durch die vormalige Napoleonische Besetzung das französische Recht Einzug gehalten hatte. Auf das Versicherungsrecht war in der preußischen Rheinprovinz damit der Code de Commerce von 1807 anwendbar.237 Hinzu kam in allen preußischen Provinzen – und freilich auch in allen übrigen deutschen Staaten – eine enorme Zahl von Partikulargesetzen und -verordnungen, welche die Rechtsordnungen des ALR, des französischen oder des gemeinen römi­ schen Rechts als leges speciales überlagerten. Zu jenen Spezialgesetzen gehörten etwa auch die Vorschriften des preußischen Mobiliarfeuerversicherungsgesetzes, das ab 1837 eine präventivpolizeiliche Kontrolle jedes neu abgeschlossenen Mo­ biliarfeuerversicherungsvertrages vorsah.238 Der Wunsch, das gesamte für einen Staat geltende Recht in einheitlichen Kodi­ fikationen zu vereinigen, war kein genuines Phänomen des 19. Jahrhunderts; das demonstriert alleine schon die Schaffung des preußischen ALR, das ein Produkt preußischer Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen seit der Mitte des 18. Jahr­ hunderts war. Etwa ab den 1840er Jahren reichte jener Kodifikationswunsch aber zunehmend auch über die Grenzen der einzelnen deutschen Staaten hinaus: in dieser Zeit wurde die Idee populär, die widerstrebenden Rechtsmaterien der zahl­ reichen deutschen Staaten miteinander zu harmonisieren oder sogar ein vollstän­ diges Rechtssystem für mehrere Partikularstaaten zu schöpfen. Solche Gedanken hatten zu einem beträchtlichen Teil ihre Wurzeln im wachsenden deutschen Na­ tionalismus, der nach 1815 allmählich an politischem Gewicht gewonnen hatte und dem vorherrschenden Geflecht aus kleinteiligen Partikularstaaten die Idee einer umspannenden deutschen Nation entgegensetzte.239 Freilich dürften aber abseits dieser romantisierenden Vorstellungen auch wirtschaftliche Erwägungen die Kodifikationsdebatte kräftig angeschoben haben: ähnlich einem einheitlichen Zollsystem, das viele deutsche Staaten zur selben Zeit anstrebten, vermochte auch eine einheitliche Zivil- oder Handelsrechtsordnung die überterritorialen Handels­ beziehungen erheblich zu stärken.240 Spätestens zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das pragmatische Bedürfnis nach einer gebietsübergreifenden Kodifikation des Zivil- und Handelsrechts in der 237

Mot. HGB Württemberg (1839) (Textausgabe, 1840), Einl. S. 5. Vgl. insgesamt Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2880; Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1492 f.; Duvinage (1987), S. 10; Goldschmidt, Krit. Zs. ges. Rw. 4/2 (1857), 105, 106; Hattenhauer, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 31, 47; Koselleck (1989), S. 46 f.; Müssener (2008), S. 51; Ramm, in: Wolff (Hrsg.) (1995), S. 1, 19 f. 238 Zu den präventivpolizeilichen Vorschriften des preußischen Mobiliarfeuerversicherungs­ gesetzes, s. bereits unter § 3 B II 3. 239 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1424, 1427; Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 726; vgl. auch Hedemann (1935), S. 6 (zum Dresdener Obligationenrechts­ entwurf); Lang, Bd. 1 (1861), S. 4 (auch sprachlich in nationalistischem Duktus). 240 Goldschmidt, Krit. Zs. ges. Rw. 4/2 (1857), 105.

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts 

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Rechtspraxis faktisch von keiner Seite mehr angezweifelt,241 obwohl insbesondere von Savigny sich am Anfang des 19. Jahrhunderts noch vehement gegen eine solche Kodifikation ausgesprochen hatte, um die „organische“ Entwicklung des Rechts nicht zu behindern.242 In der ersten Jahrhunderthälfte allerdings war an eine gemeinsame Rechtsset­ zung aller deutschen Staaten alleine schon deshalb nicht zu denken, weil es an einem integrierenden politischen Faktor fehlte. Zwar existierte sei 1815 der Deut­ sche Bund als ein lockerer Zusammenschluss der deutschen Partikularstaaten, dessen Legislativorgan, die Bundesversammlung, theoretisch sogar die Gesetz­ gebungskompetenz für ein bundeseinheitliches Handels- und Versicherungsrecht besaß.243 Ein solches Vorhaben hätte jedoch stets einer Übereinkunft der einzelnen, politisch konkurrierenden Partikularstaaten bedurft. Die ersten Rechtsvereinheit­ lichungstendenzen äußerten sich daher auf eine andere Art und Weise, namentlich indem einzelne Staaten damit begannen, ihre gesetzgeberischen Arbeiten informell aufeinander abzustimmen.244 Eines der ersten Rechtsgebiete, das zum Ziel jener Rechtsvereinheitlichungsbe­ strebungen wurde, war – nach alledem wenig überraschend – das Handelsrecht.245 Schon 1839 legte Württemberg einen „Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg“ vor, der auch einen Abschnitt zum Binnenversiche­ rungsrecht beinhaltete. Das Königreich Württemberg nahm damit eine Vorreiter­ rolle bei der Kodifikation des Handelsrechts ein. Im Jahr 1857 zog Preußen mit seinem eigenen „Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten“ nach, der ebenfalls einen Titel zum Binnen- und einen Titel zum Seeversicherungs­ recht enthielt. Ab den 1860er Jahren verlagerte sich die binnenversicherungsrecht­ liche Kodifikationsdebatte vom Handelsrecht ins Zivilrecht, namentlich nachdem im Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuch von 1861, das für alle Staaten des Deutschen Bundes gelten sollte, nur das Seeversicherungsrecht berücksich­ tigt worden war. Der „Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das König­ reich Bayern“ von 1861 war der letzte Versuch eines deutschen Partikularstaats, das Binnenversicherungsrecht zur Kodifikation zu bringen. Schließlich betrieben mehrere Staaten des deutschen Bundes bis 1866 das Vorhaben, einen „Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse“ zu schaffen; auch 241

Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1426. Vgl. ausdrücklich zu diesem Wunsch Goldschmidt, Krit. Zs. ges. Rw. 4/2 (1857), 105, 107; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 326; Lang, Bd. 1 (1861), S. 1 f.; Osiander (1844), S. 150. 242 von Savigny (1814), S. 155 ff. Vgl. auch Lang, Bd. 1 (1861), S. 2. 243 Art. 19 der Deutschen Bundesakte vom 08. 06. 1815 (PrGS 1818, Anhang 143). Vgl. Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2948. 244 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1424 (zu den Rechtsvereinheitlichungs­ tendenzen in Süddeutschland); vgl. auch Lang, Bd. 1 (1861), Vorwort S. VIII; Mertens, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 302, 312. 245 Zu der Kodifikationsbewegung im Handelsrecht insgesamt: Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853 ff.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

dieser sogenannte Dresdener Obligationenrechtsentwurf beschäftigte sich mit dem Binnenversicherungsrecht aus der Warte des allgemeinen bürgerlichen Rechts. Auf jeden einzelnen dieser vier Entwürfe wird diese Untersuchung im Folgenden noch ein helleres Licht werfen. Schon bei ihrer ganz oberflächlichen Betrachtung lässt sich jedoch erahnen, wie stark nicht nur das allgemeine Handels- und Zivilrecht, sondern auch das Binnen­ versicherungsrecht in die Richtung einer überregionalen Vereinheitlichung strebte. Die Entwürfe aus Württemberg, Preußen und Bayern sowie der Dresdener Entwurf zitierten in ihren jeweiligen Entwurfsmotiven sogar häufig die Bestimmungen der vorangegangenen Entwürfe expressis verbis als Quellen. Dadurch hatte sich innerhalb der Kodifikationsentwürfe des 19. Jahrhunderts eine relativ homogene Rechtsmaterie mit gefestigten dogmatischen Elementen herangebildet. Die Kodifi­ kationsbewegung hat sich jedoch nicht bloß auf legislatorische Vorbilder in anderen deutschen Teilstaaten gestützt, wie man es aufgrund des wachsenden Bewusstseins für eine nationale Kultur und eine nationales Rechtssystem möglicherweise erwar­ ten sollte – insbesondere der württembergische HGB-Entwurf konnte noch nicht auf einen breiten Fundus an Rechtsregeln anderer deutscher Staaten zurückgreifen, und so orientierte er sich vornehmlich an den Versicherungsrechtsordnungen des europäischen Auslandes. Letztlich führten die Kodifikations- und Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen im 19. Jahrhundert zu einer breit angelegten, rechtsvergleichenden Kompilation von Rechtsregeln aus allen bis dato geschaffenen in- und ausländischen Kodifi­ kationen und Entwürfen.246 Von kritischen Stimmen wurde der Kodifikationsbe­ wegung daher eine regelrechte „Compilationssucht“ vorgeworfen.247 Diese sei ein „großes Gebrechen unserer Zeit“, da die Gesetzgebung im Handelsrecht bereits in den 1860er Jahren am „Fluch des Übermaßes“ gelitten habe.248 Einigen Autoren ging insbesondere die reichhaltige Rezeption des ausländischen Rechts zu weit, bezweifelten sie doch, dass ein in der „Sprache des Erbfeindes“ geschriebenes Ge­ setz – die französischen „Codes“ – als Grundlage dienen könne, um ein rechtliches System zu schaffen, das die deutschen Rechtsgewohnheiten abbildete.249

II. Die Gesetzgebungsarbeiten zum Binnenversicherungsrecht im 19. Jahrhundert Wie wirkte sich dieser reichhaltige Kompilationsprozess nun aber auf den mate­ riellen Gehalt des Feuer- und Lebensversicherungsrechts aus? Die Frage stellt sich vor allem für die ältesten Entwürfe des 19. Jahrhunderts: besonders der bergische 246

Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1428; Hedemann (1935), S. 22 f. Osiander (1844), S. 2 (zum württembergischen HGB-Entwurf von 1839). 248 Hedemann (1935), S. 23 (zum Dresdener Obligationenrechtsentwurf 1866). 249 So ausdrücklich Lang, Bd. 1 (1861), S. 6 über den Code de Commerce. 247

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HGB-Entwurf von 1839 konnte sich noch nicht an das Vorbild anderer partiku­ larstaatlicher Kodifikationsentwürfe lehnen. Die folgenden Kapitel werden daher zuerst die württembergischen, dann die preußischen und die bayerischen Gesetz­ gebungsarbeiten im Versicherungsvertragsrecht näher porträtieren, um sich ab­ schließend eingehender dem gemeinsamen Kodifikationsversuch mehrerer deut­ scher Staaten im Dresdener Obligationenrechtsentwurf zu widmen. 1. Der Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg (1839) Seit dem preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 hatte sich kein deutscher Gesetzgeber mehr mit der Materie des Feuer- oder Lebensversicherungsrechts befasst, als es 1839 der „Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg“ als erster Gesetzesentwurf des 19. Jahrhunderts wieder aufgriff. Der württembergische Entwurf war nicht der erste partikularstaatliche Entwurf eines Handelsgesetzbuches im 19. Jahrhundert: bereits 1811 war der „Entwurf eines Handelsgesetzbuches für die Stadt Frankfurt am Main“ aus der Feder des Stadtgerichtsrats Johann Friedrich Heinrich Schlosser erschienen. Er orientierte sich vornehmlich am französischen Code de Commerce und älterem Frankfurter Stadtrecht.250 Allerdings hatte der Frankfurter Entwurf das Versicherungsrecht insgesamt ausgespart,251 sodass der im Folgenden thematisierte Entwurf aus Würt­ temberg in mancher Hinsicht sowohl zum Vorreiter als auch zum Vorbild für die aufkommende Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts wurde. a) Die Genese des württembergischen HGB-Entwurfes Das Königreich Württemberg war eine der treibenden Kräfte der noch jungen Kodifikationsbewegung. Es verfügte bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weder über ein einheitliches Zivil- noch über ein Handelsgesetzbuch  – der Rechtsan­ wender musste sich also vollständig auf das gemeine Recht oder auf zahlreiche Normen aus der Partikulargesetzgebung stützen. Dieser Zustand wurde als der­ art unbefriedigend empfunden, dass der württembergische Landtag bereits 1833 die Forderung nach einem „vollständigen bürgerlichen Gesetzbuch in deutscher Sprache“ erhoben hatte.252 Der Wunsch verstärkte sich noch, als Württemberg im darauffolgenden Jahr dem Deutschen Zollverein beitrat, dessen Politik hauptsächlich Preußen dominierte.253 250

Eine ausführliche Darstellung der Genese des Frankfurter Entwurfes findet sich bei Döge (2016), S. 37 ff. 251 Döge (2016), S. 170. 252 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2866. 253 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2867.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Zu dieser Zeit entwickelte sich die populäre „Triasidee“, die eine enge Zusammen­ arbeit der süd- und mitteldeutschen Staaten forderte, um den beiden dominanten Großmächten im deutschen Raum – Preußen und dem österreichischen Kaiser­ reich – ein eigenständiges, wirkungsmächtiges politisches Gewicht entgegensetzen zu können.254 Besonders die Partikularstaaten in Süd- und Mitteldeutschland, al­ len voran Bayern, Württemberg und Hessen, strebten deshalb ein vereinheitlichtes Wirtschafts- und Rechtssystem an; sie hatten infolgedessen ein lebhaftes Interesse, ihr Zivil- bzw. Handelsrecht möglichst früh zur Kodifikation zu bringen.255 So überrascht es kaum, wenn mit dem Königreich Württemberg ein süddeut­ scher Staat die ersten Vorstöße zur Kodifikation und zur überregionalen Verein­ heitlichung des Handelsrechts unternahm: am 12. 09. 1836 stellte Württemberg einen Antrag zum Deutschen Zollverein, der die Herstellung einer gleichförmigen Handelsgesetzgebung in allen Zollvereinsstaaten forderte.256 Im gleichen Jahr be­ auftragte die württembergische Regierung den Obertribunalrat Carl von Hofacker, zu dieser Zeit Präsident des Kassationshofs in Stuttgart, einen Entwurf eines ent­ sprechenden Handelsgesetzbuches für das Königreich Württemberg vorzuberei­ ten.257 Es lässt sich gerade aufgrund der Gleichzeitigkeit jener beiden Vorgänge mut­ maßen, dass die württembergische Regierung die faktische Vorbildwirkung ihres eigenen Gesetzesentwurfs nutzen wollte, um die künftige Handelsrechtsgesetz­ gebung der Zollvereinsstaaten in ihrem Sinne zu beeinflussen – auch mit dem Ziel, die preußische Hegemonie im Zollverein und im Deutschen Bund zu schwächen.258 Hofacker hat sein Werk 1839 fertiggestellt. Es wurde als „Entwurf für ein Han­ delsgesetzbuch für das Königreich Württemberg“259 veröffentlicht und enthielt mit seinen Art. 428–533 vergleichsweise umfangreiche Regeln über die Binnen­ versicherung. b) Die dokumentierten Rechtsquellen des württembergischen Entwurfs: ausländische Handelsrechtskodifikationen und deutsche AVB Die Quellen, welcher sich der württembergische HGB-Entwurf dabei bedient hat, lassen sich heute aus den Entwurfsmotiven260 nachverfolgen, die Carl von ­Hofacker seinem Entwurf beigefügt hatte: dort waren – geradezu als idealtypisches 254

Zur „Triasidee“ etwa Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2867. Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1424 zu den Rechtsvereinheitlichungs­ tendenzen in Süddeutschland; vgl. auch Lang, Bd. 1 (1861), Vorwort S. VIII. 256 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2867; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321. 257 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2868; Duvinage (1987), S. 16; Osiander (1844), S. 1. 258 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2668. 259 Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg mit Motiven (Text­ ausgabe, 1839). 260 Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg mit Motiven. II. Theil. Motive (Textausgabe, 1840). 255

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Beispiel für die Kompilationstechnik der untersuchten Entwürfe – für jeden einzel­ nen Artikel des württembergischen Entwurfes die als Vorbild benutzten Normen aus anderen Rechtsordnungen notiert. Für die rechtshistorische Forschung sind damit insbesondere die württembergischen Entwurfsmotive von großer Bedeutung. Schon ein flüchtiger Blick in die besagten Motive offenbart, dass sich das In­ teresse des württembergischen Entwurfsverfassers auf das Recht einiger großer Seehandelsnationen konzentrierte.261 In den Motiven zu Art. 428–533 seines Ent­ wurfs hat Hofacker minutiös den Einfluss des portugiesischen Codigo Commercial von 1833262 sowie des erst 1838 in Kraft getretenen niederländischen Wetboek van Koophandel263 dokumentiert.264 Gerade letzteres empfand er wegen seiner vielen „germanisch-rechtlichen“ Elemente als besonders geeignete Quelle.265 Weitaus seltener verwies Hofacker hingegen auf das Vorbild des spanischen Código de Comercio266 von 1829 oder des französischen Code de Commerce;267 im Gegen­ satz zum niederländischen und portugiesischen Handelsgesetz hatten sie nur die Seeversicherung kodifiziert. Auch die Vorschriften aus Th. I Tit. 8 §§ 1934–2358 des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten268 tauchten gelegentlich in den Entwurfsmotiven auf, doch auch sie waren weitaus seltener genannt als das portugiesische oder das niederländische Recht.269 Jedenfalls aus den Entwurfsmo­ tiven lässt sich also ablesen, dass das Binnenversicherungsrecht des Hofacker-Ent­ wurfes ganz maßgeblich ausländischen Impulsen ausgesetzt gewesen sein musste. Das Versicherungsrecht – so argumentierte man schließlich auch in der Rechts­ wissenschaft – sei im internationalen Seehandel entstanden und besitze einen „uni­ versellen Charakter“.270 Es begegnete deswegen auch aus der Warte einer histo­ risierenden Rechtsauffassung keinen Bedenken, die Prinzipien beispielsweise des niederländischen Assekuranzrechts auf das deutsche Recht zu übertragen. 261

Zu den ausländischen Kodifikationen des Versicherungsrechts, s. Duvinage (1987), S. 61 f. Zum starken Einfluss ausländischer Seehandelsgesetze auf den württembergischen Entwurf, s. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. VII; Neugebauer (1990), S. 48 f.; Scherner, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 714, 725. 262 Codigo Commercial Portuguez v. 18. 09. 1833, abgedruckt in: Codigo Commercial Por­ tuguez, seguido de um appendice que contém a legislação que tem altenado alguns de seus artigos (1879), S. 9. 263 Wetboek van Koophandel (Officiële Uitgave, 1838). 264 So auch Neugebauer (1990), S. 49, 106. 265 Mot. HGB Württemberg (1839), Einl. S. 8 ff. 266 Código de Comercio (Edicion oficial, 1829). 267 Code de Commerce (Édition originale et seule officelle, 1807). 268 Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten v. 01. 06. 1794 (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer, 3. Aufl. 1996). 269 Insgesamt zu den Quellen des württembergischen Entwurfs auch Mot. HGB Württem­ berg (1839), Einleitung S. 8 ff. Vgl. auch Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2868 ff.; Duvinage (1987), S. 16. 270 Ausdrücklich zum „universellen“ Charakter des Handels- bzw. Versicherungsrechts V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 22; Goldschmidt, Handbuch des Handelsrechts, Bd. 1 (2. Aufl. 1875), § 3 (S. 11); Malß, ZHR 6 (1863), 361, 362; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328.

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Auf der anderen Seite hat Hofacker jedoch auch festgehalten, wie einige wenige Normen seines Entwurfes unmittelbar von den AVB der Versicherungspraxis in­ spiriert waren: beim Namen nannten die Entwurfsmotive etwa die Bedingungen der Württembergischen Feuer-Versicherungs-Gesellschaft oder der Lebensver­ sicherungsbank zu Gotha.271 Zu Art. 497 des württembergischen Entwurfes, der bei einer Versicherung auf das Leben dritter Personen recht unbestimmt verlangte, der Versicherungsnehmer müsse eine „Betheiligung“ am Leben der versicherten Person besitzen, hieß es etwa, die Norm sei § 57 der AVB der Gothaer Lebensver­ sicherungsbank nachempfunden.272 Der nachhaltige Einfluss, den die „Gothaer“ auf den württembergischen Entwurf üben konnte, demonstriert auch, wie sich im 19. Jahrhundert die Versicherungsbedingungen der größeren Privatversiche­ rungsgesellschaften quer über Landesgrenzen hinweg verbreiteten. Allerdings beschränkten sich die direkten Verweise Hofackers auf die AVB-Praxis auf eine relativ geringe Zahl; ihr Einfluss auf den württembergischen Entwurf sollte daher nicht vorschnell überbewertet werden. c) Das neue systematische Konzept des Entwurfes und dessen Konsequenzen für das materielle Binnenversicherungsrecht Den nachhaltigsten Einfluss auf den württembergischen HGB-Entwurf dürften damit das niederländische Wetboek van Koophandel und der portugiesische Co­ digo Commercial ausgeübt haben. Welche Spuren hat die Kompilation aus dem Fundus ausländischer Handelsgesetze jedoch in der rechtlichen Konzeption des Hofacker-Entwurfes hinterlassen? Als den größten legislatorischen Fortschritt des württembergischen Entwurfes würdigen etliche moderne Autoren, dass es die Rechtsmaterie systematisch in einen allgemeinen und einen besonderen Teil des Versicherungsrechts aufteilte.273 Der allgemeine Teil (Art. 428–478) versuchte, generelle Prinzipien des Versiche­ rungsrechts vor die Klammer zu ziehen, wie beispielsweise das Erfordernis eines versicherbaren Interesses, die Grundsätze der Über-, der Unter- oder der mehr­ fachen Versicherung, die erforderlichen Anzeigen des Versicherungsnehmers vor und nach dem Vertragsschluss oder die Folgen eines Prämienrückstandes; der besondere Teil beinhaltete demgegenüber einige Spezialvorschriften für einzelne Versicherungszweige, namentlich für die Feuer-, Hagel-, Lebens- und Landtrans­ portversicherung (Art. 479–533). Dieses systematische Konzept hatte schon das niederländische Wetboek entwickelt,274 während das preußische Landrecht im Kontrast dazu noch die Vorschriften maritimer und binnenländischer Versiche­ 271

So auch Neugebauer (1990), S. 49, 56 (explizit zum Einfluss der Gothaer Lebensversi­ cherungsbank). 272 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 497. 273 Duvinage (1987), S. 17; Neugebauer (1990), S. 49, 57. 274 Duvinage (1987), S. 17; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 330.

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rungszweige „in buntem Durcheinander“275 miteinander vermischt hatte. Soweit die Normen des Hofacker-Entwurfs von den Vertragsparteien abbedungen werden konnten, enthielt der Entwurfstext einen Hinweis darauf; das war zum Beispiel der Fall, wenn der Entwurf von der Beschreibung des übernommenen Risikos redete,276 die Methode der Schadensermittlung beschrieb277 oder Bestimmungen zur Zuständigkeit von Schiedsgerichten traf.278 Zu den zwingenden Normen des Versicherungsrechts gehörte hingegen – neben vielen anderen – ein strenges Be­ reicherungsverbot, das auch die Versicherung imaginären Gewinns untersagte.279 In diesen Kontext gehörte auch das Verbot der Überversicherung,280 auch wenn eine solche sich erst aus dem Vertragsschluss mit mehreren Versicherern ergab,281 oder der übermäßigen Taxation.282 Ferner sollte es niemandem erlaubt sein, eine Versicherung auf das Leben dritter Personen zu schließen, solange er keine ver­ mögenswerte „Betheiligung“ am Leben des Dritten nachweisen konnte.283 Trotz der Nähe, die der Hofacker-Entwurf zur Systematik des niederländischen Handelsrechts gesucht hatte, ging er insbesondere in seiner Auffassung vom Le­ bensversicherungsrecht andere Wege als das Wetboek van Koophandel. Sie mö­ gen nach heutigem Verständnis befremdlich erscheinen: der Entwurf trennte in Art. 496, 503 dogmatisch strikt zwischen „eigentlichen“ und „uneigentlichen“ Le­ bensversicherungsverträgen. Nur die temporären Todesfallversicherungen begriff er als Versicherung im rechtlichen Sinne. Bei den auf Lebenszeit geschlossenen Versicherungsmodellen handele es sich demgegenüber um einen reinen „Glücks­ vertrag“, der „mit den anderen Versicherungen gar nichts, mit den Lebensversi­ cherungen nur wenig gemein“ habe, denn bei solchen Lebensversicherungsarten sei der Eintritt des Versicherungsfalles an sich nicht mehr ungewiss, nur sein Zeitpunkt liege im Dunkeln.284 Nichtsdestotrotz erklärte Art. 503 in der Folge die meisten Normen des Lebensversicherungsrechts auch auf die „uneigentliche Le­ bensversicherung“ für entsprechend anwendbar.285 Diese künstliche Aufspaltung des Lebensversicherungsrechts kann demonstrieren, dass es schon Hofacker mehr darauf ankam, dem Versicherungsrecht eine einigermaßen konsequente, theo­ 275

So Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 158. Vgl. auch Atzpodien (1982), S. 7; P. Koch, VersR 45 (1994), 629, 630; Neugebauer (1990), S. 31. 276 Z. B. Art. 432 HGB-Entwurf Württemberg (1839) (Regel über natürlichen Verderb); ebd. Art. 489 II (Ausschluss bestimmter Brandrisiken); ebd. Art. 524 (Gefahrumfang bei der Trans­ portversicherung). 277 Z. B. Art. 436 II HGB-Entwurf Württemberg (1839) (Leistungskürzung bei der Unterver­ sicherung); ebd. Art. 494 (Schadensberechnungsmethode bei der Hagelversicherung); 278 Art. 476 HGB-Entwurf Württemberg (1839). 279 Art. 429 II HGB-Entwurf Württemberg (1839). 280 Art. 480 II HGB-Entwurf Württemberg (1839). 281 Art. 434 HGB-Entwurf Württemberg (1839). 282 Art. 495 I HGB-Entwurf Württemberg (1839) („Beweis des Uebermaßes“). 283 Art. 497 S. 2 HGB-Entwurf Württemberg (1839). 284 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 496; vgl. Duvinage (1987), S. 17. 285 Zur „eigentlichen“ und „uneigentlichen“ Lebensversicherung im württembergischen Ent­ wurf insgesamt Neugebauer (1990), S. 54.

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retisch-dogmatische Struktur zu verleihen, statt einfach nur die Gewohnheiten der Lebensversicherungspraxis abzubilden – wenngleich das Resultat heute auf Verwunderung stoßen mag und selbst Conrad Malß es in einer zeitgenössischen Schrift als ein „merkwürdiges Beispiel für den Triumph der Stubengelehrsam­ keit“ bezeichnete.286 Vor allem die Abstrahierung allgemeiner Grundsätze, die nach dem Konzept des Entwurfes gleichmäßig für alle Versicherungszweige gelten sollten, brachte einige Konsequenzen auch für den materiell-rechtlichen Gehalt des Entwurfes mit sich: sie führte im Endeffekt dazu, dass zahlreiche Prinzipien des Seeversi­ cherungsrechts nun auch für Binnenversicherungsverträge unmittelbare Geltung beanspruchten.287 Darin lag ein Paradoxon des württembergischen Entwurfes: zwar befasste sich der Hofacker-Entwurf gar nicht selbst mit der Seeversicherung, was im Binnenstaat Württemberg auch zu einem vollkommen sinnlosen Unter­ fangen geraten wäre,288 doch dasselbe hatte nicht für seine regelungstechnischen Vorbilder gegolten. Das Wetboek van Koophandel oder der Codigo Commercial waren vornehmlich von der maritimen Praxis der großen Seefahrernationen Nie­ derlande und Portugal geprägt und hatten daher den einen oder anderen Grund­ satz des Seeversicherungsrechts zum allgemeinen Prinzip erhoben. Weil aber der württembergische Entwurf, typisch für seine Epoche, zu einem großen Teil aus der Kompilation jener ausländischen Handelsgesetze entstanden war, dominierten seeversicherungsrechtliche Figuren nun auch ihn.289 Die deutsche Binnenversiche­ rungspraxis hatte zu keinem Zeitpunkt vergleichbare Regeln gekannt. Dieser Prozess kann  – stellvertretend für viele andere Beispiele  – an den Art. 434, 462 des Hofacker-Entwurfes vorgeführt werden. Sie befassten sich mit dem Verhältnis mehrerer Versicherer, die auf das gleiche Interesse gezeichnet hatten: „Art. 434. Ein Gegenstand, welcher für seinen vollen Werth oder für die ganze Betheili­ gung des Versicherten (Art. 430.) versichert ist, darf für denselben Versicherten nicht zum zweiten Male, auf dieselbe Zeit und dieselbe Gefahr, versichert werden, bei Strafe der Nichtigkeit der zweiten Versicherung: wenn nicht das Gesetz ausdrücklich eine Ausnahme gestattet. […] Art. 462. [1] Ist eine Versicherung nicht auf den vollen Werth abgeschlossen (Art. 436.); so haften die folgenden Versicherer der Zeitordnung nach für den Mehrwerth. [2] Wurden über denselben Gegenstand, für dieselbe Zeit, und gegen dieselbe Gefahr, mehrere Versicherun­ gen durch verschiedene Policen unter demselben Tage auf den vollen Werth abgeschlossen;

286

Malß, Betrachtungen (1862), S. 6. So auch Duvinage (1987), S. 17; vgl. F. Ebel, in: HdV (1988), 617, 622. 288 Ausdrücklich Mot. HGB Württemberg (1839) vor Art. 479. Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 53, der aber meint, Württemberg habe sich aufgrund seiner binnenländischen Lage völlig vom Seeversicherungsrecht abgekehrt. 289 Zur seerechtlichen Orientierung des württembergischen Entwurfs, vgl. auch P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 315. 287

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts 

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so haften alle Versicherer zusammengenommen nach Verhältniß ihrer Versicherungssum­ men nur für den vollen Werth.“

Der Entwurf differenzierte also danach, ob die verschiedenen Versicherungen am gleichen Tag oder an verschiedenen Tagen abgeschlossen worden waren. Ähn­ liche Prinzipien hatten schon die maritimen Assecuranz- und Havereyordnungen des 18. Jahrhunderts zur Anwendung gebracht.290 Sie lagen darin begründet, dass ein Schiffs- oder Wareneigentümer in der Seeversicherungspraxis den enormen Wert des versicherten Gegenstandes nur unter Deckung bringen konnten, indem er mit der Hilfe von Versicherungsmaklern an ein und demselben Tag bei mehreren Assekuradeuren je auf einen Teilbetrag zeichnete.291 Falls dabei auf „verschiedene Policen unter demselben Tage“ gezeichnet worden war, konnten die einzelnen Ver­ sicherungssummen in summa den wahren Wert der versicherten Sache übertreffen, ohne dass das in der Regel der bösen Absicht des Versicherungsnehmers anzulasten wäre – denn teilweise wurden für ihn sogar unterschiedliche Makler an mehreren weit entfernten Handelsplätzen zeitgleich tätig, ohne voneinander zu wissen.292 In einem solchen Fall verteilte das Seeversicherungsrecht die Haftung gleichmäßig unter den Assekuradeuren. Diese Vorgehensweise hatte nun auch Art. 462 II des württembergischen Entwurfes adaptiert. Schloss der Versicherungsnehmer die anderweitige Versicherung aber an einem anderen Tag oder zeichneten alle Asse­ kuradeure auf ein und derselben Police, so verdächtigte ihn das Seeversicherungs­ recht eines intendierten Betruges und erklärte den späteren Vertrag präventiv für teilnichtig293 – so nun auch Art. 434 des Hofacker-Entwurfes. Die differenzierte Behandlung der mehrfachen Versicherung war ursprünglich also eine Spezialität der Seeversicherungspraxis.294 Dennoch hatte der württem­ bergische Entwurf jene seerechtlich geformte Differenzierung in den allgemeinen Teil seines Versicherungsrechts gestellt und sie damit de facto auch in das Feuer­ versicherungsrecht implantiert. Aus den Entwurfsmotiven geht hervor, dass die Bestimmung des Art. 462 letztlich aus dem niederländischen Wetboek van Koop­ handel stammte,295 wo ihr freilich eine viel größere Bedeutung zukam, gehörten 290

Tit. VI Art. 3 AHO (1731) (abgedruckt bei Dreyer [1990], S. 267); §§ 107–109 PrAHO (1766) (NCC IV, 83). 291 Ausführlich zu dieser Thematik bereits unter § 2 D IV 2 b. 292 So ausdrücklich Osiander (1844), S. 71. Zur seeversicherungspraktischen Unterscheidung zwischen am gleichen Tag und an verschiedenen Tagen geschlossenen Versicherungen, s. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 318 ff.; Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 17 (S. 79 f.); Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 56 (S. 405); Weskett (1781), S. 409 f. 293 Zu dieser traditionsreichen Seehandelspraxis vgl. schon Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 §§ 16, 17 (S. 74, 79 f.); Langenbeck (1. Aufl. 1727), Cap. IV § 56 (S. 405); Weskett (1781), S. 409 f. 294 In diesem Sinne kritisch zu Art. 462 HGB-Entwurf Württemberg (1839): Osiander (1844), S. 71. 295 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 434 und 462; ähnliche seeversicherungsrecht­ liche Regelungen fanden sich nach Angaben der Motive außerdem in Art. 1679, 1773 Codigo Commercial (1833).

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die Niederlande doch zu den führenden Seehandelsnationen. Im niederländischen Gesetz von 1838 hieß es zum selben Thema wörtlich:296 „Art. 252. Uitgezonderd de gevallen bij de wet bepaald, mag geene tweede verzekering gedaan worden, voor denzelfden tijd en for hetzelfde gevaar, op voorwerpen, welke reeds voor derzelver volle waarde verzekerd zijn, en zulks op straffe van niegtigheid der tweede verzekering. […] Art. 277. [1] Indien verscheidene verzekeringen, te goeder trouw, ten aanzien van hetzelfde voorwerp zijn aangegaan, en bij de eerste de volle waards is verzekerd, houdt dezelve aléén stand, en de volgende verzekeraars zijn ontslangen. [2] Indien bij de eerste verzekering de volle waarde niet is verzekerd, zijn de volgende verzekeraars aansprakelijk voor de meer­ dere waard, volgens de orde des tijds, waarop de volgende verzekeringen zijn gesloten. Art. 278. [1] Bijaldien op eene en dezelfde polis, door onderscheidene verzekeraars, al ware he top onderscheidene dagen, meer den de waarde verzekerd is, drage zij allen te zamen naar evenredigheid van de som voor welke zij geteekend hebben, alleen de juiste verkezerde waarde. [2] Dezelfde bepaling geldt, wanneer ten zelfde dage, ten opzigte van hetzelfde voorwerp, onderscheidene verzekeringen gesloten zijn.“ „Art. 252. Mit Ausnahme der durch das Gesetz bestimmten Fälle darf für dieselbe Zeit und dieselbe Gefahr keine zweite Versicherung geschlossen werden auf Gegenstände, die bereits für ihren vollen Wert versichert sind, und zwar bei Strafe der Nichtigkeit der zwei­ ten Versicherung. […] Art. 277. [1] Wenn verschiedene Versicherungen in gutem Glauben auf denselben Gegen­ stand geschlossen sind und der volle Wert durch die erste versichert ist, so bleibt dieselbe allein in Kraft, und die folgenden Versicherer sind befreit. [2] Ist durch die erste Versiche­ rung der volle Wert nicht versichert, so können die folgenden Versicherer für den größeren Wert in Anspruch genommen werden, nach der Zeitfolge, in welcher die folgenden Versi­ cherungen geschlossen sind. Art. 278. [1] Wenn auf einer und derselben Police durch verschiedene Versicherer, wäre es auch an verschiedenen Tagen, mehr als der Wert versichert ist, so leisten sie alle zusammen nach dem Verhältnis der Summe, die sie gezeichnet haben, nur für den wirklichen versi­ cherten Wert Ersatz. [2] Dieselbe Vorschrift gilt, wenn an demselben Tage über denselben Gegenstand verschiedene Versicherungen geschlossen sind.“

Die württembergische Regelung erscheint in mancher Hinsicht beinahe wie eine Kopie des niederländischen Wetboek, einschließlich dessen Regelungssystematik. Im Grundsatz war auch dort jede mehrfache Versicherung oberhalb des vollen Ver­ sicherungswerts „op straffe van niegtigheid der tweede verzekering“ untersagt, falls nicht anderes gesetzlich bestimmt wurde (Art. 252), sodass im Endeffekt der erste Versicherer voll und die folgenden Versicherer nur in der Reihenfolge der Vertragsabschlüsse hafteten (Art. 277); die in Art. 252 ausdrücklich vorbehal­ tene gesetzliche Ausnahmebestimmung fand sich – so wie im württembergischen

296 Die angefügte, nahe am Wortlaut orientierte Übersetzung stammt aus der Sammlung von Borchard (Begr.)/Kohler / Meyer / Dove / Trumpler (Hrsg.), Bd. 12/2, S. 71, 74.

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Entwurf – erst an späterer Stelle. Alleine an diesem Punkt unterschied sich der württembergischen Entwurf nun von seinem niederländischen Vorbild: während das Wetboek van Koophandel die teilschuldnerische Haftung aller Assekuradeure anordnete, die „op eene en dezelfde polis“ gezeichnet hatten (Art. 278 I), gelangte der Hofacker-Entwurf nur dann zur Teilschuldnerschaft mehrerer Versicherer, wenn „verschiedene Policen unter demselben Tage“ geschlossen worden waren (Art. 462 II). Aus den württembergischen Entwurfsmotiven ergibt sich aber, warum der württembergische Entwurf die Regelung des „Wetboek“ derart modifizierte: Hofacker hatte erkannt, dass die niederländische Bestimmung spezifisch seever­ sicherungsrechtlichen Ursprungs war, und glaubte, mit der Kodifikation des würt­ tembergischen Art. 462 II auch den Bedürfnissen übriger Versicherungszweigen gerecht zu werden.297 Der seerechtliche Zuschnitt jener Norm wird sich trotzdem kaum leugnen lassen; mit der zur gleichen Zeit betriebenen Feuerversicherungs­ praxis hatte die gesamte Differenzierung zwischen gleichzeitig und nacheinander geschlossenen Versicherungen jedenfalls nichts gemein. Auf ähnliche Weise hatte der württembergische Entwurf zum Beispiel die ty­ pisch seeversicherungsrechtliche Figur des Ristorno, also die detaillierten Regeln zur Prämienrückgewähr im Falle einer vorzeitigen Vertragsauflösung,298 durch den Einfluss des niederländischen Wetboek und des portugiesischen Codigo Commer­ cial299 zum allgemeinen Prinzip erhoben.300 Angesichts solcher Vorgänge fiel das zeitgenössische Urteil über den württem­ bergischen Entwurf – und insbesondere auch sein Versicherungsrecht – vorwie­ gend negativ aus. Während Schriftsteller in der moderneren Zeit seine hohe Abs­ traktionsleistung betonen, namentlich die Teilung des Binnenversicherungsrechts in einen allgemeinen und einen besonderen Teil, hielten zeitgenössische Handels­ praktiker wie Osiander den württembergischen Entwurf schlichtweg für praxisfern und unbrauchbar. Osiander war einer der außerordentlich wenigen Rezensenten, die sich überhaupt von Seiten der Versicherungspraxis zum Hofacker-Entwurf äußerten. Er machte dem Entwurf die besagte „Compilationssucht“ zum Vor­ wurf – mit anderen Worten: die ausgeprägte Tendenz, Gedankengut aus fremden Quellen zu kompilieren, ohne noch sorgfältig zu prüfen, ob die angesammelten Regeln überhaupt auf das Binnenversicherungsrecht passten.301 Einer der schärfsten Kritikpunkte an der Arbeit Hofackers war es in diesem Zusammenhang, dass wäh­

297

Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 462. Vgl. z. B. Tit. VI AHO (1731) („Vom Ristorno“); §§ 101–111 PrAHO (1766); §§ 2333–2345 ALR (1794); vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 260 ff.; Dreyer (1990), S. 142 f. 299 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 466, 469 mit Verweisen auf Art. 281 Wetboek van Koophandel (1838) und Art. 1787 Codigo Commercial (1833). 300 Art. 466–469 HGB-Entwurf Württemberg (1839). 301 Osiander (1844), S. 2. Vgl. auch Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2875; ­Neugebauer (1990), S. 57. 298

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rend der Abfassung des Entwurfs die fachliche Meinung von Handelspraktikern gar nicht erst eingeholt worden war.302 Wenngleich sich der Hofacker-Entwurf in seinen Motiven ganz punktuell auf Klauseln aus der Feuer- oder Lebensversicherungspraxis berief, sollte der Binnen­ versicherungspraxis folglich nicht vorschnell ein weitreichender Einfluss auf den württembergischen Entwurf unterstellt werden. Im Gegenteil dürften eher die Ge­ danken des internationalen Seeversicherungsrechts den württembergischen Ent­ wurf dominiert und die Vorschriften aus der Binnenversicherungspraxis zu großen Teilen verdrängt haben. 2. Der Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten von 1857 Bis zum Ende der 1850er Jahre blieb der württembergische HGB-Entwurf der einzige Versuch, das Binnenversicherungsrecht zur Kodifikation zu bringen. Als zweiter deutscher Teilstaat zog Preußen 1857 mit einem eigenen Handelsrechtsent­ wurf nach. Der preußische Entwurf stand dabei in seiner Entwicklungsgeschichte in enger Verbindung mit dem württembergischen. a) Die Genese des preußischen Entwurfes Obwohl mit der territorialen Expansion Preußens das Staatsgebiet in mehrere verschiedene Rechtskreise zerfallen war, glückte dort bis 1857 keine durchgrei­ fende Reform des preußischen Zivil- oder Handelsrechts. Die Kaufleute, Han­ delskammern und Handelsgerichte vor allem in der Rheinprovinz hatten sich vehement gegen die Einführung des ALR ausgesprochen, nachdem das Gebiet 1815 unter preußische Herrschaft gefallen war: sie befürchteten, der ökonomisch wichtige Handel mit Frankreich und den Niederlanden könne gehemmt werden, wenn der unter Napoleon eingeführte Code de Commerce gegen das preußische Landrecht ausgetauscht werden würde. Umgekehrt war es für die kernpreußischen Territorien undenkbar, den französischen Code de Commerce als geltendes Recht zu akzeptieren.303 In diesem gespaltenen Rechtszustand verharrte Preußen bis in die 1850er Jahre. In diesem Zeitraum hatte die handelsrechtliche Kodifikationsbewegung be­ trächtlich an Dynamik gewonnen – eine Entwicklung, die vor allem von der Initia­ tive der süddeutschen Staaten herrührte. Wie soeben erörtert, hatte das Königreich Württemberg schon in den 1830er Jahren darauf gedrängt, das Handelsrecht über 302

Osiander (1844), S. 2. Vgl. auch Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2873. Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2884 f. (insbes. zu den Bestrebungen, das ALR im preußischen Rheinland einzuführen); Neugebauer (1990), S. 58. 303

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die einzelstaatlichen Grenzen hinweg zu vereinheitlichen, vor allem auch, um der preußischen Hegemonialstellung im Deutschen Bund und im Zollverein entgegen­ zuwirken. Ein erster Entwurf für ein gemeinsames deutsches Handelsgesetzbuch entstand indes erst infolge der revolutionären Bestrebungen von 1848 und 1849: der sogenannte „Frankfurter Entwurf“ von 1849 stammte aus dem kurzlebigen gesamtdeutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche; nach der Auflösung des „Paulskirchenparlaments“ gelangte er nicht weiter zur Ausführung.304 Er hatte ohnehin keine materiell-rechtlichen Normen zum Versicherungsvertragsrecht ent­ halten305 und ist für die vorliegende Untersuchung daher ohne Belang. Den nächsten Anlauf zur Kodifikation des deutschen Handelsrechts unter­ nahm erneut ein süddeutscher Staat, nämlich das Königreich Bayern. Es stellte am 21. 02. 1856 einen Antrag zur Bundesversammlung, der sich auf die Schaffung eines vereinheitlichten deutschen Handelsgesetzes richtete.306 Die Verhandlungen des Deutschen Bundes über ein solches allgemeines Handelsgesetz wurden aller­ dings vorläufig aufgeschoben, nachdem Preußen darauf verwiesen hatte, dass sich gerade ein preußischer HGB-Entwurf in Arbeit befinde. Der Deutsche Bund ent­ schied sich infolgedessen, die Fertigstellung des preußischen Entwurfs abzuwarten, um später über eine umso breitere Arbeitsgrundlage für ein allgemeindeutsches Handelsrecht zu verfügen.307 Bis zum Beginn der „Nürnberger Konferenzen“ von 1857, an deren Ende die Kodifikation des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches (ADHGB) stehen sollte, waren die Arbeiten am „Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussi­ schen Staaten“308 tatsächlich abgeschlossen. Der Verfasser des Entwurfes und sei­ ner dazugehörigen Motive309 war der Justizministerialrat Friedrich Wilhelm August Bischoff.310 Die moderne Forschung ist sich angesichts seines historischen Hinter­ grunds weitgehend einig, dass der preußische Entwurf von Bischoff niemals die Intention verfolgte, wirklich als Handelsgesetz des Königreichs Preußen in Kraft zu treten. Nach der Meinung der meisten Historiker befürchtete Preußen, das in den vorangegangenen 30 Jahren niemals die Vereinheitlichung seiner Binnenrechtsge­ biete erreicht hatte, vielmehr einen Angriff auf seine Hegemonialstellung im Deut­ schen Bund oder im Zollverein, wenn ein allgemeines Handelsgesetzbuch für alle deutschen Staaten geschaffen würde – dieses würde sich nämlich alleine auf das 304

Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2928 ff.; Duvinage (1987), S. 18; Neugebauer (1990), S. 68; Scherner, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 714, 725. 305 Vgl. Duvinage (1987), S. 18, wonach der Entwurf nur eine Einordnung des Versicherungs­ vertrags als Handelsgeschäft enthielt; so auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. VIII. 306 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2949; Neugebauer (1990), S. 68. 307 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2887, 2950; Mayer (1974), S. 42 f. 308 Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten. Nebst Motiven. Erster Theil: Entwurf (Textausgabe, 1857). 309 Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten. Nebst Motiven. Zweiter Theil: Motive (Textausgabe, Berlin 1857). 310 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2887; Duvinage (1987), S. 20.

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Vorbild eines süddeutschen HGB-Entwurfes stützen können.311 Mit seinem eige­ nen, recht eilig fertiggestellten HGB-Entwurf wollte Preußen allem Anschein nach also nur eine Alternative zum württembergischen Entwurf Hofackers schaffen, um die Verhandlungen zum späteren ADHGB in seinem Sinne lenken zu können. b) Das Konzept des preußischen und des württembergischen Entwurfes im Vergleich: Konkurrenz oder Kohärenz? Hat die politische Konkurrenz zu Württemberg allerdings auch dazu geführt, dass sich der preußische HGB-Entwurf von 1857 auch inhaltlich eindeutig in Op­ position zu seinem württembergischen Pendant begab, insbesondere in seinem binnenversicherungsrechtlichen Teil (Art. 327–383)? Unter gesetzessystematischen Aspekten ähnelte der preußische Entwurf dem württembergischen jedenfalls stark. Auch er hatte das Versicherungsrecht in einen allgemeinen Teil (Art. 327–349) und einen besonderen Teil (Art. 350–383) unter­ gliedert, wobei der besondere Teil Regeln zu einzelnen Versicherungszweigen wie der Feuer-, Hagel-, Landtransport- und Lebensversicherung beinhaltete.312 Im Unterschied zum Binnenland Württemberg herrschte in Preußen allerdings auch das Bedürfnis nach seeversicherungsrechtlichen Regeln, da Preußen über mehrere Ost- und Nordseehandelsplätze verfügte, und so hatte Bischoff in den Art. 603–680 des Entwurfes  – systematisch weit ausgelagert  – auch Regeln zur Seeversiche­ rung vorgesehen.313 Als Versicherung im handelsrechtlichen Sinne verstand der Entwurf jedoch nur die „Versicherung gegen Prämie“; die von Gegenseitigkeits­ gesellschaften betriebenen Versicherungen (Art. 2 Nr. 4, 212 Var. 4) hätten – so die Motive des preußischen Entwurfs – „keine Handelsspekulation zum Gegenstand“ und eigneten sich, „da sie nicht auf Gewinn berechnet sind, überhaupt nicht zum gewerbsmäßigen Betrieb“ im Sinne des Handelsgesetzbuches.314 Im Gegensatz zu seinem württembergischen Pedant erklärte der preußische Entwurf kaum noch bestimmte Vorschriften dezidiert für abdingbar, weil er aus­ weislich seiner Entwurfsmotive die Disponibilität mancher Normen für so selbst­ verständlich hielt, dass deren Abdingbarkeit nicht ausdrücklich aussprechen zu brauchen glaubte.315 Der Entwurf sah das Binnenversicherungsrecht also im 311

Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2886, 2949.; Neugebauer (1990), S. 59. Behrend, ZHR 55 (1904), 1,4 f.; Duvinage (1987), S. 21; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. IX; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 330. 313 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 4; Duvinage (1987), S. 20; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 316; Neugebauer (1990), S. 60. 314 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 2 Nr. 4. Vgl. Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 5; Duvinage (1987), S. 21; Goldschmidt, Krit. Zs. ges. Rw. 4/2 (1857), 105, 116 f.; von Staudinger (1858), S. 66 ff. 315 So z. B. dokumentiert in Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 334, 335 (zur selbstverständ­ lichen Disponibilität der „Proportionalitätsregel“ bei der Unterversicherung); eine ausdrück­ liche Anordnung der Disponibilität erfolgte nur noch in Art. 357 II HGB-Entwurf Preußen (1857) (Risikoausschlüsse bei der Feuerversicherung). 312

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Großen und Ganzen als ein dispositives Regelwerk an. Vereinzelte Normen des preußischen Entwurfes waren allerdings entweder nach dem eindeutigen Geset­ zeswortlaut oder zumindest nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes zwingend, da sie einen prohibitiven Charakter besaßen. Das galt insbesondere für diejenigen Vorschriften, die eine Bereicherung des Versicherten und damit auch den speku­ lativen Missbrauch der Versicherung verhindern wollten316 – hauptsächlich also das präventive Verbot der Überversicherung,317 der Übertaxierung318 oder der Ver­ sicherung bei mehreren Versicherern, soweit deren Versicherungssummen insge­ samt über das versicherbare Interesse hinausgingen;319 zwingend vorgeschrieben war zum Beispiel auch die Einwilligung einer dritten Person, für deren Tod der Versicherungsnehmer sich versichern wollte.320 Wenngleich sich die beiden Ent­ würfe also in einigen regelungstechnischen Ansätzen unterschieden, waren sie in ihrer inhaltlichen und systematischen Gesamtkonzeption erstaunlich deckungs­ gleich. Wirft man einen Blick in die separat veröffentlichten Motive des preußischen Entwurfs, die wiederum für jeden einzelnen Entwurfsartikel genaue Rechenschaft über die verwendeten Rechtsquellen ablegten, so wird man sogar feststellen, dass sich Bischoff inhaltlich in weiten Teilen am Binnenversicherungsrecht des würt­ tembergischen Entwurfs orientiert haben musste. Besagte Motive benannten als wesentliche Vorbilder wiederum die entsprechenden Normen des niederländischen Wetboek van Koophandel von 1838, des in Preußen bereits zum Gesetz gewor­ denen Allgemeinen Landrechts von 1794, seltener auch des französischen Code de Commerce oder des spanischen Código de Comercio. Vor allem aber auf die Artikel des württembergischen HGB-Entwurfs von 1839 beriefen sich die Motive des preußischen Entwurfes mit auffallender Häufigkeit.321 Die preußischen Ent­ wurfsmotive versuchten nicht selten, sich mit teils scharfen Worten von den Be­ stimmungen des Hofacker-Entwurfes abzugrenzen. Welche Qualität diese Abgrenzung zum Teil allerdings annahm, mag am bes­ ten an einem Beispiel illustriert werden. Der württembergische Entwurf von 1839 hatte  – wie gezeigt  – noch zwischen lebenslangen und kurzzeitigen Le­ bensversicherungen unterschieden. Nur die temporär abgeschlossenen Versiche­ rungen hatte Hofacker, seiner eigenen rechtsdogmatischen Auffassung folgend, zu „eigentlichen“ Lebensversicherungen erklären wollen. Zugleich sollten in Württemberg aber die meisten Normen des Lebensversicherungsrechts auch auf

316 Ausdrücklich zum Motiv der Missbrauchsvermeidung: Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 332, 333 und 380. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 22; Prange, Theorie des Versicherungs­ wertes (1895), Bd. 1 S. 127 f. 317 Art. 332 I HGB-Entwurf Preußen (1857). 318 Art. 340, 341 HGB-Entwurf Preußen (1857). 319 Art. 333 I HGB-Entwurf Preußen (1857). 320 Art. 380 III HGB-Entwurf Preußen (1857). 321 Vgl. auch Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2887; Duvinage (1987), S. 21.

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die häufig praktizierten „uneigentlichen“ Lebensversicherungen zur Anwendung kommen:322 „Art. 496. Begriff. Das Leben eines Menschen kann zum Vortheile eines dabei Bethei­ ligten für einen bestimmten Zeitraum in der Art versichert werden, daß für den Todesfall dem Versicherten oder seinen Rechtsnachfolgern die Zahlung einer bestimmten Summe verheißen wird. […] Art. 503. II. Uneigentliche Lebensversicherung. [1] Diejenigen Lebensversicherungen, wo­ bei der Versicherer gegen bestimmte Leistungen des Versicherten sich anheischig macht, diesem oder seinen Rechtsnachfolgern eine bestimmte Summe auszubezahlen, sind nicht unter den Versicherungen im gesetzlichen Sinne begriffen. [2] Doch finden die Art. 498. – 502. auf Verträge, und die Art. 474. Abs. 2. und 478. auf gegenseitige Versicherungen dieser Art Anwendung.“

Der preußische Entwurf kritisierte diese Vorgehensweise in seinen Motiven als inkonsequent und künstlich: es erschiene ihm „für ein Gesetzbuch nicht an­ gemessen, wenn dasselbe wegen einer rein theoretischen, aus dem Begriffe der Gefahr hergenommenen Verschiedenheit zwei besondere Arten von Lebensver­ sicherungen, etwa, wie im Württemberger Entwurfe, eine eigentlich und eine un­ eigentliche Lebensversicherung, einander gegenüber stellen wollte.“323 So wählte der preußische Entwurf für seinen Art. 379 eine Formulierung, welche die Fälle der kurzzeitigen und der lebzeitigen Todesfallversicherung in dogmatischer Hin­ sicht gleichsetzte: „Art. 379. Das Leben eines Menschen kann für einen bestimmten Zeitraum oder auf Le­ benszeit in der Art versichert werden, daß für den Todesfall dem Versicherten oder seinen Rechtsnachfolgern die Zahlung einer bestimmten Summe verheißen wird.“

Nicht nur lehnte sich die preußische Bestimmung im Wortlaut bemerkenswert eng an Art. 496 des so hart kritisierten württembergischen Entwurfs an – auch rechtspraktisch gesehen unterschieden sich der preußische und der württember­ gische Entwurf kaum, nachdem der Hofacker-Entwurf über den Rechtsgrundver­ weis in Art. 503 II am Ende das exakt gleiche Ergebnis erzielt hatte, welches jetzt Art. 379 des preußischen Entwurfes in vermeintlich neuem Gewande präsentierte. Auch in anderen Fällen griffen die Motive aus der Feder Bischoffs das württember­ gische Regelwerk mit ähnlicher Schärfe an – bereits jetzt sei der späteren Analyse einzelner dogmatischer Elemente aber vorweggenommen, dass sich auch insoweit die materiell-rechtlichen Unterschiede zwischen beiden Entwürfen eher auf klei­ nere Einzelfragen beschränkten. Trotz einiger vehementer, wohl politisch motivierter Abgrenzungsversuche in den preußischen Entwurfsmotiven muss am Ende dieser Betrachtung also das Fa­ zit stehen, dass die beiden HGB-Entwürfe aus Württemberg und Preußen einen hohen Grad an Übereinstimmung aufweisen konnten. Nur in einigen rechtsdogma­ 322 323

Dazu insgesamt Neugebauer (1990), S. 54. Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 379. Vgl. auch Malß, Betrachtungen (1862), S. 6.

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tischen Detailfragen, auf die später noch ein helleres Licht geworfen werden soll, differierten die beiden Entwürfe, nicht jedoch in ihren fundamentalen Inhalten und Strukturen. Im Endeffekt hatte sich Wilhelm August Bischoff, der Verfasser des württembergischen Entwurfes, exakt der gleichen rechtsvergleichend-kompi­ lierenden Arbeitstechnik bedient, wie sie auch in anderen Entwürfen des 19. Jahr­ hunderts ganz gebräuchlich war. Letztendlich stellte auch der württembergische Entwurf in der gesetzgebungs­ technischen Realität kaum etwas anderes dar als eine weitere reichhaltige Quelle der Rechtsschöpfung für spätere Entwurfsverfasser – inklusive dem preußischen. 3. Das Allgemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (1861) und seine gescheitere Kodifikation des Binnenversicherungsrechts Die Entwicklungsgeschichte des preußischen HGB-Entwurfes war eng mit der Kodifikation des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches von 1861 verwo­ ben: der hauptsächliche Zweck des Entwurfes war es gewesen, dem Königreich Preußen bei der Abfassung eines gesamtdeutschen Handelsgesetzbuches eine möglichst einflussreiche Stellung zu sichern. Im Wesentlichen hat die Strategie Preußens Früchte getragen. Nachdem das Königreich Bayern schon am 21. 02. 1856 zur Bundesversammlung beantragt hatte, ein allgemeines Handelsgesetzbuch für alle deutschen Staaten zu schaffen, waren die Arbeiten an dem zukünftigen Gesetz zunächst, wie oben er­ örtert, für ein Jahr suspendiert worden, um der preußischen Seite die Gelegenheit zu geben, ihren eigenen Handelsrechtsentwurf zu vollenden. Am 15. 01. 1857 trat aber schließlich eine gesetzgebende Kommission in Nürnberg zusammen, die für die Ausarbeitung des ADHGB zuständig war.324 Parallel dazu tagte eine Subkom­ mission in Hamburg, die für die seerechtlichen Normen des ADHGB zuständig war; mit der teilweisen Auslagerung der Verhandlungen nach Hamburg hatte die Kommission intendiert, die Akzeptanz des späteren ADHGB auch in den norddeut­ schen Staaten zu festigen.325 Am Ende stellte das ADHGB mit seinen Art. 782–905 das bis dato nur von wenigen Staaten kodifizierte Seeversicherungsrecht auf eine breite gesetzliche Grundlage, die in ihren wesentlichen Kernpunkten dem Vor­ bild des preußischen Entwurfes folgte.326 Insoweit hatte das Königreich Preußen also seine einflussreiche Stellung in der Gesetzgebung des Deutschen Bundes beibehalten können. Allerdings war es während der Gesetzgebungsarbeiten zum ADHGB nicht gelungen, auch das Binnenversicherungsrecht in eine gesetzliche 324

Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2951; Neugebauer (1990), S. 68. Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2952. 326 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2955; Duvinage (1987), S. 24; V. Ehrenberg, Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. 7/2 (1923), S. 15; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 323; Neugebauer (1990), S. 67 f.; Otto, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 16. 325

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Form zu gießen, obgleich die beiden Entwürfe aus Württemberg und Preußen einen beträchtlichen Teil ihrer Bestimmungen auch dem Binnenversicherungs­ recht gewidmet hatten. In der ersten Lesung der Nürnberger Kommissionen hatte die preußische Dele­ gation beantragt, die ursprünglich angesetzten Verhandlungen über das Binnen­ versicherungsrecht zu vertagen. Die preußische Seite argumentierte dabei, eine verfrühte Kodifikation des Binnenversicherungsrechts laufe in Gefahr, die recht­ liche und technische Entfaltung der binnenländischen Versicherungszweige zu hemmen. Man verwies ferner darauf, dass auch andere europäische Handelsrechts­ kodifikationen – mit Ausnahme des niederländischen Wetboek van Koophandel – bislang nur das Seeversicherungsrecht berührt hätten. Besser sei es deswegen, die rechtliche Entwicklung insbesondere des Feuer- und Lebensversicherungsrechts vorerst den Allgemeinen Versicherungsbedingungen der großen Gesellschaften zu überlassen; gröbsten Fehlentwicklungen innerhalb der Binnenversicherungs­ praxis könne man auch mit den Mitteln der Versicherungsaufsicht beikommen.327 Solche Erwägungen hatten in den Nürnberger Verhandlungen tatsächlich dazu ge­ führt, die Beratungen zum Binnenversicherungsrecht einstweilen noch aufzuschie­ ben.328 Als in der dritten und letzten Lesung des ADHGB-Entwurfes schließlich zur Diskussion stand, doch noch einige Bestimmungen zum Feuer- oder Lebens­ versicherungsrecht in das Gesetzbuch aufzunehmen, harrten die preußischen Vertreter auf dem Standpunkt, die Binnenversicherung sei in den ersten beiden Lesungen nicht zur Sprache gekommen und könne nun, in der abschließenden Le­ sung, alleine schon aus verfahrensrechtlichen Gesichtspunkten keine Aufnahme mehr finden.329 Die moderne rechtshistorische Forschung macht für das Scheitern der binnen­ versicherungsrechtlichen Kodifikation im ADHGB eher politische als rechts­ technische Gründe verantwortlich; die Argumente der preußischen Delegierten scheinen ihr letztlich nur vorgeschoben. Als wahrscheinlicher gilt, dass das Bin­ nenversicherungsrecht des ADHGB letzten Endes an einer politischen Blockade­ haltung Preußens gescheitert ist:330 Die preußische Politik habe die Kodifikation des Binnenversicherungsrechts vor allen Dingen deshalb verzögern oder behindern wollen, weil das Königreich Württemberg mit seinem frühen Kodifikationsent­ wurf von 1839 noch immer die preußische Hegemonialstellung in der Bundes­ gesetzgebung bedrohte.

327 Insgesamt Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2953; Duvinage (1987), S. 24 f.; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 317; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 331; Neugebauer (1990), S. 69. 328 Duvinage (1987), S. 24 f.; vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. IX; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 331; Neugebauer (1990), S. 70. 329 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2954; Duvinage (1987), S. 25; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 332; Neugebauer (1990), S. 72. 330 So ausdrücklich Neugebauer (1990), S. 72 f.

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Am Ende der vierjährigen Kommissionsarbeiten in Nürnberg und Hamburg beschloss die Bundesversammlung das ADHGB in seiner endgültigen Fassung am 16. 03. 1861331  – freilich nun ohne jeglichen binnenversicherungsrechtlichen Inhalt.332 Damit war das ADHGB für die Staaten des Deutschen Bundes übrigens noch nicht unmittelbar bindend geworden, denn seine Ratifizierung und Inkraft­ setzung oblag nach wie vor den einzelnen Partikularstaaten. Einige dieser Staaten vollzogen das Gesetz jedoch noch nicht unmittelbar nach seiner Beschlussfassung. Eine entsprechende Kompetenz fiel erst dem 1867 gegründeten Norddeutschen Bund zu, der das ADHGB für weite Teile Deutschlands verbindlich machte; erst das neu geschaffene Deutsche Kaiserreich erklärte es 1872 schließlich für restlos alle Teile des Reiches zum verbindlichen Reichsgesetz.333 Obwohl das Binnenversicherungsrecht auch im ADHGB noch keine Kodifika­ tion erfahren hatte und seine Entwicklung daher bis auf Weiteres den AVB der Pri­ vatversicherungsgesellschaften überlassen blieb, sollte der Einfluss des ADHGB auf das deutsche Feuer- und Lebensversicherungsrecht keinesfalls unterschätzt werden. Wie bereits an früherer Stelle hervorgehoben wurde, stützen sich sowohl die Wissenschaft als auch die Rechtsprechung ganz maßgeblich auf die allgemein anerkannten Grundsätze des maritimen Versicherungsrechts, um aus ihnen im Wege systematischer Analogieschlüsse auch Prinzipien für die binnenländischen Versicherungszweige abzuleiten. Mit dem ADHGB war die teils ungeschriebene, teils von einzelnen Partikularstaaten reglementierte Materie des Seeversicherungs­ rechts aber in eine greifbarere rechtliche Gestalt gefügt worden, welche nach 1872 innerhalb der gesamten Reichsgrenzen Gesetzeskraft beanspruchte.334 Von da an war die legislatorische Diskussion um das Binnenversicherungsrecht stark von den Rechtsgedanken des ADHGB geprägt. 4. Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (1861) Ab den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts verlagerte sich die Debatte zur Kodi­ fikation des Binnenversicherungsrechts vom Handelsrecht in das allgemeine Zi­ vilrecht – eine Entwicklung, die sich schon deswegen abzeichnen musste, weil die gesamtdeutsche Handelsgesetzgebung das Binnenversicherungsrecht ausgespart hatte; letzten Endes reflektierte sie aber auch den Bedeutungswandel der Feuer 331

Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch nach den Beschlüssen der dritten Lesung. Zu­ gleich fünftes Heft des Beilagenbandes der Protokolle der Kommission zur Berathung eines allgemeinen deutschen Handelsgesetzbuches, im Auftrage dieser Kommission herausgegeben von J. Lutz (Textausgabe, 4. Aufl. 1861). 332 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2954; Duvinage (1987), S. 25 f.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 323. 333 Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2954; Scherner, HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 714, 725. 334 Duvinage (1987), S. 25; Malß, ZVersR 1 (1866), 1, 4; Neugebauer (1990), S. 74.

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und Lebensversicherung vom kaufmännischen Sicherungsgeschäft zum Massen­ geschäft für alle Bevölkerungsschichten. Überhaupt fokussierte sich die breite Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhun­ derts, nachdem die Arbeiten am ADHGB zu einem erfolgreichen Abschluss ge­ bracht worden waren, auf das Zivilrecht. In diesem Umfeld unternahmen gleich drei Einzelsaaten in Süd- und Mitteldeutschland während der 1850er und 60er Jahre einen Versuch, ihr gesamtes bürgerliches Recht zu kodifizieren, nämlich Hessen, Sachsen und Bayern.335 Die zivilrechtliche Gesetzgebungstechnik orien­ tierte sich zu dieser Zeit schon verstärkt an den Lehren der Pandektenwissenschaft. Nach deren methodischer Auffassung musste – um mit den Worten des Pandektis­ ten Georg Friedrich Puchta zu sprechen – das „auf der äußeren Autorität der un­ mittelbaren Volksüberzeugung und der gesetzgebenden Gewalt beruhende Recht […] durch die wissenschaftliche Thätigkeit auf seine Principien zurückgeführt, und als ein System, als ein Ganzes von gegenseitig sich voraussetzenden und be­ dingenden Sätzen begriffen“ werden.336 Das Ziel der Pandektenwissenschaft war es also, insbesondere auf dem Funda­ ment des tradierten römischen Rechts eine innerlich widerspruchsfreie Ordnung abstrakter, inhaltlich miteinander verzahnter Rechtssätze zu konstruieren.337 Mit der Pandektisitik kam unter anderem das noch heute gebräuchliche fünfgliedrige System  – allgemeiner Teil, Obligationenrecht, Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht – ins deutsche Zivilrecht.338 Bei alledem beinhaltete jedoch nur der Ent­ wurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern von 1861 auch Normen zum Binnenversicherungsrecht; anders als der ganz überwiegende Teil des deutschen Obligationenrechts war der Versicherungsvertrag schließlich nicht aus römisch-rechtlichen Wurzeln gewachsen und nahm daher eine eigentümliche Sonderrolle in der allgemeinen Zivilrechtswissenschaft ein.339 a) Die Genese des bayerischen Entwurfes Wie der preußische Staat war auch das Königreich Bayern nach dem Wiener Kongress von 1815 in zwei verschiedene Rechtskreise zerfallen. Zwar konnte man 335

Neugebauer (1990), S. 74 ff. Puchta (9. Aufl. 1863), § 16 (S. 29). 337 Mot. BGB Bayern (1861), Einleitung S. V f.; Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1480; Lang, Bd. 1 (1861), S. 8 ff., 33; Neugebauer (1990), S. 74 (jedenfalls zum sächsischen und zum hessischen BGB-Entwurf). Zur Pandektenwissenschaft und ihrem Anspruch insgesamt: Hähnchen, Rechtsgeschichte (5. Aufl. 2016), Rn. 663, 669; Luig, in: HRG, Bd. 3 (1. Aufl. 1984), Sp. 1422, 1424 (zum Fokus der Pandektenwissenschaft auf das römische Recht), 1427 (zum systematisierenden Anspruch der Pandektenwissenschaft); Neugebauer (1990), S. 120; Wesel (2010), S. 481. 338 Lang, Bd. 1 (1861), S. 32; Luig, in: HRG, Bd. 3 (1. Aufl. 1984), Sp. 1422, 1427 f. 339 Zur Unanwendbarkeit pandektistischer Methoden auf das Versicherungsrecht, s. Neugebauer (1990), S. 121. 336

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sich im gesamten bayerischen Kernland auf das Zivilrecht des Codex Maximilia­ neus Bavaricus Civilis von 1756 berufen,340 doch hatte auch Bayern bei der poli­ tischen Neuordnung Deutschlands ein Gebiet im Rheinland, die linksrheinische Pfalz, hinzugewonnen. Die Pfalz orientierte sich aber, ganz ähnlich der preußi­ schen Rheinprovinz, seit der Napoleonischen Herrschaft am französischen Recht. Eine Vereinheitlichung des bayerischen Zivilrechts war nur durch eine neuerliche Kodifikation zu erreichen.341 Drei Anläufe dazu waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schon gescheitert: weder die Kodifikationsarbeiten von Nikolaus Thadäus von Gönner aus dem Jahr 1826, noch die Versuche von Ludwig Karl von Leonrod oder Karl Ludwig Arndt von 1833 und 1841 hatten letztlich Früchte ge­ tragen.342 Der bayerische König Ludwig I. verfolgte die Idee eines einheitlichen bayerischen Zivilrechts in den frühen Jahren seiner Regentschaft nicht weiter; in den 1850er Jahren hatte die gesamte Kodifikationsbewegung allerdings eine der­ artige Dynamik aufgenommen, dass sich auch Ludwig der Kodifikation des bür­ gerlichen Rechts nicht länger widersetzen konnte.343 Am 12. 11. 1852 erteilte Lud­ wig I. an den Juristen und Politiker Friedrich von Ringelmann den Auftrag, „auf der Grundlage des bestehenden Rechts ein dem Rechtsbedürfnis der Gegenwart und den sittlichen und socialen Anforderungen der Zeit entsprechendes, billiges und zweckmäßiges Recht“ zu entwerfen.344 Die konkrete Ausarbeitung des bay­ erischen Entwurfes übernahm ab 1854 Nikolaus von Endres, der sein Werk vier Jahre später einer gesetzgebenden Kommission übergab, welche ihn schließlich neu überarbeite. Die revidierte Fassung des bayerischen BGB-Entwurfes wurde in zwei getrennten Teilen der Öffentlichkeit präsentiert: der erste Teil – das Haupt­ stück „Von den Rechtsgeschäften“ und über das „Recht der Schuldverhältnisse“ – erschien bereits 1861, während der zweite Teil über das allgemeine Schuld- und das Sachenrecht erst 1864 zur Veröffentlichung kam.345 Von Interesse ist vorliegend der erste Teil von 1861:346 er behandelte in Art. 800–829 das Binnenversicherungs­ recht als einen Teil des besonderen Schuldrechts; auch den bayerischen Entwurf begleitete eine zeitgleich veröffentlichte Ausgabe der amtlichen Entwurfsmotive.347 Zur weiteren Beratung gelangte der bayerische BGB-Entwurf allerdings nicht, weil sich zur gleichen Zeit schon überregionale Rechtsvereinheitlichungstendenzen im Deutschen Bund abzeichneten, die später zum Dresdener Obligationenrechtsent­ wurf führen sollten.348 340

Vgl. Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1428. Mot. BGB Bayern (1861), Einleitung S. III; Bergfeld, in: Coing Bd. III/3 (1986), S. 2853, 2913; Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1478; Lang, Bd. 1 (1861), S. 6. 342 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1475 f. 343 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1477. 344 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1477. 345 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1477 f. 346 Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern. Theil  I. Haupt­ stück… Von den Rechtsgeschäften. Theil II. Recht der Schuldverhältnisse (Textausgabe, 1861). 347 Motive zum Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (Text­ ausgabe, 1861). 348 Neugebauer (1990), S. 77. 341

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b) Die Tendenz des bayerischen Entwurfes zur größtmöglichen Abstraktion Schon bei einer ersten, oberflächlichen Betrachtung wird bemerkbar, wie ver­ hältnismäßig knapp der bayerische Entwurf in seinem binnenversicherungsrecht­ lichen Teil gehalten war: im Gegensatz zu den noch über 100 Vorschriften des württembergischen Entwurfes hatte der bayerische BGB-Entwurf das Binnenver­ sicherungsrecht auf nur noch 30 Artikel zusammengeschmolzen. Auf eine aus­ ufernde Kasuistik wollte er insgesamt verzichten: das bürgerliche Recht sollte – ganz den Ideen der zivilrechtlichen Pandektenwissenschaft folgend – auf möglichst abstrakte, flexible Sätze zurückgeführt werden.349 Die Motive des bayerischen BGB-Entwurfes nahmen bei alledem sogar ausdrücklich auf die Gedanken der Pandektenwissenschaft Bezug, wenn sie sich dazu bekannten, der „neuesten Doc­ trin des gemeinen bürgerlichen Gesetzbuches“ gefolgt zu sein.350 Das Streben nach möglichst abstrakten Rechtssätzen ging letzten Endes auch am Versicherungsrecht des bayerischen Entwurfes, dem Fremdkörper inmitten des römisch-rechtlich geprägten Obligationenrechts, nicht vorüber. Die Art. 800–829 des bayerischen Entwurfes statuierten nur noch allgemeine Grundsätze für alle Versicherungszweige, wohingegen ein besonderer Teil für die Besonderheiten des Feuer- oder Lebensversicherungsrechts entfiel. Speziellere Bestimmungen sollten damit alleine der Parteivereinbarung vorbehalten bleiben.351 So machte das bayerische BGB den Parteien keinerlei Vorschriften, auf welche Art und Weise die Höhe eines Brandschadens zu berechnen war;352 eine der ver­ sicherungspraktisch wichtigsten Fragen war damit alleine einer Regelung in den AVB der Feuerversicherer vorbehalten. In anderen Fällen lag die Zurückhaltung des bayerischen Entwurfsverfassers vor allem auch im systematischen Gesamtkon­ zept des bayerischen BGB begründet: wenn sich zum Beispiel in den Art. 800–829 keine einzige Regel zum Zahlungsrückstand des Versicherungsnehmers mehr be­ fand, dann rührte das vor allem daher, dass das System des BGB solche Fragen nicht im Versicherungsrecht, sondern im allgemeinen Schuldrecht kodifizieren,353 gewissermaßen also vor die Klammer ziehen wollte. Im Übrigen erklärte auch der bayerische Entwurf einige Prinzipien des Versiche­ rungsrechts ausdrücklich für unabdingbar. Der Entwurf wählte dazu einen recht innovativen regelungstechnischen Ansatz: sein Art. 814 übernahm gewissermaßen die Position einer Scheidewand zwischen zwingendem und dispositivem Recht, 349

Mot. BGB Bayern (1861), Einleitung S. IV f. Mot. BGB Bayern (1861), Einleitung S. VI. 351 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 6; Duvinage (1987), S. 26; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 333; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 218. 352 Art. 819 I BGB-Entwurf Bayern (1861) enthielt lediglich noch eine Beweislastregel, Abs. 2 verwies im Übrigen auf die allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätze. 353 Vgl. dazu Art. 124–142 BGB-Entwurf Bayern (1861) („Folgen des Verzuges insbesondere“). 350

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indem er bestimmte, alle ihm nachfolgenden Artikel (Art. 815–829) sollten nur „aushilfsweise“ gelten, also in Ermangelung einer anderweitigen Parteiabrede.354 Parallel zum württembergischen und zum preußischen Entwurf beschränkten sich aber auch die unabdingbaren Grundsätze des bayerischen Entwurfes beispiels­ weise auf Regeln zum versicherbaren Interesse,355 zur Überversicherung356 oder zur Versicherung bei mehreren Versicherern.357 Im Prinzip zeichnete sich im bayerischen Entwurf eine deutliche Tendenz ab, das Versicherungsrecht gleichsam von Sonderfragen zu entkernen und lediglich noch abstrakte, skelettartige Rechtsstrukturen zur Kodifikation zu bringen. Im bayeri­ schen Entwurf führte diese Regelungstechnik letztlich dazu, dass schadensversi­ cherungsrechtliche Prinzipien eine noch dominantere Stellung im Regelungsgefüge der Art. 800–829 einnahmen; besonders für die Lebensversicherung führte das zu bedenklichen Konsequenzen.358 Ihr widmete der bayerische Entwurf nämlich nur eine einzige Norm (Art. 827), die sich bloß noch mit der Versicherung auf fremde Leben explizit befasste, ansonsten aber schlicht eine Kette von Rechtsgrundver­ weisen in das Schadensversicherungsrecht beinhaltete. Wäre der bayerische Ent­ wurf zum Gesetz geworden, so hätte das beispielsweise dazu geführt, dass der Anspruch des Begünstigten gegen den Lebensversicherer schon dann erloschen wäre, wenn die versicherte Person ihren Tod auch nur auf leicht fahrlässige Weise selbst herbeigeführt hätte359 – die Regelung des Entwurfs widersprach damit der Praxis der Lebensversicherungsgesellschaften, welche dieselbe Rechtsfolge nur beim Selbstmord, beim Duelltod oder bei einer rechtmäßigen Hinrichtung der versicherten Person vorsahen.360 Im Endeffekt hätte die Regelung des bayerischen Entwurfes also zu uferlosen Haftungsausschlüssen geführt, ohne dass dabei die Charakteristika der Lebensversicherung noch ausreichend zu Geltung gekommen wären. Auf der anderen Seite blieb die seeversicherungsrechtlich geprägte Figur des Prämienristornos, die sich schon durch die HGB-Entwürfe aus Württemberg und Preußen gezogen hatte,361 auch im bayerischen BGB-Entwurf ein Teil des Binnenversicherungsrechts.362 Auch wenn die bayerischen Entwurfsmotive sich 354

Ausdrücklich zur Funktion des Art. 814  des Entwurfes: Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 814. Vgl. Duvinage (1987), S. 27; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 333. 355 Art. 801 BGB-Entwurf Bayern (1861). 356 Art. 808 BGB-Entwurf Bayern (1861). 357 Art. 809, 810 BGB-Entwurf Bayern (1861). 358 So z. B. Duvinage (1987), S. 27. 359 Art. 817 BGB-Entwurf Bayern (1861). 360 Z. B. Abs. 11 AVB Lübecker Lebensversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB II, 21); § 63 I Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828) (Sammlung-AVB II, 2); § 35 S. 1 AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830) (Sammlung-AVB II, 7); § 24 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-­AVB II, 23); § 51 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16); § 31 Nr. 2 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31). 361 Art. 466–496 HGB-Entwurf Württemberg (1839); Art. 346–348 HGB-Entwurf Preußen (1857). 362 Art. 825 BGB-Entwurf Bayern (1861).

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zu den Rechtsquellen der einzelnen Artikel ausschwiegen, weisen solche Indizien darauf hin, dass sich auch der bayerische Entwurf nicht etwa die Versicherungs­ praxis, sondern die Kodifikationsversuche aus Württemberg und Preußen mit ihren zahlreichen seerechtlich geformten Prinzipien zum Vorbild genommen hat;363 das ADHGB, dessen Kodifikation später begann als die Arbeiten am bayerischen BGB, konnte, wenn überhaupt, allenthalben in seiner Entwurfsfassung als Quelle für den bayerischen BGB-Entwurf dienen.364 Obwohl also der bayerische BGB-Entwurf von 1861 das Binnenversicherungs­ recht erstmals aus dem Handelsrecht herausgelöst, ins bürgerliche Recht verscho­ ben und noch dazu einen weitaus abstrakteren Kodifikationsansatz gewählt hatte als alle vorhergehenden Entwürfe, brach er keinesfalls mit den Ideen der Kodi­ fikationsbewegung, wie sie in den beiden HGB-Entwürfen von 1839 und 1857 zu Tage getreten waren. Immerhin war er jedoch der erste Entwurf des 19. Jahrhun­ derts, der – obgleich im Ergebnis noch mit zahlreichen Unzulänglichkeiten – das dogmatische Experiment einer möglichst weitgehenden Abstraktion wagte. In ihm deutete sich damit schon eine Entwicklung an, welche die Gesetzgebung im Bin­ nenversicherungsrecht bis ins 20. Jahrhundert hinein prägen sollte. 5. Der „Dresdener Obligationenrechtsentwurf“ (1866) Auch aus dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf von 1866 lässt sich heraus­ lesen, wie die Gesetzgebung ab den 1860er Jahren im Versicherungsrecht bemüht war, einzelne tragende Rechtssätze dogmatisch zu einem in sich geschlossenen, logischen und weitestgehend abstrakten System zu verknüpfen, das sich nahtlos in die allgemeine Zivilrechtsdogmatik einfügen konnte.365 Anders als seinen Vor­ gängern aus Württemberg, Preußen und Bayern hatte sich dem Dresdener Entwurf noch dazu eine neue, wichtige Rechtsquelle erschlossen, nämlich das ADHGB von 1861, das immerhin eine Kodifikation des gesamten Seeversicherungsrechts enthielt. a) Die Genese des „Dresdener Entwurfes“ als erster gemeinsamer Kodifikationsversuch mehrerer deutscher Staaten Im Gegensatz zu den vorhergehenden Kodifikationsentwürfen handelte es sich beim Dresdener Obligationenrechtsentwurf nicht um eine partikularstaatliche Arbeit, sondern um den ersten Versuch, ein einheitliches Schuldrecht – samt Bin­ nenversicherungsrecht – für sämtliche Staaten des Deutschen Bundes zu schaffen. 363

Vgl. Neugebauer (1990), S. 76 (vermutet den preußischen Verwurf als hauptsächliches Vorbild). 364 So auch Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1479. 365 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1426; vgl. Hedemann (1935), S. 27.

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Die Kodifikationsbewegung hatte damit, wie schon immer intendiert, überregio­ nale Relevanz gewonnen. In den 1860er Jahren war der Ruf nach einem vereinheitlichten gesamtdeutschen Straf- und Zivilrecht noch lauter geworden. Als erstes wollten die Staaten des deut­ schen Bundes daher an die Kodifikation eines gemeinsamen Obligationenrechts schreiten; das Vorhaben galt als besonders gut umsetzbar, da das Obligationen­ recht in allen deutschen Rechtskreisen aus derselben römischrechtlichen Wurzel entsprungen sei.366 Einen entsprechenden Beschluss hatte die Bundesversammlung schon am 06. 02. 1862 gefasst.367 Der dritte Deutsche Juristentag hatte dann in seinen Verhandlungen vom 27. 08. 1862 den Wunsch formuliert, in das zukünftige Gesetz auch das binnenländische Versicherungsrecht aufzunehmen.368 Am 13.11. desselben Jahres wurde für die Vorarbeiten eine Konferenz mit Sitz in Dresden eingesetzt, welche am 07. 01. 1863 ihre Arbeit aufnahm.369 Allerdings war schon seit der Einsetzung der Obligationenrechtskonferenz die Grundlage für ihr späteres Scheitern gelegt. Nur sechs deutsche Staaten beteiligten sich überhaupt an der Schaffung des Dresdner Entwurfs, nämlich Sachsen, Bay­ ern, Hannover, Württemberg, Hessen-Darmstadt sowie die Stadt Frankfurt; dazu stießen außerdem noch Delegierte aus Österreich. Die deutsche Hegemonialmacht Preußen und mit ihr zahlreiche andere norddeutsche Staaten hatten allerdings von Anfang an ihre Beteiligung an den Verhandlungen verweigert.370 Formell berief sich Preußen darauf, das Projekt eines gesamtdeutschen Schuldrechts sei gar nicht von der Gesetzgebungskompetenz des Deutschen Bundes gedeckt; tatsächlich konnten sich die verbliebenen deutschen Staaten nur auf einen recht indifferenten Passus in Art. 64 der Wiener Schlussakte371 – einem ergänzenden Dokument zur Bundesakte von 1815 – stützen, wonach dem Bund die Kompetenz zu „gemein­ nützigen Anordnungen“ zufiel.372 Im Kern dürfte sich dahinter wiederum bloß eine grundsätzliche preußische Obstruktionshaltung verborgen haben. Für Preußen, das in den 1860er Jahren schon den Plan eines geeinten Deutschen Reiches unter preu­ 366

Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1562; Hedemann (1935), S. 7. Vgl. zur Möglichkeit einer Rechtsvereinheitlichung im Obligationenrecht auch Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 324.; Lang, Bd. 1 (1861), Vorwort S. X. 367 Duvinage (1987), S. 29; Hedemann (1935), S. 4; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 325. 368 Verhandlungen der 3. Deutschen Juristentags (1863), Bd. 2 S. 284. Vgl. Braun (2. Aufl. 1963), S. 284; Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1562; Duvinage (1987), S. 27 f.; Lang, Bd. 1 (1861), Vorwort S. XIII; Neugebauer (1990), S. 78. 369 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1562; Duvinage (1987), S. 29; Hedemann (1935), S. 4; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 326; Neugebauer (1990), S. 78. 370 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1563; Hedemann (1935), S. 5 f.; Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. X f.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 325. 371 Schlußakte der Wiener Ministerkonferenzen vom 15. Mai 1820, abgedruckt im preu­ ßischen „Publikations-Patent über die unterm 15ten Mai 1820. vollzogene Schluß-Akte“ v. 24. 06. 1820 (PrGS 1820, 113). 372 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1565; Hedemann (1935), S. 10 f.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 325.

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ßischer Krone verfolgte, geriet der Deutsche Bund immer mehr zum Hemmnis, zumal die süd- und mitteldeutschen Staaten mit ihrem Wunsch nach Rechtsverein­ heitlichung stets auch ihre eigene Stellung im Bund stärken wollten.373 Nach dem Austritt Preußens und anderer Staaten aus der Obligationenrechtskonferenz war das Ziel eines gesamtdeutschen Schuldrechts schon vor dem Beginn der eigent­ lichen Gesetzgebungsarbeiten in weite Ferne gerückt. Die Dresdener Konferenz hatte ihren Entwurf am 28. 05. 1866 vollendet374 und übergab ihn der Bundesversammlung unter dem Titel „Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse“ am 07. 06. zur Beschlussfassung;375 in seinen Art. 894–921 fanden sich Regelungen zur Binnenversicherung. Nur eine Woche später brach der Krieg zwischen Preußen, Österreich und ihren jeweili­ gen Verbündeten aus, an dessen Ende gut zwei Monate später der Deutsche Bund auseinanderbrach. Damit war die Idee eines gemeinsamen Schuldrechts für alle deutschen Staaten praktisch gegenstandslos geworden.376 Einen entsprechend ge­ ringen Grad an Rezeption fand der Entwurf in den Fachkreisen des 19. Jahrhun­ derts; anders stand es allerdings im Ausland, vor allem in der Schweiz, wo ihn der Nationalrat und Rechtsprofessor Walther Munzinger als Quelle für seinen Entwurf eines schweizerischen Obligationenrechts von 1871 aufgriff.377 b) Der Rechtsschöpfungsprozess des Dresdener Entwurfes: komplexe Quellenlage, abstrakter Regelungsansatz Aus welchen Quellen hatte aber der Dresdener Entwurf selbst sein Recht ge­ schöpft? Im Gegensatz zu den Urhebern der drei partikularstaatlichen Entwürfe hatte die Dresdener Obligationenrechtskonferenz ihrem Werk keine Motive bei­ gefügt, die über seine Quellen Aufschluss geben könnten. Stattdessen kann die rechtshistorische Forschung heute aus den umfangreichen Sitzungsprotokollen der Konferenz direkte Einblicke in den gesetzgeberischen Diskurs der Dresdener De­ legierten und damit in das verwendete Quellenmaterial gewinnen.378 Ergiebig sind 373

Hedemann (1935), S. 7 ff.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 325. Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse, bearbeitet von den durch die Regierungen von Oesterreich, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Hessen-­Darmstadt, Meklenburg-Schwerin, Nassau, Meinigen und Frankfurt hierzu abgeord­ neten Commissaren, und im Auftrage der Commission herausgegeben von Dr. B.  Francke (Textausgabe, 1866). 375 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1564; Hedemann (1935), S. 18, 31; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 326. 376 Benöhr, in: Peter / Stark / Tercier (Hrsg.) (1982), S. 57, 58; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 327; Neugebauer (1990), S. 86. 377 Benöhr, in: Peter / Stark / Tercier (Hrsg.) (1982), S. 57; Dölemeyer, in: Coing  Bd.  III/2 (1982), S. 1403, 1565; Hedemann (1935), S. 34. 378 Protocolle der Commission zur Ausarbeitung eines allgemeinen deutschen Obligationen­ rechts (Textausgaben, 1863–1866). 374

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts 

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zu diesem Zweck jedoch auch die minutiösen Berichte, die der württembergische Delegierte Franz Philipp Kübel aus der Mitte der Verhandlungen verfasst hat.379 Zum einen bestätigt sich aus diesen Quellen die naheliegende Vermutung, der Dresdener Entwurf habe sich in signifikanter Weise von dem kurz vorher beschlos­ senen ADHGB leiten lassen, dessen seeversicherungsrechtliche Prinzipien man zum Teil per Analogieschluss auf das Binnenversicherungsrecht übertrug. Kübel und andere Konferenzteilnehmer waren sich aber andererseits bewusst, dass nicht restlos alle seeversicherungsrechtlichen Bestimmungen als Fundament für den Ob­ ligationenrechtsentwurf taugten: einige spezifisch auf den Seehandel zugeschnit­ tenen Normen könne man schlichtweg nicht analog auf die Binnenversicherung transferieren.380 Um die entstehende Lücke zu füllen, sprach sich eine Mehrzahl der Teilnehmer dafür aus, auch die Anschauungen der Rechtsprechung, der jungen Versicherungsrechtswissenschaft oder früherer Gesetzes- oder Entwurfsverfasser heranzuziehen – vor allem aber auch die Bedingungen der Versicherungspraxis, in welchen namentlich „die im Volke ruhende, Recht erzeugende Kraft“ zum Aus­ druck gelange.381 Wenn schon bislang häufig beobachtet werden konnte, dass die Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts in erster Linie rechtsvergleichendkompilatorisch vorging, so erreichte diese Arbeitstechnik im Dresdener Obliga­ tionenrechtsentwurf folglich ihren ersten Kulminationspunkt: schon ein erster Streifzug durch die Dresdener „Protocolle“ oder die Berichte Kübels zeigt, dass sowohl das ADHGB, als auch die Entwürfe aus Württemberg, Preußen und Bay­ ern als Quellen herangezogen wurden, wobei vor allem der jüngste Entwurf aus Bayern eine Art Leitfunktion einnahm.382 Sogar auf das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten griff die Konferenz recht häufig zurück.383 Nicht zu­ letzt kreisten die Debatten in der Dresdener Konferenz – besonders aufschlussreich für diese Forschungsarbeit – aber auch um ausdrücklich benannte AVB-Klauseln aus der Feuer- oder Lebensversicherungspraxis. In jedem Fall waren die Arbeiten zum Obligationenrechtsentwurf immer auch von rechtstheoretischen und rechts­ dogmatischen Diskussionen flankiert, in denen sich die Ansichten zeitgenössischer

379

Kübel, ZVersR 1 (1866), 321 und ZVersR 2 (1868), 1. Dazu s. z. B. die Diskussionen in der Dresdener Konferenz um die Zulässigkeit von ent­ sprechenden Analogieschlüssen: Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3185, 3212 ff.; Bd. 6 (1866), S. 4544 (zur Versicherung auf fremde Rechnung); ebd. Bd. 4 (1865), S. 3285 f. (zur mehrfachen Versicherung); ebd. Bd. 6 (1866), S. 4540 (zur Kenntnis der Parteien von einer bereits bei Ver­ tragsschluss eingetretenen Gefahr). Vgl. dazu insgesamt Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 339; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 364. 381 Zur Diskussion um die verschiedenen Rechtsquellen des Versicherungsrechts im Dres­ dener Entwurf exemplarisch Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3212 ff. (zur Versicherung auf fremde Rechnung); Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 340. 382 Zu den verwendeten Quellen im Einzelnen: Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 328 ff. Vgl. auch Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1465 (explizit auch zur leitenden Rolle des bayerischen BGB-Entwurfes); Duvinage (1987), S. 29; Hedemann (1935), S. 22 f.; Neugebauer (1990), S. 78 (auch zur Rolle des bayerischen Entwurfes). 383 Dölemeyer, in: Coing Bd. III/2 (1982), S. 1403, 1466; Hedemann (1935), S. 22 f. 380

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Zivilrechtswissenschaftler oder aktueller Gerichtsentscheidungen zum Binnenver­ sicherungsrecht spiegelten. Insgesamt betrachtet besaß der Dresdener Obligationenrechtsentwurf also nicht nur einen rechtspraktischen, sondern auch einen fundiert rechtswissenschaftlich-­ dogmatischen Anspruch: die herrschende Idee, das gesamte Zivilrecht in ein System von abstrakten, logisch miteinander verzahnten Rechtssätzen zu bringen, machte auch vor dem Binnenversicherungsrecht nicht Halt. Das hatte in gewissem Maße schon für den bayerischen BGB-Entwurf gegolten und galt nun erst recht für die Dresdener Gesetzgebungsarbeiten. Jener Regelungsansatz hatte erstens zur Konsequenz, dass auch die Art. 894–921 des Obligationenrechtsentwurfs neben einigen wenigen Spezialvorschriften für die Lebensversicherung nur noch abstrakte Grundsätze für alle Versicherungszweige formulierten, ohne in einem besonderen Teil weiter auf die spezifischen Bedürf­ nisse etwa des Feuerversicherungsrechts einzugehen. Jene speziellen Bestimmun­ gen blieben einer flexiblen Handhabung in der Versicherungspraxis überlassen, um der praktischen Fortentwicklung des Binnenversicherungsrechts noch einen hinreichend großen Spielraum zu eröffnen.384 Ähnlich allen früheren Entwürfen aus dem Umfeld der Kodifikationsbewegung erklärte jedoch auch der Dresdener Entwurf bestimmte Rechtsvorschriften für gesetzlich zwingend.385 Wiederum um­ spannten jene zwingenden Grundsätze nur diejenigen Bestimmungen, welche einer versicherungsrechtlich bedenklichen Bereicherung des Versicherten oder gar dem Versicherungsmissbrauch unter allen Umständen vorbeugen wollen – insbesondere also das Prinzip, dass jeder Versicherte über ein versicherbares Interesse verfügen müsse,386 das Überversicherungsverbot387 oder das Einwilligungserfordernis bei einer Todesfallversicherung auf fremde Leben.388 c) Die Tendenz des Dresdener Entwurfes zur „Überdogmatisierung“ des Binnenversicherungsrechts Der oben erwähnte, wissenschaftlich-dogmatische Anspruch des Dresdener Ob­ ligationenrechtsentwurfs äußerte sich an allererster Stelle schon darin, dass in den Verhandlungen der Konferenzen auch fortwährend rechtsdogmatische Gesichts­ punkte zum Tragen kamen; damit setzte sich der Entwurf von 1866 insbesondere von den früheren HGB-Entwürfen ab, die zwar in rechtsvergleichender Manier vorgegangen waren, sich dabei aber mit rechtsdogmatischen Problemen – wenn überhaupt – eher am Rande beschäftigt hatten. 384 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 6; Duvinage (1987), S. 29 f.; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 318; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 334; Neugebauer (1990), S. 79. 385 Vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 336 f. 386 Art. 895 Entwurf Dresd. OR (1866). 387 Art. 897 I Entwurf Dresd. OR (1866) (Teilnichtigkeit des Vertrages bei Überversiche­ rung); vgl. ebd. Art. 900 S. 1 (entsprechend zur Versicherung bei mehreren Versicherern). 388 Art. 896 Entwurf Dresd. OR (1866).

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts 

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Als die maßgeblichen Charaktereigenschaften des Dresdener Entwurfs nannte Hedemann im 20. Jahrhundert seine „Gelehrsamkeit, Logik, Abstraktion“.389 Aus der Warte Hedemanns war das kein durchweg positives Urteil: zugleich lastete er dem Entwurf nämlich einen inhaltlichen Hang zum „Prinzipien- und Theorien­ kult“390 an; er gehe einem regelrechten „Kult der Abstraktion“ nach, welcher die in der Rechtspraxis geschaffenen Figuren immer mehr hinter rechtstheoretischabstrakte Formeln zurücktreten lasse.391 In der Tat lässt sich aus den Dresdener Protokollen eine gewisse Tendenz zur Überdogmatisierung des Versicherungsrechts erkennen. Als ein Beispiel kann hier die Rechtsfigur der Versicherung auf fremde Rechnung dienen. Ihren Ursprung hatte sie, wie viele andere Institute des Binnenversicherungsrechts, in der See­ assekuranz. Oft befanden sich ein Schiff oder seine Ladung in einem fernen Ha­ fen, ohne dass deren Eigentümer überhaupt über ihr Schicksal informiert war. In solchen Konstellationen hatte es sich im Seeversicherungsrecht eingebürgert, dass ein Kommissionär des Versicherungsnehmers, welcher sich gerade unmittelbar in dem fremden Hafen befand, einen Versicherungsvertrag über das Schiff oder des­ sen Ladung schloss und dem Assekuradeur selbst die Prämie bezahlte.392 Versichert war in diesen Fällen das wirtschaftliche Interesse des Eigentümers, doch als der eigentliche Vertragspartner des Versicherers fungierte der Kommissionär – mit anderen Worten: es lag nach heutigem Verständnis ein Vertrag zugunsten Dritter vor, während der Eigentümer lediglich im Innenverhältnis mit dem Kommissio­ när verbunden war.393 Parallel liegende Fallgestaltungen einer Versicherung auf fremde Rechnung wa­ ren auch in der Binnenversicherungspraxis üblich, beispielsweise, wenn ein Mieter, Verwahrer oder Werkunternehmer die ihm überlassene Sache, die im Eigentum eines Dritten stand, auf das eigene Interesse des Dritten gegen Feuer versichern wollte.394 In einem Vorentwurf zum Dresdener Obligationenrechtsentwurf, welcher 389

Hedemann (1935), S. 26. Hedemann (1935), S. 26; so auch Neugebauer (1990), S. 86 explizit zum Versicherungs­ recht („Eindruck einer gewissen Theorielastigkeit“). 391 Hedemann (1935), S. 28. Vgl. auch Lang, Bd. 1 (1861), S. 28 ff. (schon zum bayerischen BGB-Entwurf: „wissenschaftliche Definirsucht“). 392 Vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 366 f.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 66, 75; vgl. zur seerechtlichen Kodifikation der „Versicherung auf fremde Rechnung“ auch § 7 PrAHO (1766); §§ 1945–1951 ALR (1794); Art. 785–787 ADHGB (1861); dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 308; 393 Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 366. Vgl. dazu auch eingehend Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 349 ff.; Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 2 § 266.III (S. 1230 f.); Büsch, Theoretisch-Praktische Darstellung (1792), Bd. 2 Cap. 3 § 6 (S. 55); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 189 ff.; Endemann (1. Aufl. 1865), § 174.II (S. 825); Malß, ZHR 8 (1865), 369, 375. 394 Zur dahingehenden Meinung in der Dresdener Konferenz, s. auch Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3185; Bd. 6 (1866), S. 4542 f. Vgl. insgesamt V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 189 f.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 366; Malß, ZHR 8 (1865), 369, 378 (am Beispiel eines Kürschners, der die Pelze seiner Kunden versichert); vgl. von Staudinger (1858), S. 158 (zum Lebensversicherungsrecht). 390

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nach der ersten Lesung in der Dresdener Konferenz entstanden war,395 sollte das Institut der „Versicherung auf fremde Rechnung“ auch gesetzlich fixiert werden. Art. 959, 960 dieses Vorentwurfs wollten noch bestimmen: „Art. 959. [1] Der Versicherungsnehmer kann in eigenem Namen entweder sein eigenes Interesse (Versicherung für eigene Rechnung) oder das Interesse eines Dritten (Versiche­ rung für fremde Rechnung) und in letzterem Falle, mit oder ohne Bezeichnung der Person des Dritten, versichern. […] Art. 960. Die Versicherung für fremde Rechnung kann von dem Versicherer angefochten wer­ den, wenn der Versicherungsnehmer weder zur Eingehung derselben von dem Versicherten beauftragt war, noch den Mangel eines solchen Auftrages bei Schließung des Vertrages dem Versicherer angezeigt hat. Ist die Anzeige unterlassen worden, so kann dieser Mangel durch die nachträgliche Genehmigung der Versicherung von Seiten des versicherten Dritten nicht ersetzt werden. Ist die Anzeige erfolgt, so ist die Verbindlichkeit der Versicherung für den Versicherer von der nachträglichen Genehmigung des versicherten Dritten nicht abhängig.“

Der Entwurf in seiner Fassung nach der ersten Lesung wollte also die Versi­ cherung auf fremde Rechnung davon abhängig machen, dass der Versicherte sie entweder zuvor genehmigt hatte oder der Versicherungsnehmer dem Versicherer gegenüber offenlegte, dass es ihm an einer solchen Genehmigung mangele. Diese komplexe Konstruktion hatte sich nicht aus den pragmatischen Bedürfnis­ sen des Seehandels entwickelt, sondern hatte vielmehr rechtsdogmatische Gründe: die Wissenschaft hatte zunächst versucht, die Versicherung auf fremde Rechnung in das traditionelle System des römischen Rechts einzuflechten. Der Vertrag zu­ gunsten Dritter war jedoch dem römischen Recht fremd396 – in der Tat ist er erst eine Schöpfung des modernen Zivilrechts (§§ 328 ff. BGB).397 Um trotzdem die Rechtsfigur einer Versicherung auf fremdes Interesse zu konstruieren, musste man nach einer häufig vertretenen Ansicht verlangen, dass der Versicherungsnehmer gegenüber dem versicherten Eigentümer im Innenverhältnis zum Vertragsschluss legitimiert war. Das war nach römischem Recht nur der Fall, wenn zwischen ih­ nen ein mandatum oder eine negotiorum gestio – also ein Auftragsverhältnis oder eine rechtmäßige Geschäftsführung ohne Auftrag398 – vorlag.399 In den Dresdener 395

Entwurf eines für die deutschen Bundesstaaten gemeinsamen Gesetzes über Schuldverhält­ nisse (nach den in erster Lesung erfolgten Beschlüssen) (Anhang zu Prot. Dresd. OR, Bd. 5 [1865]). 396 Vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 367; so auch Malß, Betrachtungen (1862), S. 66; ders., ZHR 8 (1865), 369, 376; von Staudinger (1858); Walter, Ziff. 256 (S. 289). 397 Mugdan (Neudruck 1979), S. 147; vgl. auch Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 288. 398 Puchta (9. Aufl.  1863), § 323 (S. 492 ff.) (zum mandatum), § 327 (S. 496 ff.) (zur nego­ tiorum gestio); von Vangerow, Bd. 3 (7. Aufl. 1869), § 659 (S. 491 ff.) (zum mandatum), § 664 (S. 502 ff.) (zur negotiorum gestio). Zu mandatum und negotiorum gestio vgl. auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 184, 196; Jansen, in: HWB-EuP (2009), Bd. 1 S. 707 (zur negotiorum gestio); Kaser, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), § 134 (S. 577 ff.) (zum mandatum), § 137 (S. 568 ff.) (zur „negotia gestia“). 399 Vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3184 f.; Bd. 6 (1866), S. 4543 f.; dazu Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 367 f. In diese Richtung auch Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 303.II (S. 104); Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 548 (S. 34 ff.).

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Konferenzen hatte sich aber die Anschauung durchgesetzt, dass der Versicherungs­ nehmer auch „ohne Ordre“ eine Versicherung auf das Interesse des Eigentümers schließen dürfe, da Versicherungsnehmer und Versicherter jedenfalls im Seehan­ del oft gar nicht in der Lage waren, miteinander zu kommunizieren. Daher er­ laubte Art. 960 S. 1 dem Versicherungsnehmer auch, den Vertrag ohne vorherigen Auftrag des Versicherten abzuschließen; dann entsprach es aber wiederum den Rechtsgrundsätzen des Kommissionsgeschäfts, dass der Versicherungsnehmer seine Auftragslosigkeit dem Versicherer anzeigen musste, ohne dass diese Anzeige durch eine nachträgliche Genehmigung des Versicherten hätte ersetzt werden kön­ nen (Art. 960 S. 2).400 Die Grundsätze der Geschäftsführung ohne Auftrag – die freilich nicht der Genehmigung des versicherten Dritten bedurft hätte  – waren nach der hier gewählten Lösung also nicht mehr anwendbar, was bei einigen De­ legierten auf großes Unverständnis stieß.401 Insgesamt bildete das hier beleuchtete gesetzgeberische Konstrukt im Übrigen die Art. 785, 786 ADHGB nach; in den Konferenzen zur Kodifikation des ADHGB waren ganz ähnliche rechtsdogmati­ sche Überlegungen angestellt worden.402 Der Einblick in die Arbeit der Dresdener Konferenzen zeigt exemplarisch, wel­ ches Übergewicht die rechtsdogmatische Räson jedenfalls bei den Verhandlungen über die Versicherung auf fremde Rechnung gewonnen hatte. Niemand formulierte das Spannungsfeld zwischen römischem Recht und neuzeitlicher Handelsgewohn­ heit treffender als Kübel selbst, der sich mit den Versuchen auseinandersetzte, die Versicherung auf fremde Rechnung mit den Instituten des mandatum oder der negotiorum gestio zu erklären. Solche Versuche seinen untauglich: die „ver­ suchte Einzwängung der neuen deutschen Rechtsform in den alten Rahmen eines römischen Rechtsinstituts“ stehe „sonach mit dem praktischen Verkehrsleben in offenem Konflikt“.403 In der endgültigen Fassung des Dresdener Obligationenrechtsentwurfs fielen die heftig umstrittenen Bestimmungen übrigens ersatzlos weg, nachdem ein De­ legierter die Meinung geäußert hatte, dass die Versicherung auf fremde Rechnung „bei der Landversicherung der praktischen Bedeutung entbehre“. Von anderer Seite war recht indifferent bemerkt worden, die Art. 959, 960 des Entwurfs nach erster Lesung – im Wesentlichen eine Analogie zu Art. 785, 786 ADHGB – seien jedenfalls im allgemeinen bürgerlichen Recht „mit den allgemeinen Grundsätzen nicht in Einklang zu bringen“; man hielt die Vorschriften des ADHGB zur Ver­ sicherung auf fremde Rechnung also für ein nicht-analogiefähiges Sondergut der Seeversicherung.404 Letztlich sprach sich die Mehrheit der Konferenz dafür aus, 400

Vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 4544. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3129. 402 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3219; ebd. Bd. 6 (1866), S. 4544. Vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 369 f. 403 Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 368. 404 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3212, 3217 ff., 3336; ebd. Bd. 6 (1866), S. 4542. Vgl. ­Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 365. 401

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die zitierten Artikel zur Versicherung auf fremde Rechnung gänzlich aus dem Obligationenrechtsentwurf zu streichen und es der Rechtspraxis zu überlassen, inwieweit sie die entstandene Regelungslücke durch eine analoge Anwendung des ADHGB füllen wolle.405 Am Ende hatten also vornehmlich dogmatische Streitigkeiten dazu geführt, dass ein in der Versicherungspraxis allgemein anerkanntes Institut keine endgültige Aufnahme in den Obligationenrechtsentwurf gefunden hatte. d) Zaghafte Ansätze des Dresdener Entwurfes zum Schutz des Versicherungsnehmers vor einseitigen Vertragsklauseln Für das Verhältnis der Versicherungspraxis zur Gesetzgebung ist aber insbeson­ dere noch eine dritte Entwicklungstendenz des Entwurfs von 1866 von Interesse: in den Dresdener Konferenzen war nämlich klar und unzweideutig die Erkennt­ nis ausgesprochen worden, dass der Versicherungsnehmer gegenüber dem wirt­ schaftlich überlegenen Versicherer keinen Einfluss mehr auf die Ausgestaltung der massenhaft verwendeten AVB habe. In diesem Sinne berichtete Kübel aus der Mitte der Konferenzen:406 „Bei Berathung des Dresdener Entwurfes wurden als solche Bestimmungen, denen ein absoluter, unabänderlicher Charakter beigelegt werden müsse, insbesondere hervorgeho­ ben, daß die Versicherungssumme den vollen Werth des versicherten Gegenstandes nicht übersteigen dürfe, ferner daß der Versicherungsnehmer einerseits zur wahrheitsgetreuen Angabe aller ihm bekannten für die Beurtheilung der von dem Versicherer zu übernehmen­ den Gefahr erheblichen Umstände verpflichtet, dagegen auch andererseits davor beschützt werde, daß die nachtheiligen Folgen, welche ihn für den Fall einer Pflichtversäumung, insbesondere bezüglich der Angabe der eben erwähnten Umstände, oder bei Bezahlung der Prämie, oder bei Abwendung von Schaden treffen sollen, nicht bis zur Ungebühr gesteigert werden: ein Umstand, der um so mehr eine Würdigung verdiene, als der Versicherungs­ nehmer sich in einer ungünstigeren Lage dadurch befinde, daß er als Einzelner einer orga­ nisirten Versicherungsgesellschaft, welche die Bedingungen der Versicherungsübernahme schon zum Voraus in ihren Statuten nach reiflicher Ueberlegung in ihrem Interesse festge­ stellt habe, gegenüber stehe und, wenn er Versicherung nehmen wolle, diese Bedingungen so, wie sie einmal festgestellt seien, annehmen müsse, wenn ihm nicht die Wahl zwischen mehreren Versicherungsgesellschaften verbleibe, welche in ihren Statuten ihm günstigere Bedingungen stellten.“

Damit stand der Dresdener Obligationenrechtsentwurf als erster deutscher Kodifikationsversuch auf dem Standpunkt, der Gesetzgeber müsse den Versiche­ rungsnehmer vor allzu nachteiligen Vertragsklauseln in Schutz nehmen407 – ein 405

Prot. Dresd. OR, Bd. 6 (1866), S. 4545. Vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 378 f. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 336 f. Vgl. auch Benöhr, in: Peter / Stark / Tercier (Hrsg.) (1982), S. 57, 65 f. (zu der Debatte um Schutzvorschriften zugunsten des Versicherten). 407 So auch Prot. Dresd. OR, Bd. 6 (1866), S. 4568 f. Vgl. Neugebauer (1990), S. 83. 406

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Gedanke, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch viel stärker an Bedeutung gewinnen würde. Der Entwurf hatte sich somit jedenfalls in der Theorie von den vorhergehenden Entwürfen abgewandt, die lediglich einseitig den Schutz des Ver­ sicherers gegen spekulativen Versicherungsmissbrauch betont hatten. Auch hier kann das mittlerweile bekannte Beispiel der Gefahranzeige bei Ver­ tragsschluss zur besseren Illustration beitragen. Zu diesem Thema sah der Dres­ dener Entwurf in Art. 905, 906 vor: „Art. 905. [1] Der Versicherungsnehmer ist verpflichtet, bei Schließung des Vertrages alle ihm bekannten Umstände anzuzeigen, welche wegen ihrer Erheblichkeit für die Beurtheilung der von dem Versicherer zu tragenden Gefahr auf den Entschluß des Letzteren, den Ver­ trag überhaupt oder unter denselben Bedingungen zu schließen, Einfluß üben können. […] Art. 906. Haben der Versicherungsnehmer oder dessen Stellvertreter bei Schließung des Vertrages gegen die ihnen nach Vorschrift des Art. 905 obliegende Verpflichtung erhebliche Umstände verschwiegen, oder haben sie mit oder ohne Verschuldung erhebliche Umstände unrichtig angegeben, ohne daß dem Versicherer die Unrichtigkeit bekannt war, so kann der Letztere selbst nach Eintritt des Schadens den Versicherungsvertrag anfechten.“

Damit hatte der Entwurf eine wesentlich mildere Bestimmung getroffen als die herrschenden Feuerversicherungsbedingungen. Jene interpretierten die korrekte Deklaration aller bekannten Gefahrumstände nämlich, wie gezeigt, als objektive Rechtsbedingung: hatte der Versicherungsnehmer einen relevanten Gefahrumstand gar nicht oder falsch angezeigt, ganz gleich ob verschuldet oder unverschuldet, verlor er jeden Anspruch gegen den Versicherer.408 Die Delegierten der Dresdener Konferenz hingegen hatten sich die in der Wis­ senschaft der 1860er Jahre bereits weit verbreitete Auffassung vom Versiche­ rungsvertrag als ein „contractus uberrimae fidei“ – ein besonders starkes, beider­ seitiges Treueverhältnis – zueigen gemacht.409 Anders als viele AVB wollte der Dresdener Entwurf daher nur dann Sanktionen gegen den Versicherungsnehmer verhängen, wenn der verschwiegene Umstand dem Versicherer überhaupt bekannt war (Art. 905 I); alles andere, so fügte Kübel hinzu, würde dem Versicherer ein „Einfallstor für Chikanen bieten“.410 Aus der dogmatischen Fundierung des Ver­ sicherungsvertrags als „contractus uberrimae fidei“ leitete die Mehrheit der Kon­ ferenzteilnehmer ferner den Rechtssatz ab, dass eine Sanktion gegen den Versiche­ rungsnehmer nicht Platz greifen dürfe, falls dem Versicherer die anzeigepflichtige 408

Bereits §§ 25, 24 S. 2 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Samm­ lung-AVB  I, 6). Die Entwicklung zu verschuldensunabhängigen Sanktionen setzte v. a. in der 2. Hälfte des 19. Jhdts. ein, z. B. § 4 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-­ Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378) (ohne konkrete Rechtsfolgenbestimmung, da wohl als objektive Vertragsbedingung begriffen); vgl. § 4 S. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-­ Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 75). Vgl. auch § 3 B II 2 a dieser Forschungsarbeit. 409 Insgesamt dazu Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 7. 410 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3307; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 5.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Tatsache bereits anderweitig bekannt war (Art. 906). Auch der Versicherer sei seinem Vertragspartner gegenüber zur kaufmännischen Sorgfalt verpflichtet; die gesteigerte Treuepflicht des Versicherungsnehmers müsse dort enden, wo der Versicherer auf dessen Angaben gar nicht angewiesen ist.411 Maßgeblich für diese versichertenfreundlichen Neuerungen war für die Delegierten auch, dass sich die­ selben Grundsätze wenige Jahre zuvor im Seeversicherungsrecht, namentlich in Art. 810–815 ADHGB, durchgesetzt hatten.412 Das Beispiel zeigt – nebenbei be­ merkt – auch, wie sich in der legislatorischen Diskussion innerhalb der Dresdener Konferenzen sowohl wissenschaftlich-dogmatische Erwägungen als auch Ana­ logieschlüsse aus dem Seeversicherungsrecht und Erwägungen zum Schutz des Versicherungsnehmers zu einer komplexen Argumentationseinheit verwoben hat­ ten. Das war für die Kodifikationsbewegung ab den 1860er Jahren ganz typisch geworden. Allerdings sollte der Schutz, welchen der Entwurf den Versicherungsnehmern auf diese Weise gewähren wollte, auch nicht überbetont werden. Zwar hatte man sich in den Dresdener Konferenzen teilweise auf der Seite der geschäftsunerfahre­ nen Versicherungsnehmer positioniert, doch nach wie vor bestand die „Anfechtbar­ keit“ des Versicherungsvertrages unabhängig davon, ob der Versicherungsnehmer „mit oder ohne Verschuldung“ eine fehlerhafte Anzeige getätigt hatte (Art. 906). Für ein derartiges Verschuldenserfordernis fehlte es in der Gesetzgebungsge­ schichte schlicht und ergreifend an ausreichenden Vorbildern.413 So diskutierte die Dresdener Konferenz den Aspekt des Verschuldens nicht einmal ernsthaft,414 obwohl die Idee auf der dogmatischen Basis von besonderem Treu und Glauben gar nicht einmal fern gelegen hätte. Man hatte in den Konferenzen also durchaus anerkannt, dass der Versicherungsnehmer vor allzu großen „Chikanen“ des Versi­ cherers bewahrt werden müsse, doch waren die ersten gesetzgeberischen Versuche in diese Richtung noch immer recht zögerlich geblieben. Zweitens aber wurde der Schutz, den der Obligationenrechtsentwurf dem Ver­ sicherten gewähren sollte, de facto vollkommen entwertet, indem die Konferenz­ teilnehmer sich mehrheitlich dafür entschieden hatten, Normen wie Art. 905, 906, die dem Schutz des Versicherungsnehmers dienten, als dispositives Recht zu be­ handeln – namentlich gegen die Auffassung Kübels.415 Ohne Weiteres wäre es den 411

Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3307 f.; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 16 ff. Dazu Art. 810  I ADHGB (1861) (Limitierung der Anzeige auf bekannte Umstände); Art. 812 II ADHGB (1861) (zur anderweitigen Kenntnis des Versicherers). Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 12, 17. 413 Ohne ein Verschuldenserfordernis z. B. Art. 251 Wetboek van Koophandel (1838); Art. 433 HGB-Entwurf Württemberg (1839); Art. 346 HGB-Entwurf Preußen (1857) mit Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 346; Art. 823 I BGB-Entwurf Bayern (1861) mit Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 823; ganz ausdrücklich Art. 813 II ADHGB (1861). 414 Vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3308 (ohne nennenswerte Diskussion). Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 13; Neugebauer (1990), S. 82. 415 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3374; ebd. Bd. 6 (1866), S. 4570. Kritisch dazu Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 338. Vgl. insgesamt auch Duvinage (1987), S. 31. 412

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Versicherungsgesellschaften beispielsweise möglich gewesen, die Anzeige gefähr­ licher Umstände entgegen Art. 906 unverändert als objektive Rechtsbedingung zu behandeln, selbst also die anderweitige Kenntnis des Versicherers für irrelevant zu erklären. Der Schutzgedanke war im Dresdener Entwurf und seinen Protokollen am Ende zwar deutlich ausgesprochen worden, doch wäre er angesichts der gefes­ tigten AVB-Praxis reine Theorie geblieben. 6. Fazit: die Entwicklungstendenzen in der Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts und ihre Beziehung zur Versicherungspraxis Insbesondere auch mit einem Blick auf das Verhältnis zwischen Versicherungs­ gesetzgebung und Versicherungspraxis lassen sich aus dem württembergischen, dem preußischen, dem bayerischen und dem gesamtdeutschen „Dresdener“ Ko­ difikationsversuch drei wesentliche historische Entwicklungslinien herauslesen: erstens das Streben nach weitestgehender Systematisierung und Abstraktion. Es führte dazu, dass die Gesetzgebungstechnik versuchte, allgemeine Grundsätze des Versicherungsrechts gleichsam vor die Klammer zu ziehen; das Streben nach größtmöglicher Abstraktion ging so weit, dass in den Entwürfen der 1860er Jahre gar keine Regeln für die einzelnen Versicherungszweige, sondern nur noch gene­ relle Prinzipien des Binnenversicherungsrechts niedergelegt wurden. Diese Ent­ wicklungstendenz hat aber in etlichen Fällen dafür gesorgt, dass die Gedanken der Schadens-, teilweise sogar der Seeversicherung eine übermäßig dominante Stellung innerhalb des Binnenversicherungsrechts einnahmen. Zum Zweiten sind vor allem im Dresdener Obligationenrechtsentwurf deutli­ che Anzeichen einer fortschreitenden Dogmatisierung – bis hin zu einer gewissen Überdogmatisierung  – zu erkennen. Das Binnenversicherungsrecht sollte zuse­ hends rechtsdogmatisch durchdrungen und in den Gesamtkontext des allgemei­ nen Zivilrechts und seiner Rechtsfiguren eingewoben werden. Zuletzt aber trat im Dresdener Entwurf zum ersten Mal – obgleich noch recht zaghaft – die Idee hervor, der Versicherungsnehmer müsse vor einer allzu einseitigen AVB-Gestaltung der großen Versicherungsgesellschaften in Schutz genommen werden. Statt nur dem Missbrauch der Versicherung vorzubeugen, wie es noch die partikularstaatlichen Entwürfe intendiert hatten, traten nun auch die Belange der Versicherten bzw. der Versicherungsnehmer stärker in den Vordergrund; auf einem anderen Blatt steht freilich, dass der Obligationenrechtsentwurf den Schutz des geschäftlich unter­ fahrenen Versicherungsnehmers noch nicht effektiv rechtspraktisch durchsetzte, weil er sein Regelwerk insoweit noch zur willkürlichen Disposition der Vertrags­ parteien stellte. Obwohl all diese neuen Entwicklungen noch mit widersinnigen Konsequenzen oder Unzulänglichkeiten behaftet waren, deuteten schon klar in die Richtung, die das VVG am Anfang des 20. Jahrhunderts einschlagen würde.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

III. Das Versicherungsvertragsgesetz (1908) als Kulminationspunkt und Ende der Kodifikationsbewegung Die Kodifikationsbewegung, die in den 1850er und 1860er Jahren drei Geset­ zesentwürfe zum Binnenversicherungsrecht hervorgebracht hatte, kam nach der Gründung des Deutschen Kaiserreiches zeitweise zum Erliegen. Nicht mehr von den Partikularstaaten, sondern vom Deutschen Reich gingen nun die Impulse aus, die zahlreiche Materien wie etwa das gesamte bürgerliche Recht zur abschließen­ den Kodifikation brachten; mit dem privaten Versicherungsvertragsrecht befasste sich der Reichsgesetzgeber allerdings erst im frühen 20. Jahrhundert. Das Pro­ dukt seiner Arbeiten war das Versicherungsvertragsgesetz, das am 07. 05. 1908 vom Reichstag beschlossen wurde, am 01. 01. 1910 in Kraft trat und bis heute – in vielfach reformierter Gestalt – anwendbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass in den über 40 Jahren zwischen dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf und dem VVG das Binnenversicherungsrecht praktisch vorübergehend in Vergessenheit ge­ raten war: die folgenden Kapitel werden zunächst ein Licht auf die Kodifikation des Versicherungsaufsichtsrechts und des allgemeinen Zivilrechts werfen, denn sowohl das Versicherungsaufsichtsgesetz von 1901 als auch das deutsche BGB wiesen zahlreiche Berührungspunkte zur Kodifikationsgeschichte des VVG auf (1). Erst danach wird die eigentliche Genese des VVG in den Mittelpunkt rücken (2), um im Anschluss eine Skizze über seine systematischen, regelungstechnischen und inhaltlichen Merkmale entwerfen zu können (3). 1. Die Zeit bis zur Jahrhundertwende: eine Stillstandsphase in der Kodifikationsbewegung? Mit Art. 4 Nr. 1 der Reichsverfassung vom 16. 04. 1871416 war die Gesetzge­ bungskompetenz „über den Gewerbebetrieb, einschließlich des Versicherungswe­ sens“ dem Deutschen Kaiserreich zugefallen.417 Schon der Norddeutsche Bund hatte ausweislich Art. 4 Nr. 1 seiner insoweit gleichlautenden Verfassungsurkunde vom 26. 07. 1867418 dieselben Kompetenzen besessen.419 Es hatten sich in der neuen Reichsregierung jedoch die Stimmen durchgesetzt, die eine zu frühe Ko­ difikation des Binnenversicherungsrechts als hemmend für dessen freie rechts­ praktische Entwicklung empfanden. Auch die Mitglieder des Dritten Deutschen 416

Gesetz, betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs v.  16. 04. 1871 (RGBl.  1871, Nr. 16, S. 63). 417 Atzpodien (1982), S. 91; Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 2; Brämer / Brämer (1894), S. 40; ­Duvinage (1987), S. 36; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 150; Manes (1905), S. 147; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 1. 418 Publikandum, die Verfassung des Norddeutschen Bundes betreffend v. 26. 07. 1867 (Norddt. BGBl. 1867, Nr. 1, S. 1). 419 Duvinage (1987), S. 32; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. X.; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 320.

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Handelstages von 1865 hatten sich mehrheitlich gegen die einheitliche Versiche­ rungsvertragsgesetzgebung ausgesprochen und nur eine Kodifikation des Ver­ sicherungsaufsichtsrechts für notwendig gehalten.420 So schob auch der Reichs­ gesetzgeber die Kodifikation des materiellen Binnenversicherungsrechts noch in die Zukunft. a) Die Entwicklung des Binnenversicherungsrecht zur zivilrechtlichen Sondermaterie Spätestens zum Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich allmählich ab, dass das Binnenversicherungsrecht eine Sonderstellung innerhalb des gesamten zivilrecht­ lichen Gefüges einnehmen sollte.421 Als der Gesetzgeber sich ab den 1870er Jah­ ren ernsthaft mit der reichsweiten Vereinheitlichung und Kodifikation des bür­ gerlichen Rechts befasste  – ein langwieriger Arbeitsprozess, der letzten Endes nach über 20 Jahren in der Kodifikation des Bürgerlichen Gesetzbuches münden sollte –, stand anfänglich auch zur Diskussion, das Binnenversicherungsrecht in das System des BGB einzubinden. Allein dieser Plan wurde schon in der BGB-­ Vorkommission wieder verworfen, denn das BGB sollte nach dem Willen der Kom­ missionsmitglieder vornehmlich auf den tradierten Schuldrechtsverhältnissen des römischen Rechts aufbauen.422 Für ein solches Vorgehen hatte sich am 09. 06. 1874 auch der Justizausschuss des Bundesrates ausgesprochen: aus rechtssystematischen Gesichtspunkten sei es sinnvoller, in nächster Zeit das ADHGB zu reformieren und bei dieser Gelegenheit auch Vorschriften zur Binnenversicherung einzufügen. So fanden sich im Bürgerlichen Gesetzbuch, das im Jahr 1900 in Kraft trat,423 nur wenige Paragraphen mit direktem Bezug zum Versicherungsrecht, namentlich dort, wo Querverbindungen zum allgemeinen Zivilrecht gezogen werden konnten. In §§ 330–332 regelte das BGB in etwa die Lebensversicherung zugunsten Dritter im Zusammenhang mit den allgemeinen Verträgen zugunsten Dritter. §§ 1045, 1046 BGB äußerten sich zum Verhältnis eines Nießbrauchers zur Versicherung und §§ 1127–1130 BGB bezogen die Ansprüche aus einem Gebäudeversicherungsver­ trag in den Haftungsverband der Hypothek ein.424 Die bereits im Jahr 1874 in Aussicht gestellte Revision des ADHGB fand erst 1897 statt. Am 10. 05. 1897 beschloss der Reichstag eine entsprechende Neufassung 420 Verhandlungen des Dritten Deutschen Handelstages (1865), S. 128 ff.; vgl. Duvinage (1987), S. 32. 421 Duvinage (1987), S. 48; Neugebauer (1990), S. 128 (Versicherungsrechtswissenschaft als „Sonderprivatrechtswissenschaft“). 422 Duvinage (1987), S. 45 f.; Neugebauer (1990), S. 87. 423 Bürgerliches Gesetzbuch v. 18. 08. 1896 (RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195). 424 Die zitierten Vorschriften entsprechen der heutigen Paragraphenzählung des BGB. Zu den Regeln des BGB zum Versicherungsrecht, s. auch Dreher (1991), S. 198 f.; Duvinage (1987), S. 47; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XIII; Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 288 ff. (zur Versicherung zugunsten Dritter); Manes (1905), S. 153.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

des ADHGB, das von da an nur noch als HGB bezeichnet wurde425 – allenthalben fand das Binnenversicherungsrecht zum erneuten Male keine Berücksichtigung, weil der deutsche Gesetzgeber befürchtet hatte, seine Kodifikation würde den Ge­ setzgebungsprozess zum HGB über Gebühr verzögern.426 Kurz vor der Jahrhun­ dertwende hatte das Binnenversicherungsrecht damit einen Sonderweg zwischen der bürgerlich-rechtlichen und der handelsrechtlichen Materie eingeschlagen: am 11. 12. 1896 erließ der Reichstag eine Resolution, die sich für die frühestmögliche Kodifikation des Binnenversicherungsrechts aussprach, und zwar in Form eines zivilrechtlichen Sondergesetzes, das weder eindeutig dem Handels- noch dem bürgerlichen Recht zugeordnet war.427 Daneben erlaubte eine Öffnungsklausel in Art. 75 EGBGB428 den einzelnen deutschen Staaten, Regelungen zum Binnen­ versicherungsrecht zu treffen, solange der Reichsgesetzgeber noch nicht tätig ge­ worden war.429 Zwischen dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf von 1866 und den ersten Arbeiten am VVG fehlte es also an weiteren amtlichen Kodifikationsentwürfen. Lediglich zwei private Entwürfe zum Binnenversicherungsrecht erschienen noch im 19. Jahrhundert: der 1883 veröffentlichte Entwurf von Reichsgerichtsrat Otto Bähr vermischte privates Versicherungsvertragsrecht und öffentliches Versiche­ rungsaufsichtsrecht zu einer untrennbaren Einheit,430 während der Entwurf von Ernst Rellstab aus dem Jahr 1892 nur die öffentlich-rechtliche Seite des Versiche­ rungsrechts, die Versicherungsaufsicht, behandelte.431 Beide Entwürfe wichen also erheblich vom späteren, rein privatrechtlichen Regelungskonzept des VVG ab; ihnen wird dementsprechend ein so verschwindend geringer Einfluss auf das VVG zugeschrieben,432 dass sie in der weiteren Untersuchung nicht von Relevanz sein werden. Denkbar wenig mit der weiteren Entwicklung des Versicherungs­ vertragsrechts hatte auch die Bismarcksche Sozialversicherungsgesetzgebung der 1880er Jahre zu tun. Sie baute auf ganz anderen versicherungstechnischen Para­ metern auf als das Privatversicherungsrecht: ihre Regelungen orientierten sich nicht an versicherungsmathematisch-rationellen Prinzipien, sondern an den Ideen

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Handelsgesetzbuch v. 10. 05. 1897. Viertes Buch. Seehandel (RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336). Duvinage (1987), S. 48. 427 Duvinage (1987), S. 48. 428 Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche v. 18. 08. 1896 (RGBl. 1896, Nr. 21, S. 604). 429 Behrend, ZHR 55 (1904), 1; Duvinage (1987), S. 45; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XII; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 321; Manes (1905), S. 153; Neugebauer (1990), S. 88; Otto, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 16, 18. 430 Vgl. auch Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 7 f.; Duvinage (1987), S. 49 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XII; Neugebauer (1990), S. 92; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 136 ff. 431 Duvinage (1987), S. 51; Neugebauer (1990), S. 92; vgl. auch Prange, Theorie des Versi­ cherungswertes (1895), Bd. 1 S. 138. 432 Duvinage (1987), S. 50; Neugebauer (1990), S. 92 (insbesondere zur Bedeutungslosigkeit des Entwurfs von Rellstab). 426

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sozialer Fürsorge.433 Weil die Bestimmungen der Sozialversicherungsgesetze da­ mit letztlich eine völlig andere Rechtsstruktur erhalten haben als das Privatver­ sicherungsrecht,434 lohnt sich auch ihre Betrachtung im weiteren Verlauf dieser Untersuchung nicht. b) Die materielle Versicherungsaufsicht unter dem VAG (1901) und ihre Bedeutung für die AVB-Praxis Auch wenn das ausgehende 19. Jahrhundert also keine Kodifikationsarbeiten zum materiellen Binnenversicherungsrecht mehr sah, war der Reichsgesetzgeber indes alles andere als untätig. Statt auf das materielle Versicherungsvertragsrecht richtete sich sein Interesse verstärkt auf das öffentliche Versicherungsaufsichts­ recht, das bis zur Jahrhundertwende noch immer ein wahrer Flickenteppich par­ tikularstaatlicher Regelungen war.435 Diesen Zustand zu konsolidieren empfand der Gesetzgeber als die drängendere Aufgabe: zum einen wurden immer wieder Klagen über einen regelrechten „Gründungsschwindel“ laut, der einige finanziell instabile Versicherungsgesellschaften auf den Markt geschwemmt hatte. Zum an­ deren sprachen sich aber auch viele Versicherungsgesellschaften selbst für eine flä­ chendeckend vereinheitlichte Versicherungsaufsicht aus, weil sie das zersplitterte Konzessionierungssystem als wirtschaftliches Hindernis und als Quelle enormer Rechtsunsicherheit empfanden.436 Schließlich trat am 01. 06. 1901 ein gesamtdeut­ sches Versicherungsaufsichtsgesetz, das „Gesetz über die privaten Versicherungs­ unternehmungen“ (VAG) vom 12. 05. 1901,437 in Kraft.438 Wie das VVG gilt auch das VAG in modifizierter Form noch im 21. Jahrhundert. Das VAG regelte einerseits die Konzessionierung privater Versicherungsgesell­ schaften, verlieh der reichseinheitlichen Versicherungsaufsicht andererseits aber auch gewerbepolizeiliche Eingriffsbefugnisse. Eine neugegründete Privatgesell­ schaft, die das Versicherungsgeschäft betrieben wollte, bedurfte zu diesem Zweck zunächst einer Erlaubnis der zuständigen Reichsaufsichtsbehörde.439 Den Gegen­ stand der Konzessionierungsprüfung bildete insbesondere der Geschäftsplan der 433 Zur Bismarckschen Sozialversicherungsgesetzgebung, s. auch F. Ebel, in: HdV (1988), 617, 623 f.; Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 68 f.; P. Koch, in: HdV (1988), 223, 226 f.; Neugebauer (1990), S. 9; von Zedtwitz (2000), S. 189. 434 So auch Neugebauer (1990), S. 9; vgl. auch V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 20. 435 Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XII. 436 Mot. VAG (1901) (Nachdruck 1963), Einl. S. 21; Duvinage (1987), S. 37; Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 21; Neugebauer (1990), S. 89 f. 437 RGBl. 1901, Nr. 18, S. 139. 438 Zur Genese des VAG (1901) im Einzelnen: Atzpodien (1982), S. 91 ff.; Duvinage (1987), S. 39 ff.; vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XII. 439 § 4 I VAG (1901); vgl. Duvinage (1987), S. 43; Müssener (2008), S. 114.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Versicherungsgesellschaft: die behördliche Erlaubnis durfte unter anderem versagt werden, wenn jener Geschäftsplan gegen geltendes Recht verstieß,440 wenn durch den Plan „die Interessen der Versicherten nicht hinreichend gewahrt“ wurden oder wenn „die dauernde Erfüllbarkeit der aus den Versicherungen sich ergebenden Ver­ pflichtungen nicht genügend dargethan“ war.441 In erster Linie bekämpfte das VAG den „Gründungsschwindel“, indem es die versicherungstechnische und finanzielle Stabilität neuer Gesellschaften schon im Gründungsstadium präventiv kontrollier­ te.442 Die hierfür zuständige Aufsichtsbehörde war das Kaiserliche Aufsichtsamt für Privatversicherung mit Sitz in Berlin, dem ab 01. 06. 1901 die Versicherungs­ aufsicht über das gesamte deutsche Reichsgebiet oblag.443 Auf der anderen Seite überwachte das Kaiserliche Aufsichtsamt aber auch den laufenden Geschäftsbetrieb der Versicherungsgesellschaften. Dank der weiten Generalklausel in § 64 II VAG war es jederzeit befugt, „diejenigen Anordnungen zu treffen, welche geeignet sind, den Geschäftsbetrieb mit den gesetzlichen Vor­ schriften und dem Geschäftsplan im Einklange zu erhalten oder Mißstände zu beseitigen, durch welche die Interessen der Versicherten gefährdet werden oder der Geschäftsbetrieb mit den guten Sitten in Widerspruch geräth“.444 Das VAG statuierte damit nicht nur ein formelles Konzessionserfordernis, sondern räumte dem Aufsichtsamt vor allem auch Befugnisse der materiellen Versicherungsauf­ sicht ein. Im Extremfall konnte es einer Versicherungsgesellschaft sogar den Ge­ schäftsbetrieb untersagen.445 Welche konkrete Rolle spielte die vereinheitlichte Versicherungsaufsicht aber nun für die Kodifikation des materiellen Binnenversicherungsrechts? Eine Schlüs­ selstellung für die Tätigkeit des Kaiserlichen Aufsichtsamtes nahm unter anderem § 4 III Nr. 2 VAG ein, der auch die Allgemeinen Versicherungsbedingungen zu einem Teil der Geschäftspläne erklärte; § 9 VAG statuierte ferner den Mindest­ inhalt der AVB, die in jedem Fall unter anderem Klauseln über Art und Umfang der Versicherungsschutzes, die zeitliche Dauer des Vertrages, die Versicherungsprä­ mie, die Berechnung der Versicherungsleistung, die Folgen von etwaigen Fristver­ säumnissen sowie Gründe für die Versagung der Versicherungsleistung beinhalten mussten. Indem das Aufsichtsamt aber – wie soeben gezeigt – gleichzeitig mit fast unbeschränktem tatbestandlichem Spielraum überprüfen konnte, ob der Geschäfts­ plan den „Interessen der Versicherten“ zuwiderlief (§ 7 I Nr. 2 VAG), war ihm ein mächtiges Instrument in die Hand gegeben worden, um im Konzessionsverfahren 440

§ 7 I Nr. 1 VAG (1901). § 7 I Nr. 2 VAG (1901). 442 § 11 I VAG (1901) (bei Lebensversicherungsgesellschaften zusätzlich aufsichtsrechtliche Kontrolle der soliden Prämien- und Prämienreserveberechnung im Geschäftsplan der Gesell­ schaft); vgl. auch §§ 56–63 zur weiteren Verwaltung der Prämienreserve. 443 Bischoff, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 65, 70; Duvinage (1987), S. 43; F. Ebel, in: HdV (1988), 617, 623; Manes (1905), S. 151. 444 Alexander-Katz, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 56; Atzpodien (1982), S. 95. 445 § 67 I VAG (1901). Vgl. Duvinage (1987), S. 43. 441

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de facto tiefgreifend auf die AVB der Versicherungsgesellschaften einwirken zu können.446 Das Gleiche galt bei jeder Änderung des Geschäftsplanes.447 Aus den Geschäftsberichten des Kaiserlichen Aufsichtsamtes448 wird in der Tat ersichtlich, dass die neugegründete Behörde ab 1902 ihre gesetzlichen Befugnisse durchaus häufig benutzt hat, um in die rechtliche Gestaltung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen einzugreifen. Das betraf, um ein Beispiel unter vielen aufzugreifen, solche AVB-Klauseln, die den Versicherungsvertrag nach Ablauf der Vertragsdauer stillschweigend um mehrere Jahre verlängerten, falls nicht eine Partei ausdrücklich gekündigt hatte. Durch die Initiative des Kaiserlichen Auf­ sichtsamtes wurden einschlägige Bestimmungen in neuen oder geänderten AVB eingeschränkt, sodass eine stillschweigende Vertragsverlängerung nun bloß noch um maximal ein einziges Jahr zulässig war.449 Soweit das Aufsichtsamt auf die AVB der Versicherungsgesellschaften einwirken konnte, sorgte es außerdem da­ für, dass einem Versicherten, der den Schadensfall selbst herbeigeführt hatte, nur noch dann die Versicherungsleistung verweigert werden durfte, wenn er vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hatte.450 Die Praxis der reichsweiten Versicherungs­ aufsicht war damit zu einer offenen behördlichen AVB-Kontrolle übergegangen. Parallel zur Schöpfung dieser neuen Eingriffsbefugnisse war mit dem VAG von 1901 das alte, partikularstaatliche Aufsichts- und Konzessionierungssystem ab­ geschafft worden, und mit ihm auch die präventivpolizeilich geprägten Gesetze, die im 19. Jahrhundert insbesondere die Mobiliarfeuerversicherung streng regle­ mentiert hatten. Beispielsweise das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz von 1837, welches den Vertragsparteien die Pflicht auferlegt hatte, jeden abge­ schlossenen Mobiliarfeuerversicherungsvertrag von der zuständigen Ortspolizei­ behörde überprüfen zu lassen,451 trat am 01. 06. 1901 außer Kraft.452 Das zeigt, wie 446

Mot. VAG (1901), Einl. S. 22 f. (Einwirkung auf die AVB als ausdrücklich vom Gesetz­ geber intendiert). Vgl. auch Alexander-Katz, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 56; Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 10; Duvinage (1987), S. 43; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXV f.; Mohr, in: Peiner (Hrsg.) (1995), S. 115, 125; Müssener (2008), S. 114; Prang (2003), S. 26; ähnlich Rautmann, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 20, 40. 447 § 13 VAG (1901). 448 Archiviert im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz: für die ersten drei Jahre der Aufsichtstätigkeit, s. Erster Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes für Privat­ versicherung v. 31. 05. 1903 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5582.1); Zwei­ ter Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes für Privatversicherung v. 31. 05. 1904 (GStA  PK, I.  HA Rep. 84  a Justizministerium, Nr. 5582.46); Geschäftsbericht des Kaiser­ lichen Aufsichtsamts für Privatversicherung für das Jahr 1904 v. 31. 05. 1905 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5582.102). 449 Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1903, S. 23; Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1904, S. 30; vgl. von Liebig (1911), S. 171 f. 450 Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1903, S. 21. 451 §§ 1, 4 Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837 (PrGS 1837, 102). 452 § 121 I Hs. 2 VAG (1901). Vgl. von Liebig (1911), S. 130; Badstübner, ZVersWiss 6 (1906), 66, 67.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

sich auch der inhaltliche Fokus der Versicherungsaufsicht bedeutend verschoben hatte: nicht mehr den Versicherungsnehmer als potentiellen Betrüger überwachte das Aufsichtsamt im Schwerpunkt, sondern im Gegenteil die Versicherungsgesell­ schaften, die bis dato das gesamte vertragliche Binnenversicherungsrecht praktisch unilateral gestaltet hatten. 2. Die Genese des Versicherungsvertragsgesetzes (1908) Erst nachdem das Binnenversicherungsrecht seinen Sonderweg als zivilrecht­ liche Materie „sui generis“ eingeschlagen hatte, kam neue Bewegung in den Kodifikationsprozess. Er begann mit der erwähnten Reichstagsresolution vom 11. 12. 1896, welche ein Sondergesetz über den Versicherungsvertrag gefordert hatte, zog sich dann allerdings noch über verhältnismäßig lange Zeit hin, bevor das VVG schließlich 1908 im Reichstag beschlossen wurde und zwei Jahre später in Kraft trat. Die einzelnen Stadien der Gesetzgebungsarbeit, die das Versiche­ rungsrecht während dieser langen Zeitspanne durchlief, sind von umso größerer Bedeutung für die Quellenforschung. a) Die Vorarbeiten im Reichsjustizamt und die Diskussionen in der Fachöffentlichkeit Die Arbeiten an dem ersten vollständigen Entwurf zu einem Versicherungsver­ tragsgesetz fanden im Kaiserlichen Reichsjustizamt statt und dauerten bis zum Jahr 1902 an. Unterdessen waren schon mehrere Denkschriften beim zuständi­ gen Justizamt eingetroffen, welche, ohne den Inhalt des Entwurfes zu kennen, die Idealvorstellungen der Versicherungspraxis von einer zukünftigen deutschen Versicherungsvertragsgesetzgebung skizzierten.453 Unter anderem die Vereini­ gung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften hatte mit ihrer Denkschrift vom 15. 12. 1901 dezidierte Wünsche an den feuerver­ sicherungsrechtlichen Teil des zukünftigen Gesetzes zum Ausdruck gebracht.454 Wenig später folgte eine knapp gehaltene Denkschrift des Verbandes Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften, datierend auf den 15. 02. 1902.455 Die beiden Denkschriften versuchten hauptsächlich, die bereits in der Praxis gebräuchlichen Feuer- oder Lebensversicherungsbedingungen als allgemeine, versicherungstech­ nisch unabkömmliche Rechtsgrundsätze zu präsentieren, um die bevorstehende Gesetzgebung zu einer möglichst weitreichenden Kodifikation des vorgesetzlichen 453

Zu den Denkschriften insgesamt auch Duvinage (1987), S. 77 ff.; Rüdiger, ZVersWiss 2, Ergänzungsheft (1902), 1, 4 f. 454 Denkschrift der Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-FeuerversicherungsGesellschaften vom 15. 12. 1901 (abgedruckt bei Rüdiger, ZVersWiss 3 [1903], 241, 253 ff.). 455 Denkschrift des Verbandes deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften vom 15. 02. 1902 (abgedruckt bei Rüdiger, ZVersWiss 3 [1903], 241, 242 ff.).

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts 

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Praxisrechts zu bewegen. Im Kern glich sich die Argumentation der Feuer- und der Lebensversicherer dabei: die meisten Klauseln der AVB, insbesondere die harten Sanktionsvorschriften, seien aus versicherungstechnischen Gründen not­ wendig, um die Sicherheit und Stabilität des Geschäftsbetriebes zu gewährleisten und damit auch etwaige Prämiensteigerungen zulasten des Versichertenkollek­ tivs zu vermeiden.456 Man betonte im Übrigen, dass in der Versicherungspraxis bereits ein „ziemlich gleichmäßiger Grad von Liberalität und Vollkommenheit“ gewonnen sei und sich weitere prohibitive gesetzliche Regeln deshalb nicht als notwendig erwiesen.457 Unter solchen Eindrücken war im Frühjahr 1902 der erste VVG-Entwurf des Reichsjustizamtes vollendet worden.458 Als sein verantwortlicher Verfasser gilt der Vortragende Rat Eduard Hoffmann; dieser hatte sich dabei wiederum der Assis­ tenz seiner Mitarbeiter, der Regierungsräte Sebastian Oegg und Gustav Struck­ mann, bedient.459 Der so verfasste erste Entwurf war niemals zur Veröffentlichung bestimmt, sondern nur als Diskussionsgrundlage für die weiteren Arbeiten im Reichsjustizamt konzipiert. Er existiert dementsprechend auch nur in handschrift­ licher Fassung.460 In seiner grundsätzlichen Struktur und Systematik hatte aber auch jener Diskussionsentwurf schon die Gestalt des späteren VVG angenommen. Unmittelbar nach der Fertigstellung des Entwurfs, noch ab April 1902, traten im Reichsjustizamt mehrere Sachverständigenkommissionen zu den einzelnen Versicherungszweigen zusammen, um über den ersten Entwurf zu beraten; die Verhandlungen im Reichsjustizamt, die allesamt unter dem Vorsitz des Staats­ sekretärs Nieberding standen, sind in ausführlichen handschriftlichen Protokol­ len dokumentiert.461 Zuerst berieten Praktiker und Wissenschaftler aus der Warte der Feuerversicherung über den Entwurf, nämlich in sechs Sitzungen vom 28.04. bis zum 03. 05. 1902.462 Sodann folgten zwei Sachverständigenkommissionen zur Hagel- und Viehversicherung (09.–10. 05. 1902) sowie zur Transportversicherung (26.–28. 05. 1902).463 Den Abschluss bildete schließlich eine Kommission mit Sach­ 456

Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 263 f., 267, 271 f. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 78 f. 457 Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 243; vgl. auch Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253 (Absichtserklärung zu mehr Liberalität). So auch Duvinage (1987), S. 78 f. 458 Duvinage (1987), S. 80. 459 Duvinage (1987), S. 80; V. Ehrenberg, ZVersWiss 3 (1903), 315, 316; Manes (1905), S. 172; Neugebauer (1990), S. 92. 460 Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 03. 04. 1902 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5575.91). 461 Duvinage (1987), S. 83 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XV f.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 6. 462 Protokolle der Verhandlungen archiviert als „Berathung des Entwurfs eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Feuerversicherung)“ v. 28.04.–03. 05. 1902 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5579.2). 463 Duvinage (1987), S. 88 ff.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

verständigen zur Lebens-, Unfall- und Haftpflichtversicherung, die fünf Sitzungs­ tage vom 02. bis zum 06. 06. 1902 beanspruchte.464 Die einzelnen Kommissionen waren jeweils aus Vertretern der Versicherer- und Versicherungsnehmerseite zu­ sammengesetzt, wobei insbesondere in der Feuerversicherungskommission auch öffentlich-rechtliche Brandversicherungsanstalten und Industrie- und Landwirt­ schaftsorganisationen von Sachverständigen repräsentiert waren.465 Daneben war in Person des Professors Victor Ehrenberg auch ein namhafter Vertreter der Ver­ sicherungsrechtswissenschaft in den meisten Sachverständigenkommissionen an­ wesend.466 Ehrenberg hatte 1893 als einer der ersten Autoren überhaupt die Dog­ matik des gesamten Binnenversicherungsrechts in einem umfassenden Lehrbuch aufbereitet – aller Wahrscheinlichkeit nach sollte er also die dogmatische Schärfe des VVG-Entwurfs gewährleisten. Sämtliche Kommissionen tagten unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Der Ent­ wurf sollte der breiteren Fachöffentlichkeit erst zur Kritik und Begutachtung übergeben werden, nachdem er von einem engeren Kreis an Praktikern und Wis­ senschaftlern eingehend geprüft worden war.467 Der innere Ablauf der Kommis­ sionsverhandlungen war dabei stets derselbe. Eine allgemeine Aussprache über den Entwurf erfolgte nicht; er wurde stattdessen systematisch Paragraph für Para­ graph durchgearbeitet und diskutiert. Zwar paraphrasierten und anonymisierten die angefertigten Kommissionsprotokolle alle Einzelbeiträge, doch kennzeich­ neten sie immerhin, wenn es sich bei dem jeweiligen Redner um einen Vertreter der Versicherungsgesellschaften oder der öffentlichen Sozietäten handelte; auch die Kommentare der Regierungsvertreter, die den Entwurf gegen die eingehende Kritik verteidigten, haben die Protokollführer des Reichsjustizamtes besonders hervorgehoben.468 Auf diese Weise kann oft bis ins Detail nachvollzogen werden, aus welchen Interessentenkreisen die Beiträge stammten, welche am Ende einen Anstoß zur Überarbeitung des Entwurfes gaben – und ebenso, welche Wünsche außer Acht gelassen wurden. Nach dem Abschluss der Sachverständigenkommissionen unterzog das Reichs­ justizamt den Entwurf einer eingehenden Revision. Das Produkt dieser Arbeiten gelangte schließlich im Jahr 1903 als gedruckter „Entwurf eines Gesetzes über

464

Protokolle der Verhandlungen archiviert als „Berathung des Entwurfs eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Lebens-, Unfall- und Haftpflichtversicherung)“ v. 02.–06. 06. 1902 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5579.115). 465 Zu einer Aufführung sämtlicher Mitglieder der jeweiligen Kommissionen, s. „Berat­ hung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.2 (Feuerversicherung); ebd. Nr. 5579.115 (Lebens-, Unfall- und Haftpflichtversicherung). Eine namentliche Nennung sämtlicher Kommissionsmitglieder erfolgt zudem bei Duvinage (1987), S. 86 ff.; Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XVI. 466 Vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XVI. 467 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.2 (Vorrede Nieber­ dings). 468 Duvinage (1987), S. 85.

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den Versicherungsvertrag“469 an die Öffentlichkeit.470 Erwartungsgemäß stieß seine Veröffentlichung auf reges Interesse: zahllose wissenschaftliche Fachbei­ träge und versicherungspraktische Denkschriften  – nicht nur aus den Kreisen der Versicherungsgesellschaften,471 sondern auch von Seiten der Industrie- und Landwirtschaftsverbände472  – äußerten Kritik und Verbesserungsvorschläge zu dem amtlichen Entwurf.473 Eine tragende Rolle in der fachöffentlichen Debatte spielte eine Mitgliederver­ sammlung des 1899 gegründeten Deutschen Vereins für Versicherungswissen­ schaft (DVfVW), die am 12. 12. 1903 stattfand. Sie hatte sich ausschließlich der kritischen Würdigung des neuen Gesetzesentwurfs verschrieben; die Referate der einzelnen Versammlungsteilnehmer samt anschließender Plenumsdiskussion wurden von dem Verein gesammelt und 1904 in dessen offiziellen Zeitschrift pu­ bliziert.474 Neben zahlreichen Vertretern der Wissenschaft und der Versicherungs­ wirtschaft, meist Direktoren oder andere Führungskräfte namhafter Versiche­ rungsgesellschaften, waren bei der Mitgliederversammlung auch wieder Vertreter der Reichsregierung anwesend; sie sollten später für die weitere Umarbeitung des Entwurfs verantwortlich sein.475 Alleine für die Interessen der Versicherungsneh­ mer hatte der DVfVW – so lautete seine eigene Stellungnahme – keinen geeigneten Fürsprecher finden können.476 Insgesamt eröffnet sich der modernen rechtshisto­ rischen Forschung auch an dieser Stelle die Gelegenheit, gewichtige Indizien für oder gegen den Einfluss einzelner Positionen aus Praxis und Wissenschaft auf das weitere Gesetzgebungsverfahren zu gewinnen.

469

Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Amtliche Ausgabe 1903). Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 10; Duvinage (1987), S. 98; Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 322. 471 Verband Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften, Denkschrift betr. den Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 06. 10. 1903 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justiz­ ministerium, Nr. 5580.93); Verband Deutscher Feuer-Versicherungs-Gesellschaften auf Gegen­ seitigkeit, Betrifft den Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (08. 10. 1903) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.103); Verband der deutschen Hagel­ versicherungs-Aktien-Gesellschaften. Denkschrift, betreffend den Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 06. 12. 1903 (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.160). 472 Für Schriften aus den Kreisen der Versicherten, s. z. B. Denkschrift des Verbandes Ber­ liner Metall-Industrieller zu dem Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (No­ vember 1903) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.155); Prange, Kritische Betrachtungen (1904). 473 Insgesamt Duvinage (1987), S. 99. 474 DVfVW-Veröff. 2 (1904) mit der Mitschrift von 82 kurzen Einzelreferaten zum Entwurf von 1903 inkl. etwaiger Diskussion im Plenum. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 99 f.; Möller, VersR 9 (1958), 352. 475 Duvinage (1987), S. 99 f. 476 Vgl. dazu vor allem den kritischen Beitrag von Prange zur „General-Diskussion“, in: DVfVW-Veröff. 2 (1904), 148, 163 ff.; vgl. Duvinage (1987), S. 100. 470

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b) Zwischenspiel: die Rückkopplung des Entwurfes von 1903 auf die Feuerversicherungspraxis und ihre AVB Parallel zu all den Diskussionen der Jahre 1903 und 1904 hatte der publizierte Entwurf aber seinerseits Bewegung in die Versicherungspraxis gebracht. Das galt vor allem für die AVB der Feuerversicherungsgesellschaften, welche im Jahr 1904 eine deutliche Liberalisierung zugunsten der Versicherungsnehmer erfuhren. An­ gestoßen hatte diesen Prozess das Kaiserliche Aufsichtsamt für Privatversicherung, das die seit 1886 verwendeten Verbandsbedingungen der Feuerversicherungs­ branche als zu einseitig und zu nachteilig für die Versicherungsnehmer empfand. Bereits der Verfasser des VAG hatte sich erhofft, dass besonders missbräuchliche oder einseitige Klauseln durch das effektive Wirken des Kaiserlichen Aufsichts­ amts schon aus den AVB verschwunden sein würden, ehe man die Kodifikation des materiellen Versicherungsrechts überhaupt in Angriff nahm.477 Ein solcher Effekt trat spätestens im Jahr 1904 dann tatsächlich ein: kurz nach der Veröffent­ lichung des Entwurfs von 1903 forderte das Aufsichtsamt die Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften nachdrücklich auf, die standardisierten Feuerversicherungsbedingungen von 1886 bereits pro­aktiv an einige Bestimmungen des Entwurfs von 1903 anzunähern – vor allem freilich seine Normen zum Schutz der Versicherungsnehmer. Ansonsten müssten die Feu­ erversicherer in Zukunft damit rechnen, dass das Aufsichtsamt seine Befugnis zur materiellen Versicherungsaufsicht in entsprechender Weise ausübe und hoheitlich in die AVB der Feuerversicherungspraxis eingreife.478 Die „Vereinigung“ kam der Anregung der Aufsichtsbehörde nach und veröffent­ lichte im Jahr 1904 eine „Erklärung“ zu den Verbandsbedingungen von 1886,479 mit der sie einige bislang ganz übliche AVB-Klauseln zugunsten der Versiche­ rungsnehmer abmilderte.480 Das betraf beispielsweise die starren Fristen zur An­ zeige eines Versicherungsfalles481 oder zur gerichtlichen Geltendmachung des Ver­ sicherungsanspruches,482 welche in ihrer Länge oft sogar verdoppelt wurden. Von größerer rechtsdogmatischer Bedeutung sind jedoch die inhaltlichen Modifikatio­ nen, welche die „Erklärung“ unter anderem für die Anzeige von Gefahrumstän­ den oder die Anzeige des Versicherungsfalles mit sich brachte: seit 1904 knüpften 477

Mot. VAG (1901), Einl. S. 22 f.; so auch Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1903, S. 30. Vgl. Duvinage (1987), S. 37 f.; Müssener (2008), S. 146 f. 478 Neugebauer (1990), S. 153. 479 Erklärung zu den Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Aufgestellt von der Ver­ einigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1904) (Sammlung-AVB I, 78). 480 Vgl. Bischoff, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 65, 71; Duvinage (1987), S. 108; Müssener (2008), S. 359 f.; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 168. 481 Zusatzerklärung zu § 6  I der Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschaften v. 1886 (1904) (2 Tage statt 24 Stunden); vgl. Müssener (2008), S. 229. 482 Zusatzerklärung zu § 11  IV der Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschaften v. 1886 (1904) (1 Jahr statt 6 Monate); vgl. Müssener (2008), S. 307.

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die Verbandsbedingungen nur dann noch Sanktionen an das Unterlassen oder die Fehlerhaftigkeit einer solchen Anzeige, falls dem Versicherungsnehmer oder Ver­ sicherten bei alledem ein Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsvorwurf zu machen war.483 Dadurch verbesserte sich die rechtliche Position des Versicherungsnehmers in der Praxis gravierend – eine Entwicklung, die nicht auf die Initiative der Feuerversi­ cherer, sondern des Kaiserlichen Aufsichtsamtes erfolgte. Derartige Tätigkeiten des Kaiserlichen Aufsichtsamtes blieben übrigens nicht alleine auf die Feuerversicherung beschränkt. Im Lebensversicherungsrecht waren die Auswirkungen auf die AVB allerdings weit weniger einschneidend, zumal die Lebensversicherer ohnehin schon auf eine vergleichsweise versichertenfreundliche Praxis verweisen konnten. Die Aktionen des Aufsichtsamtes beschränkten sich da­ her meist darauf, in der Praxis entwickelte Figuren flächendeckend und noch kon­ sequenter zur Anwendung zu bringen, als die Lebensversicherungspraxis es tat; so sorgte es unter anderem dafür, dass auch kleinere Sterbekassen dem Versicherungs­ nehmer Teile der angesparten Prämienreserve zurückzahlen mussten, wenn der Lebensversicherungsvertrag vorzeitig endete.484 Die größeren Lebensversicherer hatten eine solche Praxis im Grundsatz aber schon im 19. Jahrhundert betrieben. c) Das parlamentarische Verfahren bis zum Inkrafttreten des VVG Insgesamt hatte in den Jahren zwischen 1902 und 1904 schon der größte Teil der Entwicklungsprozesse stattgefunden, welche bis heute das Bild des VVG prä­ gen. Das formelle Gesetzgebungsverfahren, das Ende 1904 angestoßen wurde und sich noch bis ins Jahr 1908 dehnen sollte, brachte zwar durchaus noch die ein oder andere Umgestaltung des Entwurfs mit sich, doch ließ es die grundsätzlichen Strukturen des VVG unberührt. Nachdem sich in den Jahren 1903 und 1904 zahlreiche Änderungsvorschläge von Wissenschaftlern und Fachverbänden über den gedruckten VVG-Entwurf er­ gossen hatten, wurde derselbe bis zum Oktober 1904 im Reichsjustizamt und im Justizministerium ein weiteres Mal umgearbeitet.485 Am 17. 11. 1904 legte das Justizministerium dem Bundesrat schließlich einen überarbeiteten Entwurf vor.486 Die dortigen Beratungen berührten seltener die materielle Versicherungsrechts­ dogmatik als vielmehr die hauptsächliche Frage, ob der sachliche Anwendungs­ 483

Zusatzerklärung zu § 3 der Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaften v. 1886 (1904). Vgl. Duvinage (1987), S. 108; Müssener (2008), S. 245; Neugebauer (1990), S. 153. 484 Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1904, S. 7. 485 Zur Umarbeitung im Reichsjustizamt im Einzelnen: Duvinage (1987), S. 112 ff. 486 Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 11. 11. 1904 (Bundesratsvor­ lage von 1904), archiviert in: GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 5576.1 ff. Vgl. ­Duvinage (1987), S. 119; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vor­ wort S. XVIII.

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bereich des VVG sich auch auf die Rechtsverhältnisse der öffentlichen Sozietäten erstrecken solle. Am Ende blieb es insoweit bei den Bestimmungen des Entwurfs von 1903. Sie besagten, dass nur diejenigen öffentlichen Feuersozietäten aus dem Anwendungsbereich des Entwurfs ausgeklammert waren, die noch mit den Mit­ teln des Versicherungszwanges operierten; allenthalben waren die öffentlichen Anstalten nicht an die versichertenschützenden Normen des VVG gebunden, welche für die Privatversicherer einseitig zwingend487 waren.488 Für den Zweck der vorliegenden Untersuchung sind die Beratungen im Bundesrat daher von äu­ ßerst geringer Bedeutung. Das Bundesratsplenum beschloss am 02. 11. 1905 eine nur geringfügig geänderte Fassung des VVG und legte diese am 28. 11. 1905 dem Deutschen Reichstag vor,489 wo sie der Staatssekretär Nieberding am 22. 01. 1906 ins versammelte Plenum einführte – namentlich mit dem bereits zuvor zitierten Kommentar, das VVG sei im Wesentlichen nichts anderes als „eine Zusammen­ fassung der allgemeinen Versicherungsbedingungen“.490 Das Reichstagsplenum leitete die Gesetzesvorlage am 24. 01. 1906 seinerseits zur weiteren fachlichen Be­ arbeitung an die VIII. Reichstagskommission weiter.491 In den Beratungen jener Reichstagskommission492 entzündeten sich abermals einige Diskussionen um den materiellen Gehalt des VVG. Auch sie richteten sich aber zum großen Teil eher auf die politische, nicht mehr auf die rechtsdogmati­ sche Dimension des VVG: ein heftiger Streit herrschte nochmals über die Frage, ob auch die staatlichen Feuersozietäten in den Anwendungsbereich des VVG fallen sollten; an der schon im Entwurf von 1903 präsentierten Lösung änderte aber auch er nichts.493 Einen breiten Raum nahm auch die Debatte ein, ob und inwieweit ein Lebensversicherer an die Hinterbliebenen eines Selbstmörders oder eines getöteten Duellanten leisten müsse.494 Der ausladend und emotional geführte Streit darüber 487

Zum einseitig zwingenden Recht des VVG, s. sogleich § 3 C III 3 d. § 181 VVG-E (1903); entspr. § 192 VVG (1908). Vgl. Duvinage (1987), S. 120 ff.; Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XVIII; Gerhard, ZVersWiss 6 (1906), 34, 35. 489 Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Reichstagsvorlage von 1905), abgedruckt unter: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck 1963), S. 440 ff. Vgl. Duvinage (1987), S. 122 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vor­ wort S. XIX. 490 Rede Nieberdings im Reichstag v. 22. 01. 1906 (25. Sitzung der 12. Legislaturperiode), abgedruckt in: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck 1963), S. 571, 572. Vgl. Duvinage (1987), S. 123; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vor­ wort S. XIX. 491 Duvinage (1987), S. 124 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XX. 492 Protokolliert als Bericht der VIII. Kommission über die Entwürfe eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag, abgedruckt unter: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nach­ druck 1963), S. 269 ff. 493 Vgl. Duvinage (1987), S. 127 f. 494 § 166 VVG-RTV (1905), entspr. § 169 VVG (1908); zur parlamentarischen Diskussion, s. Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963) zu § 166 VVG-RTV (1905). Vgl. auch Duvinage (1987), S. 126. 488

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besaß aber auf der sittlich-moralischen Ebene ein wesentlich höheres Gewicht als auf der Ebene der nüchternen Rechtsdogmatik. Für die eigentliche dogmen­ geschichtliche Erforschung des VVG sind die Beratungen der Reichstagskommis­ sion im Großen und Ganzen zwar alles andere als uninteressant, bleiben aber doch in ihrer Bedeutung beträchtlich hinter den versicherungswissenschaftlichen und fachzentrierten Diskussionen aus den Jahren 1902 bis 1904 zurück. Die Beschlussfassung des VVG im Reichstagsplenum war ursprünglich schon für den 07. 12. 1906 vorgesehen. Dass sie erneut bis 1908 aufgeschoben wurde, hatte seine Gründe auf der Bühne der Weltpolitik. Der Reichstag lag am Ende des Jahres 1906 in unversöhnlichem Streit über die deutsche Kolonialpolitik in Süd­ westafrika, in dessen Verlauf er die Beschlussfassung des VVG zunächst verschob, bevor der Reichstag am 13. 12. 1906 vorzeitig aufgelöst wurde.495 Am Anfang des Jahres 1907 hatten Neuwahlen stattgefunden; das förmliche Gesetzgebungsver­ fahren im Reichstag musste infolge dieser Vorgänge aber komplett von vorne ini­ tiiert werden. Das VVG wurde dem Reichstag am 29. 04. 1907 – im Wesentlichen in der bereits beschlussreifen Fassung von 1906 – erneut vorgelegt496 und von dort aus am 28. 11. 1907 zur förmlichen Beratung an die XII. Reichstagskommission überwiesen.497 Am 30. 01. 1908 gelangte das VVG in einer lediglich geringfügig veränderten Form zurück ans Reichstagsplenum.498 Nach erster und zweiter Lesung am 01. und 02. 05. 1908 nahm der Reichstag die Vorschriften in §§ 1–185 VVG an – nur den umstrittenen Schlussvorschriften, welche unter anderem die mit Beitritts­ zwang ausgestatteten Feuersozietäten aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes ausklammerten, stimmte das Plenum vorübergehend noch nicht zu. Erst nach der dritten Lesung am 07. 05. 1908 nahm der Reichstag das gesamte VVG schließlich „en bloc“ an.499 Am 30. 05. 1908 vom Kaiser vollzogen und am 05. 06. 1908 im Reichsgesetzblatt verkündet,500 trat das VVG planmäßig am 01. 01. 1910 in Kraft.501 Zeitgleich mit dem VVG verabschiedete der Reichstag noch diverse Änderungen

495 Duvinage (1987), S. 129; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXI; Neugebauer (1990), S. 94. 496 Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Reichstagsvorlage von 1907), abgedruckt unter: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck 1963), S. 524 ff. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 130. Lediglich wenige Änderungen, welche die VIII. Kommission von 1905 am Entwurf vorgenommen hatte, fanden sich in der Neuvorlage von 1907 nicht wie­ der, so aber z. B. bei der Behandlung des Zweikampftodes in der Lebensversicherung, vgl. § 166 VVG-RTV (1905), entspr. § 169 VVG-RTV (1907). 497 Protokolliert als Bericht der XII. Kommission zur Vorberatung der Entwürfe eines Ge­ setzes über den Versicherungsvertrag, abgedruckt unter: Motive zum Versicherungsvertrags­ gesetz (Nachdruck 1963), S. 491 ff. Vgl. Duvinage (1987), S. 131; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXI f. 498 Duvinage (1987), S. 133. 499 Duvinage (1987), S. 133 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIII. 500 Gesetz über den Versicherungsvertrag v. 30. 05. 1908 (RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263). 501 Duvinage (1987), S. 134; Neugebauer (1990), S. 94.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

im Seeversicherungsrecht des HGB.502 Damit hatte das Deutsche Reich als erster europäischer Staat ein modernes Gesetzes zum Binnenversicherungsrecht geschaf­ fen, welches in seinen Grundzügen bis heute die Grundlage für die Rechtsverhält­ nisse des Privatversicherungsrechts bildet. 3. Überblick über die Gesamtkonzeption des VVG In der rechtsdogmatischen Konzeption des Versicherungsvertragsgesetzes503 setzten sich im Wesentlichen die Entwicklungstendenzen fort, die sich schon in den vier Kodifikationsentwürfen des 19. Jahrhunderts abgezeichnet hatten. Dort konnte einerseits ein Hang zur Abstrahierung und dogmatischen Durchdringung des Binnenversicherungsrechts beobachtet werden  – andererseits aber auch die im Dresdener Obligationenrechtsentwurf noch sehr vage angedeutete Idee, der Gesetzgeber müsse den Versicherungsnehmer vor einer zu einseitigen oder gar missbräuchlichen AVB-Gestaltung in Schutz nehmen. Nachdem die Kernelemente jener Entwicklung schon bei der Untersuchung der vier Kodifikationsentwürfe des 19. Jahrhunderts herausgearbeitet wurden, soll im Folgenden nur noch ein Schlag­ licht auf die konzeptionellen Grundpfeiler des VVG geworfen werden. Auf ihnen kann später die umfassende Analyse einzelner dogmatischer Elemente des Bin­ nenversicherungsrechts aufbauen. a) Die reichhaltigen Rechtsquellen des VVG: Gesetzgebung, Wissenschaft, Praxis, Rechtsprechung Die Arbeitsmethode des VVG-Gesetzgebers unterschied sich im Grundsatz kaum von der legislatorischen Technik, derer sich schon sämtliche partikularstaat­ lichen Entwürfe bis hin zum Dresdener Obligationenrechtsentwurf bedient hatten. Auch die Entwurfsverfasser im Reichsjustizamt bedienten sich letzten Endes näm­ lich einer weit ausgreifenden, rechtsvergleichend-kompilierenden Arbeitsweise; dabei zogen sie wiederum etliche in- und ausländische Rechtsquellen zu Rate. Während der fast 40 Jahre seit dem Obligationenrechtsentwurf von 1866 waren jene Quellen noch viel reichhaltiger geworden. Eine wichtige Stellung nahm nach wie vor das geschriebene Seeversicherungsrecht ein, das seit 1897 in §§ 778–900 HGB  – einer geringfügig revidierten Fassung der Art. 782–906 ADHGB  – ge­ regelt war. Auf der anderen Seite standen ihm aber auch ein reicher Fundus an Allgemeinen Versicherungsbedingungen, die Normen verschiedener Gesetze und Entwürfe  – vom Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten bis zum 502

Gesetz, betreffend Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversi­ cherung v. 30. 05. 1908 (RGBl. 1908, Nr. 30 S. 307). Vgl. auch P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 322. 503 Alle folgenden Zitate aus dem VVG beziehen sich, falls nichts anderes angemerkt wird, auf die ursprüngliche Fassung von 1908 (RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263).

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Dresdener Obligationenrechtsentwurf – und nicht zuletzt die Wissenschaft und Rechtsprechung zur Verfügung;504 insbesondere Wissenschaft und Rechtsprechung hatten die Dogmatik des Privatversicherungsrechts mittlerweile tief durchdrungen. All diese Quellen, die ja auch schon ihrerseits inhaltlich eng miteinander verwoben waren, benutzte der Entwurfsverfasser von 1902 mit unterschiedlicher Intensität zur Rechtsschöpfung. Ihre Einflüsse auf einzelne Normen des VVG sind in der amtlichen Gesetzesbegründung zum VVG minutiös dokumentiert.505 Ganz in der Tradition seiner Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert sollte aber auch das VVG mehr als eine reine Aggregation von Rechtssätzen aus diversen Quel­ len sein. Es verfolgte vielmehr den gleichen Anspruch wie die meisten anderen Gesetze in der Hochphase der zivilrechtlichen Kodifikationsbewegung: nämlich das vorhandene Material auf abstrakte Rechtsprinzipien zu reduzieren und jene in eine logisch verknüpfte, innerlich widerspruchsfreie Ordnung zu arrangieren.506 Damit lässt sich auch die eben erwähnte, starke Tendenz erklären, neben Gesetzen und Entwürfen aus In- und Ausland auch die Literatur und die Rechtsprechung als Quellen des Binnenversicherungsrechts zu berücksichtigen. Vor allen Dingen das versicherungsrechtliche Lehrbuch von Victor Ehrenberg, der ja sogar Mitglied der Sachverständigenkommissionen im Reichsjustizamt war, fand relativ häufig Erwäh­ nung in den Gesetzgebungsmaterialien. Seinem Wirken wird daher insgesamt ein hoher Einfluss auf die rechtsdogmatische Konstruktion des VVG zugeschrieben.507 Allerdings stand dem Entwurfsverfasser von 1902 noch mindestens eine weitere entscheidende Quelle zur Verfügung, auf welche die Entwürfe im 19. Jahrhundert noch nicht zurückgreifen hatten können: der schweizerische VVG-Entwurf von Hans Roelli. Die Eidgenossenschaft hatte die Kodifikation ihres Binnenversiche­ rungsrechts schon einige Jahre vor dem Deutschen Reich in Angriff genommen. Ein erster Vorentwurf zu einem schweizerischen Versicherungsvertragsgesetz war bereits im Jahr 1896 erschienen.508 Er stammte aus der Feder des Züricher Rechtsprofessors Hans Roelli.509 Im Jahr 1902 wurde er nach eingehenden Sach­ verständigenberatungen von Roelli persönlich umgearbeitet.510 Als die Kodifi­ 504

Duvinage (1987), S. 77; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXV. 505 Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck, Berlin 1963). 506 Dazu vgl. auch Rautmann, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 20, 21 (kritisch). Zahlreiche Bei­ spiele für diese Tendenz sogleich bei der rechtsvergleichenden Analyse unter § 3 D. 507 Duvinage (1987), S. 77; P. Koch, in: HdV (1988), 861, 864; Prange, Kritische Betrach­ tungen (1904), S. 22. 508 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 8; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 142 f.; Rüdiger, ZVersWiss 2, Ergänzungsheft (1902), 1, 2. 509 Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 8; Duvinage (1987), S. 65; Otto, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 16, 18; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 12 f. 510 Entwurf zu einem Schweizerischen Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag (abge­ druckt bei Rüdiger, ZVersWiss 2, Ergänzungsheft [1902], 1, 6 f.). Der Abdruck des Entwurfs enthält auch eine vergleichende Gegenüberstellung mit den Bestimmungen des schweizerischen Vorentwurfs von 1896. Zur Entstehungsgeschichte des Entwurfs von 1902 s. Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 8; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328; Rüdiger, ZVersWiss 2, Ergänzungsheft (1902), 1, 2 f.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

kationsarbeiten am VVG begannen, stellte der Entwurf von Roelli jedenfalls die jüngste verfügbare Quelle des europäischen Binnenversicherungsrechts dar, und so kann es kaum noch verwundern, wenn sich die Verfasser des Reichsjustizamts­ entwurfes auch rechtsvergleichend mit der schweizerischen Kodifikationsarbeit beschäftigten.511 Tatsächlich fand der schweizerische Entwurf in seinem Stadium von 1902 häufige Erwähnung in den Gesetzgebungsmaterialien und auch im Üb­ rigen ähnelten einige Passagen des Reichsjustizamtsentwurfes bis in den Wortlaut hinein den Arbeiten von Roelli. Nicht zuletzt hatte Roelli im Jahr 1904 selbst einen Essay veröffentlicht,512 in dem er sich rechtsvergleichend mit den deutschen und den schweizerischen Arbeiten auseinandersetzte und auf weitreichende Überein­ stimmungen zwischen den beiden Entwürfen hinwies. In seiner finalen Fassung war das schweizerische Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag übrigens nicht mehr von Bedeutung für den deutschen Kodifikationsprozess: die parla­ mentarischen Arbeiten begannen in der Schweiz erst im Jahr 1905, als sich das deutsche VVG schon in nahezu endgültig ausgereifter Form in den Reichstags­ beratungen befand.513 Der Roelli-Entwurf von 1902 war für die deutsche Versicherungsvertragsge­ setzgebung vor allem deshalb von gesteigertem Interesse, weil in ihm einige, der deutschen Gesetzgebung bislang noch fremde Ideen steckten, welche den Versi­ cherungsnehmer vor bestimmten missbräuchlichen Praktiken der Versicherungs­ gesellschaften schützen sollten.514 Zum Beispiel hatte Roelli in Art. 42 seines Entwurfes vorgesehen, dass der Versicherer dem Anspruch des Versicherten nicht die Versäumnis irgendwelcher vertraglicher Anzeigefristen entgegenhalten konnte, wenn jene Frist unverschuldet nicht eingehalten worden war.515 Der Schutz des Versicherungsnehmers war, wie gesehen, um die Jahrhundertwende auch in Deutschland immer mehr in den Fokus von Wissenschaft und Rechtsprechung gerückt, und so dürfte es kein Zufall sein, wenn der deutsche Gesetzgeber gerade die schweizerischen Arbeiten bereitwillig rezipiert hat. Das Kodifikationsprojekt des VVG stand folglich in Berührung mit zahlreichen neuen Quellen, die geeignet waren, progressive Gedanken in die deutsche Versi­ cherungsgesetzgebung hineinzutragen. Wie haben sich nun aber all die Entwick­ lungstendenzen, deren Konturen schon in der deutschen Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts sichtbar geworden waren, im VVG fortgesetzt, wo doch der Gesetzgeber auf ein so reiches und differenziertes Quellenmaterial zurückgreifen konnte?

511 Zum Einfluss des Entwurfes von Roelli auf das deutsche VVG, s. auch F. Ebel, in: HdV (1988), 617, 623; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 143; Möller, VersR 9 (1958), 352, 353. 512 Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328; vgl. auch Duvinage (1987), S. 66. 513 Duvinage (1987), S. 66 f.; Maurer (3. Aufl. 1995), S. 143. 514 Vgl. Duvinage (1987), S. 67; Neugebauer (1990), S. 98. 515 Vgl. Duvinage (1987), S. 68.

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b) Die mehrfach gestufte Gesetzessystematik des VVG Schon bei ganz oberflächlicher Betrachtung des ersten VVG-Entwurfes von 1902 fällt auf, um wie viel ausgefeilter seine gesetzessystematische Struktur im Vergleich zu den Entwürfen des 19. Jahrhunderts war; sie entsprach schon voll und ganz der Systematik des späteren VVG. Während sämtliche deutschen Entwürfe des 19. Jahrhunderts das Versicherungsrecht entweder in einen allge­ meinen und einen besonderen Teil aufgeteilt hatten oder sogar versucht hatten, lediglich allgemeine Prinzipien für alle Versicherungszweige herauszukristalli­ sieren, wählte schon der Reichsjustizamtsentwurf eine komplexere, innovative Herangehensweise.516 Nach einem allgemeinen Teil, der Bestimmungen für sämtliche Versiche­ rungszweige aufstellte (§§ 1–37),517 folgten Abschnitte über die Schadens- (§§ 38– 135),518 und die Personenversicherung (§§ 136–161).519 Der schadensversicherungs­ rechtliche Abschnitt war jedoch wiederum unterteilt: einerseits in einen weiteren allgemeinen Teil für sämtliche Arten der Schadensversicherung (§§ 38–67),520 an­ dererseits in speziellere Vorschriften über die Feuer-, Hagel-, Vieh-, Landtransportund Haftpflichtversicherung (§§ 68–135).521 Demgegenüber enthielt der Abschnitt über die Personenversicherung nur Spezialvorschriften zur Lebens- und Unfall­ versicherung. Gewissermaßen kannte der Entwurf von 1902 also zwei allgemeine Teile: einen, der für alle Versicherungszweige galt und zum Beispiel Vorschriften über die erforderlichen Gefahr- und Gefahrerhöhungsanzeigen oder über die Ver­ sicherungsprämie aufstellte, und einen weiteren, der nur für die Schadensversiche­ rung galt und Probleme wie die Überversicherung, die Unterversicherung oder die Schadensberechnung abhandelte. Diese äußere Systematik besitzt das VVG noch im 21. Jahrhundert. Ansätze einer solchen Gesetzessystematik ließen sich auch schon in den Ent­ würfen von Hans Roelli erkennen. Roelli hatte das Binnenversicherungsrecht in einen allgemeinen Teil,522 einen spezifisch schadensversicherungsrechtlichen523 und einen spezifisch personenversicherungsrechtlichen Teil strukturiert;524 ledig­ lich die noch filigranere Auffächerung des Schadensversicherungsrechts hatte dem 516 Zur Systematik des RJA-E (1902) und des späteren VVG (1908) insgesamt, vgl. auch Behrend, ZHR 55 (1904), 1, 11 ff.; Duvinage (1987), S. 80 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXIX; V. Ehrenberg, ZVersWiss 3 (1903), 315, 316 f.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 1 f.; Rautmann, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 20, 21; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 331. 517 Entspr. §§ 1–48 VVG (1908). 518 Entspr. §§ 49–158 VVG (1908). 519 Entspr. §§ 159–185 VVG (1908). 520 Entspr. §§ 49–80 VVG (1908). 521 Entspr. §§ 81–158 VVG (1908). 522 Art. 1–43 Entwurf VVG Schweiz (1902). 523 Art. 44–63 Entwurf VVG Schweiz (1902). 524 Art. 64–79 Entwurf VVG Schweiz (1902).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

schweizerischen Entwurf gefehlt.525 Es ist gut denkbar, dass der Reichsjustizamts­ entwurf die bislang unbekannte Systematik seines schweizerischen Pendants auf­ gegriffen und eigenständig weiterentwickelt hatte. Mit seiner feingliedrigen Herangehensweise hatte der Reichsgesetzgeber jeden­ falls einem Problem entgegenwirken wollen, welches sich den vier Entwürfen des 19. Jahrhunderts offenbart hatte: die gewünschte Abstraktion des Versicherungs­ rechts auf wesentliche Rechtssätze hatte dort immer den Preis gefordert, die Regeln einzelner Versicherungszweige den Regeln anderer unterordnen zu müssen. Ins­ besondere das Lebensversicherungsrecht war immer mehr zu einem unselbststän­ digen Annex des Schadensversicherungsrechts verkümmert. Der VVG-Entwurf mit seinem systematisch gestuften Ansatz verschaffte diesem Problem Milderung, hielt das Binnenversicherungsrecht jedoch gleichzeitig entwicklungsoffen für neue Versicherungszweige.526 c) Der Schutz des Versicherungsnehmers vor einseitigen AVB-Klauseln – insbesondere das „Verschuldensprinzip“ in § 6 VVG und seine Genese Zweitens hatte aber auch der Schutz des Versicherungsnehmers vor einseitigen oder missbräuchlichen AVB-Klauseln schon im Reichsjustizamtsentwurf von 1902 deutlich an Gewicht gewonnen. Über das schwache Schutzniveau des Dresdener Obligationenrechtsentwurfes ging das VVG in sämtlichen Stadien seiner Gesetz­ gebungsarbeiten bei Weitem hinaus. Auch diese Entwicklung hatte sich, wie er­ örtert, schon in einigen Rechtsquellen des 19. Jahrhunderts allmählich abgezeich­ net: während der Binnenversicherungsvertrag besonders in den 1850er Jahren noch als gewöhnliche Vereinbarung zwischen zwei individuellen Vertragsparteien be­ handelt wurde, war bis zur Kodifikation des VVG vor allem in Wissenschaft und Rechtsprechung die Erkenntnis durchgedrungen, dass der Versicherungsnehmer gegenüber den wirtschaftlich starken Versicherungsgesellschaften de facto gar kei­ nen Einfluss mehr auf die Vertragsgestaltung ausüben konnte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten – wie gezeigt – vor allem die Feuerversicherer in ihren AVB Sanktionen angeordnet, die schon bei allen erdenklichen Arten der objek­ tiven Vertragsverletzung zum Verlust des Versicherungsanspruchs führten, ohne dass es überhaupt noch darauf ankam, ob der Vertragspartner schuldhaft gehandelt hatte.527 Vor allem zahlreiche Gerichte hatten daraufhin die Versicherungsbedin­ gungen zunehmend zu Gunsten des Versicherten bzw. des Versicherungsnehmers ausgelegt, soweit dies methodisch irgendwie vertretbar war, namentlich indem sie 525 Zur Struktur des schweizerischen Entwurfes insgesamt: Duvinage (1987), S. 67; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 331. 526 Duvinage (1987), S. 204 f.; Fleischmann, VersR 9 (1958), 349 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXX; P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 322; Möller, VersR 9 (1958), 352, 353; Prölss, VersR 9 (1958), 354; Rautmann, DVfVWVeröff. 2 (1904), 20 (kritisch). 527 Zur Entwicklung der Feuerversicherungsbedingungen im 19. Jhdt., vgl. oben § 3 B II 2 a.

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den Versicherungsvertrag als ein von besonderem Treu und Glauben geformtes Verhältnis interpretierten.528 Auf einem ähnlichen Standpunkt befand sich, wie eben gezeigt, der schweizerische VVG-Entwurf von Hans Roelli. Wie nun das VVG von 1908 an derartige Ansätze anknüpfen konnte, lässt sich am besten am Beispiel seines § 6 demonstrieren – einer Norm, die das sogenannte „Verschuldensprinzip“ auf restlos alle Verhaltensanforderungen ausdehnte, wel­ che die verwendeten AVB vertraglich statuierten. Erwähnter § 6 VVG bestimmte: „§ 6.  [1] Ist im Vertrage bestimmt, daß bei Verletzung einer Obliegenheit, die vor dem Eintritte des Versicherungsfalls dem Versicherer gegenüber zu erfüllen ist, der Versicherer zum Rücktritte berechtigt oder von der Verpflichtung zur Leistung frei sein soll, so tritt die vereinbarte Rechtsfolge nicht ein, wenn die Verletzung als eine unverschuldete anzu­ sehen ist. [2] Ist eine solche Bestimmung für den Fall getroffen, daß eine Obliegenheit verletzt wird, die nach dem Eintritte des Versicherungsfalls dem Versicherer gegenüber zu erfüllen ist, so tritt die Rechtsfolge nicht ein, wenn die Verletzung weder auf Vorsatz noch auf grober Fahrlässigkeit beruht. [3] Auf eine Vereinbarung, durch welche von diesen Vorschriften zum Nachteile des Versicherungsnehmers abgewichen wird, kann sich der Versicherer nicht berufen.“

Die differenzierte Verschuldensregel war nur auf solche „Obliegenheiten“ zuge­ schnitten, die unmittelbar „im Vertrage bestimmt“, also in den AVB des Versiche­ rers enthalten waren (§ 6 I). Soweit das VVG schon gesetzliche Verhaltensanforde­ rungen an den Versicherten oder den Versicherungsnehmer stellte, bestimmte es meist eine eigene Sanktionsfolge, die freilich ihrerseits nur ausgelöst wurde, falls dem Betroffenen ein schuldhaftes Handeln vorzuwerfen war.529 Sinn und Zweck des § 6 VVG war es hingegen, das „Verschuldensprinzip“ flächendeckend auch auf solche Sanktionen zu erstrecken, die ausschließlich in den AVB zu finden wa­ ren. Als ein häufiges Beispiel aus der Feuerversicherungspraxis kann hier etwa die streitanfällige „Hobelspäne-Klausel“ dienen, welche die Inhaber von Tisch­ lerbetrieben verpflichtete, den Fußboden nach Betriebsschluss stets besenrein zu fegen.530 528 Zur diesbezüglichen Entwicklung der Wissenschaft und Rechtsprechung, vgl. oben § 3 B IV 1 c und § 3 B IV 2 b. 529 Vgl. z. B. §§ 16 II, 17 II VVG (1908) (fehlerhafte oder unterlassene vorvertragliche An­ zeige von Gefahrumständen); ebd. §§ 25 II, 28 I (unterlassene Gefahrerhöhungsanzeige); § 33 I (unterlassene Anzeige des Versicherungsfalles); § 39 I 2 (Folgeprämienverzug); § 71 I (unter­ lassene Anzeige von der Veräußerung des versicherten Gegenstandes). Zum Verhältnis des § 6 VVG (1908) zu den gesetzlichen Sanktionen vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), § 6 Rn. 2. 530 Vgl. Mot. VVG (1908) zu § 6; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 6 Rn. 1, 4. Zu den „Hobelspäne-Klauseln“ in der vorgesetzlichen Praxis, vgl. z. B. Ziff. 10 Mühlenversicherungsbedingungen der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1879) (Sammlung-AVB  I, 112); § 15 II gewerbliche Versicherungsbedingungen der Ver­ einigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1899) (Sammlung-AVB  I, 118). Vgl. auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 222; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 372.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Bei rechtsvergleichender Betrachtung einerseits des schweizerischen VVG-Ent­ wurfes, andererseits der einzelnen deutschen VVG-Entwürfe lässt sich nahezu idealtypisch beobachten, wie sich der erörterte Verschuldensgedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schritt für Schritt in der Gesetzgebung etablierte. Der eidge­ nössische Roelli-Entwurf von 1902 hatte zum Beispiel noch keine einzelne Norm gekannt, die das Verschuldensprinzip gleichmäßig auf alle formularvertraglichen Verhaltensanforderungen zur Anwendung brachte. Stattdessen bestimmte sein Art. 42 nur, dass jegliche unverschuldete Fristversäumnis dem Vertragspartner des Versicherers nicht zur Last fallen dürfe:531 „Art. 42. Wo der Vertrag oder dieses Gesetz den Bestand eines Rechtes aus der Versiche­ rung an die Beobachtung einer Frist knüpft, ist der Berechtigte befugt, die ohne Verschul­ den versäumte Handlung nach Beseitigung des Hindernisses ohne Verzug nachzuholen.“

Der deutsche Reichsjustizamtsentwurf vom gleichen Jahr lehnte sich an diese Vorschrift des schweizerischen Entwurfes an, indem er in § 28 eine ganz ähn­ lich lautende Fristenregelung installierte. Er beließ es aber nicht dabei, sondern dehnte das darin enthaltene Verschuldenskriterium in § 29 generell auf alle „Ob­ liegenheiten“ aus, welchen der Versicherte nach Eintritt des Versicherungsfalls nachkommen musste. Im Wortlaut hieß es in den einschlägigen Normen des Reichsjustizamtsentwurfs: „§ 28. Ist im Vertrage für eine von dem Versicherten vor dem Eintritte des Versicherungs­ falls vorzunehmende Handlung eine Frist mit der Maßgabe bestimmt, daß die Versäumung der Frist das Erlöschen der Ansprüche oder einen sonstigen Rechtsnachtheil für den Versi­ cherten zur Folge haben soll, so tritt der Rechtsnachtheil nicht ein, wenn die Versäumung den Umständen nach als eine unverschuldete anzusehen ist und die versäumte Handlung unverzüglich nachgeholt wird. § 29. Ist im Vertrage bestimmt, daß die Verletzung einer Obliegenheit, die nach dem Ein­ tritte des Versicherungsfalls dem Versicherer gegenüber zu erfüllen ist, das Erlöschen der Ansprüche oder einen sonstigen Rechtsnachtheil für den Versicherten zur Folge haben soll, so tritt der Rechtsnachtheil nur ein, wenn die Obliegenheit arglistig verletzt worden ist. […] § 33. [1] Auf eine Vereinbarung, durch welche von den Vorschriften der §§. 28, 29, 31 zum Nachtheile des Versicherten abgewichen wird, kann sich der Versicherer nicht berufen. [2] Es kann vereinbart werden, daß dem Versicherer auch wegen einer Obliegenheit, die ihm gegenüber nach dem Eintritte des Versicherungsfalls zu erfüllen ist, ein Geldbetrag als Strafe entrichtet werden soll; die Strafe darf fünf vom Hundert des Betrags, welchen der Versicherer zu zahlen hat, nicht übersteigen.“

Während also der § 28 des deutschen Entwurfes noch starke Parallelen zum Roelli-Entwurf offenbarte, dürfte § 29 eine selbstständige Weiterentwicklung des Verschuldensgedankens darstellen. Sie stammte erst aus der Feder des deutschen Entwurfsverfassers, nahm dabei aber erkennbare Anleihen an der deutschen Recht­ 531

Vgl. auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 299; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 334.

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sprechung, wie die amtliche Gesetzesbegründung zum VVG später ganz ausdrück­ lich offenlegte.532 Im weiteren Entwicklungsprozess verlagerte der Gesetzgeber die §§ 28, 29, 31 I des ersten Entwurfes nicht nur an die exponierte Stelle in § 6 VVG,533 sondern ver­ wandelte auch die ursprüngliche Fristenregelung aus Art. 42 des Roelli-Entwurfes in eine Vorschrift, welche Anwendung finden sollte auf jede „Obliegenheit, die vor dem Eintritte des Versicherungsfalls dem Versicherer gegenüber zu erfüllen ist“ (§ 6 I VVG). Gleichzeitig gab der Gesetzgeber aber zum Teil den Bedenken nach, die Vertreter der Versicherungswirtschaft in den Sachverständigenkommissionen von 1902534 und auf der Mitgliederversammlung des DVfVW535 von 1903 geäußert hatten: das ursprünglich in § 29 des Reichsjustizamtsentwurfes geregelte Kriterium der „Arglist“ ließ der Gesetzgeber fallen, da der tatsächliche Nachweis arglistigen Handelns in der Praxis kaum zu erbringen war. Stattdessen sollten die AVB den Versicherungsnehmer nun auch schon bei grob fahrlässigem Verhalten nach dem Versicherungsfall mit Sanktionen belegen dürfen (§ 6 II VVG).536 Auf diese Weise war letzten Endes das „Verschuldensprinzip“ in seiner noch heute im Grundsatz geltenden Fassung537 kodifiziert worden. Die hier angezeichnete Entwicklung beweist zwei Tatsachen: erstens, dass der deutsche Gesetzgeber das Verschuldensprinzip nicht einfach aus fremden Quellen kopiert hat, sondern aus dem vorhandenen Erkenntnismaterial der ausländischen Gesetzgebung, der Wissenschaft und der RG-Rechtsprechung dynamisch fortent­ wickelt hat. Diese Vorgehensweise deutet darauf hin, dass der Gesetzgeber ernst­ haft nach möglichst effektiven Wegen suchte, den Versicherungsnehmer vor allzu ungünstigen Vertragsklauseln zu schützen.538 Zweitens zeigt das Beispiel aber, 532

Mot. VVG (1908) zu § 6. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 81; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 6 Rn. 1. Zu der Entwicklung des Verschuldensprinzips in der Rechtsprechung, s. nochmals PrOTr, Teilabdruck bei Malß, ZHR 13 (1869), 419, 447; BayHAG Slg. 1, 178, 185 f.; BOHGE 1, 108, 111; 2, 183 f.; ROHGE 5, 298, 303; RGZ 10, 158, 159; 22, 201, 206 ff.; 27, 151, 153. 533 §§ 28, 29, 31 RJA-E (1902) entspr. §§ 7–9 VVG-E (1903), § 6 VVG-BRV (1904), § 6 VVGRTV (1905), § 6 VVG-RTV (1907). Vgl. auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 302 (zum Entwurf von 1903). 534 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.27 (Feuerversiche­ rung 3. Sitzung zu § 29 RJA-E = § 6 II VVG); „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.69 (Hagelversicherung 1. Sitzung zu § 29 RJA-E = § 6 II VVG). 535 Denkschrift der Lebensversicherer v. 06. 10. 1903, S. 4; Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 94 f. 536 Zur Streichung des Arglisterfordernisses in § 29 RJA-E (1902) auf Veranlassung der Ver­ sicherer ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu § 6. 537 Vgl. § 28 VVG in der heute geltenden Fassung (wiederum mit einigen Modifikationen gegenüber der ursprünglichen Fassung des VVG). 538 S. auch schon ausdrücklich die zeitgenössischen Äußerungen während oder kurz nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens: Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 92; Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXV; Kuhlenbeck, DVfVWVeröff. 2 (1904), 82, 84. Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 102 ff.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

wie der Gesetzgeber auch den Interessen der Versicherungspraxis entgegen kam. Dank dieser differenzierten Vorgehensweise fällten letztlich weite Teile der Ver­ sicherungswissenschaft und sogar einige Vertreter der Praxis ein ausgesprochen positives Urteil über das Versicherungsvertragsgesetz: es habe verstanden, die Interessen beider Vertragsparteien in einen schonenden und gerechten Ausgleich zu bringen.539 d) Die Verwendung zwingenden und halbzwingenden Rechts Im Kontrast zum Dresdener Obligationenrechtsentwurf hat das VVG seine ver­ sichertenschützende Intention aber auch effektiv zur Geltung gebracht. Bereits in den Protokollen der „Dresdener Konferenzen“ von 1866 war die wirtschaftlichstrukturell schwache Rechtsposition des Versicherungsnehmers ausdrücklich zur Diskussion gelangt; allenthalben hatte der Obligationenrechtsentwurf den größ­ ten Teil seiner potentiellen Schlagkraft eingebüßt, indem sämtliche versicherten­ freundlichen Normen des Entwurfs in die freie Disposition der Parteien gestellt worden waren. Das VVG bediente sich im Gegensatz dazu einer Reihe von halbzwingenden Normen, welche die Position des Versicherten auch in der Rechtspraxis deutlich verbessern konnten.540 Ein prominentes Beispiel für solch halbzwingendes Recht fand sich zum Beispiel im soeben zitierten § 31 I des Reichsjustizamtsentwurfes, dem späteren § 6 III VVG: der Versicherer konnte insoweit nur einseitig vom gel­ tenden Gesetzesrecht – hier also vom „Verschuldensprinzip“ – abweichen, nämlich lediglich zugunsten des Versicherungsnehmers, nicht aber zu dessen Nachteil. Der Versicherer hätte – um beim oben verwendeten Beispiel der „Hobelspäne-­K lausel“ zu bleiben – also in Abweichung von § 6 I VVG bestimmen können, dass der Versi­ cherte seinen Ersatzanspruch erst verlor, wenn er aus grober Nachlässigkeit wieder­ holt seinen Betrieb nicht auskehrte; unzulässig wäre es aber gewesen, das tägliche Kehren zur rein objektiven Rechtsbedingung für den Versicherungsanspruch zu erheben, wie es in vorgesetzlicher Zeit oft geschehen war. Ähnliche halbzwingende Normen fanden sich über das ganze VVG verstreut.541 539

Vgl. auch Denkschrift Berliner Metall-Industrieller (1903), S. 1; Denkschrift der Feuerver­ sicherungs-VVaG v. 08. 10. 1903, S. 1; Denkschrift der Lebensversicherer v. 06. 10. 1903, S. 1; Duvinage (1987), S. 111, 124; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XX; Möller, VersR 9 (1958), 352, 353; Otto, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 16, 20. 540 Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89 f.; Duvinage (1987), S. 202; Möller, VersR 9 (1958), 352, 353; Müssener (2008), S. 317; Prölss, VersR 9 (1958), 354 f.; R. Raiser, VersR 9 (1958), 355; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 332. 541 Z. B. § 31 S. 1 VVG (1908) (zu Sanktionen wegen fehlerhafter Gefahranzeigen vor Ver­ tragsschluss bzw. bei Gefahrerhöhung); ebd. § 42 (versichertenschützende Regeln für den Fall eines Folgeprämienverzug); § 65 (Recht des Versicherten auf einen Rechtsbeistand bei der Schadensermittlung); § 72 S. 1 (versichertenschützende Regeln bei der Veräußerung des versicherten Gegenstandes); § 163 S. 1 („Unverfallbarkeit“ von Lebensversicherungspolicen); § 172 S. 1 (Anspruchserhaltung u. a. trotz Selbstmordes der auf ihr Leben versicherten Person).

C. Die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts 

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Im Gegensatz dazu kannte aber auch das VVG in allen Entwicklungsstadien absolut zwingende Normen – mithin solche, von denen weder zugunsten noch zu­ lasten des Versicherungsnehmers abgewichen werden durfte. Das galt etwa für das Verbot von erheblichen Überversicherungen542 oder, speziell in der Mobiliarfeuer­ versicherung, für das Verbot von Werttaxen, welche die Parteien bei später eintre­ tenden Wertverlusten nicht mehr korrigieren konnten.543 Desgleichen waren nach Sinn und Zweck all diejenigen Vorschriften beidseitig zwingend, die dem Schutz einer dritten Person dienten. Eine besondere gesetzliche Anordnung hielt das VVG in solchen Fällen nicht mehr für nötig.544 Ein typisches Beispiel fand sich wiede­ rum in der Versicherung auf fremde Leben, die nur rechtswirksam sein konnte, wenn der Dritte, auf dessen Leben die Versicherung geschlossen war, zugestimmt hatte.545 Die Technik absolut zwingenden Rechts war freilich schon aus den Ent­ würfen des 19. Jahrhunderts bekannt: während die neuartigen halbzwingenden Normen ein deutliches Indiz für einen versichertenschützenden Normzweck lie­ fern, wollten die absolut zwingenden Rechtsvorschriften in erster Linie das öffent­ liche Interesse wahren. Auch die differenzierte Verwendung zwingenden und halbzwingenden Rechts dürfte wiederum dem schweizerischen Entwurf von Hans Roelli zu verdanken sein. Roelli hatte seinem Entwurf am Ende einen umfassenden Katalog sämtlicher absolut zwingender und halbzwingender Vorschriften angefügt,546 der in der deut­ schen Kodifikationsdebatte sogar häufig explizite Erwähnung gefunden hatte.547 4. Zwischenfazit und Arbeitshypothese: das VVG als Fortführung der im 19. Jahrhundert angedeuteten Entwicklungstendenzen Im Wesentlichen setzte das VVG also den Weg fort, den das Binnenversiche­ rungsrecht schon im mittleren 19. Jahrhundert eingeschlagen hatte: auf der einen Seite haben auch Quellen außerhalb der Versicherungspraxis den ein oder anderen innovativen Gedanken in das Binnenversicherungsrecht hineingetragen, beispiels­ weise der versichertenfreundliche eidgenössische VVG-Entwurf oder die deutsche Rechtsprechung. Dass der Gesetzgeber dabei besonders gerne Gedanken impor­ tierte, die dem Schutz der Versicherungsnehmer dienten, passt gut zu dem Tenor, den die Rechtswissenschaft zur Jahrhundertwende angestimmt hatte – namentlich, dass die AVB der Versicherungsgesellschaften deren geschäftsunerfahrene Ver­ 542

§ 51 I, II Hs. 2 VVG (1908); vgl. ebd. § 59 III zur in betrügerischer Absicht geschlossenen Versicherung bei mehreren Versicherern. 543 § 87 S. 2 VVG (1908). 544 Vgl. auch Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), Vorwort S. XXVII. 545 § 159 II 1 VVG (1908). 546 Art. 81 I, II Entwurf VVG Schweiz (1902). 547 Z. B. Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 90; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 23; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 332; Rüdiger, ZVersWiss 2, Ergänzungsheft (1902), 1, 5.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

tragspartner oft in überspitzter Weise benachteiligten und daher dringend eines korrigierenden Eingriffs bedürften. Auf der anderen Seite konnte im VVG ein weiteres Mal die ausgeprägte Tendenz beobachtet werden, das Versicherungsrecht nach logischen Gesichtspunkten zu systematisieren und teilweise sogar in bislang fremde rechtsdogmatische Strukturen zu fügen. Das VVG von 1908 erscheint am Ende als ein Kulminationspunkt all jener Gedanken und Ansätze, die sich schon zur Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts allmählich entfaltet hatten, dabei zum Teil aber noch denkbar inkonsequent zur Ausführung gelangt waren. Vor allen Dingen jedoch besaßen die hier herausgearbeiteten Entwicklungsten­ denzen das Potential, den Einfluss rein versicherungspraktischer Regelungen auf die Gesetzgebung zurückzudrängen. Schon der äußerliche Überblick, den die letz­ ten Kapitel über die Genese und die Grundstrukturen des VVG vermittelt haben, rückt die von manchen Autoren wie Gärtner oder Duvinage geäußerte These, das VVG sei nichts anderes als eine „geglättete und bereinigte Deskription des vor­ gesetzlichen Ist-Zustandes“, also in ein überaus zweifelhaftes Licht. Diese Vermutung bietet nun mehr als genügend Anlass dazu, das häufig tra­ dierte Narrativ vom VVG als kodifiziertes Praxisrecht sorgfältig auf den Prüf­ stand zu stellen.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren Die Thesen, die seitens der moderneren Literatur zur Entwicklung des gesetz­ lichen Binnenversicherungsrechts vorgetragen werden und die teilweise mit gro­ ßem Engagement proklamieren, das Versicherungsrecht sei nichts anderes als eine bereinigte und geordnete Abbildung der vorgesetzlichen Versicherungs­ bedingungen, haben bislang keine ins Detail gehende Überprüfung gefunden. Nach der vorangehenden, gewissermaßen äußerlichen Betrachtung der vier deutschen Kodifikationsentwürfe des 19. Jahrhunderts und des Versicherungsvertragsgeset­ zes von 1908 sind aber bereits derart viele Zweifel und Ungereimtheiten an den bisher vorherrschenden Narrativen zu Tage gefördert worden, dass sich eine nähere, rechtshistorisch-kritische Untersuchung der deutschen Binnenversicherungsgesetz­ gebung als notwendig und sinnvoll erweist. Anknüpfend an die mittlerweile schon gewohnte Vorgehensweise sollen daher im Folgenden wieder einzelne dogmatische Figuren des Binnenversicherungsrechts einer tieferen rechtshistorischen Analyse unterzogen werden. Auf der einen Seite stehen wie bisher die Allgemeinen Versicherungsbedingungen der privaten Le­ bens- und Feuerversicherer im Zentrum der Betrachtung. Daneben soll in geeigne­ ten Fällen auch auf die Reglements der öffentlich-rechtlichen Brandversicherer ein Schlaglicht geworfen werden, die sich im 19. Jahrhundert, wie gesehen, zum Teil auf beträchtliche Weise den privaten Feuerversicherungsbedingungen angenähert

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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hatten. Auf gesetzlicher Seite liegt der Schwerpunkt der Betrachtung selbstredend auf dem Versicherungsvertragsgesetz von 1908, der ersten und bis heute einzigen gesamtdeutschen Kodifikation des Binnenversicherungsrechts; seine Entwicklung kann anhand der einzelnen Entwurfsstadien und Gesetzgebungsmaterialien nach­ vollzogen werden. Doch auch auf die vier versicherungsrechtlichen Kodifikationsentwürfe des 19. Jahrhunderts lohnt es sich, einen Blick zu werfen, jedoch nicht alleine aus histo­ risch-theoretischem Interesse: an den vier Entwürfen und vor allem ihren Motiven lässt sich messen, welche Ideen und Erwägungen über das 19. Jahrhundert hinweg für das gesetzlich weitgehend ungeregelte Binnenversicherungsrecht anleitend waren. Zahlreiche dieser Ideen prägten direkt oder indirekt auch die legislatori­ schen Arbeiten am VVG. Sie stellen damit nach allen bisherigen Erkenntnissen mehr als nur rechtsgeschichtliche Fußnoten dar: sie können der rechtshistorischen Forschung als wertvolle Indikatoren für die dogmengeschichtliche Entwicklung einzelner Figuren des Binnenversicherungsrechts dienen.

I. Das übernommene Risiko im Feuerversicherungsrecht Schon bei der Erforschung des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten hatte es einige Verwunderung hervorgerufen, wie der historische Gesetz­ geber bestrebt war, das vom Versicherer übernommene Risiko und die versicher­ baren Gegenstände so akribisch wie möglich aufzulisten, hauptsächlich für die Feuerversicherung. Welche Risiken der Feuerversicherer im Einzelnen überneh­ men will, so möchte man meinen, liegt alleine in seinem geschäftlichen Ermessen; das ALR hatte es nur seinem extrem kasuistischen Regelungsansatz zu verdanken, dass der Gesetzgeber auf diesem Gebiet überhaupt tätig werden wollte. Umso er­ staunlicher ist es nur, dass der Trend zu solchen gesetzlichen Vorschriften auch im gesamten 19. Jahrhundert nicht abflachte – selbst das Versicherungsvertrags­ gesetz von 1908 versuchte sich noch daran, in §§ 82–84 die vom Versicherer über­ nommene Gefahr näher zu definieren.548 Alleine die Gründe für dieses Phänomen sind andere als beim ALR: während das Preußische Landrecht noch den Eindruck machte, schlichtweg möglichst viel Material aus allen erdenklichen Praxisquellen zusammentragen zu wollen, so zeigen die Gesetzgebungsmaterialien zum VVG, wie die genannten Vorschriften im legislatorischen Prozess überaus sorgfältig re­ flektiert wurden. Doch hat der Gesetzgeber dabei auch tatsächlich das Recht der Praxis, also der Allgemeinen Feuerversicherungsbedingungen, abgebildet?

548 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

1. Die stetige Ausweitung der übernommenen Risiken in der Feuerversicherungspraxis Die Feuerversicherungspraxis selbst war in der erörterten Frage bereits seit den 1830er Jahren in ein denkbar ruhiges Fahrwasser geraten. Viele AVB glichen sich weitestgehend, was die Beschreibung der versicherten Risiken betraf. Sowohl die privaten als auch die öffentlichen Feuerversicherer hielten sämtlich auch den durch das Löschen und ähnliche Rettungshandlungen entstehenden Schaden für ersatz­ fähig,549 und nur noch in einigen Detailfragen, wie zum Beispiel der Frage nach dem Ersatz von Explosionsschäden, herrschte eine gewisse Bewegung.550 Eine Klausel aus den Verbandsbedingungen von 1874 kann den Entwicklungsstand der Praxis ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts repräsentieren:551 „§ 1. [1] Die Gesellschaft versichert gegen den Schaden, welcher den versicherten Gegen­ ständen durch Brand oder jede Art von Blitzschlag, sowie das dadurch veranlaßte Löschen, Niederreißen oder erwiesen notwendige Ausräumen zugefügt wird, und in der Beschä­ digung, Vernichtung oder dem Abhandenkommen versicherter Gegenstände besteht. [2] Ausgenommen von der Versicherung sind Kriegsschäden und solche Schäden, welche die Folge eines Überfalles durch bewaffnete Macht oder unrechtmäßige Gewalt, bürgerliche Unruhen, eines Aufruhrs, Erdbebens oder einer groben Verschuldung des Versicherten sind. Kriegsschäden sind diejenigen, welche während eines Krieges durch militärische Maßregeln auf Anordnung eines Befehlshabers entstehen. Bei Explosionen gehört nur ein daraus entstehender Feuerschaden zur Versicherung. Schäden durch Explosion des in den Versicherungsgebäuden angewandten Leuchtgases werden jedoch wie Brandschäden behandelt. Wenn ein zu irgend einem Zwecke des Haushaltes oder Gewerbebetriebes der Einwirkung der Wärme oder des Feuers ausgesetzter Gegenstand dadurch in Brand gera­ 549

§ 14 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833) (Lappenberg XII, 258); § 54 S. 1 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836) (PrGS 1836, 13); § 1 I Hs. 2 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34); § 47 S. 1 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846) (PrGS 1846, 171); § 76 S. 2 Revidir­ tes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS 1859, 477); § 1 S. 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); § 34 S. 1 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (PrGS 1862, 80); § 45 Nr. 3 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS 1863, 545); § 50 I Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (PrGS 1863, 578); § 12 Nr. 4, 5 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66); § 20 I Statut Mobiliarversicherung der landschaft­lichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (PrGS 1871, 163); § 5 III Revidirtes Re­ glement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122); § 1 I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB I, 75); § 1 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383); § 3 Badi­ sches Gebäudeversicherungsgesetz (1902) (Sammlung-AVB I, 79); A § 3 I 2 Reglement Provin­ zial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99); Art. 28 I 1 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB  I,  71). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 233; von Liebig (1911), S. 96; Müssener (2008), S. 251 (zu den AVB der Aachener und Münchener). 550 Zur Steigerung des Leistungsumfangs im 19. Jhdt. s. auch schon § 3 B II 1 dieser For­ schungsarbeit. 551 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 38.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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ten oder beschädigt ist, so wird nur der an den übrigen versicherten Gegenständen hierbei entstandene Schaden ersetzt.“

Drei weit verbreitete Praktiken, die sich im zweiten Absatz dieser AVB nieder­ geschlagen haben, sind einer besonderen Erwähnung wert: einmal die Kriegsscha­ densklausel in § 1 II 1, 2, welche zwischen den unmittelbar auf militärische An­ ordnung verursachten und den nur zufälligerweise bei Gelegenheit eines Krieges ausbrechenden Bränden differenzierte.552 In diese Richtung zeigte auch die Pra­ xis der meisten staatlichen Feuersozietäten; diese hielten nur diejenigen Brände für nicht versicherungsfähig, welche infolge einer rechtmäßigen Kriegshandlung auf direkten militärischen Befehl entstanden.553 Jenen unversicherbaren Kriegs­ schäden waren die – versicherungsmathematisch ebenso schwer kalkulierbaren – Brandschäden gleichgestellt, die infolge von bürgerlichen Unruhen oder Erdbeben entstanden.554 Zweitens versicherten die privaten Feuerversicherungsgesellschaften nicht gegen Explosionen, solange diese keinen eigentlichen Brand entzündeten, sondern nur Schäden durch Verpuffung hinterließen; anders handhabte man nur Leuchtgasver­ puffungen (§ 1 II 3, 4).555 Im Kontrast dazu stand die Praxis bei Blitzschlägen (§ 1 I): 552

So auch § 1 II AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 1 S. 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 1  III Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886); § 1 III AVB Aachener und Mün­ chener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); Art. 29 AVB Württembergische Privatfeuer­ versicherung (1905). Zu Kriegsschadensklauseln im Allgemeinen auch V. Ehrenberg, Versi­ cherungsrecht (1893), S. 324; Müssener (2008), S. 179 f. 553 §§ 50–53 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); §§ 43–46 Reg­ lement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846); §§ 72–75 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859); §§ 30–33 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); §§ 46–49 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); § 5 I 2 Revidirtes Regle­ ment Feuersozietät Altpommern (1872); § 4 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902); A § 3 VII Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903). Anders aber § 3 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863); § 12 Nr. 1 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867); § 21 Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungs­ gesellschaft Westpreußen (1871) (Ersatz auch von Kriegsschäden); zum Ersatz von Kriegs­ schäden bei manchen Sozietäten auch Brämer / Brämer (1894), S. 233; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 84 Rn. 2; von Liebig (1911), S. 88. 554 Vgl. auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 324; Müssener (2008), S. 176, 179 f. (zu den AVB der Aachener und Münchener). 555 So auch § 54 S. 2 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); § 1 III AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (ohne Leuchtgasverpuffungen); § 47 S. 2 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846); § 76 S. 3 Revidirtes Reglement Westphä­ lische Provinzial-Feuersozietät (1859); § 1 S. 3 AVB Aachener und Münchener Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft (1860); § 34 S. 2 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); § 50 I 2, II Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); § 20 II Statut Mobiliarversiche­ rung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871); § 5 II Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872); § 1 II Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuer­ versicherungs-Gesellschaften (1886); § 1 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-­ Gesellschaft (1888); A § 3 I 1 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinpro­ vinz (1903). Vgl. von Liebig (1911), S. 83 f.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 63 f.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

die privaten und die öffentlichen Versicherer behandelten ausdrücklich den „hei­ ßen“ und den „kalten“ Blitzschlag als Versicherungsfall; es war also gleichgültig, ob durch den Blitz ein Feuer entstand oder nicht.556 Um die Wende zum 20. Jahr­ hundert zeichnete sich allerdings auch eine Änderung der Praxis bei Explosions­ schäden ab, als eine allmählich steigende Zahl von Versicherern auch das Risiko bloßer Verpuffungen, also von Explosionen ohne eigentliche Brandentwicklung, übernahm. Eine Vorreiterrolle nahmen in dieser Hinsicht die staatlichen Feuerso­ zietäten ein, wohingegen die Privatfeuerversicherer erst später, nämlich erst zum Ende des 19. Jahrhunderts, nachzogen; die meisten privaten Versicherer wollten die generelle Explosionsgefahr im Übrigen nur dann übernehmen, wenn Entspre­ chendes in einer gesonderten, individuellen Parteivereinbarung festgehalten war.557 2. Die Abkehr von kasuistischen Riskodefinitionen in den Entwürfen des 19. Jahrhunderts Den Entwurfsverfassern in der Mitte des 19. Jahrhunderts, ganz besonders den Urhebern des württembergischen und des preußischen HGB-Entwurfes, schien es tatsächlich noch darum zu gegangen zu sein, die einschlägige Feuerversicherungs­ praxis möglichst umfassend in Gesetzesform zu gießen. Hingegen lässt sich hier

556

So auch § 14 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833); § 54 S. 1 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); § 1 I Hs. 1 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 47 S. 1 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846); § 76 S. 1 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859); § 1 S. 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 34 S. 1 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); § 45 Nr. 2 Revidirtes Reglement Feuersozie­ tät Sachsen (1863); § 50 I 1 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); § 20 I Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871); § 12 Nr. 2 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867); § 5  I  1 Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872); § 1 II Verbands-AVB Deutscher Privat-FeuerversicherungsGesellschaften (1886); § 1 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 3 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902); A § 3 I 1 Reglement ProvinzialFeuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903); Art. 28 I 1 AVB Württembergische Pri­ vatfeuerversicherung (1905). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 231; von Liebig (1911), S. 83; Müssener (2008), S. 172, führt die Einbeziehung von „kalten“ Blitzschlägen auf vereinzelte Gerichtsurteile der 1830er-Jahre zurück. 557 So schon § 12 Nr. 3 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867); vgl. § 1 II Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Versicherung gegen andere als Leuchtgasverpuffungen bei individueller Vereinbarung); § 1 II AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888) (Versicherung gegen alle Explosionen bei individuel­ ler Vereinbarung); A § 3 II Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Versicherung gegen alle Explosionen bei individueller Vereinbarung); Art. 28 I AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905) (Versicherung gegen alle außer Dampfkes­ sel- oder Sprengstoffexplosionen). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 231 f.; Manes (1905), S. 360; Müssener (2008), S. 176 (zu den AVB der Aachener und Münchener); Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 65.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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noch nirgends die Überlegung erkennen, ob eine gesetzliche Regelung zum Um­ fang des übernommenen Feuerrisikos überhaupt sinnvoll oder zweckdienlich ist. Noch dazu waren die Regeln der beiden HGB-Entwürfe an diesem Punkt ohnehin dispositiv und dürften daher im praktischen Rechtsleben keine sonderliche Rele­ vanz besessen haben. Beispielhaft hieß es in den Art. 489–491 des württember­ gischen HGB-Entwurfes unter der Überschrift „Haftpflicht des Versicherers“:558 „Art. 489. [1] Der Versicherer haftet für allen durch Brand an den Versicherungsgegenstän­ den verursachten Schaden, ohne Rücksicht auf die Entstehungsart des Brandes, wenn ihn nicht die Verschuldung des Versicherten davon befreit (Art. 461.). [2] Die von den Parteien etwa ausgenommenen Entstehungsarten müssen in der Police aufgeführt seyn, wenn es von Wirkung seyn soll. Art. 490. [1] Dem durch den Brand unmittelbar verursachten Schaden gilt derjenige gleich, welcher in Folge eines entstandenen Brandes, mag auch derselbe nur in der Nachbarschaft ausgebrochen seyn, durch das Löschen oder Retten an den Versicherungsgegenständen entsteht. [2] Namentlich gehört auch dahin, wenn solche Gegenstände beim Löschen oder Retten entwendet oder sonst vermißt werden; oder wenn die ganze oder theilweise Vernich­ tung des Versicherten zu Dämpfung des Brandes angewendet wird. Art. 491. Das gleiche gilt von dem Schaden, welcher aus der Entzündung von Schießpulver und ähnlichen Stoffen, aus dem Zerspringen eines Dampfkessels und aus dem Einschlagen des Blitzes entsteht, wenn auch kein Brand darauf folgte.“

Der Entwurf Hofackers von 1839 sah damit, ebenso wie die Feuerversicherungs­ bedingungen, den Ersatz von allen Schäden vor, die durch das Löschen, Retten oder Niederreißen des versicherten Gegenstandes entstanden (Art. 490). Auch der in der Praxis häufig gewährte Schadensersatz infolge eines „kalten Blitzschla­ ges“ fand Ausdruck in Art. 491 des württembergischen Entwurfes. Sogar ganz ausdrücklich verwiesen die Motive des Hofacker-Entwurfes dabei auf die Praxis einiger – nicht näher benannter – AVB; selbst die Gesetzeslage in den Niederlan­ den liege auf dieser Linie.559 Vollkommen fehlte es dem Entwurf nur an Vorschriften zum Kriegsfall oder zu bürgerlichen Unruhen. Lediglich aus den württembergischen Motiven erschließt sich, dass die Formulierung des „Brandes an den Versicherungsgegenständen“, praktisch kraft Natur der Sache, Feuerschäden wie zum Beispiel die militärisch angeordnete Brandlegung nicht umfassen sollte.560 Im Prinzip wollte der Entwurfs­ verfasser also auch hier die gelebte Praxis kodifizieren; allenthalben erschien es ihm wohl für so selbstverständlich, unmittelbare Kriegsschäden nicht als versicher­ bares Brandereignis zu begreifen, dass er auf eine gesonderte Erwähnung dieser Praxis im Entwurfstext verzichtete.

558

Abgedruckt als Textausgabe (1839). Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 498–491 (Textausgabe 1840), je mit Verweisen u. a. auf Art. 290–292 Wetboek van Koophandel (1838) (Officiële Uitgave, 1838). 560 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 489 II. 559

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Auf der anderen Seite zeugen die württembergischen Motive aber auch aus­ drücklich davon, dass das Gesetz dem Versicherten mit voller Absicht eine bessere Rechtsposition einräumen sollte als die bis dato existierende, zeitgenössische Pra­ xis: die Explosionsschadensklausel in Art. 491 begünstigte den Versicherten gegen­ über den meisten zeitgenössischen AVB, indem sie auch die „kalte“ Verpuffung erfasste.561 Jedoch darf an der Wirkungsmacht dieses Art. 491 gezweifelt werden: selbst wenn der Entwurf in Kraft getreten wäre, hätte der Versicherer jene Rege­ lung schließlich abbedingen können, indem er auf der Feuerversicherungspolice die „etwa ausgenommenen Entstehungsarten“ ausdrücklich aufführte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts brach sich dann allmählich der Ge­ danke Bahn, die Gefahrdefinition sei besser den Vertragsparteien zu überlassen. Noch der preußische HGB-Entwurf von 1857 wollte zwar fast gleichlautende Regeln zur Kodifikation bringen wie der württembergische,562 wobei er sogar in seinen Motiven auf den Hofacker-Entwurf Bezug nahm.563 Die beiden folgenden Entwürfe übten sich allerdings in Zurückhaltung. Laut Art. 801 des bayerischen BGB-Entwurfes von 1861 war jede tatsächliche Gefahr der Versicherung fähig; eine spezifische Regelung zu den einzelnen Feuerrisiken sah der bayerische Ent­ wurf aber nicht mehr vor. Im 1866 vollendeten Dresdener Obligationenrechtent­ wurf wird man ebenfalls jede Regel über den Umfang der übernommenen Gefahr vergeblich suchen.564 3. Die Gefahrdefinitionen in §§ 82–84 VVG als versichertenfreundliches „Regelrecht“ Gleich den beiden späteren Kodifikationsentwürfen aus dem 19. Jahrhundert schwieg sich übrigens auch der schweizerische VVG-Entwurf von Hans Roelli über die vom Feuerversicherer zu tragenden Gefahren aus.565 Mag der Roelli-­Entwurf auch in vielen anderen Dingen dem deutschen Versicherungsvertragsgesetz als Vorbild gedient haben, so tat er es in dieser Hinsicht jedenfalls nicht: wie schon angedeutet, erlebten die gesetzlichen Normen zum Umfang der übernommenen Brandrisiken in §§ 82–84 VVG eine wahre Renaissance.566

561

Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 491, mit Verweis auf Art. 292 Wetboek van Koop­ handel (1838). 562 Art. 356–358 HGB-Entwurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857). 563 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 356–358 (Textausgabe, 1857). 564 Art. 894 Entwurf Dresd. OR (1866) (Textausgabe von Hrsg. Francke, 1866) erlaubte nur noch abstrakt die Versicherung für den Eintritt „eines bestimmten Ereignisses“; vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 350. 565 Art. 32 Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1) ließ den Versicherer schlicht für alle „Merkmale der Gefahr“ haften, welche er übernommen hatte; vgl. auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 61; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 342 f. 566 Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 342.

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Aber schon bevor man diese Paragraphen näher untersucht, drängt sich doch die Frage auf, warum der Gesetzgeber, der jenen Bereich schon seit ungefähr 1860 der freien Disposition der Parteien überlassen hatte, nun doch wieder eine entspre­ chende Kodifikation in Angriff nahm. Zwingend oder halbzwingend waren die §§ 82–84 VVG zumindest nicht.567 Dennoch war in den Beratungen zum VVG im­ mer wieder die Hoffnung zum Ausdruck gekommen, die Kodifikation der §§ 82–84 VVG könne den Versicherten vor unerwünscht restriktiven Risikodefinitionen in der Feuerversicherungspraxis bewahren. Im Wesentlichen ging man dabei von der Idee aus, dass das Kaiserliche Aufsichtsamt jede Abweichung der privatwirt­ schaftlichen AVB vom gesetzlichen Regelfall sorgfältig überprüfen werde und die Feuerversicherungsgesellschaften daher nur noch mit erhöhtem Begründungsauf­ wand von der gesetzlichen Definition der Feuergefahr abweichen könnten. Eine ähnliche, jedenfalls wirtschaftlich-faktisch zwingende Wirkung erhoffte man sich vom Konkurrenzdruck, der unter den Gesellschaften herrsche.568 Aber stellten die §§ 82–84 VVG den Versicherten denn nur wirklich materiellrechtlich besser, als es die gebräuchlichen AVB in der Zeit um 1900 getan hatten? In der Fassung des 1908 in Kraft getretenen Versicherungsvertragsgesetzes lau­ teten die § 82–84: „§ 82. Der Versicherer haftet für den durch Brand, Explosion oder Blitzschlag entstehen­ den Schaden. § 83. [1] Im Falle eines Brandes hat der Versicherer den durch die Zerstörung oder die Be­ schädigung der versicherten Sachen entstehenden Schaden zu ersetzen, soweit die Zerstö­ rung oder die Beschädigung auf der Einwirkung des Feuers beruht oder die unvermeidliche Folge des Brandereignisses ist. Der Versicherer hat auch den Schaden zu ersetzen, der bei dem Brande durch Löschen, Niederreißen oder Ausräumen verursacht wird; das Gleiche gilt von einem Schaden, der dadurch entsteht, daß versicherte Sachen bei dem Brande abhanden kommen. [2] Auf die Haftung des Versicherers für den durch Explosion oder Blitzschlag entstehenden Schaden finden diese Vorschriften entsprechende Anwendung. § 84. Der Versicherer haftet nicht, wenn der Brand oder die Explosion, durch ein Erdbeben oder durch Maßregeln verursacht wird, die im Kriege oder nach Erklärung des Kriegszu­ standes von einem militärischen Befehlshaber angeordnet worden sind.“

Auf den ersten Blick stechen vor allem die – in der Tat sehr weitreichenden – Gemeinsamkeiten zu den Feuerversicherungsbedingungen des 19. Jahrhunderts ins Auge: sei es, dass der Versicherte gem. §§ 82, 83 II VVG auch für Blitzschläge einschließlich des bloßen „kalten Schlages“569 haften musste, sei es, dass auch 567

Mot. VVG (1908) zu §§ 82–84 (Nachdruck [1963], S. 59). Vgl. auch e contrario §§ 81 II, 107 VVG (1908), welche die nicht-dispositiven Normen des Feuerversicherungsrechts aufzählten; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 82 Rn. 3, § 83 Rn. 14, § 84 Rn. 7. 568 Bischoff, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 65, 71 f. (aus Sicht der Versicherer); Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 243; V. Ehrenberg, DVfVW-Ver­ öff. 2 (1904), 11 f.; R. Raiser, VersR 9 (1958), 355, 356. 569 Ausdrücklich Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 501; so auch Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 82 Rn. 2; von Liebig (1911), S. 84.

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Schäden infolge des Löschens, Niederreißens, Ausräumens oder Abhandenkom­ mens der versicherten Gegenstände als Brandschäden galten (§ 83 I 2 VVG), oder sei es, dass Kriegsschäden nur dann nicht ersatzfähig waren, wenn sie auf Maß­ regeln eines militärischen Befehlshabers beruhten (§ 84 VVG).570 Die Motive zum VVG bezeugen den Gleichklang mit den vorgesetzlichen AVB aber nur zum Teil: kodifiziert worden sei einerseits das Praxisrecht der gebräuchlichen AVB, ande­ rerseits gehe das Gesetz aber noch über die vorgesetzliche Praxis hinaus.571 Zwei einzelne Rechtsentwicklungen im VVG standen nämlich doch im merklichen Kontrast zum Praxisrecht. Zugunsten des Versicherten wich § 82 VVG von den Feuerversicherungs­ bedingungen ab, indem er auch die Explosion an sich – nämlich als gleichwertiges Schadensereignis neben „Brand“ und „Blitzschlag“ – als versicherte Gefahr be­ zeichnete. Damit war jede Art von Explosion, mithin auch die „kalte Verpuffung“, von der Definition des ersatzfähigen Feuerschadens umfasst – ganz im Gegensatz beispielsweise zu den Verbandbedingungen von 1874 oder 1886, die ausdrücklich entweder eine Leuchtgasexplosion oder eine direkte Brandentwicklung infolge der Explosion forderten.572 Die kalte Verpuffung hatte schon der Reichsjustiz­ amts-Entwurf von 1902 in den Kreis der versicherten Risiken einbezogen,573 und zwar den Vorschlägen der Feuerversicherungsgesellschaften zum Trotz, welche aus versicherungstechnischen Gründen höchstens noch Leuchtgasexplosionen für ersatzfähig hielten.574 Eine wesentliche Änderung erfuhr diese gesetzliche Vorschrift bis zum Inkrafttreten des VVG seitdem nicht mehr,575 obwohl in der Reichstagskommission von 1905 teilweise beantragt worden war, die gesetzliche Risikodefinition insoweit wieder auf reine Leuchtgasexplosionen zu beschränken. Nur das, so argumentierten die Verfechter jener Einschränkung, entspreche näm­ lich der herrschenden Praxis; außerdem dürfe keinem Feuerversicherten eine ihm möglicherweise nutzlose Explosionsschadensversicherung aufgedrängt werden, zumal dadurch zwangsläufig auch die Versicherungsprämien steigen müssten.576 Durchsetzen konnte sich am Ende die Gegenansicht: sie wies darauf hin, wie sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei einigen privaten Feuerversicherern, vor al­ lem aber auch in etlichen öffentlich-rechtlichen Sozietäten-Reglements schon die Tendenz zur Übernahme der vollständigen, uneingeschränkten Explosionsgefahr abzeichne – eine begrüßenswerte Tendenz, die der Gesetzgeber durch sein Prä­ 570

Zu alledem auch von Liebig (1911), S. 82 ff.; Müssener (2008), S. 172 ff. Mot. VVG (1908) zu §§ 82–84. 572 Ausdrücklich zum Widerspruch des VVG zu den AVB: Mot. VVG (1908) zu §§ 82–84. Dazu auch von Liebig (1911), S. 84. 573 § 70 RJA-E (1902) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91); vgl. auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 63 (zur identischen Passage im Entwurf von 1903). 574 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 256 f. 575 § 70 RJA-E (1902) entspr. § 83 VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); § 80 VVG-BRV (1904) (GStA PK, I.  HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); § 82 VVG-RTV (1905) (Nachdruck  [1963], S. 440); § 82 VVG-RTV (1907) (Nachdruck [1963], S. 524); § 82 VVG (1908). 576 Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 337. Dazu auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 82 Rn. 1; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 670. 571

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judiz nicht umkehren dürfe.577 Letzten Endes lässt sich also konstatieren, dass der Gesetzgeber in § 82 VVG eine um 1900 nur vereinzelt geübte Feuerversicherungs­ praxis kodifiziert hat, um ihre Verbreitung aktiv zu fördern. Zweitens lassen sich aber auch die Risikoausschlüsse, die der VVG-Gesetz­geber in § 84 VVG kodifiziert hat, nicht einfach als Übernahme der vorgesetzlichen Praxis bewerten. Am wenigsten problematisch ist die dort enthaltene Kriegsscha­ densklausel, die gerade eben schon inhaltlich gestreift wurde. Die übrigen Dis­ kussionen, die während der Gesetzgebungsarbeiten über die Risikoausschlüsse des § 84 VVG geführt wurden, gewähren jedoch einen Einblick, wie eingehend der Ge­ setzgeber reflektierte, ob die in der Praxis gewachsenen Klauseln auch seinen eige­ nen handwerklichen Ansprüchen an ein modernes Gesetzgebungswerk genügten. Auf der einen Seite bediente der Risikoausschluss bei Erdbeben alleine die Be­ dürfnisse der Feuerversicherungspraxis; diese Bedürfnisse hatten sich schon in den Verbandsbedingungen von 1874 niedergeschlagen. Man mag sich nun die be­ rechtigte Frage stellen, warum solche Klauseln für eine deutsche Versicherungs­ gesellschaft überhaupt relevant sein sollten; entsprechend umstritten war die Norm im Gesetzgebungsverfahren, da die Regierung eine solche Erdbebenklausel aus gesetzgebungstechnischen Gründen schlicht und ergreifend für überflüssig hielt.578 Tatsächlich fügte man diese Klausel erst im denkbar letzten Moment, nämlich wäh­ rend der Verhandlungen der XII. Reichstagskommission im Jahr 1907, ins VVG ein.579 Der Grund dafür lag ausweislich der Reichstagsprotokolle im verheerenden Erdbeben von San Francisco, welches am 18. 04. 1906 große Teile der besagten Stadt verwüstet und auch das „general-foreign-Geschäft“ einiger deutscher Versicherer betroffen hatte.580 Reichstagskommission und Regierung erkannten in der Folge an, dass der Risikoausschluss bei Massenkatastrophen wie Erdbeben dringend nötig war, um die versicherungsmathematische Stabilität der deutschen Feuerversiche­ rungsgesellschaften nicht zu gefährden – zumal viele ausländische Rückversiche­ rer sich gescheut hatten, mit einigen deutschen Gesellschaften zu zeichnen, die selbst bei Erdbeben Schadensersatz versprachen.581 Zur gleichen Zeit führten auch etliche Privatversicherer, die bislang keine dahingehende Bestimmung getroffen hatten, solche „Erdbebenklauseln“ in ihre AVB ein.582 Gewissermaßen erfolgte die Änderung des § 84 VVG Hand in Hand mit entsprechenden Reformen in der Praxis. 577

Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 337. Vgl. Prot. XII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 502 f. 579 Der zu § 84 VVG (1908) im Übrigen parallele § 84 VVG-RTV (1907) enthielt noch keine Erdbebenklausel. Vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 84 Rn. 2. 580 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 29 ff.; FS 125 Jahre Aachen-Mün­ chener (1950), S. 51 f. 581 Prot. XII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 503; vgl. auch Gerhard / Hagen / von ­Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 84 Rn. 4. Allgemein zu den wirtschaftlichen Aus­ wirkungen des Erdbebens, insbesondere für die deutschen Feuerversicherer Kohnke, ZVers­ Wiss 8 (1908), 1, 2 f.; von Liebig (1911), S. 78 f. 582 FS 100 Jahre München-Aachener in Bayern (1934), S. 31. 578

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Auf der anderen Seite setzte sich der Gesetzgeber der herrschenden Feuerver­ sicherungspraxis aber auch entgegen, als es um Risikoausschlüsse für den Fall von „bürgerlichen Unruhen“ oder „Aufständen“ ging. Die VVG-Entwürfe von 1902 und 1903 hatten diese Fallgruppen in Anlehnung an die ganz gängige Formulie­ rung der Allgemeinen Feuerversicherungsbedingungen noch enthalten.583 Jedoch befürchteten die Vertreter der Versichertenseite, der von der Strafjustiz sehr ex­ tensiv ausgelegte Begriff des „Landfriedensbruchs“ (§§ 115, 125 StGB) könne von den Zivilgerichten benutzt werden, um gesetzliche Bestimmungen zu „bürger­ lichen Unruhen“ und „Aufständen“ auszulegen; das würde in einer enormen Zahl von Fällen zu Leistungsausschlüssen zulasten der Versicherten führen.584 Schon die Bundesratsvorlage von 1904 hatte daher auf eine dahingehende Formulierung vollkommen verzichtet,585 und auch § 84 VVG kannte den in der Praxis bis dato üblichen Risikoausschluss nicht mehr. Am Ende des Tages wird man sich immer vor Augen halten müssen, dass das VVG insoweit nur ein dispositives „Regelrecht“ darstellte und letztlich, wie er­ örtert, nur über den Umweg der Versicherungsaufsicht auf die Praxis einwirken konnte. Dennoch konnte bereits die Untersuchung zur Definition des versicherten Feuerrisikos exemplarisch demonstrieren, wie das VVG versuchte, eine ausgewo­ gene, vermittelnde Rechtsposition zwischen den unabdingbaren Bedürfnissen der Versicherungstechnik und dem Schutz der Versicherungsnehmer bzw. Versicher­ ten einzunehmen.

II. Die Versicherbarkeit imaginären Gewinns und mittelbarer Folgeschäden Das Bereicherungsverbot gehörte während des gesamten 19. Jahrhunderts bis hin zum VVG fraglos zu den tragenden Grundpfeilern des Schadensversiche­ rungsrechts. So hieß es auch in § 55 VVG eindeutig, der Versicherer sei in kei­ nem Fall „verpflichtet, mehr als den Betrag des Schadens zu ersetzen“586 – eine Formulierung, die in ganz ähnlicher Form allen Entwürfen des 19. Jahrhunderts gemein war.587 583 § 68 S. 2 RJA-E (1902), entspr. § 81 S. 2 VVG-E (1903). Vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 84 Rn. 3. Vgl. zu den vorgesetzlichen AVB auch Denk­ schrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 257. 584 Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 84 Rn. 3. 585 Vgl. § 81 VVG-BRV (1904); entspr. § 84 VVG-RTV (1905); § 84 VVG-RTV (1907); § 84 VVG (1908). Vgl. auch Mot. VVG (1908) zu §§ 82–84; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), § 84 Rn. 3; Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 188. 586 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908. 587 Ähnlich Art. 435 HGB-Entwurf Württemberg (1839) (Textausgabe, 1839); Art. 332  I HGB-­Entwurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857); Art. 808 I, 817 I BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textausgabe, 1861); Art. 897 I 2 Entwurf Dresd. OR (1866) (Textausgabe von Hrsg. Francke, 1866).

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Eine viel differenziertere Betrachtung fand allerdings die Frage, welche Posi­ tionen denn überhaupt zum versicherbaren Interesse zählten. Noch das preußische Landrecht hatte in dieser Hinsicht auch zukünftige Gewinnerwartungen zum ver­ sicherbaren Interesse gezählt und darüber hinaus sogar die Versicherung reiner Kursverluste zugelassen, wenn auch mit strengen Einschränkungen.588 Auch die ältesten Feuerversicherungsgesellschaften hatten Versicherungen auf imaginären Gewinn übernommen.589 Ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts begannen einige deutsche Staaten jedoch, mit der entschiedenen Schärfe des Polizeirechts auch gegen die Gewinnversicherung vorzugehen. So liefert die dogmengeschicht­ liche Entwicklung des Interessebegriffs – vor allem mit Blick auf die Zulässigkeit von Gewinnversicherungen – ein anschauliches Beispiel dafür, wie sich aus den einzelnen Entwürfen des 19. Jahrhunderts und schließlich dem VVG ein allmäh­ licher gesetzgeberischer Sinneswandel ablesen lässt. 1. Die Praxis unter den „Mobiliarfeuerversicherungsgesetzen“: ein rigides Verbot der Gewinnversicherung In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschte die Gesetzgebung noch gänzlich der Gedanke, dass jede Versicherung, die dem Versicherten im Schadens­ fall eine höhere Summe als den „gemeinen“ Sachwert versprach, im Endeffekt einen gefährlichen Fehlanreiz zu Brandstiftungen liefern würde. Diese Idee war schon zu Zeiten entstanden, als die gesamte Staatstheorie noch aus dem Blick­ winkel des Kameralismus betrachtet wurde; auch im 19. Jahrhundert blieb sie für lange Zeit unangefochten. So schritt die Gesetzgebung mehrerer Territorialstaaten ab den 1830er Jahren gegen jegliche Praxis der privaten Mobiliarfeuerversiche­ rer ein, hinter der man einen Quell der Bereicherung und somit einen Anreiz zur Brandstiftung vermutete.590 Das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz vom 08. 05. 1837591 verbot, parallel zu seinem württembergischen Pendant,592 unter Strafandrohung593 jede Feuerversicherung beweglicher Gegenstände, die den „gemeinen Werth zur Zeit 588

§§ 1991–1994 ALR (1794) (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer, 3. Aufl. 1996). Dazu insgesamt unter § 2 D II 3. 590 Zu dieser Motivation ausdrücklich Bluntschli / Dahn (3. Aufl.  1864), § 162.2 (S. 501 f.); Duvinage (1987), S. 11; von Liebig (1911), S. 97; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 124. 591 Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837 (PrGS 1837, 102). Zu den Mobiliarfeuerversicherungsgesetze der 1830er-Jahre vgl. en detail schon § 3 B II 3. 592 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (RegBl. Württemberg 1830, 207). 593 § 20  I Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v.  08. 05. 1837 („eine dem Betrage der Ueberschreitung gleichkommende Geldbuße“ bei wissentlichen Verstößen). Vgl. auch Art. 15 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des be­ weglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (Konfiskation der halben Versiche­ rungssumme durch den Fiskus). 589

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der Versicherungsnahme“ überstieg.594 Durchgesetzt wurde diese Anordnung mit den Mitteln des Polizeirechts: die örtlichen Polizeibehörden waren befugt und ver­ pflichtet, jede einzelne Versicherungspolice auf eine etwaige Überversicherung zu überprüfen595 und die Versicherungssumme gegebenenfalls durch hoheitlichen Eingriff herabzusetzen.596 Per Kabinettsordre vom 30. 05. 1841 dehnte das König­ reich Preußen diese polizeilichen Beschränkungen auch auf die privat betriebene Gebäudefeuerversicherung aus.597 Effektiv war den preußischen Feuerversicherungsgesellschaften damit auch die Versicherung imaginären Gewinns nicht mehr möglich; gleiches galt freilich in Württemberg. Der Rechtspraxis blieb nichts übrig, als sich der harten Linie der Partikulargesetzgeber zu fügen. Bemerkenswert ist nur, wie die versicherungs­ polizeilichen Vorschriften de facto weit über den räumlichen Geltungsbereich der einschlägigen Gesetze hinausgriffen – die Verbandsbildung unter den Feuer­ versicherern und die Vereinheitlichung ihrer AVB führten letzten Endes dazu, dass auch die privaten Feuerversicherungsgesellschaften anderer deutscher Staa­ ten keine Gewinnversicherung mehr offerierten. Noch 1886 hieß es in den Be­ dingungen des Verbandes deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften prägnant:598 „§ 7. [1] Die Versicherung soll nicht zu einem Gewinn führen; ihr alleiniger Zweck ist der Ersatz des nach dem wahren Werte der versicherten Gegenstände zur Zeit des Brandes unter Ausschluß des entgangenen Gewinnes festzustellenden Schadens, gegen welchen nach § 1 Versicherung gewährt ist. […]“

594 § 1 I Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837; Art. 1 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830. 595 § 14 I Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837; Art. 6 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830. 596 Ausdrücklich § 4 I 1 Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837. Vgl. insgesamt auch Brämer / Brämer (1894), S. 40 ff. (zum preußischen und württembergi­ schen Mobiliarfeuerversicherungsgesetz); Duvinage (1987), S. 11 f.; von Liebig (1911), S. 97; ­Müssener (2008), S. 253; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 119; Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 160. 597 Allerhöchste Kabinettsordre vom 30. Mai 1841, die Ausdehnung der Bestimmungen in den §§. 14. und 15. des Gesetzes über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen vom 8. Mai 1837 auf Versicherung von Immobilien bei in- und ausländischen Feuer-Versicherungsgesell­ schaften betreffend (PrGS 1841, 122). 598 Abgedruckt in Sammlung-AVB  I,  75. Zum Verbot der Gewinnversicherung vgl. auch ausdrücklich § 7 I 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); § 7 I Hs. 1 Verbands-AVB Deutscher Privat-FeuerversicherungsGesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38); § 7 I AVB Aachener und Münchener Feuerver­ sicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383); § 14 I 2 AVB Gothaer Feuerver­ sicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 232 f.; Müssener (2008), S. 254.

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Die staatlichen Gebäude- oder Mobiliarfeuersozietäten sprachen denselben Grundsatz zwar selten laut aus,599 verfolgten aber eine identische Praxis, indem sie die Versicherung mit derselben Wortwahl wie das preußische Mobiliarfeuer­ versicherungsgesetz lediglich auf den „gemeinen Wert“ des Gebäudes zuließen.600 2. Die Gesetzgebung im 19. Jahrhundert: die Gewinnversicherung auf dem Rückzug An den vier Gesetzentwürfen, die sich im 19. Jahrhundert mit der Kodifikation des Binnenversicherungsrechts befassten, lässt sich ablesen, wie stark die Anschau­ ungen der einzelnen Gesetzgeber schwankten, wenn es um die Frage des imaginä­ ren Gewinns ging: einige standen auf dem restriktiven versicherungspolizeilichen Standpunkt, den das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz vorgezeichnet hatte; teilweise jedoch waren auch Bemühungen erkennbar, den Gewohnheiten der Handelspraxis entgegenzukommen. Gemeinsam war allen vier Kodifikations­ entwürfen nur die absolut notwendige Grundannahme des Versicherungsrechts, eine Versicherung dürfe niemals über das „pecuniäre Interesse“ des Versicherten hinaus Deckung gewähren.601

599

So aber z. B. A § 3 XI Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903). 600 § 11 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846) (PrGS 1846, 171); § 18 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS 1859, 477); § 9 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); § 18 III Revidirtes Reglement Feuer-Sozie­ tät Posen (1863) (PrGS 1863, 578); §§ 27 I, 40 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS 1863, 545) (für die Versicherung beweglicher Sachen mit direktem Verweis auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz); § 10 Statut Mobiliarversicherung der land­ schaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (PrGS 1871, 163); §§ 6 I, 30 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122) (mit Verweis auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz). Anders nur bei der Hamburger General­ feuerkasse, die bei der Taxation eine Überschreitung des gemeinen Gebäudewertes um 10 % zuließ und damit indirekt auch die Gewinnversicherung erlaubte: § 17 S. 3 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833) (Lappenberg XII, 258); § 10 II Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66); dazu auch Brämer / Brämer (1894), S. 232 f.; Büchner, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 1, 24 (bereits zur ent­ sprechenden Reform der Generalfeuerkasse im Jahr 1817); von Liebig (1911), S. 103; Müssener (2008), S. 249; Ohlmeier / Spohnholtz, in: FS 300 Jahre Hamburger Feuerkasse (1976), S. 51, 54; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 44 ff. (zur Reform von 1817); Schaefer (1911), Bd. 1 S. 194 (zur Reform von 1817). 601 Art. 429, 430 HGB-Entwurf Württemberg (1839); vgl. auch Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 480 (mit direktem Bezug zum württembergischen Mobiliarfeuerversiche­ rungsgesetz von 1830); Art. 328 HGB-Entwurf Preußen (1857); Art. 802 BGB-Entwurf Bay­ ern (1861); Art. 895 Entwurf Dresd. OR (1866). Zum Begriff des „pecuniären Interesses“ s. Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 429 mit Verweis auf Art. 268 Wetboek van Koophan­ del (1838) (Officiële Uitgave, 1838) und Art. 1699 Codigo Commercial (1833) (Textausgabe, 1879).

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Der württembergische HGB-Entwurf interpretierte jenes Interesseprinzip aber durchaus noch nicht in seiner denkbar strengsten Form, indem er die Versi­ cherung des imaginären Gewinns nur gewissen Einschränkungen unterwarf, aber nicht schlechthin ausschloss. Er bestimmte in Art. 429 allgemein für alle Versicherungszweige: „Art. 429. [1] Gegenstand der Versicherung kann seyn: Alles, was einen zu Geld anschlag­ baren Werth für den Versicherten hat oder haben wird, und einer Gefahr unterworfen ist: sofern nicht das Gesetz eine Ausnahme macht. [2] Am erwarteten Werthe oder Gewinne findet Schaden und Vergütung nur so weit statt, als die Bedingungen der Verwirklichung eines künftigen höheren Werths zur Zeit des Eintritts des schädlichen Ereignisses noch vorhanden sind.“

Zur Begründung dieses Rechtssatzes stellten die Entwurfsmotive ausdrücklich auf einen deutschen Handelsbrauch ab, nach dem die Versicherung imaginären Gewinnes zulässig sei.602 Alleine gingen selbst die Motive nicht en detail darauf ein, welche „deutschen Handelsbräuche“ sie meinten  – etwa die Gewohnheiten der See- oder Binnentransportversicherung603 oder die vor 1830 noch ganz übliche Geschäftspraxis der Feuerversicherer. Jedenfalls schien es dem Entwurfsverfasser angesichts dieser in mehreren Versicherungszweigen verbreiteten Praxis nicht ge­ boten, den imaginären Gewinn von der Versicherung auszunehmen; und weil sich der württembergische Entwurf zur gleichen Zeit bemühte, abstrakte, allgemein­ gültige Prinzipien für alle Versicherungszweige herauszukristallisieren, konnte oder wollte er die Versicherung von Gewinnerwartungen auch in der Feuerversi­ cherungspraxis nicht generell unterbinden. Das ist durchaus bemerkenswert, be­ rücksichtigt man, dass sich der Hofacker-Entwurf damit in Opposition zum bereits seit 1830 geltenden württembergischen Mobiliarfeuerversicherungsgesetz setzte. Wenig überraschend folgte der preußische HGB-Entwurf von 1857 diesem Beispiel nicht mehr.604 Er verwies den Rechtsanwender in seinen Motiven aus­ drücklich auf das noch immer geltende Mobiliarfeuerversicherungsgesetz vom 08. 05. 1837, dessen Bestimmungen seit 1841 auch für die Gebäudeversicherung galten: unter allen Umständen sollte die Versicherung imaginären Gewinns in der Feuerversicherung verboten sein.605 So brachte der preußische Entwurf in Art. 332 I allgemein zum Ausdruck, nur der „wirkliche Werth“ könne Gegenstand einer Versicherung sein; Ausnahmen existierten nur in den leges speciales für be­ stimmte Versicherungszweige, „wo ein erwarteter Gewinn versichert werden kann“ (Art. 327 II).606 Das war etwa in der Land- und Flusstransportversicherung der Fall

602

Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 429. Zur Anerkennung des imaginären Gewinns im Transportrecht, vgl. Art. 514 HGB-­ Entwurf Württemberg (1839); Osiander (1844), S. 75. 604 Art. 327 II HGB-Entwurf Preußen (1857). 605 Mot. HGB Preußen (1857), vor Art. 350 (speziell zur Feuerversicherung); vgl. Neugebauer (1990), S. 61. 606 Vgl. zum preußischen Entwurf insoweit auch Malß, Betrachtungen (1862), S. 57. 603

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(Art. 365 I), nicht aber in der Feuerversicherung, wo sowohl Bauwerke als auch Mobilien nur nach ihrem „wirklichen Werthe“ zum Zeitpunkt des Schadensein­ tritts ersetzt werden durften (Art. 350, 354). Ab den 1860er Jahren verschwand die Versicherung auf imaginären Gewinn zunehmend aus der legislatorischen Diskussion, jedenfalls auf dem Boden der Feuerversicherung. Der bayerische BGB-Entwurf ging auf die gesamte Frage gar nicht mehr ein, erwähnte jedoch beiläufig in seinen Motiven, „die Uebung des Handelsverkehrs“  – gemeint war wohl wiederum die Praxis der See- und Bin­ nentransportversicherung  – lasse die Versicherung erwarteten Gewinns selbst­ verständlich zu.607 Auch der Dresdener Obligationenrechtsentwurf erwähnte die Gewinnversicherung nur noch im Zusammenhang mit der Transportversicherung: dort sollte sie nach Art. 897 II 2 nach wie vor zulässig sei; schon im Jahr 1861 hatte Art. 805 ADHGB übrigens denselben Grundsatz für das gesamte deutsche Seever­ sicherungsrecht ausgesprochen. Außerhalb der Transportversicherung wollte die Dresdener Konferenz die Versicherung auf imaginären Gewinn allerdings ohne weitere Begründung nicht zur Anwendung bringen. Selbst in den Dresdener Ver­ handlungen war das gesamte Problem nur noch sporadisch zur Sprache gekom­ men: Kübel, der während der Verhandlungen persönlich anwesend war, berich­ tete allenthalben, dass die Versicherung imaginären Gewinns einer überwiegend anerkannten „deutschrechtlichen Doktrin“608 entspreche und daher ohne Weite­ res in das Recht der Transportversicherung Eingang finden könne.609 Über das Feuerversicherungsrecht schwieg sich die Kommission im Gegensatz dazu voll­ kommen aus. Das Abflachen der gesamten Diskussion vermittelt den Eindruck, als habe sich zu diesem Zeitpunkt das strenge, vorbeugende Verbot der Versicherung imaginären Gewinns schon ganz allgemein in Praxis und Gesetzgebung des Feuerversiche­ rungsrechts etabliert; die Versicherung auf erhofften Gewinn war im Endeffekt zu einer Besonderheit des See- und Transportversicherungsrechts geworden. 3. Die Renaissance der Versicherung imaginären Gewinns im VVG Erst 40 Jahre später drängte die Problemfrage des imaginären Gewinns wieder zurück ins Binnenversicherungsrecht. Schließlich griff der deutsche Gesetzgeber 607

Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 801 II. Vgl. dazu etwa die Anerkennung der Gewinnversicherung in der seeversicherungsrecht­ lichen Literatur bei Benecke (2. Aufl.  1810), Bd. 1 S. 133 ff.; Beseler (4. Aufl.  1885), § 116. II (S. 525); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 367, 450; Endemann (1. Aufl. 1865), § 174.II (S. 827); Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 343; Malß, Betrachtungen (1862), S. 54; ders., 8; Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 304.I (S. 108 f.); Osiander (1844), S. 75; Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 559.2 (S. 93). 609 Zu der sporadischen Diskussion um die Versicherung imaginären Gewinns, s. Prot. Dresd. OR, Bd. 6 (1866), S. 4564 f. Vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 385 f.; ZVersR 2 (1868), 1, 65. 608

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im angebrochenen 20. Jahrhundert die Debatte wieder auf und entledigte sich der Vielzahl von partikularstaatlichen Beschränkungen, die bis dahin die Gewinnver­ sicherung unterbunden hatten. Die Vielfalt an Versicherungsprodukten, die das Versicherungsrecht in der zwei­ ten Hälfte des 19. Jahrhunderts zusehends auszeichnete, warf einige Problemfra­ gen auf, die zur Anfangszeit des Feuerversicherungsrechts noch nicht im Raum gestanden waren. In der Diskussion über das versicherbare Interesse sind dabei zwei verschiedene Fragen zu unterscheiden. Zum einen führte man die Debatte um die Ersatzfähigkeit des imaginären Gewinnes selbst: hatte der Feuerversicherte also beispielsweise einen lukrativen Industrie- oder Landwirtschaftsbetrieb auf­ gebaut, dessen Produktionsertrag durch brandbedingte Betriebsunterbrechungen bedroht war, oder hoffte der Pächter eines Gebäudes, durch den Betrieb eines Ho­ tels Geschäftsgewinne zu erwirtschaften, so stand in Frage, ob diese Gewinne an sich von der Feuerversicherung abgedeckt werden konnten. Solche Probleme dis­ kutierte man gegen Ende des 19. Jahrhunderts häufig unter dem Schlagwort der „Chômageversicherung“.610 Zum anderen kreiste die Diskussion aber um indirekte Folgeschäden; das war etwa das zentrale Problem der sogenannten Gerste- oder Bierentwertungsversicherung, die in den 1890er Jahren betrieben wurde. Stand der Betrieb – hier: die Brauerei – infolge eines Brandunglückes längere Zeit still, so war zu befürchten, dass das Bier in den Braukesseln verdarb, da es nicht mehr ausrei­ chend gekühlt werden konnte; ähnliches galt für die eingelagerte Gerste, die nicht weiterverarbeitet werden konnte.611 Beide Fallkonstellationen lagen rechtsdogma­ tisch verschieden. Im zweiten Fall ging es um einen echten Substanzschaden, nur dass der versicherte Schaden nicht unmittelbar aus dem Brand selbst, sondern erst aus dem folgenden Betriebsstillstand resultierte. Der erste Fall, die „Chômagever­ sicherung“, hatte demgegenüber wirklich einen bloß zukünftig erhofften Gewinn zum Gegenstand.612 In der akademischen und gesetzgeberischen Diskussion waren beide Probleme aber engmaschig miteinander verwoben. Anfang der 1890er Jahre hatte sich die preußische Verwaltung mit der Versiche­ rung indirekter Folgeschäden zu befassen. Zu dieser Zeit hatten einige Feuerver­ sicherungsgesellschaften begonnen, die besagte hoch spezialisierte Versicherung gegen die Entwertung von Bier oder Gerste zu betreiben. Der preußische Innenmi­ nister untersagte solche Arten der Feuerversicherung per Erlass vom 23. 06. 1892,613 610 Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 232; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 255; von Liebig (1911), S. 102 ff.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 55. 611 Brämer / Brämer (1894), S. 233; von Liebig (1911), S. 97 f. („mittelbare Schäden“); Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 54, 75. 612 So auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 54 f. 613 Cirkular an sämmtliche Königl. Regierungs-Präsidenten vom 23. Juni 1892, betr. die Un­ zulässigkeit der s. g. indirekten Feuerversicherung (Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 53 [1892], S. 348). Vgl. von Liebig (1911), S. 99; Müssener (2008), S. 254; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 83; ders., Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 140 f.

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nur um denselben Erlass drei Monate später, am 29. 10. 1892,614 wieder aufzuheben. Ab diesem Zeitpunkt waren Versicherungen gegen Betriebsunterbrechungsschäden auf preußischem Boden zulässig, sofern sie im Schadensfall nur den Selbstkosten­ preis ersetzten615 – strikt verboten blieb aber nach wie vor die reine Versicherung auf imaginären Gewinn.616 Zeitgenössischen Berichten zufolge war das Innenministerium mit seinem ersten Erlass dem Antrag einer Feuerversicherungsgesellschaft gefolgt. Diese hatte sich auf den Standpunkt gestellt, dass die Gerste- oder Bierentwertungsversicherung eine verbotene Versicherung über den gemeinen Sachwert hinaus darstelle, nach­ dem eine Konkurrenzgesellschaft, die Hamburg-Bremer Feuer-Versicherungs-­ Gesellschaft, sie angeboten hatte. Der zweite, rasch nachfolgende Erlass erging, weil die „Hamburg-Bremer“ dem Ministerium per Eingabe den Unterschied zwi­ schen der reinen Gewinnversicherung und der Versicherung indirekter Schäden erläutert hatte; letztere habe nicht den reinen Geschäftsgewinn zum Gegenstand, sondern sei nur auf den Ersatz echter Substanzverluste gerichtet.617 Diese Episode aus der preußischen Behördenpraxis kann zwei Dinge verdeutlichen: einerseits, wie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich ein lebhaftes praktisches Bedürfnis nach solchen komplexeren Versicherungsarten herangewachsen war, andererseits jedoch auch, wie unsicher Praxis und Versicherungsaufsicht in der rechtlich dif­ ferenzierten Behandlung derartiger Probleme waren. 1901 trat reichsweit das VAG in Kraft und die gesamte deutsche Versicherungs­ aufsicht wurde in die Hände der Kaiserlichen Aufsichtsamts gelegt; zugleich tra­ ten alle landesgesetzlichen Versicherungspolizeigesetze außer Kraft.618 Nach der neuen Rechtslage war also auch die Versicherung imaginären Gewinns wieder zulässig. Wenn man deswegen aber glaubt, die Feuerversicherungsgesellschaften hätten nun endlich einem lange gehegten praktischen Bedürfnis nachgehen und die Versicherung imaginären Gewinns aufnehmen können, wird man verwundert feststellen müssen, wie träge die Feuerversicherer auf ihre neuen Möglichkeiten reagierten. In einer Denkschrift, die das Reichsjustizamt noch vor Fertigstellung des ersten VVG-Entwurfes von 1902 erreichte, befürwortete der Verband deutscher 614

Cirkular an sämmtliche Königl. Regierungs-Präsidenten vom 29. Oktober 1892, betr. die Annahme von Bier- und Gerste-Entwerthungsversicherungen durch die FeuerversicherungsGesellschaften (Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preu­ ßischen Staaten 53 [1892], S. 348). 615 Brämer / Brämer (1894), S. 233; Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVers­ Wiss 3 (1903), 253, 255; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 83 Rn. 11.a; vgl. von Liebig (1911), S. 99; Müssener (2008), S. 255; Prange, Kritische Betrach­ tungen (1904), S. 83; ders., Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 140 f. Dazu auch von Liebig (1911), S. 100. So auch die Praxis des Kaiserlichen Aufsichtsamtes ab 1901, vgl. Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1904, S. 14. 616 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 255. von Liebig (1911), S. 103; Manes (1905), S. 359 f.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 83. 617 Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 80 ff. 618 § 121 VAG (1901) (RGBl. 1901, Nr. 18, S. 139).

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Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften zwar ausdrücklich Versicherungsarten wie die Bier- und Gerstenentwertungsversicherung, da sie volkswirtschaftlich sinnvolle Instrumente seien. Demgegenüber sei es von Seiten der Feuerversiche­ rungsgesellschaften überhaupt nicht wünschenswert, wenn auch die Versicherung imaginären Gewinns, beispielsweise die Chômageversicherung, im neuen Gesetz zur Kodifikation gelange.619 Diesem Wunsch schloss sich das Reichsjustizamt allerdings nicht an, indem es schon 1902 in seinem ersten, handschriftlichen VVG-Entwurf die Regelung aufsetzte: „§ 40. Bezieht sich die Versicherung auf eine Sache, so gilt, soweit sich nicht aus den Um­ ständen ein Anderes ergiebt, der Werth der Sache als Versicherungswerth. § 41. Die Versicherung umfaßt den durch den Eintritt des Versicherungsfalls entgehenden Gewinn nur, soweit dies besonders vereinbart ist.“

Die beiden Normen galten kraft ihrer gesetzessystematischen Stellung für alle Zweige der Schadensversicherung. Speziell für die Feuerversicherung sah die Brandschadensdefinition in § 69 I des Entwurfs – die Vorgängernorm zum späte­ ren § 83 I 1 VVG – vor, dass auch „unvermeidliche Folgen des Brandereignisses“ unter die Ersatzpflicht des Versicherers fielen. Mit diesen drei Normen des Ent­ wurfes waren sowohl der imaginäre Gewinn als auch der indirekte Schaden zum ausdrücklich zulässigen Gegenstand der Feuerversicherung geworden620– die Feu­ erversicherer waren freilich nicht von Gesetzes wegen gezwungen, solche Versi­ cherungen auch tatsächlich zu übernehmen. Ausgerechnet die Feuerversicherer überzogen den Regelungskomplex während der Sachverständigenberatungen im Reichsjustizamt überwiegend mit Kritik. Die Versicherung imaginären Gewinns bringe für die Versicherer unkalkulierbare versicherungstechnische Risiken mit sich und gefährde sogar den Geschäftsbe­ trieb der Gesellschaften, denen bislang nichts anderes als die reine Sachversiche­ rung erlaubt gewesen sei.621 Das Kaiserliche Aufsichtsamt und die Organisationen der Versicherungsnehmer, deren Vertreter an den Sachverständigenkonferen­ zen ebenfalls teilnahmen, erblickten in der Regelung hingegen einen bedeutend positiven Entwicklungsschritt für das Versicherungswesen: nun könnten Betriebs­ inhaber, Hotelpächter oder Vermieter sich endlich wirtschaftlich gegen alle Ar­ 619

Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 255, 288; zum Widerstand der Feuerversicherer gegen die Versicherung imaginären Gewinns, vgl. auch von Liebig (1911), S. 181; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 48 ff., 57. 620 V. Ehrenberg, ZVersWiss 3 (1903), 315, 324 (zum Entwurf von 1903); von Liebig (1911), S. 104 (zum VVG von 1908); Müssener (2008), S. 254 f. (zum VVG von 1908); Prange, Kriti­ sche Betrachtungen (1904), S. 57 (zum Entwurf von 1903); Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 351 (zum Entwurf von 1903). 621 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.50 (Feuerversi­ cherung 5. Sitzung zu §§ 68 ff. RJA-E = §§ 82 ff. VVG); ebd. Nr. 5579.52 (Feuerversicherung 5. Sitzung zu § 69 RJA-E = § 83 VVG).

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ten von brandbedingten Betriebsunterbrechungen, Miet- oder Pachtausfälle ab­ sichern.622 Was hatte den deutschen Gesetzgeber also zu seinem Sinneswandel gebracht, der in so scharfem Kontrast zur bisherigen Aufsichtspraxis stand und selbst auf den Wi­ derstand vieler Versicherungsgesellschaften stieß? Mehrere Faktoren dürften das rigorose Verbot der Gewinnversicherung am Ende aufgeweicht haben: zum einen war um die Jahrhundertwende das rechtspraktische Bedürfnis der gewerblichen Versicherungsnehmer, sich gegen brandbedingte Gewinnausfälle abzusichern, nicht mehr zu übersehen. Zweitens dürfte die schwankende Praxis des preußischen Innenministeriums, das in den 1890er Jahren immerhin die Gerste- und Bierent­ wertungsversicherung zugelassen hatte, die harte Linie der alten Mobiliarfeuer­ versicherungsgesetze ohnehin bereits relativiert haben.623 Drittens intendierte der Gesetzgeber aber, aus dem Versicherungsrecht möglichst viele allgemeine Rechts­ sätze für alle Versicherungszweige – bzw. für alle Zweige der Schadensversiche­ rung – herauszuarbeiten. Die Versicherung imaginären Gewinns war aber jeden­ falls in der Transportversicherung absolut gängige Praxis, wie die Entwürfe des 19. Jahrhunderts bereits demonstriert haben. Zuletzt mag eine nicht unbedeutende Rolle gespielt haben, dass auch der schweizerische VVG-Entwurf von Hans Roelli die Chômageversicherung ausdrücklich für zulässig erachtete.624 Methodisch gesehen hat der VVG-Gesetzgeber hier, wie auch die amtliche Ge­ setzesbegründung dokumentiert, die seeversicherungsrechtliche Norm zur Ver­ sicherung des erwarteten Gewinns  – noch im 19. Jahrhundert als seerechtli­ che Besonderheit betrachtet  – per Analogieschluss auf die Binnenversicherung übertragen.625 Übrigens verstummte auch die Kritik der Versicherungsgesellschaften im Laufe des weiteren Gesetzgebungsprozesses. Die Regelungen aus den §§ 40, 41, 69 des Reichsjustizamtsentwurfes fanden schließlich inhaltlich unverändert Eingang in das Versicherungsvertragsgesetz (§§ 52, 53, 83 VVG).626 Unterm Strich bleibt also nichts anderes, als festzustellen, dass ausgerechnet die vorgesetzliche Feuerver­ 622 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.50 (Feuerversiche­ rung 5. Sitzung zu §§ 68 ff. RJA-E = §§ 82 ff. VVG); Denkschrift Berliner Metall-Industrieller (1903), S. 5; Lexis, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 50, 53; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 99 f. Vgl. von Liebig (1911), S. 104. 623 Vgl. auch die Bezugnahme von Mot. VVG (1908) zu §§ 82–84 auf die Besonderen Ver­ sicherungsbedingungen für Brauereien und Zuckerraffinieren, im Rahmen derer mittelbare Schäden übernommen wurden; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 83 Rn. 11.b. 624 Art. 46 Entwurf VVG Schweiz (1902); vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 351. 625 Vgl. dazu auch den ausdrücklichen Hinweis in Mot. VVG (1908) zu § 53, der auf das re­ gelungstechnische Vorbild des § 779 II HGB (1897) verweist. Vgl. von Liebig (1911), S. 104; Müssener (2008), S. 253. 626 §§ 40, 41, 69 RJA-E (1902) entspr. §§ 48, 49, 82 VVG-E (1903), §§ 51, 52, 82 VVG-BRV (1904); §§ 52, 53, 83 VVG-RTV (1905); §§ 52, 53, 83 VVG-RTV (1907); §§ 52, 53, 83 VVG (1908).

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sicherungspraxis an dieser Stelle keinen nennenswerten Beitrag zur Abfassung des VVG geleistet hat – im Gegenteil sträubten sich die Feuerversicherer sogar zunächst vehement gegen die einschlägigen Regelungen des VVG, das hier in erster Linie einem wirtschaftspraktischen Bedürfnis  – nämlich dem der Ver­ sicherungsnehmer  – entgegenkommen wollte. Wenn demgegenüber die Motive des VVG in feststellendem Ton davon sprechen, der § 53 VVG entspreche nur der „bestehenden Übung“,627 so beziehen sie sich wohl eher auf die bewährte See- oder Transportversicherungspraxis, nicht aber auf eine genuine Praxis der Feuerversicherungsgesellschaften.

III. Die Versicherung auf fremde Leben Die Notwendigkeit eines versicherbaren Interesses, wie sie auch im letzten Ka­ pitel thematisiert wurde, sieht man heute als ein geradezu typisches Merkmal der Schadensversicherung an. Bei reinen Summenversicherungen wie der Lebensversi­ cherung spielt es nach modernem Verständnis keine Rolle mehr: auch das VVG von 1908 verpflichtete den Lebensversicherer gem. § 1 I 2 nur noch dazu, „nach dem Eintritt des Versicherungsfalls den vereinbarten Betrag an Kapital oder Rente zu zahlen“.628 Selbstverständlich war dies im 19. Jahrhundert aber ganz und gar nicht. 1. Die Wissenschaft und Praxis im 19. Jahrhundert: ein versicherbares Interesse in der Lebensversicherung? In der historischen Literatur zum Versicherungsrecht, die ab ca. 1860 eine erste Blüte erlebte, herrschte für lange Zeit ein tiefer dogmatischer Streit darüber, ob auch die Lebensversicherung das Erfordernis eines versicherbaren Interesses kenne. Die Wissenschaft der 1860er Jahre bejahte diese Frage zunächst ganz über­ wiegend; ein versicherbares Interesse sahen viele Autoren geradezu als das aus­ schlaggebende Charakteristikum aller Arten von Versicherung überhaupt an.629 Die Frage nach einem versicherbaren Interesse stellte sich immer dann, wenn der Versicherungsnehmer eine Todesfallversicherung auf das Leben eines Dritten abschloss. Als Paradebeispiel einer Versicherung, bei der ein bezifferbares Inte­ resse am Leben eines Dritten bestand, nannte man die Versicherung des Gläubi­ 627

Mot. VVG (1908) zu § 53. RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908. 629 Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 541; Beseler (2. Aufl. 1866), § 129.IV (S. 540); Bluntschli /  Dahn (3. Aufl. 1864), § 161.3 (S. 498 f.), § 162.V (S. 502 f.); Goldschmidt, System des Handels­ rechts (4. Aufl. 1892), § 167.2 (S. 206 f.); Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 362; Malß, Betrachtungen (1862), S. 11, 25 ff.; Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 302.I (S. 99), § 304.I (S. 108); Pöhls, Bd. 4/1 (1832), § 554.2 (S. 75 f.); von Staudinger (1858), S. 69 f., 93 ff. 628

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gers auf das Leben seines Schuldners; denn wenn durch dessen Tod die Gefahr eines Zahlungsausfalles bestand, so besaß sein Gläubiger an seinem Leben ein wirtschaftliches Interesse in Höhe der offenen Forderung.630 In solchen Konstel­ lationen könnte man eine Todesfallversicherung tatsächlich als echte Schadens­ versicherung auffassen. So wurde in der historischen Rechtswissenschaft häufig vertreten, dass auf derartige „Schuldnerversicherungen“ sogar die Vorschriften zur Über-, Unter- und Mehrfachversicherung Anwendung finden müssten.631 Wenn die versicherte Person hingegen ein Familienangehöriger des Versicherungsnehmers war, begnügte man sich in der Regel mit der Feststellung, es bestehe schon deshalb ein wirtschaftliches Interesse am Leben des Dritten, weil dieser zum Lebensunter­ halt des Versicherungsnehmers beitrage – allenthalben die Höhe dieses Interesses sei nicht eindeutig bezifferbar und könne daher von den Parteien vertraglich will­ kürlich vereinbart werden. Mit anderen Worten: ein Interesse musste insoweit nur dem Grunde nach, nicht der Höhe nach erwiesen werden.632 Diese Auffassung ließ das Interesseerfordernis zwar formal-rechtlich noch nicht ganz fallen, stand aber de facto nur noch einen kleinen Schritt von der Anerkennung der echten Summen­ versicherung entfernt. Das preußische Allgemeine Landrecht verzichtete hingegen bereits auf das Erfor­ dernis eines versicherbaren Interesses, wenn der Versicherungsnehmer sich auf das Leben einer dritten Person versichern wollte.633 Es forderte in Th. II Tit. 8 § 1973 kein „Interesse“ am Leben des Dritten mehr, sondern lediglich dessen gericht­ liche Einwilligung, um etwaigen Missbräuchen vorzubeugen; wenn es sich bei dem Dritten um einen nahen Verwandten des Versicherungsnehmers handelte, war gem. §§ 1971, 1972 ALR nicht einmal mehr die Zustimmung des Dritten nötig. Die Wissenschaft griff diesen – faktisch gänzlichen – Verzicht auf ein versicherbares Interesse heftig an: so meinte von Staudinger, eine solche Auffassung könne nur aus einer „seichte[n] Betrachtung des Wesens der Lebensversicherung entspringen.“634 Sogar einige der ältesten Lebensversicherungsgesellschaften, wie zum Beispiel die Gothaer Lebensversicherungsbank, hatten  – sehr wahrscheinlich inspiriert von englischen Vorbildern635 – in ihren AVB noch den Nachweis eines versicher­ baren Interesses gefordert.636 In den AVB der „Gothaer“ aus dem Jahr 1828 war beispielsweise zu lesen: 630

Malß, Betrachtungen (1862), S. 59; von Staudinger (1858), S. 24. Malß, Betrachtungen (1862), S. 59 f. (mit Beispielen); Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 386, 407; von Staudinger (1858), S. 112 f. 632 Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 363 f.; ähnlich Malß, Betrachtungen (1862), S. 59 („incal­ culables“ Interesse); von Staudinger (1858), S. 98 f. 633 Dazu unter § 2 D III 2 zu §§ 1971 ff. ALR (1794) (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer, 3. Aufl. 1996). 634 von Staudinger (1858), S. 53 f., 93 (v. a. mit Bezug auf den insoweit identischen preußi­ schen HGB-Entwurf). 635 Dazu unter § 2 D III 1. 636 § 57 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828) (Sammlung-AVB II, 2); kritisch dazu von Staudinger (1858), S. 98. 631

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„§ 57. Um auf das Leben eines anderen zu versichern, muß ein wirkliches Interesse an des­ sen Dauer, z. B. durch nahe Verwandtschaft, durch eine Schuldforderung, Bürgschaft usw. nachgewiesen werden. Ist die Versicherung hierauf wirklich erfolgt, so behält sie auch ihre Gültigkeit in dem Falle, wenn jenes Interesse noch vor dem Tode der Person, auf welche die Versicherung lautet, erloschen wäre.“

Schon ab den 1830er Jahren verschwanden solche Klauseln allerdings allmäh­ lich aus den AVB. Viele Versicherungsbedingungen problematisierten die Ver­ sicherung auf fremde Leben gar nicht mehr;637 einige wenige sahen ganz aus­ drücklich vor, dass der Dritte vorab seine Zustimmung zur Versicherung erteilen müsse.638 Die Frage, ob und warum die meisten Lebensversicherungsgesellschaften bei der Versicherung auf fremde Leben überhaupt keine formalen Einschränkungen mehr vornahmen, lässt sich freilich nicht mit wissenschaftlich-dogmatischen, sondern alleine mit pragmatischen Erwägungen beantworten. In aller Regel musste sich nämlich der Dritte, auf dessen Leben die Versicherung geschlossen wurde, einer Gesundheitsuntersuchung unterziehen.639 Zum Teil musste der er sogar die De­ klarationsbögen, die vor Vertragsabschluss auszufüllen waren, eigenhändig unter­ zeichnen. Im Jahr 1904 statuierten die AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank nur noch knapp und pragmatisch, die versicherte Person, die „nicht zugleich Ver­ sicherungsnehmer“ sei, müsse „die Antworten und Erklärungen des zu Versichern­ den als Grundlage der Versicherung schriftlich anerkennen.“640

637

Gar nicht mehr behandelt z. B. in AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830) (Sammlung-AVB  II,  7); AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB II, 23); AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Samm­ lung-AVB  II,  98) oder AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (SammlungAVB II, 81). 638 So aber z. B. § 6 IV AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31) (schriftliche Zustimmung); § 1 I Hs. 2 Verbands-AVB Deutscher Le­ bensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44) (formlose Zustimmung). 639 Zur ganz üblichen Gesundheitsuntersuchung vor Abschluss einer Todesfallversicherung, s. z. B. § 6 III AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); § 33 IV AVB Lebens­ versicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16); § 3 II 1 Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856) (Sammlung-AVB II, 39); § 6 IV 1 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (sogar ausdrücklich auf die dritte Person bezogen); vgl. auch § 6 III 3 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 39 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); vgl. § 8 Nr. 2 AVB Victoria Ver­ sicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca.  1904); § 4 S. 1 AVB Stuttgarter Lebensversicherungs­ anstalt (1906). Dabei ergibt freilich nur die Gesundheitsuntersuchung der Person, auf deren Leben die Versicherung geschlossen werden sollte, Sinn; dazu vgl. auch ausdrücklich Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 302, 303; von Staudinger (1858), S. 120. 640 § 39 IV AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904). Ähnlich § 33 I AVB Lebensver­ sicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854); § 2 II AVB Stuttgarter Lebensversicherungs­ anstalt (1906) (Nachweis der Identität des Dritten durch Zeugen erforderlich). Vgl. von Staudinger (1858), S. 122.

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Gewissermaßen lag darin ein verstecktes Zustimmungserfordernis. Von dem Interessekriterium, das noch in den ursprünglichen AVB der Gothaer zu finden war, hatte sich die Praxis um die Jahrhundertwende demgegenüber schon längst abgekehrt. Zur gleichen Zeit war es auch aus der zeitgenössischen Rechtswissen­ schaft verschwunden, indem die Differenzierung zwischen Schadens- und Sum­ menversicherung überwiegend Anerkennung gefunden hatte und man die Unter­ schiede zwischen diesen beiden Versicherungstypen eher betonte als bekämpfte.641 2. Die Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts und ihr Hang zu theoretisierenden Lösungsansätzen Insgesamt hatten sich in Wissenschaft und Praxis also zwei hauptsächliche Denkarten zur Versicherung auf fremde Leben verbreitet: die eine forderte ein versicherbares Interesse am Leben des Dritten, die andere die Zustimmung der versicherten Person. In den vier versicherungsrechtlichen Entwürfen des 19. Jahr­ hunderts spiegelte sich mal die eine, mal die andere dieser beiden Auffassungen. Der Württembergische Entwurf wollte sich ausweislich seiner Motive ausdrück­ lich von § 1973 ALR abgrenzen. Die dort verlangte gerichtliche Einwilligung der versicherten Person hielt Hofacker, der Verfasser des Entwurfes, für viel zu streng. Stattdessen sollte jeder Versicherungsnehmer, der auf das Leben eines Dritten zeich­ nete, eine „Betheiligung“ oder ein „pecuniäres Interesse“ am Leben des Dritten nachweisen müssen,642 wie auch Art. 497 des Entwurfs zum Ausdruck brachte:643 „Art. 497. Man kann sein eigenes Leben oder das Leben eines Dritten versichern lassen. Letzteres kann ohne Vorwissen und Zustimmung des Dritten geschehen: nur muß der Versicherte, wenn er in seinem eigenen Vortheile Versicherung nahm, bei dem Leben des Dritten betheiligt seyn. Daß aber diese Betheiligung fortdauere, ist nicht erforderlich.“

Gleichzeitig erschließt sich aus den Entwurfsmotiven, dass Art. 497 keine kon­ krete Bezifferung dieser „Betheiligung“ forderte: sie musste nur dem Grunde nach bestehen. Diese Regel entsprach im Wesentlichen den frühesten deutschen Lebens­ versicherungsbedingungen – die Motive bezogen sich bei alledem sogar ausdrück­ lich auf die AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank, namentlich auf deren oben zitierten § 57.644 Überraschend ist aber vor allem, dass der Hofacker-Entwurf 641

Z. B. Beseler (4. Aufl. 1885), § 117.III (S. 532); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 56 ff., 296, 358, 444 (innerer Zusammenhang zwischen dem Einwilligungserfordernis und dem versicherbaren Interesse nur noch in der Theorie betont); Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 194, 195; so schon zur Jahrhundertmitte Walter (1855), Ziff. 381.IV (S. 432). 642 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 497 (Textausgabe,  1840). Vgl. auch Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 361; von Staudinger (1858), S. 97. 643 Abgedruckt als Textausgabe (1839). 644 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 497, mit ausdrücklicher Abgrenzung zur unein­ geschränkt zulässigen Versicherung auf fremde Leben in Art. 303 Wetboek van Koophandel (1838) (Officiële Uitgave, 1838).

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nicht gedachte, eine „Beteiligung“ am Leben des Dritten auch für die „uneigent­ liche Lebensversicherung“, also die lebenslange Todesfallversicherung, zu fordern (Art. 503 II). Zur Begründung hieß es nur, ein Missbrauch solcher lebenslanger Todesfallversicherungen – konkret also: die absichtliche Tötung der versicherten Person – sei nicht zu befürchten, denn „ein Mörder wählt keinen solchen Umweg, um zu Geld zu kommen“.645 Wenngleich man über die Stichhaltigkeit dieser Argu­ mentation streiten kann, so zeigt sie doch, dass der Hofacker-Entwurf den strengen dogmatischen Standpunkt von der Lebensversicherung als echte Interesseversi­ cherung, der vor allem ab den 1860er Jahren verstärkt in der Literatur verfochten wurde, noch nicht ganz konsequent vertrat. Hauptsächlich hatte er schlichtweg die AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank kopiert und um einige eigene Erwä­ gungen ergänzt, die er für zweckmäßig hielt. Der preußische HGB-Entwurf von 1857 setzte sich in Opposition zu seinem württembergischen Vorgänger. Schon in seinen Motiven grenzte er sich mit klaren Worten vom Hofacker-Entwurf ab: der Begriff der „Betheiligung“ habe schon zur Zeit Hofackers keinem anerkannten rechtlichen terminus technicus entsprochen und sei daher viel zu unbestimmt. Darüber hinaus biete der württembergische Entwurf aber auch einen „Anreiz zu Verbrechen“, wenn er auf die Zustimmung der dritten Person völlig verzichte. Im Endeffekt brach der preußische Entwurf im Lebensversicherungsrecht völlig mit dem Kriterium eines versicherbaren Interes­ ses. An seine Stelle setzte er die notwendige Einwilligung der versicherten Person, auf die wiederum verzichtet werden konnte, wenn der Versicherungsnehmer mit dem Dritten in einem engen Verwandtschaftsverhältnis stand.646 Diesen Rechts­ satz hatte der Entwurf, wie er in seinen Motiven bezeugte, den tradierten Regeln der §§ 1971 ff. ALR entnommen.647 Die Materie des ALR hatte in dieser Hin­ sicht ihre Gestalt geringfügig verändert: der Dritte musste seit einem Gesetz vom 11. 07. 1845648 seine Zustimmung nicht mehr zwingend vor einem Gericht erklären. Letztlich rezipierte Art. 380 des preußischen Entwurfes also exakt die Gedanken der §§ 1971 ff. ALR in ihrer Fassung von 1845, indem er vorsah:649 „Art. 380. [1] Eltern, Kinder, Ehegatten oder Verlobte können das Leben ihrer Kinder, Eltern, des anderen Ehegatten oder Verlobten versichern lassen. [2] Unter Kindern werden verstanden: alle ehelichen Nachkommen, sowie auch uneheliche Kinder, Adoptivkinder und Pflegekinder. [3] Außer diesen Personen kann Niemand auf das Leben eines Dritten ohne dessen Einwilligung, Versicherung nehmen; ein Vertrag, welcher dieser Bestimmungen zuwider geschlossen wird, ist nichtig. [4] Jedoch findet eine solche Beschränkung in dem Falle nicht statt, wenn das Leben des Dritten gegen eine Gefahr versichert wird, auf deren Eintritt der Versicherungsnehmer keinen Einfluß haben kann.“ 645

Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 503. Ähnlich auch Duvinage (1987), S. 23 f.; kritisch dazu Malß, Betrachtungen (1862), S. 63 f.; ebenso kritisch von Staudinger (1858), S. 96 ff. 647 Insgesamt Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 380 (Textausgabe, 1857). 648 § 1 lit. e Gesetz über die Form einiger Rechtsgeschäfte v. 11. 07. 1845 (PrGS 1845, 495); vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 361. 649 Abgedruckt als Textausgabe (1857). 646

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Mit Art. 380 des preußischen Entwurfes kam also eine Idee zurück in die Ge­ setzgebung, die das Allgemeine Landrecht erstmals ausdrücklich in Gesetzesform gefasst hatte, die aber seitdem in den AVB der Lebensversicherungspraxis keine signifikante Rolle mehr gespielt hatte. Der bayerische BGB-Entwurf griff dieses Einwilligungserfordernis seinerseits auf. Er baute es aber noch insoweit aus, als der Versicherungsnehmer die Einwilligung der versicherten Person auch dann ein­ holen musste, wenn er mit ihr verwandt war (Art. 827 III).650 Der Dresdener Obligationenrechtsentwurf wählte für die gesamte Problematik schließlich eine gänzlich eigenwillige Lösung: er verschmolz die beiden bislang vertretenen Ansätze miteinander, ohne dass sich eine solche Vorgehensweise auf irgendein früheres Vorbild in Praxis oder Gesetzgebung berufen konnte. Ein vor­ bereitender Ausschuss zum Dresdener Entwurf hatte zunächst – wie in den vo­ rangegangenen Entwürfen aus Preußen und Bayern  – nur die Einwilligung des Dritten verlangen wollen.651 Dagegen regte sich in der Dresdener Konferenz aber der Widerstand vieler Delegierten: es sei schließlich in der Rechtswissenschaft anerkannt, bei allen Arten von Versicherung ein vermögensrechtliches Interesse zu fordern. Ferner entspreche dies auch der gängigen Praxis vieler Lebensversi­ cherer652 – dass sich jene Praxis im Rechtsleben der 1860er Jahre schon auf dem Rückzug befand, hatten die Vertreter dieser Auffassung freilich nicht zur Sprache gebracht. Die Mehrheit der Delegierten stimmte schließlich für die Aufnahme des Interessekriteriums in den Dresdener Entwurf. Die notwendige Zustimmung des Dritten wollte man allerdings trotzdem nicht mehr aus dem Entwurf streichen: zwar mache die ganz herrschende Strömung in der Versicherungspraxis den Bestand des Lebensversicherungsvertrages nicht aus­ drücklich von der Einwilligung des Dritten abhängig. Der Dritte werde in aller Regel ohnehin zunächst ärztlich untersucht; im Zuge dieser Untersuchung stehe ihm stets frei, „seinen allenfallsigen Dissens kundzugeben“. Anderes gelte aber beispielsweise bei Geschäftsunfähigen: bei solchen Personen könne die wider­ spruchslose Teilnahme an der Gesundheitsuntersuchung nicht als ein „faktischer Consens“  – also eine stillschweigende Einwilligung  – des Dritten interpretiert werden. Hier müsste erst der gesetzliche Vertreter des Dritten seine Einwilligung erklären, und alleine schon für solche Fallkonstellationen sei das Einwilligungs­ erfordernis im Gesetzesentwurf sinnvoll.653 Letzten Endes kombinierte der Dres­ dener Obligationenrechtsentwurf die beiden diskutierten Kriterien, sodass seine Art. 895, 896 am Ende lauteten:654 „Art. 895. Jedes in Geld anschlagbare Interesse des Versicherten an dem Ueberstehen der einen Sache drohenden Gefahr, oder an dem Leben oder der Erwerbsfähigkeit einer Person kann Gegenstand der Versicherung sein. 650

Abgedruckt als Textausgabe (1861); vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 363. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3191; vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 363. 652 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3193 f., 3201; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 360, 363 f. 653 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3201 f., 3207 f.; vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 364. 654 Abgedruckt als Textausgabe mit Hrsg. Francke (1866). 651

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Art. 896. Eine Versicherung auf den Todesfall eines Dritten kann nur genommen werden, wenn, neben dem Bestehen eines vermögensrechtlichen Interesses des Versicherten an dem Leben des Dritten, dieser oder sein gesetzlicher Vertreter in die Versicherung einwilligt.“

Bloß zu einer Ausnahme in Verwandtschaftsfällen, welche zum Beispiel das ALR noch vorgesehen hatte, konnte sich die Konferenz nicht durchringen. Die Option stand zwar tatsächlich zur Diskussion, am Ende entschied sich die De­ legiertenmehrheit aber dagegen, um, wie sie es ausdrückte, dem Dritten „Schutz vor Lebensnachstellungen“ zu gewähren.655 Man mag dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf am Ende in vielerlei Hinsicht einen Hang zu theoretisierenden und gleichsam überdogmatisierenden Betrachtungen vorwerfen können. Gerade auf diese Weise lässt sich jedoch gut beobachten, wie die Gedanken, die das preußische Landrecht von 1794 erstmals ausgesprochen hatte, in der legislatorischen Debatte wieder und wieder rezipiert und am Leben gehalten wurden, obwohl sie in der gelebten Rechtspraxis ihrer Zeit nahezu keine Rolle mehr spielten. 3. Das Versicherungsvertragsgesetz – Rückkehr zum Praxisrecht? Das Versicherungsvertragsgesetz hatte sich am Anfang des 20. Jahrhunderts von den stark dogmatisierenden Überlegungen insbesondere des Obligationen­ rechtsentwurfs gelöst. Die heute eher künstlich wirkenden Versuche, die Todes­ fallversicherung stets als echte Interesseversicherung zu begreifen, hatte auch die Rechtswissenschaft mittlerweile aufgegeben, und aus den Versicherungsbedin­ gungen der Praxis waren sie ohnehin seit langem verschwunden. So hatte bereits der Reichsjustizamtsentwurf von 1902 ohne weitreichende Begründung auf das Kriterium eines versicherbaren Interesses verzichtet, ohne dass dies irgendwelche kritischen Reaktionen der sachverständigen Öffentlichkeit provoziert hätte. § 137 jenes Entwurfs verlangte – parallel zu den Bestimmungen des schweizerischen Entwurfes656 – alleine noch die Einwilligung des Dritten:657 „§ 137. [1] Die Versicherung kann auf die Person eines Anderen als des Versicherten ge­ nommen werden. [2] Wird die Versicherung für den Fall des Todes eines anderen als des Versicherten genommen, so ist zur Gültigkeit des Vertrags die schriftliche Einwilligung des Anderen erforderlich. Ist der andere geschäftsunfähig oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkt, so finden auf die Einwilligung die Vorschriften über rechtsgeschäftliche Wil­ lenserklärungen Anwendung.“

Die Vorschrift stellte einen prohibitiven Grundsatz dar, der auch dem Schutz der öffentlichen Ordnung diente, und besaß damit absolut zwingende Kraft.658 Da­ 655

Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3196, 3201 f.; Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 364. Art. 64 I Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1) (mit absolut zwingender Kraft gem. Art. 81 I); vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 360. 657 Archiviert in GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91. 658 Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 159 Rn. 5. 656

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mit war im Endeffekt eine Regel zur Kodifikation gelangt, die seit dem ALR eine lange Tradition in der deutschen Gesetzgebung hatte; auf das Vorbild der §§ 1971– 1973 ALR berief sich der Reichgesetzgesetzgeber, so wie schon die Entwürfe des 19. Jahrhunderts, sogar expressis verbis.659 In den AVB der Lebensversicherungs­ praxis war eine solche Regel hingegen nur ganz selten in dieser Deutlichkeit zum Ausdruck gelangt. Völlig konträr zu den Bedürfnissen der Praxis stand die Rege­ lung indes nicht, denn dort erfüllte ja meist schon die freiwillige Teilnahme des Dritten an der Gesundheitsuntersuchung die Funktion einer Einwilligung.660 Im Laufe des folgenden Gesetzgebungsverfahrens661 erfuhr der Regelungs­ komplex noch eine rechtspraktisch wichtige Ergänzung. Sie betraf die spezielle Situation, dass die versicherte Person minderjährig war. Solche „Kinderversiche­ rungen“ waren im frühen 20. Jahrhundert von großer praktischer Relevanz: vor allem bei den kleineren Sterbekassen, die sich in ärmeren Bevölkerungskreisen einer hohen Popularität erfreuten, praktizierte man häufig Versicherungen auf das Leben der eigenen Kinder:662 nach einer im Reichstag zitierten Statistik bestanden im Jahr 1905 über 1,3 Millionen solcher Kinderversicherungen im Deutschen Reich, deren Versicherungsvolumen sich insgesamt auf rund 228 Millionen Mark belief.663 Die erste Reform, die der Gesetzgeber auf diesem Gebiet vornahm, berücksich­ tigte die große volkswirtschaftliche Bedeutung, die von der Kinderversicherung für sozial schwache Bevölkerungskreise ausging. Der Gesetzeber ließ die Ver­ sicherung auf den Todesfall eines Kindes zu, ohne noch dessen Einwilligung zu fordern, wenn die Versicherung ausschließlich die Beerdigungskosten eines Klein­ kindes abdecken sollte. Dazu führte der Gesetzgeber in der Bundesratsvorlage von 1904 eine neue Bestimmung ein,664 die am Ende des Gesetzgebungsprozesses zu § 159 III VVG werden sollte: „§ 153. […] [2] Wird die Versicherung für den Fall des Todes eines anderen genommen, so ist zur Gültigkeit des Vertrags die schriftliche Einwilligung des anderen erforderlich. Ist der andere geschäftsunfähig oder in der Geschäftsfähigkeit beschränkt, so finden auf die Einwilligung die Vorschriften über rechtsgeschäftliche Willenserklärungen Anwendung. Nimmt der Vater oder die Mutter eine Versicherung für den Fall des Todes eines minder­ jährigen Kindes, so bedarf es der Einwilligung des Kindes nur, wenn nach dem Vertrage der Versicherer auch bei Eintritt des Todes vor der Vollendung des siebenten Lebensjahres 659

Mot. VVG (1908) zu § 159 (Nachdruck [1963], S. 59); in diesem Sinn ausdrücklich auch Bruck / Möller / Winter (9. Aufl. 2008), § 150 Rn. 2. 660 Vgl. Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 249 f., wo sogar von Seiten der Versicherungsgesellschaften die schriftliche Einwilligung des ver­ sicherten Dritten befürwortet wird. 661 § 137 RJA-E (1902) entspr. § 149 VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); § 153 VVGBRV (1904) (GStA PK, I.  HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); § 156 VVG-RTV (1905) (Nachdruck [1963], S. 440); § 159 VVG-RTV (1907) (Nachdruck [1963], S. 524); § 159 VVG (1908). 662 Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 159 Rn. 3. 663 Vgl. Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 380 ff. 664 Vgl. auch Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 196.

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zur Leistung verpflichtet sein soll und die für diesen Fall vereinbarte Leistung den Betrag der gewöhnlichen Beerdigungskosten übersteigt. Hat für solche Versicherungen die Auf­ sichtsbehörde einen bestimmten Höchstbetrag festgesetzt, so ist dieser an Stelle des Betrags der gewöhnlichen Beerdigungskosten maßgebend.“

Eine Einwilligung des Kindes – de facto also die umständliche förmliche Ein­ willigung des Ergänzungspflegers (§§ 181, 1909 I BGB)665 – war nur noch dann nötig, wenn der Versicherer sich verpflichtete, mehr als die bloßen Beerdigungs­ kosten zu zahlen, falls das Kind vor seinem siebten Geburtstag starb. Wesentlich restriktivere Modelle der Kinderversicherung waren aus dem Ausland bekannt: im US-Bundesstaat Colorado zum Beispiel konnten Eltern per Gesetz von 1893 nur solche Kinder versichern lassen, die das 10. Lebensjahr vollendet hatten; in Frankreich und Belgien hatte der Gesetzgeber die Kinderversicherung sogar erst ab einem Alter von 12 Jahren zugelassen.666 Der deutsche Gesetzgeber hatte diese restriktiven Vorschriften zum Anlass genommen, um eine eigene Regelung zur Kinderversicherung zu schaffen, die der enormen volkswirtschaftlichen Relevanz der Kinderversicherung besser Rechnung trug als die Vorschriften des ausländi­ schen Rechts. Nur, wenn das versicherte Kind im Kleinkindalter starb, hielt Ge­ setzgeber die Einschränkung der Kinderversicherung noch für gerechtfertigt: dann sei eine solche Einschränkung unbedenklich, denn in einer Versicherung auf den Tod eines Kleinkindes erkannte er ohnehin kaum einen wirtschaftlichen Nutzen.667 Die zweite inhaltliche Änderung gelangte erst während des Bundesratsverfah­ rens ins VVG. Sie demonstriert, wie der Gesetzgeber sich bemühte, das Lebens­ versicherungsrecht in die allgemeine zivilrechtliche Dogmatik des BGB einzu­ flechten: der Bundesrat668 fügte dem soeben zitierten § 153 der Bundesratsvorlage einen neuen zweiten Absatz ein – den späteren § 156 II der Reichstagsvorlage von 1905 bzw. § 159 II VVG. Er setzte sich näher mit dem Interessenkonflikt zwischen dem Versicherungsnehmer und seinen versicherten minderjährigen Kindern ausei­ nander. Kurz vor Beginn des Bundesratsverfahrens war nämlich in der bayerischen Rechtsprechung ein Einzelfall entschieden worden, in dem es kein verbotenes In­ sichgeschäft (§ 181 BGB) darstellte, wenn die Eltern im Namen ihres minderjähri­ gen Kindes handelten und damit ein Grundstück des Kindes in ihr eigenes Eigen­ tum übertrugen.669 Infolge dieses Urteils entstand erhebliche Rechtsunsicherheit, ob Eltern denn nun etwa auch ohne Weiteres das Leben ihres Kindes versichern konnten, ohne dabei einen Ergänzungspfleger zu benötigen.670 Der Gesetzgeber 665

RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195; entspr. der heutigen Fassung des BGB. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 159 Rn. 3; Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 196; Manes (1905), S. 257. 667 Vgl. die Mehrheitsmeinung in Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 380 ff.; Mot. VVG (1908) zu § 159. 668 Vgl. in der Folge § 156 VVG-RTV (1905). 669 BayObLGZ 5, 547, 549 (Beschluss v. 04. 11. 1904). 670 Ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu § 159; vgl. auch Gerhard, ZVersWiss 6 (1906), 34, 39 (mit Hinweis auf die jedenfalls rechtsunsichere Lage). 666

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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argumentierte nun, dass der bezweckte Schutz der Kinder letzten Endes ins Leere laufe, wenn der Versicherungsnehmer seine Kinder nunmehr einfach rechts­ geschäftlich vertreten konnte, um sich auf deren Tod zu versichern.671 Damit folgte er einem entsprechenden Antrag der bayerischen Bundesratsabgeordneten.672 Ohne dass es zuvor irgendwelche vergleichbaren Ansätze in der Versicherungspraxis ge­ geben hätte, entgegnete der Gesetzgeber der neuen Rechtsprechung in der Reichs­ tagsvorlage von 1905:673 „§ 156. […] [2] Wird die Versicherung für den Fall des Todes eines anderen genommen, so ist zur Gültigkeit des Vertrags die schriftliche Einwilligung des anderen erforderlich. Ist der andere geschäftsunfähig oder in der Geschäftsunfähigkeit beschränkt, und steht die Vertretung in den seine Person betreffenden Angelegenheiten dem Versicherungsnehmer zu, so kann dieser den anderen bei der Erteilung der Einwilligung nicht vertreten.“

An der so ergänzten Fassung des VVG änderte sich bis zu dessen Inkrafttreten im Jahr 1908 inhaltlich nichts mehr. Der § 159 VVG zur Versicherung auf fremde Leben war der Versicherungspra­ xis insgesamt also weit entgegengekommen und hatte ihre Bedürfnisse berück­ sichtigt. Das heißt aber nicht, dass er ganz einfach einen Spiegel der vorgesetz­ lichen Praxis darstellte. Wie die vorstehende Untersuchung erwiesen hat, musste der VVG-Gesetzgeber den Großteil der Regelung aus eigener Kraft schöpfen. Die einschlägigen AVB-Klauseln hatten hingegen zunächst einen ganz anderen Lö­ sungsweg eingeschlagen, nämlich indem sie ein „Interesse“ am Leben des Dritten gefordert hatten; im späteren 19. Jahrhundert hatten sie sich dann nur noch prag­ matisch und unscharf zu dem gesamten Problemkreis geäußert. Noch dazu hat sich herausgestellt, dass selbst die Grundregel des § 159 II 1 VVG ihre erste Er­ wähnung nicht in der Versicherungspraxis, sondern in § 1973 ALR gefunden hatte. Die Regelung, die 1908 zur Kodifikation gelangte und bis heute besteht, ist da­ mit zu einem Teil auch der fortgesetzten Rezeption des preußischen Landrechts zu verdanken.

IV. Über-, Unter- und Mehrfachversicherung Schon bei der Untersuchung des Allgemeinen Landrechts hat sich gerade im Be­ reich der Über-, der Unter- und der mehrfachen Versicherung gezeigt, dass Gesetz­ geber und Vertragspraxis ganz unterschiedliche Regelungsansätze verfolgten. Die AVB der Versicherungsgesellschaften gestalteten, kurz gesagt, nur das vertragliche Austauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung näher aus: so erschöpften 671

Mot. VVG (1908) zu § 159. Antrag Bayerns im Bundesratsverfahren zu dem Entwurf eines Gesetzes über den Ver­ sicherungsvertrag (GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 5576.154) (Antrag zu § 153 VVG-BRV = § 159 VVG). 673 Vgl. Gerhard, ZVersWiss 6 (1906), 34, 39. 672

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

sie sich meist in der schlichten Feststellung, dass mehr als der entstandene Scha­ den niemals ersetzt werden dürfe, oder bestimmten, nach welchem Maßstab die Versicherungsleistung gekürzt werden müsse, wenn der Geschädigte unter- oder mehrfach versichert war. Der preußische Gesetzgeber sah im Gegensatz dazu vor allem die Überversicherung als regelrecht „brandgefährliches“ Phänomen an und erklärte deshalb jegliche Versicherung automatisch für teilnichtig, soweit sie den wahren Versicherungswert überschritt; gleiches galt, in dogmatisch etwas verfei­ nerter Form, auch für die Versicherung bei mehreren Versicherern.674 Diese Gegensätzlichkeit zwischen rein pragmatischen und versicherungspolizei­ lichen Regelungen erhielt sich auch über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg und prägte die versicherungsrechtliche Kodifikationsdebatte nachhaltig. 1. Die Überversicherung Das Überversicherungsverbot per se ist ein Ausfluss des versicherungsrecht­ lichen Bereicherungsverbots und zählt damit zu den innersten Grundsätzen des Versicherungsrechts. Die Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhunderts beweist jedoch, dass die konkrete Ausgestaltung des Überversicherungsverbots durchaus starken Schwankungen unterworfen war. Der gesetzgeberische Trend, Versicherungen oberhalb des versicherbaren Inte­ resses präventiv zu unterbinden, verschärfte sich in den 1830er Jahren sogar noch drastisch: die sogenannten Mobiliarfeuerversicherungsgesetze, die vor allem in den 1830er Jahren aufkamen, gingen mit den rigorosen Maßnahmen des Polizeirechts gegen jegliche Überversicherung vor. Doch erhielten sich solche Tendenzen auch bis hinein ins Versicherungsvertragsgesetz, oder baute der deutsche Gesetzgeber die scharfen polizeirechtlichen Bestimmungen wieder zugunsten einer liberaleren Gangart ab, wie es ja auch schon bei der Betrachtung der Gewinn- bzw. Chôma­ geversicherung zu beobachten war? a) Der Ideenstreit: Versicherungspolizeirecht versus zivilrechtliches Austauschverhätnis Die Bedingungen der privaten Feuerversicherer beinhalteten während des ge­ samten 19. Jahrhunderts lediglich eine denkbar knappe Klausel zum Problem der Überversicherung, welche nicht mehr als das versicherungsrechtlich Selbstver­ ständliche aussprach. Das galt zum Beispiel auch noch für § 7 I, III der Verbands­ bedingungen von 1886: dort hieß es, die Versicherung diene nur dem Ersatz des Brandschadens, nicht der Bereicherung; daher dürfe im Schadensfalle nicht mehr

674

Dazu insgesamt eingehend unter § 2 D IV 1.

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als der wahre Wert der versicherten Gegenstände zur Auszahlung kommen.675 Ganz ähnliche Bestimmungen trafen auch die Reglements der staatlich gelenkten Feuersozietäten.676 Im Angesicht der vergleichsweise umfangreichen Regeln, die das VVG in §§ 50, 51, 55 zur Überversicherung und ihren Rechtsfolgen bereit­ hielt, muss man ziemlich rasch zu dem ernüchternden Fazit kommen, dass für den Gesetzgeber die pragmatisch-spärlichen Klauseln der Feuerversicherungs­ bedingungen alleine nicht maßgeblich gewesen sein konnten. Die dogmenge­ schichtliche Entwicklung der Überversicherungsvorschriften war während des 19. Jahrhunderts stattdessen vom Widerstreit zweier gegensätzlicher Ideen ge­ prägt: den paternalistischen Gedanken des Versicherungspolizeirechts und den rein zivilrechtlichen Gedanken eines wertungsneutralen vertraglichen Austausch­ verhältnisses. Umfangreiche Vorschriften zur Überversicherung – nämlich aus der strengen Warte des Polizeirechts – enthielten die öffentlich-rechtlichen Mobiliarfeuerver­ sicherungsgesetze, die im Laufe dieser Forschungsarbeit schon öfters Erwähnung gefunden haben. In ihnen kam der rigide, polizeirechtliche Ansatz, den die Ge­ setzgeber des 19. Jahrhunderts verfolgten, um dem spekulativen Versicherungs­ missbrauch vorzubeugen, besonders deutlich zum Ausdruck. In Preußen hatte die örtliche Polizeibehörde jeden neu geschlossenen Mobiliarfeuerversicherungsver­ trag darauf zu überprüfen, ob nicht etwa eine verbotene Versicherung oberhalb des „gemeinen Werths“ vorlag; in einem solchen Fall war sie nach dem Gesetz von 1837 befugt und sogar verpflichtet, die Versicherungssumme durch hoheit­ 675

§ 7 I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Samm­ lung-AVB I, 75). Ähnlich §§ 10 I, 11 S. 3 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34); § 7 S. 1, 2 AVB Aachener und Münchener FeuerversicherungsGesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); § 7 S. 1, 3 Verbands-AVB Deutscher PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB  I,  38); § 7  I, II AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383); § 14 I, II 2 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65); ähnlich Art. 24 I, II, 30 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71). 676 § 2  I  1 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833) (Lappenberg XII, 258) (aber mit Möglichkeit der Übertaxation um 10 %); §§ 16, 27 Reglement Pro­ vinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836) (PrGS  1836,  13); §§ 11, 13, 20 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846) (PrGS 1846, 171); §§ 18, 56 I 2, 3 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS 1859, 477); §§ 9, 15 S. 3 Revidirtes Re­ glement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (PrGS 1862, 80); §§ 18 I, III, 51 III, IV Revi­ dirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (PrGS 1863, 578); § 27 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS 1863, 545) (mit ausdrücklichem Verweis in § 40 auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz für die Versicherung beweglicher Sachen); §§ 8 I, II, 10 I, II Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66) (mit Mög­ lichkeit der Übertaxation um 10 %); § 10 Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-­Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (PrGS 1871, 163); § 30 I Revidirtes Re­ glement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122) (wiederum mit ausdrück­lichem Verweis auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz in § 6  I); A  § 3  IX  1, X  2, 3 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (SammlungAVB I, 99).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

lichem Eingriff präventiv auf den „gemeinen“ Sachwert zurückzuführen.677 Im Jahr 1841 weitete Preußen seine versicherungspolizeilichen Regeln auch auf die privat betriebene Immobiliarfeuerversicherung aus.678 Noch härter traf es indes­ sen den Versicherungsnehmer im Königreich Württemberg: er musste die Police nicht nur beim Vertragsschluss kontrollieren lassen, sondern auch während der gesamten Vertragsdauer „wesentliche Veränderungen in dem ordentlichen Be­ stande des versicherten Vermögens“ an die Polizeibehörden melden,679 wenn er im Schadensfalle nicht die Hälfte seines Versicherungsanspruches an die Staats­ kasse verlieren wollte.680 Innerhalb der versicherungsrechtlichen Kodifikationsbewegung deutete sich al­ lerdings schon während des 19. Jahrhunderts eine allmähliche Ablösung von solch rigorosen polizeilichen Präventionsvorschriften an. Zwar hatte der württembergi­ sche HGB-Entwurf von 1839681 – ebenso wie später der preußische Entwurf von 1857682 und der bayerische BGB-Entwurf von 1861683 – noch die Teilnichtigkeit des Versicherungsvertrags ausgesprochen, soweit die Versicherungssumme das versi­ cherbare Interesse überschritt; das entsprach im Übrigen auch den Vorschriften der ausländischen Handelsgesetze, die in den Motiven des württembergischen Entwur­ fes ausdrücklich als Regelungsvorbilder benannt wurden.684 Zur gleichen Zeit ver­ wiesen insbesondere die Motive des preußischen Entwurfes expressis verbis auch noch auf die strikten Vorkehrungen des Mobiliarfeuerversicherungsgesetzes von 1837.685 Den drei Entwürfen kann damit ein gewisses Element der Missbrauchs­ prävention nicht abgesprochen werden.686

677 §§ 1 I, 4 I 1 Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837 (PrGs 1837, 102); ähnlich Art. 1, 6 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versi­ cherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (RegBl. Württem­ berg 1830, 207). 678 Allerhöchste Kabinettsordre vom 30. Mai 1841., die Ausdehnung der Bestimmungen in den §§. 14. und 15. des Gesetzes über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen vom 8. Mai 1837. auf Versicherung von Immobilien bei in- und ausländischen Feuer-Versicherungsgesell­ schaften betreffend (PrGS 1841, 122). 679 Art. 7 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweg­ lichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830. 680 Art. 15 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des be­ weglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830. 681 Art. 435 HGB-Entwurf Württemberg (1839) (Textausgabe, 1839); vgl. Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 125. 682 Art. 332 I HGB-Entwurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857); vgl. Malß, Betrachtungen (1862), S. 57; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 127 f. 683 Art. 808 BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textausgabe, 1861). 684 Ziff. 1680 Codigo Commercial (1833) (Textausgabe, 1879); Art. 253 I Wetboek van Koop­ handel (1838) (Officiële Uitgave, 1838). Vgl. dazu Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 435 (Textausgabe, 1840). 685 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 332 (Textausgabe, 1857). 686 So auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 51 Rn. 3.1; Malß, Betrachtungen (1862), S. 57.

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Doch es kann ebensowenig übersehen werden, wie schon die drei einzelstaat­ lichen Entwürfe das strenge, präventiv wirkende Überversicherungsverbot nach und nach aufweichten. Schon der Hofacker-Entwurf aus Württemberg wollte die „Confiscation der Vergütungssumme“, die erst neun Jahre vorher in Art. 15 des württembergischen Mobiliarfeuerversicherungsgesetzes eingeführt worden war, wieder abschaffen687  – wohlgemerkt nicht zum Schutze des Versicherungsneh­ mers, sondern weil eine solche Sanktion auch den Versicherer selbst hart treffe.688 Zweitens jedoch sahen alle drei partikularstaatlichen Entwürfe die Rückzah­ lung eines verhältnismäßigen Prämienteils vor, falls der Vertrag wegen einer ver­ botenen Überversicherung teilnichtig sein sollte. Den entsprechenden Regeln lag allerdings eine seerechtlich geprägte Figur zugrunde: der sogenannte Ristorno der überbezahlten Prämie. Regeln zum Ristorno  – also zur Rückzahlung gezahlter Assekuranzprämien – gehörten zu dieser Zeit bereits zum absoluten Kernbestand des in- und ausländischen Seeversicherungsrechts: der Ristorno fand in der Re­ gel statt, wenn der Seeversicherungsvertrag vollständig oder teilweise nichtig war oder beendet wurde; nur im Detail unterschieden sich Voraussetzungen und Aus­ gestaltung des Ristornos in den einzelnen Seeversicherungsordnungen.689 Durch den systematisch-abstrahierenden Ansatz der versicherungsrechtlichen Entwürfe gelangte die Figur des Ristornos jedoch erstmals auch in die Binnenversicherung. Der württembergische690 und der preußische Entwurf691 hatten den Ristorno jedoch noch vom guten Glauben des Versicherungsnehmers abhängig machen wollen: nur wenn dieser also eine Überversicherung geschlossen hatte, weil er den Wert der versicherten Sache gutgläubig zu hoch geschätzt hatte, konnte er die Rückerstat­ tung eines proportionalen Prämienteils fordern. Solche Einschränkungen kannte der bayerische BGB-Entwurf nicht mehr. Der bayerische Entwurfsverfasser hatte die Überversicherung nämlich nicht mehr unter die allgemeine, seerechtlich ge­ formte Regel zum Prämienristorno692 subsumieren wollen. Er hatte dem Fall der Überversicherung in Art. 808 eine spezielle eigene Rückzahlungsvorschrift zu­ gedacht, welche lautete:

687

Art. 480 II HGB-Entwurf Württemberg (1839). Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 480. 689 Zum Ristorno bei Teil-Überversicherungen, s. Ziff. 1787 Codigo Commercial (1833); Art. 281 Wetboek van Koophandel (1838); vgl. auch § 2336 ALR (1794) (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl 1996]). Vgl. dazu Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 466; Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 348. Zum Ristorno insgesamt Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 305 ff., 318; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 369 f.; Pöhls, Bd. 4/2 (1834), § 638 (S. 477 ff.). 690 Art. 466 HGB-Entwurf Württemberg (1839), sehr ähnlich dem niederländischen Vor­ bild, das insoweit ebenfalls forderte, dass der Versicherungsnehmer „te goeder trouw hebbe gehandeld“. 691 Art. 348 I HGB-Entwurf Preußen (1857) (mit differenzierten Regelungen zum Verschul­ den einer oder beider Vertragsparteien in den folgenden Absätzen); vgl. auch von Staudinger (1858), S. 169. 692 Art. 825 BGB-Entwurf Bayern (1861), der nach wie vor auf die Gutgläubigkeit des mari­ timen Versicherungsnehmers abstellte. 688

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„Art. 808. [1] Eine Versicherung, welche den Betrag des Werthes der versicherten Sache übersteigt (Ueberversicherung), gilt nur bis zu diesem Betrage. [2] Kommt es gemäß Abs. 1 zu einer Minderung der Versicherungssumme, so mindert sich im entsprechenden Verhält­ nisse die Prämie und kann der bezahlte Mehrbetrag zurückgefordert werden.“

Diese Vorschrift, welche die anteilige Rückzahlung der Versicherungsprämie ganz unabhängig von Fragen des Verschuldens oder des guten oder bösen Glau­ bens vorsah, sprach Bände über die geänderte Denkweise des Gesetzgebers. Dem bayerischen Entwurf kam es nur noch darauf an, dass die geschuldete Versiche­ rungsprämie ein exaktes Äquivalent zur potentiellen Höhe des Schadens dar­ stellte; eine präventivpolizeiliche Ader kann man dem Entwurf in keiner Weise mehr attestierten. Das Seeversicherungsrecht des ADHGB, das im gleichem Jahr wie der bayerische Entwurf erschien, folgte allerdings wieder dem preußischen HGB-Entwurf (Art. 790, 900).693 Schließlich kehrte auch der Dresdener Obliga­ tionenrechtsentwurf von 1866 wieder zu der Lösung zurück, die schon dem würt­ tembergischen und dem preußischen Kodifikationsversuch gemeinsam war, und machte die Prämienrückzahlung vom guten Glauben des Versicherungsnehmers abhängig.694 Insoweit war der bayerische Entwurf während des 19. Jahrhunderts noch eine Ausnahmeerscheinung geblieben. Aus der Untersuchung der vier deutschen Entwürfe wird am Ende zweierlei deut­ lich: erstens lässt sich aus den Entwürfen jedenfalls eine gewisse Tendenz lesen, sich von der harten, präventiven Linie, die ihren Höhepunkt in den versicherungs­ polizeilichen Gesetzen der 1830er Jahre gefunden hatte, wieder abzukehren und das zivilrechtliche Austauschverhältnis zwischen den Parteien wieder stärker zu betonen. Zweitens hat sich aber gezeigt, dass diese allmähliche Entwicklung wenig mit der äußerst knapp und pragmatisch gehaltenen Feuerversicherungspraxis des 19. Jahrhunderts zu tun hatte, sondern eher aus dem Seeversicherungsrecht in die Binnenversicherung einwanderte. b) Das Versicherungsvertragsgesetz: das wertungsneutrale vertragliche Austauschverhältnis als Leitbild des Gesetzgebers So sehr sich in den Entwürfen des 19. Jahrhunderts schon die Tendenz ange­ deutet hatte, das Recht der Überversicherung von einem Instrument der präventi­ ven Missbrauchsvermeidung zu einem reinen Ausdruck des zivilrechtlichen Aus­ tauschverhältnisses zu machen: die Entwürfe sahen doch allesamt noch ipso iure die Teilnichtigkeit des Versicherungsvertrages vor, soweit die Versicherungssumme den Versicherungswert überschritt. Das änderte sich erst mit dem Versicherungs­

693

Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 396. Art. 897 I, 908 II Entwurf Dresd. OR (1866) (Textausgabe von Hrsg. Francke, 1866). Vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 380; Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 132 ff. 694

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vertragsgesetz, das mit seinen §§ 50, 51695 den Umgang mit dem Problem der Über­ versicherung weitestgehend wieder in die Hände der Vertragsparteien legte.696 Im VVG von 1908 hieß es: „§ 51. [1] Ergibt sich, daß die Versicherungssumme den Wert des versicherten Interesses (Versicherungswert) erheblich übersteigt, so kann sowohl der Versicherer als der Versi­ cherungsnehmer verlangen, daß zur Beseitigung der Überversicherung die Versicherungs­ summe, unter verhältnismäßiger Minderung der Prämie für die künftigen Versicherungspe­ rioden, herabgesetzt wird. [2] Schließt der Versicherungsnehmer den Vertrag in der Absicht, sich aus der Überversicherung einen rechtswidrigen Vermögensvorteil zu verschaffen, so ist der Vertrag nichtig; dem Versicherer gebührt, sofern er nicht bei der Schließung des Vertrags von der Nichtigkeit Kenntnis hatte, die Prämie bis zum Schluss der Versicherungs­ periode, in welcher er diese Kenntnis erlangt. […] §§ 55. Der Versicherer ist, auch wenn die Versicherungssumme höher ist als der Versiche­ rungswert zum Eintritt des Versicherungsfalls, nicht verpflichtet, dem Versicherer mehr als den Betrag des Schadens zu ersetzen.“

Statt die Versicherungssumme von Gesetzes wegen zu kappen, gewährte das VVG also beiden Parteien das Recht, von ihrem jeweiligen Vertragspartner die Zustimmung zur Herabsetzung der Versicherungssumme verlangen (§ 51 I). Die Bestimmung galt nach ihrem Wortlaut unabhängig davon, ob die Überversicherung schon bei Vertragsschluss bestanden hatte oder ob sie erst später durch den Wert­ verfall des versicherten Gegenstandes eintrat. Das Gesetz ging also davon aus, dass sowohl der Versicherer als auch der Versicherungsnehmer ein lebhaftes Interesse an der entsprechenden Herabsetzung hatten: der Versicherer, um im Unglücksfall der Gefahr einer überhöhten Haftung zu entrinnen – der Versicherungsnehmer, um überhöhten Prämien zu entgehen, welche ihm keinen Vorteil brachten, weil der Versicherer wegen § 55 VVG am Ende trotzdem nur den wahren Schaden er­ setzen musste.697 Zwar gehörten die Normen als ein Ausdruck des Bereicherungs­ verbots nach wie vor zu den elementaren Grundsätzen des Versicherungsrechts und waren daher für beide Parteien zwingend; doch Spuren eines gesteigerten polizeilichen Interesses an der Prävention einer Überversicherung, wie sie sich noch durch das gesamte 19. Jahrhundert gezogen hatten, waren im VVG nicht mehr ersichtlich. Das gilt umso mehr, als das Herabsetzungsrecht aus § 51 I erst bei erheblichen Überversicherungen bestand, geringfügige Überversicherungen mithin vom Gesetz sogar geduldet wurden. Lediglich eine erwiesen vorsätzliche,

695

RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908. 696 §§ 51, 55 VVG (1908) entspr. weitestgehend §§ 39, 42 RJA-E (1902) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91); §§ 47, 50 VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); §§ 50, 54 VVGBRV (1904) (GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); §§ 51, 55 VVG-RTV (1905) (Nachdruck, [1963], S. 440); §§ 51, 55 VVG-RTV (1907) (Nachdruck, [1963], S. 524). 697 Vgl. Mot. VVG (1908) zu § 51 (Nachdruck, [1963], S. 59), die sich diese Funktionsweise der Norm in der Praxis ausdrücklich erhofften; vgl. von Liebig (1911), S. 133. So auch schon in vorgesetzlicher Zeit V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 361 f.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

erhebliche Überversicherung bestrafte das VVG repressiv mit vollumfänglicher Vertragsnichtigkeit, falls der Versicherungsnehmer schon beim Vertragsschluss in der Absicht einer rechtswidrigen Bereicherung gehandelt hatte.698 Aber selbst dann verfiel dem Versicherer die Prämie nur noch bis zum Ende der laufenden Versicherungsperiode;699 eine weitere, bestrafende oder abschreckende Sanktion wurde dem Versicherungsnehmer nicht mehr angedroht. Damit stellte sich das VVG nicht nur dem alten preußischen Mobiliarfeuerver­ sicherungsgesetz von 1837 entgegen. Sein Vorgehen widersprach ebenfalls der ganz herrschenden seeversicherungsrechtlichen Doktrin, welche noch immer ipso iure die Teilnichtigkeit des Versicherungsvertrages anordnete.700 Diesen Sinnes­ wandel hatte der Gesetzgeber vollzogen, weil er erkannt hatte, dass insbesondere bei langlaufenden Mobiliarfeuerversicherungen starke Schwankungen im Ver­ sicherungswert auftreten können, zum Beispiel durch die rasche Wertabnutzung von Haushaltsgegenständen oder Industriemaschinen. Auf das Problem des Wert­ verfalls hatte den Gesetzgeber auch bereits eine Denkschrift aus den Kreisen der Feuerversicherer gestoßen;701 in der Seeassekuranz mit ihren relativ kurzen Versicherungslaufzeiten hatte es solche Probleme hingegen noch nicht im selben Maße gegeben. Dieser Gegebenheit konnte der Gesetzgeber, wie er erkannte, am besten mit dem beiderseitigen Korrekturrecht in § 51 I VVG beikommen. Damit die Parteien bei alledem nicht fortwährend den alltäglichen, schleichenden Wert­ verlust berücksichtigen mussten, bestand das Herabsetzungsrecht des § 51 I VVG erst, sobald der Wertverlust ein erhebliches Ausmaß erreicht hatte.702 Woher aber hatte das VVG seine Vorschriften zur Überversicherung genommen, wenn sie doch im Kontrast zu der bisherigen Praxis und der Seeversicherungs­ gesetzgebung standen? Ein Vorbild für die neue Regelung lieferte dem Gesetz­ geber – wie er in den Motiven selbst bezeugte703 – ausgerechnet eine bewährte seerecht­liche Figur, nämlich das Recht des Versicherers, eine erheblich überhöhte Werttaxe zu korrigieren. Ähnliche, von der seerechtlichen Praxis geformte Klau­ 698

Erläuternd: Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 318, wo klargestellt wird, dass selbst die Sanktion der betrügerischen Überversicherung nur bei „erheblichen“ Über­ versicherungen greift. Vgl. auch von Liebig (1911), S. 134; Müssener (2008), S. 189; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 240 (zum VVG-Entwurf von 1903). 699 Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 240. Zum insoweit geltenden „Prinzip der Unteilbarkeit der Prämie“, s. später unter § 3 D VIII 1. 700 § 786 HGB  (1897) (RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336) als Nachfolgevorschrift zu Art. 790 ADHGB (1861) (Textausgabe, 4. Aufl. 1861). Vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), § 51 Rn. 3.1; Müssener (2008), S. 189; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 353. 701 Vgl. Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 288 f. 702 Insgesamt Mot. VVG (1908) zu § 51; anerkennend Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 47; Vatke, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 375, 376. Vgl. zur Erfassung von Wertschwankun­ gen auch Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 353 (zum Entwurf von 1903); zum Problem bereits Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 9 ff. 703 Mot. VVG (1908) zu § 51.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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seln lassen sich bis ins Allgemeine Landrecht zurückverfolgen;704 in diesem Sinne bestimmte auch § 793 II des HGB von 1897, der Versicherer könne die „Herabset­ zung der Taxe fordern, wenn sie wesentlich übersetzt ist“.705 Die seerechtliche Vor­ schrift behandelte also nicht direkt den Fall der überhöhten Versicherungssumme, sondern setzte schon dort an, wo die Parteien den Wert des Schiffs oder der Ware selbst zu hoch taxiert hatten. Freilich lag der Analogieschluss, den der VVG-­ Gesetzgeber in eigener Regie durchgeführt hat, nicht sonderlich fern. Nur gewährte das VVG im Unterschied zum HGB beiden Parteien das Recht auf eine entspre­ chende Korrektur. Ergänzend und verstärkend zum Seerecht kommt hier aber auch noch der schweizerische VVG-Entwurf von Roelli als Vorbild infrage, der ganz ähn­ liche Regelungen zur Überversicherung statuierte. Dort war nämlich bestimmt:706 „Art. 46. [1] Uebersteigt die Versicherungssumme den Versicherungswert, so liegt eine Ueberversicherung vor. […] Art. 47. […] [2] Wird […] eine Ueberversicherung oder Doppelversicherung in betrüge­ rischer Absicht geschlossen, so ist der Versicherer an den Vertrag nicht gebunden. Jeder Versicherer hat auf die ganze vereinbarte Gegenleistung Anspruch. Art. 48. [1] Hat sich im Laufe der Versicherung der Versicherungswert wesentlich vermin­ dert, so kann sowohl der Versicherer wie der Versicherte die verhältnismäßige Herabset­ zung der Versicherungssumme verlangen. [2] Die Prämie ist für die künftigen Versiche­ rungsperioden entsprechend zu ermässigen. […] Art. 55. [1] Der Schaden ist auf Grundlage des Wertes zu bemessen, den der Gegenstand der Versicherung unmittelbar vor dem Eintritte des befürchteten Ereignisses gehabt hat (Ersatzwert). […]“

Materiell-rechtlich entsprach auch Roellis Lösung weitestgehend den parallelen Bestimmungen des VVG. Einzig und alleine die Regel in § 51 II Hs. 2 VVG war noch milder als Art. 47 II 2 des Roelli-Entwurfs, weil er selbst bei betrügerischen Überversicherungen den Prämienverfall auf die laufende Versicherungsperiode beschränkte. Indes hatte der erste VVG-Entwurf von 1902 diese spätere Regel des § 51 II Hs. 2 VVG noch gar nicht enthalten:707 sie hatte erstmals in die VVG-­ Bundesratsvorlage von 1904 Eingang gefunden,708 sodass die ursprüngliche Fas­ sung des Reichsjustizamtsentwurfs faktisch nichts anderes als eine systematisch neu arrangierte Kopie des Roelli-Entwurfes war. Einerseits hat sich das VVG also, auch durch Einflüsse aus dem Ausland, sowohl von den versicherungspolizeilichen Vorschriften des frühen 19. Jahrhunderts als 704

§ 2170 ALR (1794); vgl. auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 1 S. 487 f. zur Korrektur über­ höhter Taxen in der Seeversicherungspraxis. Zur gesamten Thematik s. auch schon unter § 2 D X 1 a. 705 So schon Art. 797 II Hs. 1 ADHGB (1861); vgl. auch die entsprechende Regelung in § 57 S. 2 VVG (1908). 706 Dazu auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 238 f.; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 353. 707 § 39 RJA-E (1902). 708 § 50 II Hs. 2 VVG-BRV (1904); vgl. auch Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 185.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

auch von seeversicherungsrechtlichen Vorbildern komplett emanzipiert und da­ durch eine zweckentsprechende Regelung für die Feuerversicherung geschaffen.709 Ganz besonderes gilt das für die Regeln, mit denen auch starke Wertschwankun­ gen von feuerversicherten Mobilien erfasst und somit die erst nach Vertragsschluss eintretenden Überversicherungen bewältigt werden konnten. Das entsprach im Ergebnis den Bedürfnissen der Feuerversicherungspraxis. Andererseits waren Regelungen wie §§ 50, 51 VVG in den damals verwendeten Allgemeinen Feuer­ versicherungsbedingungen gar nicht enthalten. Sie entstanden vielmehr in einer selbsttätigen Auseinandersetzung des Gesetzgebers mit der bisherigen, seeversi­ cherungsrechtlich dominierten Gesetzgebung und den tatsächlich vorhanden Be­ dürfnissen der Binnenversicherungspraxis. Von einer getreuen Übernahme des vorgesetzlichen Praxisrechts kann daher kaum gesprochen werden. 2. Die Versicherung bei mehreren Versicherern Ähnlich der Überversicherung erblickten die Partikulargesetzgeber des 19. Jahr­ hunderts auch in der mehrfachen Versicherung ein und desselben Gegenstandes einen schädlichen Anreiz zur Brandstiftung, zumindest falls die Versicherungen in ihrer Summe das versicherbare Interesse überschritten. Auch die Versicherung bei mehreren Versicherern war daher Gegenstand der erörterten versicherungspolizei­ lichen Gesetze, die ab den 1830er Jahren in mehreren deutschen Staaten erlassen wurden; hier kann also wiederum die präventivpolizeiliche Reglementierung der mehrfachen Versicherung von der eigentlichen zivilrechtlichen Kodifikations­ debatte getrennt werden. a) Die mehrfache Versicherung in der Praxis des 19. Jahrhunderts und ihre rechtlichen Herausforderungen Mit gewohnter Schärfe ging das bereits mehrmals erwähnte preußische Mobi­ liarfeuerversicherungsgesetz von 1837 gegen mehrfache Versicherungen vor. Sein § 2 pönalisierte die mehrfache Versicherung nicht nur, wenn dadurch der Versi­ cherungswert überschritten wurde, sondern begegnete schon der mehrfachen Ver­ sicherung per se mit größtem Misstrauen: „§ 2. Es ist unzulässig, Versicherungen auf einen und denselben Gegenstand bei verschie­ denen Versicherungsgesellschaften zu nehmen. Eine Ausnahme von dieser Regel findet nur bei solchen kaufmännischen Waarenlägern und andern großen Vorräthen statt, welche einen Werth von mindestens Zehntausend Thalern haben. Der Gesammtbetrag der einzel­ nen Versicherungen darf jedoch auch in diesem Falle nicht über den gemeinen Werth des Versicherungs-Gegenstandes hinausgehen. Sind dergleichen Waarenläger oder Vorräthe bereits irgendwo versichert, so ist bei anderweitiger Versicherung, der Betrag der frühe­ 709

So auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 239.

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ren anzugeben.[710] Andererseits muß aber auch der frühere Versicherer von der späteren Versicherung innerhalb acht Tagen nach Abschluß des Kontrakts durch den Versicherten benachrichtigt werden.“

Verstöße gegen diesen § 2 ahndeten die preußischen Polizeibehörden mit Geld­ bußen.711 Das präventivpolizeiliche Interesse des Gesetzgebers ging also tatsäch­ lich so weit, die Beteiligung von zwei Versicherern überhaupt zu untersagen, sofern es sich beim versicherten Gegenstand nicht um einen hochwertigen Warenvorrat handelte712 – über das eigentliche Ziel, der spekulativen Bereicherung des Versi­ cherten vorzubeugen, schoss das Gesetz also noch bei Weitem hinaus. Vollkommen verboten war die mehrfache Versicherung übrigens auch bei den meisten staatlich gelenkten Gebäude- und Mobiliarfeuersozietäten;713 für die wei­ tere rechtsdogmatische Entwicklung der mehrfachen Versicherung spielten die öffentlichen Anstalten daher keine tragende Rolle. Die zivilrechtliche Komponente der mehrfachen Versicherung, soweit sie über­ haupt noch zulässig war, stellte die Vertragsparteien indes vor gänzlich andere Herausforderungen. Es stellten sich dabei hauptsächlich zwei materiell-rechtliche Fragen: erstens, falls denn eine mehrfache Versicherung über den Versicherungs­ wert hinaus überhaupt erlaubt war, wie die Haftung zwischen den beteiligten Ver­ sicherern aufgeteilt werden soll. Auf der anderen Seite stellte sich die Frage, ob ein Versicherungsnehmer, der bei mehreren Versicherern zeichnete, den beteiligten Versicherern diesen Umstand auch anzeigen musste – und falls ja, mit welchen Sanktionen er im Unterlassungsfall zu rechnen hatte. 710 S. 3 und S. 4 zeigen im Gesamtkontext, dass sich das absolute Verbot der mehrfachen Versicherung nicht nur auf die mehrfache Versicherung bezog, die gleichzeitig zu einer Über­ versicherung führte, sondern auf jede erdenkliche Versicherung bei mehreren Versicherern (so auch RG JW 1901, 581, 582) – eben mit Ausnahme von Warenlagern und Vorräten, die bei einer entsprechenden Deklaration bei mehreren Versicherern versichert werden durften. 711 § 23 (5–100 Th. bei Versäumung der Anzeige); § 24 (10–500 Th. bei mehrfacher Versi­ cherung). 712 So auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 90 Rn. 1; ­Müssener (2008), S. 191 f. Weniger streng Art. 8 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschrän­ kungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (RegBl. Württemberg 1830, 207), der nur die die mehrfache Versicherung „derselben Vermö­ genstheile“ verboten hat. 713 § 2 III Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833); § 11 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); §§ 8, 9 Reglement Feuersozietät Königs­ berg i.Pr. (1846); § 10 I 2, II Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859); §§ 6, 7 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); §§ 11 I, 12 Revidir­ tes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); § 28 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (mit ausdrücklichem Verweis in § 40 auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungs­ gesetz für die Versicherung beweglicher Sachen); §§ 4 I, II Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867); §§ 8, 14 I 2, II Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungs­ gesellschaft Westpreußen (1871); § 22 Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (wiederum mit ausdrücklichem Verweis auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz in § 6 I); §§ 9, 10 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902) (Sammlung-AVB I, 79).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

In den AVB der ältesten Feuerversicherer regelte man die beiden soeben aufge­ worfenen Probleme knapp und zweckentsprechend: wenn der Versicherungsneh­ mer noch eine zweite, dritte oder weitere Versicherung abschloss, musste er alle be­ teiligten Versicherer davon in Kenntnis setzen, wobei ein Versicherer schon alleine dann von seiner Leistungspflicht befreit war, wenn der Versicherungsnehmer die geforderte Anzeige objektiv-rechtlich unterlassen hatte. Im Unglücksfall verteilte man den Schaden über sämtliche beteiligte Versicherer, und zwar nach Propor­ tion der versicherten Summen.714 In ihrer wesentlichen Struktur änderte sich diese Praxis über das komplette 19. Jahrhundert nicht. Noch in den standardisierten Be­ dingungen des Verbandes deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften von 1886 hieß es, der Versicherungsnehmer habe bei Vertragsschluss unter anderem „jede anderweit schon auf den Versicherungsgegenstand geschlossene Versiche­ rung richtig anzugeben“, namentlich unter Androhung der Leistungsfreiheit.715 Für die erst nach Vertragsbeginn entstehende anderweitige Versicherung galt ferner:716 „§ 5. [1] Wenn der Versicherte im Laufe der Versicherung […] 2. versicherte Gegenstände noch anderweit versichert, […] so ruht bis zur schriftlichen Genehmigung dieser Verände­ rungen seitens der Gesellschaft oder bis zur Wiederherstellung des früheren Zustandes die Entschädigungsverpflichtung der Gesellschaft […]“

Die Anzeige der zweiten Versicherung fand hier zwar keine explizite Erwäh­ nung; die Klausel setzte sie aber unausgesprochen voraus: wenn der Versiche­ rungsnehmer die Vertragssuspension nach § 5 I Nr. 2 abwenden wollte, musste er dem ersten Versicherer gegenüber anzeigen, dass er eine zweite Versicherung zu schließen beabsichtigte, und auf dessen schriftliche Genehmigung warten. Ob der Versicherungsnehmer die ihm obliegende Anzeige verschuldet oder unverschuldet unterlassen hatte, spielte dabei keine Rolle. Die zweite hier aufgeworfene Frage, nämlich in welchem Verhältnis die ein­ zelnen beteiligten Versicherer zueinander standen, beantwortete die Praxis übli­ 714

Zur sehr sporadisch geregelten Versicherungspraxis des frühen 19. Jhdts. s. unter § 2 D IV 4. § 3 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886). Ähn­ lich § 6 S. 2 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 4 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 4 Verbands-AVB Deutscher Pri­ vat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 3 AVB Aachener und Münchener Feuerver­ sicherungs-Gesellschaft (1888); §§ 1 I 2, 2 I AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). 716 Ähnlich §§ 7 I lit. a, II, 8 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (aber ohne Möglichkeit der Wiederinkraftsetzung einer erloschenen Versicherung); § 5 AVB Aache­ ner und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 5 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 5 I Nr. 2 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); A  § 18  I, II Reglement Provinzial-Feuer-Versiche­ rungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (bzgl. Gebäudefeuerversicherung; mit Verschulden­ serfordernis, bei verschuldeten Verstößen lediglich Kürzung der Versicherungssumme um 25 %), ebd. B § 3 V (bzgl. Mobiliarfeuerversicherung: wie in den AVB der Privatversicherer); Art. 24 III AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905) (ohne Möglichkeit der Wie­ derinkraftsetzung). Vgl. Müssener (2008), S. 194 (zu den AVB der Aachener und Münchener); Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 240. 715

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cherweise mit einer Schadensquotelung nach dem Maßstab der einzelnen Versi­ cherungssummen. Sämtliche Versicherer standen im Ergebnis als Teilschuldner nebeneinander. Die untersuchten Verbandsbedingungen von 1886 beschrieben diese ganz übliche Lösung nur noch mit äußerst knappen Worten:717 „§ 7. […] [3] Übersteigt der Wert der versicherten Gegenstände zur Zeit des Brandes die darauf versicherte Summe, oder sind sie noch anderswo versichert, so wird der Schaden nur pro rata vergütet.“

b) Die Kodifikationsdebatte im 19. Jahrhundert: die mehrfache Versicherung im Schatten der Seeversicherung Man dürfte nun mit Fug und Recht erwarten, dass die Entwurfsverfasser des 19. Jahrhunderts entweder die Linie der rigorosen versicherungspolizeilichen Gesetzgebung weiterverfolgten oder aber das teilweise Verbot der mehrfachen Versicherung nach und nach aufweichten, wie es ja schon beispielsweise bei der Überversicherung geschehen ist. Umso überraschender ist es, dass die Gesetzent­ würfe dieser Zeit sich in Ansehung der mehrfachen Versicherung mit einem völlig anderen Problem beschäftigten; nicht umsonst wurde das Beispiel der mehrfachen Versicherung schon früher in dieser Forschungsarbeit bemüht, um zu illustrieren, wie die Entwurfsverfasser des 19. Jahrhunderts zum Teil Gedanken des Seever­ sicherungsrechts verabsolutierten und dabei auch auf die Binnenversicherung übertrugen. Das in- und ausländische Seeversicherungsrecht hatte danach differenziert, ob die verschiedenen Versicherungsverträge am selben Tag oder an verschiedenen Tagen geschlossen worden waren – teilweise auch danach, ob die Versicherer auf derselben oder auf unterschiedlichen Policen gezeichnet hatten. Das rührte, wie schon erörtert, daher, dass der Versicherungsnehmer und sein Kommissionär sich im Seehandelsverkehr oft in unterschiedlichen Erdteilen aufhielten. So passierte es häufig, dass beide unabhängig voneinander eine Versicherung über ein und den­ selben Gegenstand abschlossen, ohne dass sie vorher miteinander kommunizie­ ren konnten.718 Der Feuerversicherungspraxis war eine solche Fallunterscheidung freilich völlig fremd. Dennoch kehrte diese seerechtlich geprägte Differenzierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder in die Kodifikationsdebatte ein, und zwar insbesondere 717 So auch § 11 S. 1 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 7 S. 2 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 7 S. 2 VerbandsAVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 7 III 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); A § 3 X 4 Reglement Provinzial-FeuerVersicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903); § 14 III AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). 718 Dazu insgesamt schon unter § 3 C II 1 c (zum württembergischen Entwurf).

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auch in die binnenversicherungsrechtliche Debatte.719 Der Entwurf für ein würt­ tembergisches HGB stützte sich zum Beispiel maßgeblich auf das niederländische und das portugiesische Versicherungsrecht,720 beide maritim geprägt, indem er normierte: „Art. 462. [1] Ist eine Versicherung nicht auf den vollen Werth abgeschlossen (Art. 436.); so haften die folgenden Versicherer der Zeitordnung nach für den Mehrwerth. [2] Wurden über denselben Gegenstand, für dieselbe Zeit, und gegen dieselbe Gefahr, mehrere Versicherun­ gen durch verschiedene Policen unter demselben Tage auf den vollen Werth abgeschlossen; so haften alle Versicherer zusammengenommen nach Verhältniß ihrer Versicherungssum­ men nur für den vollen Werth.“

Wenn bzw. soweit eine der „nachzeitig“ geschlossenen Versicherungen nichtig war, wurde der Vertrag nach den vorhin erörterten Vorschriften zum Prämienri­ storno rückabgewickelt. Dem Versicherungsnehmer wurde also seine Prämie zu­ rückgezahlt, wenn er gutgläubig gehandelt hatte.721 Dass der württembergische Entwurf sich so eng an den Bedürfnissen der Seeassekuranz orientierte, stand schon bei Zeitgenossen wie Osiander in der Kritik: es gebe keinen Grund, die seerechtlichen Besonderheiten auch auf das übrige Schadensversicherungsrecht anzuwenden.722 Dennoch zog sich die seerechtlich inspirierte Differenzierung zwischen gleich­ zeitig geschlossenen und nacheinander geschlossenen Mehrfachversicherungen nun wie ein roter Faden durch fast alle Entwürfe des 19. Jahrhunderts. Der Ent­ wurf eines preußischen HGB von 1857723 kannte sie ebenso wie 1866 der Dres­ dener Obligationenrechtsentwurf.724 Nachdem die Regel in Art. 791 ADHGB für das maritime Versicherungsrecht ausdrücklich kodifiziert worden war, hatte sich auch in der Wissenschaft die Meinung verbreitet, der Gesetzgeber habe mit dieser Regel einem allgemeingültigen Prinzip des Versicherungsrechts zur Geltung ver­ holfen.725 Lediglich der bayerische BGB-Entwurf von 1861 hatte einen anderen Ansatz gewählt: er sah es als „natürliche Folge“ aus dem strikten Überversiche­ rungsverbot an, dass auch eine mehrfache Versicherung nicht zur Überschreitung des versicherbaren Interesses führen dürfe;726 in der Folge erklärte er den später geschlossenen Vertrag für nichtig, soweit die Gesamtversicherungssumme den Ver­ 719

Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 59, 60 Rn. 1. Ziff.  1772, 1773 Codigo Commercial (1833); Art. 277, 278 Wetboek van Koophandel (1838); vgl. Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 462. Die bis in den Wortlaut gehenden Übereinstimmungen zwischen dem niederländischen Wetboek und dem württembergischen HGB wurden im Kapitel § 3 C II 1 c ebenfalls schon ausführlich analysiert. 721 Art. 466 HGB-Entwurf Württemberg (1839). 722 Osiander (1844), S. 71. 723 Art. 332 III, IV, 333 HGB-Entwurf Preußen (1857). Vgl. Duvinage (1987), S. 21. 724 Art. 899, 900 Entwurf Dresd. OR (1866). 725 Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 396 f. mit direktem Verweis u. a. auf den württembergischen und den preußischen Entwurf sowie Art. 791 ADHGB (1861); vgl. auch V. Ehrenberg, Versi­ cherungsrecht (1893), S. 374 ff.; Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 14 ff., 17 ff. 726 Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 809. 720

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sicherungswert überschritt.727 Die Möglichkeit zweier gleichzeitig geschlossener Verträge erwähnte er dagegen gar nicht. Mit dieser Lösung blieb der bayerische Entwurf während des 19. Jahrhunderts aber eine Ausnahmeerscheinung. Insgesamt hatte der legislatorischen Debatte um die Mehrfachversicherung also hauptsächlich eine rein seeversicherungsrechtliche Problematik ihren Stempel auf­ gedrückt; an den tatsächlichen Entwicklungen in der Feuerversicherungspraxis gingen diese Regeln zum größten Teil vorbei. So blieb auch die Anzeige der ander­ weitigen Versicherung – das zweite zentrale Problemfeld in der Binnenversiche­ rungspraxis – in den beiden HGB-Entwürfen von 1839 und 1857 völlig unbeachtet. Gleiches galt für den Dresdener Obligationenrechtsentwurf. Nur der bayerische Entwurf erlaubte es dem Versicherer immerhin ausdrücklich, dem Versicherungs­ nehmer die Anzeige einer anderweitigen Versicherung in seinen AVB zur Pflicht zu machen.728 Eine solche Klausel sei – so die Motive – deswegen sinnvoll, weil jede anderweitig geschlossene Versicherung das Brandrisiko erhöhen könne.729 Hier setzte sich also im Endeffekt die Denkweise des Gesetzgebers fort, den Ver­ sicherten als potentiellen Versicherungsbetrüger zu sehen – und zwar umso mehr, je umfassender er versichert war. Gerade die Regelungstechnik des bayerischen Entwurfes, der hier kein eigenes Gebot aussprach, sondern ausdrücklich Raum für zweckdienliche AVB-Klauseln ließ, spricht Bände darüber, dass sein Verfasser sich wirklich mit der einschlägigen Binnenversicherungspraxis auseinandergesetzt haben musste. Alleine wurde auch diese Idee des bayerischen Entwurfes nie zum Gesetz und verschwand über die nächsten 40 Jahre wieder. c) Das Versicherungsvertragsgesetz: mehr als nur die Rückkehr zur Versicherungspraxis Erst das Versicherungsvertragsgesetz von 1908 konnte in dieser Hinsicht schließ­ lich aus dem Schatten der Seeversicherung treten. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich auch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts die Erkenntnis durch­ gesetzt, dass die Unterscheidung zwischen gleichzeitig geschlossenen und nach­ einander geschlossenen Versicherungsverträgen, wie sie für die Seeassekuranz in Art. 791 ADHGB ihren Niederschlag gefunden hatte, nicht per Analogieschluss auf das Recht der Binnenversicherung übertragbar war.730 Damit sollte man erwarten dürfen, dass sich der Gesetzgeber nunmehr eng an die etablierten Gewohnheiten der Binnenversicherungspraxis gelehnt hat. Doch auch das VVG setzte sich zu den gebräuchlichen AVB in Opposition – wenngleich mit einer ganz anderen Motiva­ tion als die Entwurfsverfasser des 19. Jahrhunderts. Die Reformen, die der VVG 727

Art. 809, 810 BGB-Entwurf Bayern (1861). Art. 811 BGB-Entwurf Bayern (1861). 729 Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 811. 730 RGZ 6, 177; 35, 48, 60. Vgl. Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 283; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 59, 60 Rn. 1. 728

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Gesetzgeber zum Beginn des 20. Jahrhunderts betrieb, betrafen beide dogmatische Problemkreise, um die das vertragliche Feuerversicherungsrecht des 19.Jahrhun­ derts gekreist war: die Haftungsverteilung zwischen den beteiligten Versicherern und die Anzeige einer mehrfachen Versicherung. aa) Die Haftungsverteilung zwischen den Versicherern: von der Teilschuldnerschaft zur Gesamtschuldnerschaft Schon der erste Entwurf des Reichsjustizamtes von 1902 brach mit einer we­ sentlichen rechtlichen Gewohnheit aus der Versicherungspraxis, indem er sämt­ liche Versicherer zu Gesamtschuldnern erklärte.731 So hieß es in § 46 des Entwurfs: „§ 46. [1] Ist ein Interesse gegen dieselbe Gefahr bei mehreren Versicherern versichert und übersteigen die Versicherungssummen den Werth, den das versicherte Interesse zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls hat (Doppelversicherung), so haften die Versicherer, auch wenn sie die Versicherung nicht gemeinschaftlich übernommen haben, in Ansehung des mehrfach versicherten Betrags als Gesammtschuldner. [2] Die Versicherer sind im Verhältnisse zu einander zu Antheilen nach Maßgabe der Beträge verpflichtet, deren Zahlung ihnen dem Versicherten gegenüber antragsgemäß obliegt. [3] Hat der Versicherte Verträge in der Absicht geschlossen, sich durch Doppelversicherung einen rechtswidrigen Vermögensvortheil zu verschaffen, so sind die sämmtlichen in dieser Absicht geschlossenen Verträge nichtig. Ein ohne solche Absicht eingegangenes Versicherungsverhältnis endigt, wenn später ein anderes Versicherungsverhältniß in solcher Absicht eingegangen wird. Jeder Versicherer kann die ganze Prämie verlangen.“

Sämtliche AVB hatten bis dato die Teilschuldnerschaft zwischen den beteiligten Versicherern angeordnet,732 wie sie auch in der oben zitierten Klausel aus den Be­ dingungen des Verbands deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften zu beobachten war. Das Modell war im deutschsprachigen Raum bislang auf wenig Widerspruch gestoßen – selbst der grundsätzlich recht reformfreudige Roelli-Ent­ wurf aus der Schweiz war nicht davon abgewichen.733 Bloß in der Dresdener Kon­ ferenz von 1866 hatte man Erwägungen in Richtung der Gesamtschuldnerschaft angestellt, weil diese Konstruktion „größere Rechtseinfachheit durch Festhaltung der allgemeinen civilrechtlichen Grundsätze“ erziele;734 eine frühere Fassung des Obligationenrechtsentwurf – die Entwurfsfassung nach der ersten Lesung – hatte alle beteiligten Versicherer sogar tatsächlich zu Gesamtschuldnern erklärt.735 Die 731 Mot. VVG (1908) zu §§ 59, 60; Duvinage (1987), S. 83; V. Ehrenberg, ZVersWiss 3 (1903), 315, 236; Müssener (2008), S. 194; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 353 f. 732 So auch die Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 284, 289 f.; vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 372; Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 15 f. 733 Art. 46 Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1); vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 353 f. 734 Prot. Dresd. OR, Bd. 6 (1866), S. 3282 ff., 3285; vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 399. 735 Art. 979 Entwurf eines für die deutschen Bundesstaaten gemeinsamen Gesetzes über Schuldverhältnisse (nach den in erster Lesung erfolgten Beschlüssen) (Anhang zu Prot. Dresd. OR, Bd. 5 [1865]).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Regelung war damals allerdings noch am vehementen Widerstand der Delegierten gescheitert: sie entspreche weder dem wahren Parteiwillen noch der ganz über­ wiegenden Versicherungspraxis „und müßte“ – wie Kübel die Mehrheitsmeinung der Konferenzmitglieder umschrieb – „schon deßhalb Bedenken erregen, da es doch wohl Sache der Gesetzgebung sei, an das Leben sich anzuschließen, nicht aber neues Recht zu schaffen.“736 Der Vorteil, den der Versicherte aus der gesamtschuldnerischen Haftung zie­ hen kann, lässt sich am besten an einem Beispiel verdeutlichen: angenommen, der Versicherungsnehmer habe bei mehreren Gesellschaften ein Gebäude im Wert von 90.000 Mark versichert, und zwar bei einem Versicherer zu 50.000 Mark, beim zweiten zu 40.000 Mark und beim dritten zu 30.000 Mark. Es läge also eine „Dop­ pelversicherung“ i. S. d. § 46 I VVG-Entwurf mit einer Gesamtversicherungssumme von 120.000 Mark vor. Träte an dem Haus nun ein Totalschaden ein, hätte der Ver­ sicherte nach den Bestimmungen der gebräuchlichen Feuerversicherungsbedin­ gungen vom ersten Versicherer eine Quote von 5/¹² des Schadens, vom zweiten 4/¹² und vom dritten 3/¹² verlangen können; er hätte mithin drei voneinander unabhän­ gige Ansprüche in der Höhe von 37.500, 30.000 und 22.500 Mark besessen. Das Risiko, dass einer jener drei Ansprüche durch die Insolvenz eines beteiligten Ver­ sicherers ausfällt, trüge der Versicherte selbst. Anderes ergab sich nun nach dem VVG-Entwurf: jeder Versicherer schuldete dem Versicherten unter § 46 I des Ent­ wurfes jeweils die volle von ihm gezeichnete Summe; insgesamt durfte der Ver­ sicherte freilich nicht mehr als den vollen Schadensbetrag einziehen. Die quotale Haftungsverteilung zu 37.500, 30.000 und 22.500 Mark erfolgte nach zivilrecht­ lichen Grundsätzen nur im Innenverhältnis der drei Versicherer.737 Bereits der VVG-Entwurf hatte damit das Risiko einer Versichererinsolvenz vom Versicherten genommen und auf die Gemeinschaft der gesamtschuldnerisch haftenden Versiche­ rer verlagert.738 Damit hatte der Gesetzgeber den Boden der Versicherungspraxis verlassen. Lediglich die Rechtsprechung des RG hatte zuvor in einem vereinzelten Urteil entschieden, dass die Haftungsverteilung zwischen mehreren Versicherern mit den zivilrechtlichen Grundsätzen der Gesamtschuldnerhaftung gelöst wer­ den müsse anstatt, wie häufig vertreten, mit einer Analogie zu den seerechtlichen HGB-Vorschriften.739 Die Feuerversicherungspraxis hatte dem Reichsjustizamt in einer Denkschrift noch ausdrücklich zu einer Abkehr von dieser Rechtsprechung geraten.740 Allem Anschein nach überzeugte den Gesetzgeber, sobald er sich erst einmal mit dem Problem befasst hatte, die versichertenfreundliche Gesamtschuld­ nerschaft mehr als die von der Praxis favorisierte Teilschuldnerschaft. 736 Prot. Dresd. OR, Bd. 6 (1866), S. 4554; vgl. Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 401 f. So auch Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 19 ff. 737 § 426 I, II BGB (1896) (RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195); entspr. der heutigen Fassung des BGB. 738 Dazu auch die Erläuterung im Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 522 ff.; zur Verlagerung des Insolvenzrisikos ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu §§ 59, 60 (mit ähn­ lichem Rechenbeispiel). 739 RGZ 6, 177; ablehnend V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 373 f. 740 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 289.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Die Anordnung der Gesamtschuldnerschaft war also ein Novum im deutschen Versicherungsrecht. Dementsprechend wurde sie von Anfang an in beinahe allen Gesetzgebungsstadien mit heftiger Kritik überzogen, hauptsächlich von Seiten der Privatversicherungsgesellschaften: die Gesamtschuldnerschaft mehrerer Versiche­ rer sei dem deutschen Versicherungsrecht völlig fremd und entspreche höchstens dem Haftungsmodell der englischen Rechtspraxis;741 besser solle man sich an der bereits für die Seeversicherung gesetzlich normierten Teilschuldnerschaft742 orientieren. Vorgebracht wurden dabei auch versicherungstechnische Argumente: die gesamtschuldnerische Haftung könne zum Beispiel zu erheblichen Schwie­ rigkeiten führen, wenn die beteiligten Versicherer jeweils andere Methoden der Schadensberechnung verwendeten oder wenn gar ausländische Versicherer an der Schadensliquidation beteiligt seien.743 Trotzdem blieb die im Reichsjustizamt entworfene Lösung im Kern unberührt und erlangte schließlich in Form des § 59 VVG Gesetzeskraft.744 In der amtlichen Begründung unterfütterte der Gesetzgeber seine Lösung mit Argumenten, die klar zugunsten der Versicherten Stellung bezogen. Gerade in der jüngeren Zeit befinde sich nämlich die Praxis der Kompositversicherung im Auf­ schwung, welche mehrere verschiedene Risiken, wie zum Beispiel die Feuer- oder Seegefahr für Kaufmannswaren, in einem einzigen Vertrag unter Deckung brach­ te.745 Durch diese Entwicklung zu polyfunktionalen Versicherungsprodukten ent­ stünden aber vielfach Überlappungen zwischen einzelnen Versicherungsverträgen, oftmals ohne die Kenntnis oder gar die Absicht des Vertragsschließenden. Dem Ver­ sicherten, so folgerte der Gesetzgeber, dürfe durch diesen Umstand nicht auch noch die Realisierung seiner Ansprüche erschwert werden.746 Immerhin zahle er auch für jeden einzelnen dieser Verträge eine ungeschmälerte Versicherungsprämie; er solle daher von jedem beteiligten Versicherer im Grundsatz die volle und nicht nur eine quotale Schadensdeckung verlangen können.747 Die versichertenfreund­ liche Position, welche der Reichsgesetzgeber mit seiner Reform einnehmen wollte, wird letztlich sogar noch unterstrichen von der Tatsache, dass er gleichzeitig mit 741

Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 522 f. Vgl. auch Mot. VVG (1908) zu §§ 59, 60; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 371. 742 § 787 I HGB (1897); entspr. Art. 791 ADHGB (1861). 743 Teilweise vertreten in „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.39 ff. (Feuerversicherung 4. Sitzung zu § 46 RJA-E = § 59 VVG). Denkschrift der Feuerversicherungs-VVaG v. 08. 10. 1903, S. 13. 744 § 46 RJA-E (1902) entspr. § 54 VVG-E (1903); § 58 VVG-BRV (1904); § 59 VVG-RTV (1905); § 59 VVG-RTV (1907); § 59 VVG (1908). 745 Zu einem Praxisbeispiel zweier „überlappender“ Kompositversicherungen vgl. RGZ 47, 168 (aus der Perspektive der Schiffs-Haftpflichtversicherung); vgl. auch V. Ehrenberg, Ver­ sicherungsrecht (1893), S. 380 f. 746 Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 522 ff.; Mot. VVG (1908) zu §§ 59, 60. 747 So auch schon die gesetzgeberischen Erläuterungen in der „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.39 ff. (Feuerversicherung 4. Sitzung zu § 46 RJAE = § 59 VVG).

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der Kodifikation des VVG auch die überkommene Regel in der Seeversicherung (§ 787 I HGB), auf deren Vorbild sich viele Versicherer berufen hatten, moderni­ sierte: auch dort ordnete er anstelle der bisherigen Teilschuldnerschaft die Ge­ samtschuldnerschaft an.748 Allenthalben erklärte er die Vorschrift des VVG nicht für zwingend, sodass der Schutz der Versicherungsnehmer an diesem Punkt als unvollkommen bezeichnet werden muss.749 Im Übrigen beließ es der VVG-Gesetzgeber nicht bei dieser Regel, sondern fügte im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens noch einige Details hinzu, welche die Position des Versicherten im Vergleich zum Reichsjustizamtsentwurf weiter stärken sollten. Zwei von ihnen verdienen hier eine gesonderte Erwähnung. Erstens erfuhr der ursprüngliche § 46 III des Reichsjustizamtsentwurfs, welcher den Fall einer in betrügerischer Absicht geschlossenen „Doppelversicherung“ be­ handelte, in der Fassung der VVG-Bundesratsvorlage von 1904 noch einige Ein­ schränkungen.750 Diese fanden sich letztlich in § 59 III VVG wieder:751 der erste Versicherungsvertrag erlosch nun nicht mehr, wenn alleine die zweite Versicherung in Betrugsabsicht geschlossen worden war. Außerdem verlor der Versicherungs­ nehmer selbst im Betrugsfalle nur noch die Prämie der laufenden Versicherungs­ periode – nicht mehr, wie noch im Reichsjustizamtsentwurf, die Prämie für den gesamten Vertrag. Hier wird erneut deutlich, wie fern dem Reichsgesetzgeber im frühen 20. Jahrhundert abschreckende „versicherungspolizeiliche“ Maßnahmen lagen, die sich im vorhergehenden Jahrhundert einer so großen Popularität erfreut hatten. Der Kodifikation im VVG lag nur noch das nüchterne, zivilrechtliche Aus­ tauschverhältnis von Leistung und Gegenleistung zugrunde. Zweitens verlieh der Gesetzgeber dem Versicherungsnehmer erstmals das Recht, bei einer unbewusst geschlossenen Doppelversicherung unverzüglich die Herab­ setzung der Versicherungsprämie zu verlangen752 – adressiert ist damit wohl vor allem die Konstellation zweier sich „überlappender“ Kompositversicherungen, de­ ren Reichweite dem Versicherungsnehmer beim Vertragsschluss gar nicht bewusst war. Eine entsprechende Vorschrift tauchte erstmals in der Reichstagsvorlage von 1905 auf, dürfte der parallel liegenden Vorschrift zur Überversicherung753 nach­ gebildet sein und fand schließlich Aufnahme in § 60 I VVG: 748

Art. 1 Ziff. II § 787 Gesetz, betreffend Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversicherung v. 30. 05. 1908 (RGBl. 1908, Nr. 30 S. 307). Dazu auch Mot. VVG (1908) zu §§ 59, 60; Gerhard, ZVersWiss 6 (1906), 34, 40 (zur entsprechenden Änderung in der Reichstagsvorlage von 1905). 749 Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 59, 60 Rn. 5. 750 § 58 III VVG-BRV (1904). 751 Vgl. Müssener (2008), S. 194. 752 § 60 VVG-RTV (1905), entspr. § 60 VVG-RTV (1907); § 60 VVG (1908). In den Fassun­ gen vor der VVG-RTV (1905) war eine entsprechende Norm noch nicht enthalten; vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), Vorbem. zu §§ 59, 60; Gerhard, ZVersWiss 6 (1906), 34, 37. 753 § 51 I VVG (1908); zur Genese dieser Vorschrift vgl. schon unter § 3 D IV 1 b.

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„§ 60. [1] Hat der Versicherungsnehmer den Vertrag, durch den die Doppelversicherung entstanden ist, ohne Kenntnis von den anderen Versicherungen geschlossen, so kann er von jedem Versicherer verlangen, daß die Versicherungssumme, unter verhältnismäßiger Minderung der Prämie, auf den Betrag des Anteils herabgesetzt wird, den der Versicherer im Verhältnisse zu dem anderen Versicherer zu tragen hat. […]“

Für diese beiden zuletzt erörterten Vorschriften, den § 59 III und den § 60 VVG von 1908, fehlte in der vorgesetzlichen Versicherungspraxis jedes Vorbild. bb) Die Anzeige der anderweit geschlossenen Versicherung: Siegeszug des „Verschuldensprinzips“ Außer Acht gelassen wurde bislang indessen die zweite rechtsdogmatische Fra­ gestellung, welche die Rechtspraxis und die Gesetzgebung des frühen 20. Jahrhun­ derts beschäftigte: nämlich, ob der Abschluss einer mehrfachen Versicherung den unterschiedlichen Versicherern angezeigt werden muss. In seinem Stadium als Reichsjustizamtsentwurf hatte das VVG solches noch nicht vorgesehen: ausdrücklich waren jedem Versicherer erst im Rahmen der Schadensanzeige „die anderen Versicherer zu bezeichnen und die Versicherungs­ summe anzugeben“.754 Die Vorschrift war also nur für die Schadensregulierung von Relevanz. Doch schon bei den Sachverständigenberatungen im Reichsjustiz­ amt wurden Stimmen laut, die eine Vorschrift ins Gesetz aufnehmen wollten, nach welcher der Versicherungsnehmer – in Übereinstimmung mit der vorherrschenden Versicherungspraxis – dem Versicherer schon dann eine Anzeige erstatten musste, wenn bereits beim Vertragsschluss eine anderweitige Versicherung vorhanden war oder wenn eine solche während der Vertragsdauer abgeschlossen wurde.755 Diesen Anregungen folgte der amtliche Entwurf, der 1903 gedruckt und zur Ver­ öffentlichung gebracht wurde.756 Gleichzeitig wandte er auf die Anzeige der ander­ weitigen Versicherung jedoch das richterlich entwickelte „Verschuldensprinzip“757 an, sodass die AVB der Versicherungsgesellschaften nur dann eine Sanktion gegen den Versicherungsnehmer aussprechen duften, wenn jener die geforderte Anzeige schuldhaft unterlassen hatte. In vollem Umfang bestimmte der Entwurf von 1903: „§ 53. [1] Wird ein versichertes Interesse später gegen dieselbe Gefahr bei einem anderen Versicherer versichert, so ist diesem bei der Schließung des Vertrages von der früheren 754

§ 51 S. 2 RJA-E (1902). „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.39 ff. (Feuerver­ sicherung 4. Sitzung zu § 46 RJA-E = § 59 VVG); teilweise sogar gefordert von den Hagel­ versicherern, vgl. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.73 (Hagelversicherung 2. Sitzung zu § 46 RJA-E = § 59 VVG). So auch schon Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 283. 756 Dazu auch Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 353 f. 757 Zur Entwicklung des „Verschuldensprinzips“ in Wissenschaft und Rechtsprechung, s. unter § 3 B IV 1 c und § 3 B IV 2 b. 755

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Versicherung, dem ersten Versicherer unverzüglich nach der Schließung von der neuen Ver­ sicherung Mitteilung zu machen. [2] In der Mitteilung ist der Versicherer, bei welchem die andere Versicherung genommen worden ist, zu bezeichnen und die Versicherungssumme anzugeben. [3] Auf eine Vereinbarung, nach welcher die Verletzung der Verpflichtung zur Mitteilung der anderen Versicherung das Erlöschen der Ansprüche oder einen sonstigen Rechtsnachteil für den Versicherten zur Folge haben soll, kann sich der Versicherer nicht berufen, wenn dem Versicherten ein Verschulden nicht zur Last fällt.“

Das Verschuldensprinzip, welches der Entwurf in § 53 III normierte, war offen­ bar bereits so weitgehend anerkannt, dass die gesamte Norm während des weiteren Gesetzgebungsverfahrens weder materielle Änderungen erfuhr noch nennenswer­ ten Angriffen ausgesetzt war. § 58 des VVG von 1908 traf inhaltlich gesehen keine andere Regelung als bereits der Entwurf von 1903.758 Lediglich das Verschuldens­ prinzip, das der vorliegende Entwurf in § 53 III geregelt hatte, wurde im Lauf des Gesetzgebungsverfahrens aus gesetzessystematischen Gründen „vor die Klammer gezogen“: der Gesetzgeber wollte in § 6 I VVG eine allgemeinere Regel schaffen, die für alle Arten von vertraglich vereinbarten „Obliegenheiten“ gelten sollte.759 Man könnte nach oberflächlicher Betrachtung nun die Schlussfolgerung zie­ hen, wenigstens die Vorschrift in § 58 VVG bilde unverzerrt das vorgesetzliche Praxisrecht ab. Tatsächlich hat die Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften im Jahr 1904 einen Nachtrag zu den Verbandsbedingungen von 1886 verfasst, der bezüglich aller an den Versicherer zu erstattenden Anzeigen, mithin auch bezüglich der Anzeige einer anderweitigen Versicherung, bestimmte:760 „Zu § 3. Die Gesellschaft ist auch dann zur Entschädigung verpflichtet, wenn die Angaben und Anzeigen, welche der Antragsteller im Antrage nach Anleitung seines eingedruck­ ten Inhalts und in den sonstigen neben dem Antrage etwa der Gesellschaft eingereichten Schriftstücken richtig und gewissenhaft zu machen hat, ohne Verschulden des Antragstel­ lers dieser Vorschrift nicht entsprechen.“

Indessen hat der nähere Blick in die Entwicklungsgeschichte des § 58 VVG wiederum offenbart, dass nicht die Versicherungsbedingungen von 1904 das VVG beeinflusst haben, sondern dass im Gegenteil die „Vereinigung“ ihre Muster­ bedingungen proaktiv an den bereits gedruckten Entwurf von 1903 angepasst hat. Dazu war sie vom Kaiserlichen Aufsichtsamt im Jahr zuvor sogar ausdrücklich aufgefordert worden.761 Das galt auch für das „Verschuldensprinzip“. Noch bis zur Jahrhundertwende hatten die meisten AVB demgegenüber den Versicherungsver­ 758

§ 53 VVG-E (1903) entspr. § 57 VVG-BRV (1904); § 58 VVG-RTV (1905); § 58 VVGRTV (1907); § 58 VVG (1908). 759 Mot. VVG (1908) zu § 58; Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 185; zur Entwicklung des Verschuldensprinzips in § 6 VVG im Allgemeinen, s. § 3 C III 3 c.  760 Erklärung zu § 3 der Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften v. 1886 (1904) (Sammlung-AVB I, 78). Vgl. auch eine ähnliche Erleichterung zugunsten des Versicherungsnehmers in Art. 43 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905). 761 Dazu bereits unter § 3 C III 2 b.

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trag schon bei jeder auch nur objektiven, unverschuldeten Nichtanzeige einer mehr­ fachen Versicherung zum Erlöschen gebracht. Am Ende kann man also auch hier nicht behaupten, der Gesetzgeber habe sich einzig vom Praxisrecht anleiten lassen. Zwar hat er im Grundsatz eine in der Praxis durchaus häufig verwendete Klausel aufgegriffen, doch der große Entwicklungsschritt zum Verschuldensprinzip, das bis zum heutigen Tag im deutschen Versicherungsvertragsrecht gilt, lässt sich im Ursprung alleine auf einen staatlichen Impuls zurückverfolgen.

3. Die Unterversicherung Im Gegensatz zur wechselhaften Dogmengeschichte der Über- und Mehrfach­ versicherung steht die geradlinige Entwicklung der Unterversicherung. Wenn man die historischen Wurzeln der Unterversicherung ergründet, so stößt man tatsächlich auf eine traditionsreiche, noch aus der Seeversicherung stammende Rechtsdokt­ rin. Es handelt sich um die sogenannte Proportionalitätsregel,762 die auch schon im preußischen Landrecht von 1794 oder in den ältesten deutschen Feuerversi­ cherungsbedingungen enthalten war. Die Verbandsbedingungen von 1874, um nur ein Beispiel zu nennen, äußerten sich zur Unterversicherung denkbar knapp, dass der „Schaden pro rata vergütet“ werde, wenn „der Wert der versicherten Gegen­ stände die darauf versicherte Summe“ übersteige.763 Der Versicherte bekam also nicht den gesamten Schaden ersetzt, sondern eine Quote des Schadensbetrages, die dem Verhältnis zwischen Versicherungssumme und Versicherungswert ent­ sprach. Solche Klauseln spiegelten am Ende lediglich das vertraglich vereinbare Austauschverhältnis: wer sich unterversichert hatte und daher eine proportional niedrigere Prämie zahlen musste, sollte auch eine dementsprechend geringere Schadensvergütung erhalten.764 So enthielten sämtliche handels- und zivilrechtlichen Gesetzesentwürfe, die im 19. Jahrhundert eine Kodifikation des Versicherungsrechts wagten, die besagte 762

Dazu auch Brämer / Brämer (1894), S. 23; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 457; von Liebig (1911), S. 184; Malß, Betrachtungen (1862), S. 57 f.; ders., ZVersR 1 (1866), 6, 13 f.; Müssener (2008), S. 249. 763 § 7 S. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874). Sehr ähnlich §§ 2 I 3, 17 S. 4 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833); § 11 S. 2 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 56 I 3 Revidirtes Re­ glement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859); § 7 S. 2 AVB Aachener und Mün­ chener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 59 S. 2 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867); § 7 III 1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886); § 7 III 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); Art. 36 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905); A  § 3  X  4 Reglement Provinzial-Feuer-­ Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903); § 14 II 1 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). Vgl. auch Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 289; Manes (1905), S. 126; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 276. 764 So auch Brämer / Brämer (1894), S. 23; zu einem Rechenbeispiel s. § 2 D IV 3.

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Proportionalitätsregel. Das galt gleichermaßen für den württembergischen,765 den preußischen,766 den bayerischen767 und den Dresdener Entwurf.768 Auch das See­ versicherungsrecht des ADHGB bzw. später des HGB bediente sich dieser Regel.769 Alleine der württembergische Entwurf von 1839 sprach gleichzeitig aus, dass diese Regel der freien Disposition der Parteien unterliege.770 Die Kodifikationsentwürfe entsprachen damit vollumfänglich der Feuerversicherungspraxis, obgleich die Mo­ tive des württembergischen HGB-Entwurfes nicht die Versicherungspraxis selbst, sondern die insoweit gleichlautende in- und ausländische Handelsgesetzgebung als Rechtsquelle benannten.771 Es kommt also am Ende wenig überraschend, dass schließlich auch das VVG die Proportionalitätsregel adaptiert hat.772 Es formulierte sie in die Worte des § 56: „§ 56. Ist die Versicherungssumme niedriger als der Versicherungswert zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls (Unterversicherung), so haftet der Versicherer für den Schaden nur nach dem Verhältnisse der Versicherungssumme zu diesem Werte.“

In derselben Form hatte auch schon der erste VVG-Entwurf von 1902 die Propor­ tionalitätsregel enthalten.773 Im Laufe des Gesetzgebungsprozesses war sie keinen Änderungen mehr unterworfen, und nur ein einziges Mal kam eine ausführlichere Diskussion über die Proportionalitätsregel zustande: in der VIII. Reichstagskom­ mission von 1905 schlugen vereinzelte Abgeordnete vor, anstelle der Proportiona­ litätsregel die gelegentlich in der Praxis anzutreffende Versicherung „au premier risque“ zum gesetzlichen Regelfall zu erheben.774 Das hätte bedeutet, in der Kons­ tellation einer Unterversicherung keine quotale Kürzung der Versicherungsleistung vorzunehmen, sondern die Versicherungssumme schlichtweg als Obergrenze für den Ersatzanspruch anzusehen.775 Plastisch gesprochen: wenn der volle Versiche­ 765

Art. 436 I HGB-Entwurf Württemberg (1839). Art. 334 I HGB-Entwurf Preußen (1857). 767 Art. 818 BGB-Entwurf Bayern (1861). 768 Art. 902 Entwurf Dresd. OR (1866). 769 Art. 796 ADHGB (1861); entspr. § 792 HGB (1897). 770 Art. 436  II HGB-Entwurf Württemberg (1839). Das bedeutete freilich nicht, dass die Proportionalitätsregel in den anderen Entwürfen absolut zwingend war; in Bayern sollte ihre Disponibilität z. B. aus Art. 813 BGB-Entwurf Bayern (1861) folgen. 771 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 436 mit Hinweis auf die Vorbilder des § 2268 ALR (1794) und des Art. 253  II, III Wetboek van Koophandel (1838); vgl. auch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 2. 772 Mot. VVG (1908) zu § 56. 773 § 56 VVG (1908) entspr. § 43 RJA-E (1902); § 51 VVG-E (1903); § 55 VVG-BRV (1904); § 56 VVG-RTV (1905); § 56 VVG-RTV (1907). 774 Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 319 f.; ähnlich Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 277 ff. Vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 56 Rn. 1. 775 Brämer / Brämer (1894), S. 23, 257; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 459; Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 12 f., 22 (mit ähnlichem Rechenbeispiel); Manes (1905), S. 126. Zur Versi­ cherung „au premier risque“ vgl. auch Deutsch / Iversen (7.  Aufl. 2015), Rn.  297; Prölss / Martin /  Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 75 Rn. 21; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 791. 766

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rungswert einer auf 3.000 Mark versicherten Maschine 5.000 Mark betrüge und dieselbe einen Schaden von 4.000 Mark erlitte, dann kämen unter der Versicherung au premier risque genau 3.000 Mark, also die Versicherungssumme, zur Auszah­ lung – nach der Proportionalitätsregel wären hingegen nur 3/5 des Gesamtschadens ersatzfähig, also 2.400 Mark. Soweit die Abgeordneten das Modell der Versicherung „au premier risque“ favo­ risierten, argumentierten sie, die nach der Proportionalitätsregel übliche Schadens­ kürzung sei dem durchschnittlichen Versicherten nicht verständlich – vor allem dann nicht, wenn sich beispielsweise der Wert seiner versicherten Erntevorräte etc. während der Versicherungsdauer erhöht habe und er daher völlig unerwartet als Unterversicherter dastehe.776 Während der Kommissionsverhandlungen setzte sich aber die gegenteilige Auffassung durch, dass eine Versicherung au premier risque zwangsläufig eine Erhöhung der Versicherungsprämien nach sich ziehen würde, da sie ja schließlich auch höhere Versicherungsleistungen verspreche. Die fein ausdifferenzierte Prämientarifierung, die sich in der Praxis bereits bewährt habe, werde damit völlig wertlos.777 Freilich war die Versicherung au premier risque damit nicht völlig ausgeschlossen, denn die Bestimmung des VVG blieb insoweit dispositiv.778 Die Unterversicherung kann daher tatsächlich als Beispiel einer versicherungs­ rechtlichen Figur dienen, welche ihre Gestalt in der Versicherungspraxis gewonnen hat und trotz anderweitiger Überlegungen unverändert in eine gesetzliche Form überführt worden ist.

V. Die Zahlung der Versicherungsprämie und der Umgang mit Prämienrückständen An den Bestimmungen zur Zahlung der Versicherungsprämie kann man be­ sonders anschaulich beobachten, wie sehr die historischen Entwurfsverfasser im 19. Jahrhundert bemüht waren, das Versicherungsrecht – und das Zivilrecht über­ haupt – auf möglichst allgemeingültige, zentrale Rechtssätze zurückzuführen. In den handelsrechtlichen Gesetzesentwürfen aus Württemberg und Preußen sucht man nämlich vergebens nach Regeln, die Aufschluss über die Prämienzahlungs­ modalitäten oder die Folgen eines Zahlungsrückstandes geben.779 Beide Entwürfe von 1839 und 1857 harrten auf dem Standpunkt, dass die allgemeinen bürgerlichrechtlichen Regelungen zum Zahlungsverzug auch ohne Abstriche auf das Versi­ cherungsrecht anwendbar seien;780 diese erlaubten dem Zahlungsgläubiger, gegen 776

In diese Richtung auch z. B. Lang, Bd. 2 (1862), S. 190 zum bayerischen Entwurf. Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 319 f. Vgl. Gerhard / Hagen / von ­Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 56 Rn. 1. 778 Vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 56 Rn. 1. 779 So auch Duvinage (1987), S. 170; Neugebauer (1990), S. 51. 780 Ausrücklich Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 446 (Textausgabe, 1840). 777

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einen säumigen Schuldner mit Instrumenten wie der Mahnung, der Setzung einer Nachzahlungsfrist, der Vertragskündigung oder der Schadensersatzklage vorzugehen.781 1. Die versicherungspraktisch gebotene Differenzierung zwischen Erst- und Folgeprämien Allerdings entsprachen die allgemeinen schuldrechtlichen Vorschriften nicht den besonderen Bedürfnissen, die sich in der Binnenversicherungspraxis heraus­ kristallisiert hatten. Bei den meisten Feuer- oder Lebensversicherern hatte sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Zahlung laufender Prämien etabliert. Die Prämie musste jeweils vor Beginn einer neuen Versicherungsperiode entrichtet werden, in der Regel also ein Mal pro Jahr.782 Für die Zahlung der ersten, bei Ver­ tragsschluss fälligen Prämie hatte sich in der herrschenden Praxis allerdings das sogenannte Einlösungsprinzip durchgesetzt: die Versicherungsbedingungen der privaten Feuer- und Lebensversicherungsgesellschaften – und parallel dazu einige wenige öffentlich-rechtliche Mobiliarfeuersozietäten – machten die Wirksamkeit des Vertrages oder jedenfalls den Eintritt des materiellen Versicherungsschutzes aufschiebend bedingt von der Zahlung der ersten Prämie abhängig.783 Das galt 781

Vgl. dazu die allgemeine handelsrechtliche Regel in Art. 325 HGB-Entwurf Württemberg (1839) (Textausgabe, 1839) (Wahlrecht zwischen Mahnung und sofortiger Vertragskündigung); für Preußen, s. die allgemeine zivilrechtliche Regelung in Th. I Tit. 16 § 16–26 ALR (1794) (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl. 1996]) (zivilrechtliche Haftung der Säumigen), vgl. Müssener (2008), S. 206. 782 Vgl. § 11 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (SammlungAVB  I,  78); § 3 S. 2 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Samm­ lung-AVB I, 34); §§ 43 II, 44 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16); § 11 Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856) (Samm­ lung-AVB II, 39); § 22 I AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31); § 3 II 4 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesell­ schaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38); § 4 II 1 Verbands-AVB Deutscher Lebensversiche­ rungs-Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44); § 4 II 1 Verbands-AVB Deutscher PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB I, 75); § 4 II 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383); B § 4 I 1 Regle­ ment Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99); § 6 VI 1 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65); § 46 S. 1 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB II, 98); Art. 23 II AVB Württem­ bergische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71); §§ 3 II, 7 II AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (Sammlung-AVB II, 81). Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungs­ recht (1893), S. 352 f. 783 § 8 II 1 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); § 3 S. 1 AVB Mag­ deburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 42 I AVB Lebensversicherungs- und Er­ sparnisbank Stuttgart (1854); § 5 I  3 Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856); §§ 11  IV  1, 21 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857); § 3 S. 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); § 11 Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesell­

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freilich unabhängig davon, ob der Versicherungsnehmer zuvor gemahnt worden war, oder gar, ob er den Erstprämienrückstand schuldhaft herbeigeführt hatte. Jene Anomalie gegenüber dem allgemeinen Schuldrecht rührte aus der speziellen Natur des Versicherungsvertrages: im Gegensatz zu einem Verkäufer, Vermieter oder Verpächter kann der Versicherer kein Zurückbehaltungsrecht ausüben, wenn der Versicherungsnehmer das vereinbarte Entgelt nicht entrichtet. Die Hauptleis­ tungspflicht des Versicherers, nämlich die Übernahme des Risikos, lässt sich ja schließlich nicht dinglich verkörpern. Abhilfe schaffte letztlich das Einlösungsprin­ zip: solange der Versicherungsnehmer die erste Prämie nicht zahlte, sei es verschul­ det oder nicht, durfte der Versicherer die Übernahme des Risikos verweigern, seine Hauptleistung also, plastisch gesprochen, zurückbehalten.784 Anderes galt dann aber für die zweite, dritte und jede folgende Prämie: hier räumten die meisten Feuer- und Lebensversicherer und wiederum einige staatliche Mobiliarfeuersozietäten dem Versicherungsnehmer zunächst eine sogenannte „Respektfrist“ zur Nachzahlung ein. Diese musste nach dem vereinbarten Fälligkeitsdatum verstreichen, bevor den Versicherungsnehmer härtere Rechtsfolgen trafen. Nach Ablauf der Respektfrist stand der Versicherer in der Regel nicht mehr für Unglücksfälle ein; trotzdem war der Versicherungsnehmer nicht von seiner Prämienschuld befreit. Außerdem stand dem Versicherer das Recht zu, den Vertrag – falls jener nicht schon ipso iure seine Wirksamkeit verloren hatte – im Ganzen zu kündigen. Häufig gewährten die Ge­ sellschaften dem Versicherungsnehmer allerdings auch die Möglichkeit, die Rück­ stände auch noch nach Ablauf der Respektfrist nachzuzahlen und so den gesamten Vertrag wieder in Kraft zu setzen.785 Repräsentativ für all diese Mechanismen steht schaft Westpreußen (1871) (PrGS  1871, 163); § 3  II  1 Verbands-AVB Deutscher PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaften (1874); §§ 1  IV  1, 4 I Hs.  2 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 4 I 2, 3 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuer­ versicherungs-Gesellschaften (1886); § 4 I 2, 3 AVB Aachener und Münchener Feuerversi­ cherungs-Gesellschaft (1888); B § 2 I 1 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (bzgl. Mobiliarfeuerversicherung); § 7 III 1 AVB Gothaer Feuerversi­ cherungsbank (1904); § 40 II 1 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); Art. 18 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905); § 8 AVB Stuttgarter Lebensversicherungs­ anstalt (1906). Vgl. Duvinage (1987), S. 178; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 264, 268 f.; Malß, Betrachtungen (1862), S. 72 f.; ders., ZHR 6 (1863), 361, 365 f.; Müssener (2008), S. 155 (zu den AVB der Aachener und Münchener); Neugebauer (1990), S. 178; von Staudinger (1858), S. 134, 142; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 203. 784 So ausdrücklich Dreher (1991), S. 119 Fn. 59. Ähnlich Duvinage (1987), S. 177; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 269, 387; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 38 Rn. 2; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 21; Manes (1905), S. 116; von Staudinger (1858), S. 142. 785 Insgesamt dazu § 12 S. 2, 3 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Respektfrist von einem Monat); § 3 S. 2, 3 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1845) (noch ohne jegliche Respektfrist); §§ 43 II, 46 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (4 Wochen); §§ 21 lit. c, 22 I Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856) (3 Monate); §§ 23 I, II, 30 I Nr. 1 AVB Germania Lebens-VersicherungsAktien-Gesellschaft (1857) (zwischen 7 und 30 Tagen je nach Zahlungsmodalität); § 3 S. 5 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (ohne Respektfrist); § 11 S. 2 Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft

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zum Beispiel eine AVB-Klausel, die der Verband deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften im Jahr 1874 in seinen Verbandsbedingungen verwendete: „§ 3. […][2] Die Versicherung wird nur durch die gehörig geleistete Prämienzahlung gültig. Der Versicherte ist verpflichtet, die Prämie ohne Aufforderung an den betreffenden Agen­ ten in dessen Domizil zu bezahlen. Die Gesellschaft ist nicht gehalten, dieselbe einzufor­ dern. Wenn die jährlich zahlbare Prämie einer laufenden mehrjährigen Versicherung nicht spätestens vierzehn Tage nach dem Beginn jedes Versicherungsjahres bezahlt ist, tritt die Verpflichtung der Gesellschaft außer Kraft. Die Gesellschaft ist aber befugt, die Prämie gerichtlich beizutreiben oder durch Verweigerung ihrer Annahme den Versicherungsver­ trag aufzuheben. Geschieht letzteres nicht, so tritt mit der Empfangnahme der Prämie die Verpflichtung der Gesellschaft aus der Versicherung wieder in Kraft.“

Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert kam in diese Rechtsmaterie wieder einige Bewegung: bei der Neufassung seiner Bedingungen im Jahr 1886 sah der „Ver­ band“ vor, dass die Gesellschaft den Versicherungsnehmer „auf seine Kosten zur Einlösung der Prämienquittung schriftlich auffordern“, ihn also mahnen musste, falls dieser mit den laufenden Folgeprämien in Rückstand geraten war. Zeitgleich mit der Mahnung musste der Versicherer dem Versicherungsnehmer eine ZweiWochen-Frist zur Nachzahlung setzen;786 eine Respektfrist sahen diese Verbands­ bedingungen dafür nicht mehr vor. Andere Versicherungsgesellschaften, wie beispielsweise die Gothaer Lebensversicherungsbank, kombinierten zur Zeit um die Jahrhundertwende sogar Respektfrist und Mahnung: in ihren Lebensversiche­ rungsbedingungen von 1904 bestimmte die Gothaer, die „folgenden fortgesetzten Prämienzahlungen“ seien „innerhalb eines Monats, vom Fälligkeitstermin an ge­ rechnet, an den zuständigen Agenten zu entrichten“;787 erst nach dem Ablauf jener Respektfrist forderte die Gothaer Lebensversicherungsbank den Versicherungsneh­ mer „unter seiner letzten ihr bekannten Adresse mittels eingeschriebenen Briefes auf, innerhalb zwei weiterer Wochen die rückständige Zahlung“ zu entrichten.788 Westpreußen (1871) (keine Respektfrist); § 3 II 4–6 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuer­ versicherungs-Gesellschaften (1874) (14 Tage); § 4 II Verbands-AVB Deutscher Lebensver­ sicherungs-Gesellschaften (1875) (30 Tage). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 132 (zur Lebensversicherung); Duvinage (1987), S. 186 f.; V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 388 f., 506 ff.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 39 Rn. 2; ­Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 33; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 370; Müssener (2008), S. 210 f.; Neugebauer (1990), S. 150 (zu den „Verbandsbedingungen“ von 1874); von Staudinger (1858), S. 142. 786 Ähnlich § 4  II  2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886). So auch § 4 II 2, 3, III AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 6  VI  2 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904); Art. 23  III AVB Württem­ bergische Privatfeuerversicherung (1905). Vgl. auch Duvinage (1987), S. 187; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 506; Lewis (1889), S. 189; Neugebauer (1990), S. 151; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 210 f. 787 § 46 S. 1 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904). 788 § 47 I AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904). Ähnlich B § 4 I 1, II 1 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Respektfrist von einem Mo­ nat, Mahnfrist von 2 Wochen); §§ 6 IV, 10 I, II AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (ebenso).

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Alleine die meisten staatlichen Gebäudefeuerversicherer hatten derartige Be­ stimmungen nicht adaptiert, da sie, wie schon im 18. Jahrhundert, die rückständi­ gen Beiträge öffentlich-rechtlich wie Steuerrückstände vollstreckten. Nur in sel­ tenen Fällen bestraften sie ihre säumigen Mitglieder mit dem Ausschluss aus dem Versichertenkollektiv.789 Zur Dogmenentwicklung des Privatversicherungsrechts konnten solche öffentlich-rechtlichen Regelungsansätze freilich nichts beitragen. Sie können im Folgenden außer Acht bleiben. 2. Der Siegeszug des Einlösungsprinzips im 19. Jahrhundert Nachdem der württembergische und der preußische HGB-Entwurf, wie gesehen, diese Besonderheiten des Versicherungsrechts überhaupt nicht zur Kodifikation ge­ bracht hatten, bildete der Entwurf für ein bayerisches BGB das Einlösungsprinzip gleichsam in Reinform ab. Sehr prägnant bestimmte er in Art. 815:790 „Art. 815. Der Versicherte hat die versprochene Prämie rechtzeitig zu zahlen; er kann im Zweifel erst nach Berichtigung der Prämie die Einhändigung der Polize verlangen.“

Dabei nahmen die bayerischen Entwurfsmotive sogar ausdrücklich auf die gängige Versicherungspraxis Bezug, wonach die Erstprämienzahlung stets die Voraussetzung zur „Einlösung“ der Police war.791 Eine Regel zum Folgeprämien­ verzug hielt aber auch der bayerische Entwurf nicht für nötig. Offenbar erachtete auch er insoweit die Bestimmungen des allgemeinen Zivilrechts für ausreichend. Völlig durchgesetzt hatte sich die Versicherungspraxis schließlich im Dresdener Obligationenrechtsentwurf. Er kannte einerseits das Einlösungsprinzip und ord­ nete andererseits die Vertragsauflösung an, wenn der Versicherungsnehmer mit einer der laufenden Prämien in Rückstand geriet. Wie die Protokolle der Dresdener Kommission ausdrücklich bezeugen, sollten die Vorschriften zum Zahlungsrück­ stand den geltenden AVB nachempfunden sein: wer in der Praxis „eine Police nicht aufzuweisen habe, werde von dem Versicherer noch gar nicht als versichert angese­ hen, und eine Police wiederum erhalte Niemand, der nicht vorher bezahlt habe.“792 So beinhaltete der Obligationenrechtsentwurf eine Vielzahl von Vorschriften, die – 789 § 12 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833) (Lappenberg XII, 258); § 29 S. 2 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS 1859, 477); §§ 23, 51 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66); §§ 25 II, 77 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (PrGS 1863, 578); §§ 45 II, 46 S. 1, 47 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122) (Mitglieds­ ausschluss nach einem Jahr möglich); § 57 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902) (Sammlung-AVB  I, 79); A  § 2  III, V Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (nur bzgl. Gebäudefeuerversicherung). Vgl. Prange, Kritische Betrach­ tungen (1904), S. 204. 790 Abgedruckt als Textausgabe (1861). Dazu auch Duvinage (1987), S. 170. 791 Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 815 (Textausgabe, 1861). 792 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3238; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 30, 33.

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gesetzessystematisch recht verstreut – die rechtliche Substanz der zeitgenössischen Versicherungsbedingungen fast unverändert aufgegriffen hatten:793 „Art. 907. [1] Die Prämie ist von dem Versicherungsnehmer sofort nach Schließung des Versicherungsvertrages zu entrichten. [2] Gegen Entrichtung der Prämie kann der Versi­ cherungsnehmer von dem Versicherer eine von diesem unterzeichnete Urkunde über den Versicherungsvertrag (Police) verlangen. [3] Die Aushändigung der Police vor Bezahlung der fälligen Prämie gilt im Zweifel als Stundung der letzteren. […] Art. 909. Tritt das Ereignis, gegen dessen Folgen die Versicherung genommen worden ist, ein, ehe die Prämie bezahlt worden, so ist der Versicherer zum Ersatze der aus jenem Er­ eignisse entstandenen vermögensrechtlichen Nachtheile oder zur Zahlung der zum Voraus hierfür bestimmten Summe nicht verpflichtet. Ist die Prämie gestundet worden, so haftet der Versicherer während der Dauer der Stundung. […] Art. 917. Der Versicherungsvertrag erlischt, wenn der versicherte Gegenstand nach Schlie­ ßung des Vertrages, jedoch noch vor der Zeit, von welcher an der Versicherer die Gefahr zu tragen hat, untergeht, oder wenn das versicherte Unternehmen unterbleibt oder bis zu einer Zeit verschoben wird, wo die Gefahr, gegen welche die Versicherung genommen worden, bereits vorüber war, oder wenn eine Prämie, die in wiederkehrenden Fristen zu bezahlen ist, zur Verfallzeit oder, wo über diese hinaus für die Bezahlung noch eine Frist nachge­ lassen ist, vor deren Ablauf nicht bezahlt wird, oder wenn das Interesse, für welches die Versicherung genommen worden ist, wegfällt.“

Lediglich auf rechtsdogmatisch-konstruktiver Ebene hatte die Dresdener Kon­ ferenz mit Art. 907 I, 909 S. 1 eine vom Einlösungsprinzip abweichende Lösung gefunden: der Vertrag war unter der Dogmatik des Entwurfs nicht mehr aufschie­ bend auf die Zahlung der ersten Prämie bedingt, sondern wurde bereits durch den Konsens der Vertragsparteien rechtswirksam; der Versicherer sollte jedoch nicht für Schäden haften, die eingetreten waren, bevor der Versicherungsnehmer die Erstprämie entrichtet hatte. An der vorherrschenden Rechtspraxis änderte sich da­ durch nichts,794 und so steht diese rechtliche Verfeinerung lediglich für die Tendenz des Dresdener Obligationenrechts, das Versicherungsrecht auch in dogmatischer Schärfe erfassen zu wollen. Im Übrigen deutete der Wortlaut des Art. 917 sogar die Rechtsgewohnheit einer „Respektfrist“ an, die viele Versicherungs­gesellschaften pflegten. Lediglich die häufige Geschäftspraxis, eine erloschene Versicherung wie­ der in Kraft zu setzen, wenn die rückständige Prämienschuld doch noch beglichen wurde, hatte der Entwurf nicht in sich aufgenommen; er stand dieser Praxis aber jedenfalls auch nicht im Wege. Im Endeffekt hat der Dresdener Entwurf die ver­ sicherungspraktischen Regeln zum Prämienrückstand gleichsam auf einen Kanon allgemein anerkannter Gewohnheiten reduziert, ohne dabei in die Gestaltungsfrei­ heit der Praxis eingreifen zu wollen. Auf der anderen Seite statuierte der Entwurf aber mit seinen Art. 907 III, 909 S. 2 immerhin eine Zweifelsregel, aus der sich bereits erste zaghafte Ansätze zum 793 794

Abgedruckt als Textausgabe mit Hrsg. Francke (1866). Dazu auch Duvinage (1987), S. 170 f. So insgesamt auch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 30 f.; Neugebauer (1990), S. 82.

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Schutz des Versicherungsnehmers herauslesen ließen. In der Geschäftspraxis war es zur ungeschriebenen Gewohnheit mancher Versicherungsagenten geworden, dem Versicherungsnehmer die Police aus Kulanz – oder womöglich schlicht aus verkaufspsychologischen Gründen – schon direkt beim Vertragsschluss zu über­ lassen, noch bevor er die erste Prämie bezahlt hatte. Ein solches Geschäftsgebaren war geeignet, einen Vertrauenstatbestand für den Versicherungsnehmer zu schaf­ fen. So sollte das Zusammenwirken der Art. 907 III, 909 S. 2 dazu führen, dass eine solch verfrühte Aushändigung der Police als fingierte Prämienstundung galt; der Versicherer musste also letztlich, abweichend vom Einlösungsprinzip, sogar für all diejenigen Schäden aufkommen, die vor der Bezahlung der ersten Prämie entstanden. In der Kommission begegnete eine solche Regel schwerwiegenden Zweifeln, war sie doch der Praxis völlig fremd; letzten Endes führe sie zu einem „Verzicht auf die Zug-um-Zug-Einrede“, die sich der Versicherer durch das Ein­ lösungsprinzip unbedingt erhalten wollte.795 Es hatte sich aber schließlich eine Mehrheit gebildet, welche die Stundungsfiktion beibehalten wollte, um unter Ge­ sichtspunkten des Gutglaubensschutzes auch schon vor der Erstprämienzahlung einen Versicherungsanspruch zu begründen.796 Damit zeigte schon der Dresdener Obligationenrechtsentwurf eine gewisse Tendenz, dem vorgefundenen Praxisrecht Klauseln entgegenzusetzen, die den Versicherungsnehmer vor irreführenden Ge­ schäftspraktiken schützen sollten. 3. Der Prämienverzug im VVG: Rezeption und Modifikation der herrschenden Praxis Jene Tendenz, den geschäftsunerfahrenen Versicherungsnehmer vor den Ge­ schäftspraktiken seines Vertragspartners in Schutz zu nehmen, verstärkte sich im Versicherungsvertragsgesetz noch erheblich. In ihrer grundlegenden Struktur wollte der Gesetzgeber die Vorschriften zum Prämienrückstand nicht mehr antas­ ten – anders als etwa Hans Roelli, der in seinem schweizerischen VVG-Entwurf alle Unterschiede bei der rechtlichen Behandlung von Erst- und Folgeprämien vollkommen eingeebnet hatte.797 Im deutschen VVG798 blieb hingegen die grund­ legende Differenzierung zwischen Erst- und Folgeprämien durch alle Entwick­ lungsstadien der Gesetzgebung hindurch erhalten. Jedoch milderte der Gesetz­ geber sowohl die Folgen des herrschenden Einlösungsprinzips (a) als auch einige 795

Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3261; Bd. 6 (1866), S. 4561 f. (jeweils ausdrücklich zum Gedanken der Zug-um-Zug-Leistung). Vgl. auch Duvinage (1987), S. 170, 181; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 21. 796 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3263; Bd. 6 (1866), S. 4563; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 22. 797 Art. 21, 22 Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1); vgl. aber ebd. Art. 20 II, wonach das Einlösungsprinzip jedenfalls in AVB weiterhin Anwendung finden durfte. Dazu auch Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 345 f. 798 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908.

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Härten der rechtspraktischen Sanktionierung eines Folgeprämienrückstandes ab (b). Drittens aber unternahm das VVG schon den – teilweise erfolgreichen – Ver­ such, Regeln zur Fälligkeit und zum Leistungsort der Versicherungsprämie zu schaffen; damit trat schon der Tatbestand des Prämienrückstandes an sich seltener ein, als dies in der vorgesetzlichen Vertragspraxis der Fall war (c). a) Die Modifikation des strengen Einlösungsprinzips in § 38 VVG Nach wie vor fungierte das Einlösungsprinzip, das der Gesetzgeber in den amt­ lichen Motiven sogar schon als „billiges Gewohnheitsrecht“ bezeichnete, gewis­ sermaßen als Ersatz für das Zurückbehaltungsrecht des Versicherers:799 solange der Versicherungsnehmer nicht einmal die erste Prämie bezahlt hatte, konnte er keinerlei Leistungsansprüche gegen den Versicherer geltend machen und musste sogar mit einer Vertragskündigung rechnen. Ob er die Nichtzahlung zu vertreten hatte, war demgegenüber selbst im VVG irrelevant; das ansonsten im VVG so häufig anzutreffende „Verschuldensprinzip“ kam hier nicht zur Anwendung. Im Übrigen hatte selbst die tendenziell versichertenfreundliche Rechtsprechung ak­ zeptiert, dass die Rechtsfolge eines Erstprämienrückstands nicht vom Verschulden des Versicherungsnehmers abhängig sein dürfe.800 So lautete § 38 VVG schließlich: „§ 38. [1] Wird eine Prämienzahlung, die vor oder bei dem Beginne der Versicherung zu erfolgen hat, nicht rechtzeitig bewirkt, so ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Lei­ stung frei, wenn der Versicherungsfall vor der Zahlung eintritt. [2] Der Versicherer ist, wenn die Zahlung nicht rechtzeitig bewirkt wird, berechtigt, das Versicherungsverhältnis unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monate zu kündigen. Die Wirkungen der Kün­ digung treten nicht ein, wenn die Zahlung bis zum Ablaufe der Kündigungsfrist erfolgt.“

In ähnlicher inhaltlicher Fassung war diese Norm schon im Entwurf des Reichs­ justizamtes anzutreffen;801 nur sprachlich und regelungssystematisch war sie im Gesetzgebungsverfahren einigen Änderungen unterworfen worden. Auch wenn das VVG in allen Stadien der Gesetzgebung am tradierten Einlö­ sungsprinzip festgehalten hatte, so wollte der Gesetzgeber doch einige Härten, die jenes Institut mit sich brachte, zugunsten des Versicherungsnehmers abfedern. Wie 799

In diese Richtung Mot. VVG (1908) zu §§ 38, 39 (Nachdruck [1963], S. 59). Vgl. auch die dahingehenden Vorschläge aus der Versicherungspraxis in Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 269; Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 248; dazu Duvinage (1987), S. 179. 800 ROHGE 5, 110, 118 f.; 15, 38, 41; RGZ 28, 389, 391 f. (sogar mit ausdrücklichem Hinweis auf die Funktion des „Einlösungsprinzips“ als Ersatz für ein Zurückbehaltungsrecht); vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 38 Rn. 5. 801 § 19 RJA-E (1902) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91); § 31 VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); § 37 VVG-BRV (1904) (GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); § 38 VVG-RTV (1905) (Nachdruck [1963], S. 440); § 38 VVG-RTV (1907) (Nachdruck [1963], S. 524); § 38 VVG (1908). Vgl. Duvinage (1987), S. 188 ff. zu kleineren Änderungen während des Gesetz­ gebungsverfahrens.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

schon der Dresdener Entwurf erhob auch § 38 VVG die Erstprämienzahlung nicht zur objektiven Rechtsbedingung für die Wirksamkeit des Vertrages, sondern ver­ sagte dem Versicherungsnehmer, der jene Prämie nicht gezahlt hatte, bloß seinen Anspruch auf die Versicherungsleistung, während er dem Versicherer zugleich ein Kündigungsrecht einräumte. Diese neue dogmatische Konstruktion ermöglichte es dem Gesetzgeber nun aber, das Einlösungsprinzip in einem rechtspraktisch wichtigen Detail zu modifizieren: er fügte am Ende der Norm den Rechtssatz des § 38 II 2 VVG an, welcher die Vertragskündigung unwirksam werden ließ, sofern der Versicherungsnehmer binnen eines Monats nach der Kündigung die Prämie nachzahlte. Die Wirkungen der Kündigung waren damit also rückwirkend besei­ tigt.802 In der herrschenden Versicherungspraxis hingegen war ein Wiedererstar­ ken der verfallenen Versicherung nur möglich, wenn der Versicherer während der Säumniszeit keine Kündigung ausgesprochen hatte  – der Versicherer hatte mit einer raschen Kündigung also die Wirkung der Prämiennachzahlung buchstäb­ lich abschneiden können. Entsprechend setzten sich einige Versicherer während der Sachverständigenberatungen im Reichjustizamt gegen die neue Vorschrift zur Wehr, befürchteten sie doch, ihnen könnten damit gegen ihren Willen Verträge mit unzuverlässigen Versicherungsnehmern aufgedrängt werden.803 Ihr Engagement blieb allerdings erfolglos. b) Der Folgeprämienverzug (§ 39 VVG): Fristsetzung, Mahnung, Verschuldensprinzip Dem Versicherer sollte es auch unter dem VVG möglich bleiben, den Vertrag aufzulösen, wenn der Versicherungsnehmer mit einer der laufenden Folgeprämien in Rückstand geraten war; außerdem sollte er etwaige Versicherungsleistungen ver­ weigern können, falls in der Säumniszeit der Versicherungsfall eintrat. In seiner grundsätzlichen Konstruktion war der § 39 VVG zum Thema des Folgeprämien­ rückstandes also der Versicherungspraxis nicht unähnlich. Doch im Detail hatte der Gesetzgeber die Anforderungen an Vertragskündigung und Leistungsfreiheit gerade hinsichtlich der Folgeprämien deutlich verschärft, namentlich gegen die klar formulierten Vorstellungen von Versicherungsprakti­ kern: mehrere Denkschriften, die das Reichsjustizamt zwischen 1901 und 1902 erreichten, redeten davon, schon alleine der objektive Rückstand mit der Folgeprä­ mie solle mit automatischem Leistungsverfall bestraft werden.804 Der Gesetzgeber 802

Mot. VVG (1908) zu §§ 38, 39; so auch Duvinage (1987), S. 180. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.22 (Feuerversiche­ rung 2. Sitzung zu §§ 19 ff. RJA-E = §§ 38 ff. VVG). 804 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 270 f. (erkennt immerhin das Mahnerfordernis an); Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVers­ Wiss 3 (1903), 242, 248 (fordert Leistungsfreiheit ipso iure bei jedem Prämienrückstand); dazu auch Duvinage (1987), S. 188. 803

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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hatte solchen Vorstellungen aber eine klare Absage erteilt: dass ein Versicherungs­ nehmer aus rein alltäglicher Vergesslichkeit seine laufende Prämie nicht zahle, sei in der Praxis so überaus häufig anzutreffen, dass man daran keine überspitzen Sanktionen knüpfen dürfe.805 Ein Auszug aus § 39 VVG – der wie § 38 VVG seit dem Reichsjustizamtsentwurf kaum nennenswerte inhaltliche Änderungen erfah­ ren hat806 – mag diese Entwicklung verdeutlichen: „§ 39. [1] Wird eine Prämienzahlung, die nach dem Beginne der Versicherung zu erfolgen hat, nicht rechtzeitig bewirkt, so kann der Versicherer dem Versicherungsnehmer auf des­ sen Kosten eine Zahlungsfrist bestimmen. Tritt der Versicherungsfall nach dem Ablaufe der Frist ein und ist zur Zeit des Eintritts der Versicherungsnehmer mit der Zahlung der Prämie oder der geschuldeten Zinsen und Kosten im Verzuge, so ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei. Der Versicherer ist nach dem Ablaufe der Frist, wenn der Versicherungsnehmer mit der Zahlung im Verzug ist, berechtigt, das Versicherungs­ verhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist zu kündigen. […]“

Die nach § 39 I 1 VVG erforderliche Fristsetzung und Mahnung stellte kein ab­ solutes Novum im deutschen Versicherungsvertragsrecht dar. Wie oben bereits gezeigt wurde, schrieben auch die Musterbedingungen des Verbands deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften ab 1886 eine ausdrückliche Mahnung anstelle einer bloßen Respektfrist vor. Daraus sollte nun aber nicht der vorschnelle Schluss gezogen werden, der Gesetzgeber habe alleine eine weit verbreitete Versi­ cherungspraxis kodifizieren wollen. Die Geschäftsberichte des Kaiserlichen Auf­ sichtsamtes sprechen eine andere Sprache und relativieren diesen Befund wieder: im ersten Jahr seines Bestehens, nämlich im Jahr 1901, habe das Aufsichtsamt vehement darauf drängen müssen, das Element einer Mahnung in alle AVB ein­ zuführen. Die überwiegende Zahl der Versicherer habe bis dato nach wie vor an der bloßen Respektfrist festgehalten, sodass die Forderung nach einem vertrag­ lichen Mahnerfordernis oft auf harten Widerstand gestoßen sei.807 Das Drängen des Kaiserlichen Aufsichtsamtes liefert übrigens auch eine plausible Erklärung für das Phänomen, dass gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts plötzlich eine auffäl­ lige Doppelung von Respekt- und Mahnfristen in den AVB zu beobachten war. Wenn also selbst die Motive des VVG im Tone einer Feststellung davon sprechen, die Mahnung sei schon unmittelbar vor 1908 Bestandteil der meisten AVB gewe­ sen,808 dann liegt dieser Befund wahrscheinlich nicht in einer historisch gewach­ senen Praxis begründet, sondern rührt wohl hauptsächlich von der Initiative der Versicherungsaufsicht her.

805 Mot. VVG (1908) zu §§ 38, 39; zustimmend Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 202 (zum Entwurf von 1903). 806 § 20 RJA-E (1902); § 33 VVG-E (1903); § 38 VVG-BRV (1904); § 39 VVG-RTV (1905); § 39 VVG-RTV (1907); § 39 VVG (1908). 807 Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1903, S. 21 f.; vgl. auch ­Duvinage (1987), S. 187, die dem Mahnerfordernis in den Verbandsbedingungen von 1886 attestiert, keine allgemein geübte Praxis zu sein. 808 In diese Richtung Mot. VVG (1908) zu §§ 38, 39.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Besonders einschneidend musste es für die Rechtspraxis aber gewesen sein, dass der Gesetzgeber mit § 39 I 2, 3 VVG auch auf dem Gebiet des Folgeprämien­ rückstandes das sogenannte „Verschuldensprinzip“ einführte. Das Verschuldens­ prinzip war zunächst in der Rechtsprechung entwickelt worden, freilich punktuell zu einzelnen rechtlichen Fragen.809 Der Gesetzgeber wollte ihm aber nun flächen­ deckend im ganzen VVG zur Geltung verhelfen: die Verletzung vertraglicher Ver­ haltenspflichten sollte dem Versicherungsnehmer nicht zum Nachteil gereichen, wenn er die betreffende Verletzung nicht verschuldet hatte. Was den Folgeprä­ mienrückstand betrifft, hat ein solches Verschuldenselement unter dem Mantel des Rechtsbegriffs „Verzug“ seinen Weg in die Gesetzgebung gefunden: im allge­ meinen Schuldrecht des neu geschaffenen BGB erforderte das Tatbestandsmerk­ mal des „Verzuges“ (§ 285 BGB a. F.)810 nämlich auch das Verschulden des säumi­ gen Zahlungsschuldners.811 In den AVB hatte die Frage des Verschuldens bislang keine Rolle gespielt. Demensprechend begegneten die Versicherungsgesellschaften schon während der Sachverständigenberatungen von 1902 dem Terminus des „Ver­ zuges“ mit Kritik: besser sei es doch, vom „Rückstand“ der Prämie zu sprechen, da sich der Versicherungsnehmer andernfalls immer auf sein fehlendes Verschul­ den im Sinne des § 285 BGB a. F. berufen würde; ob der Zahlungsrückstand aber nun auch wirklich verschuldet ist, sei durch den Versicherer nur in seltenen Fällen nachzuweisen.812 Solche Einwände fanden aber letzten Endes kein Gehör, denn der terminus technicus „Verzug“ fand – wie die Regierung in den Sachverständi­ genberatungen betonte – seit dem Inkrafttreten des BGB im gesamten Zivilrecht Anwendung. Eine Ausnahme für das Versicherungsrecht erwog der Gesetzgeber also offenbar gar nicht erst. Im Endeffekt hat der Reichsgesetzgeber in § 39 VVG also mehrere Elemente zum Schutz des Versicherungsnehmers kombiniert und somit in der Summe eine unter mehreren Gesichtspunkten versichertenfreundliche Regelung geschaffen, welche nur sehr bruchstückhaft in den Gewohnheiten der vorgesetzlichen Versi­ cherungspraxis verankert war. Den intendierten Schutz der Versicherungsnehmer unterstrich der Gesetzgeber noch, indem er die Regelung mit einseitig zwingender Kraft ausstattete.813

809

Dazu s. nochmals unter § 3 B IV 2 b. RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195; entspr. heute § 286 Abs. 4 BGB. 811 Mot. VVG (1908) zu §§ 38, 39. Vgl. Duvinage (1987), S. 199; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 346. 812 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.22 ff. (Feuerversi­ cherung 2. Sitzung zu §§ 19 ff. RJA-E = §§ 38 ff. VVG); „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.134 (Lebensversicherung 2. Sitzung zu § 20 RJA-E = § 39 VVG); Denkschrift der Feuerversicherungs-VVaG v. 08. 10. 1903, S. 12; Denkschrift der Lebensver­ sicherer v. 06. 10. 1903, S. 7 f.; Samwer, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 203, 204; vgl. Duvinage (1987), S. 182, 189. 813 § 42 VVG (1908). 810

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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c) Die Stundungsfiktion und die Regeln zum Leistungsort: ein gescheiterter und ein erfolgreicher Versuch des Versichertenschutzes Die Vorschriften zum Erst- und Folgeprämienverzug waren während der Gesetz­ gebungsarbeiten am VVG noch durch einige weitere Regeln flankiert, die manche als besonders missbräuchlich empfundene Gewohnheiten der Praxis mit zwingen­ der Kraft verbieten wollten. Sie alle dokumentierten die versichertenfreundliche Intention des Reichsgesetzgebers; allenthalben blieben einige dieser reformfreu­ digen Vorschriften noch im Entwurfsstadium stecken. Unter anderem tauchte im Reichsjustizamtsentwurf von 1902 eine Idee wieder auf, die schon Art. 907 III, 909 S. 2 des Dresdener Obligationenrechtsentwurfes in Worte gefasst hatte. Wenn der Versicherer die Police bereits vor Zahlung der ersten Prämie an den Versicherungsnehmer übergeben hatte, sollte er in jedem Falle zur Schadensersatzleistung verpflichtet sein. Während jedoch der Dresdener Entwurf diese Rechtsfolge formal noch in eine Prämienstundungsfiktion eingekleidet hatte, bestimmte § 19 III des Reichsjustizamtsentwurfes – systematisch in der Nähe des Einlösungsprinzips geregelt – ganz offen:814 „§ 19. […] [3] War der Versicherungsschein dem Versicherten ausgehändigt und tritt der Ver­ sicherungsfall erst nach der Aushändigung des Versicherungsscheines ein, so ist der Versi­ cherer zur Leistung verpflichtet, auch wenn die Prämie nicht rechtzeitig gezahlt worden ist.“

Die versichertenfreundliche Regelung musste das Reichsjustizamt entweder dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf oder dem schweizerischen VVG-Ent­ wurf815 entnommen haben; dabei liegt freilich nicht ganz fern, dass der Dresdener Entwurf seinerseits schon dem schweizerischen Entwurf zur Inspiration gedient haben könnte. Zumindest in der AVB-Praxis fand man eine solche Klausel nir­ gends. Entsprechend kritischen Reaktionen sah sich die Bestimmung während der Sachverständigenberatungen von 1902 ausgesetzt; die Kritik der Fachöffentlichkeit riss nicht ab, als die Regel auch noch im gedruckten Entwurf von 1903 auftauch­ te.816 Sie stammte vornehmlich aus den Kreisen der Versicherungsgesellschaften: oft geschehe es etwa, dass ein lokal tätiger Versicherungsagent gut mit dem Ver­ sicherungsnehmer bekannt sei und ihm die Police deswegen aus Freundschaft, Kulanz oder gewissermaßen „zur Probe“ vorzeitig überlasse. Darauf könne die Versicherungsgesellschaft überhaupt keinen tatsächlichen Einfluss ausüben. Sie dürfe daher nicht für teilweise immense Schäden zur Haftung gezogen werden, ob­ wohl sie vom Versicherungsnehmer noch gar keine Zahlung erhalten habe und noch nicht einmal klar sei, ob der Versicherungsnehmer überhaupt zu zahlen gedenke.817 814 Vgl. Mot. VVG (1908) zu §§ 38, 39, wo noch ausdrücklich von einer Stundungsfiktion die Rede ist; Duvinage (1987), S. 181. 815 Art. 20 II Entwurf VVG Schweiz (1902); dazu auch Duvinage (1987), S. 181. 816 § 32 VVG-E (1903). 817 Denkschrift der Lebensversicherer v. 06. 10. 1903, S. 6; Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 194, 198 f.; Kuhlenbeck, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 82, 88; Samwer, DVfVW-Veröff. 2 (1904),

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Bereits in der Bundesratsvorlage von 1904 war die Klausel ersatzlos gestrichen worden.818 An dieser Stelle hatten sich die Interessen der Versicherungspraxis mit­ hin vorbehaltlos durchgesetzt. Demgegenüber hatte sich die Vorschrift in § 21 II des Reichsjustizamtsentwur­ fes allen fachkritischen Angriffen zum Trotz bis ins VVG von 1908 erhalten. Es handelte sich um einen Paragraphen zum Leistungsort der Prämienzahlung, der in seinem Wesensgehalt bereits § 37 des späteren VVG entsprach.819 Dem § 21 II des Reichsjustizamtsentwurfes war zunächst ein erster Absatz vo­ rangestellt, welcher die Prämienschuld als eine Schickschuld des Versicherungs­ nehmers qualifizierte: jener hatte dem Versicherer von seinem Wohnsitz aus die Prämie auf eigene Gefahr und eigene Kosten zu übermitteln.820 Sodann vertiefte der Entwurf seine Ausführungen:821 „§ 21. […] [2] Ist die Prämie regelmäßig bei dem Versicherten eingezogen worden, so ist dieser zur Uebermittelung der Prämie erst verpflichtet, wenn ihm der Versicherer schrift­ lich anzeigt, daß er die Uebermittelung verlange.“

Jene halbzwingende822 Norm beabsichtigte, einer geläufigen Rechtspraxis einen Riegel vorzuschieben, mit derer Hilfe sich in der Vergangenheit einige Versiche­ rungsgesellschaften ungünstiger Risiken entledigt hatten. In der Rechtspraxis sammelten oft die vor Ort tätigen Agenten die Prämien ein. Diese Gewohnheit lief dem Wortlaut der gebräuchlichen AVB entgegen, welche die Prämie üblicherweise als eine Schickschuld begriffen, wie auch die soeben zitierten AVB des Verbands Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften von 1874 in § 3 II 2 zeigen. Die meisten geschäftsunerfahrenen Versicherungsnehmer hatten sich jedoch bald an dieses üblich gewordene Zahlungsverfahren gewöhnt.823 Dies hatten sich einige Versicherer zu Nutze gemacht, indem sie ihre Agenten anwiesen, in Zukunft keine weiteren Prämien mehr beim Versicherungsnehmer einzuziehen. Die Versiche­ rungsnehmer erkannten aufgrund ihrer mangelnden Rechtskenntnis oft gar nicht, dass sie im Grunde genommen verpflichtet waren, die Prämie einzusenden, und verloren nach Ablauf der Respektfrist daher jeden Leistungsanspruch gegen den 203, 204. Vgl. insgesamt Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 182; so schließlich auch Mot. VVG (1908) zu §§ 38, 39. 818 Duvinage (1987), S. 183; Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 182. 819 § 21 II RJA-E (1902); § 30 VVG-E (1903): § 36 VVG-BRV (1904); § 37 VVG-RTV (1905); § 37 VVG-RTV (1907); § 37 VVG (1908). 820 § 36  I VVG (1908); entspr. § 21  I RJA-E (1902); § 29 VVG-E  (1903); § 35 VVG-BRV (1904); § 36 VVG-RTV (1905); § 36 VVG-RTV (1907). Vgl. Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 209 f.; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 346 f. (zum Entwurf von 1903). 821 Vgl. auch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 209. 822 § 42 VVG (1908) zur halbzwingenden Kraft. 823 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 271 f.; Denk­ schrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 247 f. Vgl. Duvinage (1987), S. 173, 187; Lewis (1889), S. 185 f.; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 376; ders., ZVersR 1 (1866), 105, 120 f.; Neugebauer (1990), S. 179; Neumann (1891), S. 49.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Versicherer.824 Zwar hatten schon einige Gerichte versucht, diese missbräuch­liche Praxis in die Schranken zu weisen: durch mehrmalige Abholung der Prämie, so die Rechtsprechung, trete konkludent der Parteiwille hervor, die ursprüngliche Schickschuld des Versicherungsnehmers auf Dauer in eine Holschuld zu verwan­ deln. Daran ändere sich in letzter Konsequenz nichts, wenn der Versicherer diese Abholpraxis wieder kommentarlos einstelle.825 Alleine war dieser gerichtliche Schutz denkbar lückenhaft. Die Versicherer konnten ihn durch eine ausdrückliche Klausel in ihren Versicherungsbedingungen aushebeln: so bestimmten zum Bei­ spiel die vorhin erörterten Verbandsbedingungen von 1874 über die Folgeprämie, der Versicherer sei „nicht gehalten, dieselbe einzufordern“ (§ 3 II 3).826 Der neue § 21 II des Reichsjustizamtsentwurfes – bzw. später § 37 VVG – be­ kämpfte diese Praxis effektiver. Sein Vorbild fand er dabei einerseits in Art. 23 IV des Roelli-Entwurfes, der im Kern eine identische Regelung vorgesehen hatte,827 andererseits in der rechtswissenschaftlichen Literatur, die ähnliche Schlussfolge­ rungen zog, weil sie die Abholpraxis der Agenten als stillschweigende Vertrags­ änderung auffasste.828 Nur vereinzelte Versicherungsgesellschaften leisteten Wi­ derstand zu dieser Regelung, indem sie klagten, auf das Verhalten ihrer Agenten gar keinen Einfluss zu haben;829 in dieser Hinsicht stießen ihre Bedenken jedoch nicht auf Gehör. Mit § 37 VVG hatte der Gesetzgeber folglich eine gänzlich neue Regel in das Versicherungsrecht eingeführt, die einzig und allein dem Schutz des geschäftsunerfahrenen Versicherungsnehmers vor missbräuchlichen Praktiken der Versicherungsgesellschaften diente. d) Fazit zur Prämienzahlung und zum Prämienrückstand im VVG Das Resümee, das unter dem Regelungskomplex des Prämienrückstandes steht, zerfällt nach alledem in zwei Teile. Auf der einen Seite hat der VVG-Gesetzgeber die überkommene Grundstruktur der AVB-Klauseln unangetastet gelassen und auch grundlegende Bedürfnisse des Versicherungsbetriebes wie das Einlösungs­ prinzip nicht angezweifelt. Insofern scheint es durchaus nachvollziehbar, wenn 824

Ausdrücklich kritisch zu dieser Praxis Mot. VVG (1908) zu §§ 35–37. Vgl. Duvinage (1987), S. 174; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 378; ders., ZHR 13 (1869), 45, 96. 825 ROHGE 9, 370, 375; RGZ 22, 51, 57. Vgl. Mot. VVG (1908) zu §§ 35–37; Duvinage (1987), S. 173, 187; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 504 f.; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 37 Rn. 2 f.; Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 194, 195; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 377; Neugebauer (1990), S. 179; Neumann (1891), S. 52 ff. 826 Dazu auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 504 f., der solche Klausel aller­ dings für nichtig hielt; weniger kritisch Malß, ZHR 6 (1863), 361, 378. 827 Vgl. auch Duvinage (1987), S. 275; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 209; R ­ oelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 346 f. 828 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 505; vgl. Duvinage (1987), S. 174. 829 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.136 (Lebensversi­ cherung 2. Sitzung zu § 21 RJA-E = § 37 VVG).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Duvinage wertend urteilt, der Gesetzgeber habe sich in diesem Punkt weitest­ gehend „an einer vielfach praktizierten Vertragsordnung orientiert“ und lediglich „Randkorrekturen“ vornehmen wollen.830 Auf der anderen Seite sollte aber nicht übersehen werden, welche tiefgreifenden Auswirkungen die §§ 37–39 VVG für die Geschäftspraxis mit sich brachten: weder das Verschulden des Versicherungsneh­ mers noch eine ausdrückliche Mahnung waren tief im vorgesetzlichen Praxisrecht verwurzelt gewesen. Sie mussten nachweisbar gegen den vehementen Widerstand der Praxis durchgesetzt werden, gar nicht erst zu reden von § 37 VVG, der eine geläufige Geschäftspraxis sogar offensiv bekämpfte.

VI. Die Gefahranzeige bei Vertragsschluss Die Gefahranzeige, die der Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss zu erstat­ ten hatte, stellte schon im 19. Jahrhundert nicht nur für die Rechtspraxis, sondern auch für die Rechtswissenschaft ein weites Betätigungsfeld dar; wenige andere Rechtsinstitute der Binnenversicherung waren im gleichen Maße von dogmati­ schen Streitigkeiten überlagert. Sowohl aus praktischer als auch aus rechtsdogmatischer Perspektive stellten sich drei Problemfragen als besonders umstritten heraus. Sie berührten allesamt die Sanktion einer falschen oder unterlassenen Anzeige: erstens, ob die Wirkun­ gen jener vertraglichen Sanktion an das Verschulden des Versicherungsnehmers geknüpft waren, zweitens, ob eine Sanktion auch dann verhängt werden konnte, wenn zwischen dem fehlerhaft oder gar nicht angezeigten Gefahrumstand und dem eingetretenen Versicherungsfall überhaupt kein Kausalzusammenhang bestand, und drittens, welche Auswirkungen es hatte, wenn der betreffende Gefahrumstand dem Versicherer zufällig auf andere Weise bekannt geworden war. Es hatten sich dabei zwei grundverschiedene dogmatische Ansätze entwickelt, die schon seit dem württembergischen und dem preußischen HGB-Entwurf auch in der legislatori­ schen Diskussion immer wieder aufeinanderprallten. 1. Die frühsten dogmatischen Ansätze des 19. Jahrhunderts: die Rechtsgeschäfts- oder Irrtumslehre Einer der ältesten dogmatischen Ansätze der versicherungsrechtlichen Literatur behandelte die Gefahranzeige mit den Werkzeugen der allgemeinen zivilrecht­ lichen Rechtsgeschäfts- oder Irrtumslehre. Ihn vertraten in den 1850er und 1860er Jahren mit Vorliebe vor allem diejenigen Autoren, welche den Versicherungsgesell­ schaften tendenziell nahe standen, so wie etwa Conrad Malß, selbst Rechtsberater der „Providentia“. Wenn der Versicherungsnehmer einen für die Risikokalkulation 830

Duvinage (1987), S. 192.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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ausschlaggebenden Gefahrumstand falsch deklariert hatte, so komme ein Konsens über den Versicherungsvertrag gar nicht erst zustande831 – eine Rechtskonstruk­ tion, die starke Erinnerungen an die rechtliche Natur der englischen „warranties“ weckt832 und sich im Übrigen auch im Seeversicherungsrecht des ADHGB durch­ gesetzt hatte.833 Man stelle sich also zum Beispiel vor, ein Gebäudeeigentümer will sein Wohnhaus gegen Feuergefahr versichern, gibt dem Versicherer gegenüber je­ doch nicht an, dass das Dämmungsmaterial seines Daches besonders feuergefähr­ lich sei. Der Versicherungsnehmer mag dabei gar nicht erkannt haben, dass von der Dämmung überhaupt eine erhöhte Feuergefahr ausgeht; ein später ausgebro­ chener Brand mag auch gar nicht von jener Dämmung herrühren, sondern seinen Ursprung vielmehr in einem Unfall in der eigenen Hausküche haben – alle solchen Tatsachen wären irrelevant, wenn man dem erörterten dogmatischen Ansatz folgt. Der Versicherer wollte nur das Risiko für ein Wohngebäude übernehmen, das seiner Vorstellung nach nicht feuergefährlich gedämmt ist. Allein die objektive Existenz des Dämmmaterials an sich macht den Versicherungsvertrag von An­ fang an nichtig. Für eine Versicherungsgesellschaft bringt diese Denkweise freilich einige Vor­ teile mit sich. So dürfte es kaum völliger Zufall sein, wenn dieses dogmatische Erklärungsmodell, das in den 1850er Jahren aufkam, im Wesentlichen nur die bewährte Konstruktion der meisten Feuer- und Lebensversicherungsbedingungen nachempfand. Ein Beispiel für beredte Vertragspraxis fand sich unter anderem in den Muster-AVB des Verbands deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaf­ ten aus dem Jahr 1874:834 „§ 4. Wer versichern läßt, ist verpflichtet, im Versicherungsantrage, nach Anleitung seines gedruckten Inhaltes, und in den sonstigen, neben dem Antrage etwa der Gesellschaft einge­ reichten Schriftstücken sowohl die zu versichernden Gegenstände und deren Eigentumsver­ hältnis, als auch die Lokalitäten und jede anderweit schon auf den Versicherungsgegenstand geschlossene Versicherung richtig anzugeben, ferner jeden auf die Feuergefährlichkeit einwirkenden Umstand gewissenhaft anzuzeigen. Ist diese Verpflichtung nicht erfüllt, so hat die Gesellschaft keine Entschädigungsverpflichtung.“

Unter jenen Verbandsbedingungen konnte sich der Versicherungsnehmer nach einer fehlerhaften Deklaration mithin weder exkulpieren noch auf die fehlende Kau­ salität zwischen dem streitigen Gefahrumstand und dem Versicherungsfall berufen; auch half es ihm nicht, wenn der Versicherer auf anderem Wege von dem Umstand er­ 831

Vgl. Lewis (1889), S. 86 f. (zum englischen und französischen Recht); Malß, Betrachtungen (1862), S. 29 f., 32 f.; Maurenbrecher / Walter, Bd. 2 (2. Aufl. 1855), § 443 (S. 89), § 447 (S. 95); von Staudinger (1858), S. 146 f. (zur Lebensversicherung); Walter (1855), Ziff. 382 (S. 434). In diese Richtung auch Stadtgericht Frankfurt a. M., ZVersR 1 (1866), 155, 157 (Anfechtbarkeit des Versicherungsvertrages nach der zivilrechtlichen Irrtumslehre). 832 Zu den englischen „warranties“, s. § 2 D VI 1; dazu auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 343. 833 Art. 813 ADHGB (1861) (Textausgabe von Hrsg. Lutz, 4. Aufl. 1861). 834 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 38.

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fahren hatte.835 Anderes galt nur bei wenigen staatlichen Mobiliar-­Brandversicherern, die dem Versicherungsnehmer bei fehlerhaften Gefahrangaben eine Exkulpa­ tionsmöglichkeit gewährten;836 die überwiegende Zahl der öffentlich-rechtlichen Versicherer allerdings schwieg sich in ihren Reglements zu diesem Thema völlig aus. Nicht wesentlich milder trafen einen Versicherungsnehmer im 19. Jahrhundert die Sanktionsfolgen, wenn er beim Abschluss einer Lebensversicherung etwa über sein Alter, seinen Beruf oder – im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung – seinen Gesundheitszustand falsche oder unvollständige Angaben gemacht hatte.837 Von der um die Wende zum 20. Jahrhundert aufkommenden Gewohnheit mancher Lebensversicherer, den Versicherungsnehmer nur bei fahrlässig oder gar wissent­ lich falsch gemachten Angaben von Alter oder Gesundheit mit dem Verlust seiner Versicherungsansprüche zu sanktionieren,838 war in der Mitte des 19. Jahrhunderts noch nichts zu spüren. Die strenge Gangart der Feuer- und Lebensversicherungsbedingungen dieser Zeit dürfte den anfänglichen Weg der Rechtswissenschaft vorgezeichnet haben. Man muss sich vor Augen halten, dass in jener frühen Phase der Versicherungs­ rechtswissenschaft manche aktive Autoren der Versicherungswirtschaft sehr nahe standen; andererseits sah die ganz herrschende Rechtsauffassung die AVB noch als ein unverfälschtes Produkt privatautonomer Verhandlungen an und erhob sie sogar zu einer Erkenntnisquelle allgemein anerkannter Handelsgewohnheiten.839 835

Ähnlich § 5 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (SammlungAVB  I,  34); § 4 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378) (ohne ausdrückliche Rechtfolgenanordnung, wohl zeittypisch als wesentlicher Vertragsinhalt behandelt); § 3 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB I, 75); § 3 AVB Aachener und Münchener Feuer­ versicherungs-Gesellschaft (1888) (Sammlung-AVB I, 75); § 1 I 1, 2 I AVB Gothaer Feuerver­ sicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65). Vgl. Müssener (2008), S. 235 (zu den AVB der Aachener und Münchener); Neugebauer (1990), S. 150, 153 (zu den „Verbandsbedingungen“ von 1874 und 1886). 836 § 24 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (PrGS 1862, 80) (Ex­ kulpationsmöglichkeit, Sanktion nur in Form einer Prämienerhöhung); § 14 I 2 lit. a, II Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (PrGS  1871, 163) (Sanktion nur bei wissentlichen Falschangaben); B  § 1 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99) (bei geglückter Exkulpation erfolgt nur Leistungskürzung um 25 %, verschuldensunabhängiges Kündigungsrecht der Sozietät bleibt aber bestehen). 837 Ähnlich §§ 6  II–VIII, 25 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB II, 23); §§ 33, 47 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16); §§ 3, 21 lit. a Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856) (Sammlung-AVB II, 39); §§ 6 II–IV, 30 I Nr. 2,4 AVB Germania Lebens-VersicherungsAktien-Gesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31); §§ 1 II, 9, 10 I lit. a Verbands-AVB Deut­ scher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44). 838 §§ 39, 56  I AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB  II,  62) (wissentlich); §§ 2–4, 16 I AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (SammlungAVB II, 81). 839 Zur Positionierung der Versicherungsrechtswissenschaft kurz nach 1850, s. schon § 3 C IV 1 b.

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Die handelsrechtlichen Kodifikationsentwürfe aus Preußen und Württemberg standen grundsätzlich ohne Vorbehalte auf diesem rechtlichen Boden, ebenso wie der Entwurf für ein bayerisches BGB. Ganz ausdrücklich kam dieser Gedanke zum Beispiel in Art. 433 des württembergischen Entwurfs über „unrichtige Angaben des Versicherten“ zur Geltung:840 „Art. 433. Wenn der Versicherte – geschehe es auch im guten Glauben – unrichtige oder unwahre Angaben macht, oder ihm bekannte Umstände verschweigt, und zwar in der Art, daß der Vertrag gar nicht, oder nicht unter denselben Bedingungen geschlossen worden wäre, wenn der Versicherer den wahren Stand der Sache gekannt hätte; so ist die Versi­ cherung nichtig.“

Geringfügig anders sanktionierte einige Jahre später der preußische Entwurf von 1857 ein fehlerhaftes Verhalten des Versicherungsnehmers während der Gefahr­ anzeige. Welche Tatsachen überhaupt deklarationspflichtig waren, bestimmte er nicht. Das blieb alleine der Versicherungspraxis vorbehalten. Zu den Rechtsfolgen eines entsprechenden Verstoßes hieß es dann aber:841 „Art. 346. Der Versicherer kann die Versicherung als ungültig aufheben, wenn der Versi­ cherte oder dessen Stellvertreter bei der Versicherung Umstände verschwiegen oder un­ richtig angegeben hat, welche so wesentlich sind, daß der Versicherer, wenn er die wahre Lage der Sache gekannt hätte, die Versicherung überhaupt nicht oder nicht zu denselben Bedingungen geschlossen haben würde.“

Im Gegensatz zu seinem württembergischen Pendant erklärte der preußische Entwurf den Vertrag also nicht ipso iure für nichtig, sondern für „aufhebbar“. Seine Motive geben Aufschluss über die rechtsdogmatische Konstruktion, die sich hinter dieser Norm verbarg: statt der allgemeinen Rechtsgeschäftslehre hatte der preußische Entwurfsverfasser seinem Art. 346 die zivilrechtliche Irrtumslehre zugrunde gelegt. Mit anderen Worten: war die Deklaration des Versicherungsneh­ mers falsch oder unvollständig, befand der Versicherer sich in einem Irrtum über vertragswesentliche Umstände. Hätte er den Vertrag also nicht trotzdem in genau derselben Form geschlossen, konnte er ihn anfechten.842 Mit lediglich leicht mo­ difizierter Begründung zog der preußische Entwurf im Wesentlichen die gleichen Konsequenzen nach sich wie die AVB oder der württembergische Entwurf: der Vertrag war schon bei einem rein objektiven Fehlverhalten des Versicherungsneh­ mers auflösbar, ohne noch auf dessen Verschulden abzustellen.843 Das gleiche Ergebnis und sogar die gleiche dogmatische Begründung finden sich im bayerischen BGB-Entwurf von 1861,844 der insoweit keine neuen Ideen in 840

Abgedruckt als Textausgabe (1839). Abgedruckt als Textausgabe (1857). 842 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 346 (Textausgabe, 1857); vgl. auch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 9; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 340. 843 Dazu auch Neugebauer (1990), S. 61. 844 Art. 823 I BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textausgabe, 1861); vgl. dazu Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 823 (Textausgabe, 1861) mit ausdrücklichem Verweis auf die zivilrechtliche Irrtumslehre. Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 76 zum fehlenden Verschuldenskriterium. 841

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die Debatte einbrachte; nichts anderes galt übrigens für die seeversicherungsrecht­ liche Kodifikation in Art. 812 I ADHGB. Die Normen des württembergischen, des preußischen und des bayerischen Entwurfes stimmten im Ergebnis also weitest­ gehend mit der Versicherungspraxis überein und teilten zum Teil sogar expressis verbis die Rechtsauffassungen der damals vorherrschenden wissenschaftlichen Lehre. Folgt man den Motiven des württembergischen und des preußischen HGB-Ent­ wurfes,845 so wird man jedoch feststellen, dass sich Hofacker und Bischoff, die beiden Entwurfsverfasser, vornehmlich auf die ausländischen Vorbilder des Code de Commerce, Codigo Commercial oder Wetboek van Koophandel beriefen,846 während sie die deutsche Versicherungspraxis völlig unerwähnt ließen. Tatsäch­ lich wirkt insbesondere Art. 433 des württembergischen Entwurfs wie eine beinahe wörtliche Übersetzung des niederländischen Wetboek van Koophandel: dieses bestimmte ebenfalls, dass jede fehlerhafte Gefahranzeige zur Vertragsnichtigkeit führte, „hoeezer te goeder trouw aan diens zijde hebbende plaats gehad“847 – „ge­ schehe es auch im guten Glauben“, wie Hofacker im württembergischen Entwurf formulierte. Dass die Versicherungspraxis mit dem Seerecht insoweit überein­ stimmte, dürfte am Ende also nichts weiter als eine reine Koinzidenz sein, ohne dass die AVB-Praxis für die Entstehung der beiden HGB-Entwürfe eine unmittel­ bar kausale Rolle spielte. Hinzu tritt noch, dass die drei partikularstaatlichen Entwürfe das vorhandene oder fehlende Verschulden des Versicherungsnehmers jedenfalls auf der Ebene der Vertragsrückabwicklung berücksichtigten. Auch damit begaben sie sich in Wider­ spruch zur herrschenden Vertragspraxis. In den Diskurs um die Gefahrerhöhung mischte sich nämlich wiederum ein traditionsreiches Element des Seeversiche­ rungsrechts: der Ristorno, welcher im Falle der vorzeitigen Vertragsauflösung die Rückzahlung überbezahlter Versicherungsprämien vorsah. Der Ristorno hatte schon zum Seeversicherungsrecht der Hamburger AHO und des preußischen All­ gemeinen Landrechts gehört,848 war dabei aber – im Gegensatz zu zahlreichen an­ deren Instituten der Seeassekuranz – niemals für die Binnenversicherung fruchtbar gemacht worden. Das änderte sich mit dem württembergischen HGB-Entwurf, der den Ristorno aus dem reinen Seerecht löste und zu einem allgemeinen Rechtsprin­ 845 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 433 (Textausgabe, 1840); Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 346. 846 Art. 348 Code de commerce (1807) (Édition originale et seule officelle, 1807); Art. 887 Código de Commercio (1829) (Edicion official, 1829); Ziff. 1677 Codigo Commercial (1833) (Textausgabe, 1879); Art. 251 Wetboek van Koophandel (1838) (Officiële Uitgave, 1838) (aus­ drücklich unabhängig vom guten Glauben des Versicherungsnehmers). 847 Art. 251 Wetboek van Koophandel (1838). 848 Tit. VI AHO (1731) (Dreyer [1990], S. 267); §§ 101–111 PrAHO (1766) (NCC IV, 83); Th. II Tit. 8 §§ 2333–2358 ALR (1794) (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl. 1996]); vgl. später Art. 899–905 ADHGB (1861). So auch im internationalen Seerecht, vgl. Ziff. 1787 Codigo Commercial (1833); Art. 281, 282 Wetboek van Koophandel (1838).

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zip für alle Versicherungszweige erklärte.849 So entstand mit dem Ristorno gleich­ sam ein Korrektiv, das einige Härten der soeben erörterten Vorschriften abfederte. Eine vergleichsweise simple Vorschrift zum Ristorno hatte Hofacker in seinem württembergischen Entwurf vorgesehen: „Art. 466. Ist die geschlossene Versicherung ganz oder theilweise ungültig, der Versicherte hat aber im guten Glauben gehandelt; so muß ihm der Versicherer die Prämie entweder ganz oder für den Theil, wofür er keine Gefahr gelaufen hat, zurückgeben. […] Art. 469. Hat der Versicherte bei einer ungültigen Versicherung im bösen Glauben gehan­ delt; so kommt die Prämie dem Versicherer zu, unbeschadet seiner übrigen Rechtsansprüche an den Versicherten.“

Hatte der Versicherungsnehmer mithin gutgläubig gehandelt, so verlor er zwar den Versicherungsschutz, konnte aber immerhin seine Versicherungsprämie be­ halten.850 Ein solches seerechtlich inspiriertes Korrektiv fehlte den AVB der Feuer- und Lebensversicherer freilich völlig. Bemerkenswert ist nur, wie Hofacker versuchte, die entsprechenden Klauseln der AVB mit dem dogmatischen Modell seines HGB-Entwurfes zu harmonisieren: so vertrat er in den Motiven zu seinem württembergischen Entwurf die Auffassung, der Prämienristorno sei zwar grund­ sätzlich im Binnenversicherungsrecht anwendbar, werde aber in der AVB-Praxis häufig zulässigerweise abbedungen.851 Freilich dürften sich die Versicherungs­ gesellschaften in Wahrheit überhaupt keine Gedanken über das Rechtsinstitut „Ristorno“ gemacht haben, das im Feuer- und Lebensversicherungsrecht einen absoluten Fremdkörper darstellte. Die so dokumentierte Auffassung Hofackers beweist aber immerhin, dass er bei der Abfassung seines Entwurfes stets auch immer die Vorschriften der Versicherungspraxis im Blick behielt, wenngleich er sich – wie dargelegt – in erster Linie an den Bestimmungen ausländischer Rechts­ ordnungen orientierte. 2. Das spätere 19. Jahrhundert: der verfeinerte Dogmatik des Versicherungsvertrages als „contractus uberrimae fidei“ Mit dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf deutete sich eine Abkehr von dem tendenziell versichertenunfreundlichen Standpunkt der vorhergehenden Ent­ würfe an. In der Literatur gewann ab den 1860er Jahren eine Meinung an Ein­ fluss, die das fehlerhafte Anzeigeverhalten des Versicherungsnehmers nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der Rechtsgeschäfts- oder Irrtumslehre beurteilen wollte. Stattdessen stellte sie darauf ab, dass den Versicherungsvertrag ein besonderes 849 Dazu s. schon in den Abschnitten zur Über- und Mehrfachversicherung unter § 3 D IV 1 a und § 3 D IV 2 b. 850 Mit einigen Modifikationen, aber im Kern ähnlich Art. 348 HGB-Entwurf Preußen (1857); Art. 825 BGB-Entwurf Bayern (1861). 851 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 466.

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Treueverhältnis zwischen den Vertragsparteien kennzeichne: insbesondere der Ver­ sicherungsnehmer schulde dem Versicherer besondere Treue und Aufrichtigkeit. Letzterer könne schließlich das versicherte Risiko nur dann adäquat versicherungs­ technisch bewerten, wenn der Versicherungsnehmer ihm ehrlich und lückenlos alle gefahrrelevanten Umstände offenlege – zwischen dem Versicherungsnehmer und dem Versicherer herrsche ein Wissensgefälle, dass der Versicherungsnehmer nur durch seine vorvertraglichen Angaben überbrücken könne.852 Jenen Grundsatz griffen zahlreiche wissenschaftliche Autoren im 19. Jahrhun­ dert argumentativ auf, sodass schon bald vom Versicherungsvertrag als einem „con­ tractus uberrimae fidei“ – einem besonderen vertraglichen Treueverhältnis – die Rede war; zur Legitimation diente manchen Autoren ausdrücklich der Programm­ satz aus Th. II Tit. 8 § 2024 ALR, wo es geheißen hatte, dass beim Vertragsschluss „beyde Theile zu besondrer Treue, Redlichkeit und Aufrichtigkeit verpflichtet“ seien.853 Auf einem ganz anderen Blatt steht freilich bei alledem, dass das ALR selbst noch scharf gegen auch nur objektiv-rechtliche Vertragsverletzungen vorge­ gangen war, indem es in §§ 2026, 2027 selbst bei unverschuldeten Falschdeklara­ tionen die Vertragsnichtigkeit und den Verfall der Versicherungsprämie angeordnet hatte.854 Am Ende war die Berufung auf die Rechtsgedanken der §§ 2024 ff. ALR also zu einer reinen wissenschaftlichen Argumentationsfloskel geraten. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts855 war auf jenem rechtlichen Boden jedenfalls eine we­ sentlich filigranere Rechtsdogmatik gewachsen als noch unter der älteren Lehre. Sie formte aber bald einen schroffen Kontrast zu dem Vorgehen, das in der Versicherungspraxis noch immer vorherrschte. Wenn nämlich die Sanktion einer fehlerhaften oder unterlassenen Gefahranzeige ihren inneren Grund in der Ver­ letzung der gegenseitigen Vertragstreue habe, so dürfe eine rein objektiv mangel­ hafte Anzeige noch nicht ausreichen, um diese Rechtsfolge auszulösen. Es sei stattdessen eine treuwidrige, im Endeffekt also schuldhafte Falschanzeige oder Verschweigung zu fordern.856 Überhaupt ende die Treuepflicht des Versicherungs­ 852

Ausdrücklich zum Problem des „Wissensgefälles“ zwischen den Vertragsparteien Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 7 ff.; Pöhls, Bd. 4/2 (1834), § 661 (S. 559); von Staudinger (1858), S. 145; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 340 f., 344. 853 Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 116 (S. 530); ); Bluntschli / Dahn (3. Aufl. 1864), § 161.5 (S. 499 f.); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 73 ff., 352; Endemann (1. Aufl. 1865), § 174.III (S. 829); Goldschmidt, System des Handelsrechts (4. Aufl.  1892), § 158.6 (S. 252); Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 7 f.; Maurenbrecher / Walter, Bd. 2 (2. Aufl. 1855), § 443 (S. 89); Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 305 (S. 111). Ausdrücklich auf §§ 2024, 2026 ALR Bezug nahmen dabei z. B. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 347; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 9; von Staudinger (1858), S. 145. 854 Dazu unter § 2 D VI 2. 855 Andere Ansätze, welche die Versicherung zwar als „contractus uberrimae fidei“ ansa­ hen, aber die Gefahranzeige de facto trotzdem noch unter den Gesichtspunkten der Rechts­ geschäfts- oder Irrtumslehre tauchten gelegentlich in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Eine nähere Erörterung dieser Ansätze erfolgte bereits unter § 3 B IV 1 c dieser Untersuchung. 856 Beseler (4. Aufl.  1885), Bd. 1 § 116 (S. 530); V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 244; Endemann (1. Aufl. 1865). § 174.III (S. 830); Goldschmidt, System des Handelsrechts

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nehmers dort, wo der Versicherer aufgrund eigener Kenntnisse die Gefahr korrekt einschätzen könne.857 Die bis dato vorherrschende rechtliche Konstruktion, die sich der Rechtsge­ schäfts- oder Irrtumslehre bediente, lehnten die Vertreter der neuen Auffassung entschieden ab. Es hatte sich nämlich allmählich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die maßgeblichen Gefahrumstände nicht den Inhalt des Vertrages, sondern bloß die Motivation für den Vertragsschluss bildeten. Infolgedessen würde aus einer nur objektiv fehlerhaften Anzeige weder ein vertraglicher Dissens noch ein Irrtum des Versicherers über eine vertragswesentliche Eigenschaft resultieren, sondern lediglich ein unbeachtlicher Motivirrtum. Auf ihn könne die Nichtigkeit oder An­ fechtbarkeit des Vertrages nicht gestützt werden.858 Um das obige Beispiel noch einmal zu bedienen: die rein objektive Existenz des feuergefährlichen Dämmma­ terials im Dach des versicherten Gebäudes hätte unter jener jüngeren Anschauung keinerlei Einfluss auf die Wirksamkeit des Versicherungsvertrages – völlig anders lägen die Dinge natürlich, wenn der Versicherungsnehmer von den feuergefährli­ chen Eigenschaften der Dämmung gewusst und dieses Wissen seinem Versicherer vorenthalten hätte. Von jener Auffassung, die auf dem „besonderen Treueverhältnis“ zwischen Versi­ cherer und Versicherungsnehmer fußte, gingen nach den Berichten Kübels auch die Delegierten der Dresdener Konferenzen in breiter Übereinstimmung aus.859 Die Be­ handlung der vorvertraglichen Anzeige im Dresdener Obligationenrechtsentwurf hat diese Untersuchung bereits gestreift, denn dort zeigt sich geradezu idealtypisch, wie das Dresdener Obligationenrecht einerseits die Schutzbedürftigkeit des Versi­ cherungsnehmers gegen „Chikanen“ der Versicherer erkannt hat, andererseits aber noch recht zögerlich in der praktischen Umsetzung dieses Gedankens agiert hat. Die wesentlichen Erkenntnisse aus der Untersuchung der einschlägigen Art. 905 I, 906 des Obligationenrechtsentwurfs860 mag man sich an dieser Stelle noch einmal ins Gedächtnis rufen.861 Zum einen hatte die Dresdener Konferenz den Kreis der Gefahrumstände, deren fehlerhafte oder unterlassene Anzeige eine Sanktion auslösen konnte, im Gegen­ (4. Aufl. 1892), § 158.6 (S. 252); Lewis (1889), S. 76; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 346 ff., 360 (stellt auf den Sorgfaltsmaßstab des „bonus paterfamilias“ ab). Leicht anders noch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 12 f. (der jedoch auf die Kenntnis des Versicherungsnehmers abstellt und damit dem Verschuldenskriterium inhaltlich immerhin recht nahe kommt). 857 Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 2 § 266.V (S. 1233); Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 16; anders aber Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 350. 858 Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 10; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 341. 859 Vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3306 ff.; dort wurde das Wesen des Vertrages als „contractus uberrimae fidei“ zwar nicht ausdrücklich formuliert, doch offenbarten zahlrei­ che Rechtsfolgenregelungen (dazu s. sogleich) die dogmatische Grundhaltung der Dresdener Konferenz. 860 Abgedruckt als Textausgabe von Hrsg. Francke (1866). 861 Dazu schon unter § 3 C II 5 d (mit Zitat der einschlägigen Vorschriften).

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satz zur Versicherungspraxis erheblich eingeschränkt (Art. 905 I): ganz im Zeichen der Auffassung vom Versicherungsvertrag als besonderes Treueverhältnis konnte nur noch ein Verschweigen wider besseres Wissen die „Anfechtbarkeit“ des Ver­ trages nach sich ziehen.862 Ein solches Verschweigen von Gefahrtatsachen war des­ gleichen gem. Art. 905 I nur noch dann beachtlich, wenn die Kenntnis jener Tatsa­ chen zumindest hypothetisch dazu geeignet war, auf den Willen des Versicherers, „den Vertrag überhaupt oder unter denselben Bedingungen zu schließen“, Einfluss zu nehmen. Außerdem fand aber die Treuepflicht des Versicherungsnehmers und somit auch die Sanktionierbarkeit von falschen oder unterlassenen Anzeigen eine klare Grenze, wenn dem Versicherer die Unrichtigkeit einer solchen Anzeige aus anderen Quellen bekannt war (Art. 906).863 Sogar noch weitergehend, letztlich aber ergebnislos war in den Dresdener Konferenzen zur Diskussion gestellt worden, entsprechende Sanktionen selbst schon dann auszuschließen, wenn sich der Ver­ sicherer über den streitigen Gefahrumstand in fahrlässiger Unkenntnis befunden hatte.864 Allenthalben hatte sich die Konferenz bei der Abfassung des Art. 906 noch nicht konsequent dazu durchringen können, die Sanktionen einer fehlerhaften oder unvollständigen Gefahranzeige vom Verschulden des Versicherungsnehmers ab­ hängig zu machen: das Recht des Versicherers zur „Anfechtung“ bestand nach dem eindeutigen Wortlaut des Art. 906 unabhängig davon, ob der Versicherungsnehmer „mit oder ohne Verschuldung erhebliche Umstände unrichtig angegeben“ hatte.865 Es hatte sich also schon im Dresdener Obligationenrechtsentwurf ein gesetz­ geberischer Gesinnungswandel angedeutet. Im Ergebnis führte er dazu, dass sich der Dresdener Entwurf von 1866 in vielen Aspekten von den AVB der Rechts­ praxis, aber auch von den vorhergehenden Entwürfen und den ausländischen Handelsgesetzbüchern merklich abkehrte. Nebenbei bemerkt zeichnete sich eine ähnliche Linie auch schon in vereinzelten aufsichtsrechtlichen Verordnungen der Partikularstaaten ab. Eine sächsische Verordnung aus dem Jahr 1863 beispiels­ weise verbot in den Versicherungsbedingungen privater Gebäudefeuerversicherer jede Bestimmung, die schon bei „einzelnen Unrichtigkeiten de[n] Verlust des Ent­ schädigungsanspruchs überhaupt und im Ganzen“ anordneten, also auch im Hin­ blick auf solche Positionen der Police, „welche sich in Richtigkeit befinden und auf welche jene specielle Unrichtigkeit keinen Einfluß hat.“866

862 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3307; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 5. Eine ähnliche Ein­ schränkung der Gefahranzeige auf „bekannte“ Umstände hatte vor dem Dresdener Entwurf allerdings schon Art. 433 HGB-Entwurf Württemberg (1839) vorgenommen. 863 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3307 f.; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 16. 864 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3308; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 17. 865 Vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3308; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 12 f. 866 § 4 II Verordnung, einige Bestimmungen des VIten Abschnitts des Gesetzes über das Immobiliar-Brandversicherungswesen vom 23sten August 1862 und der dazu gehörigen Aus­ führungsverordnung vom 20sten October desselben Jahres betreffend; vom 28sten März 1863 (GBl. Sachsen 1863, 359); dazu auch Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingungen (2010), S. 161.

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Nun gerieten also zunehmend auch die Bedürfnisse des Versicherungsnehmers in den Fokus, der vor einem völlig unerwarteten Anspruchsverlust in Schutz ge­ nommen werden sollte. Diese Entwicklungstendenz, die sich im Obligationen­ rechtsentwurf und vereinzelten aufsichtsrechtlichen Normen in ersten Umrissen gezeigt hatte, kam 40 Jahre später im Versicherungsvertragsgesetz noch um ein Vielfaches deutlicher zur Geltung. 3. Die Gefahranzeige im VVG: altbekannte und innvovative Ansätze des Versichertenschutzes Die ersten versichertenfreundlichen Ansätze des Dresdener Obligationenrechts­ entwurfs blieben auch im VVG deutlich erkennbar; man kann der Rechtsentwick­ lung auch insoweit eine deutliche Kontinuität attestieren. Doch war der Umfang der einschlägigen Bestimmungen noch um ein Vielfaches angewachsen. Im Folgenden soll daher zuerst untersucht werden, in welcher Weise das VVG die dogmatische Grundlinie seiner Vorgänger weiter verfolgt hat (a), um anschließend auf all dieje­ nigen Neuerungen einzugehen, die erstmals mit dem VVG in das Binnenversiche­ rungsrecht eigeführt wurden, und zwar teilweise gegen den erheblichen Widerstand der Versicherungspraktiker (b). Zuletzt wird sich der Blick dieser Untersuchung auf einige besondere Phänomene in der Praxis und Gesetzgebung des Lebensver­ sicherungsrechts richten, denn das praktizierte Lebensversicherungsrecht wich um die Wende zum 20. Jahrhundert zum Teil erheblich von den bereits untersuchten allgemeinen rechtlichen Grundsätzen der Gefahranzeige ab (c). a) Die Gefahranzeige im VVG als Produkt einer Dogmatik des „besonderen Treueverhältnisses“ Die Rechtsauffassung, die den Versicherungsvertrag als einen „contractus uber­ rimae fidei“ qualifizierte und deshalb den Versicherungsnehmer nur für schuldhaft unterlassene oder fehlerhafte Anzeigen sanktionieren wollte, hat sich im VVG von 1908 restlos durchgesetzt (§§ 16–22 VVG).867 Seit ihren ersten, noch nicht völlig konsequenten gesetzgeberischen Anfängen im Dresdener Obligationenrechtsentwurf hatte sie in der Literatur immer mehr an Zustimmung gewonnen.868 Ihren Teil dazu hatte auch die konstante Linie der Rechtsprechung gegen Ende des 19. Jahrhunderts beigetragen: entsprechende AVB-Klauseln legten das Reichsoberhandels- und das Reichsgericht mittlerweile in der Weise aus, dass nur ein verschuldetes Fehlverhalten des Versicherungsneh­

867 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908. 868 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 73 f., 352; Lewis (1889), S. 76.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

mers vertragliche Sanktionen nach sich ziehen dürfe.869 Es scheint zunächst, als habe im beginnenden 20. Jahrhundert schließlich auch die Feuerversicherungspra­ xis ihre AVB aus eigener Kraft liberalisiert – namentlich, indem es 1904 in einer „Erklärung“ zu den Verbandsbedingungen von 1886 hieß:870 „Zu § 3. Die Gesellschaft ist auch dann zur Entschädigung verpflichtet, wenn die Angaben und Anzeigen, welche der Antragsteller im Antrage nach Anleitung seines eingedruck­ ten Inhalts und in den sonstigen neben dem Antrage etwa der Gesellschaft eingereichten Schriftstücken richtig und gewissenhaft zu machen hat, ohne Verschulden des Antragstel­ lers dieser Vorschrift nicht entsprechen.“

Man ist versucht, aus dieser veränderten Klauselgestaltung nun den Schluss zu ziehen, der Gesetzgeber habe hier einfach ein Prinzip anerkennen können, das sich mittlerweile auch in der Versicherungspraxis etabliert hatte. Das überzeugt indes nur so lange, bis man einen näheren Blick auf den Gesetz­ gebungsprozess des VVG wagt. Bereits in den Ausführungen zur Deklaration einer mehrfachen Versicherung hat diese Untersuchung erörtert, dass insoweit nicht die Gesetzgebung den AVB folgte, sondern sich umgekehrt die Versicherungspraxis schon 1904 am zukünftigen VVG orientierte. Ebenso lagen die Dinge hier: im Entwurf des Reichsjustizamtes von 1902 waren bereits umfangreiche Vorschrif­ ten enthalten, welche der Rechtsnatur des Versicherungsvertrages als „contractus uberrimae fidei“ und vor allen Dingen dem „Verschuldensprinzip“ zur Geltung verhalfen. Im Wortlaut wollte jener erste Entwurf bestimmen:871 „§ 8. [1] Wer einen Versicherungsvertrag schließt, hat alle ihm bei der Schließung bekannten Umstände, die für die Uebernahme der Gefahr erheblich sind, dem Versicherer wahrheits­ gemäß anzuzeigen; […] § 9. [1] Ist den Vorschriften des § 8 zuwider die Anzeige eines erheblichen Umstandes unter­ blieben oder über einen erheblichen Umstand eine unrichtige Anzeige gemacht, so kann der Versicherer von dem Vertrage zurücktreten. [2] Das Gleiche gilt, wenn die Anzeige eines erheblichen Umstandes deshalb unterblieben ist, weil sich der Versicherte oder der Vertreter der Kenntniß des Umstandes arglistig entzogen hat. [3] Der Rücktritt ist ausgeschlossen: 1. Wenn die Anzeige in Folge eines nicht verschuldeten Irrthums über die Erheblichkeit des nicht angezeigten Umstandes unterblieben ist oder wenn der Versicherer den Umstand kannte oder seine Kenntniß nach Lage der Sache vorausgesetzt werden durfte; 2. Wenn die Anzeige ohne Verschulden des Versicherten unrichtig gemacht worden ist oder die Unrich­ tigkeit dem Versicherer bekannt war.“

In dem ersten Entwurf waren somit zahlreiche Elemente enthalten, die schon zuvor in der Wissenschaft als notwendige Konsequenzen aus dem rechtsdogmati­ 869

Zu den gewandelten, versichertenfreundlichen Anschauungen der Wissenschaft und Rspr. am Ende des 19. Jhdts, s. schon ausführlich unter § 3 B IV 2 b. 870 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 78. Ähnlich sodann auch Art. 8, 43 AVB Württember­ gische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71) (Erfordernis der „betrüglichen“ Falschangabe). Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 153 (zu der „Erklärung“ von 1904). 871 Archiviert in GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91.

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schen Charakter des Versicherungsvertrages als Verhältnis von besonderem Treu und Glauben gezogen worden waren. Der Schutz vor einseitig nachteiligen Versi­ cherungsbedingungen, den das VVG dem Versicherungsnehmer schon in seinem Stadium als Reichsjustizamtsentwurf gewähren wollte, ging also noch erheblich weiter als die Zugeständnisse, die zwei Jahre später die Feuerversicherungsgesell­ schaften in ihrer „Erklärung“ machten. Im Einzelnen enthielt insbesondere § 9 III des Entwurfs mehrere Einschränkun­ gen des Rücktrittsrechts. Sie zeugen allesamt von dogmatischen Anschauungen, die sich fast 40 Jahre nach den Debatten der Dresdener Konferenzen auch fest in der Literatur etabliert hatten. Zu nennen ist erstens das Verschuldensprinzip, das dem Versicherungsnehmer die Möglichkeit gab, sich im Falle einer Verletzung des § 8 zu exkulpieren.872 Zweitens wollte auch der VVG-Entwurf nur dann eine Sanktion gegen den Versicherungsnehmer verhängen, wenn dieser die Gefahranzeige wider sein besseres Wissen fehlerhaft getätigt oder ganz unterlassen hatte (§ 8 I 1).873 Zum Dritten enthielt § 9 III Nr. 1 Alt. 2 den Rechtssatz, dass die anderweitige Kenntnis des Versicherers von dem betreffenden Gefahrumstand die sein Rück­ trittsrecht ausschloss.874 Der Rechtsjustizamtsentwurf ging an dieser Stelle noch entschieden weiter als der Dresdener Entwurf, indem er selbst bei „vorausgesetz­ ter“ Kenntnis des Versicherers keine Sanktion zulasten des Versicherungsnehmers vorsah, der Versicherungsgesellschaft mithin im Endeffekt eine weitreichende Nachforschungspflicht auferlegte. Insoweit hatte der deutsche Entwurf es dem schweizerischen gleichgetan, der ebenfalls das „Kennenmüssen“ des Versicherers für ausreichend hielt, um entsprechende Sanktionsfolgen zu verhindern.875 Eben­ sowenig konnte eine Sanktion gegen den Versicherungsnehmer verhängt werden, wenn der Versicherer Kenntnis von der Unrichtigkeit der angezeigten Tatsachen besaß (§ 9 III Nr. 2 Alt. 2). In dieser Hinsicht ging der Reichsjustizamtsentwurf nicht nur über alle früheren deutschen Entwürfe, sondern sogar über den RoelliEntwurf hinaus. Es musste sich hier also um eine eigenständige Schlussfolgerung des deutschen Gesetzgebers handeln. Zu hoher Wahrscheinlichkeit hatte der Ent­ wurfsverfasser eine Analogie zu §§ 808 II, 809 I HGB gezogen:876 schon § 808 II

872

Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 96; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 16 Rn. 7; V. Ehrenberg, ZVersWiss 3 (1903), 315, 320 (zum Verschuldens­ prinzip im Entwurf von 1903); Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 187, 189; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 120, 148. Zum Verschuldensprinzip vgl. auch V. Ehrenberg, Versi­ cherungsrecht (1893), S. 244. 873 Mot. VVG (1908) zu §§ 16–22 (Nachdruck [1963], S. 59); Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 16 Rn. 3; Müssener (2008), S. 245. Zur Beschränkung auf bekannte Umstände, vgl. auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 338 f. 874 Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 16 Rn. 10. Zur Relevanz der anderweitigen Kenntnis des Versicherers vgl. auch V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 348. 875 Art. 10 S. 2 lit. b Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1–69). 876 RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336; entspr. Art. 812 II ADHGB (1861).

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des HGB von 1897 hatte für das Seerecht Sanktionen gegen den Versicherungs­ nehmer ausgeschlossen, „wenn der nicht angezeigte Umstand dem Versicherer bekannt war oder als ihm bekannt vorausgesetzt werden dürfte“. Insbesondere § 8 und § 9 des Reichjustizamtsentwurfes zeigen damit, wie der Gesetzgeber die Gedanken des „besonderen Treueverhältnisses“ und den damit verbundenen Schutz der Versicherungsnehmer möglichst weitgehend zur An­ wendung bringen wollte und zu diesem Zweck alle ihm zur Verfügung stehenden Quellen ausschöpfte. Zudem schränkte der Reichsjustizamtsentwurf das Rück­ trittsrecht des Versicherers auch auf der Rechtsfolgenseite viel stärker ein als die Entwürfe des 19. Jahrhunderts: in § 10 I des Entwurfes877 knüpfte er den Rücktritt des Versicherers an eine Monatsfrist, die zu laufen begann, sobald dieser von der fehlerhaften Anzeige Kenntnis erlangt hatte. Bei alledem berief sich die Geset­ zesbegründung ausdrücklich auf den Schutz des geschäftsunkundigen Versiche­ rungsnehmers.878 Die Versicherungsgesellschaften wehrten sich in den Sachverständigenbera­ tungen von 1902 heftig gegen den Schutz, den der Reichsjustizamtsentwurf den Versicherungsnehmern gewähren wollte. Einige Versicherer offenbarten dabei, dass sie noch immer auf dem Standpunkt der alten Theorie standen, wonach jede einzelne gefahrrelevante Tatsache zu den essentialia negotii des Vertrages zähle – dementsprechend solle jede auch nur objektiv fehlerhafte Anzeige zur Vertrags­ nichtigkeit führen.879 Dieser Meinung erteilte die Reichsregierung aber noch un­ mittelbar während der Sachverständigenberatungen eine Absage. Sie schloss sich nachdrücklich der Ansicht an, die auch in der wissenschaftlichen Literatur vor­ herrschte hatte: die Unkenntnis des Versicherers über einzelne Gefahrumstände sei kein Irrtum über vertragswesentliche Tatsachen, sondern ein bloßer unbeachtlicher Motivirrtum.880 In der legislatorischen Diskussion war die überkommene Ansicht, die hier mit den Instrumenten der Rechtsgeschäfts- oder Irrtumslehre operieren wollte, endgültig vom Tisch. In anderer Hinsicht kam der Gesetzgeber den Versicherungsgesellschaften aber doch entgegen. Das Rücktrittsrecht des Versicherers selbst dann einzuschränken, wenn die anderweitige Tatsachenkenntnis des Versicherers „nach Lage der Sache vorausgesetzt werden durfte“, ging schließlich auch dem Gesetzgeber zu weit. Eine ständige Erkundigungspflicht des Versicherers hielt er am Ende – im Anschluss 877

Entspr. § 20 I VVG (1908). Mot. VVG (1908) zu §§ 16–22. 879 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.125 ff. (Lebensver­ sicherung 1. Sitzung zu §§ 8, 9 RJA-E = §§ 16, 17 VVG); grundsätzlich anerkennend hingegen „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.11 ff. (Feuerversiche­ rung 1. Sitzung zu §§ 8, 9 RJA-E = §§ 16, 17 VVG). Zu Kritik am Verschuldenserfordernis in späteren Stadien des Gesetzgebungsverfahren, s. Denkschrift der Feuerversicherungs-VVaG v. 08. 10. 1903, S. 8 ff. 880 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.125 ff. (Lebensver­ sicherung 1. Sitzung zu §§ 8, 9 RJA-E = §§ 16, 17 VVG). 878

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an die Kritik aus der Sachverständigenkommission881 – mit dem rationellen Groß­ betrieb der Versicherungswirtschaft für unvereinbar. Der gedruckte Entwurf, der 1903 der Öffentlichkeit übergeben wurde, enthielt diese Passage nicht mehr.882 Die weiteren Abänderungen, die der Entwurf nach 1903 erfuhr, waren vornehm­ lich redaktioneller Natur. In bloß regelungssystematisch geänderter Gestalt883 trat er 1908 in Kraft. Was den materiellen Regelungsgehalt anbelangte, glichen die §§ 16, 17 VVG aber nach wie vor dem Entwurf von 1903: „§ 16. [1] Der Versicherungsnehmer hat bei der Schließung des Vertrags alle ihm bekannten Umstände, die für die Übernahme der Gefahr erheblich sind, dem Versicherer anzuzeigen. [2] Ist dieser Vorschrift zuwider die Anzeige eines erheblichen Umstandes unterblieben, so kann der Versicherer von dem Vertrage zurücktreten. Das Gleiche gilt, wenn die Anzeige eines erheblichen Umstandes deshalb unterblieben ist, weil sich der Versicherungsnehmer der Kenntnis des Umstandes arglistig entzogen hat. [3] Der Rücktritt ist ausgeschlossen, wenn der Versicherer den nicht angezeigten Umstand kannte oder wenn die Anzeige ohne Verschulden des Versicherungsnehmers unterblieben ist. § 17. [1] Der Versicherer kann von dem Vertrag auch dann zurücktreten, wenn über einen erheblichen Umstand eine unrichtige Anzeige gemacht worden ist. [2] Der Rücktritt ist ausgeschlossen, wenn die Unrichtigkeit dem Versicherer bekannt war oder die Anzeige ohne Verschulden des Versicherungsnehmers unterblieben ist.“

Vergegenwärtigt man sich nun ein weiteres Mal, dass das Kaiserliche Aufsichts­ amt die Feuerversicherer im Jahr 1903 sogar ausdrücklich dazu aufgefordert hat, ihre AVB dem gerade eben veröffentlichten Entwurf anzugleichen, so ergibt sich am Ende ein Bild, das der ersten Intuition gänzlich widerspricht. Die Impulse für die reformfreudige Tätigkeit des VVG-Gesetzgebers stammten aus der Wissen­ schaft, der Rechtsprechung und aus anderen Gesetzen und Entwürfen, nicht aber aus der Versicherungspraxis. Letztere hatte die Prinzipien, welche schon im Ent­ wurf von 1903 niedergelegt waren, nur auf äußeren Druck hin übernommen,884 und zwar nicht einmal in vollem Umfang: das Problem der anderweitigen Tatsa­ chenkenntnis des Versicherers, schon seit 1902 in den VVG-Entwürfen präsent, berührte die „Erklärung“ von 1904 beispielsweise gar nicht erst.

881 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.11 ff. (Lebensversi­ cherung 1. Sitzung zu §§ 8, 9 RJA-E = §§ 16, 17 VVG); ebd. Nr. 5579.127 Lebensversicherung 1. Sitzung zu § 9 III RJA-E = §§ 16 II, 17 II VVG. In diese Richtung auch schon V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 349. 882 §§ 15 II, 16 II VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903). 883 §§ 16, 17 VVG (1908); entspr. §§ 8, 9 RJA-E (1902); §§ 14–16 VVG-E  (1903); §§ 15, 16 VVG-BRV (1904) (GStA PK, I.  HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); §§ 16, 17 VVG-RTV (1905) (Mot. VVG, Nachdruck [1963], S. 440); §§ 16, 17 VVG-RTV (1907) (Mot. VVG, Nachdruck [1963], S. 524). 884 Vgl. auch schon die dahingehenden Bemühungen des Kaiserlichen Aufsichtsamts ab 1901: Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1903, S. 21.

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b) Das Kausalitätskriterium (§ 21 VVG) und das Prämienerhöhungsrecht (§ 41 VVG) – zwei Neuschöpfungen des Gesetzgebers Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens traten zu dieser Ansammlung an Schutz­ vorschriften sogar noch weitere Normen hinzu, die in keinerlei Verbindung zu den Gewohnheiten der Versicherungspraxis standen. Eine völlige Neuschöpfung des deutschen Gesetzgebers fand sich zum Beispiel § 21 VVG. Er war für die Versi­ cherungspraxis gänzlich neu.885 Die Idee zur Vorschrift des späteren § 21 hatte sich nämlich erst inmitten des Gesetzgebungsverfahrens entwickelt: zum ersten Mal tauchte sie in der Bundesratsvorlage von 1904 auf.886 Die Vorschrift befasste sich mit der praktisch überaus relevanten Frage, welche Rechte der Versicherte geltend machen konnte, wenn der Versicherer die unterlassene oder fehlerhafte Anzeige erst nach Eintritt des Unglücksfalls entdeckte: „§ 21. Tritt der Versicherer zurück, nachdem der Versicherungsfall eingetreten ist, so bleibt seine Verpflichtung zur Leistung gleichwohl bestehen, wenn der Umstand, in Ansehung dessen die Anzeigepflicht verletzt ist, keinen Einfluß auf den Eintritt des Versicherungsfalls und auf den Umfang der Leistung des Versicherers gehabt hat.“

Gerade diese Bestimmung, allein durch die Eigeninitiative des Gesetzgebers ins VVG eingeführt, illustriert die Bemühungen des Gesetzgebers, den Versiche­ rungsnehmer vor einer etwaigen Benachteiligung in der Rechtspraxis zu schützen. Der Gesetzgeber ging mit § 21 VVG sogar noch deutlich über das Schutzniveau hinaus, das die vorgesetzliche Rechtsprechung dem Versicherungsnehmer gewährt hatte: nach Ansicht des RG konnte der Versicherer sein Rücktrittsrecht nämlich auch dann noch ausüben, wenn der Unglücksfall in überhaupt keiner Kausalbe­ ziehung zu der falsch oder gar nicht angezeigten Tatsache stand – also etwa auch dann, wenn eine ganz andere als die nicht angezeigte Gefahrenquelle den Brand verursacht hatte. Auch dieser Rechtssatz war im Endeffekt eine Folgerung aus dem Charakter des Versicherungsvertrages als „contractus uberrimae fidei“ – nur eben in diesem Falle ausnahmsweise keine versichertenfreundliche. Die herrschende Auffassung sah schon das Verschulden des Versicherungsnehmers an der fehler­ haften bzw. unterlassenen Gefahranzeige per se als den rechtlichen Grund für ein etwaiges Kündigungsrecht des Versicherers, denn schon im schuldhaften Han­ deln selbst liege eine Verletzung der vertraglichen Treuepflicht; auf den Eintritt eines Schadens oder gar auf die Kausalität zwischen dem streitigen Umstand und dem Schaden konnte es danach gar nicht mehr ankommen.887 Kaum ein Umstand 885

Gegen ein solches Kausalitätskriterium z. B. Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 266. Vgl. dazu auch Minnier (1967), S. 90 f. 886 § 20 VVG-BRV (1904); entspr. § 21 VVG-RTV (1905); § 21 VVG-RTV (1907); § 21 VVG (1908). Vgl. auch Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 178 f. 887 OAG Lübeck SeuffA 1, Nr. 219; 6, Nr. 248; ROHGE 9, 284, 286; 16, 57, 61. So auch V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 347 f. Vgl. insgesamt auch Gerhard / Hagen /  von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 21 Rn. 1; Neugebauer (1990), S. 170.

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spricht mehr für die Schutzintention des Gesetzgebers als die Tatsache, dass er bewusst den von der Rechtsprechung vorgezeichneten Weg verließ, um dem Ver­ sicherungsnehmer einen noch stärkeren rechtlichen Schutz zu gewähren. Obgleich der Gesetzgeber also einen hohen wissenschaftlich-dogmatischen Anspruch ver­ folgte, brach er mit der reinen Lehre des „contractus uberrimae fidei“, wo es ihm zum Schutz des Versicherungsnehmers geboten und zweckmäßig erschien. Neben all diesen Instrumenten, die ausschließlich dem Schutz des Versiche­ rungsnehmers dienen sollten, machte der Gesetzgeber umgekehrt jedoch auch den Versicherungsgesellschaften Zugeständnisse: sie sollten nicht ohne jegliche Gegenleistung das erhöhte Risiko tragen, selbst wenn der Versicherungsnehmer den gefährlichen Umstand schuldlos nicht angezeigt hatte. Im gedruckten Ent­ wurf von 1903 war zum ersten Mal eine Vorschrift eingefügt worden, welche dem Versicherer das Recht gewährte, die Versicherungsprämie zu erhöhen, falls er aus rechtlichen Gründen trotz einer unrichtigen oder unterlassenen Deklaration nicht vom Versicherungsvertrag zurücktreten durfte888 – gewissermaßen zum Ausgleich seines erhöhten Haftungsrisikos. In ihrer ursprünglichen Fassung von 1903 lautete die einschlägige Norm: „§ 35. [1] Ist die dem Versicherten bei Schließung des Vertrags obliegende Anzeigepflicht verletzt worden, das Rücktrittsrecht des Versicherers aber ausgeschlossen, weil dem ande­ ren Teile ein Verschulden nicht zur Last fällt, so kann der Versicherer, falls er die höhere Gefahr nach dem von ihm bei der Schließung des Vertrags zu Grunde gelegten Tarife nur gegen Zahlung einer höheren Prämie übernimmt, von dem Beginne der laufenden Versiche­ rungsperiode an die höhere Prämie verlangen. Das Gleiche gilt, wenn bei der Schließung des Vertrags ein für die Übernahme der Gefahr erheblicher Umstand dem Versicherer nicht angezeigt worden ist, weil er dem anderen Teile nicht bekannt war. Wird die höhere Gefahr nach den für den Geschäftsbetrieb des Versicherers geltenden Bestimmungen auch gegen die Zahlung einer höheren Prämie nicht übernommen, so kann der Versicherer das Versicherungsverhältnis unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monate kün­ digen. […]“

Nach § 35 I 3 des Entwurfes bestand für den Versicherer also in Extremfällen sogar die Möglichkeit, vom Vertrag trotz fehlenden Verschuldens des Versiche­ rungsnehmers loszukommen – sprich: wenn der Versicherer das in Wahrheit be­ stehende Risiko geschäftsplanmäßig gar nicht übernehmen konnte. Die Vorschrift wirkt wie ein Kompromiss zwischen dem Schutz des strukturell unterlegenen Ver­ sicherungsnehmers und dem Bedürfnis der Versicherer nach einem rationell kalku­ lierbaren Geschäftsbetrieb.889 Und wirklich lässt sie sich auf eine gemeinsame In­ itiative mehrerer Lebensversicherer während der Sachverständigenkommissionen von 1902 zurückführen. Sie hatten augenscheinlich erkannt, dass der Gesetzgeber 888

Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 97; V. Ehrenberg, ZVersWiss 3 (1903), 315, 319; Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 187, 189; Müssener (2008), S. 246; kritisch Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 228 ff.; kritisch Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 336 f. 889 In diese Richtung auch Mot. VVG (1908) zu §§ 16–22; ebd. zu § 41. Zustimmend Denk­ schrift der Feuerversicherungs-VVaG v. 08. 10. 1903, S. 8 ff.

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grundsätzlich nicht mehr vom strengen Standpunkt des „Verschuldensprinzips“ abrücken würde, und unterbreiteten daher einen gemeinschaftlichen Kompromiss­ vorschlag: zwar gebe man den anfänglichen Widerstand gegen das „Verschuldens­ prinzip“ auf, doch solle doch der Versicherer zumindest die Versicherungsprämie an das höhere vertragliche Risiko anpassen können. Auch die Idee, bei technisch untragbar großen Gefahren dem Versicherer doch noch ein Kündigungsrecht zu­ zubilligen, war in diesem Vorschlag schon enthalten gewesen. Die Reichsregierung hielt diesen Vorschlag zunächst für sehr weit gehend und deshalb bedenklich, ver­ sprach aber, ihn genauer zu erwägen890 – offenkundig mit einem Ergebnis, das im Sinne der Versicherer lag. Den vorgesetzlichen AVB der Feuer- oder Lebensversicherer war diese Lösung, die erst in der Mitte der Sachverständigenkommissionen entwickelt worden war, noch total unbekannt. Entsprechend erntete sie bis zum Inkrafttreten des VVG einiges an öffentlicher Kritik, da sie „praxisfern“ und „zu weit“ sei, zumal da die Prämienanpassung auch einen schuldlos handelnden Versicherungsnehmer treffen könne.891 Das verhinderte ihren Weg in die endgültige Fassung des VVG – näm­ lich dessen § 41 – nicht mehr.892 Der Gesetzgeber hielt die beiden hier diskutierten Innovationen anscheinend sogar für so zweckentsprechend, dass er sie beide neu ins Seeversicherungsrecht des HGB einführte.893 Die beiden Reformen des Reichgesetzgebers erfolgten also unterm Strich sehr wohl in sorgfältiger Auseinandersetzung mit der geltenden Pra­ xis – keinesfalls aber nach ihrem getreuen Vorbild. c) Ausgewählte Spezifika der Lebensversicherung Am Ende dieser Untersuchung über das Recht der vorvertraglichen Anzeige lohnt es sich, einen näheren Blick auf einige charakteristische Erscheinungen des Lebensversicherungsrechts zu werfen. Gegenüber den historischen AVB der Feuerversicherungspraxis vermittelten die meisten Lebensversicherungsbedin­ gungen schon um 1900 den Eindruck, als hätten die Versicherungsgesellschaften allmählich auch die Belange ihrer Vertragspartner, der Versicherungsnehmer, stärker berücksichtigt.894 Wie bereits eingangs gezeigt, machte ein Gros der Le­ 890 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.128 (Lebensversi­ cherung 1. Sitzung zu §§ 8, 9 RJA-E = §§ 16, 17 VVG). 891 Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 97; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 235 f. 892 § 35 VVG-E (1903) entspr. § 40 VVG-BRV (1904); § 41 VVG-RTV (1905); § 41 VVGRTV (1907); § 41 VVG (1908). 893 Art. 1 Ziff. II §§ 811 III, 811a Gesetz, betreffend Änderung der Vorschriften des Handels­ gesetzbuchs über die Seeversicherung v. 30. 05. 1908 (RGBl. 1908, Nr. 30 S. 307); vgl. Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 203. 894 Zu diesem Befund sowie zu seinen möglichen Gründen vgl. § 3 B III 3.

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bensversicherer etwaige vertragliche Sanktionen gegen den Versicherungsnehmer davon abhängig, ob jenem ein Verschulden vorzuwerfen war. Tendenziell ist daher zu erwarten, dass der VVG-Gesetzgeber in der Sondermaterie des Lebensversi­ cherungsrechts keinen allzu großen Anlass zu staatlichen Interventionen gefunden hat – und bis auf eine Ausnahme kann ein Blick in §§ 160 ff. VVG diese Vermu­ tung auch bestätigen. Im lebensversicherungsrechtlichen Teil des VVG von 1908 beschäftigten sich insbesondere zwei leges speciales in §§ 162 und 163 mit den Rechtsproblemen der Gefahranzeige; § 160 betraf das eng damit verwobene Problemfeld der ärztlichen Gesundheitsuntersuchung. § 162 VVG kreiste dabei um den Sonderfall, dass das Alter der versicherten Person vor Vertragsschluss falsch angegeben worden war. Entdeckte der Lebens­ versicherer nach dem Vertragsschluss oder sogar erst nach dem Tod der versicher­ ten Person, dass er bei Vertragszeichnung von einem falschen Alter ausgegangen war, so konnte er seine versicherungsmathematische Kalkulation im Nachhinein wesentlich leichter berichtigen als beispielsweise der Feuerversicherer. Jedem Al­ ter konnte er im Sinne eines mathematischen Funktionszusammenhangs eindeutig eine Prämie zuordnen, solange alle anderen Parameter unverändert blieben. Die nachträgliche Korrektur einer fehlerhaften Berechnung war damit keine Sache um­ ständlicher Tatsachenermittlungen: war in etwa das Alter der versicherten Person zu niedrig angegeben worden und zahlte der Versicherungsnehmer daher eine zu geringe Versicherungsprämie, so konnte der Versicherer einfach die Versicherungs­ summe herabsetzen – nämlich auf den Betrag, der sich aus den Prämientarifen ergeben hätte, wenn man der Rechnung das wahre Alter der versicherten Person und die tatsächlich gezahlte Prämie zugrunde gelegt hätte. Solche Lösungen prak­ tizierte die Lebensversicherungswirtschaft um 1900 häufig.895 An einer gänzlichen Vertragsauflösung besitze der Versicherer in Anbetracht dessen – so folgerte die amtliche Gesetzesbegründung zum VVG – gar kein an­ erkennenswertes Interesse mehr.896 So begnügte sich der Gesetzgeber damit, jene vorgesetzliche Praxis zu kodifizieren und sie via § 172 VVG für die Versicherungs­ gesellschaften einseitig zwingend zu machen. Nicht einmal eine arglistig falsche Altersangabe konnte den Vertrag damit noch zu Fall bringen.897 Wie schon sein beinahe wortgleicher Vorgänger in § 139 des Reichsjustizamtsentwurfs898 statuierte schließlich § 162 VVG: 895

So z. B. § 14  II Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 55 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); vgl. § 16 IV AVB Stuttgarter Lebensver­ sicherungsanstalt (1906); vgl. Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 244 f. Dazu auch Mot. VVG (1908) zu § 162; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), § 162 Rn. 1. 896 Mot. VVG (1908) zu § 162. 897 Ebd. 898 § 139 RJA-E (1902); § 150 VVG-E  (1903); § 156 VVG-BRV (1904); § 159 VVG-RTV (1905); § 162 VVG-RTV (1907); § 162 VVG (1908).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

„§ 162. Ist das Alter desjenigen, auf dessen Person die Versicherung genommen werden soll, unrichtig angegeben worden und in Folge der unrichtigen Angabe die Prämie zu niedrig bestimmt, so mindert sich die Leistung des Versicherers nach dem Verhältnis, in welchem die dem wirklichen Alter entsprechende Prämie zu der vereinbarten Prämie steht. Das Recht, wegen Verletzung der Anzeigepflicht von dem Vertrage zurückzutreten, steht dem Versicherer nur zu, wenn das wirkliche Alter außerhalb der Grenzen liegt, welche durch den Geschäftsplan für den Abschluß von Verträgen festgesetzt sind.“

Während des gesamten Gesetzgebungsverfahrens hatte sich kein nennenswerter Widerspruch gegen den späteren § 162 VVG geregt; auch diese Tatsache unter­ streicht, wie anerkannt die Bestimmung in der gesamten Lebensversicherungs­ wirtschaft bereits gewesen sein muss. Der gleiche Befund trifft auf § 163 VVG zu. Auch er blieb seit seiner ersten Fassung in § 141 des Reichsjustizamtsentwurfes durch das gesamte Gesetzgebungs­ verfahren hindurch unverändert899 und stieß dabei auf keine nennenswerte öffent­ liche Kritik. § 163 VVG normierte die sogenannte „Unanfechtbarkeit“ der Lebens­ versicherung, im Prinzip also den Gedanken, dass sich der Versicherer nach einem gewissen Zeitablauf nicht mehr auf das Fehlverhalten des Versicherungsnehmers während der Vertragsverhandlungen, mithin auch nicht auf eine fehlerhafte oder unvollständige Anzeige, berufen konnte.900 Eine derartige Bestimmung hatte sich um die Jahrhundertwende in den AVB mehrerer, wenngleich nicht aller Lebensver­ sicherer verbreitet;901 im Übrigen hatte sie auch schon Hans Roelli bei der Abfas­ sung seines schweizerischen VVG-Entwurfes aufgegriffen.902 Das deutsche VVG schuf schließlich – im Interesse der Verkehrssicherheit und unter ausdrücklichem Hinweis auf die einschlägige Praxis903 – eine absolute zeitliche Obergrenze, nach deren Erreichen es dem Lebensversicherer kraft gesetzlichen Zwanges904 verwehrt war, sich auf jegliche falschen oder unvollständigen Angaben zu berufen.905 Eine Ausnahme erlaubte das VVG nur, falls der Versicherungsnehmer arglistig gehan­ delt hatte. Das Gesetz blieb mit § 163 VVG sogar größtenteils unter dem Schutz­ niveau zurück, das Teile der Lebensversicherungspraxis dem Versicherungsnehmer schon freiwillig gewährt hatten: „§ 163. Wegen einer Verletzung der dem Versicherungsnehmer bei der Schließung des Vertrags obliegenden Anzeigepflicht kann der Versicherer von dem Vertrage nicht mehr zurücktreten, wenn seit der Schließung zehn Jahre verstrichen sind. Das Rücktrittsrecht bleibt bestehen, wenn die Anzeigepflicht arglistig verletzt worden ist.“ 899 § 141 RJA-E (1902) entspr. § 152 VVG-E (1903); § 157 VVG-BRV (1904); § 160 VVGRTV (1905); § 163 VVG-RTV (1907); § 163 VVG (1908). 900 Ausführliche Erörterung ebenfalls unter § 3 B III 3. 901 Z. B. § 56  III AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Unanfechtbarkeit nach 2 Jahren, außer bei arglistigen Vertragsverletzungen); § 2 AVB Victoria Versicherungs-­A ktienGesellschaft (ca. 1904) (Unanfechtbarkeit nach einem Jahr). Dazu auch Brämer / Brämer (1894), S. 116 ff.; Emminghaus, Assek.-Jb. 9 (1885), 3, 7. 902 Art. 66 Entwurf VVG Schweiz (1902); vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 360 f. 903 Mot. VVG (1908) zu § 163. 904 Vgl. § 172 VVG (1908). 905 Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 187, 189.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Nur die Spezialvorschrift des § 160 zeigt schließlich, dass der Gesetzgeber sich selbst im Lebensversicherungsrecht zu punktuellen Interventionen gegen die Ver­ sicherungspraxis veranlasst sah. Sie beschäftigte sich oberflächlich betrachtet nur mit der Frage, ob der Lebensversicherer einen rechtlich durchsetzbaren Anspruch besaß, die in den meisten AVB vorgesehene Gesundheitsuntersuchung906 durch­ zuführen. Der Gesetzgeber gab darauf knapp zur Antwort: „§ 160. Durch die Vereinbarung, daß derjenige, auf dessen Person eine Versicherung ge­ nommen werden soll, sich zuvor einer ärztlichen Untersuchung zu unterwerfen hat, wird ein Recht des Versicherers, die Vornahme der Untersuchung zu verlangen, nicht begründet.“

Den Anlass zu dieser gesetzlichen Vorschrift hatte die Gewohnheit vieler Le­ bensversicherer gegeben, sich beim Vertragsabschluss eine empfindliche Ver­ tragsstrafe auszubedingen, falls die versicherte Person sich der Gesundheits­ untersuchung verwehrte. Im Gesetzgebungsverfahren und der in der amtlichen Gesetzesbegründung war sogar die Rede davon, dass diese Vertragsstrafen teil­ weise ein Mehrfaches einer Jahresprämie betrugen.907 Jene Praxis empfand der Gesetzgeber als missbräuchlichen Zwang gegenüber der versicherten Person. Indem er aber dem Versicherer mit § 160 VVG den Anspruch auf die Vornahme einer Gesundheitsuntersuchung nahm, entzog er gleichzeitig den hohen Vertrags­ strafen ihren rechtlichen Boden: ohne rechtlich durchsetzbaren Anspruch auf die Gesundheitsuntersuchung war nach § 344 BGB908 nämlich auch das Versprechen einer Konventionalstrafe ohne rechtliche Bedeutung.909 Die Vorschrift stellte eine genuine Neuschöpfung des VVG-Entwurfes von 1903 dar. Sie konnte sich nicht einmal auf frühere gesetzliche Vorbilder berufen,910 war jedoch seit 1903 keinen maßgeblichen Änderungen mehr unterworfen911 – diesmal freilich gegen die Kritik der Versicherer, die an der Erzwingung der Gesundheits­ untersuchung durch Vertragsstrafen festhalten wollten.912  Mit der untersuchten Norm ging das VVG mithin auch prohibitiv gegen einzelne Angewohnheiten der Lebensversicherungspraxis vor. § 160 VVG war damit allerdings eher eine Aus­ nahmeerscheinung innerhalb des Lebensversicherungsrechts. 906

§ 6 III lit. b, c AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); §§ 33 IV AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854); § 3  II Statuten Vereins-SterbeKasse zu Rothenburg (1856); § 6 IV 1 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesell­ schaft (1857); § 39  II AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 4 AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906). 907 Mot. VVG (1908) zu § 160; vgl. auch die Äußerungen der Regierung im Gesetzgebungs­ verfahren: Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 382 f. Dazu auch Hecht, DVfVWVeröff. 2 (1904), 302, 304. 908 § 344 BGB (1896) entspr. der heutigen Rechtslage. 909 Ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu § 160. Vgl. Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 302, 304; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 364. 910 Vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 364, wonach der schweizerische VVG-Entwurf eine solche Regelung nicht kannte. 911 § 160 VVG (1908) entspr. § 163 VVG-E (1903); § 154 VVG-BRV (1904); § 157 VVG-RTV (1905); § 160 VVG-RTV (1907). 912 Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 302 ff.; vgl. Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 196.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

d) Fazit zum Recht der Gefahranzeige im VVG Insgesamt hat das deutsche Versicherungsvertragsgesetz also ein Konvolut unterschiedlichster Vorschriften zur Gefahranzeige geschaffen. Gemeinsam war all jenen Vorschriften, dass sie zum Schutz des Versicherungsnehmers halbzwin­ gende Kraft besaßen: für die allgemeinen Vorschriften zur Gefahranzeige folgte das aus §§ 31, 42 VVG und für die lebensversicherungsrechtlichen Normen in §§ 162, 163 VVG aus § 172 VVG; die halbzwingende Kraft des § 160 VVG zum Thema der Gesundheitsuntersuchung ergab sich schon aus dem inhärenten Ver­ botscharakter der Norm.913  Nur einzelne Versatzstücke der Vorschriften von 1908 spiegelten dabei noch die reine Versicherungspraxis wider, während einige andere Bestimmungen des VVG sogar offensiv gegen missbräuchliche Versicherungspraktiken vorgingen. Die Wandlung, die sich nach 1900 in den privaten Feuerversicherungsbedingun­ gen vollzog und beispielsweise zur Verbreitung des „Verschuldensprinzips“ in der Versicherungspraxis führte, war hingegen durch die Initiative des Kaiserlichen Aufsichtsamts angestoßen worden – insoweit stand die Versicherungspraxis unter dem Einfluss der künftigen Gesetzgebung, nicht umgekehrt. Ein anderes Fazit mag man höchstens unter das Recht der Lebensversicherung ziehen. Dort hatten die AVB den Versicherungsnehmern schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine deutlich günstigere Position eingeräumt als es etwa in der Feuerversicherung der Fall war  – allenthalben waren die Klauseln, welche die einzelnen Lebensversicherer zu diesem Zweck verwendeten, alles andere als ein­ heitlich. Das VVG hat im Lebensversicherungsrecht gewissermaßen das Beste aus allen Welten geschöpft, indem es sich die versichertenfreundlichen Praktiken aus den AVB mehrerer Gesellschaften herausgriff, diese mit halbzwingender Kraft ausstattete und somit gleichmäßig auf alle Lebensversicherungsverträge zur An­ wendung brachte.

VII. Gefahrerhöhung und Veräußerung der versicherten Sache Der rechtsdogmatische Diskurs, welcher seit den 1850er Jahren das Recht der vorvertraglichen Gefahranzeige flankierte, wurde auf dem dogmatischen Terrain der Gefahrerhöhung mit genau derselben Intensität geführt. Der Streit um die Rechtsnatur der Anzeigen, die der Versicherungsnehmer zu tätigen hatte, prägte während des 19. Jahrhunderts auch die dogmengeschichtliche Entwicklung der Ge­ fahrerhöhungsvorschriften, bis ihn das VVG im Jahr 1908 wiederum eindeutig zu­ gunsten derjenigen Stimmen entschied, welche den Versicherungsvertrag als einen „contractus uberrimae fidei“ ansahen. Auch für das Recht der Gefahrerhöhung zog diese grundsätzliche Entscheidung eine lange Reihe von Konsequenzen nach sich. 913

Dazu auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 160 Rn. 3.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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1. Die inhomogene Praxis der Gefahrerhöhung und Sachveräußerung In der Versicherungspraxis hat das Institut der Gefahrerhöhung während des 19. Jahrhunderts eine kontinuierliche Fortentwicklung durchlaufen. Ihre konkrete dogmatische Gestalt hatte die Gefahrerhöhung zu einem nicht unerheblichen Teil der Regie des preußischen Allgemeinen Landrechts zu verdanken. Im Wesent­ lichen hatte das ALR ein differenziertes System aus zwei Unterarten der Gefahr­ erhöhung entworfen. Die gewillkürte Gefahrerhöhung hatte ihre Ursachen im Verhalten des Versicherungsnehmers selbst: hatte der Versicherungsnehmer zum Beispiel neue, feuergefährliche Gebäudeanbauten errichtet914 oder den Aufbewah­ rungsort des versicherten Mobiliars verändert,915 so konnte der Versicherungsver­ trag nur dann Bestand haben, wenn die beabsichtigte Gefahrerhöhung dem Ver­ sicherer zuvor mitgeteilt worden war und dieser ihr zugestimmt hatte. Ansonsten aber war der gesamte Versicherungsvertrag ipso iure nichtig.916 War die Gefahr­ erhöhung aber nicht auf das gewillkürte Verhalten des Versicherungsnehmers zu­ rückzuführen, sondern ereignete sich zufällig durch äußere Umstände, hatte also beispielsweise ein unmittelbarer Nachbar ein feuergefährliches Gewerbe in seinem Haus aufgenommen,917 so hatte der Versicherungsnehmer seinen Versicherer da­ rüber nur binnen einer bestimmten Frist in Kenntnis zu setzten. Dem Versicherer kam dann die Wahl zu, ob er den Vertrag kündigen oder fortsetzen wollte – mög­ licherweise gegen eine Erhöhung der Versicherungsprämie.918 Alleine, wenn der Versicherungsnehmer die fristgemäße Anzeige dieser sogenannten objektiven Ge­ fahrerhöhung versäumt hatte, erlosch der Vertrag bereits von selbst.919 a) Die Entwicklung der „zweigleisigen“ Gefahrerhöhungsdogmatik in den AVB der Feuerversicherungspraxis Jene rechtlich differenzierte Behandlung hatte sich im 19. Jahrhundert auf die Feuerversicherungspraxis übertragen, wie im Laufe dieser Untersuchung bereits ausführlicher dargelegt wurde.920 Die ältesten Feuerversicherer hatten das System des ALR allerdings nur bruchstückhaft adaptiert: sie hatten nicht zwischen der ge­ willkürten und der rein objektiven Gefahrerhöhung unterschieden, sondern schrie­ ben lediglich vor, dass jeder Erhöhung der versicherten Gefahr eine Anzeige des 914

Th. II Tit. 8 § 2160 ALR (1794) (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl. 1996]). § 2157 ALR (1794). 916 § 2117 ALR (1794) (Generalklausel für alle Versicherungszweige); vgl. dazu die leges speciales §§ 2157, 2160 ALR (1794) im Feuerversicherungsrecht. 917 § 2161 ALR (1794). 918 §§ 2161, 2159 ALR (1794). 919 § 2118 ALR (1794) (Generalklausel für alle Versicherungszweige); vgl. dazu die lex spe­ cialis § 2161 ALR (1794) im Feuerversicherungsrecht. 920 Zum Einfluss des ALR auf die Gefahrerhöhungsvorschriften der Feuerversicherungs­ praxis, s. ausführlich unter § 2 D VII 5. 915

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Versicherungsnehmers folgen musste; schon die Versäumnis dieser Frist alleine führte zur Auflösung des Vertrages. Ein frühes, repräsentatives Beispiel dieser Praxis findet sich in den AVB der Württembergischen Privat-FeuerversicherungsGesellschaft von 1828:921 „Art. 73. Die in der Zwischenzeit sich ereignenden Veränderungen in der Person des Ei­ gentümers und in der Aufbewahrung der versicherten Gegenstände sind zur Anzeige zu bringen. Art. 74. Ebenso ist Anzeige davon zu machen, wenn sich in der Zwischenzeit durch be­ sondere Umstände oder Anordnungen die Gefahr für die versicherten Sachen (z. B. durch die Anhäufung vieler brennbaren Gegenstände an ihrem Aufbewahrungsorte) vermehrt. Art. 135. [1] Das Recht eines Versicherten auf Entschädigung geht verloren: […] b) wenn die Person des Eigentümers, oder in der Aufbewahrung der versicherten Gegenstände ge­ schehene Veränderungen, oder Vermehrung der Gefahr für dieselbe (Art. 73, 74) nicht zur Anzeige gebracht worden sind; […]“

In der Grundkonzeption verwendeten die meisten privaten Feuerversicherer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts dasselbe Modell.922 Auf dieser Linie be­ wegten sich etwa noch die Standardbedingungen des Verbands deutscher PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaften von 1874923 und sogar eine große Zahl von staatlichen Feuerversicherungssozietäten, welche insoweit im Gedankenaustausch mit der privatwirtschaftlichen Praxis standen. Allerdings versuchten die staatli­ chen Versicherer, einen möglichst großen Anteil der Bevölkerung unter Versiche­ rungsschutz zu bringen, und sprachen daher für den Fall der unterlassenen Gefahr­ erhöhungsanzeige meistens nur Geldstrafen aus, statt den Versicherungsnehmer aus der Anstalt auszuschließen.924 921

Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 14. Art. 8 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30); §§ 7, 8 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34); § 5 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); § 11 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65); Art. 26 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB  I,  71). Vgl. auch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 34; Malß, Betrachtungen (1862), S. 44; Müssener (2008), S. 217; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 356. 923 § 5 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Samm­ lung-AVB I, 38) (allerdings mit präventiver Suspension des Versicherungsschutzes bei jeder Gefahrerhöhung). 924 §§ 36–39 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836) (PrGS 1836, 13) (Strafe des vierfachen Differenzbetrages zwischen dem alten und dem risikoadäquat erhöh­ ten Jahresbeitrag bei unterlassener Anzeige); §§ 27–29 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846) (PrGS  1846, 171) (Leistungsfreiheit, falls Gefahrerhöhungsanzeige nicht bis zum Brandfall nachgeholt wird); §§ 46–49 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-­ Feuersozietät (1859) (PrGS 1859, 477) (Strafe des vierfachen Differenzbetrages); §§ 22–24 Re­ vidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (PrGS 1862, 80) (Nachzahlung des Erhöhungsbetrages nur bei schuldhafter Nichtanzeige); §§ 32–35 Revidirtes Reglement FeuerSozietät Posen (1863) (PrGS  1863,  578); § 36 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS 1863, 545) (Strafe des doppelten Differenzbetrages, Ausschluss aus der Anstalt 922

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Erst die Verbandsbedingungen von 1886 fingen wieder an, eindeutig zwischen den Konstellationen gewillkürter und objektiver Gefahrerhöhung zu trennen. Da­ mit begann sich die differenzierte, gleichsam zweigleisige dogmatische Struktur der Gefahrerhöhungsvorschriften gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch in der Praxis durchzusetzen. Im Endeffekt standen die Verbandsbedingungen von 1886 auf einer ähnlichen Entwicklungsstufe wie das Allgemeine Landrecht von 1794:925 „§ 5. [1] Wenn der Versicherte im Laufe der Versicherung 1. eine Vermehrung der Feuerge­ fährlichkeit herbeiführt oder zuläßt, 2. versicherte Gegenstände noch anderweit versichert, 3. sie in eine andere Lokalität als diejenige, wo sie versichert sind, verbringt oder verbringen läßt, oder wenn 4. versicherte Gegenstände, abgesehen von Erbschaftsfällen, den Eigentü­ mer wechseln, so ruht bis zur schriftlichen Genehmigung dieser Veränderungen seitens der Gesellschaft oder bis zur Wiederherstellung des früheren Zustandes die Entschädigungs­ verpflichtung der Gesellschaft, und zwar in den Fällen unter 1. und 2. bezüglich aller, in den Fällen unter 3. und 4. bezüglich der davon betroffenen versicherten Gegenstände. [2] Umstände, welche, unabhängig von dem Willen des Versicherten eintretend, die Feuer­ gefährlichkeit vermehren, werden nur dann den unter 1. aufgeführten Umständen gleich geachtet, wenn der Versicherte unterläßt, der Gesellschaft nach erlangter Kenntnis davon ohne Verzug schriftlich Anzeige zu machen. Erstattet aber der Versicherte diese Anzeige ohne Verzug, so ist die Gesellschaft, falls sie die Versicherung nicht fortsetzen will, berech­ tigt, die letztere durch schriftliche Anzeige mit Ablauf von zwei Wochen nach Zustellung jener Anzeige aufzuheben.“

Letzten Endes war es also auch unter den „Verbandsbedingungen“ nach wie vor denkbar, dass der Versicherungsnehmer seinen Leistungsanspruch verlor, obwohl er selbst nicht schuldhaft gehandelt hatte; und selbst nach der ordnungsgemäßen Gefahrerhöhungsanzeige verlieb das weitere Vertragsschicksal weitgehend in der Willkür des Versicherers. Dass § 5 II der AVB von 1886 – wie alle Feuerversicherungsbedingungen vor dem VVG – kein Verschuldenskriterium beinhaltete, könnte übrigens durchaus in Zweifel gezogen werden, da dem terminus technicus des „Verzuges“ seit Inkraft­ treten des BGB ein solches Verschuldenselement immanent ist (§ 285 BGB a. F.).926 Allenthalben war vor Inkrafttreten des BGB lebhaft umstritten, ob der Begriff des bei technischer Unversicherbarkeit des erhöhten Risikos); §§ 77, 78 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS  1867,  66) (Strafe des vierfachen Differenzbetrages); §§ 14  I  2 lit. c, II, 18 Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (PrGS 1871, 163) (ähnlich den privatwirtschaftlichen AVB); § 40 Revi­ dirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122) (Strafe des vierfachen Differenzbetrages). Vgl. Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 236 f. 925 Ähnlich § 5 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383). So auch vereinzelt auf staatlicher Seite, vgl. B § 3 Reglement Provin­ zial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99) (Exkulpation der unterlassenen Anzeige möglich, dann immerhin Auszahlung von 75 % der Versicherungs­ leistung). Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 400 ff.; Lewis (1889), S. 199 f. (mit ausdrücklichem Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen dem ALR und den Verbandsbedingun­ gen von 1886); Neugebauer (1990). S. 151 f.; Prang (2003), S. 82. 926 RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195; entspr. heute § 286 IV BGB.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

„Verzuges“ (mora debitoris) überhaupt vom Verschulden des Schuldners abhängig war;927 das preußische Landrecht verneinte diese Frage sogar eindeutig.928 Ge­ wissermaßen erhielt der Begriff des „Verzuges“, den die Verbands-AVB von 1886 verwendeten, erst mit dem Inkrafttreten des BGB seine moderne Bedeutung nach­ geschoben. Es würde daher nicht überzeugen, wenn man aus dem Wortlaut der Verbandsbedingungen folgern wollte, die Feuerversicherungspraxis habe schon 1886 das „Verschuldensprinzip“ zur Anwendung gebracht. b) Die Veräußerung der versicherten Sache – ein praktischer Unterfall der Gefahrerhöhung? Besonders auffällig ist bei beiden oben zitierten Beispielen aber, wie die Veräu­ ßerung des feuerversicherten Gegenstandes stets als unselbstständige Fallgruppe der Gefahrerhöhung behandelt wurde und damit zwangsläufig das rechtsdogma­ tische Schicksal der Gefahrerhöhungsvorschriften teilte.929 Auch diese charakte­ ristische Eigenheit hatte sich zum ersten Mal im preußischen Landrecht – nament­ lich in Th. II Tit. 8 § 2163 ALR – gezeigt und war von dort aus in die Mehrzahl der Feuerversicherungsbedingungen des 19. Jahrhunderts eingewandert.930 In der Wissenschaft rechtfertigte man diese Behandlung nachträglich, indem man auch in der Person des Sacheigentümers eine gewisse subjektive Gefahrkomponente erkennen wollte – der Eigentümer konnte in etwa als besonders umsichtig oder nachlässig gelten.931 927 Zum Streit um das Verschuldenselement einer mora debitoris: Mugdan (Neudruck 1979). Bd. 2  S. 33 (zum Streit im gemeinen Recht); Puchta (9. Aufl.  1863), § 268 Fn. a (S. 412) (gegen die Vermischung von „mora“ und „culpa“); von Vangerow, Bd. 3 (7. Aufl.  1869), § 588 (S. 184 ff.) (zum Streit um das Erfordernis einer culpa). Demgegenüber geht Kaser, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), § 119.II (S. 515) davon aus, dass das römische Recht dem Schuldner „offenbar“ nur bei bewussten Zahlungsverzögerungen den Vorwurf einer mora mache. 928 Vgl. Th. I Tit. 11 § 98 ALR (1794). Dort wurde zwischen verschuldetem und unverschul­ detem Verzug unterschieden: „Hat aber der Käufer den Verzug der Uebergabe verschuldet, so haftet der Verkäufer nur für einen solchen Schaden, der an der Sache durch seinen Vorsatz oder grobes Versehen entstanden ist.“ E contrario beinhaltete der Begriff des „Verzuges“ an sich aber kein Verschuldenselement. 929 Ebenso Art. 73, 89 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828); Art. 7 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); §§ 7  I lit.  b, 8 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (als Unterfall der Gefahrerhöhung); § 5 S. 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 5 S. 2–4 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 5 I Nr. 4 Ver­ bands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Unterfall der Ge­ fahrerhöhung); § 5 I Nr. 4 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888). Vgl. auch Malß, Betrachtungen (1862), S. 44; Müssener (2008), S. 222 f. 930 Dazu unter § 2 D VII 5. 931 Brämer / Brämer (1894), S. 258 f. (z. B. schlechter Leumund als subjektive Gefahr); V.  Ehren­berg, Versicherungsrecht (1893), S. 392; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), §§ 69–73 Rn. 1.2; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 72; von Liebig (1911), S. 145; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 126 ff., 247.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Indem das ALR und viele deutsche Feuerversicherer die Sachveräußerung aber bloß als einen – gegebenenfalls anzeigepflichtigen – Unterfall der Gefahrerhöhung ansahen, hatten sie zugleich einen anderen Gedanken zur Geltung gebracht: die Idee, dass alle Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvertrag im Grundsatz akzessorisch an der versicherten Sache hafteten und durch die Veräußerung ipso iure, also im Wege der cessio legis auf den Erwerber übergingen. Die oben als Beispiel verwendeten AVB der Württembergischen Privat-FeuerversicherungsGesellschaft brachten diesen Gedanken besonders gut zur Geltung. Jedoch konnte auch diese Behandlung in der Praxis keine Ausschließlichkeit beanspruchen: viele Versicherungsgesellschaften machten den Übergang der Versicherung auf den Erwerber auch ausdrücklich von ihrer förmlichen Zustimmung abhängig. Unter anderem die Verbandsbedingungen von 1886 standen für diese andere, strengere Behandlung, auch wenn sie die Sachveräußerung rein formal ebenfalls in die Dog­ matik der Gefahrerhöhung eingegliedert hatten.932 Deutlich günstiger für den Versicherten gingen die staatlichen Versicherer mit dem Problem der Sachveräußerung um. In der überwiegenden Zahl der Feuerso­ zietäten-Reglements haftete die Versicherung stets akzessorisch am versicherten Grundstück,933 was freilich weniger mit dem gedanklichen Einfluss der AVB des 19. Jahrhunderts zu tun haben dürfte. Zu hoher Wahrscheinlichkeit war jene Hand­ habung noch eine Hinterlassenschaft des 18. Jahrhunderts: zu der Zeit, als die meisten Feuer­sozietäten noch mit den Mitteln des Versicherungszwanges arbei­ teten, musste die Versicherung im Zuge einer Grundstücksveräußerung geradezu denknotwendig auf den neuen Eigentümer übergehen. Gegen Ende des 19. Jahr­ hunderts hatte sich nur ein kleiner Teil der öffentlichen Versicherer den privatwirt­ schaftlichen AVB auf beträchtliche Weise angenähert: vor allem einige modernere 932 Ähnlich Art. 89 AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (erneute Durchführung des „Aufnahmeverfahrens“); § 5 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 5 S. 3 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerver­ sicherungs-Gesellschaften (1874); § 5 I Verbands-AVB Deutscher Privat-FeuerversicherungsGesellschaften (1886); § 5 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 10 I AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904); Art. 25 I AVB Württembergi­ sche Privatfeuerversicherung (1905). Vgl. V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 393; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 69–73 Rn. 1.2; Malß, ZHR 8 (1865), 369, 372 f.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 246. 933 § 4  III Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833) (Lappenberg  XII, 258); § 58 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); § 55 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846); § 80 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859); § 36 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); § 57 I Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); § 3 Revidirtes Reglement Feu­ ersozietät Sachsen (1863); § 31 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66); § 59 I 1 Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872); A § 19 Reglement Provin­ zial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (zur Gebäudefeuerversicherung, mit fristgebundenem Kündigungsrecht der Anstalt nach der Veräußerung). Vgl. V. Ehrenberg, Ver­ sicherungsrecht (1893), S. 393; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 69–73 Rn. 1.2; Müssener (2008), S. 224, 243; Ruttke, Mitt. öff. FV 8 (1906), 205.

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preußische Mobiliar-Sozietäten ließen die Brandversicherung ipso iure auf den Erwerber übergehen, verlangten aber, dass dieser dem Versicherer eine Veräuße­ rungsanzeige erstattete.934

c) Die Spezifika der Lebensversicherungspraxis, insbesondere die Entwicklung von Kriegs- und Reiseversicherungen Ganz andere Bedürfnisse leiteten indes die Lebensversicherungspraxis an. Auch hier konnte es selbstverständlich vorkommen, dass sich während der Vertragsdauer die Sterbewahrscheinlichkeit erhöhte: das war vor allem dann der Fall, wenn die versicherte Person in den Militärdienst trat oder sogar an einem Krieg teilnahm, wenn sie zur See fuhr, eine Reise in einen gefährlichen Erdteil unternahm, einen gefährlichen Beruf aufnahm oder wenn sie – wie es in AVB häufig hieß – einem „lasterhaften Lebenswandel“ verfiel. All jene Fallgruppen stellten aber stets ge­ willkürte, vom Versicherten selbst veranlasste Gefahrerhöhungen dar, während die feinere, „zweigleisige“ dogmatische Struktur des Feuerversicherungsrechts hier kaum zum Tragen kam. Trat einer der erwähnten Fälle ein, so erlosch die Ver­ sicherung, es sei denn, der Versicherungsnehmer hatte den Versicherer vor Vor­ nahme der gefahrerhöhenden Handlung informiert und der Versicherer hatte der Vertragsfortführung zugestimmt.935 Die überwiegende Zahl der Versicherungsgesellschaften hatte jedoch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aufgehört, dem Versicherungsnehmer mit dem Verlust seiner Leistungsansprüche zu drohen, wenn die versicherte Person einen bestimm­ ten Beruf aufnahm oder sich einem „lasterhaften Lebenswandel“ hingab;936 zeit­ genössische Quellen berichten sogar, die „Lasterhaftigkeit“ des Lebenswandels sei in der Rechtspraxis niemals in signifikantem Umfang zur Ablehnung von An­ sprüchen benutzt worden, weil eine solche Praxis wohl das öffentliche Ansehen der Versicherungsgesellschaften beschädigt hätte.937 Stattdessen kreisten die Gefahrerhöhungsklauseln in der Praxis hauptsächlich noch um die Auswirkungen des See- oder Kriegsdienstes oder einer gefährlichen 934 § 18 Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (Unterfall der Gefahrerhöhung); B  § 3  V Reglement Provinzial-FeuerVersicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (zur Mobiliarfeuerversicherung, Regelung als Unterfall der Gefahrerhöhung). Vgl. Ruttke, Mitt. öff. FV 8 (1906), 205, 210. 935 § 20 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB II, 23); §§ 48–51 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB II, 16); § 31 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (SammlungAVB II, 31); §§ 6, 10 I lit. d-f Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44). Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 37. 936 Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 124; Lexis, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 50, 54; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 358. 937 So ausdrücklich Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 501 (Textausgabe, 1840).

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Reise.938 In dieser Hinsicht befand sich die Praxis noch stark im Fluss, als der Gesetzgeber die Kodifikation des VVG in Angriff nahm. Insbesondere nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870 und 1871 und der Einführung der allgemei­ nen Wehrpflicht entwarf die Lebensversicherungspraxis Modelle einer sogenann­ ten Kriegsversicherung:939 einige Gesellschaften übernahmen auch die Kriegs­ gefahr, verlangten aber im Kriegsfall eine erhöhte Prämie,940 andere betrieben die Kriegsversicherung als gesonderten Versicherungszweig941 und wieder andere, wie die Gothaer Lebensversicherungsbank, betrachteten den Tod im Krieg nicht mehr anders als jeden anderen Todesfall.942 Dabei schloss eine Gestaltungsvariante die anderen nicht zwingend aus: oft bedienten sich die Lebensversicherer mal des einen, mal des anderen Modells; differenziert wurde oft danach, ob die versicherte Person als Freiwilliger oder als Wehrpflichtiger in den Krieg zog.943 Populär war es in vielen Lebensversicherungsbedingungen auch, den Versicherungsschutz wäh­ rend des Krieges oder während einer gefährlichen Reise einstweilen zu suspen­ dieren, um die Lebensversicherung zu gegebenem Zeitpunkt gegen Nachzahlung aller bis dahin aufgelaufener Prämien wieder in Kraft zu setzen.944 938

§ 21 lit. b Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856) (Sammlung-AVB II, 39) (nur Kriegsdienst); §§ 52–54 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (SammlungAVB  II,  62) (Kriegsdienst und Reisen in gefährliche Gegenden); § 5  I lit.  c AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca.  1904) („Volksversicherungsbedingungen“) (Samm­ lung-AVB  II,  109) (Kriegsdienst und Reisen in gefährliche Gegenden); § 14 AVB Stutt­ garter Lebensversicherungsanstalt (1906) (Sammlung-AVB  II,  81) (nur Kriegsdienst, hin­ gegen Ergreifen eines gefährlichen Berufes ausdrücklich unschädlich gem. § 16  V). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 125 ff. (zum Kriegsfall), 134 (zu Reisen „in fremde Klimaten“); Braun (2. Aufl. 1963), S. 262; Brüders, ZVersWiss 2 (1902), 141, 142 ff. (zur Geschichte der Kriegsversicherung); Malß, Betrachtungen (1862), S. 45; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 26 f. (zu den AVB der Gothaer). 939 Manes (1905), S. 214; Verwaltung der Lebensversicherungsbank für Deutschland, Ma­ sius’ Rs. 38 (1888), 117, 121. 940 So z. B. § 49 II AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854); § 6 I 2 Ver­ bands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 52 I Nr. 2 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Prämienzuschlag für Berufssoldaten); § 7 I AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Sammlung-AVB II, 98) (Prämienzuschlag für Berufssoldaten). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 126 ff.; Brüders, ZVersWiss 2 (1902), 141, 142. 941 Vgl. z. B. die besonderen „Kriegsversicherungsbedingungen“ im Anhang zu AVB Stutt­ garter Lebensversicherungsanstalt (1906). 942 Vgl. § 52  I Nr. 1 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (nur für Wehrdienst­ pflichtige); § 7 I AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (nur für Wehr­ dienstpflichtige und die nicht aktiv am Kriegsgeschehen teilnehmende Heeresfolge). Vgl. zur Kriegsversicherung der Gothaer Brämer / Brämer (1894), S. 126 ff.; Braun (2. Aufl. 1963), S. 286; Brüders, ZVersWiss 2 (1902), 141, 146 f.; Emminghaus, Geschichte der Lebensversiche­ rungsbank zu Gotha (1877), S. 115; Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 30 f.; Verwaltung der Lebensversicherungsbank für Deutschland, Masius’ Rs. 38 (1888), 117, 121. 943 Vgl. schon die Erörterungen in den vorstehenden Fn. 944 § 35 II 2 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854); § 6 III VerbandsAVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); §§ 53 I 4, 54 AVB Gothaer Lebens­ versicherungsbank (1904) (nur bei gefährlichen Reisen oder Kriegsteilnahme außerhalb Europas); § 6 Bestimmungen für Versicherung gegen Kriegsgefahr der Stuttgarter Lebensversicherungs­ bank auf Gegenseitigkeit (Sammlung-AVB II, 88). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 126 ff.

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Jedenfalls dürfte dieser Exkurs ins Lebensversicherungsrecht den Eindruck ver­ mitteln, dass die Praxis zur Entstehungszeit des VVG bloß noch auf Spezialfragen fixiert und darüber hinaus stark schwankend war. Bei der Entwicklung einer all­ gemeinen Dogmatik der Gefahrerhöhungsvorschriften konzentrierte sich das ge­ setzgeberische Interesse daher vornehmlich auf die Feuerversicherung. 2. Die weitere dogmengeschichtliche Entwicklung der Gefahrerhöhung Im Gegensatz zu vielen AVB trennten die meisten Kodifikationsentwürfe und schließlich auch das VVG rechtssystematisch zwischen der Gefahrerhöhung selbst und der Veräußerung der versicherten Sache. Im Folgenden wird daher auch diese Untersuchung zunächst die weitere Entwicklung der Gefahrerhöhungsvorschrif­ ten analysieren, um den Folgen der Sachveräußerung im Anschluss einen eigenen Abschnitt zu widmen. a) Die Debatte um die Gefahrerhöhung in der Wissenschaft und Gesetzgebung des 19. Jahrhunderts Wie schon angedeutet, setzte sich die rechtsdogmatische Debatte, die seit den 1850er Jahren um das Wesen des Versicherungsvertrages und der Gefahranzeige herrschte, nahtlos auf dem rechtlichen Feld der Gefahrerhöhung fort. Im Endef­ fekt standen sich hier also dieselben beiden Auffassungen gegenüber, die schon zu einem geringfügig früheren Zeitpunkt in dieser Untersuchung zur Sprache ge­ kommen sind. Die eine Ansicht, die vor allem in den 1850er und 1860er Jahren großen Zu­ spruch erhielt, behandelte auch die Gefahrerhöhung mit den Werkzeugen der all­ gemeinen Rechtsgeschäftslehre. Mit ihnen ließ sich jede Änderung der gefahrre­ levanten Umstände als ein Abweichen vom Vertragsinhalt selbst begreifen. Sobald sich – aus welchem Grund auch immer – die ursprünglich übernommene Gefahr veränderte, war die neu entstandene Tatsachenlage nicht mehr vom Inhalt des Ver­ sicherungsvertrages abgedeckt.945 Der Vertrag war somit nichtig, sofern nicht zwi­ schen den Parteien ausdrücklich etwas anderes vereinbart worden war. Jedenfalls, wenn man jene Ansicht konsequent zu Ende führte, musste auch die Unterschei­ dung zwischen gewillkürter und objektiver Gefahrerhöhung völlig irrelevant sein. Die später entstandene Gegenansicht, unter anderem vertreten durch Kübel, einem Mitglied der Dresdener Konferenzen, interpretierte den Versicherungsver­ 945 Malß, Betrachtungen (1862), S. 44, 49; Maurenbrecher / Walter, Bd. 2 (2. Aufl.  1855), § 4343 (S. 90), § 447 (S. 95); ähnlich von Staudinger (1858), S. 148 (entsprechende Anwendung der Grundsätze zur vorvertraglichen Anzeige); Walter (1855), Ziff. 382.III (S. 434).

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trag wiederum als „contractus uberrimae fidei“, ein besonders durch die Grund­ sätze von Treu und Glauben geprägtes Verhältnis.946 Nicht jede Änderung der Ge­ fahrumstände bedeutete für die meisten Vertreter dieser Meinung zugleich eine Abweichung vom Vertragsinhalt: die Wahrscheinlichkeit der Schadenseintritts sei nur die Motivation, nicht aber gleichzeitig der vertragswesentliche Inhalt des Ver­ sicherungsvertrages. Außergewöhnlich weit in dieser Ansicht ging Kübel: er be­ hauptete auf jener Grundlage, jeder Versicherer habe die Gefahr im Zweifel „gene­ risch“, gewissermaßen also für alle Lebenslagen übernehmen wollen; im Endeffekt sei damit jegliche Erhöhung der Gefahr für den rechtlichen Bestand des Vertrages irrelevant, wenn die Parteien nichts anderes verabredet hätten.947 Mit der Interpretation des Versicherungsvertrages als besonderes Treuverhältnis wurde aber in jedem Fall auch wieder die Frage relevant, ob der Versicherungs­ nehmer eine etwaige Gefahrerhöhungsanzeige verschuldet oder unverschuldet unterlassen hatte.948 Zudem kam auf dem Rechtsboden der „Lehre vom besonde­ ren Treueverhältnis“ wiederum der Gedanke zum Tragen, dass der Versicherungs­ nehmer nicht sanktioniert werden dürfe, wenn der Versicherer bereits aus anderen Quellen Kenntnis von der erhöhten Gefahr erlangt hatte.949 Auch für die dogma­ tische Auftrennung zwischen subjektiver und objektiver Gefahrerhöhung bot sich nun wieder Platz: so differenzierten Teile der Literatur nach 1860 klar zwischen diesen beiden Fallgruppen, wobei sich etliche Autoren auf die – aus der damaligen Praxis gewichenen – Rechtsgedanken der §§ 2118, 2119, 2158, 2159 ALR stütz­ ten.950 Wie auch schon im Recht der vorvertraglichen Gefahranzeige beobachtet, erhielt die wissenschaftliche Diskussion hier dogmatische Ideen und Prinzipien am Leben, die aus der Praxis einstweilen völlig verschwunden waren. Die drei versicherungsrechtlichen Kodifikationsentwürfe aus Württemberg, Preußen und Bayern neigten – spiegelbildlich zu ihrem Umgang mit der vorver­ traglichen Gefahranzeige – noch stark zu der Lehre hin, welche die Gefahrerhö­ hung unter den Aspekten der Rechtsgeschäftslehre betrachten wollte. Keiner der drei Entwürfe unterschied dementsprechend zwischen gewillkürter oder objekti­ 946 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 73; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 35, 38; Lewis (1889), S. 76; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 357. 947 Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 38; ähnlich schon Walter (1855), Ziff. 832.II (S. 434); Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 357. Ablehnend aber Malß, Betrachtungen (1862), S. 49 ff. (benutzt den Begriff der „generischen“ Gefahr anders); von Staudinger (1858), S. 148. 948 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 404; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 357 (Sorg­ faltsmaßstab des diligens paterfamilias). 949 Vgl. schon ROHGE 14, 412, 413; RGZ 13, 107, 109 f; 20, 137, 138; Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 2 § 266.V (S. 1233); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 348 (zur Gefahranzeige beim Vertragsschluss); Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 16. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 59; ­Müssener (2008), S. 216. 950 V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 400 ff.; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 357. Demgegenüber stützte sich Malß, Betrachtungen (1862), S. 22, zwar ebenso auf die Rechts­ gedanken der §§ 2117, 2118 ALR (1794), übernahm jedoch nur deren Rechtsfolge, nämlich die Vertragsnichtigkeit ipso iure beim Unterlassen der Gefahrerhöhungsanzeige.

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ver Gefahrerhöhung. Ebensowenig kam es beispielsweise darauf an, ob den Ver­ sicherungsnehmer irgendein Verschulden an der Gefahrerhöhung selbst oder an der unterlassenen Gefahrerhöhungsanzeige traf. Der Hofacker-Entwurf, der 1839 in Württemberg verfasst worden war, schöpfte freilich noch nicht aus der rechtsdogmatischen Aufbereitung des Binnenversiche­ rungsrechts, die erst nach 1850 einsetzte. Wie seine Motive expressis verbis be­ legen, kopierte er lediglich die Rechtspraxis, welche die Württembergische Pri­ vat-Feuerversicherungs-Gesellschaft seit 1828 in den – oben zitierten – Art. 73, 74 ihrer AVB niedergeschrieben hatte.951 Korrelierende Vorschriften waren zum Teil auch im niederländischen Wetboek van Koophandel anzutreffen.952 So lauteten die Art. 486, 487 des württembergischen Entwurfes sehr praxisnah:953 „Art. 486. Erhält ein Gebäude eine veränderte Bestimmung, wodurch sich die Feuersgefahr für das versicherte Gebäude oder die darin aufbewahrten Versicherungsgegenstände in der Art vermehrt, daß der Versicherer die Versicherung entweder gar nicht, oder doch nicht unter denselben Bedingungen abgeschlossen hätte, wenn jener Umstand schon damals vor­ handen gewesen wäre; so fällt seine Haftverbindlichkeit weg: ausgenommen der Versicherer hätte sich auf die Anzeige des Versicherten gar nicht, und zwar binnen der Art. 287. 288. bestimmten Frist, oder er hätte sich ausdrücklich für die Fortdauer erklärt. Art. 487. [1] Das gleiche gilt, wenn die Versicherungsgegenstände an einen anderen, als den in der Police genannten Aufbewahrungsort gebracht werden. [2] Werden alle Gegenstände weggebracht, oder tritt der Fall des Art. 486. ein; so kann der Versicherte den verhältnis­ mäßigen Wiederersatz der Prämie verlangen.“

Neben den Vorbildern aus der Feuerversicherungspraxis und dem niederländi­ schen Recht hatte Art. 487 des Entwurfes ausweislich der Entwurfsmotive auch Th.  II Tit.  8 §§ 2157–2159 ALR zur Ortsveränderung des versicherten Gegen­ standes aufgegriffen. Das ALR hatte ebenfalls danach differenziert, ob nur ein einzelner Gegenstand oder der gesamte Hausstand als solcher von der anfäng­ lichen Versicherungslokalität fortbewegt worden war.954 Die unmittelbare Rezep­ tion des Allgemeinen Landrechts beschränkte sich aber alleine auf jenen Ein­ zelfall der Translokation. Die Rechtsfolgendifferenzierung, die das preußische Landrecht zwischen objektiver und gewillkürter Gefahrerhöhung vorgenommen hatte, musste Hofacker zwar ebenso gekannt haben, da er doch Passagen des ALR ausdrücklich in seinen Motiven zitierte. Am Ende folgte er aber bewusst der Versicherungspraxis. Was die Rechtsfolgen einer Gefahrerhöhung betrifft, so spielte sich auch auf diesem Gebiet ein Phänomen ab, das schon im Umkreis der vorvertraglichen Ge­ 951

Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 486, 487. Art. 293 Wetboek van Koophandel (1838) (Officiële Uitgave, 1838); s. dazu ausdrücklich Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 486. 953 Abgedruckt als Textausgabe (1839). 954 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 487. Zu den §§ 2157–2159 ALR (1794) und ihrem Ursprung, s. schon ausführlich unter § 2 D VII 4 b. 952

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fahranzeige beobachtet werden konnte: zwar hing es keinesfalls vom Verschulden des Versicherungsnehmers ab, ob der Vertrag trotz des gestiegenen Risikos Bestand hatte oder nicht, doch wandte der Hofacker-Entwurf auf die Rückabwicklung eines nichtigen Vertrages wiederum die Grundsätze des Prämienristornos (Art. 466) an. Dieses Korrektiv führte dazu, dass der Versicherungsnehmer immerhin seine Prä­ mie zurückverlangen konnte, wenn er gutgläubig gehandelt hatte.955 Lediglich in Ansehung des Lebensversicherungsrechts hatte schon der württem­ bergische Entwurf – so wie später alle seine Nachfolger – davon abgelassen, die in der Praxis gebräuchlichen AVB-Klauseln in Gesetzesform zu gießen. Insbe­ sondere Bestimmungen zum „Seedienst“ und zur „gefährlichen Reise“ erschienen dem Entwurfsverfasser Hofacker bereits im Jahr 1839 als nicht mehr zeitgemäß, da die damals aufkommende moderne Nachrichtentechnik dem Versicherer mitt­ lerweile effektive Methoden biete, um mit der versicherten Person auch zum Bei­ spiel während einer gefährlichen Reise in Kontakt zu treten.956 Schon seit diesem Zeitpunkt spielten die rechtspraktischen Besonderheiten der Lebensversicherung in der Kodifikationsdebatte kaum noch eine Rolle. Die beiden Entwürfe aus Preußen und Bayern regelten das Recht der Gefahr­ erhöhung in ganz ähnlicher Art und Weise wie der württembergische Entwurf von 1839. Beide differenzierten dogmatisch gesehen nicht zwischen den zufälligen und gewillkürten Gefahrerhöhungen; beide ließen den Vertrag im Falle einer Gefahr­ erhöhung erlöschen oder erklärten ihn für kündbar, ohne dass es darauf ankam, ob den Versicherungsnehmer an der Gefahrerhöhung bzw. an der unterlassenen Gefahrerhöhungsanzeige ein Verschulden traf;957 und beide federten schließlich die härtesten Folgen der Vertragsauflösung mit dem Werkzeug des Prämienristorno ab, sodass dem Verschulden des Versicherungsnehmers mittelbar eben doch noch eine Rolle zukam.958 Bei alledem bezog sich der preußische HGB-Entwurf aus­ drücklich auf das Vorbild der fast gleichlautenden Bestimmungen in Art. 486, 487 des Hofacker-Entwurfes,959 während der Entwurf eines bayerischen BGB sich in seinen Motiven sogar vorbehaltlos auf die Anschauung berief, die mit den „allge­ meinen Grundsätzen über die Wirkung des Irrthums“ arbeitete.960 Die Berufung auf die allgemeine Irrtumslehre ist hier freilich dogmatisch unsauber. Sie dürfte dem Bedürfnis des bayerischen Entwurfsverfassers geschuldet sein, spiegelbild­ liche Rechtsgrundsätze sowohl auf die vorvertragliche Anzeige als auch auf die 955

Dazu im Detail schon im vorherigen Abschnitt, § 3 D VI 1. Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 501 (ausdrücklich bezugnehmend auf die ein­ schlägigen AVB); ebenso Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 382 (Textausgabe, 1857). 957 Art. 352 HGB-Entwurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857); Art. 823 II BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textausgabe, 1861); kritisch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 39. 958 Art. 346 HGB-Entwurf Preußen (1857); Art. 825 BGB-Entwurf Bayern (1861); vgl. zur Berücksichtigung des Verschuldens auf der Ebene des Ristornos ausdrücklich Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 452. 959 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 352. 960 Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 823 (Textausgabe, 1861). 956

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Gefahrerhöhungsanzeige anzuwenden – ein Indiz dafür, dass die populären zeit­ genössischen Denkansätze, die jedenfalls auf dem Gebiet der vorvertraglichen An­ zeige häufig mit den Prinzipien der Irrtumslehre operierten, relativ unreflektiert Eingang in den bayerischen Entwurf gefunden haben dürften. Von einer differen­ zierten Lösung, wie sie das Allgemeine Landrecht vorgesehen hatte, waren alle drei Entwürfe also denkbar weit entfernt. Dafür lagen sie umso näher am Praxisrecht der Versicherungsgesellschaften, deren unmittelbarer Einfluss auf den HofackerEntwurf hier sogar nachgewiesen werden konnte. Eine absolute Sonderstellung nimmt schließlich der Dresdener Obligationen­ rechtsentwurf ein: er schien vor dem Recht der Gefahrerhöhung vollends kapitu­ liert zu haben. Zu der gesamten Thematik finden sich im Entwurf von 1866 keine Bestimmungen. Ein Blick in die „Protocolle“ der Dresdener Konferenzen und in die Berichte des Konferenzteilnehmers Kübel offenbart, dass die Konferenz hier tief gespalten war und sich auf keine eindeutige rechtsdogmatische Linie einigen konnte. Im Hinblick auf die Gefahrerhöhung selbst war zunächst zur Debatte gestan­ den, dem Versicherer bei jeder Art von Gefahrerhöhung ein „Anfechtungsrecht“ zu gewähren, wie es auch große Teile der damaligen Versicherungspraxis und die drei vorhergehenden Entwürfe getan hatten. Gemeint war mit diesem „An­ fechtungsrecht“ also offenbar, dass der Versicherer den Vertrag bei jeder Art von Gefahrerhöhung nach seinem eigenen Gutdünken auflösen können dürfe. Wenn der Versicherungsnehmer die Gefahrerhöhung hingegen gar nicht erst zur Anzeige bringe, solle der Vertrag ohnehin schon automatisch erlöschen.961 Dagegen wur­ den aber in der Dresdener Konferenz tiefgreifende Einwände geäußert, da dieses Modell „gefährlich“ für den Versicherungsnehmer sei: in der Realität könne der Versicherungsnehmer die enorme Zahl von Gefahrumständen, die sich während der Vertragsdauer änderten, aus der Laiensphäre heraus gar nicht mehr überbli­ cken. So könnte die diskutierte Bestimmung vom Versicherer sogar als Mittel zur „Chikane“ genutzt werden, indem sie „den Versicherten zu einer unausgesetzten Thätigkeit im Interesse des Versicherers nöthige, und diesem eine Pflicht aufer­ lege, die nicht blos eine unaufhörliche Beunruhigung des Versicherten nach sich ziehen müsse, sondern von diesem auch nicht einmal vollständig erfüllt werden könne“. Die Versicherungsgesellschaften hätten durch ihre AVB insoweit recht­ liche Klauseln geschaffen, die alleine „in deren Interesse entworfen seien“. Einige der Dresdener Delegierten sahen es deshalb durchaus kritisch, dass „dieß ohne gehörige Prüfung in viele Gesetze übergegangen“ sei.962 Ein Konsens zwischen diesen beiden Anschauungen ließ sich nicht erzielen. So einigte sich die Dresde­ ner Konferenz am Ende darauf, die Frage ganz der Rechtspraxis zu überlassen.963 961

Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3310; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 40. Insgesamt Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3311 ff. Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 41 ff.; Neugebauer (1990), S. 89. 963 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3313. Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 43; Minnier (1967), S. 83. 962

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Es lässt sich von der Rechtsdogmatik der Gefahrerhöhung im 19. Jahrhundert also nur ein verschwommenes und uneinheitliches Bild zeichnen. Ebenso wie in den Diskussionen um die vorvertragliche Gefahranzeige lässt sich jedoch auch hier erkennen, wie in der Mitte der 1860er Jahre allmählich erste Stimmen laut wurden, die einen stärkeren Schutz des Versicherungsnehmers vor zu einseitig gestalteten Vertragsbedingungen forderten. Allerdings sollte es noch bis zur Ab­ fassung des VVG dauern, bis sich diese Gedanken auch zu konkreten gesetzlichen Normen verdichteten.

b) Die filigrane Regelung der Gefahrerhöhung im VVG Im Versicherungsvertragsgesetz setzte sich dann doch die modernere Meinung durch, die unter den Delegierten der Dresdener Konferenzen noch auf starke Vor­ behalte gestoßen war. Der Zivilgesetzgeber hatte sich von der überkommenen Vorstellung der Praxis gelöst, dass jede Gefahrerhöhung im Grundsatz eine Ab­ weichung vom Vertragsinhalt bedeutete und mithin zur Nichtigkeit des Vertrags führen müsse. Entsprechende Vorschläge von Seiten der Versicherungsgesellschaf­ ten, welche den Fortbestand der Versicherung objektiv-rechtlich vom Fortbestand aller Gefahrumstände abhängig machen wollten,964 konnten beim VVG-Gesetz­ geber kein Gehör mehr finden. Aus den Gesetzgebungsarbeiten lässt sich insgesamt ablesen, dass es dem Ge­ setzgeber auch in dieser Beziehung vor allem auf den Schutz des Versicherungs­ nehmers vor einseitigen, benachteiligenden Vertragsklauseln ankam. Dementspre­ chend waren auch sämtliche Gefahrerhöhungsvorschriften des VVG wiederum mit halbzwingender Kraft ausgestattet (§ 31 VVG).965 Auf der anderen Seite zog der VVG-Gesetzgeber durch das Recht der Gefahrerhöhung eine dogmatische Trenn­ linie, die in den Entwürfe des 19. Jahrhunderts in Vergessenheit geraten war: er unterschied wieder zwischen objektiven, also zufällig eintretenden, und subjekti­ ven, also vom Versicherer selbst herbeigeführten Gefahrerhöhungen.

aa) Die objektive Gefahrerhöhung Die Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Gefahrerhöhungen war, wie gezeigt, gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den privaten Feuerversiche­

964

Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 244 f. (Auto­ matische Vertragsnichtigkeit bei objektiver Gefahrerhöhung, allerdings mit Rückgewähr der Prämienreserven); anders bereits Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 277. 965 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908.

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rungsbedingungen angekommen.966 Der schweizerische VVG-Entwurf bediente sich dieser dogmatischen Differenzierung ebenfalls.967 So stellte es per se keine vollkommene Neuerung dar, dass auch der Reichsjustizamtsentwurf von 1902 zwi­ schen diesen beiden Konstellationen trennte. Im Falle einer objektiven Gefahrer­ höhung sollte § 15 des Reichsjustizamtsentwurfes zur Anwendung kommen. Sein Wortlaut spricht für sich selbst:968 „§ 15. [1] Tritt nach dem Abschlusse des Vertrags eine wesentliche Aenderung der Gefahr unabhängig von dem Willen des Versicherten ein, so ist der Versicherer berechtigt, den Vertrag unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von zwei Wochen zu kündigen. Die Vor­ schriften des §. 12 Abs. 3[969] finden entsprechende Anwendung. [2] Der Versicherte hat, sobald er von der Aenderung der Gefahr Kenntnis erlangt, dem Versicherer unverzüglich Anzeige zu machen. [3] Tritt der Versicherungsfall nach dem Zeitpunkt ein, in welchem die Anzeige zu erfolgen hatte, so ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, es sei denn, daß die Anzeige vor dem Eintritte des Versicherungsfalles nachgeholt worden ist. Der Versicherer bleibt jedoch verpflichtet, wenn in dem Zeitpunkt, in welchem die Anzeige zu erfolgen hatte, die Aenderung ihm bekannt war oder seine Kenntnis nach Lage der Sache vorausgesetzt werden durfte. Das Gleiche gilt, wenn zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls das Kündigungsrecht des Versicherers erloschen war oder wenn die Aenderung weder den Versicherungsfall herbeigeführt noch eine Erhöhung der Leistung des Versicherers verursacht hat.“

In ihrer Kernstruktur entsprach diese Regelung noch der Form, zu welcher die Feuerversicherungspraxis gegen Ende des 19. Jahrhunderts gefunden hatte. Grund­ sätzlich musste der Versicherungsnehmer die zufällig eingetretene Gefahrerhö­ hung anzeigen, sobald er Kenntnis von ihr erlangt hatte; schon die Versäumung der Gefahrerhöhungsanzeige selbst konnte den Verlust des Versicherungsanspruchs nach sich ziehen (§ 15 II, III). Der Versicherer hatte aber selbst nach einer ordnungs­ gemäß angezeigten Gefahrerhöhung die Wahl, ob er den Vertrag fortsetzen oder kündigen wollte. In keinem Fall musste sich der Versicherer also an dem Vertrag festhalten lassen, wenn er das gestiegene Risiko nicht übernehmen konnte oder wollte. Das kam den Bedürfnissen der Praxis durchaus entgegen. Dass der Reichs­ gesetzgeber mit § 15 des Entwurfes vor allem auch den Schutz des geschäftsun­ erfahrenen Versicherungsnehmers intendierte, kam erst in der Ausgestaltung zahl­ reicher Einzelheiten zum Vorschein. Einige von ihnen zogen teils einschneidende Folgen nach sich und sollen daher näher in den Fokus rücken. Für den Versicherungsnehmer ganz entscheidend war es, dass er unter dem Ent­ wurf nur dann wegen einer unterlassenen Gefahrerhöhungsanzeige sanktioniert 966

Dazu auch Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 277. Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 400 ff.; Lewis (1889), S. 199 f.; Lewis (1889); Malß, ZHR 13 (1869), 45; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 228 ff. 967 Art. 28, 29 Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1); vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 340. 968 Archiviert in GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5575.91. 969 Zu den versichertenfreundlichen Einschränkungen des § 12 III VVG (1908) s. im Detail weiter unten bei der subjektiven Gefahrerhöhung.

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werden konnte, wenn ihm dabei auch der Vorwurf eines Verschuldens gemacht werden konnte. Ein solches Verschuldenserfordernis war dem § 15 II des Entwurfs immanent, indem er bestimmte, der Versicherer habe „unverzüglich Anzeige zu machen.“ Der Reichsjustizamtsentwurf forderte somit i. S. d. § 121 I BGB970 eine Anzeige „ohne schuldhaftes Zögern“.971 Im VVG-Entwurf kam letztlich also auch hier das „Verschuldensprinzip“ zur Anwendung, das in der Rechtsprechung zunächst einzelfallbezogen entwickelt worden war und nun vom Gesetzgeber auf fast alle Sanktionen ausgedehnt wurde. Die Verbandsbedingungen von 1886 hatten demgegenüber – wie erörtert – noch kein ausdrückliches Verschuldenskriterium vorgesehen. Im Übrigen galt die Haftung des Versicherers nach dem Entwurf als fortbeste­ hend, bis die Zeit abgelaufen war, innerhalb derer der Versicherungsnehmer die Gefahrerhöhung hätte „unverzüglich“ anzeigen können (§ 15 III 1). In der Zwi­ schenzeit musste der Versicherer also für jeden eintretenden Schaden einstehen – trotz der erhöhten Gefahr. Damit begab sich der Gesetzgeber in Widerspruch zu großen Teilen der Feuer- und Lebensversicherungspraxis, welche oft schon die Leistungspflicht des Versicherers suspendierten, sobald objektiv gesehen gefahr­ erhöhende Umstände eintraten. Entsprechende Kritik erfuhr die Bestimmung von Seiten der Lebensversicherer: es bestehe für die Versicherungsgesellschaften doch die Gefahr, über unabsehbar lange Zeit ein erheblich überhöhtes Risiko tragen zu müssen, ohne dafür eine entsprechende Gegenleistung zu erhalten. Dies sei be­ sonders bedenklich, weil der rationelle Versicherungsbetrieb darauf angewiesen sei, die Prämien auf der Grundlage einer exakten versicherungsmathematischen Risikoprognose zu kalkulieren.972 Der Gesetzgeber erkannte diese Gefahr zwar, hielt die in Frage stehende Zeitspanne aber für so geringfügig, dass er den Versi­ cherern die Störung des vertraglichen Synallagmas zumuten wollte.973 Noch dazu schränkte der Entwurf die Sanktionierbarkeit einer unterbliebenen Gefahrerhöhungsanzeige unter drei weiteren Gesichtspunkten ein. Hier lassen sich durch die Bank Parallelen zu den gesetzgeberischen Reformen auf dem Feld der vorvertraglichen Gefahranzeige erkennen. Erstens stand es dem Versicherungsneh­ mer gem. § 15 III 1 offen, selbst eine schuldhaft versäumte Anzeige nachzuholen, solange der Versicherungsfall nicht eingetreten war. Die Fristversäumnis war dann geheilt und der Versicherungsnehmer wurde so behandelt, als ob er die Anzeige rechtzeitig erstattet hätte – freilich nur, falls der Versicherer ihm zuvor nicht auf Grundlage des § 15 I gekündigt hatte. Zweitens konnte sich der Versicherer nicht auf die unterlassene Anzeige berufen, wenn er bereits aus anderen Quellen von der 970

RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195; entspr. der heutigen Fassung des § 121 I BGB. Ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29 (Nachdruck [1963], S. 59) zum terminus technicus der „Unverzüglichkeit“; klarstellend Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 305. 972 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.132 (Lebensversi­ cherung 2. Sitzung zu § 15 I RJA-E = § 27 I VVG). 973 Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29. 971

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erhöhten Gefahr Kenntnis erlangt hatte. Eine solche Beschränkung hatte der VVGEntwurf in analoger Form schon im Recht der vorvertraglichen Gefahranzeige vor­ gesehen.974 Sie war im Endeffekt eine dogmatische Konsequenz aus der Ansicht, die den Versicherungsvertrag als ein besonderes gegenseitiges Treueverhältnis – als „contractus uberrimae fidei“ – deutete: die Treuepflicht des Versicherungsnehmers endete dort, wo der Versicherer selbst über genügende Kenntnis von den Gefahr­ umständen verfügte. Der Reichsjustizamtsentwurf ging an dieser Stelle sogar noch weiter und ließ die Sanktionsfolge selbst dann entfallen, wenn die Kenntnis des Versicherers „nach Lage der Sache vorausgesetzt werden durfte“ (§ 15 III 2) – mit anderen Worten erlegte sie dem Versicherer eine fortwährende Nachforschungs­ pflicht auf, wie es der Entwurf von 1902 auch schon auf dem Gebiet der vorver­ traglichen Gefahranzeige tun wollte. Drittens und letztens blieb der Versicherungs­ anspruch nach § 15 III 3 auch dann erhalten, wenn der Versicherer von seinem Vertragskündigungsrecht nicht rechtzeitig Gebrauch gemacht hatte oder wenn der Versicherungsfall eingetreten war, ohne dass er kausal durch den gefahrerhöhenden Umstand verursacht worden war. Auch jenes Kausalitätskriterium hatte der Ge­ setzgeber aus eigener Kraft im VVG installiert: nach den Angaben der amtlichen Gesetzesbegründung sollte es die Rechtsfolgen einer unterlassenen Gefahrerhö­ hungsanzeige975 wertungsmäßig an die Sanktionen für eine fehlerhafte vorvertrag­ liche Gefahranzeige angleichen und so die Behandlung beider Fragen miteinander harmonisieren; eine ähnliche Wertung habe auch schon das Seeversicherungsrecht im HGB von 1897976 getroffen.977 Von der vorgesetzlichen Versicherungspraxis rückte der Gesetzgeber bei diesem Unterfangen allerdings mehr und mehr ab. Tiefgreifenden Umwälzungen war die objektive Gefahrerhöhung im weiteren Gesetzgebungsverfahren nicht mehr ausgesetzt. Die 1908 in Kraft getretenen §§ 27, 28 VVG entsprachen im Wesenskern dem § 15 des Reichsjustizamtsentwurfes.978 Nur zwei versichertenfreundliche Details waren im Laufe der Gesetzgebungs­ arbeiten dann doch weggefallen: die Gefahrerhöhungsanzeige konnte nun nicht mehr, wie der Entwurf noch in § 15 III 1 vorgesehen hatte, nachgeholt werden. Ebenso spielte es im Gegensatz zu § 15 III 2 des Entwurfs keine Rolle mehr, ob die Kenntnis des Versicherers von gewissen Gefahrerhöhungen „vorausgesetzt werden durfte“. Beide Vorschriften waren während der Sachverständigenberatungen im Reichs­ justizamt in die Kritik der Feuer- und Lebensversicherer geraten. Gegen § 15 III 1 974

Vgl. dazu schon die Ausführungen unter § 3 D VI 3 a. Vgl. dazu schon die Ausführungen unter § 3 D VI 3 a / b. 976 Zum Kausalitätserfordernis in den Gefahrerhöhungsvorschriften des HGB, vgl. § 814 II Nr. 1 HGB (1897) (RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336). 977 Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29. 978 §§ 27, 28 VVG (1908) entspr. § 15 RJA-E (1902); § 23, 24 VVG-E (1903) (Amtliche Aus­ gabe, 1903); §§ 26, 27 VVG-BRV (1904) (GStA PK, I.  HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); §§ 27, 28 VVG-RTV (1905) (Mot. VVG, Nachdruck [1963], S. 440); §§ 27, 28 VVG-RTV (1907) (Mot. VVG, Nachdruck [1963], S. 524). 975

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des Entwurfes hatten sie ein weiteres Mal das Argument vorgebracht, es könne den Versicherungsbetrieb empfindlich stören, wenn der Versicherer für eine un­ gewisse Zeit ein erhöhtes Risiko tragen müsse, welches nicht in Form einer er­ höhten Versicherungsprämie kompensiert werde. Genau diese Gefahr entstehe aber, wenn der Versicherungsnehmer die Gefahrerhöhungsanzeige praktisch zu jeder beliebigen Zeit bis zum Eintritt des Versicherungsfalles nachholen könne. Auch die stetige Nachforschungspflicht des Versicherers in § 15 III 2 sei im Groß­ betrieb eines Feuer- oder gar Lebensversicherers praktisch undurchführbar und gefährde sogar den ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb.979 Beide Bestimmun­ gen fanden sich bereits im gedruckten Entwurf von 1903 nicht mehr wieder; zu­ mindest in dieser Hinsicht hat die etablierte Versicherungspraxis den Reform­ eifer des VVG-Gesetzgebers also doch ausbremsen können. Weniger Erfolg hatten hingegen die Versicherer mit ihrer Kritik an dem Kausalitätserfordernis, welches § 15 III 3 des Entwurfes aufstellte und nach ihrer Meinung ebenso dazu führte, dass das Verhältnis von Leistung von Gegenleistung gestört sei.980 Der Kausalitätssatz hatte sich seit der Entstehung des ADHGB jedoch auch im See­ versicherungsrecht schon fest etabliert981 und fand dementsprechend – aller Kritik der Versicherungspraktiker zum Trotz – auch seinen Weg in die endgültige Fas­ sung des § 21 VVG. bb) Subjektive Gefahrerhöhung Die Materie der objektiven Gefahrerhöhung ist damit ein gutes Beispiel dafür, wie der Reichsgesetzgeber bis in vermeintlich kleine Details hinein versuchte, die Interessen des Versicherers und des Versicherungsnehmers miteinander in scho­ nenden Ausgleich zu bringen. Dieselbe Zielsetzung wird bei seinem Umgang mit der subjektiven – also der gewillkürten – Gefahrerhöhung deutlich. Während aber die rechtsdogmatische Struktur der objektiven Gefahrerhöhung jedenfalls in ihren Grundfesten unangetastet geblieben ist, formte der Gesetzgeber die Vorschriften zur subjektiven Gefahrerhöhung grundlegend um. Noch in den §§ 12, 13 des Reichsjustizamtsentwurfs war davon allerdings nichts zu bemerken. Der Entwurf wollte ursprünglich bestimmen:

979 Zu beiden Bestimmungen: „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.19 ff. (Feuerversicherung 2. Sitzung zu § 15 III RJA-E); ebd. Nr. 5579.132 (Lebens­ versicherung 1. Sitzung zu § 15 III RJA-E) (Anmerkung des Referenten, dass die Klausel zur „Nachholbarkeit“ wohl gestrichen werden solle). 980 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.19 (Feuerversiche­ rung 2. Sitzung zu § 15 III RJA-E) mit Verweis auf die parallel gelagerte Argumentation gegen den Kausalnexus in § 13 RJA-E (1902). Vgl. auch Vatke, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 221, 222 f. (zum Entwurf von 1903). 981 § 814 II Nr. 1 HGB  (1897); entspr.  Art. 818  II Nr. 1 ADHGB (1861) (Textausgabe von Hrsg. Lutz [4. Aufl., 1861]). Vgl. ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29.

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„§ 12. [1] Wird nach dem Abschlusse des Vertrags ohne Zustimmung des Versicherers eine wesentliche Aenderung der Gefahr von dem Versicherten oder mit seiner Einwilligung veranlaßt, so kann der Versicherer das Versicherungsverhältniß ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. […] [3] Das Kündigungsrecht erlischt, wenn es nicht binnen zwei Wochen von dem Zeitpunkt an ausgeübt wird, in welchem der Versicherer von der Aenderung der Gefahr Kenntniß erlangt, oder wenn der Zustand wiederhergestellt wird, der vor der Aenderung bestanden hat. § 13. Im Falle des §. 12 Abs. 1 ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsfall nach der Aenderung der Gefahr eintritt, es sei denn, dass zur Zeit des Eintritts das Kündigungsrecht des Versicherers erloschen ist oder daß die Aenderung weder den Versicherungsfall herbeigeführt noch eine Erhöhung der Leistung verursacht hat.“

An dieser Stelle hatte der Entwurf das in der Wissenschaft so populäre „Ver­ schuldensprinzip“ mithin noch gar nicht zur Geltung gebracht: wenn der Versiche­ rungsnehmer die Gefahrerhöhung selbst veranlasst hatte, stand dem Versicherer gem. § 12 I ein Kündigungsrecht zu, wobei er nach § 13 aber auch schon vor der Kündigungserklärung grundsätzlich nicht mehr für etwaige Versicherungsfälle haften musste. Das entsprach materiell-rechtlich ganz der Konstruktion der vor­ gesetzlichen Feuerversicherungsbedingungen, freilich mit der Ausnahme, dass dem Versicherer nun eine recht knappe Zwei-Wochen-Frist gesetzt war, um die Kündigung auszusprechen.982 Nach dem ergebnislosen Ablauf jener Frist konnte der Versicherungsnehmer konsequenterweise auch wieder die Leistung des Ver­ sicherers beanspruchen (§ 13 Alt. 1). Auch in den §§ 12, 13 hatte der Entwurfsverfasser allerdings schon zwei Neue­ rungen vorgenommen, welche die Position des Versicherungsnehmers im Vergleich zum vorgesetzlichen Praxisrecht stärkten. Zum einen konnte der Versicherungs­ nehmer nach § 13  – parallel gelagert zur Regelung der objektiven Gefahrerhö­ hung  – den Beweis führen, dass zwischen der gefahrerhöhenden Tatsache und dem etwaigen Versicherungsfall kein Kausalnexus bestand.983 Dieser Kausalitäts­ gegenbeweis änderte zwar nichts an dem Kündigungsrecht des Versicherers aus § 12 I. Doch immerhin war der Versicherer dann wegen § 13 Alt. 2 nach wie vor zur Leistung verbunden, falls der Unglücksfall eintrat, bevor er die Kündigung ausgesprochen hatte. Jenes Kausalitätskriterium war letztlich ein Spiegelbild des Rechtssatzes, den der Gesetzgeber in § 15 III Alt. 2 des Reichsjustizamtsentwurfes auch für die objektive Gefahrerhöhung kodifiziert hatte. Um den neu eingeführten Kausalitätsgegenbeweis kreisten in den Sachverständigenkommissionen daher im Wesentlichen dieselben Diskussionen wie um seine Parallelvorschrift im Recht

982

Vgl. Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 233; kritisch dazu Vatke, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 221, 224 f. 983 Zur vorgesetzlichen Rechtslage insoweit Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 277 f.; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 402; Lewis (1889), S. 191.

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der objektiven Gefahrerhöhung984 – auch hier konnten die Vertreter der Versiche­ rungsgesellschaften aber kein Umdenken des VVG-Gesetzgebers herbeiführen. Zum anderen ermöglichten die §§ 12 III, 13 dem Versicherungsnehmer, den vor der Gefahrerhöhung bestehenden status quo wiederherzustellen und so alle Sank­ tionsfolgen abzuwenden; der Grundsatz erlangte im Übrigen über die Verweisungs­ norm in § 15 I 2 auch Bedeutung für die objektive Gefahrerhöhung. Diese „statusquo-Klausel“ war entgegen einer anderslautenden Empfehlung in der Denkschrift des Verbandes deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften985 aus dem ausländischen Recht importiert worden – nämlich aus dem eidgenössischen VVGEntwurf von Hans Roelli, wo es in einer entsprechenden Vorschrift hieß: „Art. 31. Die Wirkungen der Gefahrsänderung treten nicht ein: 1. wenn die Gefahrsän­ derung eine vorübergehende war, und der frühere Zustand vor Eintritt des befürchteten Ereignisses wieder hergestellt ist; […]“

Dem Gesetzgeber, häufig auf den Schutz des Versicherungsnehmers bedacht, schien eine solche Regel tauglich, um unerträglich lange Schwebezeiten, in wel­ chen der Versicherungsnehmer keine Gewissheit über den Fortbestand des Ver­ trages hatte, zu vermeiden.986 Im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens wurden dieser Regelung selbst aus der Feuerversicherungspraxis wenige Beden­ ken entgegengesetzt. Auch sie fand sich schließlich im VVG von 1908 wieder.987 Eine  – jedenfalls in rechtsdogmatischer Hinsicht  – fundamentale Änderung, die das Institut der Gefahrerhöhung im deutschen Recht bis heute nachhaltig prägt,988 war aber im Entwurf von 1902 noch nicht einmal angedeutet. Die subjek­ tive Gefahrerhöhung spaltet sich bis zum heutigen Tag in zwei dogmatische Unter­ arten auf: die subjektiv-bewusste Gefahrerhöhung, die im Wesentlichen der bislang behandelten „gewillkürten“ bzw. „subjektiven“ Gefahrerhöhung entspricht, und die sogenannte subjektiv-unbewusste Gefahrerhöhung.989 Als subjektiv-­unbewusst lässt sich eine Gefahrerhöhung bezeichnen, wenn sich das versicherte Risiko zwar durch eine vom Versicherungsnehmer veranlasste Handlung steigert, jedoch ohne dass derselbe die Gefahrhöhung beabsichtigt oder auch nur erkannt hat – beispiels­ weise, wenn ein Handwerker für seinen Betrieb eine neuartige elektrische Ma­ schine angeschafft hat, ohne sich dabei bewusst zu sein, dass von ihr eine höhere

984

„Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.18 ff. (Feuerversiche­ rung 1. Sitzung zu § 13 RJA-E = § 25 VVG); ebd. Nr. 5579.132 (Lebensversicherung 2. Sitzung zu § 13 RJA-E = § 25 VVG); vgl. Vatke, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 221, 222. 985 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 277. 986 Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29. 987 §§ 23–25 VVG (1908); entspr. §§ 12, 13 RJA-E (1902); §§ 19–21 VVG-E (1903); §§ 22–24 VVG-BRV (1904); §§ 23–25 VVG-RTV (1905); §§ 23–25 VVG-RTV (1907). 988 Zur „subjektiv-unbewussten“ Gefahrerhöhung nach heutigem Recht: Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn.  1278; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 23 Rn. 111; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 870. 989 Dazu insgesamt auch Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29.

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Brandgefahr ausgeht als von seiner bislang verwendeten Maschine. Das VVG von 1908 näherte sich in der Behandlung solcher unbewussten Gefahrerhöhungen be­ trächtlich dem Recht der rein objektiven Gefahrerhöhung an: der Versicherungs­ nehmer musste seinem Versicherer den gefahrerhöhenden Umstand unverzüglich zur Anzeige bringen, sobald er ihn bemerkt hatte; unterließ er die Gefahrerhö­ hungsanzeige schuldhaft, so verlor er seinen Leistungsanspruch. Wie aber hat sich diese Verästelung der subjektiven Gefahrerhöhung entwickelt, wenn sie selbst noch dem Reichsjustizamtsentwurf völlig unbekannt gewesen war? Erst die Untersuchung der einschlägigen Gesetzgebungsmaterialien zeigt, wel­ che dogmatische Eigendynamik dem Gesetzgebungsverfahren hier innewohnte. In den Sachverständigenkommissionen von 1902 war zunächst bloß die kritische Nachfrage ergangen, warum denn die Vorschriften zur subjektiven Gefahrerhö­ hung nur ein reines Veranlassungskriterium kannten, die Vertragsauflösung also nicht vom Verschulden des Versicherungsnehmers abhängig machten; schließlich könne die unterlassene Anzeige einer objektiven Gefahrerhöhung (§ 15 II) nur dann sanktioniert werden, wenn der Versicherungsnehmer schuldhaft gehandelt hatte. Das erschien einigen Sachverständigen als ein Wertungswiderspruch.990 Im Reichsjustizamt korrigierte man den § 12 I des ersten Entwurfs infolgedes­ sen, indem man dem Versicherer keine fristlose Kündigung mehr erlaubte, falls der Versicherungsnehmer die subjektive Gefahrerhöhung gutgläubig herbeige­ führt hatte. So war dem schuldlos handelnden Versicherungsnehmer immerhin die Chance eröffnet, rechtzeitig vor Ablauf der Kündigungsfrist bei einem ande­ ren Versicherer Deckung zu finden. §§ 19, 20 des gedruckten Entwurfes von 1903 modifizierten den früheren § 12 I des Reichsjustizamtsentwurfes mit den Worten: „§ 19. Nach dem Abschlusse des Vertrages darf der Versicherte nicht ohne Einwilligung des Versicherers eine Erhöhung der Gefahr vornehmen oder deren Vornahme durch einen Dritten gestatten. § 20. [1] Im Falle einer Verletzung der Vorschrift des §. 19 kann der Versicherer das Ver­ sicherungsverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Beruht die Verlet­ zung nicht auf einem Verschulden des Versicherten, so hat der Versicherte die Kündigung erst mit dem Ablauf eines Monats gegen sich gelten zu lassen. […]“

Erst in den Reichstagsverhandlungen monierten einige Abgeordnete wiederum, dass auch dieses geringfügig veränderte System zu einem Wertungswiderspruch führe. Wenn der Versicherer erst einmal die Monatsfrist zur Vertragskündigung verstreichen lasse, so sei der Vertrag in der Konstellation einer subjektiven Gefahr­ erhöhung praktisch unangreifbar, wenn nur der Versicherungsnehmer gutgläubig gehandelt habe. In der Konstellation der rein objektiven Gefahrerhöhung müsse der Versicherungsnehmer die Gefahrerhöhung hingegen auch dann anzeigen, wenn 990 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.130 (Lebensver­ sicherung 2. Sitzung zu § 12 I RJA-E = § 23 VVG); in diese Richtung schließlich auch Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29.

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sie ihm erst nach langer Zeit nach dem Vertragsschluss auffalle; ihm könnten also auch nach langer Zeit noch die Kündigung seines Vertrages oder der Verlust seines Versicherungsanspruches drohen, obwohl ihm hinsichtlich der Gefahrerhöhung nicht einmal ein reiner Veranlassungsbeitrag zur Last falle. Sehr plastisch formu­ lierte diesen Widerspruch ein Reichstagsabgeordneter: warum solle ein Tischler dauerhaft anzeigen müssen, wenn im Betrieb seines Nachbarn eine Gefahrerhö­ hung vorgenommen werde, aber nicht, wenn er selbst in seinem eigenen Betrieb unbedarft eine solche Gefahrerhöhung vornehme und dies erst später bemerke?991 Die Einwände fanden tatsächlich Gehör in der Reichstagskommission, und so näherte der Gesetzgeber erst in einer relativ späten Phase des Gesetzgebungsver­ fahrens die subjektive Gefahrerhöhung der objektiven an – und zwar, indem er den Versicherungsnehmer zur nachträglichen Anzeige der Gefahrerhöhung verpflich­ tete, wenn jener sie zunächst auch nur gutgläubig herbeigeführt hatte.992 Die Vor­ schriften zur subjektiven Gefahrerhöhung hatten damit um 1905 ihre endgültige Form erhalten. Schließlich hieß es im VVG von 1908 zu jenem Thema: „§ 23. [1] Nach dem Abschluss des Vertrages darf der Versicherungsnehmer nicht ohne Einwilligung des Versicherers eine Erhöhung der Gefahr vornehmen oder deren Vornahme durch einen Dritten gestatten. [2] Erlangt der Versicherungsnehmer Kenntnis davon, daß durch eine von ihm ohne Einwilligung des Versicherers vorgenommene oder gestattete Än­ derung die Gefahr erhöht ist, so hat er dem Versicherer unverzüglich Anzeige zu machen. § 24. [1] Verletzt der Versicherungsnehmer die Vorschrift des § 23 Abs. 1, so kann der Ver­ sicherer das Versicherungsverhältnis ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Beruht die Verletzung nicht auf einem Verschulden des Versicherungsnehmers, so braucht dieser die Kündigung erst mit Ablauf eines Monats gegen sich gelten zu lassen. [2] Das Kündigungsrecht erlischt, wenn es nicht innerhalb eines Monats von dem Zeitpunkt an ausgeübt wird, in welchem der Versicherer von der Erhöhung der Gefahr Kenntnis erlangt, oder wenn der Zustand wiederhergestellt ist, der vor der Erhöhung bestanden hat. § 25. [1] Der Versicherer ist im Falle einer Verletzung der Vorschrift des § 23 Abs. 1 von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsfall nach Erhöhung der Gefahr eintritt. [2] Die Verpflichtung des Versicherers bleibt bestehen, wenn die Verletzung nicht auf einem Verschulden des Versicherungsnehmers beruht. Der Versicherer ist jedoch auch in diesem Falle von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn die im § 23 Abs. 2 vorgese­ hene Anzeige nicht unverzüglich gemacht wird und der Versicherungsfall später als einen Monat nach dem Zeitpunkt, in welchem die Anzeige dem Versicherer hätte zugehen müs­ sen, eintritt, es sei denn, daß ihm in diesem Zeitpunkte die Erhöhung der Gefahr bekannt war. [3] Die Verpflichtung des Versicherers zur Leistung bleibt auch dann bestehen, wenn zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls die Frist für die Kündigung des Versicherers abgelaufen und eine Kündigung nicht erfolgt ist oder wenn die Erhöhung der Gefahr kei­ nen Einfluß auf den Eintritt des Versicherungsfalls und auf den Umfang der Leistung des Versicherers gehabt hat.“ 991

Insgesamt Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 300 ff.; ähnlich Roelli, ZVers­ Wiss 4 (1904), 328, 340. 992 Zur Genese der Norm auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 23 Rn. 8.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Im Vergleich zum nur wenige Jahre älteren Reichsjustizamtsentwurf – von der vorgesetzlichen Praxis ganz zu schweigen – hat das Versicherungsvertragsgesetz von 1908 also noch eine viel feingliedrigere dogmatische Struktur gewonnen. Deutlich erkennbar wird vor allen Dingen aber, wie sich in der endgültigen Fas­ sung des VVG die Kategorie der subjektiv-bewussten Gefahrerhöhung (§§ 23 I, 24, 25 I VVG) klar von der subjektiv-unbewussten Gefahrerhöhung in §§ 23 II, 25 II VVG abgesondert hat. cc) Die tatbestandliche Definition einer Gefahrerhöhung Die vorstehenden Ausführungen haben also gezeigt, dass der Gesetzgeber das Recht der Gefahrerhöhung nicht einfach aus der Praxis übernommen hat, sondern in einigen Details energisch reformiert und sogar in seiner fundamentalen dog­ matischen Struktur geändert hat. Aber auch auf der Tatbestandsebene – sprich: bei der Frage, welche Umstandsänderung überhaupt als eine signifikante Gefahr­ erhöhung bewertet werden durfte – ergriff der Gesetzgeber eine eigene Initiative. Eine Gefahrerhöhung war nach dem oben diskutierten § 12 I des Reichsjustiz­ amtsentwurfes nur dann rechtlich relevant, wenn sie „wesentlich“ war. Was jedoch der Entwurfsverfasser unter einer solchen „wesentlichen“ Gefahrerhöhung ver­ stand, erklärte er dem Rechtsanwender unter § 12 II: „§ 12. […] [2] Wesentlich ist eine Aenderung nur, wenn sie einen für die Uebernahme der Gefahr erheblichen Umstand betrifft, der durch eine schriftliche Erklärung des Versicher­ ten als dauernde Voraussetzung der Leistungspflicht des Versicherers besonders festgestellt ist. […]“

Hinter dieser Regelung stand ein Gedanke, den schon Kübel während der Dres­ dener Konferenzen formuliert hatte: dass nämlich, soweit die Parteien vertraglich nichts anderes vereinbart hatten, der Versicherer „generisch“ alle Feuergefahren übernehmen wolle, die einem Versicherungsnehmer typischerweise drohten.993 Zu seiner Zeit war Kübel auf dieser Position freilich noch recht alleine gestanden. Hans Roelli, der Verfasser des schweizerischen VVG-Entwurfes, nahm später allerdings denselben wissenschaftlichen Standpunkt ein. Der Versicherer habe das Risiko „tale quale“, im Prinzip also für alle unterschiedlichen Lebenslagen übernommen.994 Das hatte Roelli schließlich auch in seinem Gesetzesentwurf zur Geltung gebracht: „Art. 28. [1] […] Eine wesentliche Gefahrsänderung liegt vor, wenn eine für die Beurtheilung der Gefahr wesentliche Thatsache (Art. 5), deren Umfang die Parteien beim Versicherungs­ abschluss festgestellt haben, entgegen den Bestimmungen des Vertrages verändert wird.“ 993

Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 38. Ähnlich V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 402 (zur objektiven Gefahrerhöhung); Lexis, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 50, 53. In diese Richtung auch vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 23 Rn. 3. 994 Ausdrücklich Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 339 f.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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§ 12 II des Reichsjustizamtsentwurfes forderte im Anschluss an Roelli in con­ creto zwei kumulative Kriterien: die Gefahrerhöhung musste, um überhaupt recht­ liche Relevanz zu entfalten, erstens erheblich sein und zweitens vom Versicherer schriftlich als „dauernde Voraussetzung der Leistungspflicht“ besonders festge­ stellt sein.995 Schon ein Jahr später weichte der Gesetzgeber diese strenge Handhabung wie­ der auf, nachdem in den Sachverständigenkommissionen von 1902 erhebliche Be­ denken geäußert worden waren, ob diese Regel den praktischen Bedürfnissen des Versicherungsbetriebes noch gerecht werde. Immerhin, so wurde vorgebracht, kalkuliere die Versicherungsgesellschaft die angemessenen Risikoprämien auf der Grundlage bestimmter, als feststehend angenommener Umstände; die vor­ geschlagene Norm störe diese rationelle, versicherungstechnische Berechnung im Ergebnis empfindlich.996 Der Entwurf von 1903 enthielt daher eine etwas mildere Formulierung. Er wollte jede Änderung eines tatsächlichen Umstandes, „dessen unveränderte Fortdauer der Versicherer bei der Schließung des Vertrags voraussetzten durfte“,997 als eine relevante Gefahrerhöhung einstufen. Nachdem die Norm aber auch in diesem Stadium rege Kritik aus sachverständigen Krei­ sen geerntet hatte, weil sie zu sehr auf das subjektive Empfinden des einzel­ nen Versicherers abstellte,998 nahm der Gesetzgeber eine nochmalige Änderung vor. Die Fassung der Bundesratsvorlage von 1904 definierte die „Wesentlichkeit“ einer Gefahrerhöhung nunmehr objektivierend.999 Sie hatte damit ihre finale Ge­ stalt erreicht, die sich bis 1908 nicht mehr änderte,1000 sodass es im VVG schließ­ lich hieß: „§ 29. Eine unerhebliche Erhöhung der Gefahr kommt nicht in Betracht. Eine Gefahrer­ höhung kommt auch dann nicht in Betracht, wenn nach den Umständen als vereinbart anzusehen ist, daß das Versicherungsverhältnis durch die Gefahrerhöhung nicht berührt werden soll.“

„Den Umständen nach als vereinbart anzusehen“ war es beispielweise, wenn ein industrieller Versicherungsnehmer während der Laufzeit eines Feuerversiche­ rungsvertrages eine technisch neue, feuergefährliche Fabrikmaschine anschaffte. Ein solcher Vorgang lag im Wesen eines jeden industriellen Großbetriebes die 995

Billigend Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 98. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.17 (Feuerversiche­ rung 2. Sitzung zu § 12 II RJA-E = § 29 VVG); ebd. Nr. 5579.130 (Lebensversicherung 2. Sit­ zung zu § 12 II RJA-E = § 29 VVG). 997 § 25 I VVG-E (1903). Vgl. auch Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29; Boyens, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 89, 98. 998 Denkschrift der Feuerversicherungs-VVaG v. 08. 10. 1903, S. 10 f. 999 § 28 VVG-BRV (1904). Vgl. insgesamt  Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 29 Rn. 3 (zu der damit auch geänderten Beweislast); Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 179 f. 1000 § 28 VVG-BRV (1904) entspr. § 29 VVG-RTV (1905); § 29 VVG-RTV (1907); § 29 VVG (1908). 996

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Übernahme der erhöhten Gefahr konnte daher aus einem objektiven Horizont von jedem Feuerversicherer erwartet werden.1001 Will man abschließend beurteilen, ob die Regelung des § 29 VVG den Gewohn­ heiten insbesondere der Feuerversicherungsgesellschaften entsprach, so wird man auf ein Phänomen treffen, das schon in der Entwicklungsgeschichte manch anderer rechtlicher Institute anzutreffen war: im Jahr 1904 passte die Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften ihre AVB an die voraussichtliche Gestaltung des VVG an, und zwar auf aktives Betreiben des Kaiserlichen Aufsichtsamtes. In ihrer „Erklärung“ zu den Verbandsbedingungen von 1886 ließ die „Vereinigung“ verlautbaren:1002 „Zu § 5, 1. Unter einer Vermehrung der Feuergefährlichkeit, welche nach § 5 das Ruhen der Entschädigungspflicht oder die Aufhebung der Versicherung zur Folge haben kann, ist eine unerhebliche Vermehrung der Feuergefährlichkeit nicht zu verstehen.“

Indem nun auch die Verbandsorganisation der Feuerversicherer eine erhebliche „Vermehrung der Feuergefährlichkeit“ forderte, kam sie dem späteren Versiche­ rungsvertragsgesetz bereits einen Schritt entgegen. Am Ende zeigt sich folglich auch hier, dass einige maßgebliche Impulse für die Fortentwicklung des Feuerver­ sicherungsrechts gerade nicht aus der Versicherungspraxis, sondern originär aus der Gesetzgebung stammten. Eine Sonderrolle nahm in dieser Hinsicht wieder die Lebensversicherung ein. Dort konservierte der Gesetzgeber jene strenge, versichertenfreundliche Regel, die § 12 II des Reichsjustizamtsentwurfes zunächst noch für alle Versicherungs­ zweige aufstellen wollte: nach dem Idealbild des Gesetzgebers sollte die Lebens­ versicherung in „allen Wechselfällen des Lebens“ Schutz gewähren.1003 In diesem Sinne bestimmte in der Endfassung des VVG eine – nach ihrem Sinn und Zweck einseitig zwingende – lex specialis zum Lebensversicherungsrecht:1004 „§ 164. [1] Als Erhöhung der Gefahr gilt nur eine solche Änderung der Gefahrumstände, welche nach ausdrücklicher Vereinbarung als Gefahrerhöhung angesehen werden soll; die Erklärung des Versicherungsnehmers bedarf der schriftlichen Form. [2] Eine Erhöhung der Gefahr kann der Versicherer nicht mehr geltend machen, wenn seit der Erhöhung zehn Jahre verstrichen sind. Der Versicherer bleibt jedoch zur Geltendmachung befugt, wenn die Pflicht, seine Einwilligung einzuholen oder ihm Anzeige zu machen, arglistig verletzt worden ist.“

Die benannte „ausdrückliche Vereinbarung“ zwischen den Parteien konnte nach dem Willen des Gesetzgebers auch beispielsweise in AVB-Klauseln liegen, die besondere Vorkehrungen trafen, wenn die versicherte Person eine gefährliche 1001

Ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu §§ 23–29. Vgl. auch Müssener (2008), S. 219 (der aber keinen Zusammenhang zur Tätigkeit des Aufsichtsamts herstellt); Neugebauer (1990), S. 153. 1003 Mot. VVG (1908) zu § 164; dazu auch Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 187, 188. 1004 § 164 VVG (1908) entspr. § 153 VVG-E (1903); § 158 VVG-BRV (1904); § 161 VVG-RTV (1905); § 164 VVG-RTV (1907). 1002

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Auslandsreise unternahm oder in den aktiven Kriegsdienst trat.1005 Damit trug der Gesetzgeber der vielfältigen, inhomogenen Gestaltung der sogenannten Reise- und Kriegsversicherungen Rechnung, die in der jüngeren Praxis enorm an Bedeutung gewonnen hatten. Letzten Endes änderte sich durch § 164 I VVG also wenig an der vorgesetzlichen Versicherungspraxis.1006 Das gleiche gilt für § 164 II VVG, der – parallel zu entsprechenden Regelungen im Dunstkreis der vorvertraglichen Gefahranzeige – die „Unanfechtbarkeit“ des Lebensversicherungsvertrages vorsah,1007 wenn seit der Gefahrerhöhung zehn Jahre vergangen waren. Es wurde bereits bei früherer Gelegenheit erörtert, dass solche Klauseln in der Lebensversicherungspraxis absolut gebräuchlich waren, mehrheit­ lich sogar mit bedeutend kürzeren Fristen.1008 Insgesamt darf also ausgerechnet der besonders versichertenfreundliche § 164 VVG als Abbild der vorvertraglichen Lebensversicherungspraxis bezeichnet werden. 3. Die weitere dogmengeschichtliche Entwicklung der Sachveräußerung Auch die Debatte um die Veräußerung der versicherten Sache und ihre Auswir­ kungen auf den Versicherungsvertrag hat während des 19. Jahrhunderts eine be­ trächtliche Eigendynamik entwickelt. Die Feuerversicherungspraxis hatte sich in dieser Hinsicht, wie bereits dargelegt, in zwei Hauptströmungen geteilt: die einen Gesellschaften hatten vorgesehen, dass die Rechte und Pflichten aus dem Versi­ cherungsvertrag ipso iure auf den Erwerber übergingen; sodann behandelten sie die Veräußerung wie einen gewöhnlichen Fall der Gefahrerhöhung. Andere Ge­ sellschaften machten hingegen schon den Übergang der Versicherung per se von ihrer Zustimmung abhängig. a) Der weitläufige theoretische Diskurs und seine Auswirkungen auf die Kodifikationsdebatte In die akademische Diskussion um die Sachveräußerung mischten sich dem­ entsprechend immer wieder Probleme, die eigentlich aus dem Dunstkreis der Ge­ fahrerhöhung stammten. Am Ende war im 19. Jahrhundert kaum ein rechtlicher Aspekt der Binnenversicherung derart von wissenschaftlich-dogmatischen Strei­ tigkeiten überlagert wie die Veräußerung des versicherten Gegenstandes. Aus der 1005

Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 164 Rn. 1, 2. Vgl. auch Denkschrift der Lebensversicherer v. 06. 10. 1903, S. 13, die nur die strenge Schriftform im VVG kritisierte. 1007 Ausdrücklich zum „Prinzip der Unanfechtbarkeit“ Mot. VVG (1908) zu § 164; so auch Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 340 (zum Entwurf von 1903). 1008 Dazu allgemein § 3 B III 3. Zum parallel gelagerten Problem der „Unanfechtbarkeit“ nach fehlerhafter oder unvollständiger vorvertraglicher Gefahranzeige, s. außerdem bereits § 3 D VI 3 c. 1006

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Zeit des Dresdener Obligationenrechtsentwurfs berichtete Kübel, selbst Delegierter der Dresdener Konferenz, gleich von vier möglichen dogmatischen Erklärungs­ modellen, deren Auswirkungen auf die Veräußerung der versicherten Sache dis­ kutiert wurden.1009 Eine häufig vertretene Meinung betrachtete die Veräußerung rein formalistisch unter dem Aspekt des versicherbaren Interesses: der Vertrag müsse im Zuge einer Sachveräußerung erlöschen, denn mit der Veräußerung falle das Interesse des Veräußerers fort; der Erwerber stehe dagegen in keinem vertraglichen Verhält­ nis zum Versicherer und könne daher nicht als neuer Vertragspartner angesehen werden.1010 Nach der gegenteiligen Ansicht hafte die Versicherung akzessorisch an der versicherten Sache und gehe damit stets infolge der Sachveräußerung auf den Erwerber über. Das entsprach im Ergebnis dem Gedanken der cessio legis, der erstmals in Th. II Tit. 8 § 2163 ALR und später in einigen Feuerversicherungsbe­ dingungen zum Ausdruck gekommen war.1011 Diese zweite Meinung ließ sich gut mit der rechtspraktisch häufig anzutreffenden Behandlung der Veräußerung als reinem Unterfall der Gefahrerhöhung vereinbaren.1012 Eine vermittelnde Lösung ging schließlich davon aus, dass die Versicherung zwar nicht ipso iure auf den Erwerber übergehe, dass sie aber wenigstens mit der Einwilligung des Versicherers übertragbar sei – ein Standpunkt, mit dem sich viele AVB im Einklang befanden, sofern sie die Zustimmung des Versicherers zur Ver­ äußerung forderten.1013 Die vierte, ebenfalls vermittelnde und wohl herrschende Auffassung besagte, dass es für eine Übertragung der Versicherung lediglich des Einvernehmens zwischen Veräußerer und Erwerber bedürfe. Dieses Prinzip hatte sich das Seeversicherungsrecht in Art. 904 ADHGB und später § 899 I HGB zu­ eigen gemacht: dort war bestimmt, das Recht aus der Versicherung könne zeitgleich zur Sachveräußerung „mit der Wirkung übertragen werden, daß der Erwerber den Versicherer ebenso in Anspruch zu nehmen befugt ist, als wenn die Veräußerung nicht stattgefunden hätte und der Versicherte selbst den Anspruch erhöbe“.1014 1009

Überblicksartig zu den vertretenen Meinungen Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 70 f. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3293 f., 3300 ff.; ebd. Bd. 6 (1866), S. 4566. Zu dieser auch in der historischen Literatur weit verbreiteten Meinung, vgl. z. B. Goldschmidt, System des Handelsrechts (4. Aufl. 1892), § 161a.2 (S. 254); Malß, ZHR 8 (1865), 369, 371 ff. (mit aus­ drücklicher Diskussion über das in § 2163 ALR kodifizierte System). Vgl. insgesamt Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 71, 74 f.; Neugebauer (1990), S. 84. 1011 Vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3297; ebd. Bd. 6 (1866), S. 4566 (Diskussion mit aus­ drücklichem Verweis auf den Rechtsgedanken aus Th. II Tit. 8 § 2163 ALR, im Ergebnis jedoch jeweils ablehnend). Vgl. aber die historische Literatur, die die Versicherung teilweise als un­ selbstständiges Akzessorium der versicherten Sache behandeln will: Endemann (1. Aufl. 1865), § 174.IV (S. 831); Osiander (1844), S. 69. Vgl. insgesamt Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 71 f. 1012 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3299; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 72, 84 f. 1013 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3299; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 73. 1014 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3292 ff., 3296 ff., 3302 f.; ebd. Bd. 6 (1866), S. 4566 f. So auch in der Literatur: Bluntschli / Dahn (3. Aufl. 1864), § 161.8 (S. 501); V. Ehrenberg, Ver­ sicherungsrecht (1893), S. 292. Vgl. insgesamt Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 73 f.; Neugebauer (1990), S. 84. 1010

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Jene akademischen Streitigkeiten machten die Gesetzgebung im 19. Jahrhun­ dert äußerst schwerfällig. Der württembergische HGB-Entwurf von Hofacker, der schon einige Zeit vor der rechtsdogmatischen Durchdringung des Binnen­ versicherungsrechts verfasst worden war, wusste von solchen wissenschaftlich-­ dogmatischen Problemen freilich noch nichts. Bereits zuvor hat diese Untersuchung beleuchtet, dass die Quellen seiner Gefahrerhöhungsvorschriften überwiegend in der württembergischen Feuerversicherungspraxis sowie – zu einem kleinen Teil – im preußischen Landrecht lagen.1015 Nachdem es sich jedoch in diesen beiden erwähnten Quellen durchgesetzt hatte, die Veräußerung der versicherten Sache als Unterfall der Gefahrerhöhung zu betrachten,1016 so wäre es gar nicht verwun­ derlich, wenn auch der württembergische Entwurfsverfasser die Sachveräuße­ rung konsequent in diesen Kontext gestellt hätte. Das ist allerdings nicht gesche­ hen. Stattdessen bezeugen die Motive zum württembergischen Entwurf, dass er die Veräußerung nach dem Vorbild des niederländischen und des portugiesischen Handelsrechts1017 behandeln wollte; damit betrachtete er sie freilich auch voll­ kommen losgelöst von den Vorschriften zur Gefahrerhöhung.1018 In Art. 447 be­ stimmte er: „Art. 447. Wird ein versicherter Gegenstand verkauft, oder wechselt derselbe sonst den Eigenthümer während des Laufs der Versicherung; so geht mit der Gefahr auch die Ver­ sicherung auf den Käufer oder neuen Eigenthümer über, ohne daß es einer besonderen Übertragung oder auch nur der Einhändigung der Police bedürfte: wenn nicht zwischen dem Versicherer und dem ursprünglichen Versicherten etwas Anderes bedungen wurde.“

Übrigens lag der Hofacker-Entwurf damit nach inhaltlichen Kriterien gar nicht einmal weit vom preußischen Landrecht entfernt, das im Ergebnis auch zu einer cessio legis gelangte;1019 alleine seine systematische Herangehensweise hatte nichts mit den Rechtsgedanken des ALR zu tun. Gesetzgebungstechnisch gesehen stellten die Regelungen des württembergischen HGB-Entwurfes gerade an dieser Stelle das Produkt einer reinen Kompilation aus dem ausländischen Handelsrecht dar, wie auch Osiander kritisch bemerkt hatte.1020 Auf völlig andere Weise behandelten der preußische und bayerische Entwurf das Problem der Sachveräußerung. Erster folgte denjenigen Teilen der Versicherungs­ praxis, welche die schriftliche Einwilligung des Versicherers verlangten, bevor 1015 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 486, 487 mit Verweis auf Art. 73, 74 AVB Würt­ tembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB  I, 14) und §§ 2157–2159 ALR (1794). Dazu bereits ausführlich im vorangehenden Abschnitt § 3 D VII 2 a. 1016 Art. 73, 135  I lit.  b AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828); § 2163 ALR (1794). 1017 Ziff. 1697 Codigo Commercial (1833) (Textausgabe, 1879); Art. 263 Wetboek van Koop­ handel (1838). 1018 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 447. 1019 Im Ergebnis beiden Ansätzen zustimmend Osiander (1844), S. 69. Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 52, der den akzessorischen Übergang der Versicherung als eine Innovation des würt­ tembergischen Entwurfs ansieht. 1020 Osiander (1844), S. 2.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

die Versicherung auf den Erwerber übergehen konnte.1021 Davon zeugt Art. 343 des preußischen Entwurfes: „Art. 343. [1] Wenn während des Laufs der Versicherung das Eigentum des versicherten Gegenstandes durch Kauf oder in anderer Weise auf einen neuen Besitzer übergeht, so geht mit der Gefahr auch die Versicherung auf letzteren über, sofern der Versicherer darin willigt. [2] Die Einwilligung ist nicht erforderlich, wenn der Versicherte auf die Gefahr keinen Einfluss haben kann.“

Die cessio legis des § 2163 ALR bzw. des württembergischen Entwurfes spielte hier nur noch insoweit eine Rolle, als sich die preußischen Entwurfsmotive be­ wusst von ihr abgrenzen wollten: zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer be­stehe ein derart enges persönliches Vertrauensverhältnis, dass dem Versicherer nicht einfach ein neuer Vertragspartner aufgedrängt werden dürfe.1022 Der bayeri­ sche BGB-Entwurf kehrte in Art. 822 zwar wieder zum automatischen Übergang der Versicherung im Zuge der Sachveräußerung zurück.1023 Allerdings ordnete er die Disponibilität dieser Vorschrift an, indem er sich sogar im Gesetzestext aus­ drücklich für die Zulässigkeit von AVB-Klauseln aussprach, welche den Übergang von der Einwilligung des Versicherers abhängig machten. Die Abkehr von dieser strengen Linie zeichnete sich ein weiteres Mal in den Verhandlungen der Dresdener Konferenz ab. Alleine hatte sich der rechtliche Dis­ kurs in jenem komplexen akademischen Streit verfangen, der eingangs schon an­ gedeutet wurde. Die Probleme, die sich den Dresdener Delegierten hier stellten, waren am Ende eher von rechtsdogmatischer denn von praktischer Natur. Ein vorläufiger Entwurf des Dresdener Obligationenrechts – der „Entwurf nach den in erster Lesung erfolgten Beschlüssen“ – wollte unter gewissen Voraussetzungen noch zulassen, dass die Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvertrag auf den Erwerber einer versicherten Sache übergingen:1024 „Art. 984. Mit dem versicherten Gegenstand können im Laufe der Versicherungszeit auch die dem Versicherten in Bezug auf künftige Entschädigungsfälle zustehenden Rechte aus dem Versicherungsvertrage an den Erwerber des versicherten Gegenstandes veräußert werden, insofern dadurch die Gefahr, gegen welche die Versicherung genommen ist, nicht erhöht wird.“

Der Artikel des Vorentwurfes war damit wieder näher an die Lösung gerückt, die schon § 2163 ALR vertreten hatte. Hinter der Norm des Vorentwurfes steckte die Erwägung, dass die versicherte Gefahr sowohl aus objektiven, als auch aus 1021 Dazu auch Duvinage (1987), S. 22; Neugebauer (1990), S. 63; Prange, Theorie des Ver­ sicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 127 f. 1022 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 343. 1023 Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 77. 1024 Art. 984 Vorentwurf zum Dresd. OR Entwurf eines für die deutschen Bundesstaaten ge­ meinsamen Gesetzes über Schuldverhältnisse (nach den in erster Lesung erfolgten Beschlüs­ sen) (Anhang zu Prot. Dresd. OR, Bd. 5 [1865]). Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 393 f. (ablehnend); Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 74; Neugebauer (1990), S. 84.

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subjektiven – also in der Person des Versicherten liegenden – Momenten bestehen könne. Diese subjektive Gefahrkomponente dürfe man nicht völlig außer Acht lassen; dem Versicherer könne daher nicht ohne Weiteres ein anderer Vertrags­ partner aufgedrängt werden. Auf der anderen Seite würde es „grundlos in einer ganzen Reihe von Fällen die Vertragsfreiheit beschränken“, wenn die „Cessibili­ tät“ der Versicherung in Bausch und Bogen ausgeschlossen wäre – also auch dort, wo subjektive Gefahrmomente gar keine Rolle spielten, weil der Versicherungs­ nehmer gar keinen Einfluss auf die Höhe der Gefahr hatte. Art. 984 des Entwurfs nach erster Lesung stellte gewissermaßen einen Kompromiss dar: die Versiche­ rung sollte zusammen mit der veräußerten Sache übertragbar sein, solange durch die Veräußerung selbst keine Gefahrerhöhung eintrete.1025 Die Debatte, die unter den Dresdener Delegierten geführt wurde, demonstriert auch, wie eng die Institute der Gefahrerhöhung und der Sachveräußerung in der Rechtsauffassung jener Zeit miteinander verknüpft waren. Alleine scheiterte die Regel des Vorentwurfs schließlich doch an den schweren dogmatischen Bedenken einiger Konferenzteilnehmer, die jene Lösung für un­ vereinbar mit der Dogmatik des versicherbaren Interesses hielten: der Vertrags­ gegenstand der Versicherung sei nämlich nicht die veräußerte Sache als solche, sondern das wirtschaftliche Interesse des Veräußerers – das Interesse selbst sei aber unübertragbar und müsse daher beim Veräußerungsvorgang erlöschen. Letztlich strich man die Regel komplett aus dem Obligationenrechtsentwurf. Man überließ es wieder der Rechtspraxis und der Justiz, eine zweckentsprechende Lösung für die Probleme der Sachveräußerung zu finden.1026 Nicht versicherungspraktische, sondern theoretisch-dogmatische Bedenken waren es, welche die Dresdener Kon­ ferenz dazu veranlasst hatten, von einer entsprechenden Regelung ganz abzusehen. Ein bemerkenswerter Aspekt an der gesamten Debatte um die Sachveräußerung ist, dass der Rechtsgedanke aus § 2163 ALR während des ganzen 19. Jahrhunderts immer wieder aufgegriffen wurde – also die Idee, die Veräußerung bloß als eine Art von Gefahrerhöhung zu behandeln und infolgedessen die Versicherung als Ak­ zessorium zur versicherten Sache anzusehen. Das geschah auf zwei unterschied­ liche Weisen: einerseits durch einen Teil der AVB, anderseits durch Wissenschaft und Gesetzgebung, wobei insbesondere die letzteren immer wieder unmittelbar auf das Vorbild des § 2163 ALR rekurrierten.1027

1025

Dazu insgesamt Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3197 f.; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 83 f., 87. Ein noch früherer Vorentwurf zum Obligationenrecht hatte demgegenüber sogar die Versicherung als Akzessorium zum versicherten Gegenstand angesehen, vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3191 ff.; die Ansicht war aber auf heftige Kritik gestoßen, sodass für den Ent­ wurf nach erster Lesung schließlich die hier erörterte „vermittelnde“ Lösung gewählt wurde. 1026 Prot. Dresd. OR, Bd. 6 (1866), S. 4567. Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 88 f.; Neugebauer (1990), S. 84. 1027 So z. B. ausdrücklich V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 393 f.; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 71.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

b) Das Versicherungsvertragsgesetz als Schmelztigel mehrerer dogmatischer Ansätze Anders als der Dresdener Obligationenrechtsentwurf schaffte es das Versiche­ rungsvertragsgesetz schließlich, all den widerstreitenden Rechtspositionen zur Sachveräußerung einen einheitlichen, inhaltlich abgeschlossenen Normenkomplex entgegenzusetzen. Ebenso wie die Gefahrerhöhungsvorschriften erlebte aber auch die Rechtsmaterie der Sachveräußerung während des laufenden Gesetzgebungs­ verfahrens eine tiefgreifende Umgestaltung. aa) Die schrittweise Rückkehr des VVG-Gesetzgebers zur cessio legis der Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsvetrag Der Reichsjustizamtsentwurf von 1902 behandelte die Veräußerung der ver­ sicherten Sache – so wie auch das spätere VVG – im allgemeinen Teil der Scha­ densversicherung. Vorgesehen waren in diesem Entwurfsstadium zunächst fol­ gende Regeln: „§ 59. [1] Wird die versicherte Sache von dem Versicherten veräußert, so tritt an Stelle des Veräußerers der Erwerber in die sich während der Dauer seines Eigenthums aus dem Ver­ sicherungsverhältnis ergebenden Rechte und Pflichten des Versicherten ein, sofern nicht ein Anderes zwischen dem Erwerber und dem Veräußerer vereinbart ist. [2] Für die letzte vor dem Eintritte fällig gewordene Prämie haftet der Erwerber neben dem Veräußerer als Gesamtschuldner. [3] Auf eine Bestimmung des Versicherungsvertrages, durch welche von der Vorschrift des Abs. 1 zu Nachtheile des Erwerbers abgewichen wird, kann sich der Ver­ sicherer nicht berufen. Es kann jedoch bestimmt werden, daß das Versicherungsverhältniß mit der Veräußerung endigt.“

In seiner Grundkonzeption sah der Entwurf also nach § 59 I die cessio legis aller Rechte und Pflichten aus dem Versicherungsverhältnis vor, wenn das Eigentum an der versicherten Sache übertragen wurde.1028 Der noch in der Dresdener Obligatio­ nenrechtskommission mehrheitlich vertretenen Meinung, die Versicherung müsse in einem solchen Falle gemeinsam mit dem versicherbaren Interesse erlöschen,1029 hatte der Entwurf bereits eine klare Absage erteilt. Indes konnten sowohl der Ver­ äußerer und der Erwerber (§ 59 I) als auch der Versicherer selbst (§ 59 III 2) den Übergang der Versicherung ausschließen. Mit § 59 I bewegte sich der Entwurf in der Nähe der seeversicherungsrechtlichen Vorschrift des § 899 I HGB; wie bereits erwähnt, hatte auch das HGB das Einvernehmen zwischen Veräußerer und Erwer­ ber gefordert, um die Versicherung gleichzeitig mit dem veräußerten Gegenstand 1028

Vgl. auch Müssener (2008), S. 224 f. (zum VVG von 1908); Prange, Kritische Betrach­ tungen (1904), S. 266 (zum Entwurf von 1903); Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 354. 1029 So während des Gesetzgebungsverfahrens noch Vatke, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 375, 378; eine cessio legis befürwortend aber bereits Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 281.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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„abzutreten“. Andererseits kam der Entwurfsverfasser mit seinem § 59 III 2 der Vertragspraxis der Feuerversicherer entgegen: nach wie vor durfte der Versicherer also durch seine AVB den Übergang der Versicherung verhindern. Weit in die Ge­ staltung der Versicherungspraxis hätte die Entwurfsfassung von 1902 jedenfalls nicht eingegriffen. Ein Novum im Vergleich zur bisherigen Versicherungspraxis stellte lediglich § 59 II des Reichsjustizamtsentwurfs dar. Falls der Übergang der Versicherung tat­ sächlich stattgefunden hatte, sollten der alte und der neue Versicherungsnehmer als Gesamtschuldner auf die Prämie der laufenden Versicherungsperiode haften.1030 Insbesondere jene solidarische Prämienhaftung erinnert an eine Bestimmung des schweizerischen VVG-Entwurfes von Hans Roelli. Auch dieser sah grundsätzlich den automatischen Übergang aller Rechte und Pflichten aus dem Versicherungs­ vertrag vor,1031 um dann in Ansehung der Prämie zu bestimmen: „Art. 49. […] [2] Für die zur Zeit der Handänderung fällige Prämie haftet dem Versicherer, neben dem Erwerber, auch der bisherige Eigentümer.“

Eine ähnliche Idee hatte sich zu dieser Zeit im sozialpolitisch reformierten Mietrecht entwickelt. Das BGB hatte sich schon in seiner Fassung von 1900 vom gemeinrechtlichen Grundsatz „Kauf bricht Miete“ (emptio tollit locatum)1032 ab­ gekehrt und bestimmte nunmehr in § 571 I – dem heutigen § 566 I BGB –, dass das Mietverhältnis ipso iure auf den Grundstückserwerber übergehen solle.1033 § 571 II BGB a. F., heute § 566 II BGB, ordnete dabei aber an, dass der Erwerber und der Veräußerer eines vermieteten Grundstücks in gewissen Fällen gesamtschuldne­ risch für etwaige noch nicht erfüllte Ansprüche des Mieters haften mussten. Zu­ mindest die amtliche Gesetzesbegründung zum VVG sprach ausdrücklich davon, der Gesetzgeber habe mit der gesamtschuldnerischen Prämienhaftung den Rechts­ gedanken des § 571 II BGB a. F. zweckentsprechend auf das Versicherungsrecht übertragen wollen.1034 Möglicherweise hat sich der Entwurfsverfasser hier auch einfach nur an die Norm des Roelli-Entwurfes angelehnt und das Ergebnis seiner Arbeiten dann nachträglich mit dem Argument des § 571 II BGB a. F. unterfüttert.

1030

Duvinage (1987), S. 69; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 354 f. Art. 49 I Entwurf VVG Schweiz (1902). Vgl. Duvinage (1987), S. 69; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 354 f. 1032 Zum Grundsatz „emptio tollit locatum“ im gemeinen Recht: Bluntschli / Dahn (3. Aufl. 1864), § 119 (S. 340 f.); Gerber (5. Aufl. 1855), § 180 (S. 437 f.) (auch zur beginnenden Aufwei­ chung dieses Grundsatzes); Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847), § 292.III (S. 63 f.) (auch zur Auf­ weichung); von Vangerow, Bd. 3 (7. Aufl. 1869), § 643 (S. 453). Vgl. auch Kaser, Bd. 1 (2. Aufl. 1971), § 132.III.4 (S. 567); Luig, in: HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 1679. 1033 Hedemann (1935), S. 44; Luig, in: HRG, Bd. 2 (2. Aufl. 2012), Sp. 1679, 1680. Vgl. dem­ gegenüber Benöhr, in: Peter / Stark / Tercier (Hrsg.) (1982), S. 57, 74 f., wonach der Dresdener Obligationenrechtsentwurf (Art. 549) noch der Grundsatz „Kauf bricht Miete“ statuierte; ebenso Mugdan (Neudruck 1979), S. 213 f., zum Grundsatz „Kauf bricht Miete“ im Entwurfs­ stadium des BGB. 1034 Mot. VVG (1908) zu §§ 69–73. 1031

538

§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Unterstützung fand das Vorhaben des Gesetzgebers auch in der rechtswissenschaft­ lichen Literatur, vor allem im prominenten Lehrbuch von Victor Ehrenberg, der schon vor Beginn der Arbeiten am VVG eine gesamtschuldnerische Prämienhaf­ tung von Veräußerer und Erwerber befürwortet hatte.1035 Als gesichert darf jeden­ falls gelten, dass die neue Bestimmung in keinem Fall eine Erfindung der Versi­ cherungsvertragspraxis war. Der erste Entwurf des VVG war den Versicherungsgesellschaften insgesamt noch sehr weit entgegengekommen. Im Großen und Ganzen wollte er die vor­ gesetzliche Feuerversicherungspraxis weitestgehend erhalten und ergänzen, und zwar sogar zugunsten der Versicherer. Im Fortgang des Gesetzgebungsverfah­ rens änderte sich das aber: schon unter dem veröffentlichten Entwurf von 1903 konnte der Versicherer den Übergang der Versicherung nicht mehr einfach durch eine entsprechende Klausel in seinen AVB abwehren, wie es noch § 53 III 2 des Reichsjustizamtsentwurfs ermöglicht hatte. Dem war die Kritik des Kaiserlichen Aufsichtsamts vorangegangen – genauer gesagt die Kritik von dessen Präsidenten Gruner, der an den Sachverständigenberatungen im Reichsjustizamt teilgenommen hatte. Nach der Auffassung Gruners hatte die Binnenversicherung insgesamt einen so hohen volkswirtschaftlichen Stellenwert erreicht, dass der Gesetzgeber auf eine fortgesetzte „Stetigkeit der Versicherung“ achten solle; vor allem bei Immobilien­ verkäufen dürfe die Versicherung nicht einfach endigen, wenn das Grundstück einen neuen Eigentümer erhalte.1036 Hinter den Erwägungen des Aufsichtsamtes steckte also auch der alte staatswirtschaftliche Wunsch, einen möglichst großen Teil der Gebäude unter Versicherungsschutz zu bringen. Zunächst widersprachen Sachverständige aus der Feuerversicherungswirtschaft diesem Regelungsvorschlag entschieden, zumal er auf alle Zweige der Schadensversicherung ausgedehnt wer­ den sollte: insbesondere, wenn Mobilien veräußert würden, komme es oft zu einer Ortsveränderung derselben. Für den Versicherer sei das Schadensrisiko dann gar nicht mehr überschaubar. Doch gaben die Versicherer ihre Bedenken auf, nachdem in den Sachverständigenkommissionen darauf hingewiesen worden war, dass die Vorschriften zur Gefahrerhöhung freilich kumulativ neben §§ 59, 60 des Entwur­ fes anwendbar bleiben sollten, falls sich mit der Sachveräußerung gleichzeitig das versicherte Risiko vermehrte.1037 Letztlich einigten sich die Sachverständigen auf einen Kompromiss, der im Entwurf von 1903 tatsächlich zur Umsetzung gelangte und schließlich auch sei­ nen Weg ins VVG von 1908 fand. Den Versicherern wurde auf der einen Seite das Recht aus § 59 III 2 des Reichsjustizamtsentwurfs genommen, den Übergang der 1035

V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 501 f. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.47 ff. (Feuerversi­ cherung 5. Sitzung zu § 59 RJA-E = § 69 VVG); ähnlich im Bezug auf hagelversicherte Felder: „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.78 f. (Hagelversicherung 2. Sitzung zu § 59 RJA-E = § 69 VVG). 1037 So auch Mot. VVG (1908) zu §§ 69–73; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 69–73 Rn. 1.3, 4. 1036

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Versicherung in ihren AVB auszuschließen. Praktisch im Gegenzug durfte auch zwischen Veräußerer und Erwerber nicht mehr verabredet werden, dass die Ver­ sicherung nicht auf den Erwerber übergehe.1038 Der Entwurf von 1903 ersetzte den umfangreichen § 59 des Reichsjustizamtsentwurfs nach alledem schlicht und ab­ schließend durch den Rechtssatz: „§ 66. [1] Wird die versicherte Sache von dem Versicherten veräußert, so tritt an Stelle des Veräußerers der Erwerber in die sich während der Dauer seines Eigenthums aus dem Ver­ sicherungsverhältnis ergebenden Rechte und Pflichten des Versicherten ein. […]“

Diese Vorschrift entsprach dem später in Kraft getretenen § 69 I VVG.1039 Da­ mit hatten sich die Regeln zur Sachveräußerung im VVG von ihrer ursprüng­ lichen Konzeption entfernt und zu einer reinen cessio legis gewandelt, die durch keinerlei Vertragsabreden mehr beschränkt werden konnte. Die Motive zum VVG brachten später unmissverständlich zum Ausdruck, dass der Gesetzgeber mit die­ ser Vorschrift sowohl mit der seerechtlichen Regel des § 899 I HGB als auch mit dem typischen Einwilligungsvorbehalt der Versicherungspraxis brechen wollte. An deren Stelle sollte ungeschmälert ein automatischer Vertragsübergang treten, welcher der Regel des Th. II Tit. 8 § 2163 ALR entspreche.1040 Letztlich hatte sich der VVG-­Gesetzgeber also mit unmissverständlichen Worten für die Grundregel entschieden, die das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten zum ers­ ten Mal in das deutsche Binnenversicherungsrecht eingeführt hatte – die Rolle des § 2163 ALR dürfte sich am Ende allerdings darauf beschränkt haben, den in den Sachverständigenkommissionen bereits gefundenen Kompromiss argumentativ zu stützen. Die Rückkehr zur cessio legis schien für den Gesetzgeber offenbar so überzeugend gewesen zu sein, dass er zeitgleich mit der Verkündung des VVG auch den § 899 I HGB reformierte: nun haftete auch der Seeversicherungsvertrag akzessorisch am versicherten Schiff oder der versicherten Ware und ging bei einer Sachveräußerung auf den Erwerber über.1041 Unberührt blieb bei diesem gesamten Prozess die Vorschrift zur gesamtschuld­ nerischen Prämienhaftung von Veräußerer und Erwerber in § 59 II des Reichsjus­ tizamtsentwurfs. Sie fand später ihren Platz in § 69 II VVG.1042 Übrigens übertrug man noch in einem weiteren Punkt die Rechtsgedanken des BGB auf das Versicherungsrecht. Einer Anregung aus den Sachverständigenkom­ 1038 Zur Kompromissfindung vgl. die „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.47 ff. (Feuerversicherung 5. Sitzung zu § 59 RJA-E = § 69 VVG); vgl. auch Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 187. 1039 § 66 I VVG-E (1903); § 67 I VVG-BRV (1904); § 69 I VVG-RTV (1905); § 69 I VVG-RTV (1907); § 69 I VVG (1908). 1040 So ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu §§ 59–63. 1041 Art. 1 Ziff. XV Gesetz, betreffend Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversicherung v.  30. 05. 1908 (RGBl.  1908, Nr. 30 S. 307). Vgl. dazu Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 204. 1042 § 59 RJA-E (1902); § 67 I VVG-E (1903); § 67 II VVG-BRV (1904); § 69 II VVG-RTV (1905); § 69 II VVG-RTV (1907); § 69 II VVG (1908).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

missionen folgend1043 näherte sich das VVG ab seiner Entwurfsfassung von 1903 den Vorschriften des BGB an, welche einen Forderungsgläubiger vor den Folgen einer Abtretung schützten.1044 Nach § 69 III VVG musste der Versicherer die For­ derung des Erwerbers aus dem Versicherungsvertrag erst dann gegen sich gelten lassen, wenn er von der Sachveräußerung Kenntnis erlangt hatte. Dieselbe Norm erklärte schließlich auch §§ 406–408 BGB1045 auf das Verhältnis zwischen dem Versicherer und dem Erwerber für entsprechend anwendbar, da der Versicherer sich in einer ähnlichen Interessenlage befinde wie jeder Gläubiger einer abgetre­ tenen Forderung.1046 bb) Die Sachveräußerungsanzeige und ihre Nähe zur Gefahrerhöhungsanzeige Der Grundregel des akzessorischen Übergangs der Versicherung, die in § 69 VVG ihren Ausdruck gefunden hatte, zog allerdings schon § 70 VVG wieder engere Grenzen. Er räumte sowohl dem Versicherer als auch dem Erwerber des versicher­ ten Gegenstandes ein befristetes Kündigungsrecht ein. Außerdem bestimmte er, dass der Veräußerungsvorgang dem Versicherer unverzüglich zur Anzeige gebracht werden musste. Auch der spätere § 70 VVG hatte im Entwurf des Reichsjustizam­ tes jedoch noch eine andere Gestalt besessen. Dort hatte § 60 zu den Rechtsfolgen einer Sachveräußerung bestimmt: „§ 60. [1] Tritt der Erwerber nach §. 59 in die Rechte und Pflichten des Versicherten ein, so ist der Versicherer berechtigt, ihm das Versicherungsverhältniß unter Einhaltung einer Frist von mindestens zwei Wochen zu kündigen. Das Kündigungsrecht erlischt, wenn es nicht binnen zwei Wochen nach dem Zeitpunkt ausgeübt wird, in welchem einer der Betheiligten die Veräußerung anzeigt. [2] Tritt der Versicherungsfall später als zwei Wochen nach der Veräußerung ein, so ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn die Anzeige bis zum Ablaufe dieser Frist unterblieben ist. Die Verpflichtung des Versicherers bleibt jedoch bestehen, wenn der Versicherungsfall nach dem Erlöschen des Kündigungs­ rechts eintritt. [3] Hat der Erwerber von der Versicherung keine Kenntnis gehabt, so kann er das Versicherungsverhältniß ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist kündigen. Das Kündi­ gungsrecht erlischt, wenn der Erwerber es nicht binnen zwei Wochen von dem Zeitpunkt an ausübt, in welchem er von der Versicherung Kenntniß erlangt. [4] Erfolgt eine Kündigung, so hat der Veräußerer dem Versicherer die Prämie zu zahlen, jedoch nicht über die zur Zeit der Beendigung des Versicherungsverhältnisses bestehende Versicherungsperiode hinaus; eine Haftung des Erwerbers für die Prämie findet in diesem Falle nicht statt.“

1043 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.49 (Feuerversiche­ rung 5. Sitzung zu § 60 RJA-E = §§ 70, 71 VVG). 1044 § 67  II VVG-E  (1903); § 67  III VVG-BRV (1904); § 69  III VVG-RTV (1905); § 69  III VVG-RTV (1907); § 69 III VVG (1908). 1045 Entspr. der heutigen Fassung des BGB. 1046 Mot. VVG (1908) zu §§ 69–73.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Sowohl dem Versicherer als auch dem Erwerber des versicherten Gegenstandes war es schon unter den § 60 I, III 1 des Entwurfs von 1902 möglich, den Versiche­ rungsvertrag zu kündigen. Für den Erwerber galt das jedoch nur, falls er während des Veräußerungsvorgangs von der Versicherung keine Kenntnis gehabt hatte. Die Anzeige des Veräußerungsvorganges, welche nach § 60 II dem Erwerber obliegen sollte, hatte hier hingegen nur wenig mit den Anzeigen gemein, die der Versicherungsnehmer seinem Versicherer etwa vor Abschluss des Vertrages oder im Falle einer Gefahrerhöhung erstatten musste. Nach der ersten Konzeption des Reichsjustizamtsentwurfes handelte es sich bei jener Anzeige um eine objektive Bedingung für das Bestehen des Versicherungsanspruches: der Erwerber konnte keinen Anspruch gegen den Versicherer geltend machen, wenn seit dem Eigen­ tumsübergang zwei Wochen vergangen waren und dem Versicherer binnen dieser Frist noch immer keine Anzeige über die Veräußerung erstattet worden war. Auf das Verschulden des Erwerbers kam es nicht an, obgleich jener ja möglicherweise gar nichts vom Bestand des Versicherungsvertrages wusste. Die Lösung, die das Reichsjustizamt in diesem jungen Gesetzgebungsstadium entworfen hatte, harmo­ nierte also nicht mit dem „Verschuldensprinzip“, das der Gesetzgeber sonst auf fast alle gesetzlichen oder vertraglichen Sanktionen gegen den Versicherungsnehmer anwenden wollte; gewissermaßen stellte § 60 II einen wertungsmäßigen Fremdkör­ per im System des VVG-Entwurfes dar. Wahrscheinlich ist deshalb, dass sich der Entwurfsverfasser zumindest in dieser Hinsicht noch sehr stark an der Versiche­ rungspraxis orientiert hat: der Regelungskomplex in § 60 des Entwurfes erinnert noch erheblich an die oben zitierten AVB des Verbands deutscher Privat-Feuer­ versicherungs-Gesellschaften von 1886. Diese hatten die automatische Suspension des Versicherungsvertrages vorgesehen, solange der Erwerber die Veräußerung nicht angezeigt hatte; selbst nach der erfolgten Veräußerungsanzeige hatten sie dem Versicherer ein Wahlrecht zugestanden, ob er den Vertrag fortsetzen oder kündigen wollte.1047 Die sachverständige Kritik an jener Entwurfsfassung ließ erwartungsgemäß nicht lange auf sich warten. Einerseits hieß es in den Sachverständigenkommissio­ nen von 1902, der Gesetzgeber dürfe den Leistungsanspruch des Erwerbers nicht einfach ipso iure ausschließen, sobald eine gewisse Frist nach der Veräußerung verstrichen sei  – das gelte umso mehr, als der Veräußerer und der Erwerber ja nach wie vor gesamtschuldnerisch auf die gesamte Prämien der laufenden Ver­ sicherungsperiode hafteten.1048 In Anbetracht dieser grundlegenden Kritik ent­ schloss sich der Gesetzgeber, den § 60 des ersten Entwurfes grundlegend umzu­ gestalten. Während der Umarbeitung des Reichsjustizamtsentwurfes musste der 1047

§ 5 I Nr. 4, II Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886); vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 69–73 Rn. 1.2. 1048 Vgl. dazu nochmals die Kritik u. a. vom Präsidenten des Kaiserlichen Aufsichtsamts, Gruner, an dem Regelungskomplex: „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.47 ff. (Feuerversicherung 5. Sitzung zu § 59 RJA-E = § 69 VVG).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Gesetzgeber irgendwann zu der Überzeugung gelangt sein, dass die bereits im Entwurf enthaltene, fein differenzierte Dogmatik der Gefahrerhöhungsvorschrif­ ten auch auf die Anzeige der Sachveräußerung passte1049 – ein Schluss, der überaus nahe lag, wenn man sich vergegenwärtigt, in welch engem Zusammenhang Ge­ fahrerhöhung und Sachveräußerung im ALR und in der Versicherungspraxis ge­ standen hatten. Der Entwurf von 1903 verlangte nun ausdrücklich, dass entweder der Veräußerer oder der Erwerber die Veräußerung dem Versicherer gegenüber anzeigen muss­ te.1050 Hatte einer dieser beiden die Anzeige der Veräußerung jedoch ordnungsge­ mäß erstattet, so blieb dem Versicherer immer noch das Wahlrecht, ob er die im Grundsatz ipso iure übergegangene Versicherung kündigen oder fortführen woll­ te.1051 In der Folge kam es kaum noch zu substantiellen Diskussionen um diesen Normenkomplex. Die Bestimmungen schienen weitgehende Akzeptanz gefunden zu haben und wurden letztendlich zu den §§ 70 I, 71 VVG:1052 „§ 70. [1] Der Versicherer ist berechtigt, dem Erwerber das Versicherungsverhältnis unter Einhaltung einer Frist von einem Monate zu kündigen. Das Kündigungsrecht erlischt, wenn der Versicherer es nicht innerhalb eines Monats von dem Zeitpunkte an ausübt, in welchem er von der Veräußerung Kenntnis erlangt. […] § 71. [1] Die Veräußerung ist dem Versicherer unverzüglich anzuzeigen. Wird die Anzeige weder von dem Erwerber noch dem Veräußerer unverzüglich gemacht, so ist der Versiche­ rer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungsfall später als einen Monat nach dem Zeitpunkt eintritt, in welchem die Anzeige dem Versicherer hätte zugehen müssen. [2] Die Verpflichtung des Versicherers bleibt bestehen, wenn ihm die Veräußerung in dem Zeitpunkte bekannt war, in welchem ihm die Anzeige hätte zugehen müssen. Das Gleiche gilt, wenn zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls die Frist für die Kündigung des Versicherers abgelaufen und eine Kündigung nicht erfolgt ist.“

Damit waren übrigens auch einige Rechtsgedanken aus der Gefahrerhöhungs­ dogmatik des VVG in die Rechtsmaterie der Sachveräußerung eingewandert – vor allem solche, die den Schutz des Versicherungsnehmers intendierten. Das begann schon bei dem Terminus einer „unverzüglichen“ Anzeige in § 71 I 1 VVG, die ein Verschuldenselement implizierte (§ 121 I BGB). Der Versicherungs­ nehmer verlor also seinen Anspruch aus dem Versicherungsvertrag nicht, falls er die grundsätzlich erforderliche Veräußerungsanzeige „ohne schuldhaftes Zö­ gern“ unterlassen hatte. Eine ganz ähnliche Lösung hatte das VVG ja bereits in 1049

So ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu §§ 69–73. § 66 II VVG-E (1903). Vgl. Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 250; Roelli, ZVers­ Wiss 4 (1904), 328, 354 f. 1051 § 68 VVG-E (1903); befürwortend Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 251. Vgl. auch Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 187 (zur entsprechenden Bestimmung der VVG-BRV). 1052 §§ 68, 66 II VVG-E (1903) entspr. §§ 68, 69 S. 1 VVG-BRV (1904); §§ 70 I, 71 I 1 VVGRTV (1905); §§ 70 I, 71 I 1 VVG-RTV (1907); §§ 70 I, 71 I 1 VVG (1908). Im Gegensatz dazu hatte § 71 I 2, II VVG (1908) seine Wurzeln in § 69 VVG-E (1903). 1050

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Ansehung der Gefahrerhöhungsanzeige vorgesehen.1053 Aber auch die beiden Ein­ schränkungen der Sanktionsfolge in § 71 II VVG bewegten sich parallel zu den entsprechenden Gefahrerhöhungsvorschriften: der Versicherer konnte trotz einer unterlassenen Veräußerungsanzeige seine Ersatzleistung nicht verweigern, wenn er bereits aus anderen Quellen Kenntnis von der Veräußerung erlangt hatte oder aber wenn er den Versicherungsvertrag nicht fristgerecht gekündigt hatte.1054 Zu­ letzt erinnert auch § 70 I 1 VVG an die analog ausgestalteten Gefahrerhöhungs­ vorschriften.1055 Danach konnte der Erwerber die Vertragskündigung zwar nach wie vor nicht abwehren, doch immerhin gewährte das Gesetz dem gekündigten Erwerber eine Schonfrist von einem Monat, um in der Zwischenzeit bei einer an­ deren Gesellschaft Deckung zu finden.1056 Gerade mit der zuletzt genannten Bestimmung hat der VVG-Gesetzgeber ein Modell geschaffen, das sich deutlich vorteilhafter für den Erwerber ausnahm als die automatische Vertragssuspension, welche viele Feuerversicherungsbedingun­ gen infolge eines Veräußerungsvorgangs vorsahen. Im Dunstkreis jener Vorschrift spielte sich ab dem Jahr 1904 erneut ein mittlerweile schon wohlbekanntes Phäno­ men ab: mehrere Feuerversicherer passten ihre Versicherungsbedingungen partiell dem Entwurf von 1903 an, um einer etwaigen Regulierung durch das Kaiserliche Aufsichtsamt zuvorzukommen. Nun gewährten auch viele Versicherungsgesell­ schaften dem Erwerber des versicherten Gegenstandes eine „Schonfrist“, bevor sie den Versicherungsvertrag auflösten. So ergänzte beispielsweise die „Erklä­ rung“ der Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschaften die Verbandsbedingungen von 1886 um den Nachtrag:1057 „Zu § 5, 4. Die Entschädigungsverpflichtung der Gesellschaft besteht beim Eigentums­ wechsel unbeweglicher Gegenstände zunächst noch einen Monat fort, soweit nicht die Versicherung nach dem Vertrage früher endigt.“

Auf die Einführung entsprechender AVB-Klauseln hatte das Kaiserliche Auf­ sichtsamt im Übrigen seit seiner Gründung im Jahr 1901 gedrungen, um dem Er­ werber die Chance zu gewähren, sich vor der Auflösung des Vertrages anderweitig zu versichern1058 – umgesetzt haben die meisten Versicherer eine solche „Schon­ frist“ aber erst, nachdem der Entwurf von 1903 zum Druck gelangt war. Auch in 1053 § 28 I VVG (1908) zur „unverzüglichen“ Gefahrerhöhungsanzeige. Zum „Verschuldens­ prinzip“ bei einer unterlassenen Gefahrerhöhungsanzeige, vgl. schon § 3 D VII 2 b aa dieser Forschungsarbeit. 1054 Vgl. § 28 I, II VVG (1908) zum Ausschluss des Kündigungsrechts nach der unterlassenen Gefahrerhöhungsanzeige. Dazu ebenso § 3 D VII 2 b aa dieser Forschungsarbeit. 1055 Vgl. § 27 I 1 VVG (1908) zum Kündigungsrecht des Versicherers infolge einer objektiven Gefahrerhöhung. Dazu auch § 3 D VII 2 b bb dieser Forschungsarbeit. 1056 Mot. VVG (1908) zu §§ 69–73. 1057 Ähnlich § 10 I 5 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 78); Art. 25 I 3 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71). Vgl. Müssener (2008), S. 226; Neugebauer (1990), S. 153. 1058 Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1903, S. 21.

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puncto Sachveräußerung war die Praxis damit letztlich der Gesetzgebung gefolgt und nicht – wie man zunächst glauben möchte – die Gesetzgebung der Praxis. 4. Gemeisames Fazit zur Gefaherhöhung und zur Veräußerung der versicherten Sache Alles in allem haben gerade die komplexen Fragen der Gefahrerhöhung und der Veräußerung der versicherten Sache ein Licht darauf geworfen, wie nachhal­ tig einige Teile des deutschen Binnenversicherungsrechts von gesetzgeberischen Initiativen und Ideen geprägt waren. Die Untersuchung dieser beiden Elemente hat gewissermaßen im Miniaturformat gezeigt, welche Prozesse dazu geführt haben, dass sich das VVG teils erheblich von der vorvertraglichen Praxis entfernt hat: zum einen das Bestreben, ein dogmatisch verfeinertes, in sich geschlossenes System von Rechtsnormen zu schaffen; zum anderen aber auch die offen formulierte Intention, den Versicherungsnehmer vor allzu großen Härten der Vertragspraxis zu schützen. Der nachhaltige Einfluss der Gesetzgebung insbesondere auf das Feuerversi­ cherungsrecht setzte aber nicht erst mit der Kodifikation des Versicherungsver­ tragsgesetzes ein. Gerade hinsichtlich der Gefahrerhöhung und der Sachveräuße­ rung ließ sich beobachten, wie sich schon die Feuerversicherungspraxis partiell an das Allgemeine Landrecht von 1794 angelehnt hatte und wie häufig während des gesamten 19. Jahrhunderts und sogar während der Arbeiten am VVG selbst die Rechtsgedanken des ALR ausdrücklich diskutiert und rezipiert wurden. Die außer­ gewöhnlich frühe Kodifikation des Binnenversicherungsrechts im Allgemeinen Landrecht hat auf diese Weise Entwicklungsimpulse gesetzt, deren Auswirkungen bis ins modernere Versicherungsvertragsrecht sichtbar bleiben.

VIII. Die Rückabwicklung der Versicherungsprämie im Falle der Vertragsnichtigkeit oder -auflösung Gerade die AVB der deutschen Feuerversicherer kannten  – wie die gesamte bisherige Analyse gezeigt hat – eine große Zahl von Sanktionsvorschriften, die beinahe jedes Fehlverhalten des Versicherungsnehmers mit großer Schärfe pönali­ sierten. Mit einigen Abstrichen galt dasselbe für die deutschen Lebensversicherer. Häufig ordneten die AVB die automatische Nichtigkeit des Versicherungsvertrages an oder gewährten der Versicherungsgesellschaft zumindest ein weitreichendes Kündigungsrecht. Darüber hinaus standen solchen Strafklauseln aber häufig noch Vorschriften über die Rückabwicklung der bereits vorausbezahlten Versicherungs­ prämien zur Seite, die schon für sich alleine genommen einige Nachteile für den Versicherungsnehmer mit sich brachten. In sämtlichen AVB hatte sich im Grundsatz das sogenannte Prinzip der „Un­ teilbarkeit der Prämie“ etabliert: falls der Vertrag inmitten einer laufenden Ver­

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sicherungsperiode erlosch, verfiel häufig die volle Prämie, die der Versicherungs­ nehmer auf diese Periode gezahlt hatte, an den Versicherer. Anderes galt zum Teil im Lebensversicherungsrecht, soweit dort das Schicksal der angesparten Prämien­ reserve in Frage stand. Über den Umgang mit jenem Sparguthaben hatten sich in den Lebensversicherungsbedingungen aller großen Gesellschaften bis zum Ende des 19. Jahrhunderts komplexe Verfahren gebildet, die in aller Regel dazu führten, dass sich der Versicherungsnehmer zumindest einen Teil seiner Prämienreserve auszahlen lassen konnte. Im Folgenden sollen jene beiden Phänomene gesondert beleuchtet werden. 1. Das Prinzip der „Unteilbarkeit der Prämie“ Die Grundregel der Vertragsrückabwicklung, das sogenannte Prinzip der „Un­ teilbarkeit der Prämie“, hatte seinen Ursprung in rein versicherungstechnischen Erwägungen. Die ältesten rationell arbeitenden Versicherungsgesellschaften, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden waren, hatten bei der Kalkulation des Risikos und der Risikoprämie noch nicht über das statistische Material oder die technische Erfahrung verfügt, um eine angemessene Versicherungsprämie für einen zeitlichen Bruchteil der Versicherungsperiode zu kalkulieren. In der Früh­ zeit des rationellen Versicherungsbetriebs konnten sie in der Regel nur die Scha­ denswahrscheinlichkeit für den ganzen Vertragszeitraum oder für ein ganzes Versicherungsjahr statistisch hinreichend exakt ermitteln.1059 Jene versicherungs­ technischen Schwierigkeiten gewinnen eine plastische Gestalt, wenn man nur das Beispiel eines mehrjährigen Feuerversicherungsvertrages betrachtet, der Anfang Dezember abgeschlossen wurde und dessen einzelne Versicherungsperioden daher jedes Jahr wieder im Dezember anbrachen. Erlosch der Vertrag nun schon Ende Februar, so stand der Versicherer vor dem Problem, dass sich bekanntermaßen die meisten Brände in den dunklen Wintermonaten ereignen. Wenn er nun ein­ fach pro rata temporis 9∕¹² der Prämie zurückgezahlt hätte – wie es möglicherweise der ersten Intuition entspricht –, so könnte der einbehaltene Bruchteil von 3∕¹² der Jahresprämie in keiner Weise die faktisch getragene, besonders hohe Gefahr der Wintermonate kompensieren. Nach dem „Prinzip der Unteilbarkeit der Prämie“ wäre hingegen auch im Falle einer Vertragsauflösung im Februar die gesamte, bereits im Voraus bis zum Dezember entrichtete Prämie verfallen. Im ausgehenden 19. Jahrhundert hielten die Versicherungsgesellschaften noch immer an jenem Grundsatz aus der versicherungstechnischen Frühzeit fest. Zum Beispiel bestimmten die Standardbedingungen des Verbandes deutscher PrivatFeuerversicherungs-Gesellschaften noch im Jahr 1874, zur „Rückerstattung der für das laufende Jahr gezahlten Prämie“ sei „die Gesellschaft in keinem Falle verbun­ 1059

Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 320. In diese Richtung auch Duvinage (1987), S. 192 f.; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 374 f.; Müssener (2008), S. 204.

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den“, wenn der Versicherungsvertrag wegen einer Gefahrerhöhung aufgelöst wor­ den war .1060 Selbst einige der öffentlich-rechtlichen Brandversicherungsanstalten, die ihre Prämien nach mathematisch-rationellen Kriterien kalkulierten, brachten in einzelnen Konstellationen das Prinzip der Unteilbarkeit zur Anwendung.1061 Zur Zeit der Jahrhundertwende waren allerdings auch Stimmen laut geworden, die das Prinzip der „Unteilbarkeit“ schon längst vom Fortschritt der Versicherungs­ technik und ihren verbesserten statistischen Berechnungsgrundlagen überholt sahen; die Versicherungsgesellschaften – so hieß es teilweise – hielten nur noch zum eigenen Vorteil daran fest.1062 Immerhin hatten die Verbandsbedingungen von 1886, die unter Mitwirkung einiger gewerblicher Versichertenverbände entstanden waren, den bislang geltenden Grundsatz entschieden abgemildert. Sie differenzier­ ten danach, wer die Vertragsbeendigung herbeigeführt hatte:1063 „§ 14. In allen Fällen der Aufhebung der Versicherung ist die über das laufende Versiche­ rungsjahr vorausbezahlte Prämie unter Wegfall etwaiger Freijahre und Diskonts zurück­ zuzahlen. Die Prämie des laufenden Versicherungsjahrs ist ebenso wie die Prämie für eine auf kürzere als Jahresdauer geschlossene Versicherung verfallen, wenn der Versicherte von dem Rechte der Aufhebung Gebrauch macht, während sie im Falle der Aufhebung von sei­ ten der Gesellschaft nach Verhältnis der Zeit, und zwar bei Aufhebung nach einem Schaden nur für den nach Abzug der Entschädigung verbleibenden Teil der Versicherungssumme, zurückzugewähren ist.“

Die legislatorische Rezeption dieses rechtlichen Instituts begann erst mit dem VVG. Sämtliche Entwürfe, die aus der Kodifikationsbewegung des 19. Jahrhun­ derts hervorgegangen waren, hatten sich bei ihren Vorschriften zur Vertrags­ 1060

§ 5 S. 4 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38) (vgl. ebd. § 16 S. 3 zum „Prinzip der Unteilbarkeit“ bei der Vertragsauf­ lösung nach einem Brandfall). Zu ähnlichen AVB-Klauseln zur „Unteilbarkeit der Prämie“, vgl. z. B. § 8 II AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34) (aber „freiwillige“ Rückzahlung pro rata in geeigneten Fällen möglich); §§ 5 S. 1 a. E., 16 S. 4 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); § 19 V AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65) (nur zur Vertragsauflösung nach dem Brandfall); Art. 24 II AVB Württembergische Privatfeuerver­ sicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71). Vgl. Duvinage (1987), S. 192; V. Ehrenberg, Versi­ cherungsrecht (1893), S. 402; Malß, ZHR 6 (1863), 361, 373. 1061 § 18 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS 1859, 477) (bei freiwilligem Austritt des Mitglieds); § 13 IV 2 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (PrGS 1863, 578) (ebenso); §§ 33, 35 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS 1863, 545) (bei verschuldetem Fehlverhalten des Mitglieds nach dem Versiche­ rungsfall); § 62 S. 2 Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122) (ebenso). Im Gegensatz dazu wurde die Prämie nach B § 4 III Reglement Provinzial-FeuerVersicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99) in jedem Fall der Ver­ tragsauflösung pro rata temporis zurückerstattet. 1062 So ausdrücklich Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 320 f. 1063 Ähnlich §§ 6 II 1, 9, 10 I Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB  II,  44); § 14 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-­ Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383). Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 499 f.; Müssener (2008), S. 204 (zu den AVB der Aachener und Münchener).

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rückabwicklung eher an der seerechtlich geprägten Figur des Ristornos orientiert: wenn der Vertrag vorzeitig aufgelöst worden war, etwa weil die Seereise vorzeitig abgebrochen wurde oder weil eine Vertragspartei gekündigt hatte, so musste der Assekuradeur die bereits entrichtete Prämie unter Umständen pro rata temporis zurückerstatten.1064 Die Handelsgewohnheiten und gesetzlichen Regelungen zum Ristorno unterschieden sich dabei durchaus in feineren Details. Das binnenver­ sicherungsrechtliche Konzept von „Versicherungsperioden“ oder „Versicherungs­ jahren“ war dem maritim geprägten Ristorno hingegen fremd, war doch die See­ versicherung stets auf eine verhältnismäßig kurze Vertragsdauer, nämlich auf die Dauer einer Seefahrt, angelegt. Im Wesen des Ristornos lag es jedoch, danach zu unterscheiden, ob die Vertrags­ auflösung vom Versicherungsnehmer verursacht oder verschuldet worden war, oder ob sie umgekehrt aus der Risikosphäre des Versicherers stammte.1065 Soweit also die Kodifikationsentwürfe aus Württemberg, Preußen und Bayern sowie schließ­ lich der Dresdener Obligationenrechtsentwurf diese seerechtliche Figur gleich­ mäßig auf alle Versicherungszweige ausdehnen wollten,1066 behandelten die vier Entwürfe die Versicherungsnehmer wesentlich günstiger als die zeitgenössischen AVB vor 1886. Mit der Binnenversicherungspraxis standen die Bestimmungen der Entwürfe in keinem Zusammenhang; auch die Motive der Entwürfe wiesen auf einen Ursprung dieses Instituts aus dem holländischen, preußischen und por­ tugiesischen Seeversicherungsrecht hin.1067 Der Verfasser des württembergischen HGB-Entwurfs stellte mit Blick auf die Feuerversicherungspraxis zum Beispiel nur fest, die Vorschriften zum Ristorno würden in den Versicherungsbedingungen üblicherweise abbedungen1068  – in Wirklichkeit waren sie dem Binnenversiche­ rungsrecht freilich noch niemals überhaupt bekannt gewesen. 1064

Tit. VI AHO (1731) (Dreyer [1990], S. 267); §§ 101–111 PrAHO (1766) (NCC IV, 83); §§ 2333–2358 ALR (1794) (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl. 1996]); Ziff. 1787 Codigo Commercial (1833) (Textausgabe, 1879); Art. 281, 282 Wetboek van Koophandel (1838) (Officiële Uitgave, 1838); Art. 899–905 ADHGB (1861) (Textausgabe von Hrsg. Lutz [4. Aufl. 1861]); §§ 894–900 HGB (1897) (RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336). Vgl. dazu auch Benecke (2. Aufl. 1810), Bd. 4 S. 260 ff. 1065 So auch Duvinage (1987), S. 171, die das „Prinzip der Unteilbarkeit“ allerdings auch in gewissen Fallgestaltungen des seerechtlichen Ristornos (z. B. Art. 902 ADHGB) verwirklicht sieht (vgl. ebd., S. 193). 1066 Art. 466 HGB-Entwurf Württemberg (1839) (Textausgabe, 1839); Art. 346 HGB-Ent­ wurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857); Art. 825 BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textaus­ gabe, 1861); Art. 908 Entwurf Dresd. OR (1866) (Textausgabe mit Hrsg. Francke [1866]). Zur Auswirkung der zitierten Ristornovorschriften auf die Überversicherung, die vorvertragliche Gefahranzeige oder die Gefahrerhöhung, s. bereits im Detail unter § 3 D IV 1 a, § 3 D VI 1 und § 3 D VII 2 a. 1067 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 466 (Textausgabe, 1840); Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 346 (Textausgabe, 1857); Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3315 ff.; ebd. Bd. 6 (1866), S. 4563 f. (wiederum mit Hinweis auf die Ristornovorschriften in Art. 789 III ADHGB und Art. 825 des bayerischen BGB-Entwurfes); vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 28 f. 1068 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 466.

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Das VVG1069 entfernte sich dann aber von den Ristornovorschriften des See­ versicherungsrechts und näherte sich dem Prinzip der „Unteilbarkeit“ an, wie es in den Verbandsbedingungen von 1886 niedergelegt worden war. Anders als dem schweizerischen Entwurf von Hans Roelli, der sich insoweit an den Ristornobe­ stimmungen des Seeversicherungsrechts orientiert hatte,1070 fehlte es dem VVG dabei allerdings an einer zentralen Regelung, die Vorschriften über die Prämien­ rückabwicklung für alle Arten der Vertragsauflösung enthielt. Stattdessen regelte der Reichsgesetzgeber das Schicksal der Versicherungsprämie einzelfallabhängig an mehreren verschiedenen Standorten – namentlich immer im Zusammenhang mit Vorschriften, welche die Nichtigkeit oder Kündbarkeit des Versicherungsver­ trages angeordnet hatten. Inhaltlich orientierte sich das VVG dabei tatsächlich an den einschlägigen AVBKlauseln der Versicherungspraxis, welche die amtliche Gesetzesbegründung sogar ausdrücklich als weithin anerkannt bezeichnete und infolgedessen zum tauglichen Vorbild einer gesetzlichen Regelung erklärte.1071 Im Grundsatz folgte der Gesetz­ geber damit den Vorstellungen, die auch die Vertreter der Feuerversicherungspra­ xis zu Beginn der Kodifikationsarbeiten an ihn herangetragen hatten.1072 Immerhin war die Praxis ja von ihrer früheren, extremen Position abgerückt und unterschied in den neugefassten Verbandsbedingungen von 1886 danach, wer die jeweilige Vertragskündigung ausgesprochen hatte. In einigen Fallkonstellationen war die „Unteilbarkeit der Prämie“ nach der Meinung des Gesetzgebers jedoch „in keiner Weise zu rechtfertigen.“1073 So kopierte das VVG nicht einfach nur die Feuerver­ sicherungspraxis. Es differenzierte nicht nur einfach formalistisch danach, wer die Kündigung ausgesprochen hatte, sondern vielmehr, wessen rechtlicher Sphäre die Vertragsauflösung zuzurechnen war. Besonders deutlich wird das am Beispiel des § 40 VVG. Die Norm gestand in ihren ersten beiden Absätzen dem Versicherer die volle Prämie der laufenden Versicherungsperiode zu, wenn der Vertrag wegen einer fehlerhaften Gefahranzeige oder einer rückständigen Prämienzahlung ge­ kündigt worden war. Umgekehrt schützte er den Versicherungsnehmer davor, die volle laufende Prämie zu verlieren, wenn der Versicherer in den Konkurs ging:1074 „§ 40. [1] Wird das Versicherungsverhältnis wegen unterbliebener oder unrichtiger Anzeige von Gefahrumständen oder wegen Gefahrerhöhung auf Grund der Vorschriften des zweiten Titels durch Rücktritt oder Kündigung aufgehoben, so gebührt dem Versicherer gleichwohl die Prämie, jedoch nicht über die laufende Versicherungsperiode hinaus. [2] Das Gleiche 1069 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908. 1070 Art. 25, 26 Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1); dazu Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 347 f. (ausdrücklich zu seerechtlichen Vorbildern). Vgl. auch Duvinage (1987), S. 193. 1071 Mot. VVG (1908) zu § 40 (Nachdruck [1963], S. 59). 1072 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 267 f., 283. 1073 Ebd. 1074 Dazu auch Samwer, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 203, 204 f. (zum insoweit unveränderten Entwurf von 1903).

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gilt, wenn das Versicherungsverhältnis wegen nicht rechtzeitiger Prämienzahlung gemäß § 39 gekündigt wird. Kündigt der Versicherer gemäß § 38 Abs. 2[1075], so kann er nur eine angemessene Geschäftsgebühr verlangen. Ist mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde in den Versicherungsbedingungen ein bestimmter Betrag für die Geschäftsgebühr festgesetzt, so gilt dieser als angemessen. [3] Endigt das Versicherungsverhältnis infolge der Eröffnung des Konkurses über das Vermögen des Versicherers, so kann der Versicherungsnehmer den auf die Zeit nach der Beendigung des Versicherungsverhältnisses entfallenden Teil der Prämie unter Abzug der für diese Zeit aufgewendeten Kosten zurückfordern.“

Eine Vorgängervorschrift zu § 40 VVG hatte sich schon im Reichsjustizamts­ entwurf von 1902 befunden; die Bestimmung war auch durch die folgenden Sta­ dien der Gesetzgebung hindurch erhalten geblieben.1076 Zwar wurde die „Unteil­ barkeit der Prämie“ sowohl in den Sachverständigenkommissionen von 1902 als auch in der öffentlichen Debatte wiederholt als ein veraltetes Instrument aus der Anfangszeit der Binnenversicherungstechnik kritisiert. Doch auch solche fachli­ chen Angriffe änderten nichts an der Grundhaltung des Reichsgesetzgebers. Den Vorschlägen, die Prämie stattdessen in allen Fällen der Vertragsauflösung pro rata temporis zurückzugewähren,1077 gab er nicht statt. Eine ähnlich differenzierte Lösung entwarf der Gesetzgeber für andere Einzel­ fälle der Vertragsnichtigkeit oder -beendigung. Das Prinzip der „Unteilbarkeit“ kam in etwa ungeschmälert zur Anwendung, wenn der Versicherungsnehmer in betrügerischer Absicht bei mehreren Versicherern gezeichnet hatte (§ 59  III VVG), wenn sein versicherbares Interesse während der Vertragsdauer fortgefal­ len war, zum Beispiel durch den Untergang des feuerversicherten Gegenstandes (§ 68 II VVG), oder wenn der Versicherungsnehmer den versicherten Gegenstand veräußert hatte und der Versicherer dem Erwerber deshalb die Kündigung er­ klärte (§ 70 III VVG). Von Fall zu Fall unterschiedlich wollte der Gesetzgeber die Konstellation behandelt wissen, dass ein Feuerversicherungsvertrag nach Eintritt des Versicherungsfalles gekündigt wurde: nur wenn der Versicherer dabei selbst die Kündigung ausgesprochen hatte, musste er gem. § 96 III VVG die volle Prä­ mie zurückzahlen; hatte jedoch umgekehrt der Versicherungsnehmer gekündigt, durfte der Versicherer die auf die gesamte laufende Versicherungsperiode entfal­ lende Prämie einbehalten. Während also in diesen Fallgruppen das „Prinzip der Unteilbarkeit“ ausdrück­ lich kodifiziert worden war, galten in all jenen Konstellationen, für die das Gesetz 1075

§ 38 II VVG betraf Fälle des Verzuges mit der ersten Prämienzahlung, vgl. dazu § 3 D V 3 a dieser Forschungsarbeit. 1076 Insbes. § 40 VVG (1908) entspr. § 22 RJA-E (1902) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91); § 34 VVG-E  (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); § 39 VVG-BRV (1904) (GStA PK, I.  HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); § 40 VVG-RTV (1905) (Mot.  VVG, Nachdruck [1963], S. 440); § 40 VVG-RTV (1907) (Mot. VVG, Nachdruck [1963], S. 524). 1077 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.23 (Feuerversiche­ rung 2. Sitzung zu § 22 RJA-E = § 40 VVG); ähnlich Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 240, 321; vgl. Duvinage (1987), S. 195.

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keine Regelung vorsah, uneingeschränkt die Grundsätze des vertraglichen Aus­ tauschverhältnisses. Nach § 20 II VVG waren, „soweit dieses Gesetz nicht in Anse­ hung der Prämie ein anderes bestimmt, beide Teile verpflichtet, einander die emp­ fangenen Leistungen zurückzugewähren“. Sofern also nicht eine der zahlreichen Ausnahmen vorlag, hatte sich der Gesetzgeber von der „Unteilbarkeit der Prämie“ abgewandt und war zugunsten des Versicherungsnehmers zu dem zivilrechtlichen Gleichgewicht von Leistung und Gegenleistung zurückgekehrt.1078 Insgesamt hatte der Gesetzgeber aber in der überwiegenden Zahl der Fälle an­ erkannt, dass die Versicherer ihre Prämie aus versicherungstechnischen Gründen einheitlich auf die gesamte Versicherungsperiode kalkulierten; dementsprechend hatte er ihnen in etlichen Fällen nicht verwehren wollen, die Prämie für die lau­ fende Versicherungsperiode einzubehalten. So hat der Gesetzgeber also im Endef­ fekt das Prinzip der „Unteilbarkeit der Prämie“ aus der Versicherungspraxis adap­ tiert und nur in einigen Einzelfällen wertend eingegriffen, um das wirtschaftliche Risiko einer Vertragsauflösung derjenigen Partei zuzuordnen, aus deren Sphäre die Vertragsauflösung stammte.1079 Einen weitreichenden legislatorischen Eingriff in die gewachsenen Gewohnheiten der Binnenversicherungspraxis mag man hier aber nicht erkennen. 2. Der Rückkauf und die Umwandlung von Lebensversicherungsverträgen Spezielle Fragen wirft vor allen Dingen die Beendigung eines Lebensversiche­ rungsvertrages auf – und zwar gerade auch dann, wenn der Versicherungsnehmer die Lebensversicherung freiwillig gekündigt hat. Die Versicherungsprämie zerfällt in der Lebensversicherungspraxis, wie bereits erörtert, in zwei wesentliche Be­ standteile: der erste Anteil dient der tatsächlichen finanziellen Deckung des Sterbe­ risikos und erfüllt somit die gleiche Funktion wie die Risikoprämie jedes anderen Versicherungszweiges; ihr zweiter Anteil jedoch kann als Sparanteil bezeichnet werden. Dieser Sparanteil ist ein besonderes Charakteristikum des Lebensversi­ cherungsrechts und hat den Zweck, die zahlbaren Versicherungsprämien über die gesamte Vertragsdauer hinweg stabil zu halten, denn selbstverständlich steigt die statistische Sterbewahrscheinlichkeit mit fortschreitendem Alter immer weiter an. Damit der Versicherungsnehmer parallel dazu nicht Jahr für Jahr höhere Prämien­ sätze zahlen muss, verlangt die Versicherungsgesellschaft von Anfang an höhere Prämien als die eigentliche Risikoprämie und baut aus dem so erwirtschafteten Überschuss eine sogenannte Prämienreserve auf.1080 Bei der Prämienreserve, die sich im Laufe der Vertragsdauer in den Händen der Versicherungsgesellschaft an­ 1078

Mot. VVG (1908) zu § 40. So im Ergebnis auch Duvinage (1987), S. 196. 1080 Ausführlich zu der entsprechenden Lebensversicherungspraxis s. bereits ausführlich unter § 3 B III 1 a. 1079

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sammelt hat, handelt es sich letztlich also gar nicht um eine Gegenleistung für die übernommene Gefahr, sondern um ein reines Guthaben, das der Versicherungs­ nehmer beim Versicherer stehen ließ. Heute spricht man insoweit vom „Deckungs­ kapital“ des Lebensversicherungsvertrages.1081 Seit 1901 musste jede Lebensversicherungsgesellschaft unter dem neu geschaf­ fenen § 57 VAG1082 zwingend eine solche Prämienreserve schaffen und in einem gesonderten Reservefonds vorrätig halten, um die finanzielle Stabilität des Lebens­ versicherungsbetriebs zu gewährleisten.1083 Was passierte nun aber mit diesem an­ gelegten Sparguthaben, wenn der Lebensversicherungsvertrag nicht planmäßig bis zum Tod fortgeführt wird, sondern vorzeitig endete? a) Die vielfältigen Rückkaufs- und Umwandlungsmodelle in der Lebensversicherungspraxis Auf diese Frage hatte die Lebensversicherungspraxis ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine ganze Reihe von Antworten gefunden. Allerdings fielen diese Antworten von Versicherer zu Versicherer äußerst unterschiedlich aus. Gemeinsam war allen Lebensversicherern, dass sie dem Versicherungsnehmer zugestanden, den Vertrag freiwillig zu kündigen oder in eine prämienfreie Ver­ sicherung umzuwandeln. Wollte der Versicherungsnehmer den Vertrag ganz auf­ geben, so kaufte die Gesellschaft die Police zurück, indem sie einen Teil der an­ gesparten Prämienreserve ausschüttete. In der Regel erstatteten die Versicherer bei einem solchen Rückkauf jedoch nicht die volle Prämienreserve, was schlichtweg darin begründet lag, dass ihnen während der Vertragsdauer zum Teil erhebliche Geschäftskosten erwachsen waren, beispielsweise Verwaltungs-, Personal- und vor allem Maklerkosten.1084 Außerdem machte die Versicherungspraxis den Rückkauf ganz überwiegend vom Ablauf einer gewissen Karenzzeit abhängig, welche sich je nach Gesellschaft zwischen zwei und fünf Jahren bewegte: erst nach Ablauf dieser Zeitspanne konnte der Versicherungsnehmer von seiner Rückkaufoption Gebrauch machen. Ein Beispiel für ein solches Rückkaufsrecht findet sich in den Versiche­ rungsbedingungen, die von der Gothaer Lebensversicherungsbank im Jahr 1904 verwendet wurden:1085 1081

Vgl. dazu auch das heute geltende Recht: Bruck / Möller / Winter (9. Aufl.  2008), § 169 Rn.  1; Prölss / Martin / Reiff (30. Aufl. 2018), § 169 Rn. 31. 1082 RGBl. 1901, Nr. 18, S. 139. 1083 Zur Umsetzung des § 57 VAG (1901) in der Praxis, s. Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1904, S. 6 f. Vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 173 Rn. 2; von Knebel Doeberitz, ZVersWiss 2 (1902), 1, 5 (zur Etablierung der Prämienreserve auch bei kleinen Lebensversicherern). 1084 Zu den Geschäftskosten auch Braun (2. Aufl. 1963), S. 312 f.; Gerhard / Hagen / von ­Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 174, 175 Rn. 2; Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 304, 307. 1085 Zur Rückkaufoption der Gothaer, s. auch Brämer / Brämer (1894), S. 135 f.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

„§ 51. [1] Abgangsvergütung. Der Verfügungsberechtigte kann die Versicherung jederzeit ganz oder zum Teil aufgeben. Hierzu ist eine schriftliche Erklärung erforderlich. [2] Gegen Rückgabe des Versicherungsscheins und, wenn die Bank es verlangt, der letzten Prämien­ quittung wird dann eine Abgangsvergütung gewährt. Diese beträgt, wenn die Prämienzah­ lung für einen längeren Zeitraum als zwei Jahre erfolgt ist, 75 Prozent der Prämienreserve, solange letztere 50 Prozent der Versicherungssumme nicht überschreitet, und wächst mit jedem weiteren Prozent, das die Prämienreserve über 50 Prozent der Versicherungssumme hinausgeht, um 1 Prozent bis zu 100 Prozent der Prämienreserve. Ist die Prämienzahlung noch nicht für mehr als zwei Jahre geschehen, so wird an dem nach gleichen Grundsätzen berechneten Betrage 1 Prozent der Versicherungssumme gekürzt. […]“

Was die konkrete Berechnung des Rückkaufwertes anging, wurden von Gesell­ schaft zu Gesellschaft höchst verschiedene Modelle praktiziert. Während die Go­ thaer eine sogenannte Interpolation des Rückkaufwertes vornahm, ihn also vom Gesamtvolumen der Prämienreserve abhängig machte, zahlten andere Gesellschaf­ ten stets eine starre Quote der Prämienreserve aus.1086 Auch eine feste Karenzzeit, bei vielen anderen Lebensversicherern üblich,1087 kannte die Gothaer nicht: nach § 51 II 1 ihrer AVB kürzte sie den Rückkaufwert in den ersten beiden Versiche­ rungsjahren zwar erheblich, schloss jedoch die Rückkaufoption nicht vollends aus. Eine einheitliche Versicherungspraxis lässt sich insoweit gar nicht beschreiben.1088 Falls der Versicherungsnehmer jedoch keine völlige Auflösung der Versiche­ rung wünschte, sondern bloß von der Prämienzahlung freigestellt werden wollte, so boten ihm die meisten Lebensversicherungsgesellschaften anstelle eines Rück­ 1086

§ 18 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB II, 23) („nach liberalen Grundsätzen zu bestimmender Preis“ als Rückkaufwert); § 45 V AVB Lebens­ versicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB  II,  16) (Rückkauf zu „mindestens“ 50 % der Prämienreserve); § 23 I Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856) (Sammlung-AVB II, 39) (Rückkauf zu 75 % des „Werts“ der Versicherung, nur bei Nachweis der Zahlungsunfähigkeit); § 28 S. 2 AVB Germania Lebens-Versicherungs-AktienGesellschaft (1857) (Sammlung-AVB II, 31) (Rückkauf zu „mindestens“ 75 % der Prämien­ reserve); § 7 I Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Rück­ kaufwert von 75 % der Prämienreserve); § 4 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca.  1904) (Sammlung-AVB  II,  98) (Interpolation des Rückkaufwertes von 60–100 % der Prämienreserve); § 11 III 1 AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (SammlungAVB II, 81) (Auszahlung von 75 % der Prämienreserve, jedoch 100 %, falls dieselbe bereits 80 % der Versicherungssumme erreicht hat); vgl. auch Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 249 (Vorschlag eines Rückkaufwertes von 60 % der Prämienreserve). Dazu insgesamt Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 176, 177 Rn. 4; Malß, Betrachtungen (1862), S. 77 (schätzt den Rückkaufwert zu sei­ ner Zeit auf durchschnittlich ca. 50–75 % der „Sparkasseneinlagen“); Manes (1905), S. 228 f.; von Staudinger (1858), S. 175 (zu den Anfängen des Rückkaufs vor 1860). 1087 § 28 S. 1 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Karenzzeit von 3 Jahren); § 7 I Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Ka­ renzzeit von 3 Jahren); § 4 S. 1 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Karenzzeit von 3 Jahren); § 11 III 2 (Abzug von 1 % der Versicherungssumme vom Rück­ kaufwert, falls noch nicht 3 Jahresprämien bezahlt wurden). Vgl. schon von Staudinger (1858), S. 175 (zu den Anfängen des Rückkaufs vor 1860). 1088 So auch Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 365.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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kaufes auch die Möglichkeit an, die Versicherung in eine prämienfreie umzuwan­ deln. Auch diese Methode wurde im Verlauf der vorliegenden Forschungsarbeit bereits erläutert und sei hier deshalb nur kurz rekapituliert: kurz gesagt behandelten die Versicherer den Versicherungsnehmer so, als habe er sich die Prämienreserve voll auszahlen lassen und diese dann in ihrem ganzen Volumen als Einmalprä­ mie wieder eingezahlt. Die Versicherungssumme musste dann freilich propor­ tional herabgesetzt werden.1089 Jene Vertragsoption wurde vor allem interessant, wenn der Versicherungsnehmer in finanzielle Schwierigkeiten geraten war und die Prämien nicht länger aufbringen konnte, zugleich aber nicht auf seinen vol­ len Versicherungsschutz verzichten wollte.1090 Wie schon den Rückkauf machten die Versicherungsgesellschaften jedoch auch die Umwandlung vom Verstreichen einer bestimmten Karenzfrist abhängig.1091 Abermals können die AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank von 1904 zur Illustration dieses Verfahrens dienen: „§ 49. [1] Prämienfreie herabgesetzte Versicherung. Ist die Prämienzahlung für einen längeren Zeitraum als zwei Jahre erfolgt, so kann der Verfügungsberechtigte beantragen, daß die Versicherung am Schlusse des laufenden Versicherungsjahres unter Herabset­ zung der Versicherungssumme prämienfrei gemacht werde. Er hat zu diesem Zwecke den Versicherungsschein und auf Verlangen der Bank die letzte Prämienquittung vorzulegen. [2] In diesem Falle wird die volle Prämienreserve in eine prämienfreie Versicherungs­ summe nach dem gleichen Maßstabe umgewandelt wie Dividende in Summenzuwachs (Tabelle IV). […]“

In der Versicherungspraxis existierte aber wiederum kein einheitliches Rechen­ modell für eine solche Vertragsumwandlung. So ließ die Gothaer die Umwandlung erst zu, wenn die Prämien für einen Vertragszeitraum von zwei Jahren gezahlt worden waren. Andere Gesellschaften boten dem Versicherungsnehmer zum Bei­ spiel auch in den ersten beiden Versicherungsjahren schon die Möglichkeit einer Umwandlung, nahmen dabei jedoch eine noch weitergehende Kürzung der Ver­ sicherungssumme vor.1092 1089 Auch dazu vgl. bereits § 3 B III 1 b; zum Umwandlungsmechanismus auch Mot. VVG (1908) zu § 174. 1090 Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 364; ausdrücklich auch Mot. VVG (1908) zu § 175. 1091 § 25 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Karenzzeit von 3 Jahren); § 7  I Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Ka­ renzzeit von 3 Jahren); § 3 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Ka­ renzzeit von 3 Jahren); § 13 IV 6 AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (Abzug von 1 % der Versicherungssumme vom Umwandlungswert, falls noch nicht 3 Jahresprämien bezahlt wurden). 1092 § 25 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Kürzung der Versicherungssumme); § 7 I Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Kürzung der Versicherungssumme); § 3 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesell­ schaft (ca. 1904) (im Falle des Prämienrückstandes erfolgt Kürzung der Versicherungssumme im Verhältnis von gezahlter zu geschuldeter Prämie); § 13 IV 3–6 AVB Stuttgarter Lebensver­ sicherungsanstalt (1906) (mit Abzug von 1 % der Versicherungssumme vom Umwandlungs­ wert, falls noch nicht 3 Jahresprämien bezahlt wurden). Zu den verschiedenen Rechenmodel­ len, vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 174, 175 Rn. 1.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Allerdings brachte ein Teil der Lebensversicherungsgesellschaften die Rechts­ folgen von Umwandlung oder Rückkauf nicht nur dann zur Anwendung, wenn der Versicherungsnehmer freiwillig aus der Versicherung ausschied. Auch wenn die Versicherung wegen vertragswidrigen Verhaltens aufgelöst worden war, etwa weil der Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss falsche Angaben über seinen Ge­ sundheitszustand getätigt hatte, zahlten manche Gesellschaften zumindest einen Teil der Prämienreserve aus. Der Versicherungsnehmer stand damit letztlich nicht anders, als hätte er aus freien Stücken von seinem Rückkaufrecht Gebrauch ge­ macht.1093 Ein letztes Mal seien hier die AVB der Gothaer Lebensversicherungs­ bank als Beispiel herangezogen. Insbesondere im Fall eines Prämienrückstandes sah die Gothaer die Lebensversicherung ipso iure als zurückgekauft oder umge­ wandelt an:1094 „§ 47. […] [2] Wird eine Zahlung nicht rechtzeitig geleistet, eine Erklärung nicht abgege­ ben oder das Darlehen gegen Hinterlegung des Versicherungsscheins nicht innerhalb eines Monats nach Abgabe der Erklärung aufgenommen,[1095] so gilt, wenn Prämien noch nicht für einen längeren Zeitraum als zwei Jahre gezahlt worden sind, oder wenn sie zwar für einen längeren Zeitraum entrichtet sind, eine ausreichende freie Prämienreserve aber nicht vorhanden ist, die Versicherung als freiwillig aufgegeben und gewährt dem Berechtigten Anspruch auf Abgangsvergütung nach § 51. [3] Sind Prämien für eine längere Zeit als zwei Jahre entrichtet worden und ist eine ausreichende Prämienreserve vorhanden, so wird die Versicherung in eine prämienfreie mit herabgesetzter Versicherungssumme (§ 49) umge­ wandelt. […]“

Allenthalben ergaben sich auch in dieser Hinsicht beträchtliche Unterschiede zwischen den einzelnen Gesellschaften. Die Gothaer beschränkte jene Praxis des fingierten Rückkaufes oder der automatischen Umwandlung nur auf die Konstel­ lationen des Prämienrückstandes und des Selbstmordes; in allen anderen Fällen der unfreiwilligen Vertragsauflösung verlor der Versicherungsnehmer sämtliche Rechte aus der Versicherung inklusive seines Sparguthabens – so zum Beispiel, wenn er seinen Gesundheitszustand falsch angegeben hatte und deshalb seinen Versicherungsschutz einbüßte.1096 Andere Lebensversicherer wiederum zahlten dem Versicherungsnehmer selbst in solchen Fällen einen Teil der Prämienreserve zurück.1097 Ab 1903 konzentrierte sich das junge Kaiserliche Aufsichtsamt verstärkt 1093

Auch dazu bereits unter § 3 B III 3. Zu den AVB der Gothaer und anderer Lebensversicherer, s. insgesamt Samwer, in: FS 100 Jahre Gothaer Leben (1927), S. 28 f. 1095 Bei der hier angesprochenen „Erklärung“ und dem „Darlehen“ handelte es sich um weitere Möglichkeiten, wie der Versicherungsnehmer nach § 47 I der AVB dem Zahlungsrückstand entrinnen konnte; sie sind für die Untersuchung vorliegend nicht von Belang. 1096 § 56 I AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (jedoch nach zwei Jahren Vertrags­ bestand gem. Abs. 3 nur noch arglistige Falschangaben schädlich). 1097 §§ 21 I, 22 I 4, 24 I AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (fingierter Rückkauf bei Gefahrerhöhung, Eintritt in den Kriegsdienst und Selbstmord); §§ 48 II, 51 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (fingierter Rückkauf bei Eintritt in den See- oder Kriegsdienst oder bei Selbstmord); § 34 AVB Germania Lebens-Versiche­ rungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (fingierter Rückkauf bei Gefahrerhöhung und Selbstmord); 1094

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darauf, die Praxis in dieser Hinsicht zu harmonisieren und dem Versicherungs­ nehmer in jedem Fall der Vertragsauflösung – ob verschuldet oder nicht – seinen Anspruch am angesparten Guthaben zu sichern.1098 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts existierte diesbezüglich also überhaupt gar keine einheitliche Versicherungspraxis, sondern bloß eine heterogene Ansamm­ lung verschiedener Rückkaufs- und Umwandlungsmodelle, die in der Praxis der einzelnen Gesellschaften gewachsen waren und so einen hohen Grad an Diversi­ tät erreicht hatten. b) Der Umgang der §§ 173–178 VVG mit dem inhomogenen Praxisrecht Wenig überraschend finden sich in allen Kodifikationsversuchen des 19. Jahr­ hunderts keine Spuren von Rückkaufs- oder Umwandlungsvorschriften; eine entsprechende Praxis war zu der Zeit, als die Arbeiten am Dresdener Obligatio­ nenrechtsentwurf abgeschlossen wurden, zwar schon im Entstehen begriffen, steckte aber noch in ihren ersten Anfängen. Im 19. Jahrhundert war ihre gesetz­ liche Kodifikation gar nicht erst erwogen worden. Angesichts der zum Teil enor­ men Unterschiede, welche in der Lebensversicherungspraxis auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch an den Tag traten, hätte sich auch der Gesetzgeber des VVG ohne Weiteres auf den Standpunkt stellen können, die stark im Fluss befindliche Rechtspraxis habe den Abschluss ihrer Entwicklung noch nicht gefunden und sei infolgedessen nicht kodifikationsreif. Dennoch präsentierte das Versicherungsver­ tragsgesetz von 1908 mit seinen §§ 173–178 eine ganze Reihe an teilweise sogar halbzwingenden Vorschriften zum Rückkauf und zur Umwandlung der Lebens­ versicherung. Wie also ging der deutsche Gesetzgeber mit diesem hohen Grad an Inhomogenität in der vorgesetzlichen Praxis um? Den Anwendungsbereich der Rückkauf- und Umwandlungsvorschriften zu de­ finieren, stellte den Gesetzgeber noch vor relativ geringe Probleme. § 173 VVG1099 erklärte die ihm nachfolgenden gesetzlichen Vorschiften über Rückkauf und Um­ wandlung nur dann für anwendbar, wenn „das Versicherungsverhältnis mindestens drei Jahre bestanden“ hatte und „die Prämie für diesen Zeitraum bezahlt“ worden §§ 7 III, 10 I lit. e-f, 11, 14 II 4 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (fingierter Rückkauf bei Prämienrückständen, fehlerhaften Gefahranzeigen und Selbst­ mord); §§ 1, 3 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca.  1904) (fingierte Um­ wandlung bei Prämienrückständen, Auszahlung des Rückkaufwertes bei bestimmten Fällen des Selbstmordes); §§ 10 VII 1, VIII, 16 II, 17 II AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (Umwandlung oder Rückkauf bei Folgeprämienrückständen, fehlerhaften Gefahran­ gaben und in bestimmten Fällen des Selbstmordes). 1098 Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1904, S. 6 f., 21 f., 30 f. (auch zu verschiedenen Methoden zur Berechnung der Prämienreserve selbst); Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes v. 31. 05. 1905, S. 51 f. 1099 Entspr. § 149 RJA-E (1902); § 164 VVG-E (1903); § 167 VVG-BRV (1904); § 170 VVGRTV (1905); § 173 VVG-RTV (1907); § 173 VVG (1908).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

war. Vor Ablauf jener dreijährigen Karenzfrist konnte jeder Versicherer also über den Rückkauf und die Umwandlung nach freiem Ermessen selbst bestimmten – oder, wenn er es für richtig hielt, jene Rechte auch vollkommen ausschließen. Das entsprach ganz der Vorstellung der Versicherungspraxis,1100 die zum Teil ja sogar kürzere Fristen vorsah oder, wie etwa am Beispiel der Gothaer demonstriert, schon bei einer Vertragsauflösung in den ersten Versicherungsjahren einen geringen Teil der Prämienreserve ausbezahlte. § 173 VVG erlegte der bestehenden Praxis also lediglich noch eine Art zwingenden Mindeststandard auf, indem er für solche Ka­ renzfristen eine Obergrenze von maximal drei Jahren festsetzte; ein weitgehender Eingriff in die vorgesetzlichen Gewohnheiten der Lebensversicherer lag darin je­ doch nicht. Von der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung der Vorschriften zum Rückkauf und zur Umwandlung der Lebensversicherung lässt sich dasselbe aber nur mit Einschränkungen behaupten. aa) Vom Rückkaufsrecht zur Rückkaufspflicht Auch in den Vorschriften zum Rückkauf der Lebensversicherung wird sicht­ bar, wie der VVG-Gesetzgeber stets bestrebt war, die Versicherungsnehmer gegen die wirtschaftlich überlegenen Versicherungsgesellschaften zu protegieren. Die Rückkaufoption, welche viele AVB dem Versicherungsnehmer schon freiwillig eingeräumt hatten, verwandelte er in eine einseitig zwingende Rückkaufpflicht, und zwar für alle Fälle der Vertragsauflösung: es war also ganz gleich, ob der Versicherungsvertrag ordentlich gekündigt oder wegen gesetzlicher oder vertrag­ licher Sanktionen aufgehoben worden war. Die Prämienreserve sollte dem Ver­ sicherungsnehmer unter keinen Umständen entzogen werden, denn sie stellte, wie auch die amtliche Gesetzesbegründung bemerkte, im Prinzip nichts anderes dar als sein persönliches Sparguthaben.1101 Die einzige, freilich ohne Weiteres nach­ vollziehbare Ausnahme traf den Bezugsberechtigten, welcher die versicherte Per­ son absichtlich getötet hatte, um an seinen Versicherungsanspruch zu gelangen (§ 170 I VVG).1102 Der Anwendungsbereich jener Rückkaufpflicht beschränkte sich gem. § 176 I VVG nur auf solche Arten der Lebensversicherung, bei welchen die Leistungs­ pflicht des Versicherers früher oder später mit Gewissheit eintreten würde. Ge­ meint waren damit vor allem lebenslängliche Versicherungen auf den Todesfall 1100

Vgl. auch Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 249. 1101 Mot. VVG (1908) zu §§ 176, 177 (mit Aufzählung aller zur Erstattung des Rückkaufwerts berechtigenden Fällen der Vertragsauflösung); dazu auch Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 187, 190 (zum Entwurf von 1903); Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 365 ff. („Unverfallbarkeit der Prämie“). 1102 Mot. VVG (1908) zu §§ 176, 177.; vgl. aber Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 199, wo­ nach diese Regelung erst mit § 170 VVG-BRV (1904) ins Gesetze eingeführt wurde.

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oder sogenannte „gemischte“ oder „kapitalbildende“ Lebensversicherungen; bei letzteren versprach die Versicherungsgesellschaft die Versicherungsleistung nicht nur, wenn die versicherte Person starb, sondern auch, wenn sie ein bestimmtes Le­ bensalter erreichte. Nur in derartigen Fällen hatte der Versicherungsnehmer bereits beim Vertragsschluss eine „sichere Anwartschaft“ auf den Leistungsanspruch er­ worben und konnte sich dementsprechend darauf verlassen, dass er auch seine an­ gesparte Prämienreserve früher oder später zurück erhielt.1103 Im vollen Wortlaut bestimmte § 176 VVG über die Rückkaufpflicht des Versicherers: „§ 176. [1] Wird eine Kapitalversicherung auf den Todesfall, die in der Art genommen ist, daß der Eintritt der Verpflichtung des Versicherers zur Zahlung des vereinbarten Ka­ pitals gewiß ist, durch Rücktritt oder Kündigung aufgehoben, so hat der Versicherer den Betrag der auf die Versicherung entfallenden Prämienreserve zu erstatten. [2] Das gleiche gilt bei einer Versicherung der im Abs. 1 bezeichneten Art auch dann, wenn nach dem Eintritte des Versicherungsfalls der Versicherer von der Verpflichtung zur Zahlung des vereinbarten Kapitals frei ist. Im Falle des § 170 Abs. 1 ist jedoch der Versicherer zur Er­ stattung der Prämienreserve nicht verpflichtet. [3] Bei der Ermittelung des zu erstattenden Betrags ist die Prämienreserve für den Schluß der Versicherungsperiode zu berechnen, in deren Laufe das Versicherungsverhältnis endigt. [4] Der Versicherer ist zu einem ange­ messenen Abzuge berechtigt. Ist für den Abzug mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde in den Versicherungsbedingungen ein bestimmter Betrag festgesetzt, so gilt dieser als angemessen.“

Mit dieser halbzwingenden1104 Vorschrift erweiterte das VVG die Rechte der Versicherungsnehmer noch weit über die bis dato geltenden AVB hinaus. Dort konnte der Versicherungsnehmer zwar zumeist den Rückkauf der Versicherung ver­ langen, wenn er freiwillig vom Vertrag Abstand nehmen wollte. Wenn der Vertrag aber endete, weil der Versicherungsnehmer gegen eine vertragliche Verhaltensan­ forderung verstoßen hatte, behielten etliche Lebensversicherer die Prämienreserve für sich. Nur, wenn der Vertrag aufgrund eines Prämienrückstandes gekündigt wor­ den war oder wenn die versicherte Person Selbstmord begangen hatte, behandelten große Teile der Versicherungspraxis den Versicherungsnehmer bzw. den Bezugs­ berechtigten tatsächlich so, als hätte ein gewöhnlicher Rückkauf stattgefunden. Entsprechendes hatte dem Reichsjustizamt auch eine Denkschrift aus den Kreisen der Lebensversicherer vorgeschlagen: im Falle eines Prämienrückstandes – aber eben nur in diesem Falle – solle der Rückkauf der Lebensversicherung fingiert werden.1105 Im Übrigen hatten manche Versicherer selbst in der Konstellation des Prämienrückstandes dem Versicherungsnehmer nur das Recht eingeräumt, den Rückkauf oder die Umwandlung durch rechtzeitige Antragstellung zu verlan­

1103 Mot. VVG (1908) zu §§ 176, 177; vgl. auch Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 304, 305; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 366. Zur Abgrenzung zu anderen Arten der Lebensversiche­ rung: Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 176, 177 Rn. 1–3. 1104 Zum halbzwingenden Charakter: § 178 S. 1 VVG (1908). 1105 So auch Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 246, wo alleine eine Rückkaufpflicht infolge eines Prämienrückstandes befürwortet wird.

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gen1106 – gerade einem geschäftlich ungewandten Publikum konnte es also zum Verhängnis werden, wenn es in Zahlungsschwierigkeiten geraten war, den Rück­ kauf oder die Umwandlung aber nicht rechtzeitig schriftlich beantragt hatte.1107 Im Gegensatz zur Versicherungspraxis sicherte der Gesetzgeber dem Versiche­ rungsnehmer seine Prämienreserve also in zweifacher Weise: er machte ihre Aus­ zahlung sowohl von der Art der Vertragsbeendigung als auch von einer förmlichen Antragstellung unabhängig. Selbst ein Versicherungsnehmer, der beispielsweise arglistig falsche Angaben zum Gesundheitszustand gemacht hatte, sollte somit ipso iure einen Anspruch auf die Rückzahlung seiner angesparten Prämienreserve erwerben. Lediglich einen „angemessenen Abzug“ gestattete § 176 IV VVG dem Versicherer. Dadurch sollte es den Gesellschaften, wie nach der bisherigen Praxis, möglich bleiben, die Versicherungsnehmer von einem massenhaften Rückkauf ihrer Policen abzuhalten bzw. im Falle eines Rückkaufs immerhin ihre Geschäfts­ kosten zu decken.1108 Jene gesetzlich zwingende Rückkaufpflicht war allerdings keine originäre Er­ findung des VVG. Bereits Hans Roelli hatte sie in seinem 1902 erschienenen schweizerischen Entwurf vorgesehen:1109 „Art. 74. […] [2] Der Versicherer muss überdies, soweit der Eintritt seiner Leistungspflicht gewiss ist, diejenige Lebensversicherung, für die mindesten drei Jahresprämien entrichtet worden sind, auf Verlangen des Forderungsberechtigten ganz oder teilweise zurückkau­ fen. […] Art. 75. [1] Der Feststellung des Umwandlungswertes und Rückkaufpreises der Versi­ cherung ist das Deckungskapital[1110] in dem Zeitpunkte zu Grunde zu legen, auf den die Umwandlung oder der Rückkauf zu vollziehen ist. [2] Unter Deckungskapital im Sinne dieses Gesetzes ist der Betrag zu verstehen, den der Lebensversicherer nach Massgabe seiner technischen Grundlagen, ausser den künftigen Nettoprämien, zur Bestreitung der erwartungsmässig auszuzahlenden Versicherungsbeträge nöthig hat. Art. 76. […] [2] Als Rückkaufspreis hat der Versicherer mindestens das Deckungskapital unter Abzug von höchstens drei Prozent der Versicherungssumme zu gewähren. […] Art. 78. [1] Unterbleibt die Prämienzahlung, nachdem die Versicherung mindestens drei Jahre in Kraft bestanden hat, so wird der Umwandlungswert der Lebensversicherung ge­ 1106

§ 7 III Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (nur Antrag auf Rückkauf); § 10 VII, VIII AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906). Automati­ sche Umwandlung aber bereits in § 47 III AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 3 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (jedoch kein Rückkauf). 1107 Vgl. explizit zum Problem der Umwandlung Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), §§ 174, 175 Rn. 3. 1108 Mot. VVG (1908) zu §§ 176, 177; vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 176, 177 Rn. 1. 1109 Dazu auch Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 364 ff. 1110 Der Begriff „Deckungskapital“ wird im heutigen Recht als Synonym zur Prämienreserve verwendet, s. dazu auch § 3 B III 1 a. Der schweizerische Entwurf verwendete diesen Begriff bereits 1902.

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schuldet. Der Versicherer hat den Umwandlungswert, und, wenn die Versicherung rück­ kauffähig ist, auch den Rückkaufspreis nach Massgabe dieses Gesetzes festzustellen und dem Anspruchsberechtigten auf dessen Begehren mitzuteilen. [2] Ist die Versicherung rückkaufsfähig, so kann der Forderungsberechtigte binnen sechs Wochen, vom Empfange dieser Mitteilung an gerechnet, an Stelle der Umwandlung den Rückkaufspreis der Versi­ cherung verlangen.“

Die Rückkaufpflicht des schweizerischen Entwurfes war, wie Roelli später selbst berichtete, gegen den Widerstand der Versicherungsgesellschaften „hart er­ kämpft“.1111 Gerade jüngere Versicherungsgesellschaften hatten befürchtet, durch die flächendeckende Rückkaufpflicht benachteiligt zu werden. Wenn nämlich jede Lebensversicherung aufgrund gesetzlichen Zwanges rückkauffähig sei, so bestehe die Gefahr, dass vorzugsweise gesunde Versicherungsnehmer, die noch mit einem langen Leben rechneten, ihre Versicherungsverträge auflösten, um den Rückkaufwert zu liquidieren. Folglich würden nur noch ungünstige Risiken im Versichertenkollektiv verblieben – ein Problem, das um das Jahr 1900 unter dem Schlagwort der „Antiselektion“ diskutiert wurde.1112 Die versichertenfreundliche Rückkaufpflicht hatte sich im Roelli-Entwurf dennoch durchgesetzt. Allerdings führten in Art. 78 des Roelli-Entwurfes noch nicht alle Arten der Vertragsbeendigung automatisch zum Rückkauf oder zur Umwandlung. Diesen nächsten Schritt war erst der deutsche Reichsjustizamtsentwurf gegangen, indem er 1902 bestimmte: „§ 150. [1] Wird das Versicherungsverhältniß durch Rücktritt oder durch Kündigung auf­ gehoben, so hat der Versicherer den Betrag der auf die Versicherung entfallenden Prämi­ enreserve zu erstatten. Das Gleiche gilt, wenn nach dem Eintritte des Versicherungsfalls der Versicherer von der Verpflichtung zur Zahlung des versicherten Kapitals frei ist. [2] Bei der Ermittelung des zu erstattenden Betrages ist die Prämienreserve für den Schluß der Versicherungsperiode zu berechnen, in deren Laufe das Versicherungsverhältniß endigt. [3] Der Versicherer kann den zu erstattenden Betrag um drei vom Hundert des versicherten Kapitals kürzen.“

Bei alledem kam der Entwurfsverfasser der Praxis aber trotzdem noch erheb­ lich entgegen: zwar sollte es sich bei § 150 im Grundsatz um halbzwingendes Recht handeln,1113 doch sollte es den Versicherungsgesellschafen nach § 153  II des Reichjustizamtsentwurfes immerhin erlaubt sein, die Option des Rückkaufs auszuschließen, falls der Versicherungsnehmer freiwillig aus der Versicherung ausschied. Die AVB sollten vorsehen dürfen, dass der Versicherungsnehmer in 1111 Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 366; im Einzelnen vgl. Rüdiger, ZVersWiss 2, Ergän­ zungsheft (1902), 1, 63. 1112 Vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), §§ 176, 177 Rn. 1, 4 (kritisch zur These der „Antiselektion“). Zur erneuten Diskussion der Gefahr einer „Anti­ selektion“ bei Abfassung des deutschen VVG-Entwurfs, vgl. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.161 ff. (Lebensversicherung 5. Sitzung zu § 150 III RJA-E = § 176 III VVG). 1113 § 153 I RJA-E (1902).

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einem solchen Fall nur die Umwandlung, nicht aber den Rückkauf der Lebensver­ sicherung verlangen konnte. Freilich ging es einigen Versicherungsgesellschaften trotzdem viel zu weit, dass restlos alle Arten der Vertragsauflösung entweder zum Rückkauf oder zumindest zur Umwandlung der Lebensversicherung führen sollten. Der Versicherungsneh­ mer, so hieß es aus der Mitte der Sachverständigenkommissionen, solle zumin­ dest bei arglistigem Handeln nicht auch noch in Genuss seiner Prämienreserve kommen.1114 Jener Kritik folgte der Gesetzgeber aber nicht; stattdessen übernahm er die Bestimmung des Reichsjustizamtsentwurfes bis hinein ins VVG.1115 Der Gesetzgeber hat damit bewiesen, dass es ihm an dieser Stelle nicht mehr auf eine wertende, paternalistische Bestrafung des arglistig handelnden Versicherungs­ nehmers ankam, sondern alleine auf die zivilrechtliche Ausgestaltung des Ver­ sicherungsverhältnisses: die Prämienreserve stand als persönliches Sparguthaben in keinerlei synallagmatischem Verhältnis zur Risikoübernahme und musste da­ her unter allen Umständen alleine dem Versicherungsnehmer oder seinen Erben zustehen.1116 Im Gegenteil verschärfte der Reichsgesetzgeber die Vorschriften noch weiter zugunsten der Versicherungsnehmer, indem bis 1903 auch den § 153 II des ersten Entwurfes strich. Er schloss sich damit Bedenken an, die in den Sachverständi­ genkommissionen geäußert worden waren: oftmals nütze ein reines Umwand­ lungsrecht dem Versicherungsnehmer nicht, wenn er in eine finanzielle Notlage geraten war. Nur der Rückkauf könne ihm dann noch helfen, schnell liquides Kapital zu beschaffen.1117 Seit dem gedruckten VVG-Entwurf von 1903 konnten die Versicherer den Rückkauf also auch dann nicht mehr ausschließen, wenn der Versicherungsnehmer den Vertrag freiwillig aufgekündigt hatte; damit stand die Rückkaufpflicht des Lebensversicherers in der denkbar schärfsten und versicher­ tenfreundlichsten aller Varianten fest. Auf mehr Gehör stießen dann immerhin die Einwendungen, welche die Ver­ sicherungsgesellschaften gegen die Berechnungsmethode aus § 150 III des ersten Entwurfes – bzw. § 167 III des gedruckten Entwurfs von 1903 – vorgebracht hatten. Während die Mehrzahl der Versicherungsgesellschaften im Fall eines Rückkaufs nur einen feststehenden oder einen „interpolierten“ Bruchteil der Prämienreserve auszahlte, sollten unter dem Reichsjustizamtsentwurf starre 3 % der Versicherungs­

1114

„Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.160 (Lebensver­ sicherung 5. Sitzung zu § 150 RJA-E = § 176 VVG); so auch Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 304, 310 f. (mit Diskussionsbeitrag Samwer). 1115 § 150 RJA-E (1902) entspr. § 167 VVG-E (1903); § 170 VVG-BRV (1904); § 173 VVGRTV (1905); § 176 VVG-RTV (1907); § 176 VVG (1908). 1116 Mot. VVG (1908) zu § 173; vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 173 Rn 1. 1117 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.163 ff. (Lebensver­ sicherung 5. Sitzung zu § 153 RJA-E = § 178 VVG).

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summe von der Prämienreserve abgezogen werden.1118 Eine solche Berechnungs­ methode war nicht nur großen Teilen der Versicherungspraxis fremd; sie war in den Augen der Lebensversicherer auch viel zu pauschal und wenig praktikabel. Der Gesetzgeber könne an die Stelle einer vielfältigen und hochgradig diversifizierten Berechnungspraxis nicht einfach eine starre Abzugsquote setzen, welche auch noch für alle Unterarten der Lebensversicherung gleichzeitig gelte.1119 Tatsächlich exis­ tierten in der Praxis auch Lebensversicherungsarten wie die sogenannte „kleine Lebensversicherung“ oder die „Volksversicherung“, die versuchten, große Kreise der arbeitenden, wohlstandslosen Bevölkerung unter das Dach einer Versicherung zu bringen. Dabei arbeiteten sie mit sehr kleinen Versicherungssummen, muss­ ten aber mit umso höheren Verwaltungskosten rechnen. Eine Regel wie § 150 III des Entwurfs war gerade mit dem rationellen Betrieb solcher Geschäftsmodelle schwerlich vereinbar: wie sollten sie ihre hohen Geschäftskosten berücksichtigen können, wenn sie den Abzug gem. § 150 III nach dem Maßstab ihrer außerordent­ lich kleinen Versicherungssummen bestimmen mussten?1120 Selbst Hans Roelli hatte später den Art. 76 II aus seinem eidgenössischen Entwurf gestrichen, da er zur Erkenntnis gelangt war, nicht eine singuläre Berechnungsmethode für alle Arten der Lebensversicherung aufstellen zu können.1121 Auch der deutsche Gesetzgeber strich die starre Obergrenze in der Bundesratsvorlage von 1904 ganz und ersetzte sie durch die offene Formulierung des „angemessenen Abzuges“,1122 die später auch in § 176 IV VVG zu finden war. Erst damit konnte der Gesetzgeber der praktischen Vielfalt auf dem Lebensversicherungsmarkt gerecht werden. bb) Die Umwandlung des Lebensversicherungsvertrages im VVG und ihre Nähe zum Praxisrecht Das Recht des Versicherungsnehmers, seine Lebensversicherung nach Belieben prämienfrei zu stellen, erfuhr die gestalterischen Einflüsse des Reichsgesetzgebers weit weniger als das Rückkaufsrecht. § 174 des VVG von 1908 enthielt grobe Vor­ schriften zur Umwandlung einer prämienpflichtigen zu einer prämienfreien Ver­ 1118

Vgl. Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 304, 305; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 369. Denkschrift der Lebensversicherer v. 06. 10. 1903, S. 15 ff.; Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 304, 307 f.; vgl. im Anschluss auch Mot. VVG (1908) zu § 173; ebd. zu §§ 176, 177. Zu der großen Anzahl von Lebensversicherungsmodellen, die es unter den §§ 173 ff. VVG (1908) zu vereinigen galt, s. alleine schon die Diskussion um die Anwendbarkeit jener Normen in der „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.158 ff. (Lebensver­ sicherung 5. Sitzung zu § 149 RJA-E = § 173 VVG). 1120 Zu den „Volksversicherungen“ vgl. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.163 ff. (Lebensversicherung 5. Sitzung zu § 153 RJA-E = § 178 VVG). Zu den Eigenheiten der Volksversicherung, s. auch Brämer / Brämer (1894), S. 170 ff.; Braun (2. Aufl. 1963), S. 282 f.; Peters, ZVersWiss 2 (1902), 130, 131 f.; Manes (1905), S. 248 ff. 1121 Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 369 f. Vgl. Denkschrift der Lebensversicherer v. 06. 10. 1903, S. 14; Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 304, 310. 1122 § 170 IV VVG-BRV (1904). 1119

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sicherung. Der nachfolgende § 175 VVG sah hingegen vor, dass sich eine Lebens­ versicherung automatisch in eine prämienfreie Versicherung verwandelte, wenn der Versicherer den Vertrag wegen Prämienverzuges i. S. d. § 39 VVG kündigte. Die beiden einschlägigen Vorschriften des VVG lauteten: „§ 174. [1] Der Versicherungsnehmer kann jederzeit für den Schluß der laufenden Versi­ cherungsperiode die Umwandlung der Versicherung in eine prämienfreie Versicherung verlangen. [2] Wird die Umwandlung verlangt, so tritt mit dem bezeichneten Zeitpunkt an die Stelle des vereinbarten Kapital- oder Rentenbetrages der Betrag, der sich für das Alter desjenigen, auf dessen Person die Versicherung genommen ist, als Leistung des Versiche­ rers ergibt, wenn die auf die Versicherung entfallende Prämienreserve als einmalige Prämie angesehen wird. [3] Die Prämienreserve ist für den Schluß der laufenden Versicherungs­ periode zu berechnen. Prämienrückstände werden von dem Betrage der Prämienreserve abgesetzt. [4] Der Versicherer ist zu einem angemessenen Abzuge berechtigt. Ist für den Abzug mit Genehmigung der Aufsichtsbehörde in den Versicherungsbedingungen ein be­ stimmter Betrag festgesetzt, so gilt dieser als angemessen. § 175. [1] Kündigt der Versicherer das Versicherungsverhältnis nach § 39, so wandelt sich mit der Kündigung die Versicherung in eine prämienfreie Versicherung um. Auf die Um­ wandlung finden die Vorschriften des § 174 Abs. 2 bis 4 Anwendung. [2] Im Falle des § 39 Abs. 1 Satz 2 ist der Versicherer zu der Leistung verpflichtet, die ihm obliegen würde, wenn sich mit dem Eintritte des Versicherungsfalls die Versicherung in eine prämienfreie Versicherung umgewandelt hätte. […]“

Insgesamt hatten sich die §§ 174, 175 VVG nicht weit von der vorgesetzlichen Praxis entfernt, welche etwa die Gothaer Lebensversicherungsbank betrieben hatte. Insbesondere die Idee, eine Versicherung nicht völlig aufzulösen, sondern nur prä­ mienfrei zu stellen, wenn der Versicherungsnehmer etwa aus akuter Finanznot in Zahlungsrückstand geriet, war schon der Praxis des späten 19. Jahrhunderts ge­ läufig gewesen. Nichts anderes hatte auch Roelli im oben zitierten Art. 78 I sei­ nes schweizerischen Entwurfes vorgesehen,1123 und so verwundert es nicht, dass die gesamte Materie der Umwandlung im Wesentlichen bereits inhaltsgleich im Reichsjustizamtsentwurf enthalten war.1124 Eine reine, unverzerrte Übernahme des vorgesetzlichen Praxisrechts fand aber auch mit den §§ 174, 175 VVG nicht statt. Der Gesetzgeber hatte etwa bestimmt, dass die Umwandlung nach § 175  I VVG ipso iure stattfand; ein gesonderter schriftlicher Antrag des Versicherungsnehmers, wie ihn noch große Teile der Ver­ sicherungspraxis gefordert hatten, war nun nicht mehr nötig. § 175 II VVG passte das Institut der Umwandlung schließlich konsequent an die Tatsache an, dass der VVG-Gesetzgeber im Falle eines Folgeprämienverzuges nicht nur die Vertrags­ kündigung ermöglicht (§ 39 I 3 VVG), sondern auch die vorübergehende Leistungs­ freiheit (§ 39 I 2 VVG) angeordnet hatte. Daran lässt sich ablesen, wie viel Wert der 1123

Vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 366. §§ 174, 175 VVG (1908) entspr. §§ 151, 152 RJA-E (1902); §§ 165, 166 VVG-E (1903); §§ 168, 169 VVG-BRV (1904); §§ 171, 172 VVG-RTV (1905); §§ 174, 175 VVG-RTV (1907).

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Gesetzgeber darauf legte, die einzelnen Rechtssätze des VVG rechtsdogmatisch exakt miteinander zu verzahnen; auf die konkrete Ausgestaltung der Lebensver­ sicherungspraxis dürfte die Norm des § 175 II VVG hingegen kaum weitreichende Auswirkungen gehabt haben. Abgesehen von dem Detail, dass die Umwandlung im Falle eines Prämienrück­ standes nun zwingend schon ipso iure stattfand, standen die Umwandlungsvor­ schriften damit in denkbarer Nähe zur vorherrschenden Praxis. cc) Fazit zum Rückkauf- und Umwandlungsrecht des VVG Was ihre Nähe zur Versicherungspraxis betrifft, begegnet die gesetzliche Rege­ lung der §§ 173 ff. VVG am Ende einem differenzierten Urteil. Die Grundgedan­ ken von Rückkauf und Umwandlung waren ureigene Erfindungen der moderneren Lebensversicherungspraxis – wenngleich diese Praxis um 1900 kaum homogen ausgestaltet war. Der Gesetzgeber hat sich aus jenem Konvolut verschiedenartiger Praktiken diejenigen ausgewählt, die den Bedürfnissen der Versicherungsnehmer am besten zu entsprechen schienen. Sodann entwickelte er sie in enger Zusammen­ arbeit mit der Lebensversicherungspraxis zu einem praxistauglichen Regelungs­ komplex und bannte diesen in eine gesetzliche Form; in ihrer konkreten Gestalt hatte zuvor aber noch kein Lebensversicherer diese Regeln verwendet. Eine ähn­ liche Arbeitsweise konnte auch schon an anderen Stellen des Lebensversicherungs­ rechts beobachtet werden. Zu berücksichtigen ist ferner, dass die Praxis, dem Versicherungsnehmer bei je­ der erdenklichen Art der Vertragsauflösung den Rückkaufwert zu erstatten, schon ab 1901 verstärkt vom Kaiserlichen Aufsichtsamt forciert worden war. Die Versi­ cherungsaufsicht hatte das Rückkaufrecht insoweit also bereits zu einem geringen Grad vorgeprägt. Letzten Endes hat der Gesetzgeber ein versichertenfreundliches Rückkauf- und Umwandlungsrecht geschaffen, das viele praktisch vorhandene Ansätze aufgriff, das zu einem beträchtlichen Maß aber auch von der eigenen In­ itiative des Gesetzgebers geformt war.

IX. Die Anzeige des Versicherungsfalles Nach der heute absolut vorherrschenden Rechtsauffassung reiht sich die An­ zeige, die der Versicherte beim Eintritt des Versicherungsfalles zu erstatten hat, nahtlos in eine Reihe von vertraglichen Obliegenheiten ein. Sie steht damit in direk­ ter Nähe zu der Anzeige gefahrrelevanter Umstände, die der Versicherungsnehmer vor dem Vertragsschluss tätigen muss, oder zu der Anzeige einer Gefahrerhöhung. Die rechtsdogmatische Natur der „Obliegenheit“ führt dazu, dass der Versicherer keinen selbstständig durchsetzbaren Anspruch auf die Erstattung solcher Anzeigen besitzt. Eine Sanktion, zum Beispiel den Verlust des Versicherungsanspruchs, kann

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die Verletzung einer solchen „Anzeigeobliegenheit“ nur dann nach sich ziehen, wenn diese gesetzlich angeordnet oder vertraglich vereinbart ist.1125 Eine derartige ausdrückliche Sanktionsfolge enthält die heute geltende Vor­ schrift zur Anzeige des Versicherungsfalles jedoch nicht,1126 ebensowenig wie § 33 in der ursprünglichen Fassung des VVG von 1908 eine solche enthielt. Dort hieß es, inhaltlich völlig übereinstimmend mit dem noch heute geltenden Recht:1127 „§ 33. [1] Nach dem Eintritte des Versicherungsfalls hat der Versicherungsnehmer, sobald er von dem Eintritte Kenntnis erlangt hat, dem Versicherer unverzüglich Anzeige zu ma­ chen. [2] Auf eine Vereinbarung, nach welcher der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei sein soll, wenn der Pflicht zur Anzeige des Versicherungsfalles nicht genügt wird, kann sich der Versicherer nicht berufen, sofern er in anderer Weise von dem Eintritte des Versicherungsfalls rechtzeitig Kenntnis erlangt hat.“

Infolgedessen wird die gesetzliche Regelung heutzutage nach ganz überwie­ gender Meinung als eine „lex imperfecta“ angesehen, also als eine Obliegenheit, deren Verletzung keinerlei Rechtsfolge nach sich zieht, es sei denn, der Versiche­ rungsvertrag selbst sieht eine solche Folge vor. Der zweite Absatz des ehemaligen § 33 konnte etwaigen vertraglichen Sanktionen jedenfalls nur Schranken ziehen, ohne aber selbst eine Sanktion zu enthalten. Ein Blick auf die historische Entwicklung jener Bestimmung fördert aber zu Tage, dass weder der Gesetzgeber von 1908 noch die Versicherungspraxis oder die Rechtswissenschaft von dieser Interpretation ausgingen. Die technische Terminus der „Obliegenheit“ ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts,1128 und auch die Be­ handlung des früheren § 33 VVG als „lex imperfecta“ hatte der Gesetzgeber ur­ sprünglich nicht im Sinn gehabt.1129 Die konkrete rechtliche Natur jener Anzeige war im 19. Jahrhundert eine andere. 1. Die Versicherungspraxis im 19. Jahrhundert und ihre mehrstufigen Ausschlussfristen In der Versicherungspraxis hatte man die Schadens- bzw. Todesanzeige mit mehreren starren, objektiv-rechtlichen Ausschlussfristen verknüpft: versäumte der Versicherte oder der Bezugsberechtigte die Anzeige, so konnte er keinen Anspruch 1125 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1331, 1332, 1645; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), § 30 Rn. 10; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 584. 1126 Heute § 30 VVG; es wurde später lediglich ein § 30 I 2 angefügt, der insoweit die Rechts­ verhältnisse in einer Versicherung zugunsten Dritter regelt. 1127 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908. 1128 S. dazu nochmals R.  Schmidt (1953), S. 102 f.; vgl. zur Terminologie auch Hähnchen, Obliegenheiten (2010), S. 7 ff., 113 ff. 1129 Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 579, kritisiert die Behandlung als „lex imperfecta“ und meint, jene sei „der Tradition geschuldet“; unklar bleibt nur, auf welche Tradition sich Wandt bezieht.

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gegen den Versicherer gelten machen. Schon zum Ende des 18. Jahrhunderts hatte das preußische Landrecht dem Versicherten für diese Anzeige eine einzelfallab­ hängige Frist gesetzt, die zu laufen begann, sobald er Kenntnis von dem Unglücks­ fall erlangt hatte (Th. II Tit. 8 § 2164 ALR); mit dem Verstreichen dieser Frist ging automatisch der Verlust des Versicherungsanspruches einher.1130 In der Feuerversicherungspraxis hatte sich im Anschluss daran ein komplexes, mehrstufiges Anzeigeverfahren entwickelt:1131 es sah in der Regel zunächst eine rasche Anzeige an den Versicherer oder seinen Agenten vor, woraufhin wenig spä­ ter eine Meldung des Brandschadens an die örtliche Polizeibehörde folgen musste; schließlich hatte der Versicherte ein Protokoll der polizeilichen Ermittlung sowie ein Verzeichnis aller intakten und beschädigten Gegenstände an den Versicherer einzureichen.1132 Hatte der Versicherte eine dieser drei Fristen rein objektiv gesehen nicht eingehalten, so kam der Anspruch auf die Schadensvergütung gar nicht erst zur Entstehung:1133 aus der Versicherungsrechtsprechung in der Mitte des 19. Jahr­ hunderts sind auch wirklich Fälle bekannt, in denen dem Versicherten die Leistung verwehrt blieb, obwohl die Zeitverzögerung nachweislich entstanden war, weil die Ortspolizei die Sachbearbeitung verweigert hatte.1134 Ähnlich gingen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sogar einige öffentlich-rechtliche Brandkassen vor, in­ dem auch sie den Leistungsanspruch des Versicherten ausdrücklich von der recht­ zeitigen Anzeige des Versicherungsfalles abhängig machten.1135 1130

Abgedruckt in der Textausgabe mit Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). Zur Entwicklung des „dreistufigen“ Anzeigeverfahrens und seinen Berührungspunkten zum ALR, s. § 2 D VIII 3. 1132 § 9 lit.  b AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (SammlungAVB  I,  34); § 6 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); §§ 6 I lit. b-d, 11 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB  I,  38); §§ 6  I, 10 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1886) (Sammlung-AVB I, 75) (nur noch „zweistu­ fige“ Anzeige an Agenten und Ortspolizeibehörde); §§ 6 I, 10 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383) (ebenso); §§ 13 II, III AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65) (ebenso); Art. 27 I, 43 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71) (nur „einstufige“ Anzeige an Agenten nötig). Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 435; Hellwege, ZRG 131 (2014), 226, 258 f. (zu den AVB der „Magdeburger“); Neugebauer (1990), S. 173; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 364. 1133 Vgl. dazu V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893); S. 435; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 92 Rn. 5; von Staudinger (1858), S. 138 f. 1134 Stadt- und Kreisgericht Frankfurt a. M., Urt. v. 16. 05. 1866, VersR 2 (1868), 386, 387 (später aufgehoben); ähnlich AppG Marienwerder, Urt. v. 07. 09. 1864, ZVersR 1 (1866), 76. Vgl. auch Hellwege, RabelsZ 76 (2012), 864, 877 ff. (zu weiteren Entscheidungen); ders., 260 f. (zu ähnlichen Entscheidungen); Neugebauer (1990), S. 175 f. 1135 §§ 50, 52 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS 1859, 477) (Leistungsfreiheit nur bei verschuldeter Nichtanzeige); § 25 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (PrGS 1862, 80) (ohne Rechtsfolgenandrohung); § 49 Re­ vidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS 1863, 545); § 53 II Gesetz betr. Ham­ burger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66); §§ 22, 24, 31 lit. b Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (PrGS 1871, 163); 1131

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Erst die spätere Rechtsprechung begann, die Feuerversicherungsbedingun­ gen über ihren eigentlichen Wortsinn hinaus auszulegen, und befand, dass der Fristlauf zumindest solange gehemmt sein müsse, wie die Anzeigeerstattung dem Versicherten physisch unmöglich war.1136 Die AVB des Verbands deutscher Privat-­Feuerversicherungs-Gesellschaften von 1874 hatten sich dem von der Recht­ sprechung entwickelten Gedanken bereits gefügt. Sie schrieben für den Brand­ schadensfall immer noch ein dreistufiges Anzeigeverfahren vor, gestanden dem Versicherten aber immerhin in Fällen absoluter physischer Unmöglichkeit eine Fristhemmung zu: „§ 6. [1] Im Falle eines Brandes ist der Versicherte verpflichtet: […] b) dem Agenten bin­ nen 24 Stunden nach jedem Brande denselben anzuzeigen; c) binnen drei Tagen nach dem Brande bei seiner Ortspolizeibehörde seine Vernehmung über alle denselben betreffenden Umstände, bei beweglichen Gegenständen auch über die Art und ungefähre Höhe des Scha­ dens zu beantragen, eine beglaubigte Abschrift des darüber aufgenommenen Protokolles nachzusuchen, und dieselbe nach Empfang unverzüglich dem Agenten einzusenden; […] [2] Die genannten Fristen beginnen im Falle erwiesener physischer Unmöglichkeit, sie innezuhalten, da wo letztere aufhört.“

Hatte der Versicherte eine der geforderten Anzeigen unterlassen, ohne dass ihm die besagte Fristhemmung zugute kam, so sollte er „jeden Anspruch auf Ent­ schädigung, und zwar für alle an dem betreffenden Brande beteiligten Versiche­ rungen“ verlieren (§ 13 II). Mit § 6 II der Verbandsbedingungen waren die Feuer­ versicherer – und parallel dazu einige staatlichen Mobiliarfeuersozietäten – zwar den Minimalstandards gefolgt, welche die Gerichte ihnen vorgegeben hatten,1137 doch ob der Versicherte die etwaige Fristversäumnis verschuldet hatte, spielte noch immer keine Rolle. Das änderte sich erst 1904, als das neu geschaffene Kaiserliche Aufsichtsamt den Feuerversicherungsgesellschaften nahelegte, ihre AVB bereits im Voraus an die Regelungen des künftigen VVG und an das ihm immanente „Verschuldens­ prinzip“ anzupassen. Daraufhin verlautbarte die Vereinigung der in Deutschland § 50 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122) (ohne Rechts­ folgenandrohung); B  § 5  I Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinpro­ vinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99). Vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 92 Rn. 5. 1136 Urteil des PrOTR, teilabgedruckt bei Malß, ZHR 13 (1869), 419, 447; OLG Dessau, Urt. v. 11. 11. 1865, ZVersR I, 175; vgl. Hellwege, RabelsZ 76 (2012), 864, 884 ff. (mit weiteren Entscheidungen); Neugebauer (1990), S. 175 f. Dazu auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 477; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 368 f. 1137 Ähnlich § 6 II AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860), § 22  II  2, III Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesell­ schaft Westpreußen (1871); § 6  IV Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschaften (1886); § 6 IV AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); B § 5 VIII Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903); § 13 V AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). Vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 92 Rn. 2.

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arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften in ihrer „Erklärung“ zu den Verbandsbedingungen von 1886: „Zu § 10. Der Versicherte verliert wegen nicht rechtzeitiger Anzeige des Brandes an den Agenten oder die Gesellschaft (§ 6, Abs. 1) seinen Anspruch auf Entschädigung nur bei grobfahrlässiger Unterlassung der Anzeige.“

Damit war im Jahr 1904 endgültig der Schritt von einer objektiv-recht­lichen Be­ dingung zu einer verschuldensabhängigen Sanktionsvorschrift vollzogen worden.1138 In anderen Versicherungszweigen verharrten die AVB auch am Anfang des 20. Jahrhunderts noch auf dem Standpunkt, die Anzeige des Versicherungs­ falles sei eine objektive Bedingung für die Entstehung des Versicherungsan­ spruchs. Die meisten dieser AVB kannten jedoch kein differenziert aufgefächertes, mehrstufiges Anzeigeverfahren wie in der Feuerversicherung. Nach der herr­ schenden Lebensversicherungspraxis waren lediglich „mit thunlichster Beschleu­ nigung“1139 alle Sterbefallpapiere vorzulegen, hauptsächlich also die amtliche Ster­ beurkunde und eine ärztliche Bescheinigung über die Todesursache,1140 wobei aber nur wenige AVB ganz ausdrücklich anordneten, dass der Anspruch auf die Ver­ sicherungssumme schon bei einer objektiv-rechtlichen Fristversäumnis verfallen sollte.1141

2. Das Gegenkonzept der Gesetzgebung: die Anzeige des Versicherungsfalles als vertragliche Nebenpflicht Währenddessen wählte die Gesetzgebung ab dem 19. Jahrhundert einen voll­ kommen andersartigen Ansatz. Man war sich zwar einig, dass dem Versicherten eine solche Anzeige auferlegt werden müsse, da er schließlich viel näher an dem versicherten Gegenstand stehe als der Versicherer. Den objektiv-rechtlichen Anspruchsausschluss, den noch Th. II Tit. 8 § 2164 ALR vorgesehen hatte und der auch in den AVB insbesondere der Feuerversiche­ rungsgesellschaften weit verbreitet war, empfanden sämtliche Entwurfsverfasser

1138 Ähnlich auch Art. 27 I, 43 AVB Württembergische Privatfeuerversicherung (1905). Vgl. auch Neugebauer (1990), S. 153. 1139 § 58 I 1 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). 1140 §§ 53  I, 54  S. 2 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (Leis­ tungsfreiheit nur bei wissentlichen Falschangaben); § 14 II 1 Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856); § 9 I „Volksversicherungsbedingungen“ der AVB Victoria VersicherungsAktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Sammlung-AVB II, 109); § 17 I 1 AVB Stuttgarter Lebens­ versicherungsanstalt (1906) (Sammlung-AVB II, 81). 1141 So aber § 37 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857) (Samm­ lung-AVB II, 31) (der Feuerversicherung angenähert, mit Frist als objektiv-rechtlicher Leis­ tungsbedingung und Fristhemmung bei Unmöglichkeit); § 12 II, IV Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44).

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als „viel zu hart“ gegen den Versicherten.1142 Den eigentlichen Sinn und Zweck einer solchen Anzeige sahen sie nämlich nur darin, dem Versicherer eine effek­ tive Möglichkeit zu geben, um den Schaden zu beseitigen oder seine weitere Aus­ breitung zu verhindern.1143 Folglich entschied sich schon Hofacker, der 1839 den Württembergischen HGB-Entwurf verfasst hatte, gegen die Vorbilder aus dem ALR und erst recht aus der Versicherungspraxis und kopierte stattdessen die Lö­ sung der französischen, niederländischen und portugiesischen Seeversicherungs­ gesetzgebung.1144 In Art. 470 des Hofacker-Entwurfes fand sich daher folgende Vorschrift:1145 „Art. 470. Vorbehältlich der besonderen Bestimmungen bei den einzelnen Versicherungsar­ ten ist der Versicherte verpflichtet, allen Fleiß zu Rettung des Versicherungsgegenstandes aus einer entstandenen Gefahr anzuwenden, und den Versicherer unverweilt nach Entste­ hung des Schadens davon zu benachrichtigen: widrigenfalls haftet er für den aus der Un­ terlassung entstehenden Nachtheil.“

Die nachfolgenden Kodifikationsentwürfe taten es dem württembergischen gleich: der preußische HGB-Entwurf forderte eine Schadensanzeige „ohne Zö­ gern“;1146 der bayerische BGB-Entwurf verlangte eine „unverzügliche“1147 und der Dresdener Obligationenrechtsentwurf eine „ohne Verzögerung“ erfolgende Schadensanzeige.1148 Falls aber die Pflicht zur rechtzeitigen Anzeige versäumt worden war, so gewährten alle genannten Entwürfe dem Versicherer bloß einen Schadensersatzanspruch in Höhe des dadurch entstandenen Mehrschadens, wel­ cher ihm dann zur Aufrechnung gegen den Anspruch des Versicherten zur Ver­ fügung stand.1149 Auch das deutsche Seeversicherungsrecht adaptierte in Art. 822 ADHGB diese rechtliche Lösung. Sowohl in der Wissenschaft als auch in der Gesetzgebung hatte sich die Er­ kenntnis durchgesetzt, dass die AVB der Versicherungspraxis insoweit keinen verallgemeinerungsfähigen Gedanken des deutschen Versicherungsrechts zum Ausdruck brachten. Zwar handele es sich bei den strengen Rechtsfolgen der ein­ schlägigen AVB-Klauseln um „unvermeidliche Folgen formaler Stipulationen, wie 1142 So ausdrücklich Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 470 (Textausgabe, 1840); Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 339 (Textausgabe, 1857). 1143 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 470; im Ergebnis auch Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 339; Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 816 (Textausgabe, 1861); vgl. Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3245 f.; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 55. 1144 Art. 383 Code de commerce (1807); Ziff. 1778 Codigo Commercial (1833); Art. 283 Wet­ boek van Koophandel (1838). Vgl. Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 470. 1145 Abgedruckt als Textausgabe (1839). 1146 Art. 339 I HGB-Entwurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857). 1147 Art. 816 I BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textausgabe, 1861). 1148 Art. 911 I Entwurf Dresd. OR (1866) (Textausgabe von Hrsg. Francke [1866]). 1149 Art. 339  II HGB-Entwurf Preußen (1857); Art. 816  II BGB-Entwurf Bayern (1861); Art. 911 II Entwurf Dresd. OR (1866). Vgl. dazu Duvinage (1987), S. 22 (zum preußischen Entwurf); Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 58; Neugebauer (1990), S. 51, 62, 76, 174 (zum württem­ bergischen, preußischen und bayerischen Entwurf).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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sie hundertfältig im Rechtsverkehre vorkommen“,1150 doch sei diese Regel von den Versicherungsgesellschaften rein einseitig als „Conventionalstrafe“ in die AVB eingeführt worden und tauge daher nicht zum allgemeinen Rechtsprinzip.1151 Im Endeffekt behandelte die Wissenschaft – ebenso wie die Gesetzgebung – die An­ zeige des Versicherungsfalles also von Anfang an als echte Vertragspflicht, de­ ren Verletzung einen Schadensersatzanspruch auslösen konnte.1152 Den objektiv-­ rechtlichen Ausschlussfristen hatten die Entwürfe einmütig eine Absage erteilt. Die Reichsrechtsprechung befand sich auf derselben Linie: so hatte schon das BOHG eindeutig ausgesprochen, der völlige Anspruchsausschluss infolge einer unterlassenen Schadensanzeige lasse sich nicht zwingend aus dem „Wesen des Ver­ sicherungsvertrages“ ableiten, denn entsprechende AVB-Klauseln seien „den For­ derungsberechtigten im ausschließlichen Interesse des Versicherers auferlegt.“1153 3. Das Versicherungsvertragsgesetz: die „missverstandene“ Dogmatik des § 33 VVG Jene rechtliche Auffassung, welche die Schadensanzeige als echte Vertrags­ pflicht ansah, setzte sich in den Arbeiten am Versicherungsvertragsgesetz nahtlos fort. Zwar hatten die Verbandsorganisationen der deutschen Feuer- und Lebens­ versicherungsgesellschaften noch vor Abfassung des Reichsjustizamtsentwurfs offensiv dafür plädiert, die Anzeige als echte Rechtsbedingung zu begreifen,1154 doch der Entwurf von 1902 folgte der rechtlichen Wertung, die sich schon in allen Entwürfen des vorangegangenen Jahrhunderts durchgesetzt hatte und die im Üb­ rigen auch ihren Weg in den schweizerischen VVG-Entwurf1155 gefunden hatte. Der Reichsjustizamtsentwurf bestimmte: „§ 24. Der Versicherte ist, sobald er von dem Eintritte des Versicherungsfalls Kenntniß erlangt, verpflichtet, dem Versicherer unverzüglich Anzeige zu machen. Steht das Recht 1150

So noch Malß, ZVersR 1 (1866), 105, 117; ähnlich von Staudinger (1858), S. 138 f. (Re­ zeption der Versicherungspraxis). 1151 So ausdrücklich Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 59; Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 366. 1152 Beseler (4. Aufl. 1885), § 266.V (S. 1234); Bluntschli / Dahn (3. Aufl. 1864), § 161.6 (S. 500); V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 345; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 55 f.; Walter (1855), § 380.III (S. 430); Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 366. 1153 BOHGE 1, 108, 111; in diese Richtung auch schon PrOTR, Teilabdruck bei Malß, ZHR 13 (1869), 419, 447. Vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 33 Rn. 1; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 435; Neugebauer (1990), S. 175 ff. 1154 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 284 f. (aller­ dings unter Anerkennung der Fristhemmung bei unmöglicher Erfüllung der Anzeigeverpflich­ tung); Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 245. So auch noch nach Erscheinen des Entwurfes von 1903 vertreten in der Denkschrift der Lebens­ versicherer v. 06. 10. 1903, S. 9; vgl. Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 306 (mit Hinweis auf die Bedürfnisse der Hagelversicherer). 1155 Art. 37 I, II Entwurf VVG Schweiz (1902) (ZVersWiss 2 [1902], 1); vgl. Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 341.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

auf die Leistung einem Anderen als dem Versicherten zu, so liegt die Pflicht zur Anzeige dem Anderen ob.“

In dem terminus technicus einer „unverzüglichen“ Anzeige verbarg sich auch an diesem Punkt ein Verschuldenselement: die Anzeige musste im Sinne des § 121 I BGB „ohne schuldhaftes Zögern“ des Versicherten erfolgen.1156 Der Entwurfsver­ fasser konturierte den Begriff der „Unverzüglichkeit“ für die einzelnen Versiche­ rungszweige noch weiter. Er sah vor, dass ein Feuerversicherter gem. § 79 des Ent­ wurfes in jedem Falle rechtzeitig handelte, wenn er die Schadensanzeige binnen zwei Tagen nach dem Brandereignis vornahm; dem Lebensversicherten blieb nach § 146 des Entwurfes sogar eine volle Woche Zeit.1157 Bloß über die Rechtsfolge der unterlassenen Anzeige verlor der Entwurf kein Wort – eine Tatsache, die ihn nach heutiger Rechtsanschauung, wie gezeigt, zu einer „lex imperfecta“ macht. Ausweislich der späteren amtlichen Gesetzesbegrün­ dung sollte eine Verletzung des § 24 aber eine eigenständige Schadensersatzpflicht nach sich ziehen, falls sich der Schaden durch die verspätete Anzeige ausgeweitet hatte1158 – so, wie es in allen Entwürfen des 19. Jahrhunderts der Fall gewesen war. Die Entwurfsverfasser im Reichsjustizamt hielten es augenscheinlich für selbst­ verständlich, dass die Norm eine eigenständige vertragliche Nebenpflicht beinhal­ tete, und sahen deswegen auch gar keine Notwendigkeit, die Vorschrift mit einer eigenständigen Sanktion auszustatten. Die Schadensersatzpflicht des Versicherten ergab sich ja bereits aus den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen über die Vertragsverletzung. Vertragliche Sanktionen, wie sie vor allem die Feuerversiche­ rungsbedingungen vorgesehen hatten, waren daneben nach wie vor zulässig, aber in ihrer Reichweite stark eingeschränkt.1159 Die vollkommene Leistungsfreiheit konnten AVB nach den allgemeinen Vorschriften des Reichsjustizamtsentwurfs nur noch anordnen, wenn der Versicherte eine Vertragspflicht, die ihn nach Eintritt des Versicherungsfalls traf, arglistig verletzt hatte (§ 29); für das nicht-arglistige Unterlassen der Schadensanzeige hingegen konnten sich die Versicherungsgesell­ schaften nach § 33 II des Reichjustizamtsentwurfes nur noch eine Vertragsstrafe ausbedingen, die „fünf vom Hundert des Betrages, welchen der Versicherer zu zahlen hat“, nicht überschritt. Im weiteren Gesetzgebungsverfahren konnten die Versicherungsgesellschaften keinen Einfluss auf die Vorschrift zur Anzeige des Versicherungsfalles mehr aus­ üben. Das gesetzgeberische Kernkonzept in § 24 des Reichsjustizamtsentwurfes erhielt sich bis in den eingangs erwähnten § 33 I VVG hinein.1160

1156

Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 33 Rn. 2. Zu den speziellen Anzeigefristen für einzelne Versicherungszweige auch Rautmann, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 20, 29. 1158 Mot. VVG (1908) zu § 33 (Nachdruck [1963], S. 59). 1159 Mot. VVG (1908) zu § 33. 1160 § 33 I VVG (1908) entspr. § 24 RJA-E (1902) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91); § 37 S. 1 VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); § 33 I VVG-BRV (1904) (GStA PK, I. HA 1157

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Mit dem erst später hinzugefügten § 33  II VVG1161 zog der Gesetzgeber den Kreis der zulässigen vertraglichen Sanktionen sogar noch enger: die AVB konnten den Versicherten jetzt nur noch leistungsfrei stellen, falls der Versicherer nicht aus anderweitigen Quellen von dem Versicherungsfall Kenntnis erlangt hatte. Aller­ dings durften die AVB nach der Regel des § 6 II VVG, der an die Stelle der Rege­ lungen in §§ 29, 33 II des Reichsjustizamtsentwurfes trat,1162 die Leistungspflicht des Versicherers jetzt immerhin ausschließen, wenn der Versicherte die Anzeige fahrlässig versäumt hatte.1163 Eine Norm mit dem Inhalt des § 33 II VVG war zum ersten Mal in der Reichs­ tagsvorlage von 1905 aufgetaucht.1164 Sie dürfte den Rechtsgedanken, der sich in entsprechender Form schon bei der Gefahr- und Gefahrerhöhungsanzeige durch­ gesetzt hatte, auch auf die Anzeige des Versicherungsfalles übertragen haben – nämlich, dass die Anzeigepflicht des Versicherten nach Treu und Glauben dort ende, wo der Versicherer selbst Kenntnis von den fraglichen Umständen erlangt hatte.1165 Jenen Gedanken hatten auch schon die wissenschaftliche Literatur und die Rechtsprechung für das Gebiet der Schadensanzeige fruchtbar machen wol­ len.1166 Offenbar wollte der Gesetzgeber also die rechtliche Behandlung aller nach dem VVG erforderlichen Anzeigen miteinander harmonisieren; jedenfalls aus der gewachsenen Versicherungspraxis stammt der Idee des § 33 II VVG nicht. Lediglich die konkrete Minimalfrist von einer Woche, die § 146 des Reichjustiz­ amtsentwurfes für das Lebensversicherungsrecht vorgesehen hatte, korrigierte der Gesetzgeber noch im Sinne der Praxis. Er verkürzte die Frist auf drei Tage (§ 171 VVG),1167 weil einige Sachverständige aus den Kreisen der Versicherer eingewen­ det hatten, in gegebenen Fällen sei in der Praxis eine möglichst baldige ärztliche Untersuchung der Leiche geboten, und zwar noch ohne sie später exhumieren zu

Rep. 84a, Nr. 5576.1); § 33 I VVG-RTV (1905) (Mot. VVG, Nachdruck [1963], S. 440; § 33 I VVG-RTV (1907) (Mot. VVG, Nachdruck [1963], S. 440). 1161 §§ 33 II VVG-RTV (1905). 1162 Zu den unter dem VVG insoweit noch zulässigen vertraglichen Sanktionen, s. ausdrück­ lich Mot. VVG (1908) zu § 33; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 33 Rn. 2, 4. 1163 Zur Entstehung der vor die Klammer gezogenen Regelung des § 6 VVG (1908), die sich aus dem ursprünglichen § 29 RJA-E (1902) entwickelt hat, s. bereits ausführlich unter § 3 C III 3 c. 1164 § 33 II VVG-RTV (1905). 1165 Dazu schon unter § 3 D VI 3 a (zur Gefahranzeige) und § 3 D VII 2 b aa (zur Gefahrerhö­ hungsanzeige). 1166 Stadtgericht Frankfurt a. M., ZVersR 2 (1868), 207, 208 f.; HAG Nürnberg, Teilabdruck bei Malß, ZHR 13 (1869), 419, 440; V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 433; ähnlich Wolff, ZVersR 1 (1866), 337, 369 f. Vgl. dazu auch Hellwege, Allgemeine Geschäftsbedingun­ gen (2010), S. 176 f.; ders., RabelsZ 76 (2012), 864, 884; insgesamt Neugebauer (1990), S. 174 f. 1167 § 171 VVG (1908) entspr. § 146 RJA-E (1902); § 161 VVG-E  (1903); § 165 VVG-BRV (1904); § 168 VVG-RTV (1905); § 171 VVG-RTV (1907). Die Änderung zur Drei-Tages-Frist hatte bereits im Entwurf von 1903 stattgefunden.

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müssen.1168 Die Drei-Tages-Frist für das Feuerversicherungsrecht blieb seit dem Entwurf von 1902 jedoch unverändert (§ 92 VVG).1169 Im Ergebnis hat sich gezeigt, dass auch die Vorschriften zur Anzeige des Scha­ dens- oder des Todesfalles ihre rechtsdogmatischen Wurzeln nicht in der Versiche­ rungspraxis, sondern in den Kodifikationsversuchen des 19. Jahrhunderts hatten, während der deutsche Gesetzgeber noch einige neue Gedanken in die diskutierte Rechtsmaterie eingebracht hat. Wenn es nun auf den ersten Blick wiederum so erscheint, als hätte sich der Gesetzgeber tendenziell an den um 1904 verwendeten Feuerversicherungsbedingungen orientiert, so trügt auch dieses Bild. Im Gegen­ teil waren die AVB von 1904 auf Druck der Versicherungsaufsicht an den im Vor­ jahr veröffentlichten VVG-Entwurf angeglichen worden; auch er hatte bereits, wie später die „Erklärung“ der Vereinigung der in Deutschland arbeitenden PrivatFeuerversicherungsgesellschaften, den Verlust des Versicherungsanspruches vom Verschulden des Versicherten abhängig gemacht. Im Endeffekt folgten hier also einmal mehr die AVB den Vorstellungen des Gesetzgebers und nicht umgekehrt. Am Rande bemerkt hat die Quellenforschung auch bewiesen, dass der historische Gesetzgeber die Schadensanzeige als echte vertragliche Nebenpflicht ausgestalten wollte. Wenn die moderne Rechtswissenschaft den ehemaligen § 33 VVG dem­ gegenüber als „lex imperfecta“ bezeichnet, verdeckt sie dadurch seine gesamte rechtshistorische Dimension; der ursprünglichen Intention des VVG-Gesetzgebers entspricht die heutige Rechtsauffassung nicht.

X. Die Verursachung des Versicherungsfalles durch den Versicherten Dass der Versicherte keinen Anspruch gegen seinen Versicherer erheben kann, wenn er den Unglücksfall selbst vorsätzlich herbeigeführt hat, gehörte schon weit vor dem 19. Jahrhundert zu den trivialen Grundsätzen des Versicherungsrechts. Doch wie auch in vielen anderen Fällen entbrannte erst zur Mitte des 19. Jahrhun­ derts ein rechtsdogmatischer Streit darum, worin eigentlich die innere Begründung dieses Rechtssatzes lag – und je nachdem, auf welchem Standpunkt die jeweiligen Entwurfsverfasser standen, entwickelten sie unterschiedliche Antworten auf die Folgefrage, wie es denn um die Versicherungsansprüche eines lediglich fahrlässig handelnden Versicherten stand. Während man sich bei dieser Diskussion um den Verschuldensmaßstab aber im Grundsatz einig war, dass zumindest der Vorsatz des Versicherten immer zum totalen Anspruchsverlust führen musste,1170 entwickelten Teile der Lebensversicherungspraxis nach 1850 die Gewohnheit, den Leistungsan­ 1168 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.138 f. (Lebensversi­ cherung 2. Sitzung zu § 24 RJA-E = § 33 VVG); so schließlich auch Mot. VVG (1908) zu § 171. 1169 § 92 VVG (1908) entspr. § 79 RJA-E (1902); § 91 VVG-E (1903); § 89 VVG-BRV (1904); § 92 VVG-RTV (1905); § 92 VVG-RTV (1907). 1170 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 420.

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spruch sogar in bestimmten Fällen des Selbstmordes nicht mehr verfallen zu lassen. Die Rechtsfragen des selbstverschuldet herbeigeführten Versicherungsfalles haben damit bis hin zur Kodifikation des VVG eine ungeahnt dynamische Entwicklung erfahren. Im Zentrum der folgenden Betrachtung soll zunächst die allgemeine Dis­ kussion um das Eigenverschulden des Versicherten stehen 1., um im Anschluss da­ ran die besonderen Probleme des Lebensversicherungsrechts näher zu beleuchten, insbesondere das Problem des Selbstmordes der versicherten Person 2. 1. Die allgemeinen Regeln zur Verursachung des Versicherungsfalles Bei der Kodifikation des Allgemeinen preußischen Landrechts war die Behand­ lung des schuldhaft herbeigeführten Versicherungsfalles noch nicht von tieferen dogmatischen Diskussionen flankiert worden. Das ALR verfügte zwar über ver­ hältnismäßig komplexe Verschuldens- und Zurechnungsregeln; jene hatten sich aber hauptsächlich aus einer Reihe seeversicherungsrechtlicher Normen entwi­ ckelt. So konnte der Versicherte keinen Schadensersatz beanspruchen, wenn er den Schaden selbst vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hatte. Dasselbe galt auch, wenn ein Familienangehöriger des Versicherten das Brandunglück verschuldet hatte (Th. II Tit. 8 §§ 2119, 2156, 2235 ALR).1171 Bei Feuerschäden, die von anderen Hausgenossen oder Angestellten des Versicherten verursacht worden waren, kam es hingegen nur darauf an, ob dem Versicherten selbst bei der Aufnahme, Anstel­ lung oder Überwachung der betreffenden Person Fahrlässigkeit vorzuwerfen war (§§ 2236–2238 ALR).1172 Innerhalb der deutschen Binnenversicherungspraxis, die ab dem frühen 19. Jahr­ hundert in größerem Maßstab entstand, entwickelten sich allgemeine Grundsätze zum Eigenverschulden des Versicherten vor allem in den AVB der Feuerversiche­ rer. Das Lebensversicherungsrecht war dagegen in dieser Hinsicht eher von einigen charakteristischen Eigenheiten geprägt, die später noch thematisiert werden sollen. Die ältesten Feuerversicherungsgesellschaften hatten dem Versicherten nur bei vorsätzlichem oder – ganz gelegentlich – bei grob fahrlässigem Handeln die Ersatz­ leistung versagt.1173 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wandelten sich die AVB jedoch merklich zuungunsten der Versicherten; ihren Höhepunkt fand diese Entwicklung mit den standardisierten Bedingungen des Verbands deutscher Privat-Feuerversi­ 1171

Abgedruckt als Textausgabe mit Hrsg. Hattenhauer (3. Aufl. 1996). Zur Entwicklung der Th.  II Tit.  8 §§ 2119, 2156, 2235–2239 ALR im Detail unter § 2 D IX 3 c–e. 1173 Art. 135 I lit. d, e AVB Württembergische Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (Sammlung-AVB I, 14) („Bosheit der Verschuldung“); Art. 3 I 1 AVB Bayerische Hypothe­ ken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30) („Bosheit oder Frevel“); §§ 1 II, 12 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34) („Bosheit, vor­ sätzliche[r] Mutwillen oder grobe Fahrlässigkeit“); § 1 S. 2 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378) („grobe Verschuldung“). 1172

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cherungs-Gesellschaften von 1874, die den Versicherten schon mit dem Verlust der Versicherungsleistung sanktionierten, wenn er den Versicherungsfall leicht fahr­ lässig herbeigeführt hatte.1174 Diese Entwicklungstendenz kehrte sich allerdings um, indem die „Verbandsbedingungen“ im Jahr 1886 statuierten:1175 „§ 10. Wenn der Versicherte den Brand vorsätzlich oder durch grobes Verschulden ver­ ursacht, […] so verliert er jeden Anspruch auf Entschädigung und zwar für alle an dem betreffenden Brande beteiligten Versicherungen.“

In diesem Falle hatte die Feuerversicherungspraxis ihre AVB also in der Tat aus eigener Kraft und ohne die lenkende Initiative des Staates liberalisiert; einen maß­ geblichen Anstoß dazu dürfte gegeben haben, dass zu dieser Zeit industrielle und landwirtschaftliche Verbände auf eine versichertenfreundlichere Gestaltung der Verbandsbedingungen gedrängt hatten. Eine überwiegende Zahl der staatlichen Brandkassen verweigerte die Auszahlung der Versicherungsleistung gar nur bei einer vorsätzlichen Brandstiftung; oft erlaubten die einschlägigen Reglements den Sozietäten jedoch, die Versicherungsleistung auf dem Zivilrechtsweg zurückzufor­ dern, falls dem Versicherten im Nachhinein mindestens „culpa lata“ nachweisbar war. Im Endeffekt kam es damit also sowohl bei den privaten als auch bei den öf­ fentlichen Versicherern auf die Frage der groben Fahrlässigkeit an.1176 Flankierend zu den eigenständigen Entwicklungen in der Feuerversicherungspraxis hatte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine lebhafte rechtsdogmatische Diskussion um den eigentlichen Rechtsgrund jener Sanktionen entsponnen. Die strengere Auffassung 1174 § 1  II  1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38). 1175 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 75. So auch § 10 AVB Aachener und Münchener Feuer­ versicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383); § 19 IV AVB Gothaer Feuerver­ sicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65); Art. 43 AVB Württembergische Privatfeuer­ versicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71). 1176 §§ 14,  19  I Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833) (Leis­ tungsfreiheit bei Vorsatz und Betrug) (Lappenberg XII, 258); §§ 47, 48 Reglement Provin­ zial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836) (PrGS 1836, 13); §§ 40, 41 Reglement Feuer­ sozietät Königsberg i.Pr. (1846) (PrGS 1846, 171) (mit zivilrechtlichem Regress bei grober Fahrlässigkeit); §§ 69, 70 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS  1859,  477) (ebenso); §§ 27, 28 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (PrGS  1862, 80) (ebenso); §§ 17  III, 43, 44 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (PrGS 1863, 578) (ebenso); §§ 46 Nr. 3, 47 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS 1863, 545) (ebenso); § 16 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66) (Leistungsfreiheit bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit); § 31 lit. a Sta­ tut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (PrGS 1871, 163) (Leistungsfreiheit bei Vorsatz, i. Ü. Anwendung der ALR-Normen); §§ 55, 56 I Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (zivilrechtlicher Regress bei grober Fahrlässigkeit) (PrGS  1872,  122); § 5  I Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902) (Sammlung-AVB I, 79) (bereits grobe Fahrlässigkeit anspruchsschädlich, aber dann ggf. Auszahlung aus Billigkeitsgründen); A § 3 VIII Reglement Provinzial-Feuer-Versiche­ rungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99) (bereits grobe Fahrlässigkeit anspruchsschädlich, zivilrechtlicher Regress bei leichter Fahrlässigkeit vorbehalten). Vgl. Müssener (2008), S. 272 (nur selten Anspruchsverlust bei den öffentlichen Versicherern).

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ging davon aus, dass der Versicherer nur für „jeden Zufall“ haften wolle; das liege geradezu in der inneren Rechtsnatur des Versicherungsvertrages begründet. Ein solcher „Zufallsschaden“ liege aber schon dann nicht mehr vor, wenn der Versi­ cherte auch nur leicht fahrlässig zum Eintritt des Versicherungsfalles beigetragen habe.1177 Vertreten wurde dieser Standpunkt, der später auch ins Seeversicherungs­ recht des ADHGB Eingang fand,1178 vom preußischen HGB-Entwurf1179 und vom bayerischen BGB-Entwurf.1180 Der bayerische Entwurf berief sich in seinen Moti­ ven sogar ganz ausdrücklich auf die erörterte dogmatische Meinung, die nur Zu­ fallsschäden als versicherbar betrachtete.1181 In letzter Konsequenz schlossen beide Entwürfe die Leistungspflicht des Versicherers selbst in Konstellationen leichter Fahrlässigkeit des Versicherten aus, wie die entsprechende Passage aus dem preu­ ßischen HGB-Entwurf demonstrieren kann:1182 „Art. 337. Der Versicherer haftet nicht für den Schaden, welcher durch die Schuld des Ver­ sicherten entstanden ist.“

Die Gegenauffassung reklamierte zwar ebenfalls, sich auf „innere Natur“ des Versicherungsvertrages zu stützen. Diese „Natur“ verstand sie allerdings in dem Sinne, dass der Versicherer im Zweifel für alles „Regelmäßige im Leben“ Schutz gewähren wolle  – nur im Falle mindestens grober Fahrlässigkeit sei daher der Anspruchsverlust des Versicherten geboten.1183 Im Prinzip hatte diese Ansicht sich schon in Hofackers württembergischem HGB-Entwurf angedeutet, bevor die Rechtswissenschaft überhaupt vertieft in die versicherungsrechtsdogmatische Diskussion eingestiegen war. Leicht missverständlich hieß es dort in Art. 461:1184 „Art. 461. [1] Der Versicherer ist nicht gehalten, den Verlust oder Schaden zu ersetzen, welcher durch eigne Schuld des Versicherten verursacht wurde. [2] Wurde der Schaden durch Verschuldung der vom Versicherer[1185] Angestellten oder seiner Aufsicht Untergebe­ nen veranlaßt; so befreit dieß den Versicherer nicht: wenn nicht den Versicherer eine grobe Verschuldung bei der Anstellung oder Beaufsichtigung trifft.“

1177

Maurenbrecher / Walter, Bd. 2 (2. Aufl. 1855), § 441 (S. 86); Walter (1855), Ziff. 380.III (S. 429 f.). 1178 Art. 825 Nr. 4 ADHGB (1861) (Textausgabe mit Hrsg. Lutz [4. Aufl. 1861]); entspr. § 821 Nr. 4 HGB (1897) (RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336). 1179 Art. 337 HGB-Entwurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857). 1180 Art. 817 II BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textausgabe, 1861). 1181 Mot. BGB Bayern (1861) zu Art. 817 (Textausgabe, 1861). 1182 Dazu auch Duvinage (1987), S. 22; Neugebauer (1990), S. 63. 1183 RG 14, 119, 121 (leichte Fahrlässigkeit nur im Seeversicherungsrecht schädlich); RG SeuffA 39, Nr. 328. Dazu auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 421; Gerber (5. Aufl. 1855), § 202 (S. 491 Fn. 9); Mittermaier, Bd. 2 (7. Aufl. 1847); § 302.II (S. 102): vgl. auch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 46 ff.; Lewis (1889), S. 210 f.; Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 342; von Staudinger (1858), S. 88. 1184 Abgedruckt als Textausgabe (1839). 1185 Bei dem Wortlaut des Entwurfes handelte es sich um ein redaktionelles Versehen; statt vom „Versicherer“ hätte hier vom „Versicherten“ die Rede sein müssen. Dazu ausdrücklich auch Osiander (1844), S. 71.

576

§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Erst die Entwurfsmotive stellten klar, dass die Haftung des Versicherten nur im Falle der „culpa in concreto“ ausgeschlossen sein sollte, dass also das Verschulden am Maßstab der eigenüblichen Sorgfalt gemessen werden müsse; im Kern war da­ rin bereits der Gedanke enthalten, dass der Versicherer typischerweise die Haftung für alle Schäden übernehmen wolle, die dem Versicherten bei der gewöhnlichen Ausführung seiner täglichen Angelegenheiten zustoßen konnten. Im Ergebnis sollte der Versicherte unter dem Hofacker-Entwurf nicht schon bei jeder leichten Fahrlässigkeit leistungsfrei stehen.1186 Dieselbe Meinung setzte sich am Ende auch in den Dresdener Konferenzen für ein gemeinsames deutsches Obligationenrecht durch,1187 nachdem ein vorberei­ tender Ausschuss zum Obligationenrecht ursprünglich noch erwogen hatte, die strengere Regel des Seeversicherungsrechts, also die Haftung des Versicherers nur für Zufallsschäden (Art. 825 Nr. 4 ADHGB), zur Kodifikation zu bringen.1188 Die endgültige Fassung des Obligationenrechtsentwurfs ordnete die Leistungsfreiheit des Versicherten dann aber nur noch bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Handeln an (Art. 910).1189 Der Gesinnungswandel der Dresdener Konferenzteilneh­ mer lag übrigens unter anderem darin begründet, dass „durch die Aufbürdung der Sorgfalt eines sorgsamen Hausvaters der Chicane ein weites Thor geöffnet würde, wodurch der Zweck der Versicherung leicht vereitelt werden könnte.“1190 Während also die Feuerversicherungsbedingungen zur gleichen Zeit in die Richtung eines besonders scharfen Verschuldensmaßstabes tendierten, hatte schon der Dresdener Entwurf eine äußerst kritische Haltung gegenüber solchen Entwicklungen ein­ genommen; er begann bereits, die Belange der Versicherten stärker zu betonen. Das Versicherungsvertragsgesetz1191 hatte sich schon in seinem Stadium als Reichsjustizamtsentwurf jener letztgenannten Meinung angeschlossen,1192 ohne dass ihm die Feuerversicherer dabei noch Gegenwehr geleistet hätten;1193 schließ­ lich pflegten ein großer Teil von ihnen seit 1886 selbst eine entsprechende Praxis. So beinhaltete auch das VVG von 1908 die Vorschrift: 1186

Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 461 (Textausgabe, 1840). Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 46 f.; Neugebauer (1990), S. 52. 1187 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3266 ff. Vgl. auch Duvinage (1987), S. 30; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 50. 1188 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3265; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 47 f. 1189 Abgedruckt als Textausgabe mit Hrsg. Francke (1866). 1190 Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3266 f. Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 49; Neugebauer (1990), S. 82. 1191 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908. 1192 § 47 RJA-E (1902) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91); entspr. § 55 VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); § 59 VVG-BRV (1904) (GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); § 61 VVG-RTV (1905) (Mot. VVG [Nachdruck 1963], S. 440); § 61 VVG-RTV (1907) (Mot. VVG [Nachdruck 1963], S. 524); § 61 VVG (1908). 1193 Vgl. Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 295 (zu­ stimmend zum Anspruchsverlust lediglich bei grober Fahrlässigkeit).

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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„§ 61. Der Versicherer ist von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherungs­ nehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeigeführt hat.“

Zur Begründung des § 61 VVG verwies der Gesetzgeber wiederum auf das „We­ sen des Versicherungsvertrages“, das mittlerweile auch in Wissenschaft und Recht­ sprechung überwiegend anerkannt sei – gemeint war damit offenbar die schon im Dresdener Entwurf vertretene Auffassung, dass der Versicherer typischerweise für alle regelmäßigen Vorgänge des täglichen Lebens haften wolle, mithin auch für Fälle der leichten Fahrlässigkeit. Allenthalben habe dieses „Wesen des Versiche­ rungsvertrages“, so fuhr die Gesetzesbegründung fort, in vielen AVB und sogar in einigen Sozietäten-Reglements noch keine Anerkennung erfahren.1194 Diese Proklamation des Gesetzgebers ist freilich zu relativieren, als jedenfalls § 10 der Verbandsbedingungen von 1886 inhaltlich bereits dem späteren § 61 VVG ent­ sprochen hatte. Dennoch zeigt die kritische Position, welche die amtliche Geset­ zesbegründung gegenüber der Versicherungspraxis bezogen hatte, dass sich der Reichsgesetzgeber weniger vom vorgesetzlichen Praxisrecht, als vielmehr von den progressiven Vorbildern in Wissenschaft und Rechtsprechung leiten ließ. Bemerkenswert ist schließlich, dass sich im VVG keine Klauseln mehr fanden, die dem Versicherten das Verschulden dritter Personen wie Familienangehöriger oder Angestellter zurechnen wollten, oder die den Versicherten wenigstens für ein etwaiges eigenes Auswahl- oder Überwachungsverschulden mit Sanktionen beleg­ ten. Die §§ 2235 ff. ALR hatten dieses Problem also in einer Ausführlichkeit be­ handelt, die den späteren Gesetzgebern und Entwurfsverfassern fremd sein sollte. Das letzte Mal fand das Anstellungs- und Überwachungsverschulden des Versi­ cherten 1839 im oben zitierten Art. 461 II des württembergischen HGB-Entwurfs Erwähnung, übrigens unter ausdrücklicher Berufung auf das Vorbild des ALR.1195 Der preußische HGB-Entwurf hielt vergleichbare Vorschriften hingegen für über­ flüssig, da sich ihr Inhalt ebenso gut aus den allgemeinen zivilrechtlichen Zurech­ nungsgrundsätzen herleiten lasse.1196 Im späten 19. Jahrhundert hatte schließlich das Reichsgericht eine differenzierte Rechtsprechung zur Verschuldenszurechnung im Versicherungsrecht entwickelt, die in der heutigen Versicherungsrechtsdogma­ tik unter dem Namen der „Repräsentantenhaftung“ firmiert.1197 Der VVG-Gesetz­ geber hielt die Frage angesichts dieser reichen Rechtsprechung offenbar bereits für erschöpfend behandelt oder für zu komplex und unternahm daher gar nicht erst den Versuch, entsprechende Regeln zur Kodifikation zu bringen. 1194

Mot. VVG (1908) zu § 61 (Nachdruck [1963], S. 59). Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 461 mit ausdrücklichem Verweis auf Th. II Tit. 8 §§ 2218, 2239 i. V. m. Th. I Tit 6 §§ 60–64 ALR (1794). 1196 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 337. 1197 Zur richterrechtlich ausgeformten Repräsentantenhaftung, s. z. B. BGHZ 107, 229; BGH VersR 2012, 219 Rn. 31. Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 1669 ff.; Bruns (2015), § 5 Rn. 27 ff.; Deutsch / Iversen (7. Aufl. 2015), Rn. 230; Müssener (2008), S.  272; Prölss / Martin / Armbrüster (30. Aufl. 2018), Rn. 6 f.; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 941 ff. 1195

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

2. Die leges speciales des Lebensversicherungsrechts – insbesondere der Selbstmord der versicherten Person Die Lebensversicherung hatte bei den Regeln zur selbstverschuldeten Verur­ sachung des Versicherungsfalles einen Sonderweg beschritten. Schwerlich hätte die Lebensversicherungspraxis dem Begünstigten seinen Versicherungsanspruch schon bei jeder leichten Fahrlässigkeit der versicherten Person entziehen können: gerade auch eine ganz kurzzeitige Unaufmerksamkeit der versicherten Person kann beispielsweise zu einem tödlichen Unfall oder zur Ansteckung mit einer lebensbedrohlichen Krankheit führen. Die Familie des Verstorbenen sollte aber typischerweise gerade auch in solchen Fällen des vorzeitigen Todes finanziell ver­ sorgt sein.1198 a) Spezifische Fallgruppen zur Verursachung des Versicherungsfalles im Lebensversicherungsrecht des 19. Jahrhunderts So hatte sich in der Lebensversicherungspraxis nur eine Handvoll klar konturier­ ter Fallgruppen herausgebildet, die zum Anspruchsverlust des Bezugsberechtigten führten. Ein repräsentatives Beispiel für die Praxis zur Mitte des 19. Jahrhunderts findet sich unter anderem in den AVB der Stettiner Lebensversicherungsgesell­ schaft „Germania“ von 1857:1199 „§ 31. Ein Versicherungsvertrag auf den Todesfall erlischt außer den in § 30 angeführten Fällen und mit der dort angegebenen Wirkung: 1. Wenn derjenige, der auf Grund des betreffenden Sterbefalles Anspruch an die Gesellschaft erhebt, den Tod des Versicherten durch strafbare Verschuldung herbeigeführt oder beschleunigt hat. Etwaige Ansprüche an­ derer Personen, welche eine Schuld in dieser Hinsicht nicht trifft, bleiben jedoch in voller Gültigkeit. 2. Wenn derjenige, auf dessen Leben die Versicherung abgeschlossen wurde, sich selbst das Leben genommen oder durch versuchte Selbstentleibung einen lebens­ gefährlichen Schaden zugefügt hat, wenn er im Zweikampf den Tod gefunden oder eine lebensgefährliche Verletzung erhalten hat, oder durch eine verbrecherische oder mutwillige Handlung seine Gesundheit zerstört oder sein Leben eingebüßt hat, endlich, wenn er mit dem Tode bestraft oder zu einer Freiheitsstrafe von mehr als dreijähriger Dauer rechts­ kräftig verurteilt worden ist. […] 6. Wenn er durch ausschweifenden Lebenswandel, z. B. Trunksucht, seinen Tod herbeigeführt oder beschleunigt hat.“

Das Lebensversicherungsrecht unterschied also zwischen zwei Personen, de­ ren schuldhafte Handlung den Verlust des Versicherungsanspruchs herbeiführen 1198

So auch von Staudinger (1858), S. 89 (Leistungsverlust in der Lebensversicherung nur bei Vorsatz). 1199 Abgedruckt in Sammlung-AVB II, 31. Insgesamt sehr ähnlich mit ebenso reicher Kasu­ istik: § 31 AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830) (Sammlung-AVB II, 7); §§ 51, 52  I AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (SammlungAVB II, 16); §§ 10, 11 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB II, 44). Dazu insgesamt Senden, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 294.

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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konnte: dem Begünstigten, der die versicherte Person tötete (§ 31 Nr. 1),1200 und der versicherten Person selbst, die durch „Selbstentleibung“, Zweikampf, ein Verbre­ chen, die Todesstrafe, einen „ausschweifenden Lebenswandel“ etc. zu Tode kam (§ 31  Nr.  2, 6).1201 Die besondere Strenge, die den AVB der „Germania“ in den 1850er Jahren noch zueigen war, lässt sich vor allem daran ablesen, dass sie schon die konkrete Gefährdung des Lebens ausreichen ließen, um den Anspruchsverlust auszulösen. Von dem eingangs beschriebenen Phänomen, dass manche Lebens­ versicherer sogar in Fällen des Selbstmordes die volle Versicherungsleistung aus­ zahlten, war hier indes noch nichts spürbar. Übrigens bestand bei der „Germania“ und vielen anderen Versicherern ihrer Zeit bereits die Praxis, im Falle eines eigen­ verschuldeten Todes zumindest die Prämienreserve oder den Rückkaufpreis an die Hinterbliebenen auszuschütten;1202 diese darf aber rechtlich nicht mit der gerade aufgeworfenen Frage vermischt werden, wann durch ein schuldhaftes Handeln der versicherten Person der Anspruch auf die volle Versicherungsleistung selbst verloren ging.1203 An solchen Allgemeinen Lebensversicherungsbedingungen schienen sich der württembergische und der preußische HGB-Entwurf zu orientieren. Die beiden einschlägigen Normen des württembergischen Entwurfes (Art. 501, 502) erwe­ cken den Eindruck, als würden sie wirklich nur eine viel schlankere Version der Versicherungspraxis darstellten: „Art. 501. Der Versicherer ist nicht zur Entrichtung der Versicherungssumme verpflichtet, wenn Derjenige, welcher sein eigenes Leben versichern ließ, sich selbst das Leben nimmt, 1200

So auch § 24 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (SammlungAVB  II,  23); § 52  I AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854) (ab­ sichtliche Lebensgefährdung ausreichend); § 10  I lit.  d, II Verbands-AVB Deutscher Le­ bensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 60 S. 1 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB II, 62); § 15 III AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (Sammlung-­AVB II, 81). Vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 54; von Staudinger (1858), S. 90. 1201 So auch § 35 S. 1 AVB Leipziger Lebensversicherungs-Gesellschaft (1830); § 24 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); § 51 AVB Lebensversicherungs- und Ersparnisbank Stuttgart (1854); § 20 Statuten Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg (1856) (Sammlung-AVB II, 39); § 10 I lit. e Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesell­ schaften (1875); § 59 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); § 1 AVB Victoria Ver­ sicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Sammlung-AVB II, 98); § 15 I AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906). Vgl. Braun (2. Aufl. 1963), S. 262; Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 50 f.; von Staudinger (1858), S. 90; Walter (1855), § 381.IV (S. 432). 1202 So schon §§ 24  I, 18 AVB Berlinische Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839); § 11 Verbands-AVB Deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften (1875); § 59 S. 2 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904) (aber s. u. zu den Fällen des versicherten Selbstmordes); § 1 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (s. u. zu Fällen des versicherten Selbstmordes); § 17 II AVB Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt (1906) (s. u. zu Fällen des versicherten Selbstmordes). Vgl. Prang (2003), S. 156; Senden, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 294, 295; so schon von Staudinger (1858), S. 89. 1203 Ausführlich zur Prämienreserve und ihrer etwaigen Rückerstattung s. bereits § 3 B III 1 a (zum allgemeinen Sinn und Zweck einer Prämienreserve) und § 3 D VIII 2 b (zur rechtlichen Handhabung der Prämienreserve im VVG).

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

mit dem Tode bestraft wird, durch Zweikampf oder eine andere verbrecherische Unterneh­ mung den Tod findet. Art. 502. [1] Das Gleiche gilt, wenn Derjenige, welcher die Versicherungssumme anzu­ sprechen hat, den Tod der Person, deren Leben versichert ist, durch seine strafbare Ver­ schuldung herbeiführte. [2] Käme ihm die Versicherungssumme nur theilweise zu; so ist der Versicherer nur von der Entrichtung dieses Theils befreit.“

Der preußische HGB-Entwurf von 1857 traf ganz ähnliche Bestimmungen. Große Einigkeit bestand darüber, dass ein Begünstigter, der die versicherte Per­ son vorsätzlich tötete, jeden Anspruch aus der Versicherung verlieren sollte.1204 Dabei kam in den beiden Gesetzesentwürfen selbst die oben zitierte AVB-Klausel zum Ausdruck, die von der Konstellation handelte, dass nur einer von mehreren Begünstigten schuldhaft gehandelt hatte.1205 Auch im Hinblick auf den eigenver­ schuldeten Tod der versicherten Person lehnten sich die HGB-Entwürfe eng an die AVB der Lebensversicherungspraxis an. Dabei hielten sie allerdings nur die drei plakativen Anwendungsfälle des Selbstmordes, des Duelltodes und der Todesstrafe für verallgemeinerungsfähiges Rechtsgut;1206 es wäre den Gesellschaften aber un­ benommen geblieben, alle übrigen Fälle des selbstverschuldeten Todes wie gehabt in ihren AVB zu regeln. Doch sind diese Übereinstimmungen auch wirklich ein Beweis für den Einfluss der Lebensversicherungsbedingungen, oder liegt hier vielmehr, wie schon öfter erlebt, eine bloße Korrelation vor? In den Entwurfsmotiven Hofackers wird die damals herrschende Lebensversicherungspraxis – neben der einschlägigen Norm des Wetboek van Koophandel – sogar namentlich als Quelle benannt.1207 Die würt­ tembergischen Entwurfsmotive selbst beschäftigten sich dabei jedoch ausdrück­ lich nur mit einem Detailproblem aus der zeitgenössischen Versicherungspraxis: den gebräuchlichen Klauseln zum „lasterhaften Lebenswandel“ des Versicherten, wie sie in zahlreichen AVB benutzt wurden.1208 Solche Bestimmungen sollten nach dem Willen Hofackers keine Aufnahme in die gesetzliche Kodifikation des Lebensversicherungsrechts finden: die Versicherungsgesellschaften würden von solchen Klauseln in aller Regel ohnehin keinen praktischen Gebrauch machen, weil ein entsprechendes Vorgehen dem „Credit der Anstalt so gefährlich“ werden

1204

Art. 502 I HGB-Entwurf Württemberg (1839); Art. 384 I HGB-Entwurf Preußen (1857). Art. 502 II HGB-Entwurf Württemberg (1839); Art. 384 II HGB-Entwurf Preußen (1857); vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 54. 1206 Art. 501 HGB-Entwurf Württemberg (1839); Art. 383 HGB-Entwurf Preußen (1857); vgl. auch Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 50. 1207 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 501 mit Verweis auf Art. 307 Wetboek van Koop­ handel (1838) (Officiële Uitgave, 1838). 1208 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 501 verwies ausdrücklich auf § 63 Verfassung der Lebensversicherungsbank zu Gotha (1828) (Sammlung-AVB II, 2), entspr. inhaltlich dem oben zitierten § 31 Nr. 6 AVB Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (1857); daneben zitierten die Motive an derselben Stelle auch § 62 der Gothaer AVB, der allerdings von der Gefahrerhöhung handelte und mit der hier aufgeworfenen Frage nichts zu tun hatte. 1205

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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könnte.1209 Hofacker muss insoweit tatsächlich belastbare Kenntnisse über die vor­ herrschende Lebensversicherungspraxis besessen haben. Im Übrigen erwähnten die württembergischen Motive die Versicherungspraxis zwar gar nicht; sie doku­ mentierten alleine, dass der Entwurfsverfasser sich an das Wetboek van Koop­ handel angelehnt habe. Jenes niederländische Vorbild blieb allerdings weit hinter dem materiellen Gehalt der beiden deutschen Entwürfe zurück: es hatte nur die äußerst sporadische Regel aufgestellt, dass der Anspruch aus der Lebensversiche­ rung verloren gehen solle, wenn der Versicherte „zich van het leven berooft, of met den dood word gestraft“.1210 Angesichts dieser Tatsache darf es als überwiegend wahrscheinlich gelten, dass Hofacker sich hier zusätzlich auf seine nachweislich vorhandenen Kenntnisse der deutschen Lebensversicherungspraxis stütze. Der preußische Entwurf von 1857 folgte dann diesem Vorbild.1211 Gegenüber den beiden HGB-Entwürfen nahm der Entwurf für ein bayerisches BGB eine absolute Sonderrolle ein: er versuchte, seine allgemeine Regelung zur „Herbeiführung des Versicherungsfalles“  – also die Regel, die den Versicherer nur für „Zufallsschäden“ haften ließ – unterschiedslos auch auf die Lebensver­ sicherung anzuwenden.1212 Diese Vorgehensweise unterstreicht erneut den Drang der Kodifikationsbewegung zu größtmöglicher Abstraktion; in der Praxis wäre sie aber wohl kaum handhabbar gewesen. b) Die differenziete Behandlung insbesondere des Suizides in Praxis und Gesetzgebung seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Einen ungewöhnlich frühen Schritt in die Richtung des modernen Rechts unter­ nahm hingegen der Dresdener Obligationenrechtsentwurf von 1866. Während sich besagter Entwurf in keiner Hinsicht von den Normen seiner Vorgänger aus Württemberg und Preußen unterschied, was die Tötung des Versicherten durch den Begünstigten anbelangte,1213 wich er in der Behandlung des Selbstmordes von allen vorherigen Kodifikationsversuchen ab. In seinem Art. 912 S. 1 deutete sich nämlich zum ersten Mal eine Differenzierung an, die sogar bei gewissen Arten des Suizids die Leistungspflicht des Versicherers aufrecht erhielt:1214 „Art. 912. Bei Lebensversicherungen ist der Versicherer zur Bezahlung der Versicherungs­ summe nicht verpflichtet, wenn Derjenige, auf dessen Todesfall die Versicherung genom­

1209

Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 501. Art. 307 Wetboek van Koophandel (1838). 1211 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 384, die sich ihrerseits auf das Vorbild des württem­ bergischen Entwurfs beriefen. 1212 Art. 827 II BGB-Entwurf Bayern (1861) mit Rechtsgrundverweis auf Art. 817 II; zu dieser Problematik als Beispiel für die Tendenz des bayerischen Entwurfs zur Überabstrahierung, s. schon § 3 C II 4 b. 1213 Art. 912 S. 2 Entwurf Dresd. OR (1866); vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 53 f. 1214 Vgl. auch Duvinage (1987), S. 31; Neugebauer (1990), S. 82. 1210

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

men worden ist, die Todesstrafe erlitten oder durch Zweikampf den Tod gefunden, oder sich selbst das Leben genommen hat, es könnte denn in dem letzten Falle der Versicherte beweisen, daß Derjenige, auf dessen Todesfall die Versicherung genommen worden ist, sich in einem unzurechnungsfähigen Zustande befunden habe. […]“

Die Vorschrift, die der Dresdener Entwurf schon im Jahr 1866 vorsehen wollte, ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie sich, indem sie zwischen Selbst­ morden im zurechnungsfähigen und im unzurechnungsfähigen Zustand unter­ schied, gegen die herrschende Lebensversicherungspraxis ihrer Zeit stellte. Der Dresdener Konferenz war das durchaus bewusst; dennoch gebe es keine juristi­ sche oder versicherungswirtschaftliche Rechtfertigung, den Selbstmord im unzu­ rechnungsfähigen Zustand genauso zu behandeln wie jeden anderen Suizid. Die Situation einer solchen psychischen Erkrankung sei letzten Endes keine andere, als wenn die versicherte Person aufgrund einer körperlichen Krankheit zu Tode komme.1215 Der gleichen differenzierten Lösung der Selbstmordproblematik bediente sich die Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts und später des Reichs­gerichts seit den 1870er Jahren.1216 Erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert suchte schließ­ lich auch die gesamte Lebensversicherungspraxis nach Antworten auf die Suizid­ frage. Als die Arbeiten am VVG begannen, befand sich das Praxisrecht in dieser Hinsicht besonders stark im Fluss und hatte eine Vielzahl unterschiedlicher Lö­ sungsmodelle entwickelt, denen es an einer einheitlichen Gestaltung noch vollends mangelte. Anstatt alleine die Differenzierung zwischen dem Selbstmord im zu­ rechnungsfähigen und im unzurechnungsfähigen Zustand zu kopieren,1217 welche sich in der Rechtsprechung des ROHG durchgesetzt hatte, suchte die Praxis nach Möglichkeiten, das beweistechnisch schwer greifbare Kriterium der Zurechnungs­ fähigkeit zu umgehen. So zahlten viele Versicherer die Versicherungssumme nur dann aus, wenn seit dem Vertragsschluss eine ein- oder mehrjährige Karenzfrist verstrichen war, be­ vor die versicherte Person Selbstmord begangen hatte.1218 Kein zurechnungsfähi­ ger Suizident, so glaubte man, würde zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits seinen Selbstmord planen, wenn er zunächst noch eine Karenzfrist von zwei bis drei Jahren vor sich hätte.1219 Wieder andere Versicherungsgesellschaften, wie zum 1215

Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3272 f.; vgl. Kübel, ZVersR 2 (1868), 1, 51. ROHGE 18, 210; RGZ 4, 161; RG JW 1900, 416. Vgl. dazu Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 169 Rn. 3; Prang (2003), S. 157 ff. In diese Richtung auch V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 422; Manes (1905), S. 211; von Staudinger (1858), S. 90. 1217 Einen kurzzeitigen Versuch in diese Richtung unternahm z. B. die Gothaer Lebensver­ sicherungsbank, s. dazu Samwer, Masius’ Rs. 17 (1905), 97, 99. 1218 So z. B. § 1 AVB Victoria Versicherungs-Aktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Karenzzeit von einem Jahr). 1219 So jedenfalls die Anmerkung Bischoff zu Senden, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 294, 301; Manes (1905), S. 213. 1216

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Beispiel die Stuttgarter Lebensversicherungsbank, kombinierten beide Modelle. In ihren AVB von 1906 tauchten zeitgleich sowohl die Frage nach der Zurechnungs­ fähigkeit als auch eine Karenzfrist auf:1220 „§ 15. [1] Im Falle der Selbstentleibung oder wenn der Versicherte an den Folgen einer ver­ suchten Selbstentleibung stirbt, wird die volle Versicherungssumme ausbezahlt oder die Befreiung von weiterer Prämienzahlung anerkannt, wenn die Versicherung schon minde­ stens zwei volle Jahre bestanden hat oder wenn bei kurzer Dauer der Versicherung die Tat nachweisbar infolge von Geistesstörung oder schwerer körperlicher Krankheit begangen wurde. […] [2] In allen Fällen, abgesehen von § 17 Abs. 3[1221] wird die auf die Versiche­ rung angesammelte volle Prämienreserve vergütet oder Umwandlung in eine prämienfreie Versicherung vollzogen. […]“

Wenig überraschend wählte der VVG-Gesetzgeber aus diesem Gewirr unter­ schiedlicher Ansätze1222 exakt denjenigen aus, der schon auf eine gefestigte Tradi­ tion in der Rechtsprechung verweisen konnte: er stellte alleine auf die Zurechnungs­ fähigkeit des Suizidenten ab. Im Übrigen behandelte der Reichsjustizamtsentwurf von 1902 die Tötung der versicherten Person durch den Begünstigten noch nicht; er konzentrierte sich in seinem § 147 alleine auf den Problemkreis des Selbstmordes: „§ 147. Ist die Versicherung für den Fall des Todes des Versicherten genommen, so ist der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei, wenn der Versicherte Selbstmord be­ gangen hat. Die Verpflichtung bleibt jedoch bestehen, wenn sich der Versicherte bei dem Selbstmord in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befunden hat.“

Nur wenige Normen des gesamten VVG waren im weiteren Gesetzgebungsver­ fahren heftiger umstritten als diese Bestimmung. Die reichliche Kritik, die sich über § 147 des ersten VVG-Entwurfes ergoss, stammte nicht nur aus der Versi­ cherungspraxis, sondern vor allem auch aus den Kreisen konservativer Politiker. Dementsprechend wurde nicht nur in den Sachverständigenkommissionen des Reichsjustizamtes, sondern auch in den Reichstagsausschüssen scharf über die Selbstmordklausel des VVG debattiert. Sowohl im Reichsjustizamt als auch im Reichstag wurde zum Teil sogar bean­ tragt, dem Versicherer mit absolut zwingender Kraft zu verbieten, im Falle eines Selbstmordes die Versicherungssumme auszuzahlen – alles andere widerspreche dem christlichen Menschenbild und lasse eine Steigerung der Selbstmordraten be­

1220

Ähnliches Modell in § 59 AVB Gothaer Lebensversicherungsbank (1904); dazu Samwer, Masius’ Rs. 17 (1905), 97, 99. Zum Kriterium der Unzurechnungsfähigkeit in der Wissenschaft, vgl. auch Beseler (4. Aufl. 1885), Bd. 1 § 117.IV (S. 532); Brämer / Brämer (1894), S. 123 (nennt auch die Fallgruppe des Selbstmordes infolge einer schmerzhaften Krankheit); Lewis (1889), S. 331 f. 1221 § 17 III betraf den Fall der Verschweigung eines Selbstmordes durch die Begünstigten wider besseres Wissen. 1222 Zu der Heterogenität der Versicherungspraxis, vgl. auch die parlamentarische Diskussion in Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 390 ff.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

fürchten.1223 Es setzten sich dann aber doch die Stimmen durch, welche den Hin­ terbliebenen, zu deren Gunsten die Versicherung geschlossen worden war, auch nach dem Selbstmord der versicherten Person noch eine hinreichende finanzielle Versorgung gewährleisten wollten. Die politischen Vertreter dieser Meinung hat­ ten betont, dass hinter den meisten Selbstmorden prekäre soziale Verhältnisse und nicht per se unmoralische Motive stünden.1224 Dagegen arbeiteten die Interessenvertreter der Lebensversicherer in mehreren Abschnitten des Gesetzgebungsverfahrens darauf hin, das Kriterium der Zurech­ nungsfähigkeit durch eine einfache Karenzfrist zu ersetzen, wie sie große Teile der Versicherungspraxis zur Vermeidung von Beweisschwierigkeiten gebrauchten.1225 Doch auch sie konnten mit ihrem Verlangen nicht durchdringen, da sowohl die Regierung als auch die Mehrheit in der Reichstagskommission eine starre Fris­ tenregelung für zu holzschnittartig empfand. Außerdem verwiesen jene auf die großen Fortschritte in der psychologischen und forensischen Medizin, mit deren Hilfe es möglich sei, die „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ hinreichend genau zu untersuchen.1226 § 147 des Reichsjustizamtsentwurfs erfuhr also trotz aller Angriffe keine Ände­ rung mehr und trat schließlich in der Form des § 169 VVG in Kraft.1227 Mit zwin­ gender Kraft ausgestattet war gem. § 172 VVG nur sein zweiter Satz, nicht aber der erste. Den Lebensversicherern blieb es also unbenommen, die Versicherungs­ leistung selbst dann auszubezahlen, wenn die versicherte Person sich während des Suizids in zurechnungsfähigem Zustand befunden hatte, wie es einige Gesellschaf­ ten schon in vorgesetzlicher Zeit zum Teil praktiziert hatten. Zwischenzeitlich war übrigens noch die Überlegung angestellt worden, die Leistung des Versicherers nach dem Vorbild der meisten AVB auch dann auszu­ schließen, wenn der Versicherte im Zweikampf umkam. Ein entsprechender An­ trag, der jenen grassierenden „Duellunfug“ zu unterbinden suchte, fand allerdings keine Mehrheit in der Reichstagskommission. Die Kommission sah eine solche Bestimmung letztlich als das Produkt rein kriminalpolitischer Erwägungen, wel­ 1223

„Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.156 ff. (Lebensver­ sicherung 4. Sitzung zu § 147 RJA-E = § 169 VVG); Senden, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 294, 296 ff.; Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 385 ff.; Bericht XII. RT-Komm. 1907 (Nachdruck 1963), S. 512; so auch schon Senden, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 294 ff. Zur Diskussion im Reichstag vgl. Duvinage (1987), S. 126; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), § 169 Rn. 1. 1224 Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 388 ff.; so schließlich auch Mot. VVG (1908) zu § 169. Zur Diskussion im Reichstag vgl. Duvinage (1987), S. 126. 1225 „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.156 ff. (Lebensver­ sicherung 4. Sitzung zu § 147 RJA-E = § 169 VVG). Dazu auch die Anmerkung Bischoff zu Senden, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 294, 301; Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 390 ff. Zur Diskussion im Reichstag vgl. Duvinage (1987), S. 126. 1226 Vgl. Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 388 ff. 1227 § 147 RJA-E (1902); § 159 VVG-E  (1903); § 152 VVG-BRV (1904); § 166 VVG-RTV (1905); § 169 VVG-RTV (1907); § 169 VVG (1908).

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che im Zivilrecht keinen Platz hätten.1228 Die einzige Vorschrift, die während des Gesetzgebungsverfahrens tatsächlich noch neu ins VVG eingefügt wurde, betraf die Leistungsfreiheit des Begünstigten, der die versicherte Person vorsätzlich und widerrechtlich umgebracht hatte; die erstmals in § 160 des Entwurfs von 1903 ko­ difizierte Bestimmung1229 – der spätere § 170 VVG1230 – entsprach voll und ganz den entsprechenden AVB-Klauseln, die schon die Entwürfe des 19. Jahrhunderts allgemein anerkannt hatten.1231 Besonders unter die heftig debattierte Problemstellung des Selbstmordes lässt sich aber ein vielschichtiges Fazit ziehen. Vordergründig scheint es so, als habe der Gesetzgeber in § 169 VVG nur ein Modell aufgegriffen, das die Lebensversiche­ rungspraxis aus eigener Initiative entwickelt hatte, um auch an die Hinterbliebenen eines unzurechnungsfähigen Selbstmörders die Versicherungssumme auszuzahlen. Diese Vermutung muss aus zwei Perspektiven relativiert werden: erstens nämlich ging der ursprüngliche Impuls zu dieser Entwicklung von der Rechtsprechung des Reichsoberhandelsgerichts aus; zweitens aber hatte eine große Zahl der Lebens­ versicherer um die Jahrhundertwende und noch während des Gesetzgebungsver­ fahrens versucht, das Element der Zurechnungsfähigkeit überflüssig zu machen und durch eine starre Karenzfirst zu ersetzen. Der Gesetzgeber hat diesen Über­ legungen der Versicherungspraxis aber eine Absage erteilt.

XI. Die Ermittlung und Berechnung des Feuerschadens Mit der reichen Diversität von privaten, gewerblichen, landwirtschaftlichen und industriellen Feuerversicherungsmodellen, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt hatten, gestaltete sich auch die konkrete Berechnung von Brandschäden zunehmend komplex. In der Praxis waren die Vertragsparteien in den meisten Fällen auf die Mitwirkung spezieller Sachverständiger angewiesen, welche sich ja immerhin auch aus der heutigen Schadensversicherungspraxis kaum noch wegdenken lassen. Dieses Terrain scheint also voll und ganz ein Betätigungs­ feld für Versicherungspraktiker zu sein, das sich in seiner Komplexität nur schwer 1228

Insgesamt Bericht VIII. RT-Komm. 1905 (Nachdruck 1963), S. 392 ff.; schließlich auch Mot. VVG (1908) zu § 169. Vgl. zur Diskussion im Reichstag insgesamt Duvinage (1987), S. 127, 132; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 169 Rn. 5. 1229 Erst während der Sachverständigenberatungen im Reichsjustizamt waren Stimmen laut geworden, die eine ausdrückliche Kodifikation dieser Regel forderten: „Berathung“ zum RJAE (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.156 ff. (Lebensversicherung 4. Sitzung zu § 147 RJA-E = § 169 VVG). Im Entwurf von 1903 war aber nur die Konstellation geregelt, dass der Versicherungsnehmer, der auf das Leben einer dritten Person gezeichnet hat, jenen Dritten tötet, vgl. Hecht, DVfVW-Veröff. 2 (1904), 288, 292; in der Bundesratsvorlage erlangte die Norm dann ihre endgültige Gestalt, vgl. auch Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 197. 1230 § 160 VVG-E (1903); § 164 VVG-BRV (1904); § 167 VVG-RTV (1905); § 170 VVG-RTV (1907); § 170 VVG (1908). 1231 Vgl. dazu auch Denkschrift der Lebensversicherer v. 15. 02. 1902, ZVersWiss 3 (1903), 242, 248.

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vom Gesetzgeber erfassen lässt. In der Tat hatten sich die vier Gesetzesentwürfe, die sich während des 19. Jahrhunderts mit dem Binnenversicherungsrecht befassten, in dieser Hinsicht in großer Zurückhaltung geübt. Selbst im allgemeinen Zivilrecht hatte das BGB mit seinen §§ 249 ff. nur noch absolute Grundbegriffe des Scha­ densrechts kodifizieren wollen, deren nähere Auslegung aber Wissenschaft und Rechtsprechung überlassen.1232 Umso erstaunlicher ist, wie das Versicherungsver­ tragsgesetz von 1908 wieder in die Diskussion um einzelne Wertbegriffe des Ver­ sicherungsrechts einstieg und darüber hinaus sogar einige Regeln zum formellen Schadensermittlungsverfahren in Gesetzesform bannte. Welche Gründe hatten den Reichsgesetzgeber bewogen, jene Prinzipien zur Ermittlung und Berechnung des erstattungsfähigen Schadens zu kodifizieren, statt dieses Gebiet der seit Lan­ gem bekannten und bewährten Praxis der Feuerversicherungsgesellschaften zu überlassen? 1. Die Schadensermittlung und -berechnung in der gefestigten Feuerversicherungspraxis des 19. Jahrhunderts Ein Blick auf die Praxis der Feuerversicherungsgesellschaften offenbart, dass konkrete Vorschriften zur Berechnung der Schadenshöhe schon bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus den Versicherungsbedingungen gewichen waren. Nur die ältesten dieser AVB, wie etwa die Bedingungen der Berlinischen Feuerversiche­ rungs-Anstalt von 18121233 oder der Gothaer Feuerversicherungsbank von 1820,1234 hatten zum Beispiel noch en detail festgesetzt, wie anhand von Handelsdokumen­ ten der Wert der versicherten Sache berechnet werden musste oder dass der Ver­ sicherte den Restwert der beschädigten Sache zwingend im Wege des öffentlichen Verkaufs realisieren musste.1235 Die jüngeren AVB hatten den Konkretisierungs­ grad solcher Regeln bereits drastisch reduziert und sahen meist nur noch abstrak­ tere, wenngleich noch recht umfangreiche Grundsätze und Verfahrensregeln zur Wertberechnung vor. a) Das kontradiktorische Schadensermittlungsverfahren und seine Vorzüge für die Versicherungsgesellschaften Waren bei einem Feuerunglück bewegliche Gegenstände beschädigt worden, so hatte sich die Praxis durchgesetzt, vom Versicherten ein Verzeichnis aller vor 1232 1233

RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195; entspr. der heutigen Fassung des BGB. Art. 44, 45 Verfassung Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (Sammlung-AVB I,

22).

1234

§§ 23, 26, 27, 33–35 Verfassung der Feuer-Versicherungsbank zu Gotha (1820) (Samm­ lung-AVB I, 6). 1235 Zu den umfangreichen und komplexen Vorschriften der ältesten Feuerversicherungs­ bedingungen zur Bestimmung des ersatzfähigen Schadens, s. insgesamt § 2 D X 2 a.

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dem Brand vorhandener und während des Brandes beschädigter Mobilien ein­ zufordern. Auf dessen Grundlage wurde dann der ersatzfähige Schaden berech­ net1236 – ein Verfahren, das sich bis zu den englischen „fire insurance companies“ des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt.1237 Hatte hingegen ein Gebäude einen Brandschaden erlitten, so wählten Versicherer und Versicherter üblicherweise zwei Sachverständige, nämlich jede Partei einen, und ließen diese anschließend die kon­ krete Höhe des Gebäudeschadens abschätzen.1238 Unter den standardisierten Be­ dingungen des Verbands deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften von 1874 bzw. 1886 durfte das besagte Sachverständigenverfahren dann aber auch bei Mobiliarschäden Anwendung finden, falls eine Partei es verlangte.1239 Die einschlä­ gigen §§ 8, 9 der AVB von 1886 geben über jenes „kontradiktorische“ Verfahren eine so erschöpfende Auskunft, dass sie hier für sich selbst sprechen können:1240 „§ 8. […] [2] Bei Schäden an beweglichen Gegenständen ist der Versicherte verpflichtet, auf Verlangen der Gesellschaft spezielle Verzeichnisse der zur Zeit des Brandes vorhanden gewesenen, der verbrannten oder abhanden gekommenen und der beschädigt sowie unbe­ schädigt geretteten Gegenstände anzufertigen und innerhalb einer ihm zu stellenden Frist von mindestens zwei Wochen dem Agenten einzureichen. […] [3] Die Gesellschaft ist nicht verbunden, sich auf Verhandlungen über den Schaden und die Entschädigung mit anderen Personen als dem Versicherten einzulassen. § 9. [1] Sowohl die Gesellschaft wie der Versicherte haben, unbeschadet der Bestimmungen in § 8, das Recht, zu verlangen, daß der Betrag des Schadens an den versicherten Gegen­ ständen durch ein Abschätzungsverfahren festgestellt werde, welches mit verbindlicher Kraft für beide Parteien auf gemeinschaftliche Kosten nach folgenden Grundsätzen zu erfolgen hat: [2] Jede Partei ernennt zu Protokoll oder sonst schriftlich einen Sachverstän­

1236 Abgedruckt in Sammlung-AVB I, 75. So auch Art. 12 I AVB Bayerische Hypothekenund Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB I, 30); § 9 lit. b Nr. 3 AVB Magdeburger Feuerver­ sicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB I, 34); § 11 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860) (Müssener [2008], S. 378); § 11 S. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB I, 38); § 8 II 1 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888) (Müssener [2008], S. 383); § 15 V, VI AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904) (Sammlung-AVB I, 65). Vgl. V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 477; von Liebig (1911), S. 182. 1237 Zu den Ursprüngen dieses speziellen Verfahrens s. bereits § 2 D X 2 d. 1238 Vergleichbare Verfahrensregeln in § 14 AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1845); § 9 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 9 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 9 AVB Aache­ ner und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 16 AVB Gothaer Feuerver­ sicherungsbank (1904). Zum förmlichen Schadensermittlungsverfahren vgl. auch Gerhard /  Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 64 Rn. 7, § 86 Rn. 4. 1239 Ein ähnliches, lediglich optionales Sachverständigenverfahren für Mobiliarfeuerversiche­ rungen fand sich in schon § 9 S. 3 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesell­ schaft (1860); § 11 S. 4 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 9 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 15 VIII AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). 1240 Vgl. dazu auch V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 482 f.; von Liebig (1911), S. 182; Müssener (2008), S. 261 ff.

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digen. Zeigt eine Partei, nachdem sie dazu von der anderen unter Benennung des ihrerseits gewählten Sachverständigen schriftlich aufgefordert ist, nicht binnen einer Woche nach Empfang der Aufforderung die Ernennung des zweiten Sachverständigen schriftlich an, so geht das Recht, diesen zu wählen, auf die auffordernde Partei über. Beide Sachverständige ernennen vor Beginn des Abschätzungsverfahrens einen dritten Sachverständigen als Ob­ mann, welcher für den Fall, daß jene sich nicht einigen, nach beendigter Abschätzung in Tätigkeit tritt und alsdann nur über die streitig gebliebenen Punkte innerhalb der Grenzen der Abschätzungen der Sachverständigen entscheidet. Können sich die letzteren über die Wahl des Obmanns nicht einigen, so wird derselbe auf Antrag der Parteien oder einer von ihnen durch das für den Brandort zuständige Amtsgericht ernannt. […]“

Schon das formelle Schadensermittlungsverfahren barg einige Härten und Fallstricke für den Versicherten. Unschwer lässt sich das an der Bestimmung des § 8 III ablesen, die faktisch verhinderte, dass der Versicherte gegen den Willen der Gesellschaft einen Rechtsbeistand zur Schadensschätzung beiziehen konnte. Eine wesentlich subtilere Wirkung entfaltete indes die Bestimmung in § 9 II 3 der AVB, welche einem beigezogenen Obmann lediglich noch einen Entscheidungs­ spielraum „innerhalb der Grenzen der Abschätzungen der Sachverständigen“ er­ öffnete.1241 Schon unter Zeitgenossen wurde die Klage laut, dass dem wirtschafts­ starken Feuer­versicherer im Gegensatz zum Versicherten meist festangestellte, routiniert arbeitende Sachverständige zur Verfügung stünden. Diese würden die Schadenshöhe oft im Vornherein relativ niedrig ansetzen. Umgekehrt gelinge es den vom Versicherten gewählten, oftmals viel weniger spezialisierten Sachver­ ständigen nur selten, einen besonders hohen Schadensbetrag zu veranschlagen. Infolgedessen habe sich auch der stichentscheidende Obmann nur noch in einem Korridor zwischen zwei relativ niedrigen Werten bewegen können.1242 Am Ende dieses Verfahrens galt der nach §§ 8, 9 ermittelte Schadensbetrag dann jedoch „mit verbindlicher Kraft“ zwischen den Parteien (§ 9 I), war also grundsätzlich nicht einmal mehr einer gerichtlichen Kontrolle zugänglich.1243 b) Die wenig differenzierten Wertbegriffe der Feuerversicherungspraxis Mit den skizzierten §§ 8, 9 der „Verbandsbedingungen“ war aber nur die for­ melle, verfahrensrechtliche Seite der Schadensermittlung abgedeckt; was die eigentliche materielle Schadensberechnung anbelangte, enthielten die meisten Feuerversicherungsbedingungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nur 1241

Ähnlich § 9  V  1 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 9  III  3 AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 16 II 2 AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). 1242 von Liebig (1911), S. 183; Müssener (2008), S. 264; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 291 ff. 1243 So auch § 9 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1860); § 9 I Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); § 9 I AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 16  IV AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). Vgl. von Liebig (1911), S. 183.

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noch vergleichsweise rudimentäre Vorschriften. In erster Linie zeigten diese Klauseln, dass sich die Versicherungspraxis vom ehemals weitgehend anerkannten „Prinzip der taxierten Police“ abgewandt hatte. Unter jenem Prinzip war es noch üblich – wenn auch nicht zwingend – gewesen, dass die Vertragsparteien den Ver­ sicherungswert bei Vertragsschluss unabänderlich taxierten; der taxierte Wert hatte dann auch im Schadensfall noch als der gegenwärtige Zeitwert des versicherten Gegenstandes gegolten. Dementsprechend war bei Totalschäden schlicht und er­ greifend der gesamte taxierte Betrag zur Auszahlung gekommen, ob sich der Wert der versicherten Sache nun seit dem Vertragsabschluss geändert hatte oder nicht. Besonders bei längerfristigen Versicherungen von abnutzbaren Gegenständen wie Maschinen, Möbeln oder Haushaltsgeräten hatte das „Prinzip der taxierten Police“ mithin zu der Konsequenz geführt, dass der Versicherte dank eines Brandschadens möglicherweise sogar einen finanziellen Gewinn erzielen konnte1244 – ein Zustand, den die Feuerversicherer schon vor 1850 erkannt und bereinigt hatten.1245 Wie in vielen anderen Versicherungsbedingungen hieß es in den bereits vorhin zitierten Verbandsbedingungen von 1886 zu diesem Thema nur noch:1246 „§ 7. [1] Die Versicherung soll nicht zu einem Gewinn führen; ihr alleiniger Zweck ist der Ersatz des nach dem wahren Werte der versicherten Gegenstände zur Zeit des Brandes unter Ausschluß des entgangenen Gewinnes festzustellenden Schadens, gegen welchen nach § 1 Versicherung gewährt ist. [2] Die Versicherung selbst begründet keinen Beweis für das Vorhandensein und den Wert der versicherten Gegenstände zur Zeit des Brandes. Die Versicherungssumme, dieselbe möge auf Taxation beruhen oder nicht, bildet lediglich die Grenze für die Ersatzpflicht der Gesellschaft und zwar für jede einzelne Position der Versicherungsurkunde. […]“

Abseits davon fehlte in den meisten Feuerversicherungsbedingungen jedoch jedes Anzeichen von konkreten Maßstäben oder Methoden zur Berechnung des ersatzfähigen Schadens. Das änderte sich erst mit den hier erwähnten Verbands­ bedingungen von 1886. Sie konkretisierten unter § 9 III, was sie überhaupt für den „Wert der versicherten Gegenstände“ hielten: „§ 9. […] [3] Die von den Sachverständigen schriftlich zu beurkundenden Abschätzungen müssen jedenfalls enthalten: 1. den Wert des Gegenstandes unmittelbar vor dem Brande – bei Gebäuden und Maschinen außerdem auch den Neubauwert beziehentlich Neuanschaf­ fungswert  –, 2. den Wert des Gegenstandes nach dem Brande, beziehentlich der übrig 1244 So auch die zeitgenössische Literatur: V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 445; von Liebig (1911), S. 177; Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 9 f. 1245 Zum „Prinzip der taxierten Police“ in den AVB des frühen 19. Jahrhunderts, s. schon § 2 D X 2 c. 1246 Ausdrücklich ausgesprochen in § 8 S. 2 AVB Aachener und Münchener Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft (1860); § 8 S. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-­ Gesellschaften (1874); § 7 II AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 15 II AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904); vgl. Art. 31, 33 AVB Württem­ bergische Privatfeuerversicherung (1905) (Sammlung-AVB I, 71) (nur widerlegbare Vermu­ tungswirkung früherer Werttaxen). Ähnlich auf Seiten der staatlichen Sozietäten unter A § 3 X 1 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (SammlungAVB I, 99).

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gebliebenen Teile und Materialien unter Berücksichtigung der Verwendbarkeit derselben für die Wiederherstellung. […]“

Die Bausachverständigen hatten folglich zumindest zwischen dem Zeitwert und dem Neuanschaffungs- bzw. Neubauwert der versicherten Gegenstände zu differenzieren.1247 Auf dem Gebiet der Mobiliarfeuerversicherung galt diese dif­ ferenzierte Wertbetrachtung allerdings nur für Maschinen; andere bewegliche Gegenstände wurden nach wie vor nach ihrem reinen Zeitwert im Moment des Brandunglücks geschätzt. Auch in diesem Zusammenhang brachten daher einige zeitgenössische Quellen ihren Unmut über die herrschende Feuerversicherungspraxis zum Ausdruck. Ge­ rade aus dem Blickwinkel der Versicherten wurde kritisiert, dass viele Feuerversi­ cherer bloß unzureichenden Schadensersatz leisteten, indem sie lediglich den Zeit­ wert1248 versicherter Gegenstände erstatteten; dieser habe sich durch Wertverfall aber häufig auf ein denkbar geringes Maß reduziert, obgleich der Versicherte den wertabgenutzten Gegenstand für seine Bedürfnisse noch gut gebrauchen konnte. Als plastisches Beispiel nannte man in der Literatur etwa gebrauchte Möbelstücke, die für den Versicherten auch nach Jahren der Benutzung noch einen beträchtlichen subjektiven Gebrauchswert hatte, deren objektivierter Zeitwert aber gleichzeitig wohl gegen Null tendierte. Ein gleichwertiges gebrauchtes Möbelstück würde sich der Versicherte von der Versicherungsleistung jedenfalls nicht anschaffen kön­ nen, sodass er auch nach der Auszahlung der Versicherungsleistung noch emp­ findlich schlechter dastehe als vor dem Brand.1249 Die Versicherungspraxis blieb im Ergebnis also in weiten Teilen hinter den differenzierten Wertbetrachtungen zurück, die zur gleichen Zeit bereits in der Literatur stattfanden und in ähnlich gelagerten Fällen tatsächlich für den Ersatz des Wiederanschaffungs- statt nur des Zeitwertes plädierten.1250 Ähnlich träge verhielten sich im 19. Jahrhundert die Reglements der öffentlichen Brandkassen. Viele jener Sozietäten beharrten noch auf dem schon im 18. Jahrhundert praktizierten Verfahren, bei der Aufnahme eines neuen Mitgliedes den „gemeinen Wert“ der verbrennlichen Gebäudeteile zu taxieren und in ein öffentliches Kataster einzutragen.1251 In den meisten Fällen 1247 So auch § 9 III AVB Aachener und Münchener Feuerversicherungs-Gesellschaft (1888); § 16 III AVB Gothaer Feuerversicherungsbank (1904). 1248 Z. B. Art. 4 S. 2 AVB Bayerische Hypotheken- und Wechselbank (1836); § 10  II AVB Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845); § 7 S. 1 Hs. 2 Verbands-AVB Deutscher Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1874); ähnlich noch Art. 32 lit. c, 35 AVB Würt­ tembergische Privatfeuerversicherung (1905). Befürwortend Malß, ZHR 6 (1863), 361, 380 ff. 1249 V.  Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 365, 448; in diese Richtung schon Malß, ZVersR 1 (1866), 6, 11 (plädiert für Heranziehung des Buchwertes von Maschinen); Prange, Kri­ tische Betrachtungen (1904), S. 44 f., 270 ff. Vgl. auch Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), § 86 Rn. 1. 1250 Zu den differenzierten Versicherungswertbetrachtungen in der wissenschaftlichen Lite­ ratur, s. insgesamt V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 362 ff., 444 ff.; Malß, ZVersR 1 (1866), 6 ff.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 42 ff. 1251 §§ 3–5 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833) (Lappenberg  XII, 258); §§ 21–24 Reglement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836)

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war dieser taxierte und katastrierte Versicherungswert nach wie vor periodischen Taxrevisionen unterworfen;1252 im Brandfall konnte sich die Sozietät dann an eben dieser Taxe orientieren.1253 Nur wenige Brandkassen adaptierten rechtliche Ele­ mente aus der Privatversicherungspraxis: so berechneten vereinzelte öffentliche Anstalten den ersatzfähigen Schaden auf Grundlage der Reparatur- bzw. Wieder­ herstellungskosten.1254 Auch das kontradiktorische Schadensermittlungsverfahren, das die konkrete Schadensberechnung in der Regel auf zwei Sachverständige und gelegentlich einen Obmann delegierte, tauchte in manchen Sozietäten-Reglements des 19. Jahrhunderts auf.1255 Abgesehen von diesen wenigen Ausnahmen spielten die staatlichen Feuersozietäten aber keine entscheidende Rolle mehr bei der Ko­ difikation des VVG. (PrGS 1836, 13); §§ 14–18, 68–74 Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1846) (PrGS 1846, 171); §§ 14, 18, 21, 22 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (PrGS  1859,  477); §§ 11, 12 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (PrGS 1862, 80); §§ 19–22 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863) (PrGS 1863, 578); §§ 25, 27 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863) (PrGS  1863,  545) (für Mo­ biliarversicherungen mit Verweis auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungsgesetz v. 08. 05. 1837 in § 6 I); §§ 25–30 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867) (HambGS 1867, 66); § 32 Revidirtes Reglement Feuersozietät Altpommern (1872) (PrGS 1872, 122), ebd. §§ 50, 57, 58 (für Mobiliarversicherungen mit Verweis auf das preußische Mobiliarfeuerversicherungs­ gesetz in § 6  I); §§ 12–18, 25 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902) (SammlungAVB I, 79); vorausgesetzt in A § 3 X 1 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903) (Sammlung-AVB I, 99). Vgl. Brämer / Brämer (1894), S. 257. 1252 §§ 6, 7 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833); § 26, 27 Reg­ lement Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); §§ 20, 21 Reglement Feuersozie­ tät Königsberg i.Pr. (1846); § 25 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozie­ tät (1859); § 15 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); § 23 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); § 26 Revidirtes Reglement Feuersozietät Sachsen (1863); § 33 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867); § 33 Revidirtes Reglement Feuerso­ zietät Altpommern (1872); §§ 20, 21, 26–28 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902); A § 20 II Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rheinprovinz (1903). Vgl. auch Brämer / Brämer (1894), S. 257; Müssener (2008), S. 184; Prange, Theorie des Versicherungs­ wertes (1895), Bd. 1 S. 68 f. 1253 §§ 17, 18 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833); § 42 Regle­ ment Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz (1836); §§ 30–38, 48, 49 Reglement Feuer­ sozietät Königsberg i.Pr. (1846); §§ 25 II, III Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862); §§ 36–40, 51 Revidirtes Reglement Feuer-Sozietät Posen (1863); §§ 55–62 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867); §§ 23–29 Statut Mobiliarversicherung der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesellschaft Westpreußen (1871) (Schadensberechnung nach gemeinem Wert, aber ohne vorherige Katastrierung); §§ 29–42 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz (1902). Vgl. Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 68 f. 1254 So aber § 17 S. 1 Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung (1833); § 56 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859); § 57 II 1 Gesetz betr. Hamburger Feuercasse (1867). 1255 So aber §§ 45, 57 Revidirtes Reglement Westphälische Provinzial-Feuersozietät (1859) (kontradiktorisches Verfahren wie bei den Privatversicherungsgesellschaften); § 25 III 3–5 Revidirtes Reglement Feuersozietät Königsberg i.Pr. (1862) (Obmannverfahren bei Uneinigkeit der Schätzungsbeamten); A § 22 Reglement Provinzial-Feuer-Versicherungsanstalt der Rhein­ provinz (1903) (kontradiktorisches Verfahren wie bei den Privatversicherungsgesellschaften). Vgl. zu diesen Tendenzen Prange, Theorie des Versicherungswertes (1895), Bd. 1 S. 59.

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2. Die zurückhaltenden Regelungsansätze des 19. Jahrhunderts In völligem Kontrast zum Allgemeinen Landrecht und seinem kasuistischen Perfektionismus standen die vier Kodifikationsentwürfe des 19. Jahrhunderts. Die komplexen Mechanismen, die der eigentlichen Ermittlung des ersatzfähi­ gen Schadens dienten, überließen sie alleine der Praxis: vom württembergischen HGB-Entwurf bis zum Dresdener Obligationenrechtsentwurf befasste sich keine einzige Gesetzgebungsarbeit mit dem förmlichen Schadensermittlungsverfahren. a) Die vereinzelt gebliebene Diskussion verschiedener Wertbegriffe im württembergischen Entwurf Die ausführlichsten Regeln zum Problemkreis „Schadensberechnung“ wollte noch der württembergische Entwurf von 1839 zur Kodifikation bringen. Als ein­ ziger der vier Entwürfe diskutierte er unterschiedliche Wertbegriffe, die bei der Berechnung eines Feuerschadens zum Tragen kommen konnten, namentlich den Zeitwert und den Wiederherstellungswert. Damit war er seiner zeitgenössischen Feuerversicherungspraxis sogar einen Schritt voraus. Ausdrücklich äußerte sich der Entwurf nur zur Gebäudefeuerversicherung, wo er im Grundsatz daran fest­ hielt, dass der Versicherte im Brandfall nur den Ersatz des Zeitwerts fordern konnte (Art. 483); alternativ durften die Parteien den Schadensersatz aber auch auf der Grundlage des Wiederherstellungswerts berechnen. Die beiden einschlägigen Ar­ tikel lauteten:1256 „Art. 483. [1] Bei Gebäudeversicherungen wird die Größe des Schadens bestimmt durch Vergleichung des Werths der versicherten Sache vor dem Brande mit demjenigen, welchen das Uebriggebliebene gleich nach dem Brande hat. […] Art. 485. [1] Es kann zwar bei Gebäudeversicherungen bedungen werden, daß der Versiche­ rer soviel, als die Kosten der Wiederherstellung betragen, zu vergüten habe; doch darf die Versicherungssumme drei Viertheile des zur Wiederaufbauung erforderlichen Aufwandes nicht übersteigen. [2] Eine höhere Versicherung ist ungültig, und begründet den Verdacht des Betrugs gegen den Versicherten.“

Freilich sticht dabei ins Auge, wie auch Art. 485 mit höchster Vorsicht einer et­ waigen Überversicherung vorbeugen wollte, um der betrügerischen Spekulation des Versicherten keinen Vorschub zu leisten:1257 den vollen Wiederbeschaffungs­ wert durfte sich der Versicherte bei Androhung einer Kriminalstrafe nicht vom Versicherer versprechen lassen. Die außergewöhnliche Bestimmung des Art. 485 I, dem übrigen deutschen Privatversicherungsrecht fremd, zeugt einmal mehr von dem starken Einfluss der niederländischen Handelsgesetzgebung: wie die Ent­ 1256

Abgedruckt als Textausgabe (1839). Insgesamt auch Neugebauer (1990), S. 54. So ausdrücklich Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 485 (Textausgabe, 1840); vgl. Neugebauer (1990), S. 54. 1257

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wurfsmotive bezeugen,1258 waren sie erneut dem niederländischen Wetboek nach­ gebildet. Fast wortlautidentisch hatte auch das Wetboek von 1838 die „kosten, tot den weder-opbouw vereischt“, zum ersatzfähigen Schaden erklärt, allerdings nur zu „drie vierden dier kosten“.1259 Letzten Endes hatte sich die Erkenntnis, dass in manchen Fällen eben nur der Wiederbeschaffungswert den Versicherten in seinen status quo ante zurückverset­ zen konnte, dank ausländischer Einflüsse zwar angedeutet; vollends durchgesetzt hat er sich aber noch nicht. In den späteren Entwürfen verschwanden solche Ideen schließlich ganz. Ersatzfähig war nach allen folgenden Entwürfen alleine der Zeit­ wert des versicherten Gegenstandes1260 – bis zum Dresdener Obligationenrechtsent­ wurf fand eine Diskussion über verschiedene Wertbegriffe gar nicht einmal mehr statt.1261 Besonders streng agierte der preußische HGB-Entwurf von 1857, der mit seinem Art. 350 II – einer lex specialis für das Gebäudefeuerversicherungsrecht – den Vertrag für vollumfänglich nichtig erklärte, wenn der Versicherte ein Gebäude über seinem „wahren Werth“ taxieren wollte. Der preußische Entwurfsverfasser begriff es immer noch als eine seiner Hauptaufgaben, dem Versicherten keinen fal­ schen Anreiz zur Brandstiftung zu setzen. Dementsprechend sah er es als „doppelt gefährlich“ an, wenn der Versicherte in der Folge eines Brandunglücks mehr als den „gemeinen Werth“ aus der Versicherung realisieren konnte.1262 Auf demselben Standpunkt waren bereits die Mobiliarfeuerversicherungsgesetze der 1830er Jahre gestanden;1263 die Gesetzesentwürfe jener Zeit stellten ihn noch nicht in Frage. b) Die Diskussion um die rechtliche Bedeutung von „taxierten Policen“ Im Übrigen hatten sich die vier Gesetzesentwürfe alleine auf die Frage be­ schränkt, welche rechtliche Bedeutung den umstrittenen „taxierten Policen“ bei der Schadensberechnung zukam. Auch in dieser Hinsicht beinhaltete der würt­ 1258

Art. 289 Wetboek van Koophandel (1838) (Officiële Uitgave, 1838); vgl. Mot. HGB Würt­ temberg (1840) zu Art. 485. 1259 Art. 289 II, III Wetboek van Koophandel (1838). 1260 Art. 340 HGB-Entwurf Preußen (1857) (Textausgabe, 1857); Art. 819  I BGB-Entwurf Bayern (1861) (Textausgabe, 1861) (allerdings nur bei „offenen“, d. h. nicht taxierten Policen); Art. 913 Hs. 1 Entwurf Dresd. OR (1866) (Textausgabe mit Hrsg. Francke [1866]) (auch in­ soweit nur bei „offenen“ Policen, allerdings stand dem Versicherungsnehmer bei taxierten Policen, wie gesehen, das jederzeitige Recht auf die Korrektur der einer Übertaxation zu). 1261 Vgl. nur die äußerst sporadische Diskussion in Prot. Dresd. OR, Bd. 4 (1865), S. 3224 ff., 3275, wo nur auf Fragen der Übertaxation eingegangen wurde, hingegen andere Wertbegriffe als der Zeitwert gar nicht einmal in Erwägung gezogen wurden. 1262 So ausdrücklich Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 350 (Textausgabe, 1857). 1263 Vgl. dazu § 1 I Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837 (PrGS 1837, 102); Art. 1 Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (RegBl. Württemberg 1830, 207), je beide mit dem „gemeinen“ bzw. „wahren Werth“ des versicherten Gegenstandes als Ober­ grenze für die Versicherungssumme und damit auch die Versicherungsleistung.

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tembergische Entwurf noch ausführlichere Bestimmungen als seine Nachfolger; im Kern enthielten seine Vorschriften schon exakt den Regelungsgehalt, um den sich die gesamte Kodifikationsdebatte im 19. Jahrhundert drehen sollte. Zunächst unterschieden seine Art. 458–460 zwischen „taxierten“ und „offenen“ Policen: „Art. 458. Ist der Werth des Versicherungsgegenstandes in der Police nicht ausgedrückt; so muß der Versicherte rechtlich erweisen, welchen Werth derselbe zur Zeit der Beschä­ digung hatte. Art. 459. [1] Ist der Werth ausgedrückt; so hat der Versicherer jedenfalls das Recht, den Beweis des Uebermaßes zu führen. [2] Auch ist der Richter befugt, dem Versicherten eine nähere Rechtfertigung des ausgedrückten Werths aufzuerlegen, wenn der Versiche­ rer Umstände nachweist, woraus sich eine gegründete Vermuthung des Uebermaßes der Werthangabe ergibt. Art. 460. Ist aber der Versicherungsgegenstand zum Voraus von Sachverständigen geschätzt worden, welche die Parteien ernannt haben; so wird kein Gegenbeweis des Versicherers zugelassen: außer im Falle eines Betrugs.“

Im Grundsatz konnten die Vertragsparteien also eine Vermutung für den Wert des versicherten Gegenstandes aufstellen, indem sie denselben bei Vertragsschluss taxierten. Dem Versicherer blieb dann aber noch immer der Beweis des „Ueber­ maßes“, um zu hohe Schadensersatzforderungen abzuwehren (Art. 459 I). Dieses Gegenbeweisrecht des Versicherers stand zwar im Ergebnis mit der herrschenden Feuerversicherungspraxis im Einklang, doch hat sich Hofacker, der Verfasser des Entwurfes, nicht unmittelbar von jener Praxis, sondern vielmehr von den tradi­ tionsreichen Prinzipien der Seeversicherung leiten lassen. Auch das seerechtlich orientierte Allgemeine Landrecht hatte dem Versicherer in Th. II Tit. 8 § 2170 ALR das Recht gegeben, die Taxe herabzusetzen, falls sie sich im Laufe der Vertragszeit als zu hoch erweisen würde.1264 Ein ähnliches System aus Vermutungswirkung und Gegenbeweisrecht hatte auch das niederländische Wetboek van Koophandel ent­ worfen.1265 Hofacker hielt diese Regel für „besonders practisch“, da sie langwieri­ gen Beweisschwierigkeiten in der Rechtspraxis vorbeuge. Deshalb importierte er sie, wie die Entwurfsmotive bekunden, ins württembergische Recht.1266 Der württembergische Entwurf führte diesen Gedanken des „Übermaßbewei­ ses“ allenthalben nicht in letzter Konsequenz zu Ende. Wenn nämlich die Taxation zu Vertragsbeginn nicht von den Parteien selbst, sondern von Sachverständigen durchgeführt worden war, so stand sie – abgesehen von Betrugsfällen – für die Parteien unveränderlich fest und bildete zwingend die Grundlage für die Scha­ densberechnung (Art. 460). Der HGB-Entwurf von 1839 hatte auch diese recht ungewöhnliche, der Praxis fremde Vorschrift aus dem niederländischen Recht

1264

Th. II Tit. 8 § 2170 ALR (1794) (Textausgabe mit Hrsg. Hattenhauer [3. Aufl. 1996]); dazu schon ausführlich unter § 2 D X 1 a. dieser Forschungsarbeit. 1265 Art. 274 Wetboek van Koophandel (1838); vgl. Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 459. 1266 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 459.

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kopiert.1267 Es dürfte also nicht von ungefähr kommen, dass der württembergi­ sche Entwurf in Art. 460 beinahe bis in wörtliche Formulierungen mit Art. 275 des Wetboek van Koophandel übereinstimmte: auch das Wetboek ließ den Beweis des „Übermaßes“ im Grundsatz zu1268 – doch falls die versicherte Sache zuvor von Sachverständigen taxiert worden war, konnte „der verzekeraar niet dagegen opko­ men, ten zij in geval van bedrog“. Dabei hatte der Entwurf im Endeffekt nicht bedacht, dass der Versicherungswert gerade bei Mobiliarfeuerversicherungen auch während der Vertragslaufzeit durch natürliche Abnutzung erheblich sinken konnte. Während also die Feuerversiche­ rungspraxis um 1839 das „Prinzip der taxierten Police“ schon energisch bekämpft hatte, schlug es im württembergischen Entwurf zumindest in Fällen des Art. 460 noch mit all seinen Härten durch. Auch daran lässt sich im Übrigen gut der eigent­ lich seeversicherungsrechtliche Ursprung der Regeln ablesen, die Hofacker in das württembergische HGB importieren wollte: weil Seeversicherungen meist auf eine erheblich kürzere Vertragsdauer ausgerichtet waren als Feuerversicherungen, na­ mentlich auf die Dauer einer einzelnen Schiffsreise, dürfte der Wertverlust von Schiff oder Ladung nur eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben. Darüber hinaus trug die gefestigte Seehandelspraxis den zu erwartenden, vergleichsweise geringfügigen Wertverlusten aber Rechnung, indem sie gewohnheitsmäßig mit Bagatellgrenzen arbeitete, unterhalb derer ein Schiffs- oder Warenschaden nicht für ersatzfähig gehalten wurde.1269 Dort mussten die Parteien also vor allem solche Taxen korrigieren können, die sie aufgrund eines Irrtums über den Wert des ver­ sicherten Gegenstandes überhöht hatten. Unter solchen charakteristisch seerecht­ lichen Umständen hatte es mithin durchaus seine Berechtigung, eine Werttaxe für letztverbindlich zu erklären, wenn sie von Sachverständigen berechnet worden war; alleine den Bedürfnissen der Feuerversicherungspraxis mit ihren wesentlich längeren Vertragslaufzeiten wurde diese Handhabung nicht gerecht. Auf einem ähnlichen Standpunkt wie der Hofacker-Entwurf positionierte sich allerdings auch der bayerische BGB-Entwurf: er hielt das eigentliche Schadenser­ mittlungsverfahren überhaupt nur dann für notwendig, wenn „der Werth der ver­ sicherten Sache im Vertrage nicht angegeben“ war.1270 Im Gegensatz dazu adaptierten der HGB-Entwurf aus Preußen und der Dres­ dener Obligationenrechtsentwurf das „Prinzip der taxierten Police“ in keiner Weise mehr. Sie gewährten dem Versicherer nun in jedem erdenklichen Fall das Recht, eine etwaige Übertaxation geltend zu machen.1271 Insbesondere der preu­ 1267 Mot. HGB Württemberg (1840) zu Art. 460 mit Verweis auf Art. 275 Wetboek van Koop­ handel (1838). 1268 Art. 274 I Wetboek van Koophandel (1838) („bovenmatige der opgave“). 1269 Vgl. dazu auch schon die ausführlichere Darstellung unter § 2 D X 1 a. 1270 Art. 819 I BGB-Entwurf Bayern (1861). 1271 Art. 341 I HGB-Entwurf Preußen (1857); Art. 898 II Entwurf Dresd. OR (1866). Vgl. auch Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 387 f.

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ßische Entwurf von 1857 hatte sich dabei ausdrücklich auf das Vorbild des § 2170 ALR gestützt.1272 Auch das Seeversicherungsrecht, ab 1861 in die feste Gestalt des ADHGB gegossen, hatte dieses System akzeptiert, sodass es schon bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem gefestigten Merkmal des gesamten Schadensversi­ cherungsrechts aufgestiegen war, welches auch in der Literatur nur selten hinter­ fragt wurde.1273 Die Gesetzgebung hatte hier unter dem Strich also den gleichen Weg eingeschlagen wie die zeitgenössische Feuerversicherungspraxis, ohne dass sich deren Wege aber unmittelbar und nachweislich gekreuzt hatten. 3. Das VVG und seine reformfreudige Kodifikation der Schadensermittlungs- und -berechnungsregeln Aus sämtlichen Entwürfen des 19. Jahrhunderts lässt sich also ablesen, wie die Gesetzgebung sich hier nur mehr auf die Kodifikation allgemeiner Grundsätze beschränken wollte, deren tiefere Wurzeln sie überwiegend in der in- und aus­ ländischen Seeversicherung suchte. Dieser Befund führt nun zurück zur eingangs aufgeworfenen Frage: warum stellte sich das Versicherungsvertragsgesetz dieser Tendenz entgegen und kodifizierte sowohl das Verfahren der Schadensberechnung als auch die verschiedenen Wertbegriffe in einer bislang unbekannten Ausführlich­ keit? Um diese Frage zu klären, soll das Recht der Schadensermittlung im Folgen­ den in drei Teilaspekte aufgespalten werden: zunächst wird gezeigt, wie der VVGGesetzgeber das schon im 19. Jahrhundert behandelte Problem „taxierter Policen“ weiter vertieft hat (a). Im Anschluss daran wird gezeigt, dass er den Begriff des Ver­ sicherungswerts in der herrschenden Feuerversicherungspraxis als unzureichend differenziert empfand (b) und auch die verfahrenstechnische Ausgestaltung der Schadensermittlung unter einigen Gesichtspunkten für reformbedürftig hielt (c). a) Die Bedeutung „taxierter Policen“ im VVG Die Bestimmungen des VVG zur Bedeutung einer „taxierten Police“ konnten nahtlos an die Debatte anknüpfen, die sich schon durch die Kodifikationsbewegung des vorhergehenden Jahrhunderts gezogen hatten; das unterschied sie von den üb­ rigen VVG-Vorschriften zur Schadensermittlung und Schadensberechnung. § 57 VVG beschäftigte sich etwa mit der Frage, welchen Einfluss eine vorvertragliche Taxe auf die Schadensberechnung hatte:1274

1272 Mot. HGB Preußen (1857) zu Art. 340, 341 (Textausgabe, 1857). Zur Bezugnahme auf § 2170 ALR (1794), vgl. aber auch Kübel, ZVersR 1 (1866), 321, 388. 1273 Art. 797 I, II ADHGB (1861) (Textausgabe von Hrsg. Lutz [4. Aufl. 1861]); entspr. § 793 I, II HGB (1897) (RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336). 1274 RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263. Alle folgenden Zitate des VVG beziehen sich auf dessen ur­ sprüngliche Fassung von 1908.

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„§ 57. Der Versicherungswert kann durch Vereinbarung auf einen bestimmten Wert (Taxe) festgesetzt werden. Die Taxe gilt auch als der Wert, den das versicherte Interesse zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalles hat, es sei denn, daß sie den wirklichen Versicherungs­ wert in diesem Zeitpunkt erheblich übersteigt. […]“

Der Gesetzgeber hatte hier also tatsächlich jenes Prinzip zur Kodifikation ge­ bracht, das schon während des 19. Jahrhunderts zum Kernbestand des Versiche­ rungsrechts gehörte: die bei Vertragsschluss fixierte Taxe begründete im Scha­ densfall nur eine Vermutungswirkung für den wahren Versicherungswert, dem Versicherer stand jedoch der Gegenbeweis der erheblichen Übertaxation zu.1275 Auch das Kriterium der „Erheblichkeit“ war dabei keinesfalls eine Neuheit: der Gesetzgeber konnte sich hier bereits auf seeversicherungsrechtliche Vorbilder wie Th. II Tit. 8 § 2170 ALR oder § 793 HGB1276 stützen.1277 Dass die Norm auf eine gefestigte Tradition in der Gesetzgebung verweisen konnte, lässt sich auch daran ablesen, dass sie seit ihrer Rohfassung im Reichjustizamtsentwurf von 1902 kaum noch Änderungen erfahren hat.1278 Gerade im Mobiliarfeuerversicherungsrecht wollte der Gesetzgeber die Reich­ weite einer „taxierten Police“ jedoch noch erheblich weiter einschränken. Das demonstriert die feuerversicherungsrechtliche lex specialis in § 87 VVG: „§ 87. Ist bei der Versicherung beweglicher Sachen eine Taxe vereinbart, so gilt die Taxe als der Wert, den das versicherte Interesse zur Zeit der Schließung des Vertrags hat, es sei denn, daß sie den wirklichen Versicherungswert in diesem Zeitpunkt erheblich übersteigt. Eine Vereinbarung, nach welcher die Taxe als der Wert gelten soll, den das versicherte Interesse zur Zeit des Eintritts des Versicherungsfalls hat, ist nichtig.“

Wie bereits zu Genüge erörtert, besteht gerade bei der Versicherung von beweg­ lichen Gegenständen die Gefahr, dass sich der Versicherungswert während der langjährigen Vertragsdauer bedeutend reduziert, sei es durch Abnutzung, sei es auch nur durch einen veränderten Modegeschmack. Davon ging auch der Gesetz­ geber von 1908 aus.1279 Das Mobiliarfeuerversicherungsrecht des VVG stellte daher nicht einmal mehr die Vermutung auf, dass die versicherte Sache zum Zeitpunkt des Schadenseintrittes noch immer den taxierten Wert besitze. Hätten die Vertrags­ parteien also zum Beispiel eine Industriemaschine bei Vertragsbeginn taxieren lassen, so dürfte sich der Versicherte im Brandschadensfall zwar durchaus der Ver­ 1275 Zur Werttaxe als ein Mittel zur Beweislastumkehr, s. ausdrücklich Mot. VVG (1908) zu § 57 (Nachdruck [1963], S. 59). 1276 RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336; entspr. Art. 797  I, II ADHGB (1861) (Textausgabe mit Hrsg. Lutz [4. Aufl. 1861]). 1277 Mot. VVG (1908) zu § 57; vgl. Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 57 Rn. 4. 1278 § 44 RJA-E (1902) (GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5575.91); entspr. § 52 VVG-E (1903) (Amtliche Ausgabe, 1903); § 56 VVG-BRV (1904) (GStA PK, I. HA Rep. 84a, Nr. 5576.1); § 57 VVG-RTV (1905) (Mot. VVG [Nachdruck 1963], S. 440), § VVG-RTV (1907) (Mot. VVG [Nachdruck 1963], S. 524); § 57 VVG (1908). 1279 Mot. VVG (1908) zu § 87.

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mutung bedienen, die Maschine habe bei Vertragsbeginn jenen taxierten Wert be­ sessen. Falls er vom Versicherer aber den vollen taxierten Betrag verlangen wollte, so müsste er nun den Beweis führen, dass ihr Wert seit dem Vertragsschluss nicht gesunken ist – das dürfte ihm in der Rechtspraxis freilich relativ schwer fallen.1280 In ihrer konkreten Tiefe stellte auch diese Regel ein Novum für die Versiche­ rungspraxis dar. § 87 VVG fußte im Endeffekt zwar auf den gleichen Rechtsge­ danken, welche die Praxis schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts veranlasst hatten, vom „Prinzip der taxierten Police“ abzurücken. In ihrer konkreten Form war die Vorschrift aber eine Schöpfung des Gesetzgebers, der die rechtlichen Erkennt­ nisse des 19. Jahrhunderts aufgegriffen und zweckentsprechend weitergesponnen hat. Jener Rechtsschöpfungsprozess lässt sich sogar Schritt für Schritt im Gesetz­ gebungsverfahren nachverfolgen. Im Reichsjustizamtsentwurf von 1902 wollte der Gesetzgeber die Taxe feuer­ versicherter Mobilien noch in Bausch und Bogen für wirkungslos erklären, ganz wie es dem totalen Verbot „taxierter Policen“ in der Feuerversicherungspraxis entsprach.1281 Erst im gedruckten Entwurf von 1903 wandelte sich die Vorschrift dann zu der differenzierten Beweislastregel, die später ihren Platz in der endgül­ tigen Fassung des VVG gefunden hat.1282 Zu diesem Sinneswandel des Gesetzge­ bers hatte offenbar der Dialog mit Vertretern aus Industrie und Gewerbe geführt; sie machten immerhin einen signifikanten Teil der Feuerversicherten aus. In den Sachverständigenkommissionen von 1902 waren Einwände gegen das traditionell strikte Verbot taxierter Policen im Mobiliarfeuerversicherungsrecht laut gewor­ den: das strikte Verbot sei schon deswegen nicht angebracht, weil auch der Ver­ sicherungsnehmer kein Interesse an einer überhöhten Taxe habe – eine hohe Taxe bedeute schließlich eine hohe Versicherungsprämie. Dem Problem des Wertver­ lustes könne die moderne Vertragspraxis hingegen durch die Verwendung zeit­ abhängiger, gleitender Werttaxen beikommen. Letzten Endes dürfte es den Inter­ essenvertretern industrieller Kreise vor allem darum gegangen sein, die enormen Beweisschwierigkeiten in der Praxis der Schadensermittlung zu mildern. Auf der anderen Seite allerdings argumentierten einige Sachverständige im Reichsjustiz­ amt noch immer vehement gegen die Zulassung von Mobiliartaxen: sie vertraten nach wie vor den alten Standpunkt, mit „taxierten Policen“ würde der Brandstif­ tung gefährlich Vorschub geleistet.1283 1280

Zur rechtstechnischen Funktionsweise des § 87 VVG (1908), s. auch Gerhard / Hagen /  von Knebel Doeberitz / Manes (1. Aufl. 1908), § 57 Rn. 2; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 216. 1281 § 76 RJA-E (1902). 1282 § 86 VVG-E (1903); entspr. § 84 VVG-BRV (1904); § 87 VVG-RTV (1905); § 87 VVGRTV (1907); § 87 VVG (1908). 1283 Zur gesamten Debatte im Reichsjustizamt, vgl. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.37 ff. (Feuerversicherung 4. Sitzung zu § 44 RJA-E = § 57 VVG). Vgl. auch die nach Veröffentlichung des Entwurfes von 1903 eingegangene Denkschrift Berli­ ner Metall-Industrieller (1903), S. 1 ff. (ausdrücklich zum Argument der Beweiserleichterung durch taxierte Policen); ähnlich Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 217 ff.

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Am Ende erscheint die Lösung des gedruckten Entwurfes von 1903 – später § 87 VVG – wie ein Versuch des Gesetzgebers, einerseits auf die Belange der ge­ werblichen bzw. industriellen Versicherungsnehmer einzugehen, dabei andererseits jedoch auch eine gerechte Balance zu den Bedürfnissen der Feuerversicherungs­ praxis zu wahren. Vollständig fallen lassen wollte man das Verbot der „taxierten Policen“ also nicht; ebensowenig aber stellte § 87 VVG einfach eine Kopie der vorgesetzlichen Versicherungspraxis dar. b) Die Verwendung unterschiedlicher Wertbegriffe zum Zweck der effektiveren Schadensrestitution Was die Bestimmung des ersatzfähigen Wertes anging, so sah es der Gesetz­ geber expressis verbis als einen Mangel der vorherrschenden Feuerversicherungs­ praxis an, dass sie in vielen Fällen nur den reinen Zeitwert der versicherten Mobi­ lien erstattete. Das reiche oft nicht aus, um eine effektive Schadensrestitution zu betreiben, also um den Versicherten so zu stellen, als hätte er den Brandschaden nie erlitten. Ihm sei mit der Erstattung des verschwindend geringen Zeitwerts – des „Trödelwertes“, wie man ihn in den Reichstagskommissionen bezeichnete – oft kaum gedient.1284 Daher solle der Versicherte stattdessen den Wiederbeschaffungs­ wert verlangen können, auf welchen nur noch ein dem Alter und Abnutzungsgrad entsprechender Abzug angerechnet werden müsse. Infolgedessen bestimmten die §§ 86, 88 VVG:1285 „§ 86. Als Versicherungswert gilt bei Haushalts- und sonstigen Gebrauchsgegenständen, bei Arbeitsgerätschaften oder Maschinen derjenige Betrag, welcher erforderlich ist, um Sachen gleicher Art anzuschaffen, unter billiger Berücksichtigung des aus dem Unterschiede zwi­ schen alt und neu sich ergebenden Minderwerts. […] § 88. Als Versicherungswert gilt bei Gebäude der ortsübliche Bauwert unter Abzug eines dem Zustande des Gebäudes, insbesondere dem Alter und der Abnutzung entsprechenden Betrags.“

Damit hatte sich der Gesetzgeber nicht in vollkommene Opposition zur Feuer­ versicherungspraxis begeben: mit § 8 III der Verbandsbedingungen von 1886 hatte sich schon eine ähnliche Entwicklung angedeutet, deren Tendenz der Reichs­ gesetzgeber in den amtlichen Motiven sogar sehr begrüßte.1286 Mit den kla­ ren gesetzlichen Vorschriften in §§ 86, 88 VVG trieb er die bereits begonnene Rechtsentwicklung aber noch weiter an, obwohl die Praxis selbst den Ersatz des Wiederanschaffungswerts bislang nur sehr zaghaft zugelassen hatte  – die Ver­ einigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaf­ 1284

Mot. VVG (1908) zu § 86. Vgl. auch Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 339 ff. 1285 Vgl. dazu auch von Liebig (1911), S. 178 ff. 1286 Mot. VVG (1908) zu § 88.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

ten hatte dem Reichsjustizamt in einer Denkschrift von 1901 sogar noch explizit empfohlen, zur Schadensberechnung nach Zeitwert zurückzukehren.1287 Zur Kodifikation der §§ 86, 88 VVG, in fast identischer Fassung bereits im Reichsjustizamtsentwurf enthalten,1288 dürfte zum einen die Rechtswissenschaft beigetragen haben: vor allem das prominente Lehrbuch Victor Ehrenbergs hatte bereits im Jahr 1893 ganz ähnliche Überlegungen zur Ersatzfähigkeit des Zeit- bzw. Wiederanschaffungs- oder Neubauwerts angestellt.1289 Zum anderen konnte sich das VVG wiederum auf eine vorbildhafte Regelung im schweizerischen Entwurf von Hans Roelli stützen. Dort hieß es nämlich zum selben Thema:1290 „Art. 56. [1] In der Feuerversicherung ist der Ersatzwert: 1. bei Waren und Naturerzeug­ nissen der gemeine Wert; 2. bei Gebäuden der ortsübliche Bauwert, nach Abzug der durch Abnutzung verursachten Wertverminderung, höchstens jedoch der Verkehrswert; 3. bei häuslichem Mobiliar, Werkzeug und Maschinen derjenige Wert, den die Neuanschaffung erfordern würde, nach Abzug der durch Abnutzung verursachten Wertverminderung. […]“

Nachdem die einschlägigen Bestimmungen in den Reichsjustizamtsentwurf Eingang gefunden hatten, waren sie im Übrigen kaum noch Diskussionen ausge­ setzt,1291 scheinen also von der Praxis rasch akzeptiert worden zu sein. Insgesamt könnte dem Votum, der Gesetzgeber habe sich hier lediglich der bereits etablierten Wertbestimmungsvorschriften aus der Versicherungspraxis bedient, also nur mit deutlichen Abstrichen zugestimmt werden: einen entschei­ denden Teil zur rechtlichen Entwicklung der §§ 86, 88 VVG hat der Reichsgesetz­ geber selbst beigetragen, weil er auf gesetzlichem Wege eine möglichst effektive Schadensrestitution zugunsten der Versicherten gewährleisten wollte.1292 c) Ein versichertenfreundlicher Rahmen für das förmliche Schadensermittlungsverfahren Nähere Bestimmungen zum Schadensermittlungsverfahren hatte die deutsche Gesetzgebung bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts noch nicht für notwendig ge­ halten. Die Feuerversicherungspraxis hatte hier bereits ein förmliches Abschät­ zungsverfahren mit gefestigten Regeln geschaffen, an dessen freie Entwicklung die 1287

Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 287 f. §§ 86, 88 VVG (1908) entspr. §§ 75, 77 RJA-E (1902); §§ 85, 87 VVG-E (1903); §§ 83, 85 VVG-BRV (1904); §§ 86,88 VVG-RTV (1905); §§ 86, 88 VVG-RTV (1907). 1289 V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 365 ff. 1290 Roelli, ZVersWiss 4 (1904), 328, 357 f. 1291 Vgl. z. B. den breiten Konsens der Reichstagsabgeordneten über die Ersatzfähigkeit des Wiederanschaffungswertes, Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 339 ff. Ebenso befürwortend: Denkschrift Berliner Metall-Industrieller (1903), S. 1; Prange, Kritische Be­ trachtungen (1904), S. 57. 1292 So auch die Denkschrift Berliner Metall-Industrieller (1903), S. 1 f., die einen Fortschritt gegenüber den AVB konstatiert. 1288

D. Historische Analyse einzelner versicherungsrechtlicher Figuren 

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Gesetzgebung vor 1900 offenbar nicht ihre Hand legen wollte. Auch das änderte sich mit dem VVG. Ein weiteres Mal lassen sich die Gründe des gesetzgeberischen Handelns aus den Gesetzgebungsmaterialien ablesen. Bevor es zum förmlichen Sachverständigenverfahren kam, musste der Versi­ cherte in der Praxis der Mobiliarfeuerversicherung meist ein Verzeichnis der vom Brand betroffenen Gegenstände anfertigen. Der Verfasser des Reichsjustizamtsent­ wurfs hatte aus diesen ganz typischen Klauseln noch einen verallgemeinerungs­ fähigen Rechtssatz lesen wollen, der gleichmäßig auf alle Zweige der Schadens­ versicherung Anwendung finden konnte. Das war wohl auch einer Denkschrift aus der Feuerversicherungswirtschaft geschuldet, die dem Reichsjustizamt nahegelegt hat, diese Praxis gesetzlich zu kodifizieren.1293 Entsprechend hatte das Reichsjus­ tizamt jenes Verfahren zum Gesetz machen wollen, indem § 53 des ersten Ent­ wurfes von 1902 vorsah: „§ 53. Der Versicherte hat dem Versicherer eine schriftliche Berechnung des Schadens mitzutheilen.“

Die Norm des Reichsjustizamtsentwurfs konnte sich auf keinen früheren Ge­ setzesentwurf und auf kein anderes Gesetz stützten und darf daher mit Fug und Recht als getreue Spiegelung der vorgesetzlichen Praxis bezeichnet werden. Bloß war sie in dem ein Jahr später veröffentlichten Entwurf schon wieder ersatzlos ge­ strichen worden. In den Sachverständigenkonferenzen von 1902 war nämlich der Einwand erhoben worden, solche Vertragsklauseln zur „provisorischen Schadens­ berechnung“ seien nichts anderes als weitere Fallstricke für den Versicherten: sie könnten ihn möglichweise um seinen Leistungsanspruch bringen, falls eine Ver­ sicherungsgesellschaft in ihren AVB Sanktionen für eine fehlerhafte Schadens­ aufstellung vorsehe; die Versicherten selbst seien in komplexeren Sachverhalten jedoch oft gar nicht einmal in der Lage, die geforderte Schadensaufstellung rech­ nerisch exakt anzufertigen.1294 Das Reichsjustizamt teilte diese Meinung offenbar. Letzen Endes kam diese Klausel aus dem reinen Praxisrecht somit doch nicht zur Kodifikation. Das bedeutete freilich nicht, dass entsprechende AVB-Klauseln in Zukunft ganz verboten sein sollten – um eine vertragliche vereinbarte Sanktion auszulösen, war es jedoch wie bei allen anderen Vertragsstrafen erforderlich, dass der Versicherte sein Fehlverhalten auch verschuldet hatte (§ 6 I VVG). Nachdem § 53 des Reichsjustizamtsentwurfes der Weg ins VVG von 1908 ver­ sperrt geblieben war, beschränkte sich die gesetzliche Regelung alleine auf zwei knappe Bestimmungen zum eigentlichen förmlichen Sachverständigenverfahren (§§ 64, 65 VVG). Sie kodifizierten das Verfahren nicht lückenlos, wie es etwa der Verband der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuer-Versicherungsgesell­ schaften angeregte hatte,1295 sondern korrigierten die vorherrschende Schadens­ 1293

Vgl. Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 291 f. „Berathung“ zum RJA-E (1902), GStA PK, I. HA Rep. 84 a, Nr. 5579.42 f. (Feuerversi­ cherung 4. Sitzung zu § 53 RJA-E). 1295 Denkschrift der Feuerversicherer v. 15. 12. 1901, ZVersWiss 3 (1903), 253, 292 f. 1294

602

§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

ermittlungspraxis nur in einigen Detailfragen. Die erste der beiden Normen, später § 64 VVG, war inhaltsgleich schon in § 54 des Reichsjustizamtsentwurfes enthalten:1296 „§ 54. [1] Soll nach dem Vertrage die Höhe des Schadens im Wege eines Abschätzungs­ verfahrens durch Sachverständige bestimmt werden, so ist die getroffene Bestimmung nicht verbindlich, wenn das Ergebniß offenbar von der wirklichen Sachlage erheblich ab­ weicht. Die Bestimmung erfolgt in diesem Falle durch Urtheil. Das Gleiche gilt, wenn die Sachverständigen die Bestimmung nicht treffen können oder wollen oder sie ungebührlich verzögern. […]“

Die Norm war als zwingendes – nicht nur halbzwingendes – Recht ausgestaltet (§ 54 III) und diente damit nicht alleine dem Schutz der Versicherten vor unbillig niedrigen Schadenstaxen, sondern in erster Linie dem Schutz des Rechtsverkehrs überhaupt. Die Rechtsfigur der „offenbaren Unrichtigkeit“ stammte dabei nicht aus dem Versicherungsrecht selbst, sondern hatte sich schon im römischen Recht etabliert. Dort hatte sich der Grundsatz herausgebildet, dass zwei Vertragsparteien die nähere Bestimmung der vertraglichen Leistungspflicht verbindlich auf einen außenstehenden Dritten delegieren konnten; dessen Entscheidung entfaltete aber dann keine Wirkung, wenn ihr ein schwerwiegender Mangel, eine sogenannte „ma­ nifesta iniquitas“, anhaftete.1297 Dieser gemeinrechtliche Satz war in der Wissen­ schaft und in der Rechtsprechung fest verwurzelt; das RG hatte ihn ausdrücklich auch schon in versicherungsrechtlichen Sachverhalten zur Anwendung gebracht. Eine „manifesta iniquitas“ lag bei einer versicherungsrechtlichen Schadensermitt­ lung zum Beispiel vor, wenn die Sachverständigen schon den Sachverhalt fehlerhaft ermittelt hatten.1298 Daher hielt § 54 des Reichsjustizamtsentwurfes auch dem in der VIII. Reichstagskommission erhobenen Einwand stand, der Begriff der „of­ fenbaren Unrichtigkeit“ sei zu grob und unbestimmt, um eine gesetzliche Kodi­ fikation zu erfahren.1299 Die andere der beiden erwähnten Vorschriften, der spätere § 65 VVG, war hin­ gegen nicht hauptsächlich auf den Schutz des Rechtsverkehrs, sondern auf den Schutz des Versicherten vor einseitig benachteiligenden AVB-Klauseln gerichtet. Sie war erst mit der Bundesratsvorlage von 1904 ins VVG gelangt1300 und reagierte auf die vielfach erhobene Klage, die Versicherungsgesellschaften würden ihren 1296

§ 54 RJA-E (1902); § 57 VVG-E (1903); § 62 VVG-BRV (1904); § 64 VVG-RTV (1905); § 64 VVG-RTV (1907); § 64 VVG (1908). 1297 Zur Entwicklung der „manifesta iniquitas“ zur „offenbaren Unbilligkeit“, s. auch Kleinschmidt (2014), S. 717 ff. 1298 Z. B. RGZ 10, 130, 131; RG JW 1906, 35; so auch schon BayHAG, Urt. v. 09. 11. 1868, ZHR 18 (1874), 282. Vgl. Mot. VVG (1908) zu § 64; Gerhard / Hagen / von Knebel Doeberitz /  Manes (1. Aufl. 1908), § 64 Rn. 8. Zu den Fallgruppen der „manifesta iniquitas“ V. Ehrenberg, Versicherungsrecht (1893), S. 48; vgl. auch Müssener (2008), S. 262 f. 1299 Prot. VIII. RT-Kommission (Nachdruck 1963), S. 330 ff. 1300 § 65 VVG-BRV (1904); entspr. § 65 VVG-RTV (1905); § 65 VVG-RTV (1907); § 65 VVG (1908).

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

603

Vertragspartnern die Beiziehung von Rechtsbeiständen verbieten und so die ge­ schäftlich unerfahrenen Versicherten systematisch benachteiligen:1301 „§ 63. Auf eine Vereinbarung, nach welcher sich der Versicherungsnehmer bei den Verhand­ lungen zur Ermittelung und Feststellung des Schadens nicht durch einen Bevollmächtigten vertreten lassen darf, kann sich der Versicherer nicht berufen.“

Insgesamt muss also auch an dieser Stelle konstatiert werden, dass die VVGVorschriften zum förmlichen Verfahren der Schadensermittlung – genauso wie die Vorschriften zur Schadensberechnung überhaupt – keine bloße Kopie des vor­ gesetzlichen Praxisrechts darstellten. Von einer gesetzlichen Kodifizierung der gebräuchlichen AVB-Klausel zur „provisorischen Schadensberechnung“, wie sie zunächst in § 53 des Entwurfs von 1902 angedacht war, hat der Gesetzgeber sogar wieder Abstand genommen. Die endgültige Fassung des VVG ließ der Versiche­ rungspraxis zwar in vielerlei Hinsicht ihre gewohnte Bewegungsfreiheit, manchen als missbräuchlich empfundenen Praktiken schob sie aber auch ausdrücklich einen Riegel vor. Insbesondere mit seinen §§ 64 III, 65 hat das VVG dem Versicherten erlaubt, sich im kontradiktorischen Verfahren durch einen Rechtsbevollmäch­ tigten vertreten zu lassen und grob unbillige Schadenstaxen einer gerichtlichen Überprüfung zuzuführen. Damit hat der Gesetzeber den Versicherern – teilweise im Anschluss an die Rechtsprechung des RG – die eine oder andere Gelegenheit genommen, während des Ermittlungsverfahrens übermäßige Vorteile aus ihrer wirtschaftlich überlegenen Position zu ziehen. Auch im Recht der Schadensberechnung lässt sich am Ende die Handschrift eines Gesetzgebers erkennen, der das praktisch gewachsene Recht zum einen dogmatisch konsequent durchdringen und mit der allgemeinen Systematik des Zivilrechts harmonisieren wollte, der jedoch stets auch den Schutz des Versicher­ ten vor einer allzu einseitigen Gestaltung der Feuerversicherungsbedingungen im Sinne hatte.

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Mit dem Versicherungsvertragsgesetz von 1908 hatte eine vielschichtige Ent­ wicklung in der Binnenversicherungsgesetzgebung ihren Höhepunkt und gleich­ zeitig ihren Endpunkt erreicht. Die vorstehenden Ausführungen haben gezeigt, dass all die rechtsdogmatischen und legislatorischen Diskussionen, die am Ende in die Kodifikation des VVG gemündet haben, tatsächlich schon tief im 19. Jahr­ hundert wurzelten. Die vier untersuchten Kodifikationsentwürfe aus der Mitte des 19. Jahrhunderts waren nur die frühesten, noch recht unreifen Früchte derselben langanhaltenden Kodifikationsbewegung, die im 20. Jahrhundert schließlich das VVG hervorgebracht hat. 1301

Mot. VVG (1908) zu § 65. So auch Gerhard, ZVersWiss 4 (1904), 171, 185 f.; Prange, Kritische Betrachtungen (1904), S. 288 f.

604

§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Die Methode dieser Kodifikationsbewegung war stets eine rechtsvergleichende: alle Entwurfsverfasser und Gesetzgeber vom 19. Jahrhundert bis zum VVG ver­ suchten, aus den bis dato vorhandenen Quellen zum Binnenversicherungsrecht so­ wohl konkrete Rechtssätze als auch allgemeine Rechtsprinzipien zu kompilieren. Diese sollten dann zu einem in sich geschlossenen, möglichst widerspruchsfreien dogmatischen System des Binnenversicherungsrechts verwoben werden. Wissen­ schaft, Rechtsprechung und Gesetzgebung suchten die Quellen des Versicherungs­ rechts einerseits in den tradierten Prinzipien der internationalen Seeversicherung, während sie andererseits gerade auch in den vertraglich vereinbarten Allgemeinen Versicherungsbedingungen das schöpferische Produkt einer „im Volk ruhenden, rechtserzeugenden Kraft“ erkennen wollten.1302 So kann es nicht erstaunen, wenn die AVB der Versicherungsgesellschaften zumindest eine wichtige Rechtsquelle für die Kodifikation des Binnenversicherungsrechts darstellten. Die Kodifikationsbewegung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war dabei allerdings vor vielfältige Herausforderungen gestellt: auf der einen Seite war die Binnenversicherung schon zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer enormen Viel­ falt an unterschiedlichen, dynamisch wachsenden Versicherungszweigen und -mo­ dalitäten gelangt, welche die Gesetzgebung möglichst präzise auf einen gemein­ samen Nenner bringen musste, ohne damit die Fortentwicklung der Rechtspraxis zu behindern. Auf der anderen Seite hatte sich mit dem Sprung der Binnenver­ sicherung zum Massengeschäft aber das wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen Versicherern und Versicherungsnehmern verschoben; die Versicherungsgesell­ schaften konnten mit ihren AVB praktisch unilateral das maßgebliche Vertrags­ recht diktieren. Das führte insbesondere auf dem Gebiet der Feuerversicherung zu einer stetigen Verschärfung der AVB-Klauseln zum Nachteil von Versicherten und Versicherungsnehmern. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich der Umgang der jeweiligen Gesetzgeber mit diesen Problemen zum Teil erheblich gewandelt. Aus diesem langwierigen Prozess lassen sich einige Entwicklungslinien destillieren, die sich maßgeblich auch auf das Verhältnis des Gesetzgebers zum vorgesetzlichen Praxisrecht aus­ gewirkt haben.

I. Die erste Entwicklungstendenz: die Kompilationsund Abstraktionsarbeit des Gesetzgebers Die reiche Diversität an Versicherungsprodukten zwang die Gesetzgeber im 19. Jahrhundert zunächst – in völliger Abkehr von der Kasuistik des ALR – zu einem fortschreitenden Grad an Abstraktion. Noch die HGB-Entwürfe aus Württemberg (1839) und Preußen (1857) tendier­ ten zu einer weit ausgreifenden Kompilationstätigkeit, über die man in der zeit­ 1302

Dazu unter § 3 B IV 1 (zur Wissenschaft) und § 3 B IV 2 (zur Rechtsprechung).

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

605

genössischen Literatur gar als „Compilationssucht“ spottete.1303 Die wichtigsten Quellen der beiden Entwürfe waren seerechtlich geprägte ausländische Handels­ gesetzbücher, vor allem das niederländische Wetboek van Koophandel oder der portugiesische Codigo Commercial. Sie fanden besonders häufig Erwähnung in den Entwurfsmotiven; in gelegentlichen Fällen dokumentierten die Motive den Einfluss des preußischen ALR von 1794. Ganz vereinzelt haben sich die Entwürfe aber auch AVB-Klauseln aus der Versicherungspraxis zum Vorbild gewählt. Das war zum Beispiel der Fall bei den Bestimmungen, die von der Versicherung auf fremde Leben1304 oder der Veräußerung eines feuerversicherten Gegenstandes handelten.1305 Wesentlich häufiger war aber die Konstellation zu beobachten, dass die Klauseln aus den gebräuchlichen Feuer- oder Lebensversicherungsbedingun­ gen bereits mit den seerechtlichen Normen der ausländischen Vorbilder überein­ stimmten  – zum Beispiel die verschuldensunabhängigen Sanktionen bei einer unterlassenen oder fehlerhaften Gefahranzeige.1306 Die Entwürfe haben sich in dieser Hinsicht durchaus nach den Vorstellungen, nicht aber nach dem unmittel­ baren Vorbild der Versicherungspraxis entwickelt. In anderen Fällen standen die Regeln der beiden HGB-Entwürfe aber der Versicherungspraxis auch diametral gegenüber: so sollte beispielsweise eine versäumte Schadensanzeige nach den Ent­ würfen lediglich zu einem Schadensersatzanspruch des Versicherers führen, nicht aber zu einem völligen Verlust des Leistungsanspruchs, wie es die Feuerversiche­ rungsbedingungen vorsahen. Einen ersten Schritt zur Abstraktion taten der württembergische und der preu­ ßische HGB-Entwurf, indem sie das Binnenversicherungsrecht nach dem Muster des Wetboek van Koophandel in einen Allgemeinen Teil und einen Besonderen Teil unterteilten: erster enthielt abstrakte, vor die Klammer gezogene Rechtsgrundsätze, letzter Regeln zu den unterschiedlichen Versicherungszweigen.1307 In direkter Kon­ sequenz führte dieses Vorgehen allerdings zu einer starken Dominanz seeversiche­ rungsrechtlicher Grundsätze: durch eine übergeneralisierende Vorgehensweise des Gesetzgebers waren sie nun auch auf die Feuer- und Lebensversicherung anwend­ bar. Ein Beispiel findet sich in der differenzierten Behandlung von gleichzeitig geschlossenen und von nacheinander geschlossenen Mehrfachversicherungen;1308 in der gleichen Weise wollten die Entwurfsverfasser seerechtliche Institute wie den Ristorno nun zu allgemeinen Prinzipien des Versicherungsrechts erklären.1309 1303

Osiander (1844), S. 71. Dazu § 3 D III 2. 1305 Dazu § 3 D VII 3 a. 1306 Dazu § 3 D VI 1. 1307 Dazu § 3 C II 1 c (zur systematischen Konzeption des württembergischen Entwurfes) und § 3 C II 2 b (zum preußischen Entwurf). 1308 Dazu ausführlich § 3 C II 1 c (zum seerechtlichen Konzept des württembergischen Ent­ wurfs); vgl. auch § 3 D IV 2 b. 1309 Vgl. etwa die Anwendung der Ristornovorschriften auf die Überversicherung § 3 D IV 1 a; auf das Recht der vorvertraglichen Gefahranzeige: § 3 D VI 1; auf das Recht der Gefahrerhö­ hung: § 3 D VII 2 a. 1304

606

§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Mit dem bayerischen BGB-Entwurf von 1861 und dem Dresdener Obligationen­ rechtsentwurf aus dem Jahr 1866 hatte das Streben nach gesetzgeberischer Abs­ traktion seinen Höhepunkt erreicht. Beide Werke verzichteten – abgesehen von punktuellen Regelungen zur Todesfallversicherung – komplett auf Regelungen zu den einzelnen Versicherungszweigen. Auch spezielle versicherungsrechtliche Fi­ guren wie das Einlösungsprinzip, das den materiellen Versicherungsschutz von der Zahlung der ersten Prämie abhängig machte, fielen aus diesen Entwürfen, da die Verfasser die allgemeinen zivilrechtlichen Verzugsregeln als ausreichend empfan­ den. Übrig blieb nur ein knappe Sammlung allgemeiner versicherungsrechtlicher Prinzipien, die sich wiederum stark an der Rechtsmaterie der beiden vorherge­ henden Entwürfe orientierte.1310 Insbesondere den Bedürfnissen der Lebensversi­ cherung wurde diese Vorgehensweise kaum noch gerecht: der bayerische Entwurf hätte beispielsweise dazu geführt, dass ein Begünstigter seine gesamte Versiche­ rungsleistung schon eingebüßt hätte, wenn die versicherte Person bei einem leicht fahrlässig verursachten Unfall zu Tode gekommen wäre.1311 Das Versicherungsvertragsgesetz von 1908 hat aus jenen gesetzessystematischen Versuchen schlussendlich ein elegantes und differenziertes System entwickelt, das sowohl dem Erfordernis nach gesetzgeberischer Abstraktion als auch den prak­ tischen Bedürfnissen der einzelnen Versicherungszweige Rechnung trug. Neben einem allgemeinen Teil mit Prinzipien für alle Versicherungszweige schuf es einen weiteren allgemeinen Teil, der Vorschriften für alle Arten der Schadensversi­ cherung enthielt. Daneben kannte das VVG aber auch besondere Vorschriften namentlich für die Feuer-, Hagel-, Vieh-, Transport-, Haftpflicht-, Lebens- und Unfallversicherung. Einerseits gewährleisteten die allgemeinen Prinzipien, dass auch neuartige Entwicklungen der Versicherungswirtschaft mit dem Instrumen­ tarium des VVG erfasst werden konnten – andererseits durften jedoch auch die charakteristischen Besonderheiten der einzelnen Versicherungszweige zur Spra­ che kommen.1312 Viele dieser charakteristischen Institute waren grundsätzlich der Praxis entlehnt: im allgemeinen Teil fand sich zum Beispiel das erwähnte Einlösungsprinzip wie­ der.1313 Dasselbe gilt für das „Prinzip der Unteilbarkeit der Prämie“:1314 Versicherer durften die Prämie für die laufende Versicherungsperiode häufig behalten, wenn der Vertrag im Verlauf jener Versicherungsperiode beendet wurde. Mit Entstehen der differenzierteren Systematik wurde insbesondere auch der Hang des Gesetzgebers zur Übergeneralisierung von Instituten aus einzelnen Ver­ sicherungszweigen zurückgedrängt. Wo die abstrakten Grundsätze nicht den Er­ 1310

Dazu § 3 C II 4 b (zur systematischen Konzeption des bayerischen Entwurfes); § 3 C II 5 b (zur Konzeption des Dresdener Entwurfes). 1311 Dazu § 3 D IX 1. 1312 Dazu insgesamt § 3 C III 3 b. 1313 Dazu § 3 D V 3 a. 1314 Dazu § 3 D VIII 1.

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

607

fordernissen einzelner Versicherungszweige gerecht wurden, dort modifizierte das VVG sie in seinem besonderen Teil. Davon zeugen etwa die differenzierte Behand­ lung des Selbstmordes1315 oder die Vorschriften zu Rückkauf und Umwandlung1316 im Lebensversicherungsrecht. Die leges speciales zur Feuerversicherung differen­ zierten zwischen unterschiedlichen Wertbegriffen wie dem Wiederanschaffungsund dem Zeitwert;1317 sie schränkten für feuerversicherte Mobilien aber auch die Beweiskraft einer vorvertraglichen Taxe ein.1318 Aber auch schon bei der Genese der allgemeinen Grundsätze selbst hatte der Gesetzgeber auf die große Diversi­ tät innerhalb der Versicherungspraxis Rücksicht genommen. So konnte sich das Verbot der Versicherung auf imaginären Gewinn, ursprünglich ein Kernelement des Mobiliarfeuerversicherungsrechts, im VVG nicht länger halten: angesichts der rechtspraktischen Vielfalt von Feuerversicherungsmodellen, beispielsweise der neuartigen Gerste- oder Bierentwertungsversicherung, erodierte das Verbot schließlich insgesamt  – kurioserweise gegen den anfänglichen Widerstand der Feuerversicherungspraxis.1319 Auch diverse Institute der Seeversicherung, wel­ che im 19. Jahrhundert als Fremdkörper in die Binnenversicherung geraten wa­ ren – man denke nur an den seerechtlichen Ristorno –, hatte das VVG nicht mehr übernommen.

II. Die zweite Entwicklungstendenz: die Dogmatisierung des Binnenversicherungsrechts Die Untersuchungen haben also gezeigt, dass mit der Systematik des VVG – im Gegensatz zu den Entwürfen des 19. Jahrhunderts – ideale Voraussetzungen ge­ schaffen waren, um Ideen aus der Versicherungspraxis in den Gesetzgebungspro­ zess einfließen zu lassen. Insbesondere zwei Entwicklungsprozesse, beide wiede­ rum im 19. Jahrhundert verwurzelt, führten jedoch dazu, dass das VVG zahlreiche Institute aus der Versicherungspraxis stark verformte oder überprägte. Der erste dieser beiden Prozesse stand im Zusammenhang mit dem hohen wissenschaftlichdogmatischen Anspruch, den die versicherungsrechtliche Kodifikationsbewegung zusehends an sich selbst stellte. Im Charakter der Kodifikationsbewegungen im 19. Jahrhundert – übrigens nicht nur der versicherungsrechtlichen – lag es, nicht nur einzelne historisch gewachsene Rechtssätze zu sammeln, sondern diese auch zu einem dogmatisch geschlossenen, möglichst widerspruchsfreien Gedankengebäude zusammenzufügen. Auf das Ver­ hältnis zwischen Praxisrecht und Versicherungsgesetzgebung hatte das einen nicht zu unterschätzenden Einfluss. 1315

Dazu § 3 D X 2 b. Dazu § 3 D VIII 2 b. 1317 Dazu § 3 D XI 3 b. 1318 Dazu § 3 D XI 3 a. 1319 Dazu § 3 D II 3. 1316

608

§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Während besonders die beiden HGB-Entwürfe aus Württemberg und Preußen noch nicht vor dem Hintergrund ausgedehnter rechtsdogmatischer Debatten in Wissenschaft und Gesetzgebung standen, ist die Rechtswissenschaft nachweislich seit dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf von 1866 ein ständiger Begleiter der Kodifikationsbewegung geworden. Allenthalben muss man dem Obligatio­ nenrechtsentwurf von 1866 eine gewisse Tendenz zur Überdogmatisierung des Versicherungsrechts attestieren, die oftmals in Konflikt mit den Ideen der Ver­ sicherungspraxis geriet. Das gilt zum Beispiel bei der Versicherung auf fremde Rechnung, die man ursprünglich mit den Werkzeugen des gemeinen römischen Rechts, dem mandatum und der negotiorum gestio, zu erfassen versuchte.1320 Ähn­ liches spielte sich bei der Debatte um die Gefahrerhöhung ab; dort konnte sich die Dresdener Konferenz nicht auf eine dogmatische Grundlage der Vorschriften ei­ nigen.1321 In der abschließenden Fassung des Obligationenrechtsentwurfs sparte man letzten Endes beide Rechtsfiguren ganz aus, um die Lösung der Rechtspre­ chung zu überlassen. Der nachhaltige Verdienst jener ersten Versuche, das Binnenversicherungsrecht wissenschaftlich-dogmatisch zu durchdringen, wird erst auf den zweiten Blick sichtbar. Die wissenschaftliche Debatte, die ihre Thesen und Dogmen häufig am Vorbild anderer in- und ausländischer Gesetzesvorschriften orientierte, hat viele Rechtsinstitute am Leben erhalten, welche der Feuer-, oder Lebensversicherungs­ praxis ihrer Zeit völlig fremd waren. Insbesondere auch die Rechtsgedanken der Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR – immerhin das frühste Beispiel einer feuer- und lebensversicherungsrechtlichen Kodifikation überhaupt – nahmen in der dogmati­ schen Diskussion einen beträchtlichen Stellenwert ein. Ein wichtiges Beispiel hier­ für liefert die Behandlung der Versicherung als „Vertrag von besonderem Treu und Glauben“, die sich – freilich mit ganz anderen Schlussfolgerungen – unter anderem auf Rechtsgedanken der §§ 2024 ff. ALR stützte.1322 Auf diese Weise hat sich aber zum Beispiel auch die Idee, die Versicherung bei der Veräußerung des versicher­ ten Gegenstandes kraft einer cessio legis auf den Erwerber übergehen zu lassen (§ 2163 ALR), in der wissenschaftlichen Diskussion erhalten.1323 Bei der Kodifikation des Versicherungsvertragsgesetzes ging der Gesetzgeber um Einiges behutsamer vor als noch zur Zeit des Dresdener Entwurfs. Im Grund­ satz hatte sich an seinem rechtsdogmatischen Anspruch nichts geändert, doch konnte er sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts schlichtweg auf einen ungleich reicheren und differenzierteren Quellenfundus stützen. Einerseits stand ihm das Seeversicherungsrecht des ADHGB bzw. des HGB zur Verfügung, dem im Wege 1320

Dazu unter § 3 C 5 c. Dazu unter § 3 D VII 2 a. 1322 Zur Behandlung des Versicherungsvertrages im VVG als „Vertrag von besonderem Treu und Glauben“ insgesamt, s. § 3 C III 3 c. Vgl. die Auswirkungen dieser Dogmatik auf das Recht der Gefahranzeige unter § 3 D VI 3 a und auf das Recht der Gefahrerhöhung unter § 3 D VII 2 b. 1323 Dazu unter § 3 D VII 3 a (zur dogmatischen Diskussion im 19.  Jhdt.) und § 3 D VII 3 b aa (zur Rezeption im VVG). 1321

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

609

des Analogieschlusses auch Prinzipien für das Binnenversicherungsrecht entnom­ men werden konnten. Andererseits hatten sich dem Gesetzgeber aber auch einige genuin binnenversicherungsrechtliche Quellen erschlossen – so insbesondere Teile des preußischen Allgemeinen Landrechts, aber eben auch die Allgemeinen Ver­ sicherungsbedingungen und sogar die Reglements einiger staatlicher Brandver­ sicherungsanstalten, welche sich der privaten Mobiliarfeuerversicherungspraxis in vielen Punkten angenähert hatten. Die Wissenschaft und Rechtsprechung des ausgehenden 19. Jahrhunderts hatten diese Gemengelage an Quellen vielfach auf­ gegriffen, systematisiert und wissenschaftlich durchdrungen. Auf diese Weise war bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts schon die Idee einer zusammenhängenden Binnenversicherungsrechtsdogmatik herangereift: das positive Binnenversiche­ rungsrecht, wie es am Ende des 19. Jahrhunderts in der Wissenschaft erörtert und von der Rechtsprechung zur Anwendung gebracht wurde, bestand also nicht al­ leine aus dem nackten Wortlaut der Versicherungsbedingungen, sondern war ein komplexes Geflecht aus vielfach ineinanderfließenden Rechtsquellen. Die Versi­ cherungsbedingungen hatten zu diesem rechtsdogmatisch-logischen System nach alledem einiges beigesteuert. Der Reichsgesetzgeber schließlich lehnte sich – auch ausweislich der amtlichen Gesetzesbegründung – häufig an all diese Erkenntnisse der Wissenschaft und Rechtsprechung. Darüber hinaus fügte er an zahlreichen Stellen noch eigene rechtsdogmatische Erwägungen hinzu, die nicht selten ihr Vorbild im schweizerischen VVG-Entwurf von Hans Roelli fanden.1324 Angesichts dieses Befundes wäre es zu kurz gegriffen, wollte man die vorge­ setzlichen Versicherungsbedingungen gleichsam unmittelbar und monokausal für die Genese bestimmter Rechtsfiguren des VVG verantwortlich machen, auch wenn zahlreiche Elemente der Versicherungspraxis im VVG noch deutlich er­ kennbar waren. Besonders plastisch kann das Vorgehen des Gesetzgebers am Beispiel der Ge­ fahrerhöhung demonstriert werden. Der ursprünglich „zweigleisigen“ Differen­ zierung zwischen gewillkürter und objektiver Gefahrerhöhung, wie sie in der vor­ gesetzlichen Praxis üblich geworden war, fügte die VIII. Reichstagskommission kurzerhand eine dritte Kategorie hinzu, um Wertungswidersprüche zu vermeiden. Seit dem VVG von 1908 unterscheidet das deutsche Versicherungsrecht zwischen subjektiv-bewussten, subjektiv-unbewussten und objektiven Gefahrerhöhungen, ohne dass diese Differenzierung jemals in der Versicherungspraxis angelegt ge­ wesen wäre.1325 Auch die Vorschriften über die Veräußerung der versicherten Sache in §§ 69–73 VVG stammten nicht aus der Praxis, sondern aus der Wissen­ schaft, die insoweit die Rechtsgedanken des ALR aufgriff. Auf diese Weise ließ der Gesetzgeber das Versicherungsverhältnis im Wege der cessio legis auf den Erwerber der versicherten Sache übergehen. Die feinere Ausgestaltung der ein­ schlägigen Vorschriften, welche die Anzeige der Sachveräußerung gegenüber dem 1324 1325

Zu den Rechtsquellen des VVG insgesamt unter § 3 C III 3 a. Dazu unter § 3 D VII 2 b bb.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Versicherer sowie ein beiderseitiges Kündigungsrecht vorsahen, war hingegen den Vorschriften zur Gefahrerhöhung entlehnt; diese dogmatische Anlehnung an das Recht der Gefahrerhöhung rührte wieder daher, dass § 2163 ALR und Teile der späteren Versicherungspraxis die Sachveräußerung als einen potentiellen Unter­ fall der Gefahrerhöhung begriffen hatten.1326 Sogar vereinzelte Gedanken des BGB zog der Gesetzgeber zur dogmatischen Ausgestaltung des VVG heran. So hat er nachweislich den Gedanken des § 571 II BGB a. F. – einer Regel zur Veräu­ ßerung eines vermieteten Grundstücks – verwendet, um zu begründen, dass der Veräußerer und der Erwerber einer versicherten Sache gesamtschuldnerisch auf die Versicherungsprämie haften sollten.1327 Nur einige wenige Rechtsfiguren aus der Versicherungspraxis blieben in ihrer Form so gut wie unberührt, in etwa die „Proportionalitätsregel“, die in der Schadensversicherungspraxis bei Unterversi­ cherungen Anwendung fand.1328 So hat der Reichsgesetzgeber eine zusammenhängende Materie des Binnenver­ sicherungsrechts geschaffen, in der viele einzelne Elemente aus der vorgesetz­lichen Praxis zwar erkennbar aufgegriffen wurden; doch führte sein hoher wissenschaft­ licher Anspruch zu einer beträchtlichen Verfremdung und Verästelung jener Ele­ mente. Das Ergebnis wurde – anders als in einigen Entwürfen des 19. Jahrhun­ derts – den Bedürfnissen der Versicherungspraxis oft überaus gerecht, wenngleich es in vielen Aspekten nicht mehr auf die rechtliche Gestaltung der Praxis, sondern auf die Initiative des Gesetzgebers zurückzuführen war.

III. Die dritte Entwicklungstendenz: der Schutz des geschäftlich Unerfahrenen vor nachteilhaften AVB Ganz besonders prägend für das deutsche Versicherungsvertragsgesetz und sein Verhältnis zur Praxis war es aber, dass Wissenschaft und Rechtsprechung gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend betonten, wie einseitig die Allgemeinen Versicherungsbedingungen gestaltet seien. Nach weit verbreiteter Meinung han­ delte es sich dabei nicht mehr um ein unverfälschtes Produkt privatautonomer Verhandlungen, sondern de facto um einseitig gesetztes Vertragsrecht, auf dessen Inhalt der Versicherungsnehmer keinen Einfluss mehr habe. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren solche Gedanken weder der Gesetzgebung noch der recht jungen Wissenschaft oder Rechtsprechung nahe gelegen.1329 Die frühesten Versicherungsaufsichtsgesetze, zum Beispiel das preußische Mobiliar­ feuerversicherungsgesetz vom 08. 05. 1837, waren nicht dem Versicherer, sondern 1326

Dazu unter § 3 D VII 3 b bb. Dazu unter § 3 D VII 3 b aa. 1328 Dazu unter § 3 D IV 3. 1329 Dazu unter § 3 B IV 1 b (zur Position der Rechtswissenschaft) und unter § 3 B IV 2 a (zur Position der Rechtsprechung). 1327

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

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dem Versicherungsnehmer mit großem Misstrauen begegnet. Man befürchtete doch schließlich, die Feuerversicherung könne dem Versicherten einen falschen Anreiz zur Brandstiftung oder zumindest zur Nachlässigkeit geben. Daher mussten die Ortspolizeibehörden jeden neu geschlossenen Mobiliarfeuerversicherungsver­ trag präventiv einer Kontrolle unterziehen, um schon im Voraus zu verhindern, dass eine „spekulative“ Versicherung oberhalb des wahren Versicherungswerts geschlossen werde.1330 Auch die drei einzelstaatlichen Kodifikationsentwürfe hatten, wenn sie allge­ meine und unabdingbare Grundsätze des Binnenversicherungsrechts schufen, noch ausschließlich im Sinn gehabt, den gemeinschädlichen Versicherungsmissbrauch zu unterbinden. Zu den zwingenden Prinzipien gehörte durch die Bank das Verbot der Überversicherung; eine Versicherung auf das Leben eines Dritten war typi­ scherweise nur wirksam, wenn die versicherte Person eingewilligt hatte oder wenn der Versicherungsnehmer ein wirtschaftliches Interesse an deren Leben besaß.1331 Dass sich gerade die AVB der Feuerversicherungsgesellschaften zunehmend zu­ ungunsten der Versicherungsnehmer wandelten, berücksichtigten die frühen Ko­ difikationsversuche hingegen noch nicht. Auch Klauseln, die den Versicherungs­ anspruch schon bei rein objektiv falschen oder unvollständigen Gefahranzeigen zum Erlöschen brachten, sahen die drei Entwürfe aus Württemberg, Preußen und Bayern unkritisch als zulässige Ausübung der Privatautonomie an. Alleine in den Dresdener Konferenzen hatten die Delegierten die einseitige Rechtsgestaltungs­ macht der Gesellschaften zur Sprache gebracht. Von einem wirksamen Schutz der Versicherungsnehmer kann aber auch im Obligationenrechtsentwurf von 1866 schwerlich die Rede sein; zwar hatte er einige Ansätze entwickelt, die dem Schutz des Versicherungsnehmers dienen sollten, doch blieben solche Vorschriften noch immer der freien Disposition durch die Vertragsparteien unterworfen.1332 Als die Gesetzgebungsarbeiten am VVG begannen, hatte sich in Wissenschaft und Rechtsprechung jedoch die herrschende Auffassung etabliert, dass die AVB in Wahrheit unilateral von den Versicherungsgesellschaften entworfen waren und daher nicht wie jede andere herkömmliche Parteivereinbarung behandelt werden dürften. Die tendenziell versichertenfreundliche Rechtsprechung des Bundes- bzw. Reichsoberhandelsgerichts und später des Reichsgerichts war inzwischen dazu übergegangen, die AVB zugunsten der Versicherungsnehmer nach den Grundsät­ zen von Treu und Glauben auszulegen, soweit sich solches im Rahmen des metho­ disch Vertretbaren bewegte. Ähnliche Ansätze waren zeitgleich in der Rechtslehre anzutreffen.1333 So dürfte es kaum noch überraschen, dass auch der Gesetzgeber 1330

Dazu insgesamt unter § 3 B II 3. Zu den zwingenden Vorschriften in den vier Kodifikationsentwürfen, vgl. § 3 C II 1 c (zum württembergischen Entwurf); § 3 C II 2 b (zum preußischen Entwurf); § 3 C II 4 b (zum bayerischen Entwurf). 1332 Dazu unter § 3 C II 5 d. 1333 Dazu unter § 3 B IV 1 c (zur Position der Rechtswissenschaft) und unter § 3 B IV 2 b (zur Position der Rechtsprechung). 1331

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

des VVG, der ohnehin ein enges Verhältnis zu Wissenschaft und Rechtsprechung pflegte, zahlreiche Elemente zum Schutz des geschäftsunerfahrenen Versiche­ rungsnehmers in das neue Gesetz einfließen ließ. Eine tragende Rolle spielte da­ bei auch der schweizerische VVG-Entwurf von Hans Roelli, der eine große Zahl solcher Normen beinhaltete. Sie waren dem deutschen Recht bis dahin zum Teil fremd gewesen; nun aber fanden sie, manchmal fast wortlautgetreu, Eingang in den Reichsjustizamtsentwurf von 1902. Was nun das Verhältnis dieser versichertenfreundlichen Bestimmungen zur vor­ gesetzlichen Praxis angeht, so lässt sich ein differenziertes Bild zeichnen, je nach­ dem, ob man aus der Warte des Feuer- oder des Lebensversicherungsrechts urteilt. Die historischen Feuerversicherungsbedingungen galten schon unter Zeitgenossen als besonders einseitig,1334 und so gerieten vor allem sie zum Ziel gesetzgeberi­ scher Intervention. Daraus entwickelten sich allerdings nicht nur leges speciales zum Feuerversicherungsrecht, sondern auch zahlreiche allgemeine Grundsätze, die letzten Endes in den beiden allgemeinen Teilen des VVG Niederschlag fanden. An erster Stelle ist in diesem Zusammenhang das sogenannte Verschuldens­ prinzip zu nennen, das auf dem Verständnis des Versicherungsverhältnisses als „Vertrag von besonderem Treu und Glauben“ beruhte. Nach der vor die Klammer gezogenen Bestimmung in § 6 VVG durfte ein Versicherungsnehmer, der gegen vertragliche „Obliegenheiten“ verstoßen hatte, nur mit einer Sanktion belegt wer­ den, falls er den Verstoß schuldhaft begangen hatte.1335 Gleiches ordnete das VVG für fast alle gesetzlichen Sanktionen an.1336 Die Kodifizierung des Verschuldens­ prinzips konnte auf zahlreiche Vorbilder in Wissenschaft und Rechtsprechung so­ wie auf den eidgenössischen Roelli-Entwurf verweisen – sie stand aber jedenfalls in gänzlicher Opposition zur privaten Feuerversicherungspraxis. Auch abseits davon finden sich zahlreiche Beispiele, die zeigen, wie der VVGGesetzgeber der Feuerversicherungspraxis einige versichertenfreundliche Refor­ men entgegensetzte. Namentlich ordnete das Gesetz die gesamtschuldnerische Haftung mehrerer Versicherer an1337 und forderte, einem säumigen Folgeprämien­ schuldner müsse zunächst eine Mahnung ausgesprochen und eine Nachzahlungs­ frist gewährt werden, bevor er mit weiteren Sanktionen belegt werden dürfe.1338 Jene Vorschriften standen ebenfalls im Widerspruch zu den typischen AVB-Klauseln ihrer Zeit. Einer Handvoll Vorschriften des VVG kam sogar einzig und alleine der Zweck zu, besonders unbillig wirkende Praktiken der Feuerversicherer zu verbie­ ten. Das galt zum Beispiel für § 37 VVG: wenn ein Versicherer in seinen AVB die 1334

Dazu insgesamt unter § 3 B II 2 a. Dazu unter § 3 C III 3 c. 1336 Z. B. unter § 3 D IV 2 c bb (zur mehrfachen Versicherung); § 3 D V 3 b (zum Folgeprämien­ verzug); § 3 D VI 3 a (zur Gefahranzeige bei Vertragsschluss); § 3 D VII 2 b aa (zur Gefahrerhö­ hungsanzeige); § 3 D VII 3 b bb (zur Veräußerungsanzeige). 1337 Dazu unter § 3 D IV 2 c aa. 1338 Dazu unter § 3 D V 3 b. 1335

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

613

Prämienschuld zur Schickschuld gemacht hatte, seine Agenten aber trotzdem ge­ wohnheitsmäßig die Prämie bei den Versicherungsnehmern abholten, sollte er den Versicherungsnehmer zunächst benachrichtigen müssen, bevor er den Agenten die Abholung der Prämien untersagte. Die Regelung sollte verhindern, dass die Gesell­ schaften unliebsame Versicherungsnehmer reihenweise in die „Verzugsfalle“ lau­ fen lassen konnten, wie es einige Gesellschaften tatsächlich praktiziert hatten.1339 Dem Gros jener Schutzbestimmungen war per Gesetz halbzwingende Kraft ver­ liehen: der Versicherer konnte in seinen AVB also nur zugunsten, nicht aber zu­ lasten des Versicherungsnehmers von ihnen abweichen. Darin lag ein wesentlicher Unterschied zu den zögerlichen versichertenschützenden Ansätzen im Dresdener Obligationenrecht; erst der halbzwingende Charakter der VVG-Vorschriften er­ möglichte es den Versicherungsnehmern und Versicherten, den intendierten Schutz gegen die strukturelle Übermacht der Versicherungsgesellschaften auch effektiv in der Rechtspraxis durchzusetzen.1340 Man mag nun einwenden, dass die Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften im Jahr 1904 von selbst bedeutende Ver­ änderungen an ihren AVB vorgenommen hatte, die im Großen und Ganzen den Interessen der Versicherungsnehmer dienten. In ihrer „Erklärung“ zu den Ver­ bandsbedingungen von 1886 waren tatsächlich viele Elemente des späteren VVG enthalten – unter anderem das neue, fast allen Sanktionen vorgeschaltete Verschul­ denserfordernis. Bei genauerer Betrachtung folgte jedoch nicht primär das VVG den modernisierten Bedingungen der „Vereinigung“ – im Gegenteil hatten sich AVB von 1904 dem ersten veröffentlichten VVG-Entwurf von 1903 angepasst, und zwar auf vorhergehenden Druck des Kaiserlichen Aufsichtsamts für Privat­ versicherung. Wenn man also die Bedingungen von 1904 als Referenzpunkt für den Vergleich mit dem VVG wählte und auf dieser Basis zu dem Ergebnis käme, die Versicherungsgesetzgebung sei im Wesentlichen der Feuerversicherungspraxis gefolgt, so wäre das höchstens formal gesehen richtig. Maßgebliche tatsächliche Entwicklungen blieben bei einer solch vorschnellen Bewertung aber außer Acht.1341 Am anderen Rand des hier gezeichneten Bildes steht das Recht der Lebensver­ sicherung. Hier gestaltete sich die Intervention des Gesetzgebers um ein Vielfaches zurückhaltender. Die Lebensversicherungspraxis hatte – wohl von den Kräften des freien Marktes getrieben – seit der Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich einen anderen Weg eingeschlagen als die Feuerversicherungspraxis. Sie hatte zahlreiche neue Elemente entwickelt, die durchaus auch den Interessen der Versicherungs­ nehmer entgegenkamen. Lebensversicherungsrechtliche Institute wie der Rückkauf der Police oder die Umwandlung in eine prämienfreie Versicherung waren um die Jahrhundertwende 1339

Dazu unter § 3 D V 3 c. Dazu insgesamt unter § 3 C III 3 d. 1341 Dazu insgesamt unter § 3 C III 2 b. 1340

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

schon in großen Teilen der Praxis anerkannt. So konnte der Versicherungsnehmer selbst bei schuldhaftem Fehlverhalten jedenfalls noch die Auszahlung seiner Prä­ mienreserve verlangen; insbesondere in der Konstellation des Folgeprämienver­ zuges konnte er seinen Vertrag bei den meisten Gesellschaften als prämienfreie Versicherung fortführen, sofern er dies beantragte.1342 Ähnliches galt bei falschen Altersangaben auf den Vertragsformularen: hier war es den Gesellschaften ohne weitere Umstände möglich, die Lebensversicherung durch einige mathematische Modifikationen fortzuführen – eine Praxis, die in der Tat weit verbreitet war.1343 Vor allen Dingen aber für den Fall, dass die versicherte Person sich selbst das Le­ ben genommen hatte, entwickelten die Lebensversicherer bis 1900 eine äußerst liberale Praxis: manche Gesellschaften zahlten die Versicherungssumme aus, wenn der Suizident an einer „Störung der Geistestätigkeit“ gelitten hatte, andere machten die Auszahlung nur noch vom Verstreichen einer gewissen Karenzfrist seit dem Vertragsschluss abhängig, wieder andere ließen es schon genügen, wenn alternativ eines der beiden vorgenannten Kriterien erfüllt war.1344 So griff auch der Reichsgesetzgeber diese Figuren aus der Lebensversicherungs­ praxis auf, brachte sie zur Kodifikation und gestaltete sie dabei noch um einiges konsequenter aus als es in vielen AVB der Fall gewesen war. Aus dem Rückkaufs­ recht, das einige Gesellschaften dem Versicherungsnehmer nur in bestimmten Konstellationen eingeräumt hatten, wurde eine für den Versicherer zwingende Rückkaufpflicht: er war nun in restlos allen Fällen der Vertragsauflösung ver­ pflichtet, einen angemessenen Teil der Prämienreserve an den Versicherungsneh­ mer auszuschütten, zumindest, wenn seit Vertragsschluss eine Karenzfrist von drei Jahren verstrichen war.1345 Auch die Umwandlung in eine prämienfreie Versiche­ rung war nicht länger vom schriftlichen Antrag des säumigen Prämienschuldners abhängig.1346 Die versichertenfreundliche Behandlung von falschen Altersangaben fand ebenso ihren Weg in das VVG1347 wie die teilweise geübte Rechtspraxis, den Versicherungsanspruch aufrecht zu erhalten, wenn die versicherte Person in nicht zurechnungsfähigem Zustand Selbstmord begangen hatte.1348 Nur ganz gelegent­ lich sah sich der VVG-Gesetzgeber veranlasst, prohibitiv in die vorgesetzliche Lebensversicherungspraxis einzugreifen. Zu diesen prohibitiven Normen gehörte zum Beispiel § 160 VVG, der den Gesellschaften im Endeffekt verbieten sollte, eine Vertragsstrafe an die Verweigerung einer ärztlichen Gesundheitsuntersuchung zu knüpfen.1349

1342

Dazu unter § 3 B III 3 und unter § 3 D VIII 2 a. Dazu unter § 3 B III 3 und unter § 3 D VI 3 c. 1344 Dazu unter § 3 D X 2 b. 1345 Dazu unter § 3 D VIII 2 b aa. 1346 Dazu unter § 3 D VIII 2 b bb. 1347 Dazu unter § 3 D VI 3 c. 1348 Dazu unter § 3 D X 2 b. 1349 Dazu unter § 3 D VI 3 c. 1343

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

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Insgesamt bewegte sich das VVG also in denkbarer Nähe zur vorgesetzlichen Praxis der Lebensversicherer; freilich zeigt aber gerade auch das Beispiel der „Selbstmordklausel“, dass der Gesetzgeber einige Bestimmungen, die in der Pra­ xis nur von vereinzelten AVB verwendet wurden, für restlos alle Lebensversiche­ rer zur zwingenden Norm erhoben hat, obwohl andere Gesellschaften dasselbe Problem mit ganz anderen Werkzeugen gelöst hatten. Letztlich ist das Vorgehen des Gesetzgebers zwar als praxisnah zu bezeichnen, gleichzeitig aber als äußerst selektiv: er griff genau die Klauseln der Lebensversicherungspraxis auf, die ihm selbst geeignet erschienen, um zugunsten der Versicherungsnehmer ein möglichst hohes Schutzniveau zu gewährleisten.

IV. Resumee: das VVG als „Zusammenfassung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen“? Die AVB-Klauseln, die sich während des gesamten 19. Jahrhunderts in der Pri­ vatversicherungspraxis entwickelt hatten, waren für den VVG-Gesetzgeber also nur der erste Ausgangspunkt eines komplexen Rechtsschöpfungsprozesses. In dessen Verlauf hat der Gesetzgeber das Praxisrecht aber an zahlreichen Stellen in eigenem Ermessen modifiziert und unter rechtsdogmatischen Gesichtspunkten überformt, während er einigen Praktiken sogar prohibitiv einen gesetzlichen Rie­ gel vorgeschoben hat. Letzteres gilt vor allem für das Feuerversicherungsrecht und einige aus der Feuerversicherung abgeleitete allgemeine Vorschriften; auf dem Feld der Lebensversicherung orientierte sich der Gesetzgeber enger an der modernen Praxis des frühen 20. Jahrhunderts. Die Aussage des Staatssekretärs Nieberding, der das VVG am 22. 01. 1906 dem Reichstagsplenum vorlegte und es dabei wortwörtlich als eine „Zusammenfassung der allgemeinen Versicherungsbedingungen“1350 beschrieb, sollte demgegenüber in der dogmengeschichtlichen Forschung nicht überinterpretiert werden. Eine sub­ stantielle, differenzierte wissenschaftliche Aussage zu treffen, war mit Gewiss­ heit nicht der Zweck dieses kurzen politischen Geleitwortes. Stattdessen dürfte die Aussage Nieberdings nur den Befund wiedergeben, dass Kernelemente der Binnenversicherungspraxis – was ja tatsächlich zutrifft – auch die Grundlage für das VVG bildeten. Es könnte dabei auch zum Tragen gekommen sein, dass viele Feuer­versicherer ihre AVB im Jahr 1904 schon an die zukünftigen Bestimmun­ gen des VVG angepasst hatten, um einem regulierenden Eingriff des Kaiserlichen Aufsichtsamtes zuvorzukommen; eine scharfe, für den Versicherungsbetrieb mög­ licherweise gefährliche Zäsur in der Rechtspraxis war durch das neue Gesetz also tatsächlich nicht mehr zu befürchten. Indes dürfte es kaum die Intention Nieber­ dings gewesen sein, mit seiner Rede dogmengeschichtliche Entwicklungshypo­ thesen zur Entstehung des deutschen Binnenversicherungsrechts zu generieren. 1350 Rede Nieberdings im Reichstag v. 22. 01. 1906 (25. Sitzung der 12. Legislaturperiode), abgedruckt in: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck 1963), S. 571, 572.

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

Folglich ist es auch kritisch zu bewerten, wenn Autoren wie Duvinage oder Gärtner die Rede Nieberdings als besten wissenschaftlichen Beleg für ihre These sehen, das VVG sei praktisch eine „Deskription“ der Versicherungspraxis um die Jahrhundertwende.1351 Wenn Duvinage anschließend schlussfolgert, der VVG-­ Gesetzgeber habe zu großen Teilen die Versicherungspraxis abgebildet und nur „in Randbereichen“ intervenieren wollen,1352 so stellt dieses Votum hauptsächlich eine subjektive – und darüber hinaus recht schwer greifbare – Bewertung des VVG dar. Sie sollte keinesfalls aus ihrem Kontext gerissen oder verabsolutiert werden. Auch Duvinage hat beispielsweise den dogmatischen Entwicklungsprozess der Regeln zu Prämienzahlung und Prämienrückstand detailliert nachgezeichnet und dabei im Endeffekt sehr ähnliche Entwicklungsprozesse aufgezeigt wie die vor­ liegende Forschungsarbeit.1353 Im Wesenskern decken sich die wissenschaftlichen Befunde Duvinages also mit den Ergebnissen der in dieser Forschungsarbeit durch­ geführten rechtshistorischen Analyse; auf einem anderen Blatt steht nur, dass die Schlussfolgerung Duvinages bei erster, oberflächlicher Betrachtung etwas völlig anderes suggeriert. Übrigens begeben sich auch die meisten anderen Autoren, die recht indifferent von einem starken Einfluss der vorgesetzlichen Versicherungsbedingungen auf das VVG reden, nicht in Widerspruch zu der „Schutztheorie“ – also der Theorie, die dem VVG attestiert, es habe die Versicherungsnehmer signifikant vor allzu einseitigen AVB-Klauseln schützen wollen. Ein Beispiel für einen nur scheinbaren Widerspruch zur jener „Schutztheorie“ findet sich etwa in einer häufig zitierten Arbeit von Erich Prölss: er konstatierte, die Feuerversicherungsbedingungen des 19. Jahrhunderts hätten schon viele Elemente des späteren VVG enthalten,1354 wo­ hingegen sich das Feuerversicherungsrecht mit der Genese des VVG kaum noch verändert habe.1355 Die Aussage von Prölls scheint das Diktum vom VVG als Spie­ gel der vorgesetzlichen Praxis voll und ganz zu bestätigen; sie dürfte aber vor­ nehmlich daher rühren, dass Prölss in seinem besagten Aufsatz zuvor eine knappe Skizze über das gesamte deutsche Feuerversicherungsrecht seit den mittelalter­ lichen Gilden entworfen hatte. Die Maßstäbe seiner Relation waren also ganz an­ dere als die einer dogmengeschichtlich exakten Analyse der AVB und des VVG. Einige Autoren wie Peter Koch rezipieren in der modernen Literatur wiederum den Aufsatz von Prölss,1356 um die grundsätzliche Nähe zwischen den AVB und dem VVG zu belegen; das hält Peter Koch aber nicht davon ab, zur gleichen Zeit die sogenannte „Schutztheorie“ zu vertreten.1357 Es wird von all diesen Stimmen 1351

Duvinage (1987), S. 123; Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 32. Duvinage (1987), S. 202. 1353 Duvinage (1987), S. 170 ff. 1354 Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 163. 1355 Prölss, VersArch 14 (1942/43), 156, 176. 1356 P. Koch, in: FS Reimer Schmidt, S. 299, 319. Ähnlich ders., Bilder (1978), S. 219; ders., Geschichte der Versicherungswissenschaft (1998), S. 105. 1357 P. Koch, Geschichte der Versicherungswirtschaft (2012), S. 184. 1352

E. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

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also keineswegs behauptet, der Gesetzgeber habe die Versicherungsbedingungen einfach unkritisch kopiert. Erst durch die unreflektierte Verkürzung der Aussagen von Prölss, Koch oder auch Duvinage auf einzelne, aus dem Kontext gerissene Kernsätze kann der irreführende Eindruck entstehen, diese Autoren bezeichneten das VVG als ein getreues, von etwaigen Eingriffen des Gesetzgebers unberührtes Abbild der Versicherungspraxis. Alleine Gärtner darf tatsächlich als ein entschiedener Verfechter des Narra­ tivs gelten, das VVG sei – wie er selbst formulierte – nichts anderes als eine „be­ reinigte und geglättete Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“. Gärtner negiert die „Schutztheorie“ dabei im Gegensatz zu Prölss, Duvinage oder Koch ganz ausdrücklich.1358 Die Ansicht Gärtners hat in der jüngeren Literatur schon Neugebauer kritisiert, und zwar vor allem unter methodischen Aspekten: so konstruiere Gärtner seine Aussage zum größten Teil aus moderneren Sekundärquellen, ohne die historischen AVB oder die zeitgenössische Literatur des 19. Jahrhunderts überhaupt eigenstän­ dig zu untersuchen.1359 Vor allem auch die Reichstagsrede Nieberdings – deren wis­ senschaftliche Aussagekraft hier soeben schon in Zweifel gezogen wurde – bilde die Basis für Gärtners Schlussfolgerung. Insgesamt stehe die These Gärtners „auf tönernen Füßen“.1360 Die Kritik Neugebauers lässt sich indes noch um weitere Aspekte, namentlich aus der methodischen Perspektive, ergänzen: so meint Gärtner, wenn man die Bestimmungen des VVG nur den allgemeinen zivilrechtlichen Regeln des BGB gegenüberstelle, werde man feststellen, dass der Versicherungsnehmer eine viel schlechtere Rechtsposition besitze als ein gewöhnlicher „Verbraucher“ im Zivil­ recht. Als Beispiel führt Gärtner das Einlösungsprinzip an, welches die Zahlung der ersten Prämie zur objektiven Bedingung für den Eintritt des materiellen Ver­ sicherungsschutzes macht. Der Versicherungsnehmer sei hier also nicht den ge­ wöhnlichen zivilrechtlichen Verzugsregeln unterworfen, die bekanntermaßen das Verschulden des säumigen Schuldners verlangen.1361 Auch daraus will Gärtner die Erkenntnis gewinnen, der VVG-Gesetzgeber habe die vorgesetzlichen Versi­ cherungsbedingungen niemals einer reflektierten Prüfung unterworfen, sondern sie schlichtweg kopiert, ohne nennenswerte eigene Erwägungen anzustellen. Der inhaltliche Vergleich des VVG mit dem BGB kann methodisch nicht überzeugen, denn er verkennt, dass gewisse Normen des VVG schlicht und ergreifend auf den besonderen Bedürfnissen des Rechtsprodukts „Versicherung“ beruhen. Das Ein­ lösungsprinzip übernimmt im Versicherungsrecht de facto die Funktion eines Zu­ rückbehaltungsrechts, denn anders als dem gewöhnlichen Zahlungsgläubiger des BGB steht dem Versicherer keine andere Möglichkeit offen, dem Versicherungs­ 1358

Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 32. Neugebauer (1990), S. 104 f. 1360 Neugebauer (1990), S. 105. 1361 Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 33. 1359

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§ 3 Die Kodifikationsbewegung u nd das Versicherungsvertragsgesetz (1908)

nehmer seine vertragliche Leistung  – die Übernahme der wirtschaftlichen Ge­ fahr – vorzuenthalten, solange er keine vertragliche Gegenleistung erlangt hat.1362 Weiter führt Gärtner an, dass der Versicherer den gesamten Vertrag kündigen könne, falls der Versicherungsnehmer eine vertraglich ausbedungene „Obliegen­ heit“ verletze, zum Beispiel also eine erhebliche Gefahrtatsache nicht zur Anzeige bringe; auch das sei im Vergleich zu entsprechenden „Obliegenheiten“ des BGB außergewöhnlich hart.1363 Auch insoweit übersieht Gärtner, dass die entsprechen­ den Normen des VVG aus den besonderen Bedürfnissen des Versicherungsbetriebs entspringen. Die finanzielle Stabilität des Versichertenkollektivs kann nur gewähr­ leistet sein, wenn die versicherungsmathematische Kalkulation der Prämie mit der tatsächlichen Schadenswahrscheinlichkeit korreliert; in Extremfällen muss es dem Versicherer daher möglich sein, fehlerhaft kalkulierte Risiken aus dem Ver­ sichertenkollektiv zu entfernen. Dass der VVG-Gesetzgeber bei der Kodifikation der erwähnten Regeln zur Gefahr- oder Gefahrerhöhungsanzeige sogar zahlreiche halbzwingende Erleichterungen gegenüber der vorgesetzlichen Praxis eingeführt hat,1364 lässt Gärtner hingegen unerwähnt. Indem er schließlich von seinen beiden singulären Befunden auf das gesamte Verhältnis zwischen Versicherungspra­ xis und VVG schließt, überdeckt er stark generalisierend die rechtshistorischen Entwicklungszusammenhänge. Indes ging es Gärtner weniger um die dogmengeschichtliche Erforschung des VVG und seiner Quellen, als er sich in den 1980er-Jahren engagiert gegen die „Schutztheorie“ positionierte, sondern vielmehr darum, das veraltete VVG sozial­ politisch zu reformieren. Hauptsächlich aus diesem Grund kämpfte er gegen die Tendenz seiner Zeitgenossen an, „den Verbraucherschutzaspekt“ des VVG von 1908 „zur Legitimierung und Idealisierung des rechtlichen status quo zu verein­ nahmen.“1365 Alleine schießen die Darlegungen Gärtners weit über ihr erklärtes Ziel hinaus, wenn sie ihre sozialpolitische Absicht mit einem rechtshistorischen Urteil gegen die „Schutztheorie“ vermischen. Das in der moderneren Literatur gelegentlich anzutreffende, recht eingängige Narrativ vom Versicherungsvertragsgesetz als einer „bereinigten und geglätteten Deskription des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“ wirkt in seiner Absolutheit stark irreführend und sollte daher nicht weiter rezipiert werden.

1362 Ähnlich Neugebauer (1990), S. 105, der etwas indifferent auf das „besondere Wesen“ des Versicherungsvertrages verweist. 1363 Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 33. 1364 Dazu unter § 3 D VI 3 a / b (zur Gefahranzeige) und unter § 3 D VII 2 b aa (zur Gefahrerhö­ hungsanzeige). 1365 Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 51.

§ 4 Das gesamte Bild A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen Im Laufe dieser Untersuchung hat sich immer wieder aufs Neue gezeigt, wie eng und unauflösbar im privaten Versicherungsvertragsrecht technische, wirtschaft­ liche und rechtliche Aspekte miteinander verwoben sind. Das liegt geradezu im Charakter der Versicherung als „Rechtsprodukt“, als ein nicht körperlich greif­ bares Konstrukt, das gewissermaßen erst durch die rechtliche Vereinbarung der Vertragsparteien selbst zum Leben erwacht. Unter dieser Prämisse war also durchaus zu erwarten, dass sich die Versiche­ rungsgesetzgebung bis zu einem gewissen Grad an der vorvertraglich gewachsenen Praxis orientiert, ja sogar zwingend orientieren muss, will sie die technisch-ratio­ nellen Fundamente des privaten Versicherungsbetriebes nicht unterlaufen. Vor diesem Hintergrund mag man der These, das VVG sei nichts anderes als eine „Zusammenfassung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen“, einiges abgewinnen. Die Aussage war immerhin von Staatssekretär Nieberding, dem Re­ ferenten des VVG im Reichstag, persönlich in die Welt gesetzt worden.1 Seitdem war sie nie mehr auf den wissenschaftlichen Prüfstand gelangt. In den beiden gro­ ßen Forschungsschwerpunkten der vorliegenden Forschungsarbeit hat sich indes gezeigt, dass das deutsche Versicherungsvertragsrecht dennoch alles andere ist als ein reiner, unverfälschter Spiegel der vorgesetzlichen Binnenversicherungs­ praxis. Dieses letzte Kapitel hat nun den Zweck, von den detaillierten rechtsdog­ matischen Analysen der vergangenen Kapitel einen Schritt zurückzutreten, um so einen Blick auf das gesamte hier gezeichnete Bild werfen zu können. Die einzelnen Befunde der vorausgegangenen Untersuchung sollen also zu einer in sich geschlos­ senen Entwicklungsthese verknüpft werden. Die Ausgangshypothese lässt sich im Großen und Ganzen in zwei wesentlichen Punkten angreifen. Zum einen konnte demonstriert werden, dass sich der VVG-Gesetzgeber am Beginn des 20. Jahr­ hunderts zum Teil überaus kritisch zur historisch gewachsenen Versicherungs­ praxis positioniert hat, soweit es die technisch-rationellen Voraussetzungen des Versicherungsbetriebes erlaubten; zum anderen darf aber schon bezweifelt werden, dass die Praxis bis zum Jahr 1900 überhaupt frei von jeglichen gesetzgeberischen Einflüssen gewachsen ist.

1

Nochmals: Rede Nieberdings im Reichstag v. 22. 01. 1906 (25. Sitzung der 12. Legislatur­ periode), abgedruckt in: Motive zum Versicherungsvertragsgesetz (Nachdruck 1963), S. 571, 572.

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§ 4 Das gesamte Bild 

I. Die Feuer- und Lebensversicherungspraxis des 18. Jahrhunderts  Eine bis heute wenig beachtete, doch nicht zu unterschätzende Stellung bei der Heranbildung des deutschen Binnenversicherungsrechts kam dem 1794 in Kraft getretenen Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten zu. Vor der Kodifikation des ALR befand sich die private Feuer- und Lebensver­ sicherungspraxis  – zumindest in rechtsdogmatischer Hinsicht  – noch in einem denkbar unausgereiften Stadium. Auch in ihrer wirtschaftlichen Bedeutung war sie noch weit entfernt von dem florierenden Massengeschäft, zu dem sie sich zur Mitte des 19. Jahrhunderts entwickeln sollte. So lag die Mobiliarfeuerversiche­ rung hauptsächlich in der Hand englischer „insurance companies“ sowie einiger Hamburgischer „Assecuranz-Compagnien“. Beide hatten sie vor allem eine noch sehr rudimentäre Gestaltung ihrer Versicherungsbedingungen gemeinsam. Wäh­ rend die englischen Bedingungen hauptsächlich die versicherten Gegenstände, die übernommenen Risiken und die verschiedenen Gefahrenklassen beschrieben, handelte es sich bei den Hamburgischen „Compagnien“ im Kern um Seeversiche­ rungsgesellschaften, welche die Mobiliarfeuerversicherung nur als Nebengeschäft betrieben. Selbst der schon verhältnismäßig umfangreiche „Feuerversicherungs­ plan“ der Fünften Hamburgischen Assecuranz-Compagnie, die im Jahr 1789 ins Feuerversicherungsgeschäft eingestiegen war, enthielt hauptsächlich kasuistische Aufzählungen von Waren, die versichert werden konnten, Waren, die dem Asse­ kuradeur angezeigt werden mussten, oder Waren, die sich nicht im Umfeld der versicherten Sache befinden duften. Daneben fanden sich lediglich knappe Rechts­ folgenregelungen, falls sich die versicherte Gefahr nach Abschluss des Vertrages erhöhte oder der Versicherungsnehmer mit der Prämienzahlung in Rückstand ge­ riet. Die private Feuerversicherungspraxis des 18. Jahrhunderts lässt sich unterm Strich als eine Ansammlung von organisch gewachsenen, aber noch recht unsys­ tematisch aneinandergereihten Klauseln aus der Handelspraxis charakterisieren. Eine einheitliche Gestaltung oder gar ein erkennbares dogmatisches Gerüst fehlten der Praxis zu diesem Zeitpunkt jedoch noch völlig.2 Im Gegensatz dazu standen die staatlich geführten Gebäudefeuerversicherer, die sich nach dem Vorbild der Hamburger General Feur-Cassa von 1676 entwickelt hatte. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts spannte sich ein verzweigtes Netz staat­ licher Brandkassen über weite Teile Deutschlands. Deren Reglements beinhalteten zwar oft ausladend breite Bestimmungen zur Feuerversicherung. Jedoch standen sie sowohl versicherungstechnisch als auch rechtsdogmatisch gesehen in schar­ fem Kontrast zur englischen oder Hamburgischen Mobiliarfeuerversicherung. Im Einklang mit der kameralistischen Staatsauffassung ihrer Zeit begriffen sie den möglichst flächendeckenden Wiederaufbau aller feuerbeschädigter Gebäude als nützlich für das öffentliche Wohl und für die Wirtschaftskraft des Staates. In die­ 2

Dazu unter § 1 C III 3.

A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen

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sem Sinne bedienten sie sich häufig an Werkzeugen wie dem staatlichen Gebäu­ deversicherungsmonopol oder sogar dem Versicherungszwang und ordneten stets die Pflicht zum Wiederaufbau des abgebrannten Gebäudes an. Bei der Berechnung ihrer Versicherungsbeiträge gingen sie hingegen nach dem Unterstützungs- oder Solidarprinzip vor, differenzierten also nicht danach, wie wahrscheinlich oder un­ wahrscheinlich das versicherte Risiko erschien.3 Wesentliche dogmatische Kern­ elemente des späteren Privatversicherungsrechts, zum Beispiel Vorschriften zur Anzeige von Gefahrumständen oder zur Versicherung bei mehreren Versicherern, konnten auf dieser Basis gar nicht erst entstehen. Ihnen fehlte es schlicht und er­ greifend an einem versicherungstechnischen Bedürfnis.4 Auf der anderen Seite hatten die private und sogar die staatliche Lebensversiche­ rungspraxis schon im 18. Jahrhundert vereinzelte Schritte in Richtung eines mo­ dernen Lebensversicherungsrechts getan. Davon zeugt beispielsweise die umfas­ sende „Anordnung“ der Allgemeinen Versorgungs-Anstalt von 1778, einer privaten Initiative aus der Hansestadt Hamburg. Schon im Jahr 1775 war in Preußen die Allgemeine Wittwen-Verpflegungs-Anstalt gegründet worden, die unter staat­ licher Führung stand und dabei als einzige Einrichtung ihrer Art die Witwen­ versorgung für das gesamte preußische Staatsgebiet übernahm. Beide Anstalten berechneten ihre Versicherungsbeiträge nach versicherungsmathematischen Me­ thoden und sahen in ihren jeweiligen rechtlichen Regularien schon Elemente wie eine obligatorische Gesundheitsuntersuchung oder Klauseln zum Selbstmord der versicherten Person vor. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass zur gleichen Zeit eine große Zahl von berufsständischen oder staatlichen Witwen- und Waisenkassen noch auf versicherungstechnisch schwerlich soliden Fundamenten stand. Indes nahmen die englischen Versicherungsgesellschaften eine wichtige Stellung auf dem deutschen Lebensversicherungsmarkt ein. Die englischen „life assurances“ hatten nämlich als erstes begonnen, die Todesfallversicherung nach rationellen, versicherungsmathematischen Kriterien zu betreiben, allen voran die Equitable Society von 1765; in dieser Hinsicht waren sie der überwiegenden Zahl der deutschen Witwen- und Waisenversorgungseinrichtungen einen Schritt voraus.5

II. Das preußische ALR: Ansätze einer dogmatischen Struktur Auf diese noch recht inhomogene Feuer- und Lebensversicherungspraxis traf ab dem Jahr 1780 der preußische Gesetzgeber, der mit seinem Projekt eines „All­ gemeinen Gesetzbuches für die Preußischen Staaten“ – dem späteren ALR – die Gesamtheit des preußischen Rechts in einer einzigen, abschließenden Universal­

3

Dazu insgesamt unter § 1 C III 2. Dazu vgl. § 2 D VI 1 (zur Gefahranzeige); § 2 D VII 1 (zur Gefahrerhöhung); § 2 D IV (Vor­ spann, u. a. zur mehrfachen Versicherung). 5 Dazu insgesamt unter § 1 C IV. 4

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§ 4 Das gesamte Bild 

rechtskodifikation vereinigen wollte.6 Aller Wahrscheinlichkeit nach ist es nur diesem allumfassenden, geradezu akribischen Regelungsansatz des ALR zu ver­ danken, dass sich das Interesse der Gesetzgebung zu diesem Zeitpunkt überhaupt schon auf das Binnenversicherungsrecht richtete. Im achten Titel seines zweiten Teils schrieb das neue Gesetz jedenfalls erstaunlich umfangreiche Bestimmungen nicht nur zur Seeassekuranz, sondern auch zur Feuer- und Lebensversicherung fest (Th. II Tit. 8 §§ 1934–2358 ALR). Auf ein nachhaltig gewachsenes Praxisrecht mit klaren, einheitlichen dogmatischen Strukturen – mit anderen Worten: einen kodi­ fikationsreifen Rechtszustand – konnte der Gesetzgeber allerdings kaum zurück­ greifen, und so blieb genügend Raum für seine eigene konstruktive Tätigkeit. Die Methode, derer sich der Gesetzgeber dabei bediente, lässt sich in drei gedankliche Schritte untergliedern. In erster Linie handelte es sich bei der Versicherungsrechtsordnung des ALR um eine Kodifikation des maritimen Assekuranzrechts; im Gegensatz zur privaten Feuer- und Lebensversicherung konnte das Seeversicherungsrecht sich bereits auf eine internationale, seit dem 14. Jahrhundert gewachsene Handelspraxis stützen. Als direktes Vorbild für seine gesetzliche Regelung diente dem ALR die preußi­ sche Assecuranz- und Havereyordnung aus dem Jahr 1766, welche sich ihrerseits hauptsächlich aus der Assecuranz- und Havereyordnung der Hansestadt Hamburg von 1731 gespeist hatte.7 Verfolgt man den Entwicklungsstrang von der Hambur­ ger AHO bis zum ALR, so wird man feststellen, wie die einzelnen Gesetzgeber das Seeversicherungsrecht nach und nach mit einer enormen Zahl kasuistischer Normen befrachtet haben.8 Inmitten dieser überreichen Kasuistik deuteten sich im ALR jedoch auch klar er­ kennbare dogmatische Strukturen an: aus dem umfangreichen Regelungskomplex über die Gefahranzeige hatte der preußische Gesetzgeber einige Generalnormen herausdestilliert (§§ 2024–2029 ALR), die allgemein die Rechtsfolgen jeder feh­ lerhaften Gefahranzeige aussprachen.9 Ähnliche Generalklauseln, nur um ein weiteres Beispiel zu nennen, fanden sich §§ 2119, 2120 ALR für den Problemkreis der Gefahrerhöhung.10 Stets fand sich das Seeversicherungsrecht des ALR von einem aufklärerischen preußischen Paternalismus flankiert, der sogar das pragma­ tisch-liberale Seehandelsrecht der AHOen mit einer Menge an scharfen Sanktionen überformte, um jeder Art von Versicherungsmissbrauch bereits im Voraus beizu­ kommen. So bestrafte es beispielsweise den Versicherungsnehmer mit dem Verlust seines Versicherungsanspruches und gleichzeitigem Verfall seiner gezahlten Ver­ sicherungsprämien, falls er vor Vertragsbeginn einen Gefahrumstand fehlerhaft deklariert hatte; auf die Frage, ob der Versicherungsnehmer seine falsche Anzeige 6

Dazu unter § 2 B 1 a / b. Dazu insgesamt unter § 2 B II 1 a. 8 Dazu insgesamt unter § 2 B II 2 a. 9 Dazu unter § 2 B II 2 b und unter § 2 D VI 3 b. 10 Dazu unter § 2 D VII 3. 7

A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen

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verschuldet hatte, wollte es der Gesetzgeber bewusst nicht ankommen lassen, da er befürchtete, die Versicherungsnehmer würden sich sonst stets missbräuchlich auf ihre Unkenntnis berufen (§ 2026 ALR).11 Das vorliegend untersuchte Feuer- und Lebensversicherungsrecht gelangte erst im dritten gedanklichen Entwicklungsschritt in die Rechtsmaterie des ALR. An einer eigenständigen dogmatischen Struktur hatte es der vorgesetzlichen Praxis ohnehin noch gefehlt, und so gliederte der Gesetzgeber den einzelnen Figuren des Seeassekuranzrechts gleichsam einen unselbstständigen Annex feuer- und lebens­ versicherungsrechtlicher Normen an. Auf diese Weise war in §§ 1934–2358 ALR am Ende ein untrennbar verwobenes Geflecht see-, feuer- und lebensversicherungs­ rechtlicher Vorschriften entstanden. Dem Feuer- und Lebensversicherungsrecht war letztlich die dogmatische Struktur des Seeversicherungsrechts aufgezwungen worden. In mancher Hinsicht hatte der Gesetzgeber leges speciales zur Feuer­ versicherung gar nicht erst für nötig gehalten, da seiner Ansicht nach die aus der Seeversicherung gewonnenen abstrakten Vorschriften auch einwandfrei auf die Binnenversicherung passten.12 Auf die Frage, welche Rolle das Praxisrecht während dieses Vorgangs über­ haupt noch einnahm, gebietet sich eine differenzierende Antwort, die zwischen den beiden im ALR geregelten Arten der Binnenversicherung unterscheidet. Die vorgesetzliche Feuerversicherungspraxis kam immerhin noch zum Tragen, in­ dem der Gesetzgeber die kasuistischen Aufzählungen gefährlicher oder besonders wertvoller Waren aufgriff, wie sie sich unter anderem in englischen Feuerversi­ cherungsbedingungen fanden. Das passt gut zu der kasuistischen Akribie, die den ALR-Gesetzgeber insgesamt auszeichnete. Gleichzeitig darf dieser Befund aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch jene feuerversicherungsrechtlichen Vor­ schriften sich der dogmatischen Struktur unterzuordnen hatten, die zuvor aus dem Seerecht abstrahiert worden war.13 An anderen Stellen hat sich der Gesetzgeber indes gänzlich von der vorgesetzlichen Praxis gelöst und nach eigenem Ermes­ sen zweckentsprechende Analogien zum Seeversicherungsrecht konstruiert. Ein prominentes Beispiel für diesen Prozess ist etwa das in § 2331 ALR geregelte „Abandonrecht“, ursprünglich ein rein seeversicherungsrechtliches Institut, das der preußische Gesetzgeber erstmals auch auf die Feuerversicherung übertragen hat.14 Auch die Normen in §§ 2235 ff. ALR zeugen von diesem Vorgang; sie betra­ fen die Konstellation, dass Familienmitglieder oder Angestellte des Versicherten einen Brand verursachten.15 Eine große Rolle bei der Schöpfung solcher Vorschrif­ ten spielten insbesondere auch die „Monita“ des Handelswissenschaftlers Johann 11

Dazu insgesamt unter § 2 B 3 b (mit Auswertung der einschlägigen Gesetzgebungsmate­ rialien). 12 Dazu insgesamt unter § 2 B II 1 a. 13 Dazu insbesondere unter § 2 D I 2 zum Umgang des ALR mit den Katalogen versicher­ barer Gegenstände aus der Versicherungspraxis. 14 Dazu unter § 2 B II 1 b und unter § 2 D X 1 c. 15 Dazu unter § 2 D IX 3 d.

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§ 4 Das gesamte Bild 

Georg Büsch oder des Assekuradeurs Hinrich Gaedertz, die dem ALR-Gesetz­ geber während der Gesetzgebungsarbeiten zahlreiche Verbesserungsvorschläge unterbreitet hatten – manche dieser Monita brachten bislang unbekannte Ideen ins Feuerversicherungsrecht des ALR ein, erschaffen gewissermaßen auf dem grünen Tisch des Gesetzgebers. Im Gegensatz zur Feuerversicherungspraxis, die immerhin noch als Quelle ka­ suistischen Füllmaterials dienen konnte, ließ der Gesetzgeber die noch junge, aber gleichwohl nach rationalen Kriterien arbeitende Lebensversicherungspraxis, wie man sie beispielsweise bei der Hamburger Versorgungs-Anstalt finden konnte, gänzlich außer Acht. Das Lebensversicherungsrecht des ALR war nichts anderes als ein Derivat aus jenen Arten der Seeversicherung, welche die Schiffsbesatzung für die Dauer einer Seereise gegen den Tod auf hoher See oder gegen die Risiken feindlicher Überfälle versicherten. Mit dem langfristig planbaren finanziellen Vorsorgeinstrument, das sich im 19. Jahrhundert in der deutschen Lebensversi­ cherungspraxis etablieren sollte, hatte die im ALR reglementierte Art der Todes­ fallversicherung nichts zu tun.16 Die staatlich geführten Versicherungsanstalten, namentlich die in der Wissen­ schaft bis heute vielbeachteten Feuersozietäten oder Witwen- und Waisenkassen, konnten auf den gesamten Gesetzgebungsprozess des ALR indes keinen nachweis­ baren Einfluss nehmen. Die staatlichen Versicherungseinrichtungen nehmen zwar völlig zu Recht einen veritablen Platz in der ideen- und kulturgeschichtlichen Auf­ arbeitung des deutschen Binnenversicherungsrechts ein; alleine sollte man daraus nicht schließen, dass sie das Versicherungsvertragsrecht auch in rechtsdogmati­ scher Hinsicht signifikant prägten.17

III. Die Binnenversicherungspraxis im 18. Jahrhundert und ihre tieferen Wurzeln Die komplexen legislatorischen Prozesse, die bei der Genese des Allgemeinen Landrechts und seines Binnenversicherungsrechts gewirkt haben, sind nicht al­ leine aus rein rechtshistorischer Perspektive von Interesse. Das Landrecht hatte als erstes Gesetz überhaupt die private Feuer- und Lebensversicherung kodifiziert und ihr Ansätze einer inneren dogmatischen Struktur verliehen, wo zuvor nur ein handelspraktisch gewachsenes, loses Aggregat aus uneinheitlichen Klauseln exis­ tiert hatte. Mit dem ALR trat eine Zäsur in der Entwicklung des deutschen Feuer­ versicherungsrechts ein: seine letztlich aus der Not geborene Pionierarbeit gab sowohl der Feuerversicherungspraxis selbst als auch nachfolgenden Gesetzgebern oder Entwurfsverfassern maßgebliche rechtsdogmatische Impulse, die während des gesamten 19. Jahrhunderts nachwirkten. 16 17

Dazu insgesamt unter § 2 B II 1 c. Zu dieser Schlussfolgerung, vgl. auch § 2 E IV.

A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen

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Die binnenländische Feuerversicherungspraxis erlebte zu Beginn des 19. Jahr­ hunderts eine regelrechte Gründungswelle, die eine Reihe von rationell arbeiten­ den, großräumig expandierenden Gesellschaften hervorbrachte – beispielsweise die Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt von 1812, die Gothaer Feuerversi­ cherungsbank von 1820 oder die 1825 gegründete Aachener Feuerversicherungs-­ Gesellschaft. Wie alle nachfolgenden Feuerversicherer verwendete bereits die „Berlinische“ formularmäßig Allgemeine Versicherungsbedingungen (AVB). De­ ren rechtliche Gestaltung lässt sich vor allen Dingen auf zwei maßgebliche Ein­ flüsse zurückführen: eine wichtige Blaupause für die AVB der „Berlinischen“ lie­ ferte zum einen die in Deutschland tätige London Phoenix, denn der Begründer und spätere Hauptbevollmächtigte der „Berlinischen“, Georg Friedrich Averdieck, hatte vormals bei der Hamburger Zweigniederlassung der Phoenix gearbeitet und war deshalb mit deren „Propositiones“ bestens vertraut.18 Zum Zweiten bot aber auch das ALR – die bis dato einzige gesetzliche Kodi­ fikation des Feuerversicherungsrechts überhaupt  – eine wichtige Stütze für die AVB der „Berlinischen“. Es lieferte der Feuerversicherungspraxis nämlich einen reichhaltigen Fundus an Rechtsfiguren, die dem deutschen Versicherungsrecht zuvor zumindest in der Fülle des ALR unbekannt gewesen waren. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wanderten so einige Rechtsschöpfungen des ALR in die Feuer­ versicherungsbedingungen der Berlinischen Anstalt ein, beispielsweise das „Aban­ donrecht“ des Versicherers (§ 2331 ALR)19 oder die differenzierte dogmatische Struktur der Gefahrerhöhungsvorschriften (§§ 2119 ff. ALR),20 um nur zwei Bei­ spiele zu nennen. Wesentlich befördert hat diesen Prozess unter anderem der erste Direktor der „Berlinischen“, Wilhelm Benecke, der sich wenige Jahre zuvor wis­ senschaftlich mit den wichtigsten Quellen des privaten Feuerversicherungsrechts und insbesondere auch mit dem preußischen Landrecht befasst hatte. Die AVB der „Berlinischen“ enthielten am Ende schon viele Gedanken, die in der späteren Rechtspraxis wieder und wieder kopiert und modifiziert wurden, bis sie schließlich zum Gemeingut der Feuerversicherungsbedingungen des 19. Jahrhunderts zählten. Mit der Expansionsphase der Versicherungswirtschaft in den 1820er und 1830er Jahren wirkte der inhaltliche Impuls des ALR weit über dessen eigentlichen räum­ lichen Geltungsbereich hinaus. Letzten Endes lässt sich zwischen den knappen Feuerversicherungsplänen des späten 18. Jahrhunderts und den schon in ihrer Anfangszeit weit ausgebildeten Allgemeinen Feuerversicherungsbedingungen des 19. Jahrhunderts ein kraftvoller Entwicklungssprung beobachten. Dieser hätte sich ohne den reichen rechtlichen Fundus des ALR wohl kaum in derselben Weise und derselben Geschwindigkeit vollzogen. Als der nachhaltigste Verdienst des ALR zugunsten der Feuerversi­ cherungspraxis darf nach alledem gelten, dass es der lose gewachsenen Ansamm­ 18

Dazu unter § 2 C II 2 und § 2 C IV 2. Dazu unter § 2 D X 2 c. 20 Dazu unter § 2 D VII 5. 19

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§ 4 Das gesamte Bild 

lung von Klauseln ein einigermaßen festes und einheitliches dogmatisches Ske­ lett verliehen hat. Dieses Skelett blieb über das ganze 19. Jahrhundert hinweg in seiner wesentlichen Struktur erhalten. Es bildete das Gerüst für die zahlreichen Fortentwicklungen, Modifikationen und Differenzierungen, welche die Feuerver­ sicherungspraxis aus eigener Kraft durchlebte; so hatte das ALR mit seiner eher notgedrungen konstruierten Dogmatik des Feuerversicherungsrechts auch der Ver­ sicherungspraxis einen Impuls gegeben, der gleichsam den Ausgangspunkt einer selbstständigen nationalen Entwicklungsdynamik bildete. Es ist freilich nicht an­ zunehmen, dass sich der preußische Gesetzgeber im Jahr 1794 der Tragweite seiner Versicherungsrechtskodifikation überhaupt bewusst war.21 Ein anderes, nüchterneres Urteil lässt sich über die deutsche Lebensversiche­ rungspraxis fällen. Sie blieb von dem rechtlichen Fundus des preußischen Land­ rechts zunächst völlig unberührt  – ein kaum überraschender Befund, war das Lebensversicherungsrecht des ALR doch lediglich ein Nachfahre der maritimen Lebensversicherungen für eine einzelne Seereise gewesen. Die Wurzeln der äl­ testen deutschen Lebensversicherungsbedingungen – beispielsweise der AVB der Gothaer Lebensversicherungsbank von 1828 – lagen hauptsächlich in der ratio­ nell arbeitenden englischen Praxis. Es lässt sich sogar nachweisen, dass sich Ernst ­Wilhelm Arnoldi, der Gründer der Lebensversicherungsbank, an Charles ­Babbages Werk „A Comparative View of the Various Institutions of the Insurance of Lives“ orientiert hat, um einen Überblick über die Praxis der zahlreichen englischen Le­ bensversicherungsgesellschaften zu gewinnen.22 Gleichwohl hat sich die Lebens­ versicherungsbank, und in ihrem Gefolge andere Lebensversicherer, an der recht­ lichen Konstruktion mancher allgemeiner versicherungsrechtlicher Figuren aus der Feuerversicherungspraxis orientiert. Eine gewisse subtile Fernwirkung wird man dem preußischen Landrecht wohl auch insoweit nicht absprechen können.23

IV. Das 19. Jahrhundert und seine Kodifikationsbewegung Zur Mitte des 19. Jahrhunderts, gerade als die Feuer- und Lebensversicherungs­ praxis einen Sprung vom spezialisierten kaufmännischen Sicherungsgeschäft zum Massengeschäft getan hatte, interessierte sich allmählich auch die Gesetzgebung einzelner deutscher Partikularstaaten für das Binnenversicherungsrecht. Auf dem fruchtbaren Boden der Kodifikationsbewegung, die zu dieser Zeit an Fahrt auf­ nahm, wuchsen zunächst drei einzelstaatliche Gesetzesentwürfe zum Handelsbzw. Zivilrecht, die jeweils auch einen Abschnitt zum Binnenversicherungsrecht enthielten: der Entwurf eines württembergischen HGB von 1839, der Entwurf eines preußischen HGB von 1857 sowie drittens der Entwurf eines BGB für das König­ reich Bayern von 1861. Im Jahr 1866 unternahmen mehrere Staaten des Deutschen 21

Dazu auch insgesamt das Teilfazit unter § 2 E III. Dazu unter § 2 C III 1/2. 23 Dazu auch insgesamt das Teilfazit unter § 2 E III. 22

A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen

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Bundes mit dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf den Versuch, ein einheit­ liches deutsches Schuldrecht zu schaffen; auch der Dresdener Entwurf befasste sich mit dem Binnenversicherungsrecht. Keiner dieser Entwürfe erlangte jemals Gesetzeskraft. Das gelang im Jahr 1908 erst dem Versicherungsvertragsgesetz, das damit zugleich einen Schlusspunkt an die über mehrere Jahrzehnte währende Kodifikationsbewegung setzte. Die Methode dieser Bewegung war im Grundsatz stets eine kompilatorische: so sollten die historisch gewachsenen Wesenszüge des Binnenversicherungsrechts aus der Gesamtheit aller einschlägigen gesetzlichen Quellen oder praktisch gewachse­ nen Gewohnheiten extrahiert, auf ihre inneren Prinzipien reduziert und schließlich in die Form einer umfassenden Kodifikation gegossen werden. Die beiden HGBEntwürfe aus Württemberg und Preußen stützen sich dabei noch vornehmlich auf ausländische Kodifikationen des Versicherungsrechts. Das stellte für die meisten Vertreter der Kodifikationsbewegung keinen Widerspruch dar, da man von der Prämisse ausging, das Versicherungsrecht sei aus den Gewohnheiten des interna­ tionalen Seehandels gewachsen und besitze daher ohnehin universellen Charak­ ter. Die beiden HGB-Entwürfe versuchten daher, zahlreiche Normen des nieder­ ländischen Wetboek van Koophandel von 1838 oder des portugiesischen Codigo Commercial von 1833 ins deutsche Binnenversicherungsrecht zu transferieren – unbewusst erhoben sie damit so manche spezifisch seerechtlich geprägte Regel zu einem Grundsatz des Binnenversicherungsrechts.24 Die Praxis der deutschen Feuer- und Lebensversicherer diente zwar ebenfalls als ergänzende Rechtsquelle, besaß dabei jedoch einen insgesamt eher untergeordneten Stellenwert, wenngleich nicht übersehen werden kann, dass einige Vorschriften, die aus dem ausländischen Handelsrecht importiert waren, recht große Schnittmengen zu der deutschen Bin­ nenversicherungspraxis aufwiesen. Nach den Erkenntnissen dieser Untersuchung handelte es sich dabei in etlichen Fällen jedoch nur um eine zufällige Korrelation: die Binnenversicherungspraxis mag auf den Entwicklungsprozess also verstärkend gewirkt haben, war jedoch nicht seine alleinige Ursache.25 Spätestens mit dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf waren die Kodifi­ kationsbewegung und ihre Rechtsquellen allerdings deutlich vielschichtiger ge­ worden. Zur Zeit des Dresdener Entwurfes gewannen vor allem die Wissenschaft und die Rechtsprechung einen neuen Stellenwert: ihnen ist es ganz maßgeblich zu verdanken, dass ab den 1860er Jahren aus der Masse an einzelnen Gesetzen, Ent­ würfen und AVB-Klauseln allmählich eine geschlossene Dogmatik des Binnen­ versicherungsrechts heranreifte. Auch Wissenschaft und Rechtsprechung speisten sich dabei stets aus einer Vielzahl unterschiedlichster Quellen. Vor allem das All­ gemeine Deutsche Handelsgesetzbuch (ADHGB) von 1861, prinzipiell nur eine Quelle des Seeversicherungsrechts, nahm in der legislatorischen Diskussion eine 24

Dazu insgesamt unter § 3 C II 1 b / c (zum württembergischen Entwurf) und § 3 I 2 b (zum preußischen Entwurf). 25 Dazu auch insgesamt das Teilfazit unter § 3 E I.

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zentrale Stellung ein, wenn es darum ging, allgemeine Grundsätze des Versiche­ rungsrechts herauszuarbeiten, die man auch auf die Binnenversicherung übertragen konnte. Man war allerdings auch zum Bewusstsein gelangt, nicht alle Prinzipien des ADHGB für die Binnenversicherung fruchtbar machen zu können. Vor allem spezifisch binnenversicherungsrechtliche Quellen gewannen damit wieder mehr an Gewicht: Wissenschaft und Rechtsprechung konnten sich dabei einerseits an das Vorbild der drei einzelstaatlichen Kodifikationsversuche oder des preußischen ALR lehnen – jedoch auch die AVB der Versicherungsgesellschaften, vor allen Dingen der Feuer- und Lebensversicherer, waren zu einem festen Bestandteil der rechtsdogmatischen Diskussion avanciert. Immerhin schrieb die Wissenschaft den massenhaft verwendeten AVB zu, ein Erkenntnisquell allgemein anerkann­ ter Handelsgewohnheiten zu sein. Während die ersten Rechtswissenschaftler, die sich mit der Binnenversicherung befassten, die AVB nur als eine bare „lex con­ tractus“ – als eine herkömmliche, einvernehmliche Vereinbarung zwischen zwei Vertragsparteien – behandelten, keimte zur Zeit des Dresdener Entwurfes schon der Gedanke, dass die Privatversicherer der anonymen Masse an Versicherungs­ nehmern wirtschaftlich und strukturell überlegen waren. Sie könnten mit ihren AVB de facto einseitiges Recht setzen; daraus zogen einzelne Stimmen in der jungen Wissenschaft die Schlussfolgerung, dass der Versicherungsnehmer vor allzu nachteilhaften Vertragsbedingungen in Schutz genommen werden müsse.26 Als die Dresdener Konferenz dann ihr Binnenversicherungsrecht entwarf, konnte sie sich nicht nur auf ein Konvolut einzelner Quellen, sondern bereits auf Anfänge einer wissenschaftlich aufbereiteten, ungeschriebenen Versicherungs­ rechtsdogmatik stützen – an deren Entstehung hatte private Versicherungspraxis zwar Anteil gehabt, allerdings nur als ein Faktor unter mehreren.27 Man mag dem Dresdener Obligationenrechtsentwurf bei alledem einen gewissen Hang zur Über­ dogmatisierung attestieren;28 auch seine zögerlichen Bestrebungen zum Schutz der Versicherungsnehmer wären letztlich effektlos verpufft, da der Entwurf den meis­ ten seiner Bestimmungen keine zwingende Kraft verleihen wollte.29 Einen nachhaltigen Verdienst kann die Kodifikationsbewegung der 1860er Jahre indes trotzdem für sich beanspruchen: die reichhaltige Diskussion in Wissenschaft, Rechtsprechung und Gesetzgebung erhielt oftmals Rechtsgedanken am Leben, die während des ganzen 19. Jahrhunderts aus der Versicherungspraxis verschwunden waren. Eine häufig unterschätzte Stellung kam dabei vor allem dem Allgemeinen Landrecht zu, das – wie gezeigt – selbsttätig einige dogmatische Strukturen des Binnenversicherungsrechts geknüpft hatte. Soweit das ALR nicht ohnehin schon die Feuerversicherungspraxis selbst beeinflusst hatte, blickten Wissenschaft und Gesetzgebung immer wieder mit Interesse auf die rechtlichen Schöpfungen des 26

Zur Wissenschaft insgesamt: § 3 B IV 1 zur Rechtsprechung insgesamt: § 3 B IV 2. Dazu unter § 3 C V b. 28 Dazu unter § 3 C V c. 29 Dazu unter § 3 C V d. 27

A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen

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ALR, die oftmals Alternativen zu der strengen Versicherungspraxis oder den seeversicherungsrechtlichen Regeln des ADHGB boten.30 So hatte beispielsweise Th. II Tit. 8 § 2163 ALR bei der Veräußerung der versicherten Sache angeordnet, dass die Versicherung ipso iure auf den Erwerber übergehen solle, falls die Ver­ äußerung nicht zugleich eine Gefahrerhöhung darstelle. Der Rechtsgedanke des § 2163 ALR wurde in der Wissenschaft reichlich rezipiert, obwohl sich die Rechts­ praxis während des ganzen 19. Jahrhunderts von ihm abgewandt hatte.31 Vor al­ lem aber die Behandlung der Versicherung als „contractus uberrimae fidei“ – als besonders enges, von Treu und Glauben geprägtes Verhältnis  – untermauerten Wissenschaft, Rechtsprechung und Gesetzgebung häufig mit den Rechtsgedanken der §§ 2024 ff. ALR. Auf diesem Rechtsboden konnten schließlich versicherten­ freundliche Ideen wie das „Verschuldensprinzip“ wachsen, welches gesetzliche oder vertragliche Sanktionen gegen den Versicherungsnehmer nur zuließ, wenn dieser schuldhaft gehandelt hatte  – ein denkwürdiger Befund, denn das ALR selbst hatte nur sehr selten mit dem Kriterium des Verschuldens operiert.32 In sei­ ner wissenschaftlichen Rezeption liegt mithin die zweite, sehr subtile, aber nicht zu vernachlässigende Bedeutung des ALR für das deutsche Versicherungsrecht.

V. Das Versicherungsvertragsgesetz: ein Kulminationspunkt Als der Reichsgesetzgeber sich im angebrochenen 20. Jahrhundert nach einer langen Stillstandphase wieder intensiv mit dem materiellen Binnenversicherungs­ recht befasste, blickte er also sowohl auf eine weit entwickelte und diversifizierte Versicherungspraxis als auch auf eine lebhafte rechtsdogmatische Diskussion. Das deutsche Versicherungsvertragsgesetz (VVG) von 1908 war am Ende auch ein Produkt all jener Entwicklungen, die sich während des 19. Jahrhunderts all­ mählich angedeutet hatten. Auch das VVG schöpfte sein Recht aus einer Vielzahl von Quellen, ohne je­ doch dabei in eine sture Kompilationstätigkeit zu verfallen. Der VVG-Gesetz­geber wollte sich nicht nur auf das Vorbild singulärer gesetzlicher oder vertraglicher Quellen berufen; vielmehr stellte er sich auf das breite Fundament an ungeschrie­ benen versicherungsrechtlichen Grundsätzen, welches durch die Aufbereitung des Binnenversicherungsrechts in Wissenschaft und Rechtsprechung entstanden war.33 Dieses Fundament zeichnete sich um die Jahrhundertwende durch einen 30

Dazu auch insgesamt das Teilfazit unter § 3 E III. Dazu unter § 3 D VII 3 a (zur Rezeption des ALR in der Wissenschaft) und § 3 D VII 3 b aa (zur Rezeption des ALR im VVG). 32 Dazu unter § 3 C III 3 c (zur allgemeinen Kodifikation des Verschuldensprinzips für alle vertraglichen Sanktionen in § 6 VVG); § 3 D IV 2 c bb (zur mehrfachen Versicherung); § 3 D V 3 b (zum Prämienverzug); § 3 D VI 3 a (zur Gefahranzeige bei Vertragsschluss); § 3 D VII 2 b aa (zur Gefahrerhöhung); § 3 D VII 3 b bb (zur Veräußerungsanzeige). 33 Dazu unter § 3 C III 3 a; vgl. auch das Teilfazit unter § 3 E I / I II. 31

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hohen Grad an dogmatischer Durchdringung und Differenziertheit aus. Auch die Allgemeinen Versicherungsbedingungen als tatsächlich geübtes Praxisrecht waren darin eingegossen – allerdings eben nicht alleine. Zu einem festen Bestandteil je­ nes rechtsdogmatischen Fundaments waren auch – als Beispiel unter vielen – die besagte Interpretation des Versicherungsvertrages als „contractus uberrimae fi­ dei“ und ihre praktischen Folgerungen geworden. Entwickelt in Wissenschaft und Rechtsprechung, gehörten sie um 1900 zu den anerkannten Rechtssätzen des vor­ gesetzlichen Binnenversicherungsrechts. Zu der ursprünglichen AVB-Praxis der Versicherungsgesellschaften hatten diese Rechtssätze schon einige Distanz gewon­ nen. Innerhalb des beschriebenen komplexen Geflechts an Rechtssätzen hatte sich nun aber endgültig die Erkenntnis der Wissenschaft und Rechtsprechung Bahn ge­ brochen, dass die AVB alleine von den Versicherungsgesellschaften gestaltet seien und daher in mancherlei Hinsicht Härten gegen den Versicherungsnehmer enthiel­ ten; diese dürften nicht einfach als ein Ergebnis privatautonomer Verhandlungen angesehen werden, sondern müssten durch eine extensive Vertragsauslegung nach den Grundsätzen von Treu und Glauben korrigiert werden.34 Unter der Kodifikation des Binnenversicherungsrechts im VVG und ihrem Ver­ hältnis zur vorgesetzlichen Praxis muss damit ein gespaltenes Fazit stehen. Auf der einen Seite lassen sich im VVG zahlreiche der grundlegenden dogmatischen Bausteine erkennen, welche die Feuer- und Lebensversicherungspraxis entwickelt hatte – viele von ihnen, beispielsweise die Vorschriften zur Gefahr- oder Gefahr­ erhöhungsanzeige per se, müssen schlicht und ergreifend als allgemeine Erforder­ nisse der mathematisch-rational operierenden Versicherungstechnik bezeichnet werden. Auf der anderen Seite erodierten durch die vielschichtige Arbeitsweise des Reichsgesetzgebers etliche Gewohnheiten, die während des 19. Jahrhunderts zur ganz herrschenden Praxis der Versicherungsgesellschaften gezählt hatten. Das gilt gerade für die filigranere Ausgestaltung einiger Figuren des Versicherungsrechts. Zwei allgemeinere Entwicklungsprozesse haben nach den Ergebnissen der vor­ liegenden Untersuchung besonders dazu beigetragen, dass die Gesetzgebung die vorgesetzliche Versicherungspraxis auf signifikante Weise modifiziert oder sich gar von ihr entfernt hat. So verfolgte das Gesetzgebungsprojekt des VVG einen hohen wissenschaftlich-systematischen Anspruch, indem es die einzelnen Sätze des Binnenversicherungsrechts zu einem innerlich konsequenten, möglichst wider­ spruchsfreien Gesamtgebilde verknüpfen wollte. Mit diesem Anspruch verfeinerte der Reichsgesetzgeber das dogmatische Gerüst des VVG nochmals erheblich.35 Stellvertretend dafür kann etwa die Struktur der Gefahrerhöhungsvorschriften stehen: die gebräuch­lichen Feuerversicherungsbedingungen hatten um 1900 bloß zwischen gewillkürter und objektiver Gefahrerhöhung unterschieden – eine Diffe­ renzierung, die in ihrer konkreten Ausgestaltung übrigens zum ersten Mal im ALR 34

Dazu unter § 3 B IV 1 c (zur Rechtswissenschaft) und unter § 3 B IV 2 b (zur Rechtspre­ chung). 35 Dazu auch insgesamt das Teilfazit unter § 3 E II.

A. Zusammenfassung wesentlicher Thesen

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hervorgetreten war. Der Gesetzgeber, konkret die VIII. Reichstagskommission, fügte diesem zweigliedrigen System nach einiger Diskussion eine dritte Kategorie an, nämlich die Kategorie der subjektiv-unbewussten Gefahrerhöhung, die bis dato der Praxis völlig fremd gewesen war. Auf lange Sicht war damit die gesamte Dog­ mengeschichte der Gefahrerhöhung von gesetzgeberischen Initiativen geprägt.36 Vor allem durch die Rezeption von Wissenschaft und Rechtsprechung gelang es dem VVG auf der anderen Seite, den rechtlichen Schutz der Versicherten und Ver­ sicherungsnehmer mit wesentlich größerer Konsequenz durchzusetzen als es bei­ spielsweise der Dresdener Obligationenrechtsentwurf vermocht hatte. Zu diesem Zweck steuerte der Entwurf eines schweizerischen VVG aus der Feder des Züricher Professors Hans Roelli etliche innovative Gedanken bei: unter anderem verwen­ dete er, wie später das VVG, eine Anzahl von einseitig zwingenden Grundsätzen, die der Versicherungspraxis gewisse unabdingbare Mindeststandards zum Schutz der Versicherungsnehmer auferlegten.37 Als ein besonders plakatives Beispiel für die Impulse, die Wissenschaft, Rechtsprechung und der Roelli-Entwurf dem VVG geben konnten, hat sich im Laufe dieser Arbeit das mehrfach erwähnte „Verschul­ densprinzip“ erwiesen. Kräftige Ansätze dieses Prinzips waren sowohl im Entwurf von Roelli als auch in der tendenziell versichertenfreundlichen Rechtsprechung und Literatur sichtbar: während die Rechtsprechung das Verschuldensprinzip zu­ nächst in punktuellen Einzelfällen anerkannt hat, schuf ihm die Wissenschaft ein tragfähiges dogmatisches Fundament, indem sie den Versicherungsvertrag als „contractus uberrimae fidei“ ansah; der Roelli-Entwurf schließlich hat als erster einen regelungstechnischen Ansatz geschaffen, welchen der VVG-Entwurf von 1902 aufgreifen und weiterverarbeiten konnte. Am Ende dieses Prozesses stand die Normierung des Verschuldensprinzips in § 6 VVG, der für alle vertraglichen Sanktionen galt. Auf diese Weise hatte es schließlich, wie viele andere versicher­ tenfreundliche Neuerungen, gegen den Widerstand der Feuerversicherungspraxis Eingang in das VVG gefunden.38 Die Tatsache, dass die Feuerversicherungsbedingungen schon im Jahr 1904 eine versichertenfreundlichere Gestalt erhalten hatten, erscheint demgegenüber als ein Trugbild. Zwar hat der Verein der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversi­ cherungs-Gesellschaften seine „Verbandsbedingungen“ von 1886 tatsächlich durch eine versichertenfreundliche Zusatzerklärung reformiert und unter anderem auch das erwähnte Verschuldensprinzip partiell in die Versicherungspraxis eingeführt. Das geschah jedoch auf Veranlassung des Kaiserlichen Aufsichtsamtes für Privat­ versicherung, das die Feuerversicherungspraxis seinerseits auf einen im Jahr 1903 veröffentlichen VVG-Entwurf verwies. Diese Tatsache wird in der Forschungs­ literatur häufig eher beiläufig erwähnt, doch zeigt sie, dass in vielen praxisrelevan­

36

Dazu unter § 3 D VII 2 b bb. Dazu unter § 3 C III 3 d; vgl. auch insgesamt das Teilfazit unter § 3 E III. 38 Dazu unter § 3 C III 3 c. 37

632

§ 4 Das gesamte Bild 

ten Fragen nicht die Gesetzgebung der Feuerversicherungspraxis folgte, sondern umgekehrt die Praxis der bereits initiierten Gesetzgebung.39 Geringere Eingriffe in die vorgesetzliche Praxis nahm der Reichsgesetzgeber allenthalben auf dem Gebiet der Lebensversicherung vor. Insbesondere die Lebens­ versicherung besaß um 1900 bereits eine bedeutend versichertenfreundlichere Ge­ stalt als die Feuerversicherung, die sie durch die lebhaftere Konkurrenz auf dem Lebensversicherungsmarkt größtenteils aus eigener Kraft gewonnen hatte. Aller­ dings waren die AVB der Lebensversicherer auch um einiges inhomogener als die parallel verwendeten Feuerversicherungsbedingungen, vor allem, was relativ junge dogmatische Figuren wie den Rückkauf, die Umwandlung zur prämienfreien Versicherung oder die rechtliche Handhabung von Selbstmordfällen betraf. Das VVG griff in dieser Hinsicht vereinzelt verwendete Gestaltungen aus der Praxis auf, die ihm als besonders zweckmäßig erschienen, und brachte sie zur Kodifika­ tion, oftmals mit halbzwingender Kraft zugunsten der Versicherungsnehmer oder der Begünstigten. So kam das VVG vielen Figuren aus der Rechtspraxis tatsäch­ lich vergleichsweise nahe, doch wurden sie eben mit Inkrafttreten des Gesetzes für alle Lebensversicherer verbindlich, auch für diejenigen, die sie zuvor gar nicht verwendet hatten.40 Am Anfang dieser Untersuchung stand das gelegentlich verbreitete Narrativ, das noch heute im Wesentlichen geltende Versicherungsrecht sei nichts anderes als ein Abbild der vorgesetzlichen Praxis – eine „bereinigte und geglättete Deskrip­ tion des vorgesetzlichen Ist-Zustandes“, wie Gärtner es formulierte.41 An ihrem Ende steht die Erkenntnis, dass diese durchaus eingängige, aber doch sehr holz­ schnittartige Erzählweise einer großen Anzahl an Korrekturen, Schattierungen und Differenzierungen bedarf. Ein solches, differenzierteres Narrativ setzt nicht erst bei den eigentlichen Kodifikationsarbeiten zum VVG an. Im Gegenteil hat die vorliegende Forschungsarbeit gezeigt, dass schon im frühen 19. und sogar im späten 18. Jahrhundert entscheidende Weichen gestellt wurden, die das Verhältnis von Versicherungspraxis und Gesetzgebung nachhaltig formten. Eine Besonder­ heit des deutschen Binnenversicherungsrechts liegt dabei in seiner außerordent­ lich frühen Kodifikation im Allgemeinen Landrecht für die Preußischen Staaten begründet. Seine Schöpfung hat dem deutschen Binnenversicherungsrecht – und zwar sowohl der späteren Gesetzgebung als auch der Versicherungspraxis selbst – nachwirkende Impulse gegeben, lange bevor überhaupt der Gedanke an eine ge­ samtdeutsche Kodifikation des Versicherungsrechts keimte.

39

Dazu unter § 3 C III 2 b; vgl. auch insgesamt das Teilfazit unter § 3 E III. Dazu auch insgesamt das Teilfazit unter § 3 E III. 41 Gärtner (2. Aufl. 1980), S. 32. 40

B. Ausblick: ein europäisches Versicherungsvertragsrecht?

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B. Ausblick: ein europäisches Versicherungsvertragsrecht? Mit dem VVG von 1908 war die Kodifikationsdebatte im Versicherungsrecht einstweilen zur Ruhe gelangt. Dieser Zustand sollte bis zur Jahrtausendwende an­ halten. Doch auch am heutigen Tage regt sich wieder das Bedürfnis nach einer einheitlichen Kodifikation des Versicherungsvertragsrechts – freilich nicht länger auf nationaler, sondern auf europäischer Ebene. Bislang sind die Bemühungen, ein gemeinsames europäisches Versicherungs­ recht zu schaffen, allerdings fruchtlos geblieben. In den Jahren 1979 und 1980 scheiterte der Versuch der Europäischen Gemeinschaft, eine europaweit geltende Harmonisierungsrichtlinie zum Privatversicherungsrecht zu schaffen. Damit la­ gen die internationalen Rechtsvereinheitlichungsbestrebungen für die nächsten 20 Jahre auf Eis. Im September 1999 gründete sich schließlich die Projektgruppe Restatement of European Insurance Contract Law, heute bestehend aus Vertre­ tern 14 europäischer Mitgliedsstaaten und der Schweiz. Auch sie bediente sich der Methoden der Rechtsvergleichung: im Jahr 2009 legte sie unter dem Titel der „Principles of European Insurance Contract Law“ (PEICL)42 einen europäischen Modellgesetzentwurf für das Versicherungsvertragsrecht vor.43 Allenthalben se­ hen sich die Rechtswissenschaft und die Gesetzgebung mit schier unüberbrück­ baren Differenzen in den einzelnen nationalen Rechtsordnungen konfrontiert. So beinhalten auch die PEICL bislang nur eine Anzahl allgemeiner Prinzipien des Versicherungsrechts, ohne auf die Besonderheiten einzelner Versicherungszweige näher einzugehen.44 Woher aber diese hinderlichen, teils eklatanten Unterschiede in der nationalen Versicherungsgesetzgebung rühren, ist bis heute nicht endgültig historisch aufge­ arbeitet, zumal doch häufig betont wird, wie sich das Versicherungsrecht gleichsam „universell“ im internationalen Seehandel entwickelt habe. Um die heutigen euro­ päischen Kodifikationsbestrebungen zu fördern, scheint ein näheres Verständnis all jener historischen Vorgänge, die überhaupt erst zu diesem Zustand einer euro­ päischen Rechtszersplitterung geführt haben, als erstrebenswert. Die vorliegende Forschungsarbeit mag dazu einen bescheidenen Beitrag leisten.

42

Abgedruckt in Basedow / Birds / Clarke / Cousy / Heiss / L oacker (Hrsg.): Principles of Euro­ pean Insurance Contract Law (2. Aufl. 2016). 43 Insgesamt zu den europäischen Rechtsvereinheitlichungsbemühungen Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 2263; Bruns (2015), § 36 Rn. 12; Heiss, in: HWB-EuP (2009), Bd. 2 S. 1183; Wandt (6. Aufl. 2016) Rn. 210. 44 Armbrüster (2. Aufl. 2019), Rn. 2266; Bruns (2015), § 36 Rn. 16; Heiss, in: HWB-EuP (2009), Bd. 2 S. 1183, 1185; Wandt (6. Aufl. 2016), Rn. 210.

Quellenverzeichnis I. Archivalia GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 188–283: Monita des Professors Büsch zu Hamburg zum 8. bis 12. Abschnitts des 3. Titels. GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 284–327: Resultate der Conferenzen, des Professors Büsch, des Bevollmächtigten der 5. Hamburger Assecuranz-Compagnie, Moller und des Kaufmannes Gaedertz zu Lübeck, über ihre Monita zum 8. bis 12. Abschnitt des Drit­ ten Titels. GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007. 49. 331–353: Monita des Kaufmannes Sieveking zu Ham­ burg über den 8. bis 12. Abschnitt des Dritten Titels. GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.75: Extractio Monitorum zum Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches (sog. „Erste Sammlung“). GStA PK, I. HA, Rep. 84 XVI, 007.77: Extractio Monitorum zum Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuches („Nachtrag zu beiden Sammlungen“). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5575.91–125: Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 03. 04. 1902 (VVG-Entwurf des Reichsjustizamtes). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5576.1–20: Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 11. 11. 1904 (Bundesratsvorlage). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5576.150–156: Anträge Bayerns zu dem Ent­ wurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag und eines zugehörigen Einführungs­ gesetzes – Nr. 130 der Drucksachen 1904. GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5579.2–62: Berathung des Entwurfs eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Feuerversicherung) (28.04.–03. 05. 1902). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5579.115–168: Berathung des Entwurfs eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Lebens-, Unfall- und Haftpflichtversicherung) (02.–06. 06. 1902). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.93–102: Verband Deutscher Lebens­ versicherungs-Gesellschaften: Denkschrift betr. den Entwurf eines Gesetzes über den Ver­ sicherungsvertrag v. 06. 10. 1903. GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.103–119: Verband Deutscher Feuer-­ Versicherungs-Gesellschaften auf Gegenseitigkeit. Betrifft den Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag (Denkschrift vom 08. 10. 1903). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5580.155–159: Denkschrift des Verbandes Berliner Metall-Industrieller zu dem Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsver­ trag (November 1903).

II. Gesetze, Verordnungen, Entwürfe, Gesetzgebungsmaterialien 

635

GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5582.1–19: Erster Geschäftsbericht des Kai­ serlichen Aufsichtsamtes für Privatversicherung (31. 05. 1903). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5582.46–68: Zweiter Geschäftsbericht des Kaiserlichen Aufsichtsamtes für Privatversicherung (31. 05. 1904). GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5582.102–210: Geschäftsbericht des Kaiser­ lichen Aufsichtsamts für Privatversicherung für das Jahr 1904 (31. 05. 1905).

II. Gesetze, Verordnungen, Entwürfe, Gesetzgebungsmaterialien und sonstige legislative Akte1 Königlich-Preussisches See-Recht, nebst Beylagen in einer Sammlung dahin gehöriger Lan­ desherrschaftlicher Verordnungen bestehend, und einem ausführlichen Register, auch Aug. Hypoliti Bone Historischem Bericht sowohl von dem vormaligen alten, als auch im Jahr 1727 publicirten neuen See-Recht des Königsreichs Preussen (Textausgabe, Königs­ berg, 1770). Assecuranz- und Havereyordnung für die Freye und Hansestadt Hamburg v. 10. 09. 1731 (Dreyer [1990], S. 267). Assecuranz- und Havereyordnung für die Königl. Preußl. Staaten v. 18. 02. 1766 (NCC Bd. 4 [1771], Sp. 83). An act for regulating insurances upon lives, and for prohibiting all such insurances, except in cases where the persons insuring shall have an interest in the life or death of the persons insured (Marshall [1. Aufl., 1805], S. 672). Abdruck der allerhöchsten Königl. Cabinets-Order die Verbesserung des Justiz-Wesens be­ treffend v. 14. 04. 1780 (NCC Bd. 6 [1781], Sp. 1935). Vorläufige Instruction zur Etablirung der Gesetz-Commission (1780) (Barzen [1999], S. 70). Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten (1785) (Textausgabe von Hrsg. Svarez / Krause, Bd. 2, Stuttgart / Bad Cannstatt, 2003). Patent wegen Publication des neuen allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten v. 20. 03. 1791 (Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preussischen Staaten 8 [1791], S. XXXIX). Allgemeine Gerichtsordnung für die Preußischen Staaten v. 06. 07. 1793. Erster Theil. Prozeß­ ordnung (Textausgabe, Berlin, 1822). Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten v. 01. 06. 1794 (Textausgabe von Hrsg. Hattenhauer, 3. Aufl., Berlin, 1996). Code de Commerce (1807) (Édition originale et seule officelle, Paris, 1807). Deutsche Bundesakte v. 08. 06. 1815 (PrGS 1818, Anhang S. 143).

1

Abgedruckt in chronologischer Ordnung.

636

Quellenverzeichnis 

Publikations-Patent über die unterm 15ten Mai 1820. vollzogene Schluß-Akte der über Aus­ bildung und Befestigung des deutschen Bundes zu Wien gehaltenen Ministerial-Conferen­ zen v. 24. 06. 1820 (PrGS 1820, S. 113). Código de Comercio, Decretado, Sanctionado y Promulgado en 30 de Mayo de 1829 (Edi­ cion oficial, Madrid, 1829). Codigo Commercial Portuguez v. 18. 09. 1833 (Codigo Commercial Portuguez, seguido de um appendice que contém a legislação que tem altenado alguns de seus artigos, Coim­ bra, 1879, S. 9). Gesetz, betreffend die polizeilichen Beschränkungen der Versicherung des beweglichen Ver­ mögens gegen Feuers-Gefahr v. 03. 06. 1830 (RegBl. Württemberg 1830, S. 207). Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen v. 08. 05. 1837 (PrGS 1837, S. 102). Wetboek van Koophandel (1838) (Officiële Uitgave, ’s Gravenhage, 1838). Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg mit Motiven. I. Theil. Entwurf des Handelsgesetzbuches (Textausgabe, Stuttgart, 1839). Entwurf für ein Handelsgesetzbuch für das Königreich Württemberg mit Motiven. II. Theil. Motive (Textausgabe, Stuttgart, 1840). Allerhöchste Kabinettsordre vom 30. Mai 1841, die Ausdehnung der Bestimmungen in den §§. 14. und 15. des Gesetzes über das Mobiliar-Feuer-Versicherungswesen vom 8. Mai 1837 auf Versicherung von Immobilien bei in- und ausländischen Feuer-Versicherungsgesell­ schaften betreffend (PrGS 1841, S. 122). Gesetz über die Form einiger Rechtsgeschäfte v. 11. 07. 1845 (PrGS 1845, S. 495). Gesetz, betreffend Abänderungen des Gesetzes vom 25. Mai 1830 über die polizeilichen Be­ schränkungen der Versicherung des beweglichen Vermögens (RegBl. Württemberg 1852, S. 125. Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten. Nebst Motiven. Erster Theil: Entwurf (Textausgabe, Berlin, 1857). Entwurf eines Handelsgesetzbuchs für die Preussischen Staaten. Nebst Motiven. Zweiter Theil: Motive (Textausgabe, Berlin, 1857). Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern. Theil I. Hauptstück… Von den Rechtsgeschäften. Theil  II. Recht der Schuldverhältnisse (Textausgabe, Mün­ chen, 1861). Motive zum Entwurfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern (Textaus­ gabe, München, 1861). Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch nach den Beschlüssen der dritten Lesung. Zugleich fünftes Heft des Beilagenbandes der Protokolle der Kommission zur Berathung eines all­ gemeinen deutschen Handelsgesetzbuches, im Auftrage dieser Kommission herausgegeben von J. Lutz (Textausgabe, 4. Aufl., Würzburg, 1861). Verordnung, einige Bestimmungen des VIten Abschnitts des Gesetzes über das ImmobiliarBrandversicherungswesen vom 23sten August 1862 und der dazu gehörigen Ausführungs­ verordnung vom 20sten October desselben Jahres betreffend; vom 28sten März 1863 (GBl. Sachsen 1863, S. 359).

II. Gesetze, Verordnungen, Entwürfe, Gesetzgebungsmaterialien 

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Protocolle der Commission zur Ausarbeitung eines allgemeinen deutschen Obligationenrechts (Textausgabe in 6 Bänden, Dresden, 1863–1866). Entwurf eines für die deutschen Bundesstaaten gemeinsamen Gesetzes über Schuldverhält­ nisse (nach den in erster Lesung erfolgten Beschlüssen) (Prot.  Dresd.  OR, Anhang zu Bd. 5, Dresden, 1865). Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse, bearbeitet von den durch die Regierungen von Oesterreich, Bayern, Sachsen, Hannover, Württemberg, Hessen-­Darmstadt, Meklenburg-Schwerin, Nassau, Meinigen und Frankfurt hierzu abge­ ordneten Commissaren, und im Auftrage der Commission herausgegeben von Dr. B. Fran­ cke (Textausgabe, Dresden, 1866). Publikandum, die Verfassung des Norddeutschen Bundes betreffend v. 26. 07. 1867 (Norddt. BGBl. 1867, Nr. 1, S. 1). Gesetz, betreffend die Verfassung des Deutschen Reichs v. 16. 04. 1871 (RGBl. 1871, Nr. 16, S. 63). Gesetz, das Mobiliar- und Privat-Feuerversicherungswesen betreffend v. 28. 08. 1876 (GBl. Sachsen 1876, S. 427). Cirkular an sämmtliche Königl. Regierungs-Präsidenten vom 23. Juni 1892, betr. die Unzu­ lässigkeit der s. g. indirekten Feuerversicherung (Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 53 [1892], S. 348). Cirkular an sämmtliche Königl. Regierungs-Präsidenten vom 29. Oktober 1892, betr. die An­ nahme von Bier- und Gerste-Entwerthungsversicherungen durch die FeuerversicherungsGesellschaften (Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten 53 [1892], S. 348). Bürgerliches Gesetzbuch v. 18. 08. 1896 (RGBl. 1896, Nr. 21, S. 195). Einführungsgesetz zum Bürgerlichen Gesetzbuche v. 18. 08. 1896 (RGBl. 1896, Nr. 21, S. 604). Handelsgesetzbuch v. 10. 05. 1897. Viertes Buch. Seehandel (RGBl. 1897, Nr. 23, S. 336). Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen v. 12. 05. 1901 (RGBl. 1901, Nr. 18, S. 139). Begründung [zum Gesetz über die privaten Versicherungsunternehmungen] (Motive zum Ver­ sicherungsaufsichtsgesetz [Nachdruck, Berlin, 1963], S. 20) (zit. Mot. VAG). Entwurf zu einem Schweizerischen Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag (1902) (Rüdiger, ZVersWiss 2 [1902], S. 1). Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 03. 04. 1902 [VVG-Entwurf des Reichsjustizamtes] (GStA PK, I. HA Rep. 84 a Justizministerium, Nr. 5575.91) (zit. RJA-E). Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag nebst den Entwürfen eines zugehöri­ gen Einführungsgesetzes, betreffend Abänderung der Vorschriften des Handelsgesetzbu­ ches über die Seeversicherung. Aufgestellt im Reichs-Justizamte (Amtliche Ausgabe, Ber­ lin, 1903) (zit. VVG-E 1903). Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag v. 11. 11. 1904 [Bundesratsvorlage zum VVG] (GStA PK, I. HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 5576.1) (zit. VVG-BRV).

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Quellenverzeichnis 

Anträge Bayerns zu dem Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag und eines zugehörigen Einführungsgesetzes  – Nr. 130 der Drucksachen 1904  – (GStA PK, I.  HA Rep. 84a Justizministerium, Nr. 5576.150). Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag [Reichstagsvorlage zum VVG von 1905], in: Zusammenstellung der Entwürfe eines Gesetzes über den Versicherungsver­ trag eines zugehörigen Einführungsgesetzes und eines Gesetzes, betreffend die Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversicherung – Nr. 22 der Druck­ sachen – mit den Beschlüssen der VIII. Kommission (Motive zum Versicherungsvertrags­ gesetz [Nachdruck, Berlin, 1963], S. 440) (zit. VVG-RTV [1905]). Bericht der VIII. Kommission über die Entwürfe eines Gesetzes über den Versicherungsver­ trag, eines zugehörigen Einführungsgesetzes und eines Gesetzes, betreffend die Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversicherung – Nr. 22 der Druck­ sachen – (Motive zum Versicherungsvertragsgesetz [Nachdruck, Berlin, 1963], S. 269) (zit. Prot. VIII. RT-Kommission). Entwurf eines Gesetzes über den Versicherungsvertrag [Reichstagsvorlage zum VVG von 1907], in: Zusammenstellung der Entwürfe eines Gesetzes über den Versicherungsver­ trag eines zugehörigen Einführungsgesetzes und eines Gesetzes, betreffend die Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversicherung – Nr. 364 der Druck­ sachen – mit den Beschlüssen der XII. Kommission (Motive zum Versicherungsvertrags­ gesetz [Nachdruck, Berlin, 1963], S. 524) (zit. VVG-RTV [1907]). Bericht der XII. Kommission zur Vorberatung der Entwürfe eines Gesetzes über den Versi­ cherungsvertrag, eines zugehörigen Einführungsgesetzes und eines Gesetzes, betreffend die Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversicherung – Nr. 364 der Drucksachen – (Motive zum Versicherungsvertragsgesetz [Nachdruck, Berlin, 1963], S. 491) (zit. Prot. XII. RT-Kommission). Gesetz über den Versicherungsvertrag v. 30. 05. 1908 (RGBl. 1908, Nr. 30, S. 263). Gesetz, betreffend Änderung der Vorschriften des Handelsgesetzbuchs über die Seeversiche­ rung v. 30. 05. 1908 (RGBl. 1908, Nr. 30 S. 307). Begründung [zum Versicherungsvertragsgesetz] (Motive zum Versicherungsvertragsgesetz [Nachdruck, Berlin, 1963], S. 59) (zit. Mot. VVG).

III. Regelwerke staatlicher Versicherungsanstalten2 Puncta der General Feur-Ordnungs Cassa v. 30. 11. 1676 (FS 300 Jahre Hamburger Feuer­ kasse [1976], S. 118). Reglement, wie es bey der in denen Residentzien aufgerichteten Societät mit dem von denen Eigenthümern derer Häuser zur Ersetzung eines Feuer-Schadens aufzubringenden Beytrag zu halten v. 29. 12. 1718 (Schaefer [1911], Bd. 2 S. 232). Neue General-Feuer-Cassa-Ordnung v. 28. 09. 1753 (Schaefer [1911], Bd. 1 S. 323).

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Abgedruckt in chronologischer Ordnung.

III. Regelwerke staatlicher Versicherungsanstalten

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Marggräflich Baden-Durlachische Brand-Versicherungs-Ordnung v. 25. 09. 1758 (Gerst­ lacher, Bd. 2 [1774], S. 476). Verordnung vom 14. Octbr. 1766, behuef der, von Calenbergischer Landschaft anzulegenden Wittwen-Verpflegungs-Gesellschaft (Spangenberg, Bd. 2 [1820], S. 164). Reglement für die auf dem platten Lande im Königreich Preussen zu errichtende Feuer-So­ zietät v. 14. 05. 1769 (NCC Bd. 4 [1771], Sp. 5379). Herzoglich-Württembergische allgemeine Brand-Schadens-Versicherungs-Ordnung v. 16. 01. 1773 (Zeller / Mayer, Bd. 3 [1843], S. 871). Neue Feuer-Cassen-Ordnung für Billwärder und andere Stadt Ländereyen v. 06. 06. 1774 (Anderson, Bd. 1 [1783], S. 13). Reglement für die Kgl. preuß. allgemeine Witwen-Verpflegungs-Anstalt v. 28. 12. 1775 (NCC Bd. 5 [1776], Sp. 381). Reglement der Brand-Societät Westphalen v. 20. 06. 1778 (Scotti, Bd. 1 [1821], S. 973). Reglement zur Feuer-Societät für das platte Land in West-Preussen v. 27. 12. 1785 (NCC Bd. 7 [1786], Sp. 3267). Reglement für die Königlich Preußische Officier-Wittwen-Casse v. 03. 03. 1792 (NCC Bd. 9 [1796], Sp. 859). Wittwen-Casse für die Hamburger Reitdiener-Brüderschaft v. 01. 06. 1795 (Anderson, Bd. 4 [1797], S. 77). Brandversicherungs-Gesellschaft des Herzogthums Berg v. 26. 09. 1801 (Scotti, Bd. 2 [1822], S. 810). Reglement der vereinigten Land-Feuersozietät im Bezirk der Ostpreußischen Landschaft v. 22. 04. 1809 (NCC Bd. 12 [1822], Sp. 823). Allgemeine Verordnung, die Vereinigung der Brandversicherungs-Gesellschaften zu einer all­ gemeinen Anstalt für die ganze Monarchie betreffend v. 02. 02. 1811, inkl. Brandversiche­ rungsordnung (BayRegBl. 1811, S. 129). Neu revidirte Hamburgische General-Feuer-Casse-Ordnung vom Jahre 1833, welche durch Rath- und Bürgerschluß vom 2. Mai 1833 auf zehn, vom 14. Mai desselben Jahres begin­ nende Jahre beliebt worden. Auf Befehl Eines Hochedl. Raths der freien und Hansestadt Hamburg publicirt den 3. Mai 1833 (Lappenberg, Bd. 12 [1834], S. 258). Reglement für die Provinzial-Feuer-Sozietät der Rhein-Provinz v. 05. 01. 1836 (PrGS 1836, S. 13). Königliches Gesetz, betreffend die Volksschulen v. 29. 09. 1836 (RegBl. Württemberg 1836, S. 491). Reglement für die Feuersozietät der Haupt- und Residenzstadt Königsberg i.Pr. v. 22. 05. 1846 (PrGS 1846, S. 171). Revidirte Verordnung der Pensions-Casse für die Witten und Waisen der Beamten und Of­ ficianten des Hamburgischen Staats, in Folge Rath- und Bürgerschlusses vom 1. July 1847. Auf Befehl E. H. Raths der freien Stadt Hamburg publicirt den 8. November 1847 (Lappenberg, Bd. 20 [1849], S. 167).

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Quellenverzeichnis 

Gesetz, einige Abänderungen des Patents über die Errichtung der Allgemeinen Wittwen­ verpflegungs-Anstalt vom 28. Dezember 1775. betreffend v. 17. 05. 1856 (PrGS  1856, 477). Revidirtes Reglement für die Westphälische Provinzial-Feuersozietät v. 26. 09. 1859 (PrGS 1859, S. 477). Revidirtes Reglement für die Feuersozietät der Stadt Königsberg i.Pr. v. 04. 11. 1861 (PrGS 1862, S. 80). Revidirtes Reglement für die Feuersozietät des platten Landes des Herzogthums Sachsen v. 24. 09. 1863 (PrGS 1863, S. 545). Revidirtes Reglement für die Feuer-Sozietät der Provinz Posen v. 1863 (PrGS 1863, S. 578). Gesetz, betreffend die Hamburger Feuercasse. Auf Befehl E. H. Senats der freien und Hanse­ stadt Hamburg publicirt am 28. August 1867 (HambGS 1867, S. 66). Verordnung, betreffend die Schließung mehrerer in den neuen Landestheilen bestehenden Staatsdiener-Wittwen- und Waisenkassen v. 15. 09. 1867 (PrGS 1867, S. 1646). Statut wegen Versicherung von Mobilien bei der landschaftlichen Feuer-Versicherungsgesell­ schaft für Westpreußen v. 29. 03. 1871 (PrGS 1871, S. 163). Ordnung der Pensions-Casse für die Wittwen und Waisen der Angestellte des Hamburgischen Staats v. 10. 05. 1871 (HambGS 1871, S. 33). Revidirtes Reglement für die Feuersozietät des platten Landes von Altpommern v. 17. 01. 1872 (PrGS 1872, S. 122). Gesetz, betreffend die Revision – beziehentlich die Abänderung – der Reglements der öffent­ lichen Feuersozietäten v. 31. 03. 1877 (PrGS 1877, S. 121). Badisches Gebäudeversicherungsgesetz v. 10. 09. 1902 (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908] S. 79). Reglement und allgemeine Versicherungsbedingungen der Provinzial-Feuer-Versicherungsan­ stalt der Rheinprovinz vom 1903 (Sammlung-AVB, Bd. 1[1908], S. 99).

IV. Regelwerke privatwirtschaftlicher Versicherer3 Vergleich der Assecuratoren in Hamburg / über nachfolgende Puncten, die Assurantz betref­ fend. Anno 1677, den 29. Decembr. (Dreyer [1990], S. 253). Vergleich der Assecuratoren in Hamburg / über nachfolgende Puncten, die Assurantz betref­ fend. Anno 1693, den 17. Febr. (Dreyer [1990], S. 255). Vergleich der Assecuratoren in Hamburg / über nachfolgende Puncten, die Assurantz betref­ fend. Anno 1697, den 17. Martii (Dreyer [1990], S. 256). The Deed of Settlement of the Society for Equitable Assurances of Lives and Survivorships (1762) (Textausgabe von Hrsg. Morgan, London, 1833).

3

Abgedruckt in chronologischer Ordnung.

IV. Regelwerke privatwirtschaftlicher Versicherer

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Assecuranz-Compagnie für See-Risico und Feuers-Schaden (1765); Vierte Assecuranz-Com­ pagnie für See-Risico und Feuers-Schaden (1772) [ineinander integrierter Abdruck beider Seeversicherungspläne inkl. der verwendeten Mobiliarfeuerversicherungsbedingungen] (Engelbrecht, Bd. 1 [1787], S. 52). Anordnung der in der Kays. Freyen Reichs-Stadt Hamburg errichteten allgemeinen Versor­ gungs-Anstalt (Textausgabe, Hamburg, 1778). Proposals by the Corporation of the London-Assurance, established by his majesty’s royal charter, for assuring houses and other buildings, goods, wares, and merchandise, from loss or damage by fire, and for assuring lives (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 340). Police des Sun Fire Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 538). Terms and methods of Union Fire-Office (ca. 1781) (Weskett [1781], S. 558). Propositiones der London Phoenix Fire Assurance Company (Niederlassung in Hamburg, 1786) (Krügelstein [1800], Bd. 3 § 31 [S. 98]). Plan der erneuerten fünften Hamburgischen Assecuranz-Compagnie (1789) (Allgemeine Handlungs-Zeitung 1789, S. 71). Propositiones der London Phoenix Fire Assurance Company (Niederlassung in Hamburg, 1790) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 324). Verfassung der Association Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr (1795) (Krünitz, Bd. 92 [1803], S. 278). Beständige Bedingungen der Hamburgischen Assekuranzcompanien (1800) (Benecke [2. Aufl. 1810], Bd. 3 S. 35). Form of a Policy of Insurance against Fire. By the Corporation of the Royal Exchange As­ surance of Houses and Goods from Fire (1800) (Marshall [1805], Appendix VII, S. 724). Verfassung der Berlinischen Feuerversicherungs-Anstalt (1812) (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1909], S. 22). Verfassung der Feuer-Versicherungsbank für den deutschen Handelsstand in Gotha (1820) (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 6). Allgemeine Versicherungs-Bedingungen der Aachener Feuerversicherungs-Gesellschaft von 1825 (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 26). Allgemeine Versicherungsbedingungen der Deutschen Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Lübeck (1828) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 21). Statuten der Wirtembergischen Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaft (1828) (SammlungAVB, Bd. 1 [1908], S. 14). Verfassung der Lebensversicherungsbank für Deutschland zu Gotha (1828) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 2). Statuten der Lebensversicherungs-Gesellschaft zu Leipzig (1830) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 7). Bedingungen der Allgemeinen Renten-Anstalt zu Stuttgart (1833) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 54).

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Quellenverzeichnis 

Allgemeine Versicherungs-Bedingungen der Assecuranz-Anstalt der Bayerischen Hypothe­ ken- und Wechselbank (1836) (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 30). Geschäftsplan der Berlinischen Lebensversicherungs-Gesellschaft (1839) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 23). Allgemeine Versicherungs-Bedingungen der Magdeburger Feuerversicherungs-Gesellschaft (1845) (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 34). Bedingungen für landwirtschaftliche Versicherungen der Magdeburger FeuerversicherungsGesellschaft von 1848 (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 110). Statuten der Lebensversicherungs- und Ersparnisbank in Stuttgart (1854) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 16). Statuten der Großen Vereins-Sterbe-Kasse zu Rothenburg O.-L. (1856) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 39). Geschäftsplan der Germania Lebens-Versicherungs-Aktien-Gesellschaft zu Stettin (1857) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 31). Allgemeine Versicherungs-Bedingungen der Aachener und Münchener FeuerversicherungsGesellschaft von 1860 (Müssener [2008], S. 378). Allgemeine Versicherungs-Bedingungen des Verbandes Deutscher Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaften (1874) (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 38). Allgemeine Versicherungsbedingungen der zum Verein Deutscher Lebensversicherungs-­ Gesellschaften gehörigen Gesellschaften (1875) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 44). Besondere Bedingungen für Mühlenversicherungen der Magdeburger Feuerversicherungs-­ Gesellschaft von 1879 (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 112). Bedingungen für landwirtschaftliche Versicherungen des Verbandes Deutscher Privat-Feuer­ versicherung-Gesellschaften von 1884 (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 116). Allgemeine Versicherungs-Bedingungen des Verbandes deutscher Privat-FeuerversicherungsGesellschaften (1886) (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 75). Allgemeine Versicherungs-Bedingungen der Aachener und Münchener FeuerversicherungsGesellschaft von 1888 (Müssener [2008], S. 383). Besondere Versicherungs-Bedingungen für Fabriken und gewerbliche Anlagen der Vereini­ gung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesell-schaften von 1899 (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 118). Allgemeine Versicherungsbedingungen der Gothaer Feuerversicherungsbank auf Gegensei­ tigkeit (1904) (Sammlung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 65). Allgemeine Versicherungsbedingungen der Victoria zu Berlin, Allgemeine VersicherungsAktien-Gesellschaft (ca. 1904) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 98). Erklärung zu den Allgemeinen Versicherungsbedingungen. Aufgestellt von der Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungs-Gesellschaften (1904) (Samm­ lung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 78).

IV. Regelwerke privatwirtschaftlicher Versicherer

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Satzung der Gothaer Lebensversicherungsbank auf Gegenseitigkeit (1904) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 62). Versicherungsbedingungen (Volksversicherung) der Victoria zu Berlin (ca. 1904) (SammlungAVB, Bd. 2 [1909], S. 109).  Vorläufige Allgemeine Versicherungsbedingungen der Württembergischen Privatfeuerver­ sicherung auf Gegenseitigkeit in Stuttgart. Gültig vom 1. Januar 1903 ab. Geändert nach den mit dem 1. Juli 1903 in Kraft getretenen Beschlüssen der Generalversammlung vom 25. April 1903 und der 77. Ordentlichen Generalversammlung vom 11. März 1905 (Samm­ lung-AVB, Bd. 1 [1908], S. 71). Allgemeine Versicherungsbedingungen der Stuttgarter Lebensversicherungsanstalt auf Gegen­ seitigkeit (1906) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 81). Bestimmungen für Versicherung gegen Kriegsgefahr der Stuttgarter Lebensversicherungs­ bank auf Gegenseitigkeit (1906) (Sammlung-AVB, Bd. 2 [1909], S. 88). Allgemeine Hausrat Versicherungsbedingungen des GdV (VHB 2016 – Quadratmetermodell).

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Sachverzeichnis Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (1794), das Versicherungsvertrags­ gesetz (1908) und deren jeweilige Entwurfsstadien werden wegen der Häufigkeit ihrer Nen­ nung im Haupttext hier nicht wiedergegeben. Aachen 135 Aachener (und Münchener) Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft  86, 128, 134–137, 139, 166, 175, 199, 208, 222, 237, 238, 245, 247 f., 280, 291, 303, 307, 312, 625 Aachener Verein zur Beförderung der Arbeitsamkeit 135 Abandon 51, 106–109, 269 f., 279, 282, 286, 289, 623, 625 Abnutzung, natürliche  48, 186 f., 265, 456, 589, 590, 595, 597–600 Agent siehe Versicherungsagent Allgemeines Bürgerliches Gesetzbuch (Österreich) 82 Allgemeines Deutsches Handelsgesetzbuch ​ 297, 349, 352, 355, 361, 373 f., ­377–380, 384, 387, 391 f., 394, 397 f., 409 f., 435, 454, 457, 462 f., 467, 487, 497 f., 502, 522 f., 532, 536 f., 539, 575 f., 596 f., 608 f., 627–629 Allgemeine Lebensversicherungsanstalt für das Königreich Hannover  146 Allgemeine Versorgungs-Anstalt der ­Hamburgischen Patriotischen Gesell­ schaft (1778) ​75–80, 83, 98, 109, 226, 251, 286, 621 Allgemeine Wittwen-Verpflegungs-Anstalt (1775)  75–80, 109, 177, 211 f., 219 f., 224, 226, 241 f., 245, 248, 251 f., 286, 335 f., 621 Amicable Society  73, 140 Analogieschluss (zur Seeversicherung) ​ 105–109, 122, 161, 231 f., 259 f., 269 f., 279, 286, 345, 349, 355, 379, 387, 391, 394, 439, 457, 463, 465, 497 f., 608 f., 623, 628

Andeutung des Schadens (Seeversicherung) ​ 243 f. Annuities siehe Leibrenten Ansbach 59 Anthonsen, Wilhelm  48 Antwerpen  43, 45 Anzeige des Versicherungsfalles  240–249, 563–572 – als Bedingung für die Versicherungs­ leistung  242–244, 567, 569 – als lex imperfecta  564, 570, 572 – anderweitige Kenntnis des Versiche­ rers  564, 571 – Ausschlussfrist  243–249, 406, 564–569, 605 – Schadensersatzanspruch bei Unter­ lassen  246, 568–570, 572, 605 – Verschulden des Versicherten  248, 566, 567, 569–572 – Zusammenhang zur Rettungsobliegen­ heit  245–247, 568 Arndt, Karl Ludwig  381 Arnstadt  126, 133 Arnoldi, Ernst Wilhelm  86, 132–134, 142 f., 146, 151, 182, 208, 222, 249, 292, 626 Assecuranz-Cammer zu Berlin  68 Assecuranz-Compagnien  44, 153, 172, 195, 218, 226, 231, 233, 250, 268, 285, 620 Assecuranz für Türcken-Risiko  110, 178, 216 Assecuranz- und Havereyordnung – der Hansestadt Hamburg  45–52, 82 f., 96, 103, 107, 110, 120 f., 152, 158, ­170–172, 178, 186 f., 191 f., 199, 202, 215–217, 220, 227–229, 243, 256–258, 267, 282 f., 287, 490, 622

Sachverzeichnis – Preußische  46–52, 83, 96, 103, 107, 110, 158, 172, 178, 180, 186 f., 193, 199, 202, 217, 220, 228 f., 243, 258, 283, 622 Association Hamburgischer Einwohner zur Versicherung gegen Feuersgefahr siehe Bieber’sche Anstalt Aufklärung  118, 172 Auftragsverhältnis siehe mandatum Auslegung des Versicherungsvertrages  351, 357, 414 f., 611, 630 Aussteuerversicherung 141 Austauschverhältnis, vertragliches  188, 198, 315 f., 330, 454–458, 467, 470, 521, 523, 550, 560 Averdieck, Georg Friedrich  130, 149, 151, 163, 207, 272, 279, 288, 625 Babbage, Charles  143–145, 151 f., 182, 222, 248 f., 292, 626 Badisches Gebäudeversicherungsgesetz  327 Bagatellschaden  45, 267, 595 Bähr, Otto  398 Barwert der Lebensversicherung  331, 335 Baumgarten (Redaktor des ALR)  100, 173, 180, 232–235, 244–246 Bayerische Hypotheken- und Wechselbank ​ 146, 175 Behrend, R.  85 Beitragsrückstand (öffentliche Versicherer) ​ 64, 79, 139, 205 f., 476 Beitrittszwang  57, 60, 127, 327, 408, 511, 621 Benecke, Wilhelm  131, 140, 149–151, ­162–165, 168, 171, 200, 207, 221, 235 f., 246, 261, 272 f., 276 f., 279, 288–290, 293, 625 Bereicherungsverbot  48 f., 62, 169 f., 173, 175, 183, 185, 187, 265, 281, 318, 367, 375, 388, 392, 430, 450, 451, 455, 589 Berlin 322 Berliner Feuersozietät  59 Berlinische Feuerversicherungs-Anstalt  30, 83, 86, 123, 127, 130–132, 135, 139 f., 149–151, 162–165, 175, 185, 199 f., 205, 207 f., 220 f., 224, 234–236, 246 f., 261 f., 270–280, 287–291, 586, 625 Berlinische Lebensversicherungsgesell­ schaft 146

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Bernoulli, Jakob  72 Besondere Versicherungsbedingungen ​ 313 f. Beständige Seeversicherungsbedingungen (1800) ​46, 171 Betriebsunterbrechungsversicherung siehe Chômageversicherung Bieber, Georg Elert  128, 163 Bieber’sche Anstalt  128–130, 163, 206, 211, 241, 262, 276 f., 279, 289, 307 Bischoff, Friedrich Wilhelm August  373– 377, 490 Bismarck, Otto  32 Brämer, Herrmann und Karl  294 Brandbettel  54, 58 Brandkassen siehe Feuersozietäten Brandstiftung  62, 122, 184, 250 f., 314, 431, 458, 593, 598, 611 Brandversicherungsanstalten, staatliche siehe Feuersozietäten Breslau  59, 72, 322 Bundesoberhandelsgericht  355, 569, 611 Bundesrat  407 f., 448 f., 457, 467, 484, 500, 529, 561, 602 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB)  397, 482, 505, 509 f., 537, 539 f., 542, 586, 610, 617 f. Büsch, Johann Georg  75, 91, 98–100, 108, 116, 129, 132, 197, 203 f., 229, 268, 270, 278 f., 283, 287, 623 f. Carmer, Johann Heinrich von  95–97, 113 Chômageversicherung 436–439 Cocceji, Samuel von  93 Code de Commerce  82, 102, 345, 360, 363, 365, 372, 375, 490, 568 Codex Fridericianus Marchius  93 Codex Maximilia­neus Bavaricus Civilis ​ 381 Codigo Commercial (Portugal)  345, 365 f., 368, 371, 490, 533, 547, 568, 605, 627 Código de Comercio (Spanien)  365, 375 Comparative View of the Various I­ nstitutions for the Assurance of Lives ​143–145, 151, 222, 292, 626 Concordia Kölnische Lebens-VersicherungsGesell­schaft  304 Condition precedent  242

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Sachverzeichnis

Conferenz (von Sachverständigen zum EAGB)  99 f., 116, 229 f., 268 f., 278 Contractus uberrimae fidei siehe Treue­ verhältnis, besonderes versicherungs­ rechtliches Contrebandware  114, 121, 216 f. Colbert, Jean-Baptiste  45 Collegia tenuiorum  71 Corpus Iuris Civilis  91, 95 f. Costumen  44 f. Danckelmann, Albrecht Leopold von  101 Deckungskapital  551, 558 Deskription des vorgesetzlichen IstZustandes (Narrativ zur Entstehung des VVG) ​299–302, 408, 420, 486, 615–618, 632 Detmold 59 Deutscher Feuerversicherungs-Schutz­ verband  300, 310 Deutscher Verein für Versicherungswissen­ schaft  148, 404, 417 Dodson, James  74 Doppelversicherung siehe Mehrfache Ver­ sicherung Dreißigjähriger Krieg  57 Dresdener Konferenzen  350, 385–394, 418, 435, 445 f., 464 f., 476–478, 493 f., 497, 514, 518, 528, 532, 534–536, 576, 608, 611, 628 Dresdener Obligationenrechtsentwurf  35, 297, 350, 361 f., 384–395, 411, 414, 418, 435, 445 f., 454, 462–465, 471, 476–478, 480, 483, 491, 493–495, 497, 518, 532, 534 f., 547, 555, 568, 576, 581 f., 593, 595, 606, 608, 611, 626–628 Dreyer, Thomas  45, 84 Duelltod  80, 251 f., 262 f., 338, 340, 383, 408 f., 578–582, 584 f. Duvinage, Angela  29, 84–86, 105, 298, 300–302, 420, 486, 616 f. EGBGB siehe Einführungsgesetz zum Bür­ gerlichen Gesetzbuche Ehrenberg, Richard  294 Ehrenberg, Victor  349, 351 f., 404, 411, 538, 600 Einlösungsprinzip, siehe Prämie

Einseitige Vertragsgestaltung siehe Rechts­ setzungsmacht der Versicherungsgesell­ schaften Eigenverschulden siehe Verursachung des Versicherungsfalles durch den Ver­ sicherten Einführungsgesetz zum Bürgerlichen ­Gesetzbuche  398 Eisenach  126, 133 Endres, Nikolaus von  381 Emminghaus, Arwed  86 Engelbrecht, Johann Andreas  70, 159 Entwurf eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse siehe Dresdener Obligationenrechtsentwurf Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuches für das Königreich Bayern  35, 297, 361 f., 379–384, 387, 395, 435, 445, ­452–454, 462 f., 471, 476, 489 f., 515, 517 f., 533 f., 547, 568, 575, 581, 595, 606, 611, 626 f. Entwurf eines Handelsgesetzbuches für die Stadt Frankfurt am Main  363 Entwurf eines preußischen Handelsgesetz­ buches  35, 297, 361 f., 372–377, 384, 387, 395, 424, 426, 434 f., 444–446, 452–454, 462 f., 471 f., 489 f., 515, 517, 533 f., 547, 568, 575, 577, 579–581, 593, 595 f., 604 f., 608, 611, 626 f. Entwurf eines schweizerischen Bundes­ gesetzes über den Versicherungsvertrag ​ 411–417, 419, 426, 439, 446, 457, 464, 478, 483, 485, 497, 504, 520, 525, 528, 537, 548, 558, 559, 561 f., 569, 600, 609, 612, 631 Entwurf eines württembergischen Handels­ gesetzbuches  35, 297, 361 f., ­363–372, 374–378, 384, 387, 395, 424–426, 434, 443 f., 452 f., 462 f., 471 f., ­489–491, ­515–518, 533 f., 547, 568, 575–577, ­579–581, 592–596, 604 f., 608, 611, 626 f. Equitable siehe Society for Equitable Assu­ rances on Lives and Survivorships Erdbeben von San Francisco (1906)  429 Erfurt  126, 133 Erste Hamburger Assecuranz-Compagnie ​ 68, 155, 226, 268

Sachverzeichnis Europäische Gemeinschaft  633 Extractio Monitorum  98, 100 Fermat, Pierre  72 Feuer-Societät für das platte Land in WestPreus­sen  167 f., 274 f. Feuersozietät der Haupt-und Resi­denzstadt Königsberg  324 f. Feuersozietäten  30, 33, 52–67, 80, 82, ­87–89, 122, 126, 138–140, 153, 167 f., 170, 183 f., 205 f., 211, 225, 241, 250 f., 273–276, 292–295, 321–328, 404, 408 f., 422 f., 428, 433, 451, 459, 473 f., 476, 488, 508, 511 f., 546, 565 f., 574, 590 f., 609, 620 f., 624 Feuerversicherungsbank für Deutschland zu Gotha  83, 86, 123, 126, 132–134, 199, 208, 240, 247, 280, 289, 291, 303, 307, 309, 586, 625 Feuerversicherungs-Gesellschaft der Leip­ ziger Buchdrucker  310 Fire Office (1680)  69 Foenus nauticum  42 Frankfurter Entwurf eines allgemeinen Handelsgesetzbuches für Deutschland (1849) 373 Freiheits- und Lösegeldversicherung  110, 178, 216 f., 220, 260, 287, 292 Frieden von Tilsit  102 Friedrich I. (Preußen)  58 Friedrich II. (der Große)  92–94, 101, 113, 118 Friedrich IV. von Sachen-Gotha-Altenburg  142 Friedrich Wilhelm I.  58, 93 Friedrich Wilhelm II.  101 Friedrich Wilhelm (Großer Kurfürst)  58 Friendly Society  69 Froriep, Ludwig von  143 f. Fünfte Hamburger Assecuranz-Compagnie ​ 68, 83, 99, 155–157, 159, 199, 226, 241, 250, 262, 620 Gaedertz, Hinrich  99 f,, 104, 116, 121 f., 173, 180, 196, 229, 233 f., 244 f., 268, 278, 283, 287, 624 Gambling Act  177 Gärtner, Rudolf  29, 299–302, 420, 617 f., 632

663

Gefahranzeige, vorvertragliche  209–225, 486–506 – Allgemeine Rechtsgeschäfts- und ­I rrtumslehre  348, 351, 486–491, 493, 498 – Altersangabe, unrichtige  339–341, 488, 503 f., 614 – Anzeigepflicht  45, 50, 105, ­114–118, 120–122, 138, 155, 158 f., 161 f., ­209–225, 231, 283–286, 288, 290, 292 f., 314, 337–340, 347 f., 351, 354, 356 f., 392–395, 406 f., 413, 486–506, 517 f., 521 f., 563, 571, 605, 611, 618, 622 f. – Bedingung für die Versicherungsleistung ​ 211, 354, 393, 395 – in der Lebensversicherung siehe Gesund­heitsuntersuchung – Kausalitätsbeziehung zum eingetretenen Schaden  347, 354, 487, 494, 500 f. – Kenntnis des Versicherers vom Gefahr­ umstand  357, 393–395, 487 f., 492–494, 496–499 – Kündigungsrecht des Versicherers ​ ­495–504, 618 – Prämienanpassung  339, 501 f. – Verlust des Leistungsanspruchs  221–225, 487, 494, 622 f. – Verschulden des Versicherungsnehmers ​ 120 f., 214, 221, 347 f., 351, 354, 356 f., 393 f., 407, 487–503, 622 f. – Vertragsnichtigkeit  214–217, 283, 286, 337, 340, 347 f., 487, 489 f., 492 f., 498, 611 Gefahrerhöhung  225–240, 506–531 – Allgemeine Rechtsgeschäfts- und Irr­ tumslehre 514–518 – Anzeige der  50, 105, 131, 137 f., 150 f., 226–232, 235–238, 240, 284, 286, 288, 290, 293, 315–318, 324 f., 413, 507–509, 512, 515–518, 520–527, 542 f., 548, 563, 571, 618 – Ausschluss aus dem Versichertenkollek­ tiv siehe Vertragsnichtigkeit – Gewillkürte Gefahrerhöhung  228–231, 236, 238, 284, 507–509, 512, 514–517, 519, 523–528, 609, 630 – in der Lebensversicherung  145, 226, 231 f., 239 f., 512–514, 517, 530 f.

664

Sachverzeichnis

– Kausalitätsbeziehung zum eingetrete­ nen Schaden  235, 237, 318, 325, 520, ­522–524, 527 – Kenntnis des Versicherers von der Ge­ fahrerhöhung  515, 520–523, 527, 543 – Kündigung des Versicherers  145, 237, 238, 315–318, 507, 509, 517 f., 520–527, 543, 548 – Objektive Gefahrerhöhung  228–231, 236, 238, 284, 290, 507–509, 514–517, 519–527, 609, 630 – Prämienanpassung  145, 226, 234 f., 237 f., 240, 315 f., 324 f., 507 – Subjektiv-bewusste Gefahrerhöhung siehe gewillkürte Gefahrerhöhung – Subjektiv-unbewusste Gefahrerhöhung ​ 525–528, 609, 631 – Suspension des Versicherungsschutzes ​ 240, 317, 509, 513, 521 – Umzugsklausel  231 f., 234 f., 237, 516 – Verlust des Leistungsanspruchs  228–231, 235, 237 f., 290, 508 f., 516, 520, 524, 526 f. – Verschulden des Versicherungsnehmers  235, 237, 290, 315–318, 324 f., 509, ­515–517, 520 f., 526 f., 543 – Vertragsnichtigkeit  73, 225 f., 239 f., 315 f., 507 f., 512, 514, 517–519 – Wesentlichkeit der Gefahrerhöhung ​ 528–531 – Zusammenhang zur Verursachung des Versicherungsfalles durch den Ver­ sicherten ​253, 258–260, 284 Gefahr, versicherte  154–168, 254, ­256–262, 288 f., 367, 421–430, 620 Gegenstand, versicherter  154–168, 289, 620 Gemeinnützigkeit  131, 135 General-Feur-Cassa-Ordnung siehe Ham­ burger Generalfeuerkasse Genehmigung, staatliche siehe Konzession Genua 43 Gemeines Recht siehe Römisches Recht Germania (Lebens-Versicherungs-Gesell­ schaft)  304, 334, 337 f., 578 f. Gerste- und Bierentwertungsversicherung ​ 436–439, 607 Geschäftsführung ohne Auftrag siehe nego­ tiorum gestio Geschäftsunfähigkeit 445–449

Gesetz der großen Zahlen  38, 72 Gesetzgebungsverfahren – zum preußischen ALR  90, 95–101, 106 – zum Versicherungsvertragsgesetz  402–410 Gesetz über das Mobiliar-Feuer-Versiche­ rungswesen (1837) siehe Mobiliarfeuer­ versicherungsgesetz, preußisches Gesundheitsuntersuchung  78, 145, 212, 222–224, 287, 442, 445, 447, 505 f., 554, 558, 614, 621 Gewohnheitsrecht, kaufmännisches  42, 45 f., 48, 52, 85, 91, 171, 173 f., 186, 191, 193, 198 f., 202–205, 266 f., 278, 345, 350, 389–391, 434 f., 488, 595 Gierke, Otto von  55, 88, 294 Gilden  30, 53–55, 67, 71, 87 f., 294 f., 616 Gladbacher Feuerversiche­r ungsAktiengesellschaft 304 Gnadenholz 54 Goldschmidt, Levin  87 Gönner, Nikolaus Thadäus von  381 Gotha  126, 133 Gothaer siehe Feuerversicherungsbank für Deutschland zu Gotha; Lebensversiche­ rungsbank zu Gotha Graunt, John  72 Gruner, Ernst  538 Guidon de la Mer  45 Halley, Edmond  72 Hamburg-Bremer Feuer-Versicherungs-Ge­ sellschaft 437 Hamburger Feuerkontrakte  54–56, 67, 295 Hamburger Generalfeuerkasse  56–58, 62 f., 129, 307, 327, 620 Handelsgesetzbuch (1897) siehe Allgemei­ nes Deutsches Handelsgesetzbuch Handelsgewohnheiten siehe Gewohnheits­ recht, kaufmännisches Hand in Hand (Versicherungsgesellschaft) ​ 69 f., 159 Hannover 59 Hansemann, David  135, 280 f. Harburg 57 Hardenberg, Karl August von  131 Hattenhauer, Hans  84, 119 Haverei, Große  171

Sachverzeichnis Hedemann, Justus Wilhelm  389 Heiliges Römisches Reich (deutscher Nation)  92 f., 125 Helmer, Georg  55, 88, 295 Historische Rechtsschule  343–346, 352 Hobelspäneklausel  313, 415, 418 Hofacker, Carl von  364–366, 375, 443, 490 f., 516 f., 568, 580 f., 585, 594 Hofacker-Entwurf siehe Entwurf eines württembergischen Handelsgesetz­ buches Hoffmann, Eduard  403 Hoyaische Provincial-Mobiliar-FeuerVersicherungs-Bank auf Gegenseitigkeit Concordia 304 Huygens, Christian  72 Iduna (Lebens-, Personen-und LeibrentenVersicherungs-Gesellschaft) 304 Imaginärer Gewinn  49, 168–176, 367, 430–440, 607 Industrialisierung  125, 303–305 Interdisziplinarität der Versicherungs­ wissenschaften 294 f, Interesse, versichertes  36, 49, 168–176, 177, 233, 284, 388–390, 430–449, 532, 535, 549 Kaiserliches Aufsichtsamt für Privatver­ sicherung  399–401, 406 f., 427, 437 f., 469, 481, 499, 506, 530, 538, 543, 554 f., 563, 566, 613, 615, 631 Kameralismus  57 f., 60–67, 73, 92, 122, 125, 132, 233, 250, 252, 431, 620 Kapitaldeckungsverfahren 39 Kapitalismus  126, 295, 305 Karenzfrist  339, 340, 513, 551–556, 558, 582–585, 614 Kartell  309 f. Kasuistik des ALR  113–116, 122, 158–160, 168, 180, 213, 218 f., 221, 224, 228 f., 261, 263, 283, 285, 291, 421, 604, 622 f. Kataster, öffentliches  62, 170, 184, ­273–275, 590 f. Kauf bricht nicht Miete  537 Kinderversicherung  447 f. Klumpenrisiken  39, 61 Knoblauch, Friedrich  309

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Koch, Peter  84 f., 105, 147, 290 f., 301, 616 f. Kollektivierung von Risiken  38 f., 72 Köln 135 Kompositversicherung  466 f. Konjunkturversicherung siehe Versicherung auf Kursverluste Kontrahierungszwang 61 Konzession  111, 131 f., 135 f., 305–307, 399–401 Kriegsversicherung  512–514, 531 Kübel, Franz Philipp  350, 387, 391–394, 435, 465, 493, 514 f., 528, 532 Landwehr, Götz  84 f. Langenbeck, Herman  45 Langensalza  126, 133 Langobardisches Lehensrecht  91 Lebensversicherung, kapitalbildende  41, 330–332, 336, 556 f. Lebensver­sicherungs-Societät Hammonia ​ 146 f. Lebens-Versicherungs-Gesellschaft zu Lübeck  141 Lebensversicherungsbank zu Gotha  83, 85, 141–147, 152, 181 f., 208 f., 222–224, 239 f., 248 f., 262 f., 292, 303, 329 f., 366, 441–444, 475, 513, 551–554, 562, 626 Leibniz, Gottlieb Wilhelm  57 Leibrente  71, 76 f., 109, 124 Leipziger Feuer-Versicherungs-Anstalt  128, 134 Leipziger Lebensversicherungsgesellschaft ​ 146 Leonrod, Ludwig Karl von  381 Lewis, William  349, 351 Lex contractus  346, 348, 628 Lex imperfecta siehe Anzeige des Versiche­ rungsfalles Liberalismus, wirtschaftlicher siehe Markt­ wirtschaft, freie Liebig, Eugen Frhr. von  86, 294 London  68, 171 London Assurance Company  69 f., 142, 159 Lösegeldversicherung siehe Freiheits- und Lösegeldversicherung Lübeck 59 Ludwig I. (Bayern)  381 Ludwig XIV.  45

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Sachverzeichnis

Magdeburg  58 f., 102 Magdeburger Feuerversicherungs-Gesell­ schaft  281, 315 f., 347 Magdeburger Lebens-Versicherungs-Gesell­ schaft 304 Makler siehe Versicherungsmakler Malß, Conrad  28, 343, 348, 353 f., 368, 486 Mandatum  390 f., 608 Manes, Alfred  294, 304 Manifesta iniquitas  602 Marine Insurance Act (1746)  169 Marktwirtschaft, freie  304–307, 309, 311, 322 f., 341 Masius, Ernst Albert  309, 343 Massengeschäft  296, 303 f., 307 f., 311, 337, 380, 604, 626 Mazarin, Jules  71 Mehrfache Versicherung  188–197, 458– 470 – Anzeige  189 f., 194–197, 459 f., 463, 468–470 – auf einer Police und auf mehreren ­Policen ​192, 369–371, 461  f. – betrügerische  189, 194, 196, 369, 464, 467, 549 – fahrlässige  189 f., 197 – gesamtschuldnerische Haftung  464– 467, 612 – gleichzeitiger und nachzeitiger Vertrags­ schluss  192 f., 196, 368–371, 461–463, 605 – in der Seeversicherung  44, 47, 49, 184, 190–197, 203, 369–371, 461–463, 605 – Prämienrückerstattung  190, 192, 194, 462 – präventivpolizeiliches Verbot  320, 458 f. – Recht auf Herabsetzung der Versiche­ rungssumme  467 f. – teilschuldnerische Haftung  190, 192– 194, 199, 369–371, 460–462, 464–467 Merkantilismus siehe Kameralismus Methodik der rechtshistorischen Analyse von AVB  147–153, 162, 166, 287–289 Minderjährigkeit siehe Geschäftsunfähig­ keit Missbrauch der Versicherung  58, 62, ­120–122, 283, 314, 318–320, 341, 375, 388, 444, 451 f., 458, 592 f., 598, 611, 622 f.

Mobiliarfeuerversicherungsgesetz – preußisches  175, 319, 360, 401, 431–434, 451 f., 456, 458 f., 593, 610 f. – württembergisches  319, 431 f., 434, 452 f., 593 Moller, Ulrich  99, 104, 116, 229, 268, 278 Monita (zum EAGB)  85, 97–100, 103, 108, 116, 121, 160, 173, 180, 196 f., 203, 229 f., 232–234, 244 f., 267–270, 278 f., 283, 287, 293, 623 f. Monopol, öffentliches  59, 63, 67, 127, 184, 273, 321 f., 327, 621 Mora debitoris  509 f. Mord siehe Tötung des Lebensversicherten durch den Begünstigten Müller-Arnold-Affäre 94 Münster 135 Munzinger, Walther  386 Müssener, Alexander  84 Nachschuss  65, 129, 133, 146 Napoleon Bonaparte  102, 125, 127, 372, 381 Napoleonische Kriege  130, 140, 359 Nationalismus  127, 360 Naturrecht 92 Negotiorum gestio  390 f., 608 Neuanschaffungswert 590 Neugebauer, Ralph  147, 290, 298, 617 Neumann, Caspar  72 Nieberding, Sebastian  29, 300, 403, 408, 615–619 Obliegenheiten  36, 84, 210, 291, 300, ­415–417, 469, 563 f., 612, 618 Oegg, Sebastian  403 Oktroi  131, 305 f. Ordonnanz, Amsterdamer  45 Ordonnance touchant de la marine  45 Osiander, Heinrich Friedrich  371, 462, 533 Pandektenwissenschaft  380, 382 Pascal, Blaise  72 Paternalismus 118–123, 172, 174, 179 f., 188, 196 f., 283, 287, 451, 560, 622 Petty, William  72 Phoenix Fire Assurance Company  69, 86, 125 f., 130 f., 149, 151, 163–165, 199 f., 206–208, 241 f., 247, 272 f., 288 f., 625

Sachverzeichnis Pisa 43 Plan für ein allgemeines Landrecht für alle Staaten (1738)  93 Police, taxierte  51, 264 f., 271, 273, 277–281, 289, 291, 293, 589, 593–599, 607 Prämie  200–209, 472–486 – Einlösungsprinzip  139, 145, 206, 208 f., 300, 473–480, 485, 606, 617 f. – Einmalprämie  50, 78, 111, 131, 201 f., 207, 332, 553 – Leistungsort  484 f., 612 f. – Mahnung  475, 481, 486, 612 – Nachzahlung  475, 477, 479 f. – Nettoprämie siehe Risikoprämie – Quittierung 202–205 – Respektfrist  206–209, 474 f., 477, 481 – Risikoprämie  40, 329 f., 545, 550, 558 – risikoadäquate  32, 40, 50, 69, 74, 77 f., 99, 124 f., 129, 131, 134, 148, 293, 314 f., 322 f., 521, 529, 545, 618 – Rückstand mit der Erstprämie  139, 145, 206, 208 f., 284, 289, 300, 473–480, 549 – Rückstand mit den Folgeprämien  137, 139, 145, 206–209, 337 f., 474–482, 549, 554, 557–559, 562 f., 612, 614 – Stundungsfiktion  477 f., 483 f. – Tarifierung siehe Prämie, risikoadäquate Prämienreserve  329–332, 335, 338–340, 407, 545, 550–563, 579, 583, 614 Prange, Otto  300 Preußisches Seerecht (1627)  204 Principles of European Insurance Contract Law (PEICL)  633 Privatautonomie  183, 348, 350 f., 354, 488, 610, 630 Privilegium (privates Monopol)  132, 134 f. Privilegium de non appellando illimita­ tum ​93 Prolongation  131, 134, 137, 207 f., 234– 236, 238 Prölss, Erich  87, 104, 147, 301, 616 f. Proportionalitätsregel  198, 470–472, 610 Providentia  28, 304, 343, 486 Provinzialrechte, preußische  94 f., 101 Puchta, Georg Friedrich  380 Raiser, Ludwig  148, 152, 287, 298 Rechtsprechung, partikularstaatliche  354

667

Rechtsprodukt  27, 38, 81, 323, 619 Rechtssetzungsmacht der Versicherungs­ gesellschaften  296 f., 299, 308–311, 316, 328, 337, 341, 350, 354, 392, 414, 518, 569, 604, 610–613, 628 f. Rechtsvereinheitlichung  91 f., 360–362, 384–386, 399 Rechtszersplitterung  91, 102, 112 f., 359 f., 372, 399, 633 Recht, dispositives  103, 367, 374 f., 382 f., 388, 394 f., 418, 425–427, 430, 463, 467, 471 f., 534, 611, 628 Recht, halbzwingendes  299, 408, 418 f., 482, 484, 503 f., 506, 519, 536, 555–557, 559, 564, 613, 618, 631 f. Recht, zwingendes  103, 367, 374 f., 382 f., 388, 419, 446, 455, 583 f., 592, 597, 602, 611 Reichsgericht  355, 417, 463, 465, 495, 500, 577, 582, 602, 603, 611 Reichsjustizamt  402–405, 408, 437 f., 446, 457, 464–468, 479 f., 483–485, 496–498, 503 f., 520–526, 528–530, 536–541, 549, 557, 559 f., 562, 569–571, 576 f., 583 f., 597–603, 612 Reichsoberhandelsgericht  355–357, 495, 582, 585, 611 Reichstagskommissionen zum VVG  408 f., 411, 417, 428 f., 447, 471, 526 f., 583–585, 599, 602, 609, 633 Reiseversicherung  141, 512–514, 531 Rellstab, Ernst  398 Rentenversicherung  77–81, 109, 141, 220, 334 Repräsentantenhaftung  252, 577 Restatement of European Insurance ­Contract Law  633 Revisio Monitorum  98, 100 Rheinprovinz, preußische  102, 135, 360, 372 Ringelmann, Friedrich von  381 Risiko, versichertes siehe Gefahr, versicherte Ristorno  186, 189, 192, 194, 231, 371, 383, 453 f., 462, 490 f., 517, 547 f., 605, 607 Roelli-Entwurf siehe Entwurf eines schwei­ zerischen Bundesgesetzes über den Ver­ sicherungsvertrag Roelli, Hans  411–413, 419, 478, 504, 528, 558 f., 561 f., 609, 612, 631

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Sachverzeichnis

Römisches Recht  42, 91, 95, 112, 193, 342, 344, 353, 359, 363, 380, 385, 390 f., 397, 602 Rosin, Albert  86 Royal Exchange Assurance Company  69 f., 159 Rückkauf einer Lebensversicherung  331–333, 551–563, 607, 613 f., 632 Rückversicherung  308, 429 Sächsische Brandkasse (1784)  67 Sächsisches Landrecht  91 Sachverständige Kommentare zum ALR siehe Monita (zum EAGB) Sachverständigenkommissionen zum VVG (1902) 299, 403–405, 438 f., 466, 468, 480, 482 f., 498 f., 501 f., 522–526, 528, 538–541, 549, 560, 571 f., 583 f., 598, 601 Sachverständige (Schadensermittlung)  51, 57, 62 f., 139, 266, 268, 271–275, 281, 585–591, 594 f., 602 f. Savigny, Friedrich Carl von  343, 361 Schaden – Blitzschäden  166, 312, 422–428 – durch bürgerliche Unruhen  163–166, 422 f., 425, 430 – durch Löschen oder Niederreißen  61, 162, 165, 168, 312, 422, 425, 427 f. – Erdbebenschäden 157, 160–166, 422, 427, 429 – Ermittlung und Berechnung  50 f., 57, 63 f., 105, 139, 241, 263–282, 288 f., 367, 382, 413, 585–603 – Explosionsschäden  166, 312 f., 422–428 – Kontradiktorisches Schadensermitt­ lungsverfahren siehe Sachverständige (Schadensberechnung) – Kriegsschäden  61, 157, 160–168, 293, 422 f., 425, 427, 429 – Mittelbare Folgeschäden siehe Chômage­versicherung – Partialschaden siehe Teilschaden – Teilschaden  51 f., 57, 64, 139, 265–269, 271, 274 f., 277, 279, 281 – Totalschaden  51, 57, 64, 106, 139, 264 f., 271, 273–275, 277, 281, 293, 589 – Verpuffungsschaden siehe Explosions­ schaden

Schadensanzeige siehe Anzeige des Versi­ cherungsfalles Schiedsgericht  136, 352 f., 367 Schleswig-Holstein  53, 55, 59, 67, 87–89 Schlosser, Johann Friedrich Heinrich  363 Schmidt, Eberhard  119 Schmitt-Lermann, Hans  294 Schotte, Hans de  44 Schröder, Peter  48 Schuldnerversicherung  176 f., 179, 440 f. Schutztheorie zum VVG  298–302, 419 f., 500 f., 544, 616–618 Seedarlehen siehe foenus nauticum Selbstmord  73, 80, 111, 251 f., 262 f., 287, 338, 340, 383, 408, 409, 554, 557, 578– 585, 607, 614 f., 621, 632 Sieveking, Georg Heinrich  99 f., 104, 173 Societas incidens  193 f. Society for Equitable Assurances on L ­ ives and Survivorships  74, 124, 178, 209, 242, 621 Solidarprinzip siehe Unterstützungsprinzip Sozialversicherung (Bismarck)  32, 398 f. Stadtbrand – Hamburger  56, 307 f, – Londoner 68 Staudinger, Julius von  343, 345 f., 351, 441 Sterbekassen  71, 74 f., 335 f., 407, 447 Sterbetafeln  72, 75 Sterblichkeitsstatistik  71–73, 143, 329 Stettin  59, 322 Strafgesetzbuch 430 Struckmann, Gustav  403 Stuttgarter Lebensversicherungs- und Ersparnis­bank  304, 339 f., 583 Sun Fire Office  69 f., 156 f., 159, 195 Surland, Johann Julius  45 Süßmilch, Johann Peter  73, 75 Svarez, Carl Gottlieb  84 f., 95, 97, 100 Synallagma siehe Austauschverhältnis, vertrag­liches System des Assekuranz- und Bodmerei­ wesens ​130, 149–151, 162, 165, 168, 207, 221, 236, 246, 261, 273, 276 f., 288 f., 293 Taxadeur siehe Sachverständige (Schadens­ ermittlung)

Sachverzeichnis Taxrevision  62, 122, 184, 275, 590 f. Teutonia 304 Thieme, Hans  84, 119 Thorn 322 Todesanzeige siehe Anzeige des Versiche­ rungsfalles Todesstrafe  80, 251 f., 254, 260–263, 383, 578–582 Tonti, Lorenzo  71 Tontine 71 Tötung des Lebensversicherten durch den Begünstigten  338, 444, 556, 577–581, 583, 585 Treueverhältnis, besonderes versicherungs­ rechtliches  351, 356–358, 393 f., 415, 491–501, 506, 514 f., 522, 571, 608, 612, 629–631 Treu und Glauben siehe Treueverhältnis, beson­deres versicherungsrechtliches Trier 135 Überlebensversicherung  141, 334 Übernahmerecht des Versicherers  109, 270 f., 279–282, 286, 289 Überschussverteilung  133, 145 Überversicherung  183–188, 450–458 – anfängliche  186 f., 455 – bewusste  49, 319 f., 455–457 – nachträgliches Eintreten  186 f., 455–458 – Prämienrückerstattung  186, 453–455 – präventivpolizeiliche Kontrolle  319 f., 360, 401, 431 f., 450–454, 611 – Recht auf Herabsetzung der Versiche­ rungssumme 455–457 – Verbot der  103, 186 f., 199, 319, 367, 375, 388, 418, 431 f., 450–456, 592, 611 Umlageverfahren  39, 64 f., 75, 327, 336 Umwandlung in prämienfreie Lebens­ versicherung  332 f., 338, 340 f., ­551–563, 583, 607, 613 f., 632 Unanfechtbarkeit der Police (Lebens­ versicherung)  340, 504, 530 f. Union Fire Office  69 f., 159 Universalrechtskodifikation (ALR)  82, 94, 101, 112, 283, 285, 359, 621 f. Unrichtigkeit, offenbare siehe Manifesta iniquitas Unteilbarkeit der Prämie  544–550, 606

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Unterstützungsprinzip  40, 66, 81, 211, 293, 322, 621 Unterversicherung  49, 183–185, 197–200, 413, 470–472, 610 Unverfallbarkeit der Police (Lebensversi­ cherung) 340 Unvorgreiflicher Plan wegen Verbesserung der Justiz (1746)  93 Unzurechnungsfähigkeit  581–585, 614 Vaterländische Feuerversicherungs-Gesell­ schaft zu Elberfeld  128, 134 Veräußerung der versicherten Sache  ­233–239, 510–512, 531–544 – Anzeige  237, 508, 511 f., 540–544, 609 f. – Cessio legis  233 f., 239, 286, 511 f., 531– 540, 542, 608 f., 629 – Erlöschen des versicherten Interesses  233, 532, 535 f. – Genehmigung der Versicherungsgesell­ schaft  235, 511, 531–534, 539 – Gesamtschuldnerische Prämienhaftung  536–539, 541, 610 – Kündigungsrecht  540–543, 549, 610 – Übertragbarkeit der Versicherung  532, 534–539 – Zusammenhang zur Gefahrerhöhung ​ 233 f., 237 f., 286, 288, 290, 510–512, 531–533, 535, 539, 542 f., 610, 629 Verband deutscher Privat-Feuer-Versiche­ rungs-Gesellschaften (1871)  309, 311 f., 316 f., 403, 406 f., 422 f., 429, 432, 437 f., 450 f., 460 f., 470, 475, 481, 484 f., 487, 508–511, 521, 525, 541, 543, 545–548, 566, 573, 574, 577, 587–590, 599, 601 Verband deutscher Feuer-Versiche­r ungs­ gesellschaften auf Gegenseitigkeit (1896)  309 Verein Deut­scher Lebensversicherungs-­ Gesellschaften (1869)  310, 402 Vereinigung der in Deutschland arbeitenden Privat-Feuerversicherungsgesellschaf­ ten (1900)  309, 469, 496, 499, 530, 543, 566, 567, 572, 599 f., 613, 631 Verfassung des Deutschen Kaiserreiches (1871) 396 Verfassung des Norddeutschen Bundes (1867) 396

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Sachverzeichnis

Vergleiche der Hamburger Assecuradeure ​ 45 Vergleichende Darstellung der verschiede­ nen Lebens-Assekuranz-Gesellschaften siehe Comparative View of the Various Institutions for the Assurance of Lives Verschuldensprinzip 412, 414–418, 468– 470, 479, 482, 495–499, 502, 506, 510, 520, 524, 541, 566, 601, 612 f., 629, 631 Versicherung auf das Leben Dritter  176–183, 440–449 – Einwilligung der versicherten Person ​ 176, 180, 375, 388, 419, 441–449, 611 – Interessekriterium  177 f., 181 f., 366 f., 440–446, 449, 611 – Sonderweg des ALR  179 f., 283, 441, 444–447, 449 Versicherung auf fremde Rechnung  389–391, 608 Versicherung auf Kursverluste  170 f., 173 f., 431 Versicherung au premier risque  471 f. Versicherung mit unbedingter Leistungs­ pflicht 41 Versicherungsagent  132, 304 f., 478, ­483–485, 613 Versicherungsaufsicht  318–320, 378, ­397–402, 406 f., 436 f., 481, 494 Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG)  306, 320, 399–402, 406, 437, 551 Versicherungsmakler  43, 191, 195, 203 f., 369 Versicherungsperiode  137, 208, 473, ­545–550 Versicherungsstatistik  308, 310, 546 Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit ​ 34, 63, 69, 128 f., 132 f., 309, 374 Versicherungszwang siehe Beitrittszwang Vertragsverlängerung, stillschweigende  401 Vertrag zugunsten Dritter  390, 397 Verursachung des Versicherungsfalles durch den Versicherten  165, 229 f., 233, 249–263, 284, 383, 401, 572–585, 606 Verursachung des Versicherungsfalles durch Dritte  252–262, 286, 573, 575, 577–581, 583, 585, 623

Verzug siehe Mora debitoris; Prämie, Rück­ stand mit der Erstprämie; Prämie, Rück­ stand mit den Folgeprämien Victoria zu Berlin  340 Vierte Hamburger Assecuranz-Compagnie ​ 68, 83, 155, 226, 268 Volenti non fit iniuria  180 Volksversicherung 561 Vorläufige Instruction zur Etablierung der Gesetz-Commission (1780)  95 f., 112 f. Wager Policy siehe Wettversicherung Warranty  210 f., 225 f., 291, 486 Westminster Fire Office  69 Wetboek van Koophandel (Niederlande) ​ 345, 365–371, 375, 378, 425, 490, 516, 533, 547, 568, 580 f., 592–595, 605, 627 Wettversicherung  169, 177 Wertverlust  67, 265–267, 275 f. Weskett, John  70 Wettbewerb, marktwirtschaftlicher siehe Marktwirtschaft, freie Wiederaufbaupflicht  54, 66, 233, 325 f., 620 f. Wiederbeschaffungswert/-aufwand  272 f., 590–593, 599 f., 607 Wiener Kongress (1815)  102, 125, 135, 359, 380 Wiener Schlussakte  385 Wittwen-Verpflegungs-Anstalt der Calen­ bergischen Landschaft  74 Witwen- und Waisenkassen  74, 76–80, 111, 140, 143, 153, 176, 181, 205 f., 211 f., 219 f., 260 f., 335 f., 621, 624 Württembergische Privat-Feuerversiche­ rungs-Gesellschaft  128, 366, 508, 511, 516 Wüstendörfer, Hans  85, 116, 160 Zeitwert  590, 592, 599, 600, 607 Zollverein, Deutscher  363 f., 373 Zünfte  53, 71 Zweikampf siehe Duelltod Zwierlein, Cornel  294