Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit: Theorie und Methode einer öffentlichen Geschichte [1. Aufl.] 978-3-658-24891-8;978-3-658-24892-5

Die Geschichtswissenschaft steckt in der Krise. Ist sie dabei, ihre Deutungshoheit über die Geschichte endgültig zu verl

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German Pages XXV, 195 [210] Year 2019

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Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit: Theorie und Methode einer öffentlichen Geschichte [1. Aufl.]
 978-3-658-24891-8;978-3-658-24892-5

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXV
Front Matter ....Pages 1-1
Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft (Thomas Walach)....Pages 3-21
Das historische Unbewusste (Thomas Walach)....Pages 23-37
Das kollektive Gedächtnis als politischer Vergangenheitskonsens (Thomas Walach)....Pages 39-52
Revision und Geschichtsbewusstsein (Thomas Walach)....Pages 53-69
Front Matter ....Pages 71-71
Die Geschichtsarbeit am Werk (Thomas Walach)....Pages 73-115
Gesellschaft ohne Geschichte (Thomas Walach)....Pages 117-129
Wir Historisten (Thomas Walach)....Pages 131-140
Front Matter ....Pages 141-141
Was tun? Plädoyer für eine Geschichte im Dienst der Gegenwart (Thomas Walach)....Pages 143-156
Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte (Thomas Walach)....Pages 157-177
Back Matter ....Pages 179-195

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Thomas Walach

Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit Theorie und Methode einer öffentlichen Geschichte

Das Unbewusste und die ­Geschichtsarbeit

Thomas Walach

Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit Theorie und Methode einer ­öffentlichen Geschichte

Thomas Walach Universität Wien Wien, Österreich

ISBN 978-3-658-24891-8 ISBN 978-3-658-24892-5  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer VS © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Einleitung

Rückblickend betrachtet gab der Morgen des 9. November 2016 den Anstoß zur Entstehung dieses Buches. Ich war in der Nacht zuvor in der Gewissheit zu Bett gegangen, dass Hillary Clinton den Herbsttag, der gerade über Amerika heraufdämmerte, als President-elect der USA beenden würde. Sie war nicht meine Wunschkandidatin, erschien mir aber jedenfalls als das deutlich kleinere Übel im Vergleich zu ihrem Gegner Donald Trump. Dass ein notorischer Angeber, der sich brüstete, gewohnheitsmäßig Frauen sexuell zu belästigen1 und damit prahlte, er könne auf offener Straße einen Mord begehen, ohne einen einzigen Wähler zu verlieren2, der 45. Präsident der USA werden könnte, wäre mir nicht im Traum eingefallen. Die Rede ist schließlich von einem Mann, der seine Anhänger öffentlich angestachelt hatte, aus Gegendemonstranten „die Scheiße rauszuprügeln“3 und der ernsthaft die Ansicht geäußert hatte, man könne in anderthalb Stunden alles über Atomwaffen und ihren Einsatz lernen, was es darüber zu wissen gebe.4

1Vgl.

https://www.nytimes.com/2016/10/08/us/donald-trump-tape-transcript.html, zuletzt auf­ gerufen am 21.05.2018. 2Vgl. https://www.cnn.com/2016/01/23/politics/donald-trump-shoot-somebody-support/index. html, zuletzt aufgerufen am. 21.05.2018. 3Vgl. Nolan D. McCaskill, Trump urges crowd to ‚knock the crap out of‘ anyone with tomatoes‘, in: „Politico“, 01.02.2016. Online verfügbar unter: https://www.politico.com/ blogs/iowa-caucus-2016-live-updates/2016/02/donald-trump-iowa-rally-tomatoes-218546, zuletzt aufgerufen am 21.05.2018. 4Vgl. Lois Romano, Donald Trump, Holding All the Cards The Tower! The Team! The Money! The Future!, in: „Washington Post“, 15.11.1984. Online verfügbar unter: https:// www.washingtonpost.com/archive/lifestyle/1984/11/15/donald-trump-holding-all-the-cardsthe-tower-the-team-the-money-the-future/8be79254-7793-4812-a153-f2b88e81fa54/?utm_ term=.d960373d3c70, zuletzt aufgerufen am 21.05.2018. V

VI

Einleitung

Anstatt die Berichterstattung über ein Rennen zu verfolgen, über dessen Ausgang ich nicht den geringsten Zweifel hegte, ging ich zu Bett. Ich sollte ein böses Erwachen erleben. Dabei hatte es genügend Hinweise gegeben – die Lage der liberalen Demokratie in Europa zum Beispiel. Die zunehmende Erosion gesellschaftlichen Konsenses und damit der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs etablierten politischen Landschaft war längst unübersehbar geworden. Parteien, die Rassismus, Antisemitismus und eine Vorliebe für autokratische Staatsformen offen vor sich her trugen, oder außer inhaltsleeren Versatzstücken populistischer Rhetorik gar kein politische Programm zu haben schienen, standen hoch in der Wählergunst – das heißt, in der Gunst der vergleichsweise Wenigen, die aus verschiedenen Gründen überhaupt noch gewillt waren, an Wahlen teilzunehmen. Als Historiker hätte mich vielleicht auch Trumps Slogan „Make America Great Again“ stutzig machen müssen. Dieser 36 Jahre alte Wahlspruch, den schon Ronald Reagan verwendet hatte5, passte so gut zu einem der klassischen Topoi geschichtlicher Narrative, nämlich dem von Dekadenz und Fall von Imperien, dass ich ihn als historisches Klischee abgetan hatte. Eine vage geschichtspolitische Emotionalisierung, wie sie in diesem Slogan zum Ausdruck kam, könnte bestenfalls einen kleinen Teil der Wähler ansprechen, niemals aber – so dachte ich – genügend Überzeugungskraft entwickeln, um eine absolute Mehrheit (und sei es auch an Wahlmännerstimmen) zu gewinnen. Dabei erwies sich gerade die Verknüpfung der Appellation an das historische Unbewusste mit politischem Handeln als entscheidender Faktor dieser und vieler anderer Wahlentscheidungen. Eine These dieses Buches lautet, dass die gegenwärtige missliche Lage liberaler Demokratien in Europa, insbesondere Deutschlands und Österreichs, die unter anderem durch (im historischen Vergleich) niedrige Wahlbeteiligung, den Niedergang der Sozialdemokratie sowie den Aufstieg rechter und extrem rechter Kräfte und neoautoritärer Strömungen gekennzeichnet ist, mit dem Niedergang des Historismus und einer darauf folgenden Krise der Geschichtswissenschaft zu tun hat. Eine wesentliche Ursache dieser Krise ist das mangelnde Vermögen nachhistoristischer Geschichtswissenschaft, Narrative zur Verfügung zu stellen, die anschlussfähig für die Prozesse des kollektiven historischen Unbewussten sind. Das hat Konsequenzen für die historische Identität jedes Einzelnen.

5Donald

Trump wäre nicht Donald Trump, würde nicht behaupten, das sei ein sehr guter Slogan „which I came up with“ (zit. n. Michael Kranish/Marc Fischer, Trump Revealed. The Definitive Biography of the 45th President, New York 2016, S. 4.).

Einleitung

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Geschichtspolitik ist stets Identitätspolitik, denn subjektive Identitäten sind nicht zuletzt Resultat von Einstellungen zu Kollektiven und der Zugehörigkeit zu ihnen. Diese oft unbewussten Haltungen und Wünsche verdichten sich in bestimmten historisch besetzten Objekten oder Narrativen. So trugen zum Beispiel während der israelischen Besatzung des Gazastreifens viele seiner Bewohner kleine Steine bei sich, die in den Farben der palästinensischen Flagge bemalt waren. Wenn sie einen Stein berührten, sollte er sie an ihre ererbte nationale Identität erinnern. Vamik Volkan, der als psychoanalytisch geschulter Vermittler für die UNO tätig war, berichtete von einem Erlebnis, das die Bedeutung der Steine illustriert: „Solange ich das hier bei mir trage“, rief ein palästinensischer Verhandler seinem israelischen Gegenüber bei einem Treffen im Jahr 1984 zu, während er nach einem solchen Stein in seiner Tasche tastete, „könnt ihr mir meine Identität nicht wegnehmen.“6 Es ist wichtig für Historiker zu verstehen, dass Geschichte nicht allein Ergebnis wissenschaftlicher Forschung ist, sondern für die Mitglieder sozialer Gruppen eine ähnliche Funktion erfüllt wie die Steine in den Taschen der Palästinenser. Als narrative Konstruktion von kollektiv geteilter Vergangenheit erzeugt die Geschichte Identität. Das Argument der politisch-gesellschaftlichen Bedeutung historischer Identität fasste ausgerechnet deren erbittertster Gegner Jürgen Habermas mit brillanter analytischer Klarheit zusammen: „Ohne vitale Erinnerung an die unter Denkverbot geratene nationale Geschichte kann sich ein positives Selbstbild nicht herstellen. Ohne kollektive Identität schwinden die Kräfte der sozialen Integration. Auf einer schmaler werdenden Konsensgrundlage verschärft sich dann der Pluralismus der Werte und Interessen, zerstört nach innen den Frieden und nach außen die Berechenbarkeit.“7 Die These, dass Geschichte die Beziehung von Subjekt und Kollektiv maßgeblich beeinflusst und deshalb nicht widerstandslos einer rein gewinnorientierten Histotainment-Vermarktungsmaschinerie, populistischer Demagogie und den revisionistischen Bestrebungen der sogenannten Neuen Rechten überlassen werden darf, wird über drei Jahrzehnte nach Jürgen Habermas‘ Polemik im Rahmen

6Vgl.

Vamik Volkan, Bloodlines. From Ethnic Pride to Ethnic Terrorism, Boulder 1998, S. 82–83. 7Jürgen Habermas, Zum neokonservativen Geschichtsverständnis und zur Rolle der revisionistischen Geschichtsschreibung in der politischen Öffentlichkeit (Vortrag zur Anhörung über die Errichtung des Deutschen Historischen Museums vor der SPD-Bundestagsfraktion 1986; (zit. n. Christoph Stölzl (Hg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt a. M./Berlin 1988, S. 336).

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des Historikerstreits8 wohl niemand ernstlich bestreiten. Habermas‘ Kritik an Michael Stürmers FAZ-Artikel über „Geschichte in geschichtslosem Land“9, die sich ausgerechnet an die simple, wenn auch schwülstig vorgetragene Feststellung richtete, dass Geschichte als identitätsstiftender Faktor für die Bundesrepublik politisch bedeutsam sei, ist, wie Martin Broszat andeutete, wohl nur im Kontext einer überhitzten und überempfindlichen Debatte zu verstehen.10 Dass die Geschichte im Rahmen ihrer identitätsstiftenden Funktion nicht als Ersatzreligion herhalten, also Gegenstand von Verehrung sein soll, versteht sich von selbst; dass sie es allerdings kann und dann das Potenzial erhält, zu den übelsten Zwecken missbraucht zu werden, ist ebenso richtig. So ist es etwa keineswegs Zufall, dass Donald Trump seinen Plan, Amerika wieder zu historischer Größe zu verhelfen, indem er allen Muslimen den Zutritt zum Land verwehrt, erstmals an einem 07. Dezember – Pearl Harbour Day – und an Bord des alten Pazifikkrieg-Trägers USS Yorktown der Öffentlichkeit verkündete.11 Die identitätsstiftende Kraft von Geschichte zu übersehen oder gar zu leugnen ist mindestens naiv, vielleicht sogar fahrlässig. Mit Michael Stürmers Arbeiten und politischen Ansichten – das muss eine ganze Generation nach Ausbruch des Historikerstreits vielleicht immer noch gesagt werden – verbindet dieses Buch dennoch außer der Überzeugung, dass Gesellschaften zu ihrem Funktionieren unter anderem auf einigermaßen konsensfähige Vorstellungen über ihre Vergangenheit, also eine gemeinsame Geschichte, angewiesen sind, sehr wenig. Geschichte dabei als reines Produkt bewusster Reflexion über Vergangenheit zu verstehen, greift allerdings zu kurz. Das Unbewusste hat ebenfalls großen Anteil an der Entstehung historischer Identität. Zu ihrem Leidwesen ist

8Vgl.

Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung. Die apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung, in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/ Zürich 1987 (S. 62–76), insbes. S. 62–63. 9Michael Stürmer, Geschichte in geschichtslosem Land, in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1987 (S. 36–38). 10Vgl. Martin Broszat, Wo sich die Geister scheiden. Die Beschwörung der Geschichte taugt nicht als nationaler Religionsersatz, in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/ Zürich 1987 (S. 189–195), S. 193. 11Vgl. Donald Trump, Rede zum Pearl Harbour Day, 07.12.2015. Online verfügbar unter: https://raw.githubusercontent.com/BBischof/speaksLike/master/donald-trump/transcriptdonald-trumps-remarks-in-mount-pleasant-south-carolina.txt, zuletzt aufgerufen am 21.05.2018.

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jedoch der Geschichtswissenschaft jener Prozess, durch den aus dem historischen Unbewussten bewusste Geschichte gemacht wird, stets fremd geblieben. In Anlehnung an Freuds Konzept von der Traumarbeit könnte man diesen also noch weitgehend unbekannten Vorgang als Geschichtsarbeit bezeichnen. Ein vertieftes Verständnis der Geschichtsarbeit bietet der Geschichtswissenschaft die Möglichkeit, jenen großen weißen Fleck von ihrer theoretisch-methodologischen Landkarte zu tilgen, den die Terra incognita des Unbewussten gegenwärtig darstellt. Beinahe alle wichtigen Strömungen in der Geschichte der Geschichtswissenschaft sträubten sich gegen das Unbewusste. Das gilt für die aufgeklärte Geschichtsphilosophie und ihre Sicht auf historische Subjekte und soziale Zusammenhänge als vernunftgeleitet ebenso wie für den Historismus. Dieser begriff sich zwar als verstehende Wissenschaft, war aber gleichzeitig so positivistisch, dass er trotz seiner starken Hinwendung zu Individualität und Biografie mit dem empirisch kaum fassbaren Unbewussten nichts anzufangen wusste. Die Sozialgeschichte sagte der Psychoanalyse sogar explizit ab, da sie den engen theoretischen Zusammenhang von historistischer Individualgeschichte und dem Unbewussten als gleichermaßen irreführend wie bedrohlich empfand. Die strukturalistische und poststrukturalistische Geschichtswissenschaft kamen hingegen dem Unbewussten recht nahe, indem sie postulierten, dass es gesellschaftlich wirksame Instanzen gebe, die sich der Kontrolle durch das Subjekt entzögen – die Struktur, den Diskurs etc. Eine solche Instanz im Subjekt selbst zu suchen widersprach jedoch ihrem Programm, das bis zu den „Technologien des Selbst“12 deutlich auf die Abwendung vom Subjekt als historischem Akteur zielte. Es war die neue Kulturgeschichte, die als Geschichte der Emotionen, Mentalitäten und des kollektiven Erinnerns das Unbewusste entdeckte, ohne danach gesucht zu haben und ohne es als solches zu benennen. Entsprechend suchte die Kulturgeschichte weder den Anschluss an die psychoanalytische Theorie, noch versuchte sie, ein eigenes theoretisch-methodisches Instrumentarium zu entwickeln, um die Rolle des Unbewussten in der Geschichte zu untersuchen. Die einzige historische Teildisziplin, die sich explizit und einigermaßen systematisch mit der Psychoanalyse auseinandersetzte, war methodologisch ­ ­ausgerichtet: Die Oral History. „Ein Gespenst geht um in den Hallen der Universitäten: das Gespenst der Oral History“13, hatte Alessandro Portelli über die Methode geschrieben, von der man noch in den 1980er Jahren erwarten konnte,

12Michel

Foucault, Technologien des Selbst, Frankfurt a. M. 1993. Portelli, The Peculiarities of Oral History, in: History Workshop 12/1981, S. 96 (Übers. TW).

13Alessandro

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sie werde die Geschichtswissenschaft in ihren Grundfesten erschüttern. Dass Geschichte im Gespräch entstehen könne, erschien tatsächlich revolutionär. Für die konkrete Durchführung geschichtswissenschaftlicher Interviews drängte sich der Vergleich mit dem psychotherapeutischen Gespräch auf. Aus der Abgrenzung von therapeutischer Gesprächsführung zog die Oral History wichtige methodologische Lehren; tiefenpsychologische Theoriefragmente dienten der Oral History in ihrer Formierungsphase als Stütze.14 Da jedoch die Ziele von therapeutischem und geschichtswissenschaftlichem Gespräch so unterschiedlich sind, emanzipierte sich die Oral History schnell von ihrer Geburtshelferin und nahm später kaum noch auf die Psychoanalyse Bezug. Die Erkenntnis, dass die Geschichtswissenschaft große Schwierigkeiten hat, sich mit dem irrationalen Moment unbewusster Prozesse der Erzeugung von Geschichtsbildern auseinanderzusetzen, ist nicht neu. Jörn Rüsen und Jürgen Straub stellten 1998 ihrem Band über psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein eine programmatische Bemerkung voran: „Bislang sind am Geschichtsbewußtsein fast durchgängig nur Strukturen, Prozeduren und Funktionen analysiert worden, die den Subjekten bewusst sind. […] Es gibt also ein großes Forschungs- und Wissensdefizit hinsichtlich der nicht-intentionalen, nicht willentlich gesteuerten mentalen Prozeduren des Geschichtsbewußtseins, des Unbewußten. Jeder weiß, daß es historische Verdrängungen gibt, nicht nur bei Individuen in bezug auf die eigene Biographie, sondern auch bei Gruppen, Gesellschaften und möglicherweise auch bei ganzen Kulturen in bezug auf eine Vergangenheit, die auch jenseits der Lebenszeit ihrer Mitglieder liegen kann.“15 Seit der Veröffentlichung dieses Textes sind nunmehr zwanzig Jahre vergangen. Dieses respektable Alter merkt man ihm nicht an, denn das von Rüsen und Straub identifizierte Desiderat besteht unvermindert weiter. Waren jene Bemühungen um das historische Unbewusste, die Mitte der 1990er Jahre von der Universität Bielefeld ausgingen und unter anderem in den zitierten Sammelband mündeten, einfach der letzte in einer langen Reihe von Fehlschlägen beim Versuch, Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse nachhaltig und produktiv zu verbinden? Und würde dieser Umstand nicht den Schluss zulassen, dass die beiden Disziplinen zwar dasselbe Erkenntnisinteresse – Wissen über die

14Vgl.

Lutz Niethammer, Einführung, in: Lutz Niethammer (Hg.), Lebenserfahrung und kollektives Gedächtnis. Die Praxis der „Oral History“, Frankfurt a. M. 1985, S. 11. 15Jörn Rüsen/Jürgen Straub, Vorwort, in: Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein (Erinnerung, Geschichte, Identität Bd. 2), Frankfurt a. M. 1998, S. 9–10.

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Vergangenheit – vereint, sie aber theoretisch und methodisch zu disparat sind, um einander helfen zu können? Kurz gesagt: Ist es an der Zeit, den interdisziplinären Versuch der beiden wichtigsten Wissenschaften von der menschlichen Vergangenheit aufzugeben? Nein. Für dieses entschiedene Nein gibt es einen konkreten Anlass: Noch vor zwanzig Jahren mochte vielleicht der Wunsch, das historische Unbewusste in die Geschichtswissenschaft einzubeziehen, als theoretische Spielerei ohne konkreten Nutzen erscheinen. Die Selbstgenügsamkeit der Geschichtswissenschaft, die letztlich Resultat historischen Selbstbewusstseins war, sorgte dafür, dass viele Historikerinnen und Historiker den Eindruck hatten, in ihrem methodisch-theoretischen Werkzeugkasten fehle nichts. Diese trügerische Ruhe spiegelte den wissenschaftlichen Zeitgeist. Obwohl die meisten Historiker die Rede vom Ende der Geschichte belächelten, hatten sie die zugrunde liegende Anschauung verinnerlicht. Die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts schien nach dem Zusammenbruch des „real existierenden Sozialismus“ alternativlos. Im öffentlichen Geschichtsbewusstsein des wiedervereinten Deutschlands schien das hegemoniale Narrativ, das deutsche Identität konstituierte – das verantwortungsvolle Verhältnis der nachgeborenen Deutschen zum Holocaust – fest verankert. In keinem anderen Land, besonders nicht in Österreich, war der breite antifaschistische Konsens so stark ausgeprägt. Der Historikerstreit der 1980er Jahre hatte, so hart er auch in Teilen der Disziplin geführt wurde, kaum die Oberfläche öffentlicher Geschichtswahrnehmung gestört. (Er hatte jedoch Elementen des historischen Unbewussten Ausdruck verliehen, ohne dass der Begriff des Unbewussten dabei eine Rolle gespielt hätte.) In Österreich schien das besondere Modell der Konsensdemokratie fest im Sattel zu sitzen. Das Proporzsystem, auf dem es beruhte, reichte aus der Politik tief in den Alltag der Österreicher. Obwohl das zentrale historische Narrativ österreichischer Identität, die Opferthese, gegen Ende der 1980er ins Wanken geriet, war noch nicht abzusehen, dass damit auch das politische System des Landes nur noch auf tönernen Beinen stand. Heute – das Ende des ersten Viertels des 21. Jahrhunderts nähert sich mit großen Schritten – erscheint dieser Zustand beinahe schon einer fernen Vergangenheit anzugehören. Die liberale Demokratie im Westen geriet unter Druck. Gelenkte Demokratien und autoritäre Systeme sind weltweit im Aufschwung und haben sogar die Europäische Union erreicht. Anlässlich seiner Wiederwahl zum ungarischen Regierungschef im Mai 2018 erklärte Viktor Orbán das „Ende der

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liberalen Demokratie“16 für gekommen. Diese Haltung wird von der politischen Elite Europas toleriert: Orbáns „Fidesz“ ist zusammen mit Parteien wie der CDU, der CSU oder der ÖVP Mitglied der seit 1999 stärksten Fraktion im Europäischen Parlament, der „Europäischen Volkspartei“. Kurz vor der Wahl hatte Orbán in seiner Rede zum 170. Jahrestag der Revolution von 1848 die Migrationspolitik der Europäischen Union mit dem verglichen, was die nationalistische Rechte Ungarns als schandhaftes Diktat der Pariser Vorortverträge empfindet: „Die Situation ist die, meine lieben Freunde, dass man uns unser Land nehmen will. Nicht mit einem Federstrich, wie vor hundert Jahren in Trianon.“ Nun verlange man, dass die Ungarn ihr Land „freiwillig anderen übergeben sollen“. Sich und seine Anhänger charakterisierte Orbán mit Bezug auf die bevorstehenden Parlamentswahlen als „Erben der Revolutionäre und Freiheitskämpfer von 1848“17. Dort, wo die Demokratie als gelebte Staatsform noch weitgehend unhinterfragt geblieben ist, ziehen populistische Bewegungen einen großen Teil der Wählerschaft an. In Österreich stieg in den 1980er Jahren die rechtsextreme FPÖ von einer Kleinpartei zur staatstragenden Kraft auf. In Deutschland, das sich wegen seines besonderen Verhältnisses zu eigenen Geschichte länger als andere europäische Staaten gegen vergleichbare Tendenzen resilient zeigte, zog die AfD 2017 als stärkste Oppositionspartei in den Bundestag ein. Gleichzeitig kam es zu einer Delegitimation etablierter Parteien, insbesondere der Sozialdemokratie, in ganz Europa. Diese politischen Veränderungen wurden von Umbrüchen öffentlicher Geschichtsbilder begleitet. Die neuen politischen Kräfte vertreten teils offen revisionistische Tendenzen, die auf breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit stoßen. Die geschichtspolitischen Strategien der beteiligten Akteure funktionalisieren dabei sehr effektiv das historische Unbewusste, um Wünsche und Ressentiments, die auf das Engste mit geschichtlicher Identität verbunden sind, auf Felder gegenwärtiger Politik zu richten. Die Geschichtswissenschaft scheint ihrerseits nicht in der Lage, wirksam gegen diese Entwicklung vorzugehen. Mitunter verstärken sogar populärwissenschaftliche Arbeiten noch revisionistische Strömungen. Wir stehen gegenwärtig vor der Situation, dass der Geschichtswissenschaft die

16Orbán

sieht „Ende der liberalen Demokratie“, in: „dw.com“, 10.05.2018. Online verfügbar unter: http://www.dw.com/de/orban-sieht-ende-der-liberalen-demokratie/a-43732805, zuletzt aufgerufen am 18.05.2018. 17Viktor Orbán, Rede anlässlich des 170. Jahrestags der ungarischen Revolution von 1848, in: „visegradpost.com“, 19.03.2018. Online verfügbar unter: https://visegradpost.com/ de/2018/03/19/feierliche-rede-von-viktor-orban-anlaesslich-des-170-jahrestags-der-ungarischen-revolution-von-1848-vollstaendige-version/, zuletzt aufgerufen am 18.05.2018.

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Hegemonie über den historischen Diskurs zu entgleiten droht. „Die zuständigen akademischen Disziplinen“ spielten, wie Sabine Horn und Michael Sauer im Vorwort zu ihrem Band über Geschichte und Öffentlichkeit treffend postulierten, „bei der öffentlichen Präsentation von Geschichte keine zentrale Rolle.“ Über die Geschichtswissenschaft stellten sie lapidar fest: „Deren Themen und Herangehensweisen sind zumeist andere als jene, denen das öffentliche Interesse gilt.“ Die Kommunikation von geschichtswissenschaftlichen Forschungsergebnissen und Meinungen fände „vornehmlich in einschlägigen Kreisen und in spezifischen Formaten statt.“18 Dem ist uneingeschränkt zuzustimmen. Angesichts der Tatsache, dass, wie Wolfgang Mommsen es ausdrückte, „das geschichtliche Bewusstsein, zu dessen Sachwalter vornehmlich die professionelle Historikerschaft berufen ist, je nach den Umständen Identitäten zu begründen imstande ist“19, muss dieser Bedeutungsschwund der Geschichtswissenschaft Anlass zur Sorge geben. Um Mittel und Wege zu finden, wie die Geschichtswissenschaft wieder breite Akzeptanz für ihre Anliegen und Ergebnisse erreichen kann, muss sie die Beziehung zwischen dem historischen Unbewussten und den historischen Narrativen untersuchen. Die zwanzig Jahre alte Forderung Jörn Rüsens und Jürgen Straubs erhält unter diesen Vorzeichen neue Aktualität und vor allem akute Qualität. Was in den 1990er Jahren noch als theoretische Überlegung ohne praktische Relevanz abgetan werden konnte, könnte gegenwärtig große geschichtspolitische Bedeutung gewinnen. Dabei könnte der Geschichtswissenschaft eine Entwicklung des Fachs zugutekommen, die zurzeit im Aufwind ist: Mit der öffentlichen Geschichte oder Public History etabliert sich im deutschsprachigen Raum gerade eine Sichtweise auf die Produktion historischer Narrative, die exakt am Schnittpunkt von Wissenschaft, öffentlichen Geschichtsbildern und Geschichtspolitik angesiedelt ist. Der Schwerpunkt der Public History liegt traditionell in der Geschichtsdidaktik. Die Öffnung der Geschichtswissenschaft gegenüber Laien wird vordringlich als Beteiligung „an der Entwicklung populärer Geschichtsbilder“20 verstanden. Als ihre Methoden versteht sie ihren spezifischen Umgang mit der

18Sabine

Horn/Michael Sauer, Vorwort, in: Sabine Horn/Michael Sauer (Hg.), Geschichte und Öffentlichkeit. Orte – Medien – Institutionen, Göttingen 2009 (S. 9–11), S. 9–10. 19Wolfgang J. Mommsen, Die moralische Verantwortlichkeit des Historikers, in: Kristin Platt/Mihran Dabag (Hg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 139. 20Martin Lücke/Irmgard Zündorf, Einführung in die Public History, Göttingen 2018, S. 14.

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Vermittlung geschichtswissenschaftlichen Wissens durch Oral oder Living History und verschiedenen Quellengruppen.21 Das Konzept der „geteilten Autorität“22 über die Geschichte, also die Vorstellung, dass auch Laien wirksame Narrative über Vergangenheit entwickeln (sollen), tritt im verbreiteten Verständnis von Public History gegenüber deren geschichtsdidaktischen Dimensionen in den Hintergrund. Wo die Public History mit der Öffentlichkeit über deren Belehrung hinaus zusammenarbeitet, erfolgt das meist unsystematisch. Ein stärkeres Engagement der Public History für geteilte Autorität stellt daher ein wichtiges Desiderat dar.23 Ein Ziel dieser Arbeit ist, das Konzept der geteilten Autorität zu radikalisieren und mit den bisher weitgehend fehlenden methodisch-theoretischen Grundlagen auszustatten. Während die Public History gleichsam intuitiv die unbewussten Anteile des Verhältnisses von Gesellschaft und Geschichte bearbeitet, fehlt auch ihr das methodisch-theoretische Rüstzeug, jene Beziehung zu bearbeiten, durch die aus dem kollektiven historischen Unbewussten ein öffentliches Geschichtsbild wird. Dieser Prozess lässt sich, wie schon eingangs erwähnt, unter Rückgriff auf das Vokabular der Traumanalyse als Geschichtsarbeit bezeichnen. Die Traumarbeit erzeugt aus den latenten Traumgedanken, also den unbewussten Wünschen und Vorstellungen des Subjekts, den manifesten Traum mit seinen oft verworrenen, rätselhaften Bildern, an die wir uns nach dem Erwachen erinnern. Analog dazu erzeugt die Geschichtsarbeit aus den unbewussten Teilen des kollektiven Gedächtnisses historische Narrative. Die Geschichte als Traum ist eine ungemein produktive Metapher. Mit ihrer Hilfe lassen sich Entwicklungen und Tendenzen kollektiver Vorstellungen über Vergangenheit beschreiben und erklären, die sonst unbeachtet und unerklärlich blieben, weil sie zum gesellschaftlichen Unbewussten gehören und sich damit der traditionellen Analyse von „Strukturen, Prozeduren und Funktionen […], die den Subjekten bewusst sind“, entziehen. Durch aktive und lebensweltlich konkrete Einbindung der Öffentlichkeit in den Prozess der Produktion historischer Narrative könnte der nachlassenden gesellschaftlichen Orientierungskraft der Geschichtswissenschaft gegengesteuert werden. Es geht also auch um eine Erneuerung der Geschichtswissenschaft, die sich seit dem Ende des Historismus in der Dauerkrise befindet.

21Vgl.

Martin Lücke/Irmgard Zündorf, 2018, S. 61–88. Cauvin, Public History, A Textbook of Practice, New York 2016, S. 14. 23Vgl. Barbara Franco, Decentralizing Culture. Public History and Communities, in: James B. Gardener/Paula Hamilton (Hg.), The Oxford Handbook of Public History, New York 2017 (S. 69–86). 22Thomas

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Mit welcher Berechtigung lässt sich überhaupt von einer Krise der Geschichtswissenschaft nach dem Historismus sprechen? Ist nicht der Historismus mit einer überkommenen Denkweise verknüpft, von der sich die Geschichtswissenschaft gerade erst, und nur mithilfe anderer Disziplinen wie der Ethnologie, der Philosophie und der Soziologie, mühsam emanzipieren konnte? Es wäre in der Tat fatal, eine Rückkehr zum Positivismus historistischer Geschichtswissenschaft zu versuchen. Die Überzeugung, dass die Vergangenheit ihre Geheimnisse schon enthüllen werde, wenn man die Quellen nur lange genug ausquetscht, erscheint uns heute naiv, weil wir zu wissen glauben, dass es „die Vergangenheit“ als von ihrer Betrachtung und damit von der Gegenwart unabhängige Instanz nicht gibt. Aber – und das ist ein großes Aber – die gesellschaftliche Aufgabe der Wissenschaft besteht nicht in erster Linie im Erkenntnisgewinn an sich, sondern darin, Narrative zur Ordnung lebensweltlicher Wahrnehmungen zur Verfügung zu stellen.24 Genau das, so die Ausgangshypothese dieses Buches, ist die nachhistoristische Geschichtswissenschaft nicht länger zu leisten imstande. Zwar erzeugt sie nach wie vor Narrative, doch diese wirken nicht länger überzeugend genug, um hegemoniale Geschichtsbilder und darauf beruhende kollektive Identitäten zu stiften. Wie die Quantenphysik im Vergleich mit Newtons Gesetzen scheinen die Forschungen nachhistoristischer Geschichtswissenschaft keine große lebensweltliche Relevanz und Orientierungskraft zu besitzen. Der belgische Gelehrte Marcel Detienne, der unter anderem Pionier der historischen Anthropologie und als solcher natürlich Strukturalist war, definierte den Mythos als narrative Praxis, mit der jeder vertraut ist.25 Trotz aller Kritik am linguistic turn, der zwar notwendig für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft war, aber überwunden werden muss, weil er das Kind (das historische Subjekt) mit dem Bade ausgeschüttet hat26, erscheint mir der Zusammenhang zwischen Detiennes Mythos-Begriff und dem historischen Unbewussten glasklar. Wenn es Narrative gibt, die innerhalb einer Gesellschaft nicht nur allgemein verfügbar sind, sondern zur kulturellen Praxis gehören, müssen sie identitätsstiftend wirken. Detiennes Bezug auf die allgemein verbreitete Praxis ist dabei ganz entscheidend.

24Ganz

ähnlich äußerte sich beispielsweise auch Wolfgang J. Mommsen. Vgl. Mommsen 1995, S. 131. 25Vgl. Marcel Detienne, Rethinking Mythology, in: Michel Izard/Pierre Smith (Hg.), Structuralist Essays in Religion, History, and Myth, Chicago/London 1982 (S. 43–52). 26Vgl. u. a. Martin Tschiggerl/Thomas Walach/Stefan Zahlmann, Geschichtstheorie, Wiesbaden 2018 (in Druck).

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Er impliziert nämlich, dass die derart verwendeten Narrative nicht ständig reflektiert werden, sondern als kulturelle Axiome Teil des kollektiven Unbewussten sind. Konsequent weiter gedacht bedeutet das, dass der Mythos eine Form der Aussage ist, die sich ihres Konstruktionscharakters nicht bewusst ist27 (weil sich jene, die sich ihrer bedienen, ihren Aussagecharakter nicht bewusst machen). Der Mythos ist damit das genaue Gegenteil des Virtuellen, das sich dadurch auszeichnet, seinen eigenen Konstruktionscharakter offenzulegen.28 Die historistische Geschichte war und ist genauso ein unbewusst wirksames Narrativ, oder besser, ein Bündel davon. Historistische Geschichte wirkte identitätsstiftend, weil sie die Vergangenheit trotz aller gegenteiligen Beteuerungen mythologisierte. Diese Qualität ist der Geschichte nach der überfälligen Zertrümmerung des Historismus durch den (Post-)Strukturalismus, den Postkolonialismus, die Neue Kulturgeschichte – kurz, das postmoderne Denken – abhandengekommen. Die Geschichte wurde nun als Produkt reflexiven Umgangs mit vorgestellter Vergangenheit entlarvt, sie war nicht länger Gegenstand des bloßen empirischen Nachvollzugs des objektiv Geschehenen, sondern mit einem Mal zur (inter-)subjektiven Konstruktion geworden. Als solche hatte sie endlich einen Wandel vom Mythos zum wissenschaftlichen Narrativ durchgemacht. Ein wissenschaftliches Narrativ zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass es undogmatisch, also offen für Kritik, dass es anzweifelbar ist. Das ist Wasser auf den Mühlen der Schlussstrichzieher und Revisionisten. Eine Zeit der Neuerzählung von Geschichte kündigt sich an. Das ist, so könnte man sagen, der Lauf der Dinge. Es gehört zum wissenschaftlichen Selbstverständnis, dass neue Entdeckungen gemacht und Bewertungen vorgenommen werden – im Rekurs auf die Epochenstimmung der Moderne nennt die Wissenschaft das ihren Fortschritt. Das Problematische am Geschichtsrevisionismus im Unterschied zum sogenannten wissenschaftlichen Fortschritt besteht in einem fundamentalen Missverständnis: Die Geschichte der Wissenschaft ist zwar eine Kette von „Irrtümern“, also falsifizierten oder obsoleten Thesen, aber sie ist niemals absichtliche Täuschung. Revisionistische Thesen hingegen sind gezielte Desinformation. Sie werden mit der Absicht lanciert, die öffentliche Meinung in eine politisch genehme Richtung zu lenken und oft genug sind sie faktisch falsch. Man könnte nun einwenden, dass Fakten Verhandlungssache sind. Das ist richtig. Fakten sind keine Wahrheit in einem naiv-positivistischen Sinne, denn eine objektive

27Vgl.

Sheldon S. Wolin, Fugitive Democracy and Other Essays, Princeton/Oxford 2016, S. 316. 28Vgl. Thomas Walach, Geschichte des virtuellen Denkens, Wiesbaden 2017, S. 53.

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Welt im Sinne Kants müsste sich notwendigerweise subjektiver Wahrnehmung entziehen. Wittgensteins Satz „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge“29, ist so zu verstehen. Die für uns wahrnehmbare Welt ist eine der Signifikate, nicht der Referenten oder der Dinge an sich. Das bedeutet aber gerade nicht, dass die Geschichte frei verhandelbar ist. Eine redliche Darstellung der Vergangenheit muss falsifizierbar sein, muss also das Potenzial haben, sich zum historischen Irrtum zu entwickeln. Diese wesentliche Bedingung wird allzu oft vergessen, wenn das neue nachhistoristische Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft mit Beliebigkeit verwechselt wird. Die liberalen Demokratien der Gegenwart sind auf identitätsstiftende Narrative ihrer Vergangenheit angewiesen. Zwar ist die wissenschaftliche Sichtweise dabei nur eine unter vielen möglichen; trotzdem hoffen wir, dass sie besser als andere geeignet ist, plausible Erklärungen zur Verfügung zu stellen und dem Zusammenleben eine stabile Basis zu geben. Auch das bedeutet nämlich Historismus: das Postulat einer ganz grundsätzlichen historischen Erklärbarkeit gesellschaftlicher Phänomene der Gegenwart. Diesen Anspruch darf die Geschichtswissenschaft nicht aufgeben, wenn sie weiterhin Einfluss auf das kollektive Gedächtnis und damit auf die Grundlagen politischen Handelns nehmen möchte. Die Geschichtswissenschaft in den liberalen Demokratien der Gegenwart kann nicht länger (falls sie es überhaupt jemals konnte) ein gesellschaftlich verbindliches Geschichtsbild oktroyieren. Folglich muss sie Kompromisse schließen und die historische Autorität der Bürger anerkennen. Bei dem Begriff Kompromiss schrillen in den Köpfen vieler Historiker wohl Alarmglocken, klingt er doch, als wäre Geschichte etwas, das politisch verhandelbar wäre. Genau das ist sie auch. Die Geschichtswissenschaft steht vor der Herausforderung, anzuerkennen, dass es nicht-wissenschaftliche Interessen an Geschichte gibt und dass es sich dabei um legitime Bedürfnisse von historischen Subjekten handeln kann, die zur Stabilisierung individueller und gesellschaftlicher Identität auf anschlussfähige Geschichtsbilder angewiesen sind. Die Geschichtswissenschaft muss danach trachten, mit ihren Argumenten Einfluss auf die Geschichtspolitik zu nehmen. Wenn sie es nicht tut, dann tun es zwangsläufig andere, denn ohne das zentrale Element der historischen Identität vorgestellter Gemeinschaften werden Gesellschaften brüchig. Letztlich geraten dann auch die politischen Institutionen repräsentativer Demokratien unter Druck, die auf einen gesellschaftlichen Konsens über Vergangenheit angewiesen sind. Das versuche ich anhand zweier Beispiele zu zeigen: Das erste sind die gesellschaftlichen Strukturen, die mit

29Ludwig

Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus I.I.

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der Etablierung der sogenannten Opferthese als historischem Grundkonsens österreichischer Politik sehr eng verbunden sind. Das zweite ist die Bedeutung gesellschaftlicher Verantwortung für den Holocaust in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland. Beide Beispiele sind Ausdruck von Prozessen, die unter der Oberfläche tagespolitischer Dynamiken als Arbeit am kollektiven historischen Unbewussten verstanden werden können. Die Darstellung der beiden Beispiele ist nicht spiegelbildlich aufgebaut. Die Kenntnis der Grundzüge (west-)deutscher, nicht aber österreichischer Geschichte und Politik im 20. Jahrhundert habe ich vorausgesetzt. Das Kapitel zu „Opferthese und Konsensdemokratie“ enthält deshalb einige Ausführungen über österreichische Politik- und Gesellschaftsgeschichte und ist deshalb umfangreicher. Wer mit der Geschichte der politischen Lager im Österreich der Zwischenkriegszeit und der Rolle der lagerparitätischen Konsensdemokratie österreichischer Prägung von 1945–2000 vertraut ist, mag die entsprechenden Darstellungen überfliegen; sie enthalten auf rein phänomenologischer Ebene nichts Neues. Im Abschnitt über „Geschichte zwischen Schuld und Scham“ Deutschland findet sich keine vergleichbare Gesamtschau. Wenn ich die Erzeugung manifester Geschichtsbilder in Deutschland und Österreich als Prozesse der Verdichtung bzw. Verschiebung von Teilen des historischen Unbewussten beschreibe, halte ich das keinesfalls für die einzig mögliche oder einzig zutreffende Sichtweise. Das verbietet alleine schon die tief sitzende wissenschaftliche Skepsis vor monokausalen Erklärungen. Gleichwohl sind es plausible Erklärungen, solche, die in der Vergangenheit zu wenig beachtet wurden und die dazu beitragen können, ein vertieftes Verständnis der Erzeugung von Geschichte als Grundlage kollektiver Identität und politischen Handelns zu gewinnen. Diese Leistung muss zunächst auf theoretischer Ebene erfolgen. Das vorliegende Buch ist daher in erster Linie eine geschichtstheoretische Unternehmung. Weil ich aber jenseits der Darstellung und Analyse eines theoretischen Problems, das ich für zentral halte, auch einen möglichen Lösungsweg anbieten will, ist der letzte Teil meiner Überlegungen methodischen Fragen gewidmet. Theorie und Methode sind hier nicht Mittel, sondern Thema. Die Frage danach, wie Geschichtsarbeit kollektive Vorstellungen von Vergangenheit erzeugt und damit die Rahmenbedingungen geschichtspolitischen Handeln gestaltet, steht im Zentrum dieses Buches. Es ist, so viel sei gesagt, eine parteiische Analyse, die von der gegenwärtigen Krise der Demokratie motiviert ist. Gewiss kann man auch der Meinung sein, Europa käme ohne die Institutionen der liberalen Demokratie aus. Nicht wenige werden die Ansicht vertreten, die Masse der auf Arbeitseinkommen oder Sozialleistungen angewiesenen Bürger bräuchte keine politische Vertretung, weil der freie Markt schon dafür sorgte,

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XIX

dass ein jeder erhielte, was ihm zustünde. Nicht zuletzt könnte man sich auch achselzuckend damit abfinden, dass sich die politische Situation Deutschlands im europäischen Kontext insofern „normalisiert“, als mit der „Alternative für Deutschland“ nun auch hier eine Rechtspartei, die sich durch ihre Nähe zu revisionistischem Gedankengut auszeichnet, in den demokratischen Institutionen verankert wurde. Ich tue das aus verschiedenen Gründen nicht. Guter Rat ist in der gegenwärtigen Situation teuer. Einen möglichen Weg aus der Krise skizziert der dritte Abschnitt dieses Buches, doch eines vorweg: Der vorgeschlagene Weg der Einbindung der Öffentlichkeit in die Erzeugung wissenschaftlicher Narrative durch „geteilte Autorität“30 ist mühselig. Er verlangt von allen Beteiligten Durchhaltevermögen und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen.31 Manches von dem, was im Methodenteil dieses Buches vorgeschlagen wird, gehört wenigstens in Teilen schon jetzt zum Repertoire der Public History. Was bisher fehlte, war eine theoretisch fundierte Systematisierung dieser Bemühungen. Die Geschichte wird sich nicht durch Re-Mythologisierung retten können, denn die historistische Geschichte ist durch die Postmoderne vollständig diskreditiert. Der Weg zurück ist uns also verschlossen. Wir müssen die Flucht nach vorne antreten, müssen aufgeklärt denken, das heißt jene spröde, schnöde, schmerzliche Entzauberung der Welt vorantreiben, die Jürgen Habermas zum unvollendeten Projekt der Moderne erklärte und die Prozesse Geschichtsarbeit, wo es geht, bewusst machen.32 Vergessen wir dabei nicht, dass die Geschichte als empirische Wissenschaft – als die der Historismus sie erstmals verstanden hatte – ein antiaufklärerisches Projekt war, das die Vergangenheit aus den Händen der Philosophie und der vernünftigen Erkenntnis reißen sollte!33 Das hat sich zweifellos geändert, jedoch um den Preis, dass wissenschaftliche und öffentliche, also populäre Auffassungen von Geschichte auseinander trieben. Gegenwärtig sind einander die wissenschaftliche und die öffentliche Sicht auf Geschichte so fern, dass sie ebenso gut auf unterschiedlichen Planeten beheimatet sein könnten. Historiker und Gesellschaft reden aneinander vorbei. Die Aporie der gegenwärtigen Geschichte besteht darin, dass die zeitgenössische

30Michael

Frisch, A Shared Authority. Essays on the Craft and Meaning of Oral and Public History, Albany 1990. 31Vgl. Franco, 2017 (S. 69–86). 32Vgl. Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Leipzig 1994. 33Vgl. Leopold von Ranke, Über die Epochen der neueren Geschichte, Leipzig 1906, S. 18.

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Geschichtswissenschaft den Mythos Geschichte nicht als identitätsstiftenden und damit sorgsam behüteten, libidinös aufgeladenen Teil des historischen Unbewussten begreift. Das Unbewusste entzieht sich der Reflexion. Deshalb muss ein Therapeut, der versucht, auf das Unbewusste einzuwirken, verstehen, wie aus dem Substrat der dort herrschenden Wünsche und Ängste manifeste Bewusstseinsinhalte werden. Will die Geschichtswissenschaft wieder ein Maß gesellschaftlichen Einflusses gewinnen, das ihr ermöglicht, stabilisierend auf kollektive Identitäten einzuwirken, muss sie eine Expertin für das historische Unbewusste werden. Mit einer Pathologisierung von Geschichtsbildern hat das alles nichts zu tun. Das Unbewusste und seine Untersuchung als krank machende Instanz der Psyche sind keineswegs einziges Betätigungsfeld und wohl nicht einmal primäres Interesse freudscher Psychoanalyse. Die Tatsache, dass Psychoanalyse ebenso als kulturwissenschaftliche Theorie wie auch als Heilmethode eingesetzt werden kann, verweist vielmehr darauf, wie wesentlich die Vorstellung vom Unbewussten für alle Wissenschaften vom Menschen ist. Eine persönliche Anmerkung zum örtlichen und kulturellen Entstehungskontext der hier geäußerten Überlegungen ist wohl angebracht: Jene Epochenstimmung, die Wien (wo der Großteil dieses Buches entstand) in den Jahrzehnten von 1900 bis 1938 charakterisierte, der Chronotop, der die politisch im Niedergang begriffene Stadt zur intellektuell vibrierendsten Metropole Europas machte, ist hier noch mit beiden Händen zu greifen. Diese Stadt und jene Zeit, die mit den Biografien und Arbeiten Sigmund Freuds, Alfred Adlers, Viktor Frankls, Robert Musils, Arthur Schnitzlers oder Ödön von Horvaths und des „Jungen Wien“ verbunden waren, sind im Wien der Gegenwart noch sehr präsent. Es scheint hier beinahe unmöglich, sich dem intellektuellen Sog zu entziehen, der nach wie vor zur Mitarbeit an der „Demaskierung des Bewusstseins“34 auffordert. Dass diese gemeinschaftliche Arbeit an ihrem Höhepunkt fast abriss, dass ihre Pioniere unter eifriger Mithilfe sehr vieler Wienerinnen und Wiener vertrieben, deportiert und ermordet wurden und eine „Stadt ohne Seele“35 hinterließen, gehört zu jenen geschichtlichen Vorgängen, die das historische Unbewusste der Bewohner Wiens in der Gegenwart prägen. Dennoch ging es mir nicht darum, einen Chronotop des „psychoanalytischen Wiens“ darzustellen. Obwohl die Erforschung des Unbewussten einen ungewöhnlich markanten zeitlichen, räumlichen und kulturellen Ausgangspunkt hat, lässt

34Ödön von Horvath, Gebrauchsanweisung (Gesammelte Werke in acht Bänden, Bd. 8), Frankfurt a. M. 1972, S. 660. 35Manfred Flügge, Stadt ohne Seele. Wien 1938, Berlin 2018.

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sie sich nicht auf diesen Ursprung beschränken. Als Kulturwissenschaft hat die Psychoanalyse ganz unterschiedliche Zugangsweisen, Theorien, Methoden und Schulen entwickelt. Der gelegentlich geäußerte Vorwurf, Freuds Analyse habe zu sehr die bürgerliche Subkultur Wiens im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Blick36, kann etwa einem Viktor Frankl und seiner durch die Erfahrung der KZ-Haft geprägten Methode, der strukturalistischen Tradition eines Jacques Lacan oder der humanistischen Psychologie Carl Rogers‘ schwerlich gemacht werden. Und die Künstler der Beat-Generation, die stark von Freud beeinflusst waren37, hätten wohl über die Unterstellung, bürgerlich zu sein, herzlich gelacht. Dass Freud selbst in seinem Milieu und zu seiner Zeit eine verbreitete Faszination für das Unbewusste vorfand, die sich in der psychoanalytischen Theorie niederschlug, steht außer Frage. Es ist jedoch nicht schlüssig, warum die spezifische Art des Entstehungszusammenhangs der Psychoanalyse ihr verbieten sollte, ein Betätigungsfeld außerhalb dieses Kontextes zu finden. Man wird schließlich auch kaum behaupten wollen, marxistische Theorie könne nur valide Aussagen über das kleinbürgerliche Milieu des Rheinlands im 19. Jahrhundert treffen. Die unüberschaubare Vielfalt psychoanalytischer Schulen, Traditionen und Lehrmeinungen macht es nicht gerade leicht, zu erkennen, was psychoanalytische Theorie zur Erforschung des historischen Unbewussten beitragen kann. Für die Erforschung des Unbewussten hat sich noch nicht einmal ein einheitlicher Terminus etabliert. Tiefenpsychologie ist ebenso gebräuchlich wie Psychotherapie und Psychoanalyse. Die Psychoanalyse gibt es als solche gar nicht. Den Begriff Psychoanalyse bevorzuge ich deshalb, weil er unmittelbar sagt, worum es hier geht, nämlich eine Untersuchung der Psyche bzw. im konkreten Fall des Zusammenhangs zwischen unbewussten Anteilen der Psyche und Vorstellungen über Vergangenheit. Dagegen wird unter Psychologie im gegenwärtigen Fächerkanon deutschsprachiger Wissenschaft eine bevorzugt empirisch arbeitende sozialwissenschaftliche Disziplin verstanden, die am Unbewussten vergleichsweise wenig Interesse zeigt. Die verschiedenen psychotherapeutischen Schulen begreifen sich wiederum, wie ihr Name schon sagt, in erster Linie als Heilmethoden.

36Zu den disparaten Einordnungen von Freuds Werk durch Intellektuelle des 20. Jahrhunderts vgl. Mario Erdheim, Die gesellschaftliche Produktion von Unbewußtheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess, Frankfurt a. M. 1984, S. 43–44. 37Vgl. Allen Ginsberg, The Best Minds of My Generation. A Literary History of the Beats, New York 2017, vierlerorts, insbes. S. 10, 26–27.

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Ein interdisziplinärer Versuch, Geschichte und Psychoanalyse einzusetzen, um dem Unbewussten in der Geschichte näher zu kommen, kann sich angesichts der weiten Verästelungen psychoanalytischer Konzepte nicht auf bloße Freud-Exegese beschränken. Dass sich die vorliegende Arbeit dennoch vor allem auf Freuds Modell der Traumarbeit stützt, liegt daran, dass Freud seine Psychoanalyse von vornherein als interdisziplinäre Kulturwissenschaft angelegt hatte und sie sich deshalb durch eine besondere Offenheit gegenüber dem geschichtswissenschaftlichen Denken auszeichnet. Das letzte Kriterium ist entscheidend. Es geht hier zwar um eine psychoanalytisch und demokratiepolitisch motivierte, aber eindeutig geschichtswissenschaftliche Fragestellung. Bei aller Offenheit für Interdisziplinarität bleibt dieses Buch die Arbeit eines Historikers und soll der theoretisch-methodologischen Weiterentwicklung der Geschichtswissenschaft dienen. Gerade weil zahlreiche verschiedene Quellen, darunter politische Reden, Lebenserinnerungen, feuilletonistische Debattenbeiträge, Zeitungsberichte oder Kommentare in Onlineforen in diesen Text einflossen, wird enttäuscht werden, wer bei der Lektüre auf eine systematische Quellenanalyse oder gar eine Edition hofft. Diese Buch ist eben vor allem ein Beitrag zur Geschichtstheorie, aus dem im letzten Teil Vorschläge für eine methodische Umsetzung abgeleitet werden. Einige kurze Ausschnitte aus verschiedenen Kapiteln dieses Buches wurden mit nur geringfügigen Anpassungen beinahe zeitgleich in einer kollaborativen Arbeit über Geschichtstheorie veröffentlicht.38 Sie entstanden als Skizzen für dieses Buch und werden in beiden Arbeiten nicht nochmals explizit ausgewiesen. Dass die Geschichtsarbeit als unbewusster Prozess der Erzeugung von Geschichte wie selbstverständlich in viel allgemeinere geschichtstheoretische Überlegungen einfließen konnte, verweist darauf, dass ich den Zusammenhang zwischen historisch Unbewusstem und der Geschichte als Teil eines größeren Theoriegebäudes betrachte, in dessen Zentrum das Subjekt als jene Instanz steht, die Geschichte macht. Man könnte wohl sagen, dass es sich bei der Geschichtsarbeit lediglich um eine bestimmte Ausprägung dieses Prinzips handelt. Die vorliegende Arbeit kann insofern als eine Explikation der eben erwähnten theoretischen Überlegungen verstanden werden. „Wären wir Schreiner“, so heißt es im gerade genannten Buch über Geschichtstheorie, „würden wir mit diesem Buch nicht eine fertige Handwerksarbeit anbieten, sondern den eigenen Werkzeugkoffer und seinen Inhalt beschreiben.“39 Es gehört zu den eigentümlichen Eigenschaften dieses Werkzeugkoffers, dass die Gegenstände darin so lange recht

38Tschiggerl/Walach/Zahlmann, 39Tschiggerl/Walach/Zahlmann

Geschichtstheorie, Wiesbaden 2018. 2018, S. 136.

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unbestimmt sind, bis sie herausgenommen und gebraucht werden. Der von Reinhard Koselleck postulierte Vorrang der Theorie40 drückt sich nämlich gerade nicht dadurch aus, dass theoretische Überlegungen dogmatische Vorschriften für die Praxis sind. Vielmehr bedingen sich Theorie und Praxis einer Geschichtswissenschaft, die Problemwissenschaft sein und sich am jeweiligen konkreten Erkenntnisinteresse orientieren soll, gegenseitig. Dieses Buch will weder, noch kann es eine genaue Anleitung geben, wie das Konzept des historischen Unbewusste in unterschiedliche Forschungsarbeiten einfließen soll. Es will „anregen, nicht anleiten“41 – nicht mehr und nicht weniger. Die Geschichtsarbeit als Methode, wie sie im letzten Abschnitt dieser Arbeit skizziert wird, hat den Charakter eines Steinbruchs, aus dem jeder sich bedienen möge, um ein spezifisches Problem, eine konkrete Forschungsfrage zu beantworten. Im Kern ist der vorliegende Text ein wissenschaftlicher Essay, wenn auch ein recht langer. Er stellt den Versuch dar, eine Gedankenkette zu veranschaulichen: Die Geschichtswissenschaft hat ihre gesellschaftspolitische Relevanz eingebüßt, weil sie sich nicht ausreichend in Bezug zum kollektiven historischen Unbewussten setzt – unter der historischen Orientierungslosigkeit leidet die Legitimation der liberalen Demokratie – es gibt Wege aus dieser doppelten Krise, aber sie sind nicht im geschichtswissenschaftlichen Rückspiegel zu finden. Auf den Schultern der Geschichtswissenschaft ruht eine einzigartige Verantwortung: Das Thema keiner anderen Wissenschaft spielt eine vergleichbar wichtige Rolle für die Erzeugung kollektiver Identitäten wie eben die Geschichte. Die Geschichtswissenschaft sieht sich nach dem Historismus allerdings zunehmend mit der Situation konfrontiert, dass öffentlich wirksame Geschichtsbilder öfter von wissenschaftlichen Laien als von professionellen Historikern erzeugt werden.42 Eine Geschichtswissenschaft, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen bereit ist, braucht daher sowohl ein theoretisches Modell zur Analyse der Entstehung öffentlicher Geschichtsbilder, als auch eine Methode, auf diesen Prozess einzuwirken. Beides will ich anbieten. Im ersten Teil dieses Buches skizziere ich mein theoretisches Verständnis der Geschichtsarbeit. Im zweiten zeige ich, wie sie in der gesellschaftlichen Praxis wirkt. Der dritte Teil stellt sowohl methodologische Grundüberlegungen als auch konkrete Handreichungen zur Anwendung der Geschichtsarbeit als Methode vor.

40Vgl.

Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, ­Frankfurt a. M. 2013, S. 206. 41Tschiggerl/Walach/Zahlmann 2018, S. 8. 42Vgl. Cauvin 2016, S. 1.

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Dabei geht es nicht „nur“ um die Präsentation einer Theorie und Methode der öffentlichen Geschichte, sondern auch darum, Wegmarken für die längst nicht abgeschlossene Sinnfindung der posthistoristischen Geschichtswissenschaft insgesamt einzuschlagen. Im Kontakt mit dem Unbewussten wird die Erforschung der Geschichte zwangsläufig Neuland betreten. Leider sind wir Historiker als Menschen nicht vor der Angst vor dem Fremden, vor Kontrollverlust und Irrwegen gefeit. Keine dieser Erfahrungen wird uns jedoch erspart bleiben. So unangenehm das bisweilen sein mag: Eine Geschichtswissenschaft, die ihre gesellschaftliche Rolle ernst nimmt und nicht damit zufrieden ist, ihre Erkenntnisse in selbstbezüglichen Zirkeln Eingeweihter zu diskutieren, wird künftig nicht umhin kommen, sich mit den dunkleren Bereichen im historischen Unbewussten auseinanderzusetzen. Schuldgefühl, Kränkung, Scham und Ressentiment sind wesentliche Antriebe der Geschichtsarbeit. Soll die Geschichte einen positiven Beitrag für die Demokratie im 21. Jahrhundert leisten, muss sich die Wissenschaft auch dieser Gefühle annehmen.

Inhaltsverzeichnis

Teil I  Theorie 1 Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2 Das historische Unbewusste. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 3 Das kollektive Gedächtnis als politischer Vergangenheitskonsens. . . . 39 4 Revision und Geschichtsbewusstsein. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Teil II  Praxis 5 Die Geschichtsarbeit am Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 5.1 Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie. . . . . . . . . . . . . . 78 5.2 Verdichtung: Geschichte zwischen Schuld und Scham. . . . . . . . . . . 102 6 Gesellschaft ohne Geschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 7 Wir Historisten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Teil III  Methode 8 Was tun? Plädoyer für eine Geschichte im Dienst der Gegenwart. . . . 143 9 Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte . . . . . . . . . 157 9.1 Analyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 9.2 Durcharbeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Nachwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Nachweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 XXV

Teil I Theorie

1

Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft

Das Ende des Historismus stürzte die Geschichtswissenschaft in eine Identitätskrise. Weder die französischen und deutschen Schulen der Sozialgeschichte, noch die neue Kulturgeschichte und erst recht nicht der historische Materialismus konnten der Geschichtswissenschaft dauerhaft eine vergleichbare gesellschaftliche Stellung und diskursive Hegemonie erkämpfen.1 Das postmoderne Ende der großen Erzählungen und der Poststrukturalismus schienen schließlich die Geschichtswissenschaft aus der Verantwortung zu entlassen, ein neues Wissenschaftsparadigma etablieren zu müssen, das eine dem Historismus „vergleichbare Einheit von durchgängiger Grundstruktur und unterschiedlichen Ausprägungen gehabt hätte.“2 Schließlich wurden im Anschluss an Michel Foucault die „alten Fragen“ der Geschichtswissenschaft („Welche Verbindung zwischen disparaten Ereignissen soll man feststellen? Wie soll man eine notwendige Folge zwischen ihnen feststellen? Welche Kontinuität durchdringt sie oder welche Gesamtbedeutung nehmen sie schließlich an?“3) recht voreilig für obsolet erklärt. Während jedoch das Eingeständnis, nicht die Verfügungsgewalt über historische Wahrheit innezuhaben, der Wissenschaft aus der Krise zu helfen vermag, vertieft es jene der historischen gesellschaftlichen Identität noch. Wenn in der öffentlichen Wahrnehmung wissenschaftliche Selbstreflexivität mit Unsicherheit verwechselt wird, verhilft das jenen Elementen kollektiver Gedächtnisse zu neuer Stärke, die im Widerspruch zu geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen stehen. Das historische Bauchgefühl gewinnt dann die Oberhand. Diese Elemente gesellschaftlichen Geschichtsbewusstseins füllen jene Lücke, die durch die Krise

1Vgl.

Friedrich Jäger/Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus, München 1992, S. 161. 1992, S. 161. 3Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1973, S. 10. 2Jäger/Rüsen

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_1

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des Historismus offenbar entstanden ist. Sie greifen dabei auf tiefe Schichten des kollektiven Gedächtnisses, auf das gesellschaftliche historische Unbewusste4 zurück. Es ist erstaunlich, dass die Geschichtswissenschaft auf der Suche nach analytischen Kategorien für gesellschaftliches Erinnern meist achtlos an der Psychoanalyse vorbeiging. Insbesondere Freuds Schriften zur Traumdeutung stellen eine große Zahl geeigneter Werkzeuge zur Untersuchung des kollektiven Gedächtnisses zur Verfügung. Freud selbst hielt das „Verhalten des Traumgedächtnisses“ für „höchst bedeutsam für jede Theorie des Gedächtnisses überhaupt.“5 Zweifellos kann die Untersuchung des historischen Unbewussten nicht die Via regia der Geschichtswissenschaft sein. Wenn die Geschichtswissenschaft aber von vornherein darauf verzichtet, unbewusste Grundlagen historischen Handelns in ihre Untersuchungen einfließen zu lassen, fasst sie implizit historische Akteure als ausschließlich rational handelnde Subjekte auf. Damit wird sie ihrem Untersuchungsgegenstand kaum gerecht und weicht einem zentralen Problem aus, wie Stuart Hughes feststellte: „Genauer gesagt wußten Historiker aller Schulen nicht, wie sie Widersprüche behandeln sollten. Die Kluft zwischen Wort und Tat, die emotionale Färbung, die die zur Schau gestellte vorbildliche Loyalität Lügen straft, die offensichtlich achtlose Phrase oder Geste, die eine geheime Absicht verrät – das alles hat Historiker gewöhnlich in Verlegenheit gebracht.“6 In eben jenen Bereichen des Handelns historischer Akteure, in denen die traditionelle Geschichtswissenschaft blind und taub ist, liegt die Nutzung psychoanalytischer Theorie zur Schaffung eines plausiblen historischen Narrativs nahe: „Wenn er erkennt, daß nur unbewußte oder halbbewußte Motive Klarheit in ein hoffnungslos verwirrtes Rätsel bringen können, hat der Historiker die Schwelle psychoanalytischer Interpretation bewußt oder unbewußt erreicht.“7 Die blinden Flecken auf der historischen Netzhaut resultieren aus der typischen empirischen Vorgehensweise der Geschichtswissenschaft, die stets untersucht, wofür sie Quellen findet und sich selbst Aussagen darüber verbietet, wofür

4Folgte

man der ersten freudschen Topik streng, müsste zwischen dem Unbewussten und dem Vorbewussten unterschieden werden. Ich gebrauche den Begriff „unbewusst“ hier jedoch einem „deskriptiven“ und nicht im „topischen“ Sinn, um die „Gesamtheit der im aktuellen Bewusstseinsfeld nicht gegenwärtigen Inhalte“ zu bezeichnen (Jean Laplanche/ Jean-Bertrand Pontalis, Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1973, S. 562). 5Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Frankfurt a. M. 2013, S. 37. 6H. Stuart Hughes, Geschichte und Psychoanalyse, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, S. 38. 7Hughes 1971, S. 39.

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sie kein Quellenmaterial hat. Der Blick auf das, was im Dunkeln liegt, sich dem prüfenden Auge entzieht, ist hingegen die ureigene Methode der Psychoanalyse. Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse eint ihr Erkenntnisinteresse und trennt ihre Methode. Sie ergänzen sich: ein perfektes Paar? Peter Gay bezeichnete Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft sehr treffend als Brüder, von denen keiner bereit sei, ihre Verwandtschaft anzuerkennen.8 Für den Psychologen und Kulturwissenschaftler Kenneth J. Gergen ist das tiefsitzende Misstrauen der beiden Disziplinen zueinander das Paradebeispiel für die vielen durch die Forschung selbst errichteten Hindernisse auf dem Weg zu einer interdisziplinären Wissenschaft vom Menschen.9 Das irritiert umso mehr, als mit der Mentalitätsgeschichte und der Geschichte der Emotionen zwei der produktivsten geschichtswissenschaftlichen Ansätze der letzten Jahrzehnte tief im Gebiet der Psychoanalyse wilderten. Entsprechend häufig tauchen in einschlägigen Publikationen psychoanalytische Begriffe wie Verdrängung, Depression, Phobie oder Trauma auf, gemeinhin aber ohne dass diese systematisiert werden oder Teile eines methodisch-theoretischen Überbaus bilden.10 Historiker, so meinte Peter Gay, waren schon immer (Amateur-)Psychoanalytiker. Ob es ihnen bewusst ist, oder nicht, operieren sie mit dem, was man menschliche Natur nennen könnte.11 Erst seit Sigmund Freud hat sich zur Beschreibung dieser „Natur“ eine wissenschaftliche Terminologie entwickelt, die auch unter Historikern verbreitet ist. Erstaunlicherweise haben nur wenige einflussreiche Historiker, in deren Arbeit die Psyche eine Rolle spielte, Freud direkt rezipiert. Den meisten wurde Psychoanalyse über Umwege vermittelt: Karl Lamprecht durch Wilhelm Wundt und dessen Völkerpsychologie, Johan Huizinga und Ernst Cassirer über Lucien Lévy-Bruhl, Lucien Febvre über Charles Blondel (einem Gegner Freuds) und Henri Wallon.12 Die wichtigste Ausnahme bildet wohl Peter Gay, der nicht nur erklärter Freudianer, sondern vor allem intimer Kenner von Freuds Werk war.

8Vgl.

Peter Gay, Psychoanalysis in History, in: William McKinley Runyan (Hg.), Psychology and Historical Interpretation, New York/Oxford 1988, S. 107. 9Vgl. Kenneth J. Gergen, Foreword, in: Cristian Tileagă/Jovan Byford (Hg.), Psychology and History. Interdisciplinary Explorations, Cambridge 2014 (S. xii–xiv), S. xii. 10Vgl. Nikolas R. Dörr, Zeitgeschichte, Psychologie und Psychoanalyse, in: Docupedia Zeitgeschichte 29 (2010), S. 2. Online verfügbar unter: http://docupedia.de/zg/Zeitgeschichte_Psychologie_und_Psychoanalyse, zuletzt aufgerufen am 19.03.2018. 11Vgl. Gay, 1985, S. 6. 12Vgl. Peter Burke, ollective Psychology and Social Change, in: Bedrich Loewenstein (Hg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992, S. 21.

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Sigmund Freuds Auffassung von Psychoanalyse war – anders als die wichtiger Freud-Schüler mit Ausnahme Jungs, dem eine esoterisch-religiöse Psychoanalyse vorschwebte – explizit eine kulturwissenschaftliche; nicht obwohl, sondern gerade weil Freud Arzt war, wie Mario Erdheim betonte: „Freud konnte einen neuen Ansatz für das Verstehen entwickeln, weil er nicht wie Dilthey dem Umgang mit Texten verhaftet blieb, sondern sich in eine unmittelbare menschliche Konfrontation einließ. Revolutionär an Freuds Leistung war vorerst einmal seine Praxis.“13 Das bedeutet jedoch nicht, dass die psychoanalytische Theorie ausschließlich für die therapeutische Praxis nützlich ist. Durch die Erfahrung der ärztlichen Tätigkeit glaubte Freud zu erkennen, dass es jenseits des Horizonts der Heilmethode noch bedeutendere Anwendungen der Psychoanalyse als Kulturtheorie gäbe. Freud selbst fühlte sich als Mediziner nicht uneingeschränkt dazu imstande, dieses Potenzial zu nützen. Das war mit ein Grund für seine entschieden positive Haltung zur Laienanalyse. Die Ausgestaltung der Psychotherapie als Kulturwissenschaft erschien Freud als Desiderat, das andere künftig zu erfüllen hätten. Seine sozialpsychologischen Schriften zeichnen sich, wie Peter Gay bemerkte, daher durch eine große Offenheit aus14, die es erlaubt, sie im Sinne Max Webers als problemorientierte Theorie zu modifizieren. So entwarf etwa Mario Erdheim das Konzept einer „Ethnopsychoanalyse“, deren Gegenstand „das Unbewußte in der Kultur“ sei.15 Über die Soziologie, die Ethnologie und andere sozialwissenschaftliche Ansätze sickerte psychoanalytisches Vokabular in die Geschichtswissenschaft ein. Es spricht für den umfassenden kulturellen Einfluss der Psychoanalyse, dass Historikerinnen und Historiker meinen, zentrale psychoanalytische Konzepte in alltagssprachlichen Versionen nonchalant in geschichtswissenschaftliche Terminologie einfließen lassen zu können – ganz so, als wisse jeder und jede, was darunter zu verstehen sei. Es droht allerdings die Gefahr, dass die psychoanalytisch orientierte Geschichtswissenschaft, wie von Peter Gay befürchtet, zu einer „Arena für Amateure“ und die psychoanalytische Theorie dadurch trivialisiert wird. Gays Kritik am Dilettantismus richtet sich übrigens nicht etwa grundsätzlich dagegen, dass sich Historiker der Psychoanalyse bedienen – das wäre nichts weiter als die erneute Debatte der Frage der Laienanalyse unter anderen Vorzeichen. Es kann auch nicht ernsthaft verlangt werden, dass ausschließlich Historiker,

13Erdheim

1984, S. 159–160. Peter Gay, Freud for Historians, New York/Oxford 1985, S. xvi. 15Erdheim 1984, S. 9. 14Vgl.

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die gleichzeitig ausgebildete Analytiker sind, psychoanalytische Theorie in ihre Überlegungen einfließen lassen. Man erwartet Vergleichbares ja auch nicht in der Medizin- oder Rechtsgeschichte. Gays Kritik ist vielmehr dahin gehend zu verstehen, dass der Geschichtswissenschaft kaum damit gedient ist, psychoanalytische Konzepte flapsig, unreflektiert oder trivialisiert zu verwenden. Die Gefahr besteht vor allem deshalb, weil sich nur wenige Historiker eingehend mit Psychoanalyse befassen. Dabei wäre eine Kenntnis psychoanalytischer Theorie auch ein Anstoß zur Selbstreflexion von Historikern. In der Geschichtswissenschaft kommt es – ebenso wie in der Psychoanalyse, wo dieses Wissen zum Kern der Methode gehört – darauf an, „daß man auf die Gefühlsregungen und die Störungen achtet, die durch die Beziehung, in der wir zu den jeweiligen Texten und unserer Geschichte im allgemeinen stehen, das Funktionieren des psychischen Apparates beeinflussen.“16 Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang der Umkehrschluss, dass nämlich auch der psychische Apparat die Geschichte beeinflusst. Er tut das in doppelter Weise: Zum einen, weil er als Grundlage des Handelns historischer Akteure verstanden werden kann, zum anderen, weil er jene Instanz prägt, welche die Geschichte und ihre Akteure überhaupt erst erzeugt – den konkreten Historiker oder die konkrete Historikerin. Die Beziehung des Historikers zum historischen Narrativ ist durch die unbewussten Anteile seiner Psyche ebenso bestimmt wie durch die bewussten kognitiven Operationen. Das meinte Alain Besançon, als er schrieb: „Subjekt der Geschichte ist der Historiker, und wenn die Meditation aufhört, kann er sagen ich.“17 Das selbstreflexive Moment der Psychoanalyse wurde von der Geschichtswissenschaft kaum beachtet. Stattdessen wurde Freud vorgeworfen, dieser habe die kulturelle Bedingtheit psychischer Dispositionen zugunsten einer axiomatischen anthropologisch konstanten Psyche unterschätzt. Diese Kritik wiegt tatsächlich schwer, wie Bedrich Loewenstein feststellte. Es sei verständlich, wenn bestimmte Historiker „eine einseitig naturwissenschaftlich orientierte, »nomologische« Psychologie attackieren, die die soziohistorischen Hintergründe des Psychischen ausblendet und keine Bedenken hat, ihre scheinbar universell gültigen Motivationsstrukturen [vorauszusetzen].“18 Die Warnung besagt, eine psychoanalytisch arbeitende Geschichtswissenschaft dürfe nicht dogmatisch sein.

16Alain

Besançon, Psychoanalytische Geschichtsschreibung, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, S. 127. 17Besançon 1971, S. 125. 18Bedrich Loewenstein, Annäherungsversuche, in: Bedrich Loewenstein (Hg.), Geschichte und Psychologie. Annäherungsversuche, Pfaffenweiler 1992, S. 9.

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Dem wird wohl jeder zustimmen. Warum diese Kritik aber ausgerechnet an die Psychoanalyse adressiert wird, die Hans-Ulrich Wehler so treffend als hermeneutische Methode – mithin als Gegenteil eines naiven Empirismus – beschrieb19, erschließt sich mir nicht. Loewenstein drehte den Spieß um und warf seinerseits Kritikern „historischen Reduktionismus, übrigens unverkennbar deutscher Provenienz“20 vor. Keinem Historiker und keiner Historikerin wird es erspart bleiben, anhand seiner oder ihrer konkreten Fragenstellung zu überlegen, welche psychoanalytischen Theorieansätze nützlich sind, welche nicht und wie sie allenfalls modifiziert werden müssen. Gerade durch diese notwendigen Überlegungen kann das Verhältnis von Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft überprüft werden, geht doch mit der Forderung nach Angemessenheit theoretischer Rahmungen für das jeweilige Erkenntnisinteresse die Notwendigkeit einher, diese auch zu plausibilisieren.21 Anders gesagt: „Wenn ein historisches Narrativ sich nicht auf ein unhintergehbares dogmatisches Fundament stützen kann, muss es seine Aussagen von Grund auf nachvollziehbar machen und zwar im Zusammenhang mit seinem konkreten Gegenstand. Jede historische Untersuchung muss dann die angemessene Ausdrucksform und die geeigneten Quellen für ihre Fragen finden und legitimieren, ohne sich auf die Sicherheit vermeintlich axiomatischer Bedingungen verlassen zu können.“22 Das gilt auch für die Psychoanalyse als historische Grundwissenschaft, wie Bedrich Loewenstein unter Verweis auf Peter Burke ausführte: „»In einem gewissen Sinn (oder auf einer gewissen Ebene) bleibt sich die menschliche Natur immer gleich, und auf einer anderen Ebene tut sie es nicht.« Einfacher läßt sich kaum sagen, daß wir unsere soziokulturellen Unterschiede zwar nicht übersehen, aber auch nicht allzu sehr dramatisieren sollten. Die Mehrschichtigkeit unseres Seelenlebens und unserer kulturellen Verhaltensweisen bietet den Ansatzpunkt einer historischen Hilfswissenschaft [der Psychoanalyse], die gewiss kein Patentrezept darstellt […].“23 Das von Loewenstein als „typisch deutsch“ verstandene distanzierte Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur Psychoanalyse hat Tradition. Ganz maßgeblich

19Vgl.

Hans-Ulrich Wehler, Zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Geschichte und Psychoanalyse, Köln 1971, S. 16. 20Loewenstein 1992, S. 12. 21Vgl. Thomas Walach, Geschichte des virtuellen Denkens, Wiesbaden 2018, S. 177. 22Walach 2018, S. 11. 23Loewenstein 1992, S. 12.

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geprägt wurde es durch die kritische Haltung Hans-Ulrich Wehlers. Der Doyen der Sozialgeschichte sah in der Psychoanalyse das Potenzial, den Genie- und Individualitätskult historistischer Geschichtswissenschaft wiederauferstehen zu lassen – eine Aussicht, die nicht nur aus Perspektive der Sozialgeschichte unproduktiv erscheinen musste. Allenfalls in der geschmähten Biografik sah Wehler ein legitimes, wenn auch marginales Betätigungsfeld für die Psychoanalyse.24 Beide Disziplinen wurden dadurch nochmals diskreditiert, dass sie, die von der Sozialgeschichte für obsolet erklärt worden waren, in einen so engen Zusammenhang gestellt wurden. Zwei Fliegen mit einer Klappe: „Geschichtswissenschaft als historische Sozialwissenschaft verkündete gleichzeitig das Ende der Biographie.“25 Doch das Gemeinsame der beiden Disziplinen wurde nicht nur von ihren Kritikern betont. Tatsächlich entstanden im Feld der Biografik die Klassiker psychoanalytisch motivierter Geschichtswissenschaft, darunter Freuds Arbeit über Leonardo da Vinci26 oder Erik H. Eriksons Studien über Martin Luther27 und Mahatma Gandhi28. Freuds biografische Schriften dienen übrigens nicht dem Geniekult, unter dessen Eindruck sie entstanden. Im Gegenteil bemerkte Freud programmatisch in der „Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci“: Die Psychoanalyse „[…] meint, es sei niemand so groß, daß es für ihn eine Schande wäre, den Gesetzen zu unterliegen, die normales und krankhaftes Tun mit gleicher Strenge beherrschen.“29 Eine der wenigen Ausnahmen der kritischen Distanz der Geschichtswissenschaft von der Psychoanalyse in jüngerer Zeit stellen die historisch und kollektiv-psychoanalytisch fundierten Arbeiten Stephan Marks, darunter insbesondere seine „Psychologie des Nationalsozialismus“30 dar. Es ist wohl kein Zufall, dass Marks zwar geschichtswissenschaftlich vorgebildet, eigentlich jedoch Sozialwissenschaftler ist.

24Vgl.

Wehler, 1971, S. 24. Kornbichler, Zu einer tiefenpsychologischen Theorie der Biographie, in: Thomas Kornbichler (Hg.), Klio und Psyche (Geschichte und Psychologie Bd. 1), Pfaffenweiler 1990, S. 41. 26Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, Leipzig/Wien 1910. 27Vgl. Erik H. Erikson, Der junge Mann Luther. Eine psychoanalytische und historische Studie, Frankfurt a. M. 1975. 28Vgl. Erik H. Erikson, Gandhis Wahrheit. Über die Ursprünge der militanten Gewaltlosigkeit, Frankfurt a. M. 1971. 29Freud 1910, S. 1. 30Stephan Marks, Warum folgten sie Hitler? Die Psychologie des Nationalsozialismus, Düsseldorf 2007. 25Thomas

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In den USA, wo kein dem sozialgeschichtlichen Turn vergleichbarer Umschwung stattfand, erreichte das, was dort Psychohistory genannt wird, vor allem von den 1970er bis zu den 1990er Jahren eine gewisse Bedeutung. William J. Gilmore31 und William M. Runyan32 versuchten sich und ihren Kollegen einen Überblick über das Feld zu verschaffen. Sie zählten insgesamt etwa hundert einschlägige Dissertationen an US-amerikanischen Universitäten. Jacques Szaluta schätzte die Zahl der in den 1990er Jahren abgehaltenen Lehrveranstaltungen zur Psychohistory auf etwa 400.33 Außerdem wurde in den 1970er Jahren eine Reihe von Journals zum Thema gegründet, darunter Psychohistory Review und das Journal of Psychohistory. Um die Jahrtausendwende verflachte das Interesse an der Psychohistory, doch auch zu ihren besten Zeiten war sie keine besonders einflussreiche geschichtswissenschaftliche Strömung gewesen, wenngleich sie auch nicht annähernd so marginalisiert worden war wie im deutschen Sprachraum. Letztlich wurde wohl der positivistische Hautgout, mit dem die Psychohistory auch in den USA behaftet war, nicht als produktiv wahrgenommen. Tatsächlich wäre es ein großer Fehler zu glauben, eine psychohistorische Methode könnte enthüllen, wie es um die psychischen Dispositionen oder Motivationen von Individuen oder sozialen Gruppen der Vergangenheit „eigentlich“ bestellt gewesen sei. Wenn der einzige Beitrag der Psychoanalyse für die Geschichte darin bestünde, dem historistischen Aberglauben von der Verfügbarkeit einer objektiven Vergangenheit ihren eigenen einschlägigen Hokuspokus hinzuzufügen, müsste die Geschichtswissenschaft tatsächlich dankend ablehnen. Vielmehr sollte sich die Geschichtswissenschaft den durch Slavoj Žižek vermittelten Standpunkt Jacques Lacans zu eigen machen: „[D]as Symptom stellt eine verstümmelte, verzerrte Spur dar, das Fragment einer Wahrheit, die aber nicht schon im Vorhinein in der Tiefe des Unterbewußten auf uns wartet, sondern erst am Ende des psychoanalytischen Prozesses konstruiert sein wird. Der Sinn des Symptoms wird von der Analyse nicht aufgedeckt, sondern konstruiert.“34 Žižek bestreitet damit die Auffassung, ein Symptom, mit dem der Psychoanalytiker sich befasst, sei Resultat objektiv gegebener psychischer Dispositionen, die nur darauf warteten, durch den Analytiker der Psyche entrissen zu

31Vgl.

William J. Gilmore, Psychohistorical Inquiry. A Comprehensive Research Bibliography, New York 1984. 32Vgl. William M. Runyan (Hg.), Psychology and Historical Interpretation, Oxford 1988. 33Vgl. Jacques Szaluta, Psychohistory. Theory and Practice, New York 1999.. 34Slavoj Žižek, Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psychoanalyse und die Medien, Berlin 1991, S. 11.

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werden, so wie die Vergangenheit den Quellen. Dieser Sichtweise stellt Žižek die Überzeugung entgegen, dass nicht etwa die Psyche das Symptom hervorbringt, sondern die Bezeichnung des Symptoms als solches erst den Elementen des psychischen Apparats Ordnung gibt. Mit der Geschichte verhält es sich ebenso. Das Wissen um sie konstituiert sich erst nachträglich, durch das Fortschreiten der Forschung. Unser Wissen über die Geschichte gelangt ebenso wenig aus der Vergangenheit zu uns wie das Verdrängte in der Psychoanalyse.35 Diese Sichtweise auf Geschichte ist übrigens nicht neu; man findet sie schon bei Schiller, der in seiner Jenaer Einführungsvorlesung feststellte: „Die Weltgeschichte geht also von einem Prinzip aus, das dem Anfang der Welt gerade entgegensteht. Die wirkliche Folge der Begebenheiten steigt von dem Ursprung der Dinge zu ihrer neusten Ordnung herab, der Universalhistoriker rückt von der neuesten Weltlage aufwärts dem Ursprung der Dinge entgegen.“36 Die psychoanalytische Theorie stößt bei vielen Historikerinnen und Historikern noch aus weiteren Gründen auf Skepsis.37 Der vielleicht wichtigste ist der traditionell enge Zusammenhang von Psychoanalyse und Krankheit, der innerhalb der Geschichtswissenschaft besonders häufig für Irritationen sorgt. Astrid Erll stellte zutreffend fest, dass wir es im Zusammenhang mit dem Begriff des kollektiven Gedächtnisses mit einer Reihe von Tropen, also Bedeutungsübertragungen zu tun haben, die als heuristische Vorgriffe dienen.38 Ausgerechnet psychoanalytische Begriffe hält sie jedoch für unergiebige, ja sogar ungeeignete Metaphern. Zwar gebe es auf gesellschaftlicher Ebene sehr wohl Entsprechungen zu Verdichtung, Verdrängung oder Verschiebung: „Zensur, selektive Geschichtsschreibung, Mythenbildung etwa.“39 Erll bezweifelt jedoch, dass diese Mechanismen ähnliche Folgen für die Gesellschaft haben wie für das einzelne Subjekt.

35Vgl.

Tschiggerl/Walach/Zahlmann 2018, S. 15. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, in: Wolfgang Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990 (S. 18–36), S. 32. 37Es erscheint mir müßig, eine taxative Liste an Skeptikern anzugeben – die wichtigsten Argumente werden oben diskutiert. Wer dennoch an einer Aufzählung interessiert ist, schlage nach bei Joan W. Scott, The Incommensurability of Psychoanalysis and History, in: Cristian Tileagă/Jovan Byford (Hg.), Psychology and History. Interdisciplinary Explorations, Cambridge 2014 (S. 40–63). Scotts Fußnotenapparat, insbes. Anm. 8, gibt einen guten Überblick.. 38Vgl. Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart 2017, S. 94. 39Erll 2017, S. 97. 36Friedrich

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„Verdrängung macht den individuellen Organismus vielleicht krank, nicht aber unbedingt eine Gesellschaft.“40 Offenbar stört sich Erll am Krankheitsbegriff. Dieser Einwand ist aus mehreren Gründen nicht treffsicher. Erstens ist, wie wir spätestens seit Foucault meinen, Krankheit nicht eine inhärente Eigenschaft des Kranken, sondern eine diskursiv erzeugte Wahrnehmung von Dysfunktionalität. In diesem Sinne kann eine Gesellschaft selbstverständlich krank sein. Auf die nationalsozialistische Gesellschaft trifft das aus heutiger Wahrnehmung ganz sicher zu. Zweitens können gesellschaftliche Abwehrmechanismen zur Vermeidung unaufgearbeiteter Widersprüche und Konflikte sehr wohl zu Dysfunktionalitäten führen – die Steigerung des latenten Antisemitismus zu Pogromen und Genozid ist ein beredtes Beispiel. Drittens ist keineswegs gesagt, dass Verdrängung notwendig krank macht. Die Verdrängung spielt eine wesentliche Rolle in der Normalpsychologie, also dem Bereich des nicht Pathologischen. Es handelt sich dabei um den Versuch, bestimmte Vorstellungen, die Unlust verursachen könnten, aus dem Bewusstsein zu drängen.41 Diese Operation gehört zur normalen Funktion der Psyche jedes Subjekts. Die Wahrnehmung der Verdrängung als „krank machend“ ist aber symptomatisch: Viertens erschließt sich nämlich nicht, warum man Psychoanalyse überhaupt zwangsläufig im Kontext von Krankheit verwenden sollte. Freud selbst betonte gegenüber ärztlichen Vereinnahmungsversuchen stets die kulturwissenschaftliche Dimension der Psychoanalyse.42 Die Prozesse der Verdichtung, Verschiebung sowie der Geschichtsarbeit als Ganzes stammen aus der Traumanalyse und haben per se nicht mit Krankheit zu tun. Mit Verdichtung und Verschiebung sind dort zwei wesentliche Mechanismen gemeint, die durch Traumarbeit aus latenten Traumgedanken den manifesten Trauminhalt erzeugen. Anstelle des unbewussten Traumgedanken setze ich das historische Unbewusste, statt Traum- ist Geschichtsarbeit am Werk und das manifeste, sichtbare Ergebnis ihrer Arbeit ist das historische Narrativ, kurz – die Geschichte. So wie die Traumarbeit den latenten Gedanken in eine träumbare Form gießt, die der Zensur des Über-Ichs genügt, macht die Geschichtsarbeit aus den Inhalten des historischen Unbewussten ein sozial akzeptables und verhandelbares Narrativ.

40Erll

2017, S. 97. Laplanche/Pontalis 1973, S. 582. 42Vgl. Sigmund Freud, Nachwort zur „Frage der Laienanalyse“, in: Anna Freud/Ilse Grubrich-Simitis (Hg.), Sigmund Freud. Werkausgabe in zwei Bänden (Bd. 1), Frankfurt a. M. 2006 (A) (S. 541–547), S. 542. 41Vgl.

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Dass im Deutschland der Gegenwart Psychoanalyse anders als in vielen anderen Ländern mehr als Heilpraxis denn als kultur- und gesellschaftswissenschaftliche Theorie wahrgenommen wird, ist eine Sonderentwicklung deutscher Gesundheitspolitik. Dieser Sonderweg hat mit der überragenden Stellung zu tun, den die deutsche Ärzteschaft sich im Feld der Psychoanalyse erkämpft hat. Diese recht eigenartige historische Konstellation sollte aber nicht für den Normalfall psychoanalytischen Handelns gehalten werden. In eine ähnliche Falle wie Erll tappte auch Maren Lorenz, die sich mit folgendem Argument an Wolfgang Sofsky abarbeitete: Indem dieser Triebe als Impetus sozialen Handelns annehme, stelle er sich auf eine Stufe mit jenem Biologismus, den die Genderforschung unter so großen Mühen bekämpfe.43 Das Missverständnis besteht nun darin, der Psychoanalyse zu unterstellen, sie halte Triebe für anthropologische Konstanten und nicht für soziokulturell bedingte Motive. Dabei schrieb Freud in „Triebe und Triebschicksale“: „Natürlich steht nichts der Annahme im Wege, daß die Triebe selbst, wenigstens zum Teil, Niederschläge äußerer Reizwirkungen sind […].“44 Der Naturwissenschaftler Freud bezog diese Einschätzung auf die evolutionäre Entwicklung des Lebens. Das für biologistisch zu halten, hieße jedoch, den Einfluss der Kultur auf die Evolution zu negieren. Durch Sexualität, Ernährung, Krieg etc. erstreckt sich die Kultur tief ins materielle Dasein und die Entwicklung des Menschen als Spezies. Freuds Triebtheorie lässt sich mit derselben Plausibilität kulturalistisch wie biologistisch lesen. Erll wie auch Lorenz behagt die Vorstellung nicht, die Psychoanalyse wie sie von Freud betrieben wurde – als ärztliche Methode – in der Kulturwissenschaft einzusetzen. Das ist angesichts der unterschiedlichen Interessen und Ziele von ärztlicher und geschichtswissenschaftlicher Praxis nachvollziehbar. Die Sorge ist aber unbegründet: Mit Jacques Lacan, Michel de Certeau, Paul Watzlawick und Slavoj Žižek seien nur die allerwichtigsten Psychoanalytiker genannt, die als Kulturwissenschaftler tätig waren und sich dabei ausgiebig psychoanalytischer Theorie bedienten. Auch die Vertreter des Poststrukturalismus, allen voran Judith Butler, scheuten die Beschäftigung mit der Psychoanalyse keineswegs.

43Vgl. Maren Lorenz, Alles relativ in den Kulturwissenschaften? Zur methodischen Verwirrung zwischen linguistic turn, Psychoanalyse und Neurobiologie, in: Karl Brunner/ Andrea Griesebner/Daniela Hammer-Tugendhat (Hg.), Verkörperte Differenzen (kultur. wissenschaft Bd. 8/3), Wien 2004 (S. 13–43), S. 17–18. 44Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale, in: Anna Freud/Ilse Grubrich-Simitis (Hg.), Sigmund Freud. Werkausgabe in zwei Bänden (Bd. 2), Frankfurt a. M. 2006 (B) (S. 167– 183), S. 169–170.

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Wenn Butler schreibt, es gebe kein Ich ohne Annahme eines Geschlechts45, befindet sie sich mitten in der psychoanalytischen Terminologie. Für die Poststrukturalisten ist klar, dass die Gesellschaft das Subjekt erzeugt, indem der Einzelne von den sozialen Zwängen angerufen oder adressiert wird. In „Psyche der Macht“ postulierte Butler die Abhängigkeit des schieren Daseins und allen Begehrens des Subjekts vom Sozialen.46 Wie anders wären diese Zwänge denn zu verstehen, denn als „äußere Reizwirkungen“, die das menschliche Seelenleben, die Psyche, formen? Vorbehalte gegen interdisziplinäres Arbeiten kennt auch die Psychoanalyse. Die unterschiedlichen Praktiken erschienen Heinz Kohut, dem Gründer der Selbstpsychologie, unvereinbar. Über Geistes- Kultur- und Sozialwissenschaftler, die sich zu Analytikern ausbilden ließen, schrieb Kohut: „nach einer Weile kehrt er emotional und intellektuell zu seiner ursprünglichen Disziplin zurück, kaum sichtbar bereichert durch die psychoanalytische Erfahrung – oder er wird Psychoanalytiker und läßt das Wissen und die Geschicklichkeit seines Berufs mehr oder weniger fallen.“47 Kohuts Wahrnehmung beruht, ähnlich wie die vieler Historiker auf der Unvereinbarkeit von Heilmethode und Wissenschaft – nur, dass hier die Vorzeichen umgekehrt sind. Den Vorwurf, das Psychische im Sozialen konsequent zu übersehen, musste sich die Geschichtswissenschaft schon 1946 in Erik H. Eriksons Aufsatz „Ich-Entwicklung und geschichtlicher Wandel“ gefallen lassen. Erikson, der als Vater der Ich-Psychologie bezeichnenderweise auch einer der Pioniere der Sozialpsychologie war, kritisierte, dass einerseits die Psychoanalyse die Bedeutung des Sozialen für die Entwicklung des Individuums notorisch unterschätze. „Andererseits fährt aber auch die Geschichtswissenschaft fort, die einfache Tatsache zu ignorieren, daß alle Menschen von Müttern geboren werden, jeder einmal ein Kind war, daß Menschen und Völker in der Kinderstube ihren Anfang nehmen und daß die Gesellschaft aus Individuen besteht, die sich aus Kindern zu Eltern entwickeln.“48 Gelegentlich wiesen sowohl Psychologen als auch Historiker in Eriksons Fußstapfen auf die unverhüllte, aber schamhaft unausgesprochene Blöße beider Disziplinen hin, die darin bestand und besteht, die Bedeutung der jeweils

45Vgl.

Judith Butler, Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin 1995, S. 145. 46Vgl. Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M. 2001, S. 7. 47Heinz Kohut, Der Psychoanalytiker in der Gemeinschaft der Wissenschaft, in: Heinz Kohut (Hg.), Die Zukunft der Psychoanalyse, Frankfurt a. M. 1975, S. 35. 48Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus. Drei Aufsätze, Frankfurt a. M. 2015, S. 11.

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anderen für die eigene Position keine Beachtung zu schenken.49 Beide zogen es jedoch vor, weiter in des Kaisers neuen Kleidern umherzugehen. Erikson steht (wie auch Freud) in einem Spannungsverhältnis zur Individualpsychologie Alfred Adlers. Dieser Zeitgenosse Freuds, der nie Freudianer war, gestand wohl zu, dass es Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft gibt. Letztlich lasse sich die Psychoanalyse jedoch nur vom Individuum her denken und anwenden. „So wäre es zum Beispiel absurd zu fordern, wir sollten in der Kriminalpsychologie dem Verbrechen mehr Aufmerksamkeit widmen als dem Verbrecher. Denn auf den Verbrecher kommt es an, nicht auf das Verbrechen, und wie gründlich und eingehend wir die kriminellen Handlungen auch betrachten mögen, wir werden das kriminelle ihres Charakters erst dann richtig begreifen, wenn wir sie als Ereignis im Leben eines bestimmten Individuums verstehen.“50 Das ist einerseits eine zutiefst humanistische Sichtweise, die das Leid des Einzelnen verstehen und ihm seine Schwächen nachsehen will. Sie ist streng auf die therapeutische Praxis bezogen. Adlers Motivation als Psychoanalytiker entstand aus seiner Tätigkeit als Arzt und blieb stets auf das Interesse beschränkt, dem leidenden Individuum zu helfen. „Man könnte auch sagen, daß in einer Wissenschaft, die in unmittelbarem Bezug zum Leben steht, Theorie und Praxis eine weitgehend unauflösliche Einheit bilden. Die Wissenschaft vom Leben wird folglich genau deshalb zur Lebenswissenschaft, weil sie in ihrer Ausgestaltung den Lebensbewegungen und -kräften selbst folgt.“51 Anders als Freuds Psychoanalyse ist Adlers Individualpsychologie tatsächlich überwiegend und zuallererst Heilmethode. In Bezug auf die Individualpsychologie wäre Astrid Erlls Wahrnehmung vom engen Zusammenhang zwischen Psychoanalyse und Krankheit – oder, aus Adlers Perspektive, Heilung – also durchaus zutreffend. Den Dritten im Bunde der allerersten Generation tiefenpsychologischer Schulengründer, den Schweizer Arzt Carl Gustav Jung, trifft das Schicksal, von der Geschichtswissenschaft kaum zur Kenntnis genommen zu werden, obwohl er mit dem Konzept des kollektiven Unbewussten eine Theorie entwickelte, die jene des kollektiven Gedächtnisses vorwegnahm. Weder Maurice Halbwachs,

49Vgl.

Kenneth J. Gergen, Social Psychology as History, in: Journal of Personality and Social Psychology 26 (1973) (S. 309–320); James W. Pennebaker/Becky Banasik, On the Creation and Maintenance of Collective Memories. History as Social Psychology, in: James W. Pennebaker/Dario Paez/Bernard Rimé (Hg.), Collective memory of Political Events. Social Psychological Perspectives, Mahwah 1997 (S. 3–19). 50Alfred Adler, Lebensbekenntnis, Frankfurt a. M. 1978, S. 14. 51Adler 1978, S. 13.

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noch Pierre Nora oder Jan und Aleida Assmann setzten sich systematisch mit Jungs Werk auseinander. Das mag daran liegen, wie esoterisch Jungs Thesen aus geschichtswissenschaftlicher Sicht erscheinen. Aby Warburgs Rezeption von Arbeiten Halbwachsʼ und Émile Durkheims kamen hingegen ohne diesen Ballast aus und waren leichter verdaulich.52 Zwar sind die Vorbehalte der Geschichtswissenschaft berechtigt, dennoch hielte ich es für einen Fehler, den Beitrag, den Jungs Archetypen-Begriff zur Theorie kollektiver Gedächtnisse leisten kann, zu unterschätzen. Schon zu Jungs Lebzeiten erntete dieses Konzept allerdings so viel Ablehnung, dass der Begründer der Analytischen Psychologie sich zu einer apologetischen Erklärung genötigt sah: „Wohl keiner meiner Begriffe ist auf so viel Missverständnis gestoßen wie die Idee des kollektiven Unbewussten.“53, schrieb er 1936. Doch schon aus Jungs Definition lässt sich schließen, woran die Geschichtswissenschaft sich stößt: „Das kollektive Unbewusste ist ein Teil der Psyche, der von einem persönlichen Unbewussten dadurch negativ unterschieden werden kann, dass er seine Existenz nicht persönlicher Erfahrung verdankt und daher keine persönliche Erwerbung ist.“ Diese „Inhalte des kollektiven Unbewussten“, so Jung weiter, „verdanken ihr Dasein ausschließlich der Vererbung.“54 Auch Jung glaubte nicht, dass Menschen mit ererbten Anschauungen über Geschichte zur Welt kämen, sondern bloß, dass in der Psyche jedes Menschen kulturell bedingte Prädispositionen vorhanden seien, die Jung Archetypen nannte: „Es gibt so viele Archetypen, als es typische Situationen im Leben gibt. Endlose Wiederholung hat diese Erfahrungen in die psychische Konstitution eingeprägt, nicht in Form von Bildern, die von einem Inhalt erfüllt wären, sondern zunächst beinahe nur als Formen ohne Inhalt, welche bloß die Möglichkeit eines bestimmten Typus der Auffassung und des Handelns darstellen.“55 C. G. Jung These besagt im Kern also nicht mehr und nicht weniger, als dass Menschen im Rahmen ihres Enkulturationsprozesses lernen, Erfahrungen in einer bestimmten Art und Weise zu machen, einzuordnen und zu bewerten. Die nur subjektiv erfahrbare Wirklichkeit wäre folglich kulturellen Rahmenbedingungen unterworfen, das kollektive Unbewusste wäre Basis subjektiver Identität. Das entspricht im Wesentlichen Clifford Geertzʼ Auffassung von Kultur: „Ich meine mit

52Vgl.

Jan Assmann, Collective Memory and Cultural Identity, in: New German Critique 65 (1995) (S. 125–133), S. 125. 53C. G. Jung, Archetypen, München 2014, S. 55. 54Jung 2014, S. 55. 55Jung 2014, S. 62.

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Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe.“56 Ganz ähnlich argumentierte auch Jan Assmann: „Vergangenheit entsteht nicht von selbst, sondern ist das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion und Repräsentation; sie wird immer von spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geleitet […]. An diesen Einsichten von M. Halbwachs gilt es festzuhalten.“57 Darüber hinaus betonte Assmann die Bedeutung von Repetition zur Bildung kollektiver Gedächtnisse.58 Genau diese durch „endlose Wiederholung“ eingeübten Motive bezeichnete Jung als Archetypen des kollektiven Unbewussten. Liest man Jung in diesem (zugegebenermaßen sehr wohlwollenden) Sinne, werden seine Archetypen nicht nur kompatibel mit dem Mainstream gegenwärtiger Kulturtheorie, sondern es wird auch der radikale Charakter von Jungs Theorie offensichtlich, mit dem sich Tiefenpsychologie und Geschichtswissenschaft verbinden lassen: Wenn es im subjektiven Unbewussten kulturell verankerte Funktionen gibt, die unsere Auffassungen präformieren, wird verständlich, warum Vorurteil, Ressentiment und Revisionismus so wichtige Rollen für das kollektive Gedächtnis spielen. Wenn Jung von „Vererbung“ spricht, so könnten wir ihn einerseits wörtlich nehmen; andererseits könnten wir den Vererbungsbegriff auch in dem Sinne verstehen, in dem wir davon sprechen, dass Bildung oder Kultur „vererbt“ werden. Biologistisch wäre Jungs Archetypen-These dann nur noch in dem Sinne, dass sie auf ererbte materielle Voraussetzungen der Wahrnehmungen und des Denkens verweist.59 Dem wird angesichts der materiellen Bedingtheit des Menschen kaum widersprochen werden. Jungs Archetypen und das kollektive Gedächtnis der Geschichtswissenschaft hätten einander gut brauchen können. Ohne kulturtheoretischen Unterbau könnte die Entstehung des kollektiven Unbewussten nicht erklärt werden (weshalb Jung Zuflucht zur esoterischen Unterstellung einer von außen unbeeinflussten, also ererbten Spontanentstehung suchte); ohne die tiefenpsychologische Sichtweise könnten wir nicht erklären, wie kollektive Gedächtnisinhalte vom Subjekt internalisiert werden.

56Clifford

Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur, in: Stefan Kammer/Roger Lüdecke, Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005 (S. 274–292), S. 274. 57Jan Assmann, Von ritueller zur textueller Kohärenz, in: Stefan Kammer/Roger Lüdecke, Texte zur Theorie des Textes, Stuttgart 2005 (S. 250–270), S. 251–252. 58Vgl. Assmann 2005, S. 252. 59Vgl. Jung 2014, S. 100–101.

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Zurecht hat das postmoderne Denken das unheilvolle Wirken von Nationalismus und Wissenschaftspositivismus zerschlagen. Nur hat niemand daran gedacht, was zu tun sei, sobald die Scherben einmal weggekehrt wären. Jene Leere, die das Ende nationaler Ideologie und historistischen Geschichtsbewusstseins hinterließ, erweist sich nun als Nährboden populistischer Politik, die den demokratischen Konsens in Europa nachhaltig zu untergraben droht. Wer wissen will, was man dagegen unternehmen kann, muss zuerst einmal herausfinden, welche Vorgänge im kollektiven historischen Unbewussten überhaupt als Triebfedern dieser antidemokratischen Politik fungieren. Diese Frage ist mithilfe traditioneller geschichtswissenschaftlicher Methoden kaum zu beantworten. Wie schon so oft in den letzten Jahrzehnten kann sich die Geschichtswissenschaft, die, wie es scheint, jenseits des Historismus nicht viel Innovationskraft findet, einmal mehr bei einer anderen Disziplin bedienen: der Psychoanalyse. Für Paul Ricoeur war sie die Kulturwissenschaft schlechthin, weil sie selbst ihre Zeit prägte wie keine andere – darin ähnelt sie der historistischen Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Wenn dieses 19. Jahrhundert ein historistisches war, so war das folgende Jahrhundert ein psychoanalytisches. Absicht und Wirkung von Freuds Werk, so Ricoeur, bestand darin, „die Totalität der psychischen Produktionen, die der Kultur zugehören, neu zu interpretieren, vom Traum über Kunst und Moral bis zur Religion. In dieser Hinsicht gehört die Psychoanalyse zur modernen Kultur; indem sie die Kultur interpretiert, verändert sie sie; indem sie ihr ein Reflexionsinstrument an die Hand gibt, prägt sie sie nachhaltig.“60 Da sowohl für die Geschichtswissenschaft als auch für die Psychoanalyse das Wissen über Vergangenheit den zentralen Fluchtpunkt des Erkenntnisinteresses darstellt, sind psychoanalytische Begriffe besonders gut als theoretische Hilfsmittel für Geschichte geeignet. Freud selbst träumte davon, „was sich erreichen ließe, wenn Kulturhistoriker […] sich dazu verstehen werden, das ihnen zur Verfügung gestellte neue Forschungsmittel [die Psychoanalyse] selbst zu handhaben.“61 Der Gebrauch der Analyse als Heilmethode war für Freud nur ein Anwendungsgebiet unter vielen – und dabei nicht einmal das wichtigste.62 In diesem Sinne braucht das psychoanalytische Vokabular also gar nicht Metapher zu sein, sondern kann als kulturtheoretische Terminologie unmittelbar auf die Geschichte bezogen werden.

60Paul

Ricoeur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1974, S. 16. Freud, Die Frage der Laienanalyse. Unterredung mit einem Unparteiischen, Leipzig/Wien/Zürich 1926, S. 119–120. 62Vgl. Freud 1926, S. 120. 61Sigmund

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Der große Vorteil dieser Herangehensweise besteht darin, dass der Fokus weg vom Offensichtlichen, durch Quellen gut Belegbaren, hin zu dem gelenkt werden kann, was nicht offen gesagt wird. Während die historische Diskursanalyse und andere Methoden zur Untersuchung von Gesellschaftsgeschichte stets nur Aussagen über das Gesagte trifft, kann die Psychoanalyse Hinweise darauf geben, was sich jenseits der Oberfläche des Bezeugten befindet. Für die Geschichtswissenschaft erscheint diese Herangehensweise erst einmal verdächtig. Sie ist gewohnt, sich an den Quellen abzuarbeiten, nicht an den Lücken dazwischen. Doch wie die Psyche des Subjekts ist auch die Struktur der Gesellschaft mindestens so sehr dadurch geprägt, worüber sie nicht Auskunft gibt, wie dadurch, was sie zu zeigen bereit ist. Allerdings kann gerade in diesem Bereich kein Nachweis im Sinne einer rauchenden Pistole, oder – was für die Zeitgeschichte besonders wichtig ist – eines Augenzeugenberichts erbracht werden. Wenn wir in das historische Unbewusste einer Gesellschaft schauen wollen, müssen wir uns auf Indizien verlassen. Der Maßstab eines produktiven historischen Narrativs ist nicht Verifikation sondern Plausibilität. Dasselbe gilt für die Psychoanalyse – eine wichtige Gemeinsamkeit. Man könnte folglich jeder Untersuchung des historischen Unbewussten – auch dieser – den Vorwurf machen, sie könne ihre Thesen nicht über jeden Zweifel hinaus beweisen.63 Dieser Einwand ist aber eine stumpfe Waffe, von der sich Historiker und Psychoanalytiker gleichermaßen „viel zu oft in die Defensive drängen“64 ließen. Die Zeiten, in denen Historiker glaubten, erfahren und beweisen zu können wie die Vergangenheit „eigentlich gewesen“ ist, sind mit dem Historismus vorbei gegangen. Geschichtswissenschaft kann nur den Anspruch haben, falsifizierbare und intersubjektiv nachvollziehbare Modelle der Vergangenheit zu entwickeln. In der falschen Scheu vor dem nicht Beweisbaren steckt ein hartnäckiger Kern positivistischen Denkens. Aber wenigstens, so könnte man einwenden, wenigstens das „Vetorecht der Quellen“65 muss doch als Basis geschichtswissenschaftlichen Arbeitens dienen! Doch das historische Unbewusste zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es häufig keinen direkten Niederschlag in Quellen findet. Wie also kann seine Untersuchung geschichtswissenschaftlich sein? Indem sie sich wissenschaftlicher Methoden zur Beantwortung historischer Fragestellungen bedient. Die inhärente

63Der

prominenteste Vertreter dieser Stoßrichtung der Kritik war Karl Popper; vgl. Franz Schupp, Poppers Methodologie der Geschichtswissenschaft. Historische Erklärung und Interpretation, Bonn 1975, S. 22. 64Hughes 1971, S. 35. 65Koselleck 2013, S. 206.

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1  Psychoanalyse und Geschichtswissenschaft

Bedeutung der Quelle als Angelpunkt historischer Forschung ist maßlos überschätzt. Es ist der geschichtswissenschaftlich motivierte Blick, der aus der Wahrnehmung eines Mediums überhaupt erst eine Quelle macht. „Da die Quelle als solche erst durch unsere Betrachtung erzeugt wird, dürfen wir nicht in erster Linie danach fragen, welche Bedeutung der historische Medienproduzent intendiert haben könnte. Weil wir selbst die eigentlichen Produzenten der Quelle sind, müssen wir vielmehr unseren eigenen, spezifischen Blick auf die Quelle kritisch hinterfragen. Die Art und Weise, wie wir als wissenschaftlich tätige Subjekte die Quelle nutzen, sie interpretieren und sie einweben in eine Narration der Vergangenheit – kurz gefasst unsere wissenschaftliche Methode – muss selbst der Kritik unterzogen werden. Anstelle der Quellenkritik wollen wir also die Methodenkritik als zentrale Tätigkeit historischer Forschung stellen.“66 Diese Vorgehensweise findet eine Analogie in der psychoanalytischen Betrachtung des Traums. In seiner Traumdeutung versuchte Freud den Blick von einer vermeintlich verborgenen Wahrheit hinter dem Traum auf die Traumarbeit selbst zu lenken. In der pointierten Paraphrase Žižeks: „we must get rid of the fascination in this kernel of signification, in the ‚hidden meaning‘ of the dream […] and centre our attention on the form itself, on the dream-work to which our ‚latent dream-thoughts‘ were submitted.“ Mühelos lassen sich hier Parallelen zu den Arbeiten Marshall McLuhans und Hayden Whites ziehen.67 Die Psychoanalyse als wissenschaftliche Methode (und nicht als Heilkunst) versucht, Tiefenstrukturen gesellschaftlichen Handelns wahrzunehmen, um Beobachtungen zu erklären, die bei der Untersuchung des offen Sichtbaren rätselhaft blieben oder gar nicht wahrgenommen würden. Psychoanalyse kann in diesem Sinne nicht als Gesellschaftswissenschaft verwendet werden, sondern sie ist ebenso sehr Gesellschaftswissenschaft, wie Wissenschaft von der Psyche des einzelnen Subjekts. Wir können davon ausgehen, dass Subjekt und Gesellschaft oft von ähnlichen Vorgängen geprägt werden. Der Gesellschaftsbegriff bezeichnet denkbar unscharf eine Gruppe von Subjekten mit diversen Überzeugungen, Handlungsweisen und Lebensstilen, die über einen sozialen, politischen und kulturellen kleinsten gemeinsamen Nenner verfügen. Eine Gesellschaft ist nicht im selben Sinne Subjekt wie ein Individuum, oder jedenfalls nicht das, was das typisch westliche Denken der Aufklärung darunter versteht. Sie ist aber die Summe der Handlungen und Anschauungen ihrer Mitglieder. Dadurch verhält sich die Gesellschaft manchmal wie ein Subjekt, sie

66Martin

Tschiggerl/Thomas Walach/Stefan Zahlmann, Theorie der Geschichte, Wiesbaden 2018, S. 105. 67Walach 2018, S. 37.

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erhält situativ und performativ subjektive Qualitäten. Dort wo das der Fall ist, wäre es gerade nicht angemessen, Gesellschaft mit den Mitteln der Sozialpsychologie untersuchen zu wollen, denn diese betrachtet eben nicht die Gesellschaft als Ganzes, sondern deren einzelne Mitglieder im Verhältnis zueinander. Wo die Gesellschaft subjektive Eigenschaften aufweist, muss sie auch wie ein holistisches Subjekt, also aus ich-psychologischer Perspektive betrachtet werden. Die Gesellschaft konstituiert sich wie die Einzelperson aus dem Prozess der Abgrenzung gegen Alterität. Dazu nutzt sie ganz wesentlich kollektiv geteilte Vorstellungen gemeinsamer Vergangenheit. Diese Erkenntnis ist mit der Vorstellung vom kollektiven Gedächtnis längst etabliert. Es ist also nur konsequent, jene Mechanismen, die das individuelle Gedächtnis formen, auch in der kollektiven Erinnerung zu suchen. Wenn – was ich für eine kluge Definition halte – die Psychoanalyse zum Ziel hat „sich mit den inneren Erfahrungen des Menschen, der Komplexität seiner inneren Welt“68 auseinanderzusetzen, so ist die Frage, was Gedächtnis und Selbstverständnis des quasi-Subjekts Gesellschaft ausmacht, ein psychoanalytisches Unterfangen. Wir Historiker der Gegenwart sind es gewohnt, uns Zeit als Einbahnstraße vorzustellen, auf der manche Ereignisse länger zurück liegen, oder tiefer in der Geschichte verschüttet sind, als andere. Daran haben auch die Thesen von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen oder der Multiple Modernities nicht grundlegend gerüttelt. Diese Sichtweise ist irreführend, wenn man sie auf die Struktur der Psyche projiziert. Freuds Modell der Seele, dessen Terminologie ich mit dem Wort vom historischen Unbewussten entlehnt habe, sollte nicht so verstanden werden, als läge das Unbewusste am weiter vom lebensweltlich Aktuellen und situativ Relevanten entfernt als das Bewusste. Tatsächlich wird das Unbewusste unter dem Eindruck von Erfahrungen ständig aktualisiert und zur Bewältigung des Alltags herangezogen. Am deutlichsten wird das im Konzept der Traumarbeit, mit der Träumende manifeste Trauminhalte aus latenten Traumgedanken erzeugt. Dieser Arbeit sind Erinnerungen zugänglich, die dem wachen Bewusstsein nicht zur Verfügung stehen. Auf den gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte gemünzt, bedeutet das Folgendes: Die Auseinandersetzung mit Erfahrungen der Gegenwart erfolgt unter dem Einfluss latenter Wünsche und Ansprüche an die Vergangenheit, die Teil des Unbewussten sind. Beide, das Unbewusste wie auch die manifesten Geschichtsbilder, werden durch ihre Wechselwirkung im Zuge eines Prozesses aktualisiert, den wir Geschichtsarbeit nennen könnten.

68Heinz

Kohut, Auf der Suche nach dem Selbst. Kohuts Seminare zur Selbstpsychologie und Psychotherapie mit jungen Erwachsenen (Leben lernen 86), München 1993, S. 298.

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Das historische Unbewusste

Geschichtsarbeit findet statt, wann immer unbewusste Motive Einfluss auf Vorstellungen über Vergangenheit erhalten. Damit wirken diese Motive auch in gegenwärtige Wahrnehmung und Handlungsweisen hinein, die sich auf historisches Wissen stützen. Die Geschichtsarbeit formt daher in einem Prozess, Jörn Rüsen als „praktisch wirksame Artikulation von Geschichtsbewusstsein im Leben einer Gesellschaft“1 charakterisierte, kollektive Identitäten, die sich durch gemeinsame historische Narrative formieren.2 Insbesondere ist die Geschichtsarbeit das Wirkungsfeld der Geschichtspolitik. Es wäre daher falsch zu glauben, Geschichte könne jemals unpolitisch oder Politik ahistorisch sein. Kollektiv geteilte Vorstellungen über Vergangenheit tragen auf unterschiedliche Art und Weise zum Funktionieren demokratischer Gesellschaften bei. Einerseits sind sie die Grundbedingung für die kollektive Identität3 der Mitglieder einer Nation als vorgestellter Gemeinschaft. Andererseits können sie als Mittel zur Erklärung und Rechtfertigung des Verhältnisses von Individuum und Gemeinschaft

1Jörn

Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann/Heinrich Theodor Grütter/Jörn Rüsen (Hrsg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln 1994 (S. 3–26), S. 5. 2Zu den Konjunkturen des Begriffs der kollektiven Identität in der Geschichtswisssenschaft vgl. Lutz Niethammer, Diesseits des Floating Gap. Das kollektive Gedächtnis und die Konstruktion von Identität im Wissenschaftlichen Diskurs, in: Kristin Platt/Mihran Dabag (Hg.), Generation und Gedächtnis. Erinnerungen und kollektive Identitäten, Opladen 1995, S. 25–50. 3Als Überblick über Theorien und Forschung zu kollektiver Identität jenseits der hier dargestellten geschichtswissenschaftlichen Implikationen vgl. Michael A. Hogg/Graham M. Vaughan, Social Psychology, Harlow 2008, S. 125–128. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_2

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und damit der Rechte und Pflichten des Einzelnen in der Gesellschaft dienen. Nicht zuletzt befähigt historisches Wissen die Bürgerinnen und Bürger, am politischen Diskurs teilzunehmen, Wahlentscheidungen zu treffen, kurz, ihre Rolle als Staatsbürger auszufüllen.4 Die enge Verknüpfung von Geschichte und dem Funktionieren der liberalen Demokratie als politischem System bedeutet auch, dass die Schicksale dieser beiden Felder gesellschaftlichen Lebens untrennbar verbunden sind: Die Krise der Geschichtswissenschaft und die Krise der Demokratie hängen zusammen. Wir können beide nur dann verstehen, wenn wir begreifen, wie dieser Zusammenhang, der sich oberflächlicher Betrachtung entzieht, hergestellt wird, wie – anders gesagt – Geschichtsarbeit aus dem historischen Unbewussten Geschichtspolitik formt. Geschichtspolitische Fragen betreffen nicht nur Gesellschaften als solche, sondern auch jene Subjekte, die sich ihnen zugehörig fühlen. Geschichtspolitik, so könnte man sagen, ist Identitätspolitik. Die gesellschaftlichen Widerstände, mit denen die Geschichtswissenschaft zu kämpfen hat, lassen sich oft dadurch erklären, dass die Wissenschaft sich, wenn auch nicht intentional, anmaßt, den Menschen zu erklären, wer sie sind. Individuelle oder gesellschaftliche Vorstellungen, die vom wissenschaftlichen Konsens abweichen, werden allzu oft nicht mit Argumenten, sondern mit habituellem Gestus beiseite gewischt. Betrachten wir einen Moment lang die Geschichtswissenschaft als eine Psychoanalytikerin und die Gesellschaft als ihren Klienten, so wird klar, dass dieser Weg nicht produktiv sein kann. Arthur B. Mitzman versuchte sich im Rahmen einer Studie zum Nationalbewusstsein an der Untersuchung der „nicht bewußten, tieferen Schichten jenes Gruppenbewusstseins und seine(r) manifesten Ausprägungen“, die für die „irrationalen Auswüchse und das beträchtliche Potenzial dieses Bewusstseins, gesellschaftlichen Schaden anzurichten“ verantwortlich seien.5 Das ist ein ehrenwertes Anliegen, das jedoch an der distanzierten Haltung Mitzmans zur Psychoanalyse krankt: „Ich muß gestehen, daß ich eine bedeutende Rolle der psychoanalytischen Theorie zur Erklärung dieser Varianten des historischen Bewußtseins nicht erkennen kann.“ Das ist kein Wunder, bleibt doch Mitzmans Untersuchung eben der Analyse des Bewussten – nicht aber des Unbewussten – verpflichtet.

4Vgl.

John Tosh, Why History Matters, Houndsmills 2008, S. 120. B. Mitzmann, Vom historischen Bewußtsein zur mythischen Erinnerung. Nationale Identitäten, Zivilisationsprozesse und Unterdrückung im modernen Europa, in: Jörn Rüsen/ Jürgen Straub (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewußtsein, Frankfurt a. M. 1998, S. 397.

5Arthur

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Die Abscheu vor dem Irrationalen, das bei Mitzman deutlich wird, steht klar in der Tradition eines durch Norbert Elias tradierten Zivilisationsverständnisses6, dessen Grundlagen schon von Max Weber formuliert worden waren. Jedes Handeln, das nicht bewusster Reflexion entspringt, wird in dieser Sichtweise abgewertet. So urteilte Weber etwa über die Menschen des Mittelalters, dass diese sich „oft jenseits dessen, was man ein sinnhaft orientiertes Handeln überhaupt nennen kann [verhielten].“ Ihr Verhalten sei „oft nur ein dumpfes, in der Richtung der einmal eingelebten Einstellung ablaufendes Reagieren auf gewohnte Reize.“7 Gerd Althoff widersprach dieser Einschätzung vehement. Seine Argumentation verfolgte zwei Stoßrichtungen. Erstens seien mittelalterliche Kommunikationsstrategien in vielen Fällen viel bewusster eingesetzt worden als die ältere Forschung annahm; zweitens bezeichnete er das Irrationale als unverzichtbarem Bestandteil gesellschaftlichen Handelns: „Die Gewohnheiten orientieren sich […] an den Grundbefindlichkeiten dieser Gesellschaft, mildern deren Defizite und Schwächen, sichern ihre Grundbedürfnisse.“8 Immerhin brachte Mitzman aber einige wesentliche psychoanalytische Begriffe in die Debatte um das kollektive historische Bewusstsein ein (wenn er auch nicht recht wusste, wie damit umzugehen wäre). So setzte er sich mit der „Projektion libidinöser Energie auf kollektive gesellschaftliche Einstellungen“9 oder dem „kulturellen Über-Ich“ auseinander. Durchaus selbstreflexiv erklärte Mitzman Rationalisierungstendenzen der westlichen Wissenschaftstradition als „Furcht vor der Wiederkehr des Verdrängten“, nämlich von Kulturen, die durch das „Es“ als Quelle des irrationalen Affekts gekennzeichnet seien.10 Der psychoanalytische Blick auf Gesellschaft ist oftmals ebenso defensiv.11 Wer bei Freud nachliest, wird auf wenig stoßen, das man als optimistische Gesellschaftsanalyse betrachten könnte. Das Soziale tritt dort zumeist als feindlich

6Vgl.

Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 1976. 7Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1985, S. 12. 8Gerd Althoff, Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation für das Verständnis des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 31 (1997), S. 372. 9Mitzman 1998, S. 408. 10Mitzman 1998, S. 409. 11Einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand gibt Joel Whitebook, Unser doppeltes Erbe. Psychoanalytische Sozialtheorie heute, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 3 (2018) (S. 181–193).

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gesonnene Umwelt auf, mit der das Es sich herumschlagen muss, als Milieu, das dem Subjekt ungefragt seinen Stempel aufdrängt, als Vorgänger des Über-Ich, der dem Kind die ursprüngliche narzisstische Selbstliebe gründlich austreibt und ihm Schuldbewusstsein einflößt. Übrig bleibt eine Massenkultur12 zugerichteter, freudig im Gleichschritt marschierender Subjekte, die gehöriges Unbehagen13 bereitet. Diese Sichtweise ist aus ihrem historisch-biografischen Entstehungszusammenhang erklärbar. Das Europa der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war durch eine Massenkultur geprägt, die einen Bruch mit der aristokratisch anmutenden aufgeklärten Wahrnehmung des Staatsbürgers als Individuum darstellte. Viele Intellektuelle der Zeit waren von dem Phänomen fasziniert und gleichzeitig abgestoßen. Sie nahmen in der entindividualisierten Masse eine Epochensignatur wahr, die jene Entwicklungen von Wirtschaft und Technik vertrat, die den Menschen zu Maschinenteilen umfunktionierten. In der Masse ginge demnach jedes echte Volks- und Klassenbewusstsein verloren. Als Teil der Masse könne der Mensch nicht Staatsbürger sein. Siegfried Kracauer schrieb darüber: „Volksgemeinschaft und Persönlichkeit vergehen, wenn Kalkulabilität gefordert ist; der Mensch als Massenteilchen allein kann reibungslos an Tabellen emporklettern und Maschinen bedienen. Das gegen Gestaltunterschiede indifferente System führt von sich aus zur Verwischung der nationalen Eigenarten und zur Fabrikation von Arbeitermassen, die sich an allen Punkten der Erde gleichmäßig einsetzen lassen.“14 In den Revueshows der „Tiller Girls“ erkannte Kracauer eine Inszenierung von Erotik, einen Signifikanten, dem das Bezeichnete abhanden gekommen war und der nur noch den Ort der Erotik markierte, ohne dass die entindividualisierten Frauen tatsächlich erotisch waren. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin und viele andere schlugen in dieselbe Kerbe. Sigmund Freud thematisierte das tiefenpsychologische Verhältnis von Individuum und Masse zuerst 1921, einige Jahre nachdem sich die massenhafte Begeisterung für den Krieg in den Schützengräben ausgeblutet hatte, in „Massenpsychologie und Ich-Analyse“. Neun Jahre später griff er das Thema unter dem Eindruck des Aufstiegs des Faschismus in „Das Unbehagen in der Kultur“ nochmals auf. Freuds Urteil über den Einfluss der Masse auf das Subjekt fiel denkbar

12Vgl.

Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, in: Anna Freud/Ilse Grubrich-Simitis (Hg.), Sigmund Freud. Werkausgabe in zwei Bänden (Bd. 2), Frankfurt a. M. 2006 (C) (S. 427–482). 13Vgl. Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M. 2015. 14Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M. 1977, S. 53.

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schlecht aus. Er ging davon aus, „daß ein einzelner innerhalb einer Masse durch den Einfluss derselben eine oft tiefgreifende Veränderung seiner seelischen Tätigkeit erfährt. Seine Affektivität wird deutlich gesteigert, seine intellektuelle Leistung merklich eingeschränkt, beide Vorgänge offenbar in der Richtung einer Angleichung an die anderen Massenindividuen.“15 In der Masse werde der Einzelne enthemmt und blöd, also tierisch und damit entmenschlicht. Freud unterschied zwischen unterschiedlichen Arten von Massen. Einige, etwa die Armee, sind hochorganisiert und werden durch äußeren Zwang zusammengehalten – das entspricht etwa Kracauers Sichtweise auf die entmenschlichten Arbeiterheere. Dennoch war für Freud die Funktionsweise von Massen vor allem Ergebnis intrinsischer Motivation ihrer Mitglieder. In ihrem Zusammenhalt komme die narzisstische Selbstliebe ihrer Mitglieder zum Ausdruck, die externalisiert und auf die Masse gerichtet werde. Es sei folglich so, „daß Liebesbeziehungen […] auch das Wesen der Massenseele ausmachen.“16 Keine andere Triebkraft könne stark genug sein, Menschen zur Masse zu vereinigen und damit zur Selbstaufgabe zu bewegen: „Welcher Macht könnte man aber diese Leistung eher zuschreiben als dem Eros, der alles in der Welt zusammenhält?“ Es entstehe der Eindruck, „wenn der einzelne in der Masse seine Eigenart aufgibt und sich von den anderen suggerieren läßt, er tue es, weil ein Bedürfnis bei ihm besteht, eher im Einvernehmen mit ihnen als im Gegensatz zu ihnen zu sein, also vielleicht doch » ihnen zuliebe « .“17 Das erklärt die innige und für Außenstehende nicht nachvollziehbare Liebe unter Kameraden. Unbewusst erkennt jeder von ihnen, dass der andere den existenziell bedrohlichen Akt der Selbstaufgabe ihm zuliebe vollzogen hat. Dass wir gegenwärtig die Masse als gesellschaftliches Phänomen weniger stark wahrnehmen, als das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall war, sollte nicht den Blick auf die Antworten verstellen, die uns die Psychoanalyse für die Gegenwart bietet. Die von Wilhelm Heitmeyer gestellte Frage „Was hält die Gesellschaft zusammen?“18 würde Freud mit dem Verweis auf libidinöse Bindungen beantworten. Jene Selbstliebe, die dem Kind durch die Umwelt genommen wird, wenn es lernen muss, dass seiner Triebbefriedigung und Wunscherfüllung

15Freud

2006 (C), S. 441. 2006 (C), S. 444. 17Freud 2006 (C), S. 444. 18Wilhelm Heitmeyer (Hg.), Was hält die Gesellschaft zusammen? (Bundesrepublik Deutschland: Auf dem Weg von der Konsens- zur Konfliktgesellschaft Bd. 2), Frankfurt a. M. 1997. 16Freud

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soziale Grenzen gesetzt sind, richtet das Subjekt auf seine Umwelt. Jene eigenen Persönlichkeitsanteile, die es in anderen wiedererkennt, werden zum Objekt seiner Libido. Wir lieben also an unseren Mitmenschen stets das, was wir an uns selbst zu lieben verlernt haben. Das geliebte Objekt „wird dabei an die Stelle des IchIdeals gesetzt. Darum verhält es sich dann plötzlich so, als ob die liebende Person kein eigenes Ich-Ideal mehr hätte. In der Liebe verlieren wir darum die Differenzierung unseres psychischen Apparates; wir werden sozusagen paranoid.“19 Unter der von Robert Pfaller angedeuteten Paranoia ist also nicht Verfolgungswahn im allgemein gebrauchten Sinne zu verstehen, sondern eine ganz bestimmte Vorstellung. Sie beinhaltet, dass alles, was als Angriff auf eine Gruppe, mit der ein Subjekt sich identifiziert, von diesem als existenziell bedrohlicher Angriff gegen es selbst empfunden wird. Wer meine Nation, meine Religionsgemeinschaft, meine Familie, meinen Fußballverein etc. schmäht oder missachtet, greift auch mich selbst unmittelbar an. Wenn die narzisstische Selbstliebe externalisiert wurde, wird der Angriff auf das geliebte Stellvertreterobjekt notwendigerweise internalisiert. Da eigentlich alle sozialen Gruppen ihre Identität maßgeblich aus Geschichte beziehen, gehört Zweifel an der Geschichte mithin zum Schlimmsten, was man einem Subjekt androhen kann. Umgekehrt drückt eine Affirmation des identitätsstiftenden Geschichtsbildes stets auch eine Anerkennung des Subjekts aus. Die verlorene kindliche Selbstliebe kehrt über das historische Narrativ aus der vorgestellten Vergangenheit in die subjektive Gegenwart zurück. Martin Broszat über die seltsam intensiv empfundene Hingabe der Deutschen zum Nationalsozialismus: „Schwerlich hat vor der nationalsozialistischen Bewegung irgendeine Potenz der deutschen Geschichte in solchem Maße geistig, moralisch und politisch von der Anhängerschaft und Hingabe derjenigen gezehrt, die gar nicht zu ihr gehörten, sie im Grundsätzlichen verkannten und mit ihren eigenen unartikulierten Vorstellungen verwechselten.“20 Broszat hatte in seinem Buch über den „Staat Hitlers“ bemerkt, wie schwierig es sei, angesichts der erratischen Verhältnisse, die sowohl Machtapparat wie aus Ideologie des NS-Staats auszeichneten, sowie des sprunghaften Vorgehens bei der konkreten Machtausübung, das NS-Regime theoretisch schlüssig zu fassen.21 Manches daran wird verständlicher, wenn man

19Robert

Pfaller, Erwachsenensprache. Über ihr Verschwinden aus Politik und Kultur, Frankfurt a. M. 2018, S. 134. 20Martin Broszat, Der Nationalsozialismus. Weltanschauung, Programm und Wirklichkeit, Stuttgart 1960, S. 12–13. 21Vgl. Martin Broszat, Der Staat Hitlers. Grundlegung und Entwicklung seiner inneren Verfassung, München 1962, S. 9.

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versucht, die „unartikulierten Vorstellungen“ seiner Anhänger als Ausdruck des historischen Unbewussten zu fassen. Jene „Verwechslung“, als die Broszat die libidinöse Bindung an den Nationalsozialismus (v)erkannte, ist nicht weniger als folgerichtiges Ergebnis des Wunsches nach Identifikation des Subjekts mit der Gemeinschaft. In der durch den Nationalsozialismus versprochenen Überwindung der Krisen der Vergangenheit, des verletzten kollektiven Stolzes der Verlierer des Weltkriegs, die Ablehnung des „Schandfriedens“ der Pariser Vorortverträge und schließlich das Versprechen, die Herrschaft des deutschen Volks als „tausendjährig“ überzeitlich zu transzendieren, sehen wir die Geschichtsarbeit am Werk. Das subjektiv empfundene Gefühl der Zurücksetzung, das viele Deutsche empfanden, fand seinen Ausdruck als Ressentiment. Der Nationalsozialismus bediente sowohl dieses Gefühl, wie es auch den Deutschen als „Ariern“ ein positives Identifikationsangebot machte. Er griff Strömungen des kollektiven Unbewussten auf, die – wie Broszat bemerkte – einen viel weiteren Adressatenkreis ansprachen, als der ideologische Kern der Bewegung das konnte. Diese These gilt, wie Ian Kershaw feststellte, vor allem für die Zeit der Machtübernahme – später kamen andere stabilisierende Faktoren hinzu22 – und selbstverständlich taugt sie auch nicht als monokausale Erklärung. Für den Erfolg gesellschaftlicher Identifikationsangebote, die auf dem kollektiven historischen Unbewussten beruhen, ist die Begeisterung der Anhänger des Nationalsozialismus nur ein Beispiel – wenngleich ein ungemein starkes. Die „generationelle Deutungsarbeit“23 nach dem Ende des zweiten Weltkriegs sorgte dafür, dass kollektive Identitätsangebote per se in Verdacht gerieten – der Holocaust hatte sie insgesamt nachhaltig diskreditiert. Dieser Entzug der Bindung an eine Gemeinschaft erzeugt jedoch neues Ressentiment. Indem die posthistoristische Geschichtswissenschaft verkündet, dass es keine historische Wahrheit gibt, bezichtigt sie ohne es zu wollen die libidinöse Verbindung von Subjekt und sozialer Gruppe der Lüge. Dasselbe gilt für den Antinationalismus, den Multikulturalismus und sogar das christliche Gebot der Nächsten- und Feindesliebe. Kein Subjekt kann alles so lieben, wie sich selbst lieben möchte,

22Vgl.

Ian Kershaw, Soziale Motivation und Führer-Bindung im Staat Hitlers, in: Norbert Frei (Hg.) Martin Broszat, der „Staat Hitlers“ und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 79. 23Nicolas Berg, Zeitgeschichte und generationelle Deutungsarbeit, in: Norbert Frei (Hg.) Martin Broszat, der „Staat Hitlers“ und die Historisierung des Nationalsozialismus, Göttingen 2007, S. 161.

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weil es sich nicht mit allem gleichermaßen identifizieren kann. Die universelle Nächstenliebe muss deshalb vom Subjekt umgedeutet werden zur Liebe zu dem, was ihm selbst am ähnlichsten ist. Sie bleibt also Selbstliebe. 2013 plakatierte die FPÖ ihren Parteichef Heinz-Christian Strache mit der Aufschrift: „Liebe deine Nächsten. Für mich sind das unsere Österreicher.“. Durch den Mechanismus der Externalisierung setzt sich die Struktur der Psyche mit ihren Trieben und Wünschen in der Gesellschaft fort. Jede bewusste und unbewusste Kränkung, jedes Trauma und jeden Wunsch, alle Vorgänge der Psyche, die das fragile Ich gegen die maßlosen Ansprüche des Es und die gnadenlosen Vorschriften des Über-Ich ins Feld führen kann, bringen wir in die Gesellschaft ein, deren Teil wir sind. Das kollektive historische Unbewusste konstituiert sich als Produkt vielfacher subjektiver Inhalte des Unbewussten. Gleichzeitig verinnerlichen wir alles Gesellschaftliche, mit dem wir uns stellvertretend identifizieren. Das subjektive und das kollektive historische Unbewusste sind nicht voneinander zu trennen; sie bedingen und erzeugen einander. Die Geschichtswissenschaft bot gesellschaftliche Antworten auf die subjektiven Fragen „Wo komme ich her?“, „Wie wurde ich zu dem, was ich bin?“ und, weil die Geschichte als Lehrmeisterin für das Leben verstanden wurde, auch „Was wird aus mir?“. Jene historischen Narrative, die von der Geschichtswissenschaft zur Verfügung gestellt wurden, leiteten die schon in früher Kindheit disziplinierte Eigenliebe auf die Gesellschaft, indem sie es ermöglichten, dass wir etwas von uns selbst – unser Herkommen – dort wiederfinden. Der Wunsch nach Geschichte ist der menschlichen Psyche zu eigen. Dieser tief verwurzelte Wunsch wird dem Subjekt verwehrt, wenn es von jenen, die es für historische Fachleute hält, keine eindeutigen Antworten auf seine Fragen erhält. Dieser scheinbare Mangel an Geschichte, als der ein Mangel an verbindlichen Narrativen empfunden wird, erscheint dem Subjekt existenziell bedrohlich. Im fiktiven Zwiegespräch, das Freud in „Die Frage der Laienanalyse“ hielt, erklärte er seinem Gesprächspartner, dass die Psychoanalyse Erinnerungen, Einfälle oder Träume erst deuten müsse – sie selbst enthielten noch keine Aussage. Der Gesprächspartner, dessen Erwartungshaltung durch diese Klarstellung irritiert wird, reagiert entsetzt: „Deuten! Das ist ein garstiges Wort. Das höre ich nicht gerne, damit bringen Sie mich um alle Sicherheit. Wenn alles von meiner Deutung abhängt, wer steht mir dafür ein, daß ich richtig deute?“24

24Sigmund

Freud, „Die Frage der Laienanalyse. Unterredungen mit einem Unparteiischen“, in: Anna Freud/Ilse Grubrich-Simitis (Hg.), Sigmund Freud. Werkausgabe in zwei Bänden (Bd. 1), Frankfurt a. M. 2006 (D) (S. 17–69), S. 45.

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Niemand, aber gerade dieser Zweifel ist schwer zu ertragen. In seiner eigentümlichen Vorliebe für Metonymie bezeichnete Slavoj Žižek den geheimen Zweifel, ob die eigene Identität mit der gesellschaftlichen in Übereinstimmung zu bringen sei, als „Hysterie“.25 Das hysterische Subjekt findet also kein Objekt, auf das es seine verlorene Eigenliebe übertragen könnte. Ohne diese Eigenliebe kann niemand leben. Wenn die Geschichtswissenschaft kein Objekt dafür zur Verfügung stellen kann, haben es jene politischen Strategien umso leichter, die genau diesen Wunsch erfüllen. Führerkult, Xenophobie, Hetze – diese „Wir und die anderen“-Strategien geben dem Subjekt, was es schmerzlich vermisst: Gesellschaftliche Identität. Der ständig wiederholte populistische Bezug auf das Volk verweist auf ein ungelöstes Problem repräsentativer Demokratien. Bis in die 1980er Jahre hinein beruhten die politischen Systeme Westeuropas auf weitgehender ethnischer Homogenität. Nachdem Genozid, Krieg und die von ihnen verursachten Fluchtbewegungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts vorüber waren, fanden sich in den europäischen Nationalstaaten Bevölkerungen, deren Angehörige meist in Anspruch nehmen konnten, autochthone Bewohner des jeweiligen Staates zu sein. Die unter anderem von Yasha Mounk vorgetragene These, dass ein hoher Grad ethnischer Homogenität notwendige Bedingung für den sozialen Zusammenhalt in demokratischen Staaten darstellt, lässt keine hoffnungsvolle Prognose für die europäischen Demokratien erwarten. „Seit Anbeginn der Demokratie befürchteten Bürger, sie würden ihre eigene Stimme schwächen, wenn sie Außenseitern eine Vollmitgliedschaft in ihrem exklusiven Klub gewährten. Im heutigen Europa – das sich lange Zeit durch seine Homogenität definiert hat und nun unter rapide zunehmenden wirtschaftlichen Ängsten leidet – gibt es also noch bessere Gründe, zu befürchten, dass sich der demografische Wandel nicht problemlos vollziehen wird. Die Frage ist, wie fundamental diese Spannungen sind – und ob sie überhaupt überwunden werden können.“26 Von jenen Gastarbeiter, die in den Sechzigern und Siebzigern nach Deutschland und Österreich gekommen waren, erwartete man, dass sie wieder in ihre Heimatländer zurückkehren würden. An politischen Entscheidungsprozessen hatten sie häufig ohnehin ebenso wenig Anteil wie am gesellschaftlichen Leben der Mehrheitsbevölkerung oder an den sozialstaatlichen Sicherungssystemen. Den Staatsbürgern fiel es leicht, sich mit dem politischen System zu identifizieren, das

25Vgl.

Walach 2018, S. 128. Mounk, Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht, München 2018, S. 192.

26Yasha

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praktisch nur Menschen beinhaltete, die als Teil derselben Ethnie und Geschichte verstanden wurden. Der unbewusste Wunsch der Projektion kindlichen Narzissmusʼ auf die Gesellschaft ist oftmals durch latente rassistische und xenophobe Grundhaltungen geprägt. Das zeigte sich zunehmend, als Kinder und Enkel der zuvor Eingewanderten und vom blutigen Zerfall Jugoslawiens verursachte Fluchtbewegungen der autochthonen Mehrheitsbevölkerung klar machten, dass die westeuropäischen Gesellschaften zukünftig multikulturell strukturiert sein würden. Im Diskurs wurden fast ausschließlich ethnische Unterschiede betont, die als kulturelle Inkompatibilitäten verstanden wurden. Dass Berliner oder Wiener mit Zuwanderern aus Istanbul oder Sarajevo manches gemeinsam haben, was sie andererseits von alpenländischen Bergbauern trennt, drang nicht ins kollektive Bewusstsein vor. Auch der Verweis auf die multiethnische Geschichte insbesondere der österreichischen Bevölkerung, deren Angehörige zu großen Teilen slawische Vorfahren haben, verfing nicht. Dieser Umstand wurde 1973 treffend auf einem Plakat gegen zunehmende Fremdenfeindlichkeit dargestellt. Im breiten Wiener Dialekt hieß es dort: „I haaß Kolaric, du haaßt Kolaric. Warum sognsʼ zu dir Tschusch?“. Die Anwesenheit von Zuwanderern in Westeuropa wurde zum Problem, sobald diese begannen, am politischen System zu partizipieren. Die sogenannten Migranten zweiter und dritter Generation sind mehrheitlich Staatsbürger des jeweiligen Gastlandes ihrer Eltern. Als solche nehmen sie ihre Bürgerrechte war, indem sie das aktive und passive Wahlrecht sowie die Vorzüge des Sozialstaats nutzen. Vor allem auf diesen Umstand bezieht sich die öffentliche Debatte. Die allgemeine Abschwächung des Wirtschaftswachstums im Vergleich zu den ersten Nachkriegsjahrzehnten und die steigende soziale Ungleichheit zwischen Reich und (verhältnismäßig) Arm erzeugen Abstiegsängste. Im erwarteten Konkurrenzkampf erscheinen die Zuwanderer, die überproportional oft auf Sozialhilfen angewiesen sind, als Konkurrenten. Diese Entwicklung ist sicherlich ein wesentlicher Impetus für Ausländerfeindlichkeit und Rassismus. Dennoch darf die tiefenpsychologische Dimension des Phänomens nicht außer Acht gelassen werden. Wenn die Gesellschaft als inhomogen oder gar gespalten betrachtet wird, kann die narzisstische Selbstliebe nicht mehr länger auf die gesamte Gesellschaft, sondern nur noch auch partikulare Gruppierungen gerichtet werden. Ein politisches System, das seinerseits beansprucht, das gesamte Gemeinschaftswesen zu vertreten, wird dann nicht als legitime Vertretung der jeweils eigenen gesellschaftlichen Identität erfahren. An diesem Widerspruch hakt der Populismus ein. Er versucht, den demos auf die ehemals vorhandene Ethnie zu beschränken, indem er die Fremden zu

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Menschen zweiter Klasse erklärt. Das geschieht etwa, indem Sozialleistungen für Zuwanderer gekürzt werden. Durch diese Maßnahme können populistische Politiker die Abstiegsangst der Mehrheitsbevölkerung adressieren und dieser gleichzeitig signalisieren, dass sie in erster Linie ihr Wohl und nicht das Gesamtwohl der Einwohner im Sinn hätten. Dass bei der Verunstaltung mancher Kolaric-Plakate ausgerechnet das Gesicht des „Tschuschen“ Kolaric übermalt wurde27, ist außerordentlich vielsagend. Die Übermalung stellt einen Versuch dar, die unerträgliche Spannung zwischen dem triebhaften Wunsch, sich mit der Gesellschaft zu identifizieren und den Inkongruenzen, die der Erfüllung dieses Wunsches im Weg stehen, zu lösen, indem das Irritierende ausgelöscht wird. Zwischen der symbolischen Auslöschung am Plakat und der tatsächlichen im Genozid besteht eine Verbindung: Beide beruhen auf denselben unbewussten Wünschen. Populisten nützen den Bruch zwischen ethnisch homogener Gruppenidentität und dem politischem System, das auf das ganze Staatswesen bezogen ist, um die Repräsentanten dieses Systems zu diskreditieren. Übliche Taktik ist, sich mit potenziellen Wählerinnen und Wählern gegen die vermeintlich desinteressierte politische Elite rhetorisch zu verbünden. „Sie sind gegen ihn, weil er für euch ist“, plakatierte die FPÖ im österreichischen Nationalratswahlkampf sowohl 1994, als auch 2008 auf den jeweiligen Spitzenkandidaten bezogen. „Weil wir für euch sind, sind sie gegen uns“ schrieb auch die AFD 2016 auf ihre Plakate. Unter Donald Trumps Slogan „America First“ nahm diese Strategie im US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 2016 globale Dimensionen an. Hillary Clinton sei eine Volksverräterin, die Konzerninteressen diene, Trump hingegen stünde auf der Seite des Volkes: „I am your Voice!“28, war das Mantra seines Wahlkampfs. Slogans wie diese sprechen den Wunsch nach Identifikation mit politischen Führern ebenso unmittelbar an wie das Gefühl mangelnder Liebe, das sich im „Verrat“ des Establishments ausdrückt. Die politische Linke und mit ihr große Teile der Geistes- und Gesellschaftswissenschaften haben sich dem postmodernen Ende der Ideologien angeschlossen, weil sie Lehren aus den Blutbädern des ideologisch sattelfesten 20. Jahrhunderts zu ziehen bereit waren und weil diese Position bis heute intellektuell überzeugender ist als das klassische Denken der Moderne. Intellektuelle wie Jürgen Habermas

27http://www.demokratiezentrum.org/wissen/bilder.html?index=877,

zuletzt aufgerufen am 05.03.2018. 28Full text: Donald Trump 2016 RNC draft speech transcript Online verfügbar unter: https://www.politico.com/story/2016/07/full-transcript-donald-trump-nomination-acceptance-speech-at-rnc-225974, zuletzt aufgerufen am 21.02.2018.

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glaubten an die geistige Kraft eines idealisierten aufgeklärten Bürgers, der über die dumpfen Triebe jener Massen, die den Nationalsozialismus getragen hatten, erhaben sei. Nicht selten mischten sich, wie bei Theodor W. Adorno, in dieser Hoffnung Entsetzen über das Erlebte mit Proletenekel. Rückblickend zeigte sich aber schon in den 1980er Jahren, dass bloße Negation – „Nie wieder Krieg!“, „Niemals vergessen“, Antifaschismus, Antirassismus, Antisexismus, Antiheteronormativismus, etc. kein tragfähiges Narrativ für demokratische Gesellschaften sein konnte. Der Linken, die sich, erschrocken über die Zerstörungskraft der Metanarrative der Moderne, darauf verlegt hatte, die taxative Ablehnung von allem, das sie als schädlich für die Gesellschaft empfand, zum höchsten Gut zu erheben, fehlte eine anschlussfähige Erzählung, die über Verbindungen zum kollektiven Unbewussten integrative Kraft hätte entwickeln können. Die repräsentative Demokratie steckt in der Krise. Niedrige Wahlbeteiligung, der Aufstieg populistischer Kräfte und die Schwächung der Sozialdemokratie sind Symptome einer Entwicklung, die spätestens seit den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer fortschreitenden Delegitimierung gewachsener politischer Strukturen in den Augen großer Teile des Volkssouveräns führten. Für die Summe dieser Prozesse hat sich das Schlagwort von der Postdemokratie etabliert.29 Deren Wurzeln sucht man gemeinhin in den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen politischen Handelns und einer politischen Kommunikationskultur, in der die Inszenierung von Politik als Ersatz für politische Partizipation von Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern gehandelt wird. Ich möchte ein historisches Argument in die Debatte einbringen. Diese historische Sichtweise kann nicht beanspruchen, den Wandel politischer Kultur alleine erklären zu können, aber sie fügt dessen Analyse einen wichtigen Blickwinkel hinzu. Politik ist nicht ohne Geschichte denkbar, denn die Gesellschaften des sogenannten modernen Westens30 sind allesamt insofern rückwärtsgewandt, als sie für ihren Zusammenhalt auf historische Narrative ihres Herkommens angewiesen sind. „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz“31, sagte der

29Der

Begriff wurde durch das gleichnamige Buch des englischen Politologen Colin Crouch bekannt. Vgl. Colin Crouch, Post-Democracy, Oxford 2004. 30Jene Gesellschaften und ihre politische Systeme also, die C. Crouch als „gewachsene Demokratien“ bezeichnet. Crouch 2004, S. 7. 31Joachim Gauck, Bundespräsident Joachim Gauck zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2015 in Berlin, S. 7. Online verfügbar unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Downloads/DE/Reden/2015/01/150127-Gedenken-Holocaust.pdf;jsessionid=ADE2FC26109C97187626A1A1D7C28A27.1_ cid371?__blob=publicationFile, zuletzt aufgerufen am 21.12.2017.

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damalige Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des Lagers und brachte damit die überragende Bedeutung historischer Narrative für die Identität demokratischer Gesellschaften auf den Punkt. (Identitäts-)Politik in Deutschland und Europa sei, so der ehemalige bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber, „ohne Rückgriff auf die Geschichte, auf die historische Erfahrung und ohne die immer wieder vorzunehmende Neuordnung und Neustrukturierung des historischen Wissens undenkbar.“32 Unter anderen Vorzeichen galt das auch für sozialistischen Systeme des 20. Jahrhunderts, die zwar dem Anspruch nach auf künftige Entwicklungen und das Erreichen einer klassenlosen Gesellschaft ausgerichtet waren, tatsächlich aber stets historische Narrative zu ihrer Legitimierung einsetzten – man denke etwa an die historisierende Thomas Müntzer-Rezeption in der DDR. Apropos Sozialismus: Ist es zielführend, überhaupt noch von „Gesellschaft“ zu sprechen, so zu tun, als gebe es ganzheitliche soziale Systeme, in die Subjekte eingeordnet sind? Nicht zuletzt die Hegemonie des Kapitalismus als Entwurf für das (Zusammen-)Leben, die durch das Verschwinden des „Realsozialismus“ zuerst in Europa und – unter ganz anderen Vorzeichen – später auch in Ostasien zu einer globalen Vorherrschaft wurde, ließ das in den 1990er Jahren fraglich erscheinen. Den kapitalistischen Gesellschaften war ihr Antagonist abhandengekommen. Angesichts globalisierter Märkte und Kommunikationsmöglichkeiten, gesteigerter Mobilität insbesondere in der Europäischen Union und dem Bedeutungsverlust der Nation als Identifikationsangebot erschien der fluidere und daher unverbindlichere Begriff „Gemeinschaft“ angemessener. Mit seiner Hilfe lässt sich unter Rückgriff auf Ferdinand Tönnies der Aspekt der Autonomie und Willensfreiheit der zur Gemeinschaft versammelten Subjekte betonen.33 Spätestens infolge der Anschläge vom 11. September 2001 erlebt der Gesellschaftsbegriff jedoch eine neue Konjunktur. Der kapitalistische Westen hat nun wieder ein Gegenüber, von dem er sich deutlich abgrenzen kann. Der neue Antagonismus zwischen westlichen Demokratien und islamischen Gesellschaften des Nahen und Mittleren Ostens trat anstelle der alten bipolaren Ordnung. Sowohl der sogenannte Westen als auch die islamischen Gesellschaften sind ausgesprochen heterogen. Das tut jedoch der politischen Funktionalisierung des

32Edmund

Stoiber, Grußwort, in: Stefan Weinfurter/Frank Martin Siefarth (Hg.), Geschichte als Argument. 41. Deutscher Historikertag in München, 17. Bis 20. September 1996, Berichtsband (S. 12–15), S. 13. 33Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen, Leipzig 1887, S. 1–5.

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Gesellschaftsbegriffs keinen Abbruch. In der Inszenierung des Abwehrkampfes gegen den Islam und den islamistischen Terror spielt der Rückgriff auf implizite konstitutive Merkmale westlicher Gesellschaften eine wichtige Rolle. Das gilt insbesondere für die Anwendung des propagandistischen Vokabulars auf Flüchtlinge aus mehrheitlich muslimischen Staaten. Sie und ihre Werthaltungen seien mit „unserer Gesellschaft“ nicht kompatibel. Diese Ansicht ist weit verbreitet: Die meisten Deutschen sahen 2014 ihre gesellschaftliche Identität durch Flüchtlinge gefährdet.34 „Multikulti stoppen“ und „Meine Heimat bleibt deutsch!“ waren gängige Aufschriften auf Transparenten der Pegida-Anhänger. Die Furcht vor „Überfremdung“ oder „Umvolkung“ und der damit einhergehenden Bedrohung für Leib und Leben der Autochthonen trägt mitunter paranoide Züge. So wird in Westeuropa der Anteil an Straftätern mit Migrationshintergrund konsequent überschätzt und die Mehrheit der Westeuropäer glaubt fälschlicherweise, die Zahl an Terroropfern in Europa sei in den 15 Jahren nach 9/11 höher als davor.35 Den Anteil muslimischer Mitbürger an der Gesamtbevölkerung schätzen Deutsche auf 21 % – tatsächlich sind es nur fünf.36 Der Staat und sein Auftreten den Bürgerinnen und Bürgern gegenüber sind folglich wieder stärker in den Fokus gerückt. Wenn gerade das Verhältnis zur staatlichen Gewalt als (unzureichender) Schutz vor Bedrohungen von außen als bestimmendes Merkmal des Zusammenlebens wahrgenommen wird, können Autonomie und freier Wille oder gar Unverbindlichkeit nicht als prägende Aspekte des Sozialen gelten. Unter den konstitutiven Kriterien von Gesellschaft – gemeinsame (ideelle) Güter, Reichweite der Mitgliedschaft und normiertes Verhältnis von Einzelnen zur Gemeinschaft37 spielt die kollektive Erinnerung eine herausragende Rolle. Nicht die prinzipiell unverfügbare Vergangenheit demokratische Gesellschaften, sondern die Art und Weise, wie eine vorgestellte Vergangenheit gesellschaftlich verhandelt wird, ist entscheidend dafür, ob und wie der Konsens über

34Vgl.

Andreas Zick/Madlen Preuß, ZuGleich. Zugehörigkeit und (Un)Gleichwertigkeit. Ein Zwischenbericht (o. J.), S. 26–27. 35Ipsos, Perils of Perception 2017 Online verfügbar unter: https://www.ipsos.com/sites/ default/files/ct/news/documents/2017-12/ipsos-mori-perils-of-perception-2017-charts.pdf, zuletzt aufgerufen am 08.03.2018. 36Ipsos, Perils of Perception 2016. A 40-Country Study Online verfügbar unter: https:// www.ipsos.com/sites/default/files/2016-12/Perils-of-perception-2016.pdf, zuletzt aufgerufen am 08.03.2018. 37Vgl. Hartmut Rosa (u. a.), Theorien der Gemeinschaft zur Einführung, Hamburg 2010, S. 176.

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gemeinsame Geschichte einen Konsens über Politik herstellen kann. Dabei spielt das sogenannte kollektive Gedächtnis, also das kulturell vermittelte gesellschaftliche Wissen über Vergangenheit, eine zentrale Rolle.38 Für Brüche in diesem Wissen sind repräsentative Demokratien besonders anfällig, können dort doch weder die politischen Eliten ein historisches Narrativ verordnen, noch die Bürgerinnen und Bürger selbst unmittelbar zusammenwirken, um eine gemeinsame Vorstellung von Vergangenheit zu entwickeln. Gerät ein hegemoniales historisches Narrativ unter Druck, betrifft das auch das Selbstverständnis vorgestellter Gemeinschaften39, die historisch konstituiert sind. Was aber, wenn das Konzept hegemonialer historischer Narrative grundsätzlich infrage gestellt wird?

38In

der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft sind die einschlägigen Arbeiten Jan und Aleida Assmanns unhintergehbar. Vgl. u. a. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; Aleida Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a. M. 1993; Dies., Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 39Vgl. Benedict Anderson, Imagined Communitites. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 1983.

3

Das kollektive Gedächtnis als politischer Vergangenheitskonsens

Die gegenwärtige Geschichtswissenschaft geht, anders als die Historisten des 19. und 20. Jahrhunderts nicht länger davon aus, dass die Vergangenheit der Wissenschaft als gegebener, objektiv erfassbarer Forschungsgegenstand zur Verfügung steht. Sie betrachtet hegemoniale Geschichtsbilder als Vergangenheitskonsense, die diskursiv erarbeitet werden. Während die historistische Geschichtswissenschaft kraft ihrer gesellschaftlichen Autorität festlegen konnte, wie die Vergangenheit „eigentlich gewesen“1 war, sehen sich Historikerinnen und Historiker der Gegenwart mit einer Vielzahl von Narrativen über Vergangenheit konfrontiert. Das seinerseits uneinheitliche wissenschaftliche Wissen über Geschichte tritt neben andere Wissensformen und kann nicht auf seine Hegemonie in diesem Verhältnis vertrauen. Das Sonderbare an dieser Situation ist, dass die historisch interessierte Öffentlichkeit jedoch genau das von der Geschichtswissenschaft zu erwarten scheint. Kaum eine Fernsehdokumentation zu historischen Themen kommt ohne Historiker aus, deren Auftritte als Versatzstücke einer wissenschaftlich verbrämten Fernsehästhetik einzig dazu dienen, das Gesagte zu legitimieren, indem es mit wissenschaftlicher Autorität ausgestattet wird. Populärwissenschaftliche Bücher, die, wie Christopher Clarks „Schlafwandler“2 komplexe Phänomene monokausal erklären, sind Bestseller. Clarks Buch ist symptomatisch für ein ambivalentes Verhältnis der Öffentlichkeit zur Geschichtswissenschaft. Um Legitimität und wissenschaftliche Autorität beanspruchen zu können, bediente sich Clark wissenschaftlicher Formen: Das Ausmaß des verarbeiteten Quellenmaterials ist enorm

1Leopold

von Ranke, Geschichten der romanischen und germanischen Völker (Bd. I: Von 1494–1514), Leipzig (u. a.) 1824, S. vii. 2Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_3

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und Clark wird nicht müde, die Komplexität seines Untersuchungsgegenstands zu betonen.3 Dadurch entsteht der Anschein wissenschaftlicher Objektivität, wo tatsächlich allerhöchstens intersubjektive Anschlussfähigkeit möglich ist. Angesichts der einfachen Schlüsse, die Clark letztendlich zieht, erhalten diese Qualitäten jedoch den Anschein rhetorischer Manöver. Während Teile des deutschen Feuilletons das Buch überschwänglich lobten4, waren auch kritische Meinungen zu lesen.5 Andreas Wirsching bemerkte trocken, der Verkaufserfolg von Clarks Buch sage viel aus – über die Befindlichkeit der Deutschen.6 „Offenkundig trifft das Buch einen Nerv deutschen Geschichtsbewusstseins. Dessen Reflexe entsprechen zwar nicht dem öffentlich verhandelten Mainstream; subkutan aber besitzen sie eine nach wie vor beachtliche Bedeutung: Es ist das Empfinden, von der Geschichte im Allgemeinen und von den Europäern im Besonderen ungerecht behandelt und zu Unrecht angeklagt worden zu sein.“7 Das ist die andere Seite des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit: Wissenschaftliche Laien vertrauen auf die Integrität der Arbeitsweise von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, verlangen in manchen Fällen aber, was diese gerade deshalb nicht liefern können – einfache und angenehme Antworten auf komplexe und unangenehme Fragen. Das geschichtswissenschaftliche Wissen wird dann im schlimmsten Fall als Elitendiskurs empfunden, der im Widerspruch zur allgemeinen Wahrnehmung von Vergangenheit steht. Dass dadurch nicht die öffentliche Meinung, sondern das wissenschaftliche Wissen diskreditiert wird, ist folgerichtiges Ergebnis des aufgegebenen Wahrheitsanspruchs der Geschichtswissenschaft.

3Vgl.

Clark 2012, vielerorts, insbes. S. xxiv; xxvii; 555. Holger Affenbach, Schlafwandelnd in die Schlacht, in: Der Spiegel 39/2012 (S. 50–51). 5Vgl. Volker Ullrich, Zündschnur und Pulverfass, in: Zeit Online, 12.09.2013. Online verfügbar unter: http://www.zeit.de/2013/38/sachbuch-christopher-clark-die-schlafwandlereuropa-erster-weltkrieg, zuletzt aufgerufen am 20.12.2017; Gerd Krumreich, Unter Schlafwandlern, Süddeutsche Zeitung, 30.11.2012. Online verfügbar unter: http://www. sueddeutsche.de/kultur/buch-zum-ersten-weltkrieg-unter-schlafwandlern-1.1537592, zuletzt aufgerufen am 20.12.2017. 6Vgl. Andreas Wirsching, Schlafwandler und Selbstmitleid, in: Süddeutsche Zeitung, 27.07.2014. Online verfügbar unter: http://www.sueddeutsche.de/politik/ausbruch-desersten-weltkrieges-schlafwandler-und-selbstmitleid-1.2047555, zuletzt aufgerufen am 20.12.2017. 7Wirsching 2014. 4Vgl.

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Es ist eine verfahrene Situation: Wenn die Wissenschaft völlig zurecht über sich selbst sagt, dass sie keine allgemein gültigen Wahrheiten erforschen, sondern bloß methodisch abgesicherte Narrative hervorbringen könne, scheint sie damit eben diese Narrative zu delegitimieren. Dass Geschichte in der öffentliche Debatte immer noch in den Bahnen historistischen Denkens verhandelt wird, zeigt, wie weit wissenschaftliches und öffentliches Wissen über Geschichte auseinanderklaffen. Der Einfluss der Geschichtswissenschaft auf das kollektive Gedächtnis, den gesellschaftlich geteilten und konstitutiven Wissensbestand über Vergangenheit, ist im Schwinden. So stellte Lothar Gall 1996 anlässlich der Eröffnung des Deutschen Historikertages einigermaßen irritiert fest, dass sich die meisten, die sich der Geschichte bedienten, für geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse gar nicht interessierten.8 Es erstaunt kaum noch, in welchem Ausmaß „die Gesetze des Medienzeitalters die Herrschaft im Fach Geschichte übernommen haben.“9 Die posthistoristische Geschichtswissenschaft hat ihre hegemoniale Stellung in der Produktion öffentlichen Wissens verloren, gerade weil der Historismus dort nicht in der Krise ist. Die eigene relativistische Position kann mit den angemaßten Gewissheiten historistischen Denkens in öffentlichen Geschichtsbildern kaum konkurrieren. Was aber nützt es, die Erkenntnismöglichkeiten der Wissenschaft zu hinterfragen, wenn diese Kritik nicht oder nur unzureichend in Schulbücher, Populärwissenschaft und politische Inszenierung von Geschichte Eingang findet? Und wem überlässt die Wissenschaft dort die Deutungshoheit? Die Gruppe politischer Akteure, die ein Interesse an der Instrumentalisierung historischer Narrative haben, ist so groß wie sie vielfältig ist. Neben Einzelnen und Gruppen, die Teil institutionalisierter Politik sind, zählen dazu auch zivilgesellschaftliche Organisationen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch Publizisten – professionelle wie dilettantische. Diese letzte Gruppe ist im Zuge der Digitalisierung enorm angewachsen. War zuvor die Möglichkeit zur Veröffentlichung von Meinungen hauptsächlich Eliten vorbehalten, kann sich nun fast jeder in die öffentliche Debatte einbringen.

8Vgl.

Lothar Gall, Eröffnung des Historikertages in München, in: Weinfurter/Siefarth (Hg.) 1996 (S. 1–7), S. 1. 9Martin Sabrow, Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen zwei Welten, in: Martin Sabrow/ Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945 (Geschichte der Gegenwart, Bd. 4), Göttingen 2012 (S. 13–32), S. 20.

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Dem ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog wurde angesichts der „Geschichte als Argument“ der Politik „ein bißchen schwummerig“, weil schließlich die Geschichtswissenschaft eingesehen habe, dass sich Geschichte je nach Perspektive anders darstelle. „Gefährlich“ werde „die Sache dadurch, daß der Rückgriff auf Geschichte meist in solchen Momenten geschieht, in denen es um eine grundsätzliche Neuorientierung der Politik geht.“10 Festreden sind freilich geduldig. Roman Herzog selbst war die Geschichte als Argument nicht fremd. Zwei Jahre nach seiner Rede vor dem Historikertag scheute er nicht davor zurück, die brennenden Synagogen der Nacht auf den 10. November 1938 als Folge eines grassierenden „Nihilismus und Atheismus“ und der „ausdrücklichen Gottlosigkeit“ zu werten.11 Atheismus und den Auftakt zur Vernichtung derart in eins zu setzen, kann aus dem Mund eines überzeugt christlichsozialen Politikers nicht als absichtslos oder wertfrei verstanden werden. Dass die Shoa nicht auf einem Mangel an Überzeugung, sondern im Gegenteil auf ideologisch gefestigten und im kollektiven Gedächtnis fest verwurzelten Antisemitismus zurückgeht, musste Herzog klar gewesen sein. Die versuchte Umdeutung des historischen Narrativs diente politischen Zwecken, nämlich einer Bekräftigung der gesellschaftlichen Rolle der Kirchen, denen Herzog eine zentrale Rolle bei der Arbeit am deutschen Staat zubilligte.12 Diese Absicht wird dadurch unterstrichen, was Herzog über die Novemberpogrome nicht sagte: Das Schweigen der Kirchen zur Verfolgung, ihre Mitschuld an der Shoa, die in der jahrhundertealten Tradition der Judenverfolgung aus religiösen Motiven wurzelt, waren ihm keine Erwähnung wert. Hegemonie über das kollektive historische Wissen ist das Ziel politisch motivierte Gedächtnisangebote. Anders als ideale wissenschaftliche Narrative sind diese nicht multiperspektivisch, faktenbasiert und falsifizierbar sondern einseitig, kontrafaktisch und dogmatisch. Damit soll nicht gesagt sein, dass Wissenschaft

10Roman

Herzog, Rede des Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, in: Weinfurter/Siefarth (Hg.) 1996 (S. 14–15), S. 15. 11Roman Herzog, Rede von Bundespräsident Roman Herzog bei der Gedenkveranstaltung aus Anlaß des 60. Jahrestages der Synagogenzerstörung am 9./10. November („Reichspogromnacht“) in Berlin. Online verfügbar unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/Reden/1998/11/19981109_Rede.html, zuletzt aufgerufen am 22.12.2017. 12Vgl. Roman Herzog, Rede von Bundespräsident Roman Herzog anläßlich der Festveranstaltung „150 Jahre Deutscher Katholikentag“ in der Frankfurter Paulskirche. Online verfügbar unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Herzog/ Reden/1998/06/19980611_Rede.html, zuletzt aufgerufen am 22.12.2017.

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per se unpolitisch sei – das ist sie ganz sicher nicht. Es besteht jedoch ein qualitativer Unterschied zwischen Forschung, die wissenschaftspolitischer Positionierung dienen kann und intentionaler Mobilisierung von Geschichtsbildern für politische Zwecke. Jan und Aleida Assmann haben auf dem Gebiet des kollektiven Gedächtnisses unschätzbar wertvolle Pionierarbeit geleistet, doch die von Jan Assmann bereits in seiner grundlegenden Arbeit eingeführte Unterscheidung in kommunikatives und kulturelles Gedächtnis13 hat sich nicht in Bezug auf alle möglichen Fragestellungen zum kollektiven Erinnern als belastbar erwiesen. Das kommunikative Gedächtnis ist für Assmann jene Erinnerungsdimension, die als Teil der historischen Gegenwart erlebt wird, ein Nahhorizont mit unmittelbar lebensweltlicher Bedeutung.14 Zum kulturellen Gedächtnis gehören jene Geschichtsmythen „die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die […] normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.“15 Schon Assmann selbst gestand ein, dass sich die beiden Modi des gesellschaftlichen Erinnerns „vielfältig durchdringen.“16 Die Holocausterinnerung im 20. Jahrhundert ist Beispiel für diese Durchdringung. Obwohl der Holocaust zur persönlichen und lebensweltlich unmittelbar erfahrenen Vergangenheit vieler gehörte, entfaltete die Erinnerung daran schon früh jede identitätsstiftende Kraft und Symbolik, die Kennzeichen des kulturellen Gedächtnisses sind. Es ist also möglich, dass ein- und dieselbe Erinnerung gleichzeitig zum kommunikativen wie zum kulturellen Gedächtnis gehört. Die beiden Kategorien beschreiben also nur zwei unterschiedliche Formen kollektiven Erinnerns. Zwischen den beiden Polen des kommunikativen und kulturellen Gedächtnisses machte Jan Assmann unter Rückgriff auf den belgischen Ethnologen Jan Vansina eine Lücke in der kollektiven Erinnerung aus.17 Dass die überwiegende Mehrzahl geschichtswissenschaftlicher Forschungen in diese Lücke fällt, lässt alleine schon die Unterscheidung fragwürdig erscheinen. Haben die beiden Kategorien wenigstens an ihren Extremen einen deutlichen Nutzen? Leider ist die Unterscheidung auch dort nicht immer aufrechtzuerhalten. So löste etwa die „Wehrmachtsaustellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung (1995–1999

13Vgl. Assmann

1992. Aleida Assmann, Kultur als Lebenswelt und Monument, in: Aleida Asmann/Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt a. M. 1991 (S. 11–25), S. 12. 15Assmann 1992, S. 76. 16Assmann 1992, S. 51. 17Vgl. Assmann 1992, S. 50. 14Vgl.

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3  Das kollektive Gedächtnis als politischer Vergangenheitskonsens

und 2001–2004) ungemein heftige Kontroversen aus.18 Die Inhalte der Ausstellung wurden von sehr vielen Deutschen und Österreichern als lebensweltlich relevant empfunden, obwohl die Musealisierung als Form der Erinnerung eindeutig zum Bereich des kulturellen Gedächtnisses gehört. Die etablierten Konzepte kollektiven Erinnerns stoßen überall dort an ihre Grenzen, wo das Erinnern nicht bewusst, sondern unbewusst stattfindet. Ebenso wie bewusste Gedächtnisinhalte kann das historische Unbewusste Generationengrenzen überwinden, wie Werner Bohleber in Bezug auf das kollektive Trauma des Holocaust feststellte: „Ganz allgemein wird in der Verklammerung der Generationen das Erbe der vorausgehenden von der folgenden aufgenommen und bearbeitet. Was in der ersten Generation konkrete Erfahrung war, beschäftigt die nachfolgende Generation in ihrer Bilder- und Symbolwelt. […] Das extreme Trauma, der unbewältigte Verlust, das durch Schweigen erzeugte Geheimnis, all das gehört einerseits zur Realität der Elterngeneration, wird aber andererseits von den Kindern in deren Phantasie identifikatorisch übernommen.“19 Die Erfahrung des Holocaust machte so auch die Kinder und Enkel der Opfer auf Ebene des historischen Unbewussten zu Opfern. Dasselbe lässt sich aber auch für die Nachkommen der Täter (und aller komplexer Rollen dazwischen) konstatieren. Sie müssen sich oft noch Jahrzehnte nach Ende des zweiten Weltkriegs mit der Schuld vorangegangener Generationen auseinandersetzen. Ein – wie immer geartetes – Verhältnis zu dieser Schuld wird von ihnen internalisiert. Die Täterschaft der (Groß-)Elterngeneration wird so zum Teil der Identität von Menschen, die zu einer anderen historischen Zeit gehören. Die institutionelle Vermittlung von kollektiven Gedächtnisinhalten, die Assmann als kulturelles Gedächtnis bezeichnete, transportiert stets auch unbewusste Dispositionen zum jeweiligen Narrativ. Zum kollektiven Gedächtnis gehören also sowohl bewusste wie auch unbewusste Anteile. Letztere nicht beachten hieße, ein unvollständiges Bild des kollektiven Erinnerns zu zeichnen.

18Eine

Rückschau auf die Debatte und ihre Ergebnisses bieten u. a. Christian Hartmann/ Johannes Hürter/Ulrike Jureit, Verbrechen der Wehrmacht. Bilanz einer Debatte, München 2005, sowie ein Beitrag Hans-Ulrich Thamers zur Festschrift anlässlich des 60. Geburtstags Jan Philipp Reemtsmas: Hans-Ulrich Thamer, Eine Ausstellung und ihre Folgen. Impulse der „Wehrmachtsausstellung“ für die historische Forschung, in: Ulrich Bielefeld/Heinz Bude/Bernd Greiner (Hrsg.): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg 2012 (S. 489–503). 19Werner Bohleber, Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewußtsein, in: Jörn Rüsen/Jürgen Straub (Hg.), Die dunkle Spur der Vergangenheit. Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, Frankfurt a. M. 1998, S. 256.

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Indem emotional besetzte Anteile des historischen Unbewussten an der Überlieferung mit aktuellen Wahrnehmungen verknüpft werden, können sie zur Basis geschichtspolitischen Handelns werden. Im Wiener Gemeinderatswahlkampf 2005 plakatierte die FPÖ „Pummerin statt Muezzin“ und thematisierte damit unverhohlen die Belagerung Wiens durch ein osmanisches Heer 1683: Die Pummerin, die größte Glocke des Wiener Stephansdoms, wurde aus den erbeuteten osmanischen Kanonen gegossen und wird heute zu hohen Fest- und Trauertagen geläutet. Der erfolgreiche Kampf gegen die Osmanen ist ebenso fest im österreichischen kulturellen Gedächtnis verankert wie die Pummerin als nationaler Gedächtnisort. Ihre Zerstörung in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs steht für die Niederlage, ihre Wiederherstellungen für den Wiederaufbau des Landes. Die FPÖ griff das Motiv des Abwehrkampfes gegen die Osmanen immer wieder auf – besonders prominent in einem Wahlwerbecomic 2010, in dem Heinz-Christian Strache als Verteidiger Wiens auftrat. Strache – mit dem Schwert in der Hand – stachelte darin einen Wiener Jungen zum Kampf gegen die osmanischen Belagerer auf: „Wennst dem Mustafa ane aufbrennst, kriegst a Hasse spendiert!“20 Die geschichtspolitische Funktionalisierung dieser Gedächtnisinhalte für die Tagespolitik zeigt, dass eine Trennung zwischen kulturell verankerten Geschichtsbildern und aktueller lebensweltlicher Erfahrung nicht angemessen ist. Kollektive Gedächtnisinhalte können jederzeit reaktiviert werden, um als sinnstiftendes Fundament gegenwartsbezogener politischer Agenden zu dienen. Politische Inhalte, die mit historischer Identität verknüpft werden, beziehen aus der unbewussten Anbindung an individuelle Triebstrukturen erhebliche Wirkungsmacht. Wenn die Verbindung des Politischen mit den libidinösen Bindungen an kollektive Gedächtnisinhalte erst einmal etabliert ist, brauchen Botschaften, die diesen Zusammenhang adressieren sollen, gar nicht explizit historisch zu sein. Jede symbolische Repräsentanz, die über eine Assoziationskette mit dem Gedächtnisinhalt verbunden werden kann, steht dann stellvertretend für das historische Narrativ. Obwohl ein Großteil der antimuslimischen Propaganda der FPÖ nicht ausdrücklich historisierend ist, reicht der Verweis auf die Verteidigung des Abendlands, um die katalysatorische Wirkung des kollektiven historischen Unbewussten zu aktivieren. Als etwa die FPÖ 2011 „Abendland in Christenhand“ plakatierte, war die Verbindung zum Narrativ der Osmanenabwehr im historischen Unbewussten bereits etabliert.

20https://derstandard.at/1285199232845/Gruene-bringen-Anzeige-gegen-FPOe-Comic-ein, zuletzt aufgerufen am 22.02.2018.

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3  Das kollektive Gedächtnis als politischer Vergangenheitskonsens

In diesem Prozess sieht man die Geschichtsarbeit am Werk. Sie lässt sich in Mechanismen wie Verdichtung, Verdrängung, Verschiebung und sekundäre Bearbeitung zerlegen. Erst zusammen bilden diese Geschichtsbilder, die für Geschichtspolitik nutzbar sind. Welchen Anteil die einzelnen Mechanismen an der Bildung und fortgesetzten Bearbeitung historischer Narrative im kollektiven Gedächtnis haben, schwankt von Fall zu Fall. Oftmals sind mehrere Mechanismen nacheinander oder auch gleichzeitig am Werk. Das gilt auch für den Prozess der Bearbeitung. Im Vokabular der Psychoanalyse heißt er „sekundäre Bearbeitung“, aber das legt den falschen Eindruck nahe, es handle sich dabei um einen zeitlich und kausal nachgeordneten Mechanismus. Worin besteht nun der Vorteil, sich dem kollektiven Gedächtnis über die Mechanismen der Geschichtsarbeit anzunähern? Indem der Blick nicht auf das Ergebnis der Geschichtsarbeit gerichtet und dieses einer Klassifizierung unterzogen wird, sondern die Mechanismen der Geschichtsarbeit selbst untersucht werden, lässt sich das Problem der Trennung zwischen den verschiedenen Modi kollektiven Gedächtnisses umgehen. Ohnehin ist die Frage, wie kollektive Gedächtnisinhalte erzeugt werden, interessanter als jene nach deren Form – jedenfalls, wenn ein Weg gefunden werden soll, auf diese Prozesse Einfluss zu nehmen. Das historische Narrativ, das die gesellschaftliche und politische Identität der Bundesrepublik nach 1945 prägte wie kein anderes, war die gesellschaftliche Verantwortung für den Holocaust. Wenn der deutsche Bundespräsident, wie eingangs zitiert, noch zwei Generationen nach dem Ende des NS-Regimes feststellte, eine deutsche Identität ohne Auschwitz sei nicht denkbar, wird klar, dass wir es mit einem Verdichtungsvorgang zu tun haben. Das bedeutet, dass eine einzige Vorstellung mehrere Assoziationsketten, an deren Schnittpunkt sie sich befindet, vertritt.21 In diesem Fall ist es der Umgang mit der NS-Vergangenheit, der als Kristallisationspunkt politischer Identität und als Letztbegründung politischen Handelns dient. Der Holocaust verdichtete sich zum Herrensignifikanten bundesdeutscher Geschichtspolitik, auf den ein großer Teil gesellschaftlicher Vorstellungen und politischer Handlungsspielräume letztendlich bezogen wurde. „Am runden Tisch des Bonner Kabinetts, in der Redaktion der Frankfurter Allgemeinen und an den Schreibtischen einiger deutscher Historiker“ säße, so Heinrich August Winkler in einem Beitrag zur Frankfurter Rundschau 1986, „ein steinerner Gast: Die »Vergangenheit, die nicht vergehen will«.“ Winkler nahm damit auf Noltes in der FAZ erschienen Text Bezug, der den Historikerstreit ausgelöst hatte. So gerne man diesen Gast auch loswürde, „er weicht nicht, sondern

21Vgl.

Laplanche/Pontalis 1973, S. 580.

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fragt immer wieder: Warum ist das größte Verbrechen des 20. Jahrhunderts, die Ermordung der europäischen Juden, gerade von Euch verübt worden, Ihr Deutschen?“22 Angesichts der unerhört prägenden historischen Erfahrung des Holocausts, die oberflächlich ganz auf der Bundesrepublik lastete – denn die DDR und Österreich versuchten sich ihr lange Zeit erfolgreich durch unterschiedliche Abwehrmechanismen zu entziehen – war die Verdichtung dieser Erfahrung im politischen und intellektuellen Leben der BRD logische Konsequenz. In der DDR kam es nie, in Österreich erst in den 1980er Jahren23 zu einer ähnlichen Verdichtung. Die auf den Holocaust und die NS-Zeit bezogene Geschichtsarbeit bediente sich dort bevorzugt anderer Mechanismen, nämlich der Verdrängung und der Verschiebung. Verdrängung und Verschiebung sind Abwehrmechanismen, die den gesellschaftlichen Umgang mit unerträglichen Erinnerungen oder unlösbaren historischen Problemen ermöglichen. In vielen Fällen lässt sich zwischen beiden Mechanismen keine klare Grenze ziehen. Je nachdem, welcher Anteil überwiegt, kann der jeweilige Abwehrmechanismus mit einem der beiden Begriffe treffender charakterisiert werden. Der Umgang der DDR mit der NS-Zeit ist ein Beispiel für die geschichtspolitische Verdrängung unauflöslicher Widersprüche zwischen historischem Geschehen und politisch funktionalisiertem Selbstbild. Die Verdrängung der Mitverantwortung zahlreicher Ostdeutscher an den Verbrechen des NS-Staats war nötig, um das Gründungsnarrativ der DDR als sozialistischen und also antifaschistischen Staates legitimeren zu können. Im Rahmen des Blockparteiensystems wurden ehemalige Täter als Funktionäre der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) ganz offiziell in die politischen Institutionen eingebunden. Dabei machten die zuletzt über 100.000 Mitglieder der NDPD nicht einmal das Gros der ehemaligen Nationalsozialisten unter den politischen Funktionären der DDR aus, denn die meisten „Ehemaligen“ fanden sich in den Reihen der SED.24 Dass dennoch ausgerechnet der Antifaschismus zur mythologisch verklärten Staatsdoktrin und gegen die BRD als vermeintliche Erbin des NS-Staats

22Heinrich

August Winkler, Auf ewig in Hitlers Schatten? Zum Streit über das Geschichtsbild der Deutschen, in: Frankfurter Rundschau, 14.11.1986 (zit. Nach Historikerstreit, München/Zürich 1987, S. 256). 23Das Jahr 1986, in dem in der Bundesrepublik der Historikerstreit und in Österreich die Debatte über die nationalsozialistische Vergangenheit des Präsidentschaftskandidaten und ehemaligen UN-Generalsekretärs Kurt Waldheim losbrachen, kann als Schlüsseljahr des Umbruchs im Umgang mit der NS-Zeit verstanden werden. 24Vgl. Klaus Schroeder, Der SED-Staat. Geschichte und Strukturen der DDR 1949–1990, Köln/Weimar/Wien 2013, S. 47–48.

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gewendet wurde – man denke nur an die Bezeichnung der Berliner Mauer als „antifaschistischer Schutzwall“ – ließ sich nur durch die geschichtspolitische Verdrängung der offensichtlichen Fakten bewerkstelligen. Auf die individuelle Anschlussfähigkeit an diese Verdrängung brauchte das Regime, das bei der Implementierung von Geschichtsbildern auf Zwang und Indoktrinierung setzen konnte, vergleichsweise wenig Rücksicht zu nehmen. Die Tatsache, dass zunächst die sowjetische Militärverwaltung und später das SED-Regime eine historische Staatsdoktrin oktroyieren konnten, erleichterte die Verdrängung der nationalsozialistischen Vergangenheit von DDR-Bürgern. In demokratischen Systemen fehlt diese Möglichkeit. Die politische Geschichte der Zweiten österreichischen Republik ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit, gesellschaftlichen Konsens über Vergangenheit mithilfe von Verschiebung statt Verdrängung herstellen zu müssen. Verschiebung findet statt, wenn die Auseinandersetzung mit vergangenem Geschehen in Richtung eines anderen, privilegierten Narrativs verschoben wird. Die offene Feindschaft zwischen den beiden prägenden Kräften der Ersten Republik, dem sozialdemokratischen und dem christlichsozialen Lager, die 1934 zum Bürgerkrieg geführt hatte, war bei Ende des Zweiten Weltkriegs nicht beigelegt, sondern durch den „Anschluss“ bloß unterbrochen worden. Da die realpolitischen Gegebenheiten nach Kriegsende eine Kooperation der Gegner im Rahmen einer Reihe von Koalitionsregierungen erforderlich machten, durfte der schwelende Konflikt nicht erneut ausbrechen. Weil die zugrunde liegende Feindschaft nicht überwunden war, wurde versucht, sie aus dem kollektiven Gedächtnis auszublenden. An ihrer Stelle betonte man die Rolle als Opfer nationalsozialistischer Terror- und Vernichtungspolitik, welche die alten Eliten beider Lager teilten – ein großer Teil des politischen Führungspersonals der jungen Zweiten Republik hatte Flucht, Verfolgung oder (KZ-) Haft erlebt. Es entstand ein Geschichtsbild, das von der Solidarität der Dachauer oder Mauthausener Lagerstraße dominiert wurde. Die Tatsache, dass viele namhafte Sozialdemokraten zuvor gemeinsam mit illegalen Nationalsozialisten in Internierungslagern des christlichsozialen austrofaschistischen Regimes inhaftiert gewesen waren, geriet dabei in den Hintergrund. Anders als bei der Verdrängung stand also die Zeit des Nationalsozialismus immer noch im Zentrum geschichtspolitischer Wahrnehmung – ihre Rolle im Geflecht kollektiver historischer Identität war aber verändert worden. Die Verschiebung des unaufgearbeiteten Konflikts der Zwischenkriegszeit auf den Opferstatus politischer Eliten im NS-Staat sollte den Umgang mit der NS-Zeit in Österreich jahrzehntelang prägen. Sekundäre Bearbeitung ist notwendig, um den Produkten von Mechanismen der Geschichtsarbeit eine kohärente Form und narrative Struktur zu geben, in denen sie intersubjektiv vermittelt werden können. Die sekundäre Bearbeitung

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ist also Grundvoraussetzung dafür, dass die Geschichtsarbeit Vorstellungen über Vergangenheit im kollektiven Gedächtnis verankern kann. Der zentrale Prozess der sekundären Bearbeitung ist die Systematisierung der durch die Geschichtsarbeit hervorgebrachten Anschauungen, Urteile und Erkenntnisse. Insbesondere stellt sie zwischen den einzelnen Elementen eines historischen Narrativs chronologische und kausale Zusammenhänge her. Wo die Geschichtsarbeit Teil der Geschichtspolitik ist, stützt sich auch die Politik auf diese Zusammenhänge. Das verleiht der sekundären Bearbeitung ihre besondere Brisanz in Phasen verstärkten politischen Wandels. Die Geschichtspolitiken Deutschlands und Österreichs haben eine solche Umbruchsphase hinter sich. Jene gewohnten Mechanismen der Geschichtsarbeit, mit denen beide Gesellschaften jeweils die traumatische Erfahrung der NS-Zeit verarbeiteten, wurden seit den 1980er Jahren nachhaltig infrage gestellt. Die Geschichtsarbeit konnte nun verstärkt auf andere, teilweise gegenläufige Narrative zugreifen. Gleichzeitig stand die nachhistoristische Geschichtswissenschaft nicht mehr als hegemoniale Instanz sekundärer Bearbeitung zur Verfügung und begünstigte dadurch die Erosion des historisch-politischen Konsenses. Weil Geschichtsbilder und politisches Handeln in der Geschichtspolitik so eng verbunden sind, hat die Delegitimation des Einen Auswirkung auf das Andere. Jene politischen Instanzen – etablierte Volksparteien und die Instrumente repräsentativer Demokratie – die sich auf den alten historischen Konsens gestützt hatten, gerieten zusammen mit diesem in Misskredit. Da die historische Identität repräsentativer Demokratien auf einen Geschichtskonsens angewiesen ist, kann sie nicht ohne funktionierende Mechanismen sekundärer Bearbeitung unbewusster Geschichtsbilder auskommen. Ist die krisengebeutelte Geschichtswissenschaft in der Lage, einen solchen Mechanismus zur Verfügung zu stellen, und falls ja, wie? Von der Antwort auf diese Fragen wird die Zukunft der Demokratie in Europa mit abhängen. Angesichts der Geschichtsversessenheit europäischer Gesellschaften ist Politik auf die Gestaltung des kollektiven Gedächtnisses angewiesen. Das politische Bedürfnis, Geschichte „zu mobilisieren und zu ideologisieren“25 sei daher der Politik immanent, wie Roman Herzogs Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker feststellte. Das Ende des Historismus brachte auch das Ende historischer Gewissheiten und machte das Feld der Geschichte zu einem Marktplatz unterschiedlichster Sichtweisen. Viele davon sind politisch motiviert: „For any given

25Richard

von Weizsäcker, Geschichte, Politik und Nation (16. Internationaler Kongreß der Geschichtswissenschaften), in: GWU 37 (1986) (S. 67–70), S. 67.

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subject there is no single, true version of history but multiple contending ones. Often these histories are produced with an immediate goal in mind: they are partisan histories, narratives about the past designed to help win arguments and political struggles.“26 Politische Macht ist in Gesellschaften, die sich als historisch gewachsen verstehen und in denen der Geschichte Bedeutung für die Gegenwart zugesprochen wird, in hohem Maße auf historische Begründung angewiesen: „Historisches Denken spielt eine wesentliche Rolle in dieser Legitimation. Es organisiert die Erfahrung der Vergangenheit, die immer auch eine Erfahrung (tendenziell unmenschlicher) Macht und Herrschaft ist, auf eine solche Weise, dass ihre Legitimierbarkeit und ihr Legitimationsbedarf als innerer Sinn politischen Handelns in den vergegenwärtigten Geschehnissen der Vergangenheit denkbar und sinnfällig werden. Der Legitimationsaufwand, den Herrschaftsverhältnisse treiben müssen, um sich auf Dauer zu stellen, ist erheblich. Ohne diese innere zeitliche Dimension der Dauer ist Herrschaft gefährdet.“27 Das gilt für demokratische Systeme umso stärker, als ihren Möglichkeiten, die Herrschaft ohne Zustimmung der Bürger aufrecht zu erhalten, sehr enge Grenzen gesteckt sind. Das bedeutet natürlich nicht, dass nicht auch autoritäre und totalitäre Regime ihre Herrschaft mithilfe von Geschichtspolitik und oft genug mithilfe einer willfährigen Geschichtswissenschaft legitimieren. Seit den Auseinandersetzungen im Zuge des „Historikerstreits“ um die Einzigartigkeit des Holocaust und dessen Bedeutung für bundesdeutsche Identität von 1986/1987 wird die Instrumentalisierung historischer Narrative durch die Politik als „Geschichtspolitik“ bezeichnet. Das Wort begann seine steile Karriere als polemischer Kampfbegriff und war schon wenige Jahre später als wissenschaftlicher Topos etabliert. Geschichtspolitiken, also intentional politische Gedächtnisangebote und ihre Vermittlung, beruhen auf zwei korrelierenden Strategien: der Revision missliebiger und der Festigung erwünschter Narrative. Beide Strategien müssen, um Erfolg haben zu können, an latente Inhalte des kollektiven Gedächtnisses anknüpfen, denn die Bedeutungszuweisung an Narrative kann nicht einfach ferngesteuert werden. Für demokratische Gesellschaften gilt das in besonderem Maße. Anders als in autoritären oder totalitären politischen Systemen, kann dort nicht

26Max

Paul Freidman/Padraic Kenney, Introduction. History in Politics, in: Max Paul Friedman/Padraic Kenney (Hg.), Partisan Histories. The Past in Contemporary Global Politics, New York/Houndsmills 2005 (S. 1–14), S. 1 (Hervorhebung im Original). 27Jörn Rüsen, Die fünf Dimensionen der Geschichtskultur, in: Jaqueline Nießer/Juliane Tomann (Hg.), Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit, Paderborn u. a. 2014 (S. 46–57), S. 49.

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einfach eine historische Identität oktroyiert werden. Während der historische Grundkonsens der DDR, sie wäre ein antifaschistischer Staat und eine Gesellschaft, die sich durch den antifaschistischen Abwehrkampf konstituierte, vor allem nach seiner Konsolidierungsphase in der Öffentlichkeit weitgehend unhinterfragt blieb, war der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik stets Kampfplatz unterschiedlicher Narrative.28 Die Rede vom kollektiven Gedächtnis darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich dabei um die Summe von Einzelanschauungen handelt, die in Teilen vom gesellschaftlich hergestellten Konsens abweichen können. In demokratischen Gesellschaften gehört die öffentliche Debatte über diesen Konsens zum politischen Selbstverständnis. Schon deshalb ist sie der Forschung oft leichter zugänglich als subversive Einstellungen, die aus Angst vor politischer Verfolgung niemals veröffentlicht wurden. Dennoch kann auch für demokratische Diskurse keinesfalls angenommen werden, sie wären völlig frei und es fänden sich alle möglichen Meinungen darin repräsentiert. Die normative Annahme des „Deliberationsmodells“29, nach der Öffentlichkeit nur dann bestehe, wenn alle Mitglieder einer Gesellschaft dieselben Chancen haben, sowohl auf den Diskurs als auch auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, ist nicht zielführend, ganz einfach weil diese Situation niemals gegeben sein wird. Gerade in den untersuchten Fällen, also der BRD und Österreich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, waren und sind Geschichtspolitiken Elitenprojekte. Alex Demirovic betonte, dass Beiträge zum öffentlichen Diskurs keineswegs Allgemeingut sind, sondern von den Rechtsordnungen demokratischer Staaten als geistiges Eigentum geschützt werden. Das „angeblich Öffentlichste, die öffentliche Meinungsbildung“ könne so zum Privateigentum werden. Öffentlichkeit ist in diesem Sinne nicht als machtfreier partizipativer Raum zu denken, sondern als „Modus der Inwertsetzung und Kontrolle gesellschaftlicher Kommunikation“ und als „machtvoller Zugriff“ auf diese zu verstehen.30

28Zur

Etablierung eines Geschichtskonsenses in der „DDR“ vgl. Konrad H. Jarausch, Die DDR-Geschichtswissenschaft als „Meta-Erzählung“, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997 (S. 19–34); einen Überblick über die vielfaltigen Debatten in der Bundesrepublik gibt Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2015. 29Bernhard Peters, Der Sinn von Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2007, S. 190. 30Alex Demirovic, Hegemonie und das Paradox von privat und öffentlich, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien 2005 (S. 42–55), S. 44.

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Nichtsdestotrotz sind politischer Eliten in demokratischen Gesellschaften grundsätzlich stärker darauf angewiesen, historische Narrative zu plausibilisieren. Dazu bedienen sie sich latenter Geschichtsbilder. Solange die Geschichtswissenschaft noch Deutungshoheit über die Vergangenheit beanspruchte, konnten diese Geschichtsbilder nicht in offener Konkurrenz zum wissenschaftlichen Wissen stehen, sondern allenfalls unterschwellig wirksam werden. Politischen Akteuren fiel es deshalb schwer, kontrafaktische Geschichtsbilder öffentlich zu instrumentalisieren. Mit der Krise des Historismus ist diese Prämisse ins Wanken geraten. Der grundsätzlich variable „Grad des Dogmatismus“31 öffentlicher Debatten ist so niedrig wie noch nie zuvor. Bernhard Petersʼ Unterscheidung öffentlicher Eliten in einflussreiche und segmentierte ist sehr gut geeignet, die gegenwärtige Lage der Geschichtswissenschaft zu skizzieren. Als einflussreich bezeichnete Peters jene Eliten, „die als Meinungsführer für breitere Öffentlichkeiten fungieren.“ Dagegen debattieren segmentierte Eliten „in erster Linie untereinander, haben nicht viel Einfluss auf andere Teilöffentlichkeiten und mögen auch andere Anliegen haben als die breitere Öffentlichkeit.“32 Die Entwicklung der historistischen zur gegenwärtigen Geschichtswissenschaft lässt sich sehr treffend als Wandlung einer einflussreichen zur segmentierten Elite verstehen, deren Spezialistendiskurse für die breite Öffentlichkeit nicht länger nachvollziehbar und anschlussfähig sind und die daher auch keinen nennenswerten Einfluss auf die öffentliche Meinung entwickeln kann. Indem die Geschichtswissenschaft sich für unzuständig erklärt, historische Erkenntnisse zu liefern, die dem historischen Unbewussten und damit dem Geschmack der Öffentlichkeit entsprechen, dabei aber eingesteht, nicht im Besitz der historischen Wahrheit zu sein, delegitimiert sie sich in den Augen der Allgemeinheit. Das öffnet Strategien Tür und Tor, die aus wissenschaftlicher Sicht unzulässige Interpretationen oder „alternative Fakten“ über Vergangenheit politisch instrumentalisieren. Insbesondere unangenehme Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft laufen in so einer Situation Gefahr, aus dem öffentlichen Diskurs und damit langfristig aus dem kollektiven Gedächtnis verräumt zu werden. Welches Geschichtsbild könnte unangenehmer sein, als die Erinnerung an den Holocaust und die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung dafür? Es ist also kein Wunder, dass gerade das Wissen über die Zeit des Nationalsozialismus besonders häufig und intensiv revisionistischen Tendenzen ausgesetzt ist.

31Peters 32Ebd.,

2007, S. 179. S. 177–178.

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Revision und Geschichtsbewusstsein

An den Lücken, die durch die Zurückdrängung historistischer Gewissheiten traten, setzt die geschichtspolitische Strategie der Revision an. Autoritäre Regime haben es damit vergleichsweise leicht. Es müssen gar nicht immer Bücherverbrennungen sein – wie etwa das austrofaschistische Regime in den 1930er Jahren oder jüngst die neoautoritäre Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan demonstrierten, genügt es schon, unangepasste Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen aus den Universitäten zu verdrängen und Forschungsgelder für missliebige Projekte zu streichen. Ganz ohne offene Zensurmaßnahmen setzt zuverlässig eine Selbstzensur der Verbliebenen ein, die, wenn schon nicht um Leib und Leben, dann vielleicht doch um ihre Freiheit oder jedenfalls ihre ökonomische Zukunft fürchten müssen. Das grassierende Prekariat in der europäischen Wissenschaftslandschaft erhält so eine demokratiepolitisch höchst bedenkliche Dimension. Der Revisionismusbegriff stammt ursprünglich aus einer offenen Auseinandersetzung innerhalb der deutschen Sozialdemokratie, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts aufflammte. Die Annahme, der von Marxʼ und Engels vorausgesagte Zusammenbruch des Kapitalismus stünde unmittelbar bevor, hatte sich in den Jahrzehnten seit 1848 nicht erfüllt. Eine Reihe von sozialdemokratischen Intellektuellen und Politikern, allen voran Eduard Bernstein, plädierten deshalb dafür, die „reine Lehre“ aufzugeben und nicht Revolution sondern eine evolutionäre Veränderung der Gesellschaft anzustreben. Man müsse eine neue Vorstellung, eine Re-vision des sozialistischen Kampfes gewinnen. Mehrere Artikel in der „Neuen Zeit“, in denen Bernstein die Doktrin des revolutionären Marxismus als „Marotte“ und seine Anhänger als „Don Quixotes des Umsturzes“1 verspottete,

1Eduard

Bernstein, Der Kampf der Sozialdemokratie, in: Die Neue Zeit 16 (1898) (S. 484– 497), S. 485.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_4

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sorgten innerhalb der Sozialdemokratie für Aufsehen. „In den Reihen der Gegner der Sozialdemokratie“ herrsche angesichts des revisionistischen Richtungsstreits „eitel Jubel“2, wie Georg Bernhard bemerkte. Geschichtspolitiken, die darauf abzielen, etablierte historische Narrative umzudeuten, sind völlig normales, ja sogar konstitutives Element im Meinungspluralismus demokratischer Gesellschaften. Vom sogenannten wissenschaftlichen Fortschritt unterscheiden sich revisionistische Politiken in ihrer intentional gesellschaftlichen Stoßrichtung. Der Revisionismus dient nicht etwa der Falsifikation von Thesen und Vorstellungen, die als wissenschaftlich unhaltbar betrachtet werden – weil neue Fakten geschaffen oder Sichtweisen etabliert wurden, die ein historisches Phänomen vom jeweils gegenwärtigen Standpunkt aus betrachtet besser erklären; Revision dient der Vermeidung jener Unlust, die entsteht, wenn das Selbstbild von Subjekten nicht mit historischen Narrativen in Übereinstimmung zu bringen ist, wenn also eine Spannung zwischen erlebter und erwünschter historischer Identität auftritt. Für die Neue Rechte3 ist Geschichtsrevisionismus politisches Programm. 2017 gab Norbert Nemeth, Direktor des FPÖ-Parlamentsklubs und Präsident des sogenannten Atterseekreises, eines einflussreichen parteiinternen Thinktanks, der rechtsextremen Internetplattform „unzensuriert.at“ ein Interview. Bezüglich der Rolle, die der Umgang mit Geschichte für die Ideologie der Neuen Rechten spielt, ist es außerordentlich aufschlussreich. Man müsse, so Nemeth, die

2Georg

Bernhard, Marxismus und Klassenkampf, in: Sozialistische Monatshefte 4 (1898) (S. 103–108), S. 103. 3Zum Begriff der „Neuen Rechten“ fehlt bislang eine allgemein akzeptierte Definition. Er ist einerseits Kampfbegriff ihrer Gegner, andererseits jedoch auch Selbstbezeichnung. Hier dient er als Überbegriff für nationalkonservative bis rechtsradikale politische Strömungen, die sich im Gegensatz zu Neonazis vom Nationalsozialismus abzugrenzen versuchen. Es ist deshalb meiner Ansicht nach nicht treffend, die FPÖ pauschal als Teil der Neuen Rechten zu bezeichnen. Die Partei ist trotz der Erneuerung unter Jörg Haider in 1980er Jahren ein Sammelbecken der „Alten Rechten“ geblieben. Sehr wohl aber schmiedet die FPÖ Bündnisse mit der Neuen Rechten. Deren Vertreter streben eine politische und kulturelle Hegemonie der (extremen) Rechten in der Gesellschaft an, ihre Ideologie ist nationalistisch und oft explizit völkisch. Obwohl sie sich sowohl rhetorisch als auch in Wahl politischer Mittel an der Neuen Linken orientieren, lehnen sie Marxismus, Feminismus und multikulturelle Gesellschaftsbilder entschieden ab. Sie treten außerdem für ein strikt konservatives Familienbild ein. Zu den vielfältigen Überschneidungen mit nationalkonservativen Intellektuellen vgl. Hans-Ulrich Wehler, Angst vor der Macht? Die Machtlust der „Neuen Rechten“, in: Christian Jansen (Hg.), Von der Aufgabe der Freiheit. Politische Verantwortung und bürgerliche Gesellschaft im 19. Und 20. Jahrhundert, Berlin 1995 (S. 309–319).

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„ideengeschichtlichen Grundlagen unserer politischen Gegner offenlegen und angreifen“, um gegen die „Hegemonie der 1968er und ihrer Nachfolger vor allem in der Deutungshoheit der Staats- und Geisteswissenschaften“ eine „bürgerliche Konterrevolution“ zu beginnen. Das sei schwierig, da „die Universitäten, die Medien und die veröffentlichte Meinung klar links stehen.“ Die heraufbeschworene „Konterrevolution“ könne die nötige Kraft daraus ziehen, „dass wir das geistige Erbe der Vergangenheit immer wieder in Erinnerung rufen.“4 Damit ist natürlich nicht jene Geschichte gemeint, die an den als von ideologischen Gegnern besetzt wahrgenommenen Universitäten gelehrt wird, sondern eine eigene Version davon. In Italien ist seit den 1990er Jahren ein verstärkter Trend zur Verklärung des dortigen Faschismus der Mussolini-Ära zu beobachten. Dabei handelt es sich keineswegs um eine zufällige Anhäufung revisionistischer „Einzelfälle“, sondern um einen umfassenden Wandel gesellschaftlicher Geschichtsbilder.5 Das revisionistische Narrativ besteht darin, das bloße Vorhandensein der Diktatur nicht rundweg abzustreiten – was zu offensichtlich absurd wäre – sondern ihre Natur im Vergleich mit dem nationalsozialistischen Regime des NS-Staats und dem stalinistischen der Sowjetunion von der Machtergreifung Stalins 1927 bis zum XX. Parteitag der KPdSU 1956 zu relativieren. Im Rahmen einer „nachsichtigen Erinnerung“ (Christina Baldassini) wird der italienische Faschismus zu einer harmlosen und im historischen Kontext normalen Staatsform verniedlicht, die im Gegensatz zu NS-Staat und Sowjetunion keine Genozide oder vergleichbare Verbrechen zu verantworten habe.6 Diese Auffassung ist angesichts der knappen Million Toten, die italienische Konzentrationslager, Massenhinrichtungen, Deportationen und systematische Hungerregime vor allem in Afrika und am Balkan zur Folge hatten, faktisch falsch. Die meisten dieser Toten gehen auf das Konto von Kriegsverbrechen, die Angehörige der italienischen Streitkräfte verübt hatten. Es waren also Leute aus der Mitte der Gesellschaft, die diese Verbrechen verübt hatten. Dieser Umstand birgt ähnlich viel geschichtspolitischen Sprengstoff wie die Tatsache, dass auch

4Norbert

Nemeth zum Atterseekreis: Unser Ziel ist, ein freiheitliches Alpbach zu begründen, in: „unzensuriert.at“, 15.09.2017. Online verfügbar unter: https://www.unzensuriert.at/content/0024943-Norbert-Nemeth-zum-Atterseekreis-Unser-Ziel-ist-ein-freiheitliches-Alpbach-zu, zuletzt aufgerufen am 18.05.2017. 5Vgl. Aram Mattioli, „Viva Mussolini!“ Die Aufwertung des Faschismus im Italien Berlusconis, 2010, S. 10. 6Vgl. Mattioli 2010, S. 58.

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die deutsche Wehrmacht und nicht etwa nur die SS systematisch Verbrechen an der Zivilbevölkerung besetzter Gebiete begangen hatte. Die Komplizenschaft des italienischen Faschismus bei der massenhaften Deportation von Juden in Vernichtungslager des NS-Staats ist da noch gar nicht eingerechnet.7 Obgleich kontrafaktisch, verfängt die Strategie der Verharmlosung bei breiten Teilen der Bevölkerung. So schlossen sich nur 38,1 % der Befragten einer Erhebung von 2001 der Aussage an, der Mussolini-Faschismus sei eine brutale Diktatur gewesen. Nicht weniger als 14,7 % bewerteten ihn offen als gutes bzw. sehr gutes Regime. Weitere fünf Prozent bezeichneten ihn als logische und unvermeidliche Antwort auf die Gefahr des Kommunismus. 22,4 % stuften das Regime als autoritär ein. Nur eine Minderheit der Italienerinnen und Italiener erkennt folglich im italienischen Faschismus ein totalitäres und verbrecherisches Regime.8 Der ehemalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi gab also eine durchaus mehrheitsfähige Sicht auf die Geschichte wieder, als er 2003 Mussolini als „gutmütigen“ Diktator bezeichnete, der „niemanden umgebracht“ habe. Antifaschisten habe er bloß „in die Ferien“ geschickt, wo manche von ihnen eines „natürlichen Todes“ gestorben seien.9 Für Aram Mattioli stellen öffentliche Äußerungen wie diese bloß einen Teil einer gezielten Strategie rechter und extrem rechter politischer Kräfte dar, die zum Ziel hat, die kollektive Erinnerung an die faschistische Ära zu revidieren. Die Saat scheint aufzugehen. Die Deutung des italienischen Faschismus als eines vergleichsweise freundlichen und harmlosen autoritären Systems, das wenigsten so viel Gutes wie Schlechtes gebracht habe, ist für viele Italienerinnen und Italiener anschlussfähig. Breite Teile der Bevölkerung begreifen diesen Revisionismus als Normalisierung, ja sogar als Akt der historischen Gerechtigkeit.10 Der gesellschaftliche Wunsch, unangenehme und schambesetzte Geschichtsbilder zu revidieren, lässt sich tiefenpsychologisch gut erklären. Ein wesentlicher Faktor bei der Funktion von Revisionismus besteht darin, historische Narrative über Gesellschaften so umzuformen, dass sie die Schranken subjektiver und oft

7Den

Forschungsstand fassen Luca Baldisseera/Paolo Pezzino (Hg.), Crimini e memorie di guerra. Violenza contro le populazioni e politiche del ricordo, Napoli 2004 zusammen. 8Vgl. Piero Ignazi, Extreme Right Parties in Western Europe, Oxford/New York 2006, S. 51. 9Berlusconi si corregge. „Mai difeso Mussolini“, in: La Reppublica, 11.09.2003. Online verfügbar unter: http://www.repubblica.it/2003/i/sezioni/politica/berlugiudici/spectator/ spectator.html, zuletzt aufgerufen am 02.03.2018. 10Vgl. Mattioli 2010, S. 133.

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unbewusster Zensur passieren und internalisiert werden können. Das gelingt umso leichter, je besser das jeweilige Narrativ geeignet ist, positiv besetzte historische Selbstbilder zu bestätigen. Die Internalisierung von Narrativen, die mit einem positiven kollektiven Selbstbild nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, erzeugt hingegen bei den Angehörigen einer sozialen Gruppe Unlust. Eine wesentliche Leistung bei der Stabilisierung des Ich besteht im Prozess der sogenannten Integration. Sie wurde von der psychoanalytischen Theorie vor allem in Zusammenhang mit Kleinkindern untersucht. Da jedoch die Konstitution von Identität niemals abgeschlossen sein kann, sondern vom Gelingen der Abgrenzung zwischen Subjekt und Alterität abhängt, die Individuen ebenso wie soziale Gruppen ständig vornehmen, lässt sie sich nicht auf diesen Bereich beschränken. In ihrem klassischen Kontext – der Herausbildung von Identität bei Kleinkindern – könnte man die Integration etwa so beschreiben: Neugeborene unterscheiden zwischen lustvollen Erfahrungen und solchen, die Unlust bereiten. Sie mögen den Geschmack von Süßem und empfinden Ekel vor Bitterem; in ähnlicher Art und Weise bevorzugen sie auch lustvolle emotionale Erfahrungen. Was sehr junge Kinder nicht verstehen können ist, dass Lust- und Unlusterfahrungen von ein- und demselben Subjekt gemacht werden können. Sie genießen es, Wärme, zärtliche Berührungen und das Gefühl von Sicherheit zu erleben und verbinden solche Erfahrungen mit einem bestimmten Ich. Das Erleben von Unlustgefühle wie Hunger oder Angst gehört für sie zu einem anderen Ich. Erst langsam – im Verlauf der ersten drei Lebensjahre – lernen Kinder, dass dasselbe Ich sowohl Lust als auch Unlust empfinden kann. Die Integration ist vollständig, wenn ein Kind gelernt hat, differenzierte Wahrnehmungen als unterschiedliche Aspekte eines ganzheitlichen Selbst wahrzunehmen.11 Dieser Prozess der Internalisierung von Unlust ist mühe- und schmerzvoll. Er verlangt vom Subjekt ein realistisches Selbstbild, das vom narzisstischen IchIdeal abweicht und negative Aspekte als Teil des Selbst akzeptiert. Selbiges gilt auch für die Identität von Gruppen. Der Grad der Internalisierung von Unlust erzeugenden Erfahrungen in das Bild, das die Angehörigen einer Gruppe von ihr haben, steht analog zur frühkindlichen Entwicklung für die Reife einer Gesellschaft. Ist den Mitgliedern einer sozialen Gruppe die Integration unerträglich, kommt es zur Externalisierung von Unlusterfahrungen. Um nichts anderes geht es bei der Geschichtsrevision.

11Vgl. Volkan

1998, S. 87.

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Externalisierung von historischer Schuld ist häufig der Versuch, mit einem ererbten Trauma umzugehen. Von traumatischen Erfahrungen wird – gerade in der Holocaustforschung – vor allem mit Blick auf die Opfer gesprochen. Täterschaft war oftmals jedoch ebenfalls eine traumatische Erfahrung – Freud versteht unter Trauma ein Erlebnis, dessen Eindruck so stark ist, dass es nicht mithilfe der üblichen psychischen Prozesse verarbeitet werden kann.12 Diese Definition beruht auf der Ökonomie der Reizbearbeitung, nicht auf der Art der Eindrücke an sich. Bei den psychischen Mechanismen der Verarbeitung traumatischer Erlebnisse im Zusammenhang mit Verbrechen kommt es also nicht in erster Linie darauf an, ob die Erfahrung aus Opfer- oder Täterperspektive gemacht wurde. Was Werner Bohleber über den Umgang der Nachfahren von Holocaustopfern mit den Erfahrungen vorangegangener Generationen schrieb, trifft also sinngemäß auch potenziell auf die Kinder und Enkel von Tätern zu: „Vor allem bei Eltern, die ihre massive Traumatisierung nur abwehren konnten, indem sie ihre traumatischen Erfahrungen verleugneten bzw. entwirklichten, erfassen die Kinder unbewußt das Erlittene, bearbeiten Anzeichen mit ihrer Phantasie und agieren diese Phantasien in der äußeren Welt aus. Diese Kinder suchen zu verstehen, was den Eltern zugestoßen ist, was sie erlebt haben, indem sie in ihrem Leben die Erfahrungen der Eltern und die dazugehörigen Affekte wiedererschaffen: Da sie nicht symbolisch zu verarbeiten sind, hat das Verhalten der Kinder eine Art von Konkretismus, der die unbewußte Identifizierung mit dem Schicksal der Eltern aufzeigt. Diese Externalisierung soll helfen, die schreckliche Realität ungeschehen zu machen oder sie zu verleugnen.“13 Die von den Tätern externalisierte, weil traumatische und nicht in der Spanne des eigenen Lebens zu verarbeitende Schuld wird zur Teil der subjektiven wie kollektiven Identität ihrer Nachfahren. „Die Kinder erlebten nun verschoben die fremde Schuld als die eigene. So drang die nicht verantwortete Vergangenheit der Eltern in das Leben der Kinder ein […]. Auf diese Weise erwiesen sich die eigene, nicht eingestandene und damit auch nicht ausgesprochene und verantwortete Beteiligung an den Verbrechen und die dabei angehäufte Schuld für die nachfolgende Generation als durchaus von traumatischer Qualität.“14 Diese gleichsam „ererbte“ Schuld wird von den nachfolgenden Generationen als entfremdend betrachtet. Die Tatsache, dass die externalisierte Schuld der Vorfahren zwar Teil der eigenen Identität ist, aber nicht mit der unmittelbaren

12Vgl.

Laplanche/Pontalis 1973, S. 514. 1998, S. 258. 14Bohleber 1998, S. 261. 13Bohleber

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Erfahrung des zugrunde liegenden Traumas, die vor der eigenen Lebenszeit liegt, in Verbindung gebracht werden kann, geht wie ein Riss durch die eigene Identität. Dass Angehörige dieser Nachfolgegenerationen vor der Aufgabe stehen, jene schwierige und schmerzhafte Integrationsleistung der Internalisierung von Schuld zu erbringen, zu der ihre Vorfahren nicht in der Lage waren, wird von ihnen als ungerecht empfunden. Der Ruf nach dem Schlussstrich, die Äußerung „Mit mir hat das nichts zu tun!“ ist eine Fortsetzung der Externalisierung von Schuld durch die Täter. Sie entspringt der unbewussten Weigerung, diese individuell nicht verschuldete Hypothek zu übernehmen. Die politische Forderung danach wird als ungerecht und unzumutbar empfunden. Diese zentrale Funktion des Revisionismus wird gemeinhin übersehen. Geschichtsrevision erscheint dann als rein politisches Projekt und zwar so, als würde als Geschichtspolitik nicht mit den unbewussten gesellschaftlichen Wünschen und Schuldgefühlen zusammenhängen, denen das Subjekt unterliegt. Dabei muss der Tatsache, dass Geschichte die Identität und damit die psychischen Tiefenstrukturen der Mitglieder einer Gesellschaft unmittelbar berührt, Rechnung getragen werden, wenn man gegen sie vorgehen will. Professionellen Historikern muss bewusst sein, dass sie mit ihrer Darstellung von Geschichte oftmals Individuen zwingen, psychische Inkongruenzen zu erdulden, die nur schwer zu ertragen sind, ohne dass dieser Hintergrund den Betroffenen bewusst ist. Das kann nur dort gelingen, wo das jeweilige Narrativ als unbestreitbar erscheint. Wo die Wissenschaft auch nur einen Hauch von Zweifel äußert, erkennt die psychische Disposition ein Ventil. Geschichtsrevision setzt daher bevorzugt dort an, wo die Geschichtswissenschaft nicht zu einem eindeutigen Urteil gelangt. Ihr steht nach dem Ende der historistischen Gewissheit also ein größerer Raum zu Verfügung. Kurt Bauers 2017 erschienenes Buch über „Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich“15 zeigt das exemplarisch. Eine Lücke in der Forschung dient darin als Hebel zur Umdeutung eines hegemonialen historischen Narrativs: Belastbare Zahlen über die Beteiligung von Österreicherinnen und Österreichern an den Verbrechen des Nationalsozialismus sind nur partiell vorhanden. Bauer nützte dieses Desiderat, um zu behaupten, dass der Anteil an Österreichern an den Mördern keinesfalls über den „ostmärkischen“ Anteil an der Gesamtbevölkerung des NS-Staats hinausging, sondern „eher darunter“16 lag. Insgesamt sei in Bezug

15Kurt

Bauer, Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938–1945, Frankfurt a. M. 2017. 16Bauer 2017, S. 407.

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auf die historische Schuld von Österreichern der Vergleich mit französischen Kollaborateuren angemessen17. Die „selbstquälerische Täterthese“ bezeichnete Bauer hingegen als „Mythos“.18 Die Formulierung „selbstquälerisch“ verweist auf die tief empfundene Unlust, welche die „Täterthese“ bei vielen Angehörigen der österreichischen Gesellschaft erzeugt. In der darauffolgenden publizistischen Debatte im „Standard“ zeigte sich das von Lothar Gall beklagte Desinteresse an den Möglichkeiten und Bedingungen historischer Forschung als Desinteresse an der von Martin Tschiggerl und mir vorgebrachten Methodenkritik. Die überwiegende Mehrheit der Userkommentare folgte den altbekannten Fragen um Kollektivschuld, Befehlsnotstand und der Forderung, die Debatte um diese Themen nun endlich zu begraben. 19 Dass es bei dieser Haltung offenbar um die Mehrheitsmeinung der Österreicherinnen und Österreicher handelt, ist auch empirisch belegt.20 Dabei kommt die verbreitete Verwechslung zwischen gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und individueller Schuld zum Ausdruck. Die Geschichtswissenschaft scheint unfähig, zu erklären, dass der Begriff „Tätergesellschaft“ nichts über die persönliche Schuld einzelner Angehöriger dieser Gesellschaft aussagt. Die unglückselige Verbindung zwischen subjektiver Identifikation mit der Geschichte der österreichischen Gesellschaft und dem Schamgefühl, das durch die historische Schuld eben dieser Gesellschaft besteht, kann folglich nicht getrennt werden. Wo Forschungsergebnisse nicht wahrgenommen oder als Elitendiskurs ohne lebensweltliche Legitimation empfunden werden, brauchen revisionistische Geschichtspolitiken nicht auf wissenschaftlichen Fakten zu basieren. Es genügt die emotionale Anschlussfähigkeit an das propagierte Geschichtsbild. Im Fall der

17https://derstandard.at/2000067151186/Das-Verhalten-der-Oesterreicher-unter-dem-Ha-

kenkreuz, zuletzt aufgerufen am 22.12.2017. 2017, S. 407. 19Vgl. Martin Tschiggerl/Thomas Walach, Österreich in der NS-Zeit: Verbrechen ohne Täter?, derStandard.at, 16.11.2017. Online Verfügbar unter: https://derstandard. at/2000067887091/Oesterreich-in-der-NS-Zeit-Verbrechen-ohne-Taeter?_blogGroup=1, zuletzt aufgerufen am 22.12.2017; Kurt Bauer, Täter, Opfer, Thesen, Mythen, derStandard.at, 23.11.2017. Online Verfügbar unter: http://derstandard.at/2000068369207/Taeter-Opfer-Thesen-Mythen#forumstart, zuletzt aufgerufen am 22.12.2017. 20Vgl. Günther Guggenberger, The Reflection of Authoritarianism, Anomia and Group-related Misanthropy in Remembrance oft the Authoritarian Regime and World War II. 4.1 Austria, in: Oliver Rathkolb/Günther Ogris (Hg.), Authoritarianism, History and Democratic Dispositions in Austria, Poland, Hungary and the Czech Republic, Innsbruck/Wien/ Bozen 2010 (S. 43–60), S. 56. 18Bauer

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These von Österreich und den Österreichern als erstes Opfer nationalsozialistischer Aggression scheint sie gegeben zu sein, denn hier klaffen wissenschaftliches und gesellschaftliches Wissen weit auseinander: Vier von zehn österreichischen Schülerinnen und Schülern im Alter von 13 bzw. 14 Jahren stimmten im Jahr 2016 der These zu, dass der „Anschluss“ „gegen den Willen der überwältigenden Mehrheit“ der Österreicherinnen und Österreicher erfolgt sei. In den österreichischen Schulbüchern wird dieser Sichtweise nicht explizit widersprochen, sondern die persönliche Verantwortung Adolf Hitlers betont.21 Welches Narrativ ist hier eigentlich als revisionistisch zu bezeichnen? Der wissenschaftliche Konsens von Österreich als Tätergesellschaft des Nationalsozialismus ist im kollektiven Gedächtnis keineswegs fest verankert. Ist es legitim, überhaupt von Revisionismus zu sprechen, wenn das zu ändernde Geschichtsbild gar nicht hegemonial ist, sondern einen Elitenkonsens ohne breite gesellschaftliche Akzeptanz darstellt? In großen Teilen der Öffentlichkeit scheint noch jener überkommene geschichtswissenschaftliche Konsens vorzuherrschen, der sich hauptsächlich auf staatsrechtliche Positionen zurückzog.22 Aus diesem Blickwinkel konnte Österreich berechtigt als Opfer bezeichnet werden, aber um den Preis, dabei die gesellschaftliche Dimension totalitärer Ideologie auszublenden. Angesichts dieses hegemonialen Geschichtsbildes erscheint eher der gegenwärtige wissenschaftliche Konsens revisionistisch – und dabei nur mäßig erfolgreich. Träumen ist, wie Freud sagte, Wunscherfüllung.23 Nicht immer ist dieser Wunsch verklausuliert und durch Verschiebung oder Verdichtung entstellt. Bisweilen zeigt sich der Wunsch, der dem Traum zugrunde liegt, ganz unverhüllt. Freud berichtete vom Traum eines jungen Kollegen, der Langschläfer war und deshalb täglich von seiner Haushälterin geweckt werden musste: „Herr Pepi, stehen Sʼ auf, Sie müssen ins Spital. Daraufhin träumte der Schläfer ein Zimmer im Spital, ein Bett, in dem er lag und eine Kopftafel, auf der zu lesen stand: Pepi H… cand. med., zweiundzwanzig Jahre. Er sagte sich träumend: Wenn ich also

21Vgl.

Christoph Kühberger/Herbert Neureiter, Zum Umgang mit Nationalsozialismus, Holocaust und Erinnerungskultur. Eine Quantitative Untersuchung bei Lernenden und Lehrenden an Salzburger Schulen aus geschichtsdidaktischer Perspektive, Schwalbach 2017, S. 51 und 54–56. 22Vgl. Heidemarie Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische „Opfermythos“ und seine Transformation in der Zweiten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 30/1 (2001) (S. 19–34). 23Vgl. Freud 2013, S. 136.

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schon im Spital bin, brauche ich nicht erst hinzugehen, wendete sich und schlief weiter.“24 Auch der Geschichtsrevisionismus gesteht manchmal unverhohlen jene Scham ein, die Subjekte empfinden, wenn sie an etwas erinnert werden, das sie als Teil ihrer historischen Identität erleben, innerlich aber ablehnen. Die These von der Verantwortung einer Gesellschaft für ihre historischen Verbrechen wird gerade dann als Zumutung empfunden, wenn sich Subjekte stark mit der Geschichte der Gesellschaft identifizieren. Die Tatsache, dass revisionistische Thesen gerade in nationalistischen Kreisen rezipiert werden, ist Ausdruck von deren besonders ausgeprägter Identifikation mit der Geschichte ihrer Gesellschaft. Der unerfüllbare Wunsch, das Geschehene ungeschehen zu machen, drückt sich als Versuch aus, es wenigstens vergessen zu können. Gerade die Erfüllung dieses Wunsches verweigert die Geschichtswissenschaft aber beharrlich. Das Ergebnis ist oft genug, dass die wissenschaftliche Sichtweise auf Geschichte obskur bleibt, während gefälligere Geschichtsbilder, die in erster Linie gesellschaftlicher Wunscherfüllung dienen, breit rezipiert werden. Es drängt sich die Frage auf, inwieweit die nachhistoristische Geschichtswissenschaft und ihre Bemühungen überhaupt von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Während die historistische Geschichtswissenschaft ex cathedra die Rolle des kollektiven Über-Ichs spielen konnte, erweist die selbstreflexive Geschichtswissenschaft der Gegenwart als ohnmächtig, auf den öffentlichen Diskurs über Geschichte nachhaltig einzuwirken. Das vielleicht prominenteste Beispiel für den geringen Einfluss selbst heftigster intellektueller Auseinandersetzungen auf das öffentliche Geschichtsbewusstsein ist der sogenannte Historikerstreit.25 Die teilweise polemisch geführte feuilletonistische Debatte um die historische Einzigartigkeit des Holocaust wurde zur bestimmenden intellektuellen Wasserscheide der Bundesrepublik in den 1980er Jahren. Seine Sogwirkung erfasste dutzende Wissenschaftler und Intellektuelle, die sich in zwei Lagern wiederfanden: Auf der einen Seite waren solche, „die den sozialliberalen Zeitgeist des vorangehenden Jahrzehnts in

24Freud

2013, S. 139. Hintergründe, Verlauf und Ergebnisse wurde nicht nur von Historikern viel geschrieben, das hier nicht nochmals dargelegt werden muss. Eine ausführliche Darstellung des Forschungsstandes findet sich bei Steffen Kailitz, Die politische Deutungskultur im Spiegel des „Historikerstreits“. Whatsʼs right? Whatʼs left?, Wiesbaden 2001, S.

25Über

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geschichtspolitischer Absicht einer konservativen Revision zu unterziehen versuchten“ – die Ära Kohl hatte gerade begonnen. Ihnen gegenüber standen jene, „die den linksliberalen Konsens bekräftigen und das Bekenntnis zur Einzigartigkeit des Holocaust zum Ankerpunkt einer posttraditionalen kollektiven Identität der (West-)Deutschen erheben wollten.“26 Sie wollten die Holocausterinnerung einer befürchteten Wende der (geschichts-)politischen Kultur der Bundesrepublik entgegensetzen. Die Debatte um den Holocaust fungierte dabei auch als Kristallisationspunkt eines schwelenden Antagonismus zwischen der linken „Historischen Sozialwissenschaft“, die etwa von Hans-Ulrich Wehler und Wolfgang J. Mommsen betrieben wurde und der konservativen Politikgeschichte, deren wichtige Vertreter Klaus Hillgruber und Andreas Hildebrand früh in den Streit verwickelt wurden. Angestoßen wurde die Debatte durch einen Essay Ernst Noltes in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 6. Juni 1986. Unter dem Titel „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, knüpfte Nolte an die Schlussstrich-Haltung an, die in den Augen linker Intellektueller ohnehin im Aufschwung war. Daran vermochte auch die offizielle Position der Bundesrepublik, vertreten durch Richard von Weizsäcker nichts ändern, der ein gutes Jahr zuvor klargestellt hatte: „Gewiß, es gibt kaum einen Staat, der in seiner Geschichte immer frei blieb von schuldhafter Verstrickung in Krieg und Gewalt. Der Völkermord an den Juden jedoch ist beispiellos in der Geschichte.“27 Eben das bestritt Nolte, indem er eine kausale Verbindung zwischen den stalinistischen Verbrechen der 1930er Jahre und dem Holocaust herzustellen versuchte. Der Mord an den europäischen Juden und anderen Feinden des NS-Regimes wäre demnach erstens strukturell vom stalinistischen Terror nicht zu unterscheiden und zweitens dessen direkte Folge: „Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine »asiatische« Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potenzielle oder wirkliche Opfer einer »asiatischen« Tat betrachteten? War nicht der »Archipel GULag« ursprünglicher als Auschwitz? War nicht der »Klassenmord« der Bolschewiki das logische und faktische Prius des »Rassenmords« der

26Klaus

Große Kracht, Debatte: Der Historikerstreit. Online verfügbar unter: https://docupedia.de/zg/Historikerstreit#cite_note-4, zuletzt aufgerufen am 26.12.2017. 27Richard von Weizsäcker, Rede zur Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa, 08. Mai 1985. Online verfügbar unter: http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/ Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html, zuletzt aufgerufen am 26.12.2017.

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Nationalsozialisten?“28 Dass die Antwort auf diese absurden Fragen „nein“ lautet, versteht sich eigentlich von selbst – die „Ausrottung“ der Juden mit allen Mitteln war schließlich bereits 1920, also noch vor der Gründung der Sowjetunion, unverhohlenes politisch-ideologisches Programm der NSDAP gewesen.29 Dennoch erregte allein die Tatsache, dass Nolte öffentlich einen kausalen Nexus zwischen stalinistischem Terror und Holocaust insinuierte – auch wenn dieser wissenschaftlich leicht zu widerlegen war –, vehementen Widerspruch. Die Auseinandersetzung eskalierte, als Jürgen Habermas in einem Beitrag in der „Zeit“ vom 11. Juli heftig gegen Noltes Thesen polemisierte. Noltes Kollegen Klaus Hildebrand, Andreas Hillgruber und Michael Stürmer wurden zu Kollateralschäden von Habermasʼ Angriff. Obwohl diese, insbesondere Hildebrand und Hillgruber, wissenschaftlich wenig mit Nolte verband, solidarisierten sie sich unter dem Eindruck von Habermasʼ Kritik. Die Debatte zog immer weitere Kreise und verließ bald den Boden wissenschaftlicher Diskussionskultur. So stellte der „Spiegel“-Herausgeber Rudolf Augstein mit Hillgruber einen der wichtigsten Forscher zum deutschen Vernichtungskrieg und der „Endlösung“ in eine Reihe mit Nolte und bezeichnete ihn gar als „konstitutionellen Nazi“.30 Unzählige Beiträge in den auflagenstärksten deutschen Feuilletons und eine Menge zerbrochenes Porzellan später flaute die Auseinandersetzung schließlich ergebnislos ab. Die eigentliche Debatte hatte über ein Jahr gedauert, doch ihre Nachwehen reichten bis über die Wiedervereinigung hinaus. Die durch den Konflikt zugespitzte Lagerbildung innerhalb der deutschen Geistes- und Sozialwissenschaft ist bis heute nicht völlig überwunden. Welchen Eindruck auf die öffentliche Meinung hinterließ dieser öffentliche und unerhört heftige Konflikt? Praktisch keine. Nur von der Bildungselite des Landes wurde er überhaupt wahrgenommen, doch selbst dort erlosch das Interesse bald. Obwohl sich eine ganze Reihe von Politikern, die während des Streits Wahlkämpfe auszutragen hatten, auf die Auseinandersetzung bezogen, hat sie nicht eine Wahlentscheidung nennenswert beeinflusst.31 Von einem Wandel

28Ernst

Nolte, Vergangenheit, die nicht vergehen will. Eine Rede, die geschrieben, aber nicht gehalten werden konnte, in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München 1987 (S. 39–47), S. 45. 29Vgl. Reginald H. Phelps, Hitler als Parteiredner im Jahre 1920, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 11 (1963) (S. 274–330), S. 277–278. 30Vgl. Rudolf Augstein, Die neue Aschwitz-Lüge, in: Der Spiegel 41 (1986) (S. 62–63). 31Vgl. Kailitz 2001, S. 291.

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öffentlichen Geschichtsbewusstseins in die eine oder andere Richtung kann erst recht nicht Rede sein. Die Kontroverse um das Deutsche Historische Museum kreiste um allgemeinere Themen als der Historikerstreit. Letztlich stand jedoch hier wie dort die Frage zur Debatte, ob die Bonner Republik überhaupt eine nationale historische Identität haben dürfe und falls ja, welche. Die Anfang der 1980er Jahre vom damaligen Berliner Bürgermeister Richard von Weizsäcker mit einer Apologie des künftigen Museums beauftragten Historiker nahmen zur ersten Frage unmissverständlich Stellung: „Die Kommission begreift Geschichte […] als die Form, in der eine Nation, ein Volk, eine Gesellschaft sich über sich selbst Rechenschaft ablegt.“32 Die Bundesrepublik sahen sie auf der „Suche nach Befestigung politischer und gesellschaftlicher Identität, und hier kommt der Geschichte eine wichtige Aufgabe zu.“33 Der Holocaust kam in den Überlegungen der Kommission wohl vor, aber nur verklausuliert als „Fragen an die Vergangenheit, die sich in der Nachkriegsepoche zwingend gestellt haben“34. Anlässlich einer Expertenanhörung zum Deutschen Historischen Museum vor der SPD-Bundestagsfraktion redete Freimut Duve den anwesenden Historikern ins Gewissen: „solange nicht führende Mitglieder dieser Kommission deutlich werden und hinausschreien oder -schreiben, was sie von Noltes, Hillgrubers und Joachim Fests Thesen halten, solange wird uns niemand unser Mißtrauen austreiben.“35 Gewissermaßen warfen die Befürworter des Museums und seine Gegner einander Revisionismus vor. Der Vorwurf, die Errichtung eines historischen Museums könne zur Geschichtsvergessenheit beitragen, wird erst in seinem besonderen Kontext verständlich. Die Gegner des Museums befürchteten, dass dessen Konzeption dazu angetan sein würde, vom Holocaust gleichsam abzulenken, indem diese Periode deutscher Geschichte in eine Reihe mit positiv besetzten Nationalgeschichten gestellt würde (und tatsächlich besteht genau darin die bevorzugte Geschichtsrevisionistische Taktik der Neuen Rechten, auf die im Kapitel zu „Geschichte zwischen Schuld und Scham“ noch genauer einzugehen

32Hartmut

Bookmann u. a., Deutsches Historisches Museum in Berlin. Denkschrift von Hartmut Bookmann, Eberhard Jäckel, Hagen Schulze und Michael Stürmer für den Senator für Wissenschaft und Kulturelle Angelegenheiten des Landes Berlin vom Januar 1982 (zit. n. Stölzl 1988, S. 61). 33Ebd. S. 61. 34Ebd. S. 62. 35Freimut Duve, Als Einleitung: Aus der Geschichte lernen (zit. n. Stölzl 1988, S. 335).

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sein wird). Wolfgang Kraushaar brachte die Kritik auf den Punkt: „Ein » Deutsches Historisches Museum « nach Auschwitz dementiert sich selbst.“36 Die Befürworter des Museums vertraten hingegen die Ansicht, dass eine angemessene wissenschaftlich fundierte museale Darstellung des Holocaust nicht ohne dessen Einbettung in einen deutlich breiteren historischen Kontext geschehen könne. So bemerkte etwa Rudolf Vierhaus: „Zu den Problemen der Darstellung unserer Geschichte gehört es ja, daß immer wieder versucht wird, Teile davon beiseite zu lassen, aus welchen Gründen auch immer. Ich glaube, wir müssen das Ganze darstellen, um deutlich zu machen, was alles zu unserer Geschichte beigetragen hat. Wir haben nun einmal eine beträchtliche »Erblast«, sie muß im Ganzen sichtbar werden.“37 Der Wunsch, ein nationalgeschichtliches Museum einzurichten, war geschichtspolitischer Ausdruck der vorangegangenen „Tendenzwende“ und der „geistig-moralischen Wende“ der 1980er Jahre. Sie war von der Politik, nicht von der Wissenschaft ausgegangen. Das gesellschaftliche Geschichtsbewusstsein ist, wie es scheint, häufig nicht auf Korrektur oder Belehrung durch die Wissenschaft angewiesen. Deren Einmischung ist meist wohl nicht einmal erwünscht, jedenfalls dann nicht, wenn sie nicht der gesellschaftlichen Erwartungshaltung entspricht. Wie Eric Hobsbwam bemerkte, legt die Öffentlichkeit keinen großen Wert auf saubere methodische oder theoretisch fundierte Arbeit. Unter „guter Geschichte“ versteht sie „Geschichte, die gut für uns ist“38, oder anders gesagt: Geschichte, die der Wunscherfüllung dient. Das wechselseitig konstitutive Verhältnis von kollektivem Gedächtnis und Politik kommt also bestens ohne Zurufe aus der Geschichtswissenschaft aus. Man könnte nun einwenden, dass diese Art der Geschichte kontrafaktisch sei, aber: aus wessen Sicht? Die gesellschaftliche Aufgabe der Geschichtswissenschaft besteht darin, Narrative zur kollektiven Orientierung in der Gegenwart, die als historisch bedingt verstanden wird, bereitzustellen. Dass die Schaffung solcher Narrative nicht beliebig, sondern nach wissenschaftlichen Kriterien erfolgen soll, scheint hauptsächlich die Wissenschaft selbst, die Adressaten ihrer Forschungsergebnisse hingegen viel weniger zu interessieren. Die Geschichtswissenschaft verabsäumt konsequent, die psychische Dimension von historischen Narrativen in Betracht zu ziehen und darauf aufbauend Geschichtsarbeit zu leisten.

36Wolfgang

Kraushaar, Ein „Deutsches Historisches Museum“ nach Auschwitz dementiert sich selbst (zit. n. Stölzl 1988, S. 488). 37Zit. n. Stölzl 1988, S. 466. 38Vgl. Eric Hobsbawm, On History, London 1997, S. 270.

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Fakt ist, was unbestritten ist, worüber Konsens besteht. Aus dieser Perspektive ist eine Geschichtswissenschaft, die nicht in der Lage ist, gesellschaftlichen Konsens über Vergangenheit herzustellen, selbst kontrafaktisch. Um das zu ändern, muss sie jene Diskurshoheit wiedererlangen, mit deren Hilfe der Historismus Gesellschaft und Wissenschaft seinen Stempel aufgedrückt hatte, ohne sich erneut der Täuschung hinzugeben, dass die Aufgabe der Wissenschaft in der Suche nach historischer Wahrheit läge. Revisionistische Tendenzen entsprechen dem Zeitgeist. Wir finden vergleichbare Vorgänge nicht nur in der Debatte um angemessene Geschichtsbilder, sondern allenthalben in einem öffentlichen Diskurs, der von „alternativen Fakten“ und Fake News geprägt ist. Wenngleich die Rede von alternativen Fakten lange nicht so dumm ist, wie sie erscheint, weil sie als ungewollte Pointe auf ein undogmatisches Wirklichkeitsverständnis postmoderner Öffentlichkeit verweist, wird sie doch gemeinhin als trivialer Euphemismus für den Begriff der Lüge verwendet. Auch Fake News sind bewusste Lügen, keine simplen Irrtümer, abweichende Meinungen oder Fehleinschätzungen der Autoren. Sie stellen beabsichtigte Irreführung dar. Obwohl sich die Grenzen zwischen einseitiger Betrachtung, bewusster Auslassung relevanter Fakten und offener Lüge nicht immer trennscharf ziehen lässt, ist die Täuschungsabsicht ein belastbares, wenngleich bisweilen schwierig nachweisbares Kriterium für Fake News. Folglich fällt Satire nicht unter den Begriff, auch wenn sich in rein phänomenologischer Betrachtung viele Übereinstimmungen finden lassen. Im Gegensatz zu Fake News sollen satirische Falschmeldungen letztlich von den Rezipienten als solche erkannt werden. Ein Beispiel für solche Falschmeldungen, die ihr parodistisches Potenzial aus der äußerlichen Nachahmung von Fake News ziehen, ist die von ZDF Neo am 16. November 2017 ausgestrahlte vorgebliche Dokumention „Unternehmen Reichspark“, in der ein vermeintliches Recherche-Team des Senders einem geplanten Vergnügungspark zum Thema nationalsozialistischer Vergangenheit nachging. Damit bewiesen die Sendungsverantwortlichen ein feines Gespür für die überragende Bedeutung, die der Holocaust für die Identität der Deutschen einnimmt. Die Sendung löste wie erhofft eine breite mediale Debatte über den Holocaust als Gegenstand von Satire bzw. Kommerzialisierung, über das kollektive Erinnern an die nationalsozialistische Vergangenheit sowie Spekulationen über die satirische Natur der Sendung selbst aus bzw. aktualisierte sie.39

39Der

Abschnitt über Fake News beruht auf einem bereits im Juli 2018 gemeinsam mit Martin Tschiggerl verfassten Beitrag. Vgl. Martin Tschiggerl/Thomas Walach, Zur Geschichte von Fake News, in: Historische Sozialkunde 3 (2018).

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Die Digitalisierung hat zu einer radikalen Veränderung von Medienöffentlichkeiten geführt. Dabei macht sie die traditionelle Vorstellung von Öffentlichkeit als allgemein verfügbare bürgerliche Sphäre bzw. als Wirkungsbereich der öffentlichen Gewalt obsolet. Beide Aspekte dieser klassisch bürgerlichen Öffentlichkeit hängen für Jürgen Habermas ursächlich zusammen, obwohl sie auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mögen. Demnach habe erst die Entstehung des Staates und seiner Verfügungsgewalt über die Privatleute die öffentliche Sphäre von der privaten geschieden. Andererseits habe die wirtschaftliche Tätigkeit der Privatleute ursprünglich die Bildung staatlicher Strukturen ermöglicht und sei so zur öffentlich relevanten Privatsphäre geworden. Unter Öffentlichkeit versteht Habermas folglich das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat, das seit dem 17. Jahrhundert durch die Presse moderiert worden sei.40 Dieser Öffentlichkeitsbegriff lässt sich auf die allermeisten historischen Fälle, in denen Menschen gemeinsam und für andere wahrnehmbar handeln, nicht anwenden. Dennoch handelt es sich in diesen Fällen nicht um Privatangelegenheiten. Jürgen Habermas nennt diese vorbürgerliche Öffentlichkeit „repräsentativ“ und versteht darunter ein Statusmerkmal der Eliten. Der öffentlichen Repräsentation von Herrschaft würden demnach die Beherrschten bloß beiwohnen.41 Angesichts digitaler Medienöffentlichkeiten der Gegenwart verlieren sowohl die vormoderne Anwesenheitsgesellschaft als auch das Ideal der (staats-)bürgerlichen Öffentlichkeit an Bedeutung. Es ist häufig nicht länger die physische Anwesenheit oder Unterworfenheit unter die Macht des Staates, die Öffentlichkeit konstituieren, sondern die Verhältnisse digitaler Repräsentationen medialisierter Subjekte zueinander. Die Mehrdimensionalität, die dem Subjekt in der digitalen Moderne abverlangt wird, zeigt sich in der sonst inkommensurablen Funktionalisierung unterschiedlicher Selbst- und Fremdbilder, die ein- und dasselbe Subjekt repräsentieren. Wer sich eine eigene Internetpersona schafft, tut das oft schon aus Selbstschutz. Andere fühlen sich in der Anonymität des Netzes sicher und unauffindbar. Der Personenkreis, der in der Lage ist, eigene Wahrnehmungen zu veröffentlichen wird jedenfalls durch die Digitalisierung in zuvor nicht gekanntem Maß erweitert.42

40Vgl.

Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1990, S. 60. 41Vgl. Habermas 1990, S. 69–76. 42Vgl. Walach 2017, S. 136.

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Selbst die eigene Biografie kann vor diesem Hintergrund nicht länger als konsequente Sammlung von Lebenserfahrungen verstanden werden; zum einen, weil die Bedeutungszuweisung an diese Erfahrungen häufig nicht länger an übergeordnete Instanzen (wie Kirche, Partei oder Obrigkeit) abgegeben werden muss bzw. delegiert werden kann, zum anderen, weil biografische Narrative zusehends als mehrdimensional empfunden werden. Die damit einhergehende Verantwortung, das medialisierte Ich selbst zu gestalten und der häufig an das Subjekt herangetragene Anspruch, dieses Ich öffentlich verfügbar zu machen, werden gleichwohl nicht immer als emanzipatorisch und selbst-bestimmt empfunden. Eine biografische Geschlossenheit, wie sie für vordigitale Narrative typisch ist, findet sich in digitalen Selbstzeugnissen, für die gerade die Inszenierung unterschiedlicher virtueller Identitäten kennzeichnend ist, häufig nicht. Das bedeutet aber keineswegs, dass digital medialisierte Selbstbilder notwendigerweise fragmentarisch sind. Die Lust am Spiel mit Identitäten kann durchaus auch zur Stabilisierung des Selbstbildes beitragen.43 Alternative Fakten, Fake News, Geschichtsrevisionismus – all diese Phänomene, die es der Wissenschaft schwer machen, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden, haben eines gemeinsam: Die Bereitschaft, ihnen Glauben zu schenken stellt eine Reaktion des Unbewussten auf die Zumutung einer postmodernen Welt dar, in der das Subjekt allzu oft auf sich selbst zurückgeworfen wird, anstatt Halt an identitätsstiftenden Gewissheiten zu finden.

43Vgl.

Walach 2017, S. 137.

Teil II Praxis

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Die Geschichtsarbeit am Werk

Den Sommer des Jahres 1895 verbrachte Sigmund Freud im Schloss Belle Vue auf einem der steilen Hügel des Wienerwaldes. Die Villa ist seitdem verschwunden, aber eine Steintafel erinnert an den Durchbruch, den die Erforschung der Psyche an diesem Ort erfuhr. Es ist ein Zitat aus einem Brief Freuds, an einen Freund: „Glaubst Du eigentlich, daß dereinst auf einer Marmortafel zu lesen sein wird: »Hier enthüllte sich am 24. Juli 1895 dem Dr. Sigmund Freud das Geheimnis des Traums?«“ Die Frage wurde also zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Freud hatte auf dem Kobenzel sein Turmerlebnis. Er entwickelte ein Verständnis dafür, was uns heute selbstverständlich erscheint, nämlich, dass im Traum unbewusste Vorstellungen Ausdruck finden. Den Schlüssel zu dieser Verbindung nannte Freud „Traumarbeit“. Mit dem Begriff ist jener Prozess bezeichnet, durch den unbewusste und in ihrer rohen Form ungenießbare Wünsche oder Ängste in Bilder umgewandelt werden, die der Psyche des Träumers zumutbar sind. Die unbewussten latenten Trauminhalte oder Traumgedanken durchlaufen eine Zensur, die ihre Form verändert. So verwandelt oder entstellt gelangen sie schließlich als manifeste Träume in das Bewusstsein des Subjekts und ermöglichen eine Erfüllung der in ihnen enthaltenen Wünsche. Obwohl die sogenannte Traumentstellung die latenten Trauminhalte also der Form nach verändert, ist deren Inhalt oder ursprünglicher Sinn unverändert gegeben und lässt sich im Rahmen der Traumdeutung durch Analogieschlüsse nachvollziehen. Diese Funktionsweise von Traumbildern ähnelt dem in vielen Schriftsystemen verbreiteten Rebus-Prinzip. So bedeutet zum Beispiel das ägyptische Hieroglyphenzeichen, das einem Haus ähnelt (pr), in ägyptischen Texten meist nicht Haus, sondern steht für eine Bewegung aus dem semantischen Feld von „hervortreten“, „herauskommen“, und zwar, weil diese Begriffe den gleichen Lautbestand wie „Haus“ (pr) haben. Durch vergleichbare Verschiebungen und auf den

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_5

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5  Die Geschichtsarbeit am Werk

ersten Blick verborgene Assoziationen sind die manifesten Bilder des Traums mit den latenten Traumgedanken verbunden. Aus dieser Erkenntnis entstand die verbreitete Vorstellung, dass es eine verborgene Ebene hinter oder unter dem Traum gäbe, ein Geheimnis, das vom manifesten Traum verhüllt werde. Doch Freud richtete seine Aufmerksamkeit viel weniger, auf das, was vermeintlich hinter dem Vorhang liegt, als auf den Vorhang der Umwandlung von Traumgedanken in Traumbilder selbst. Die Traumarbeit und damit das prozessuale Moment der Verwandlung stehen im Vordergrund der Traumanalyse und nicht etwa die latenten Traumgedanken. Mit dem kollektiven Unbewussten und seinen latenten Inhalten verhält es sich ebenso. Nicht die Gedächtnisinhalte an sich, sondern der Prozess, mit dem sie in eine genießbare Form gegossen werden – die Geschichtsarbeit –, soll im Mittelpunkt der Analyse des kollektiven Gedächtnisses stehen. Die latenten Inhalte des historischen Unbewussten nehmen dabei die Rolle der unbewussten Traumgedanken ein, während die Geschichte dem manifesten Traum entspricht. Anstelle der Traumarbeit tritt die Geschichtsarbeit. Sie verändert die Form latenter Gedächtnisinhalte, indem sie ihnen die Gestalt intersubjektiv nachvollziehbarer, kollektiv erfahrbarer und damit identitätsstiftender Narrative über Vergangenheit verleiht. Durch die Geschichtsarbeit wirkt das kollektive historische Unbewusste auch auf solche gesellschaftliche und politische Strukturen und Prozesse, die nicht auf den ersten Blick als unmittelbar historisch bedingt erkennbar sind. Wie die Geschichtsarbeit funktioniert, will ich an zwei ihrer Mechanismen, nämlich der Verschiebung und der Verdichtung exemplarisch zeigen. Mit dem jeweiligen Verhältnis der deutschen Bundesrepublik und Österreichs zur nationalsozialistischen Vergangenheit habe ich zwei historische Fallbeispiele für die Geschichtsarbeit gewählt, die mit gesellschaftlicher Schuld und Sühne zu tun haben. In beiden Fällen empfanden und empfinden zahlreiche Angehörige der jeweiligen Gesellschaften die Verbindung von subjektiver und gesellschaftlicher historischer Identität als Zumutung, gegen die sie sich jedoch aus Gründen der Moral nicht zur Wehr setzen können. Die Ansprüche der Moral – und mit ihr die Mahnungen der Geschichtswissenschaft – werden dabei als eine Art kollektives Über-Ich, als gesellschaftlicher Zensor des triebhaften Wunsches erlebt, die internalisierte, aber als ungerecht empfundene historische Schuld abzuschütteln. Mit dem Niedergang des Historismus wurde die Macht dieses Zensors schwächer. Indem die Historiker ihre eigene Fehlbarkeit eingestanden, ja sogar erklären, dass es keine objektive historische Wahrheit gibt, ließen sie zu, dass die wissenschaftlichen Narrative über Geschichte Risse bekamen. Im deutschen und österreichischen Diskurs über den Holocaust kommt außerdem eine

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besondere Konstellation verschiedener Elemente zu Tragen: Jene postmodernen wissenschaftlichen Theorien, die am deutlichsten erklären, dass sie nicht im Besitz allgemeingültiger Wahrheit sind, wurden und werden vor allem von linken Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertreten. Die Unzufriedenheit mit der Aufforderung, die Verbrechen der Vorfahren „niemals“ zu „vergessen!“, ist hingegen unter Angehörigen der politischen Rechten besonders groß. Diese komplementären Einstellungen führen dazu, dass die nachhistorische Geschichtswissenschaft an Definitionsmacht verliert. Denn nur ausgerechnet dort, wo das Erbe des Historismus am stärksten ist – auf Ebene der historischen Fakten – ist die Geschichtswissenschaft nach wie vor unangefochten; das faktische Vorhandensein von Gaskammern bezweifelt kaum jemand. Auf Ebene der Theorie läuft die Geschichtswissenschaft jedoch Gefahr, ihre gesellschaftliche Stellung einzubüßen. Wie nämlich die historische Tatsache des Holocaust bearbeitet werden und ob sie überhaupt identitätsstiftende kollektive Erinnerung bleiben soll, ist zunehmend umstritten. Als Ergebnis dieser Konstellation ist das Verhältnis vieler Deutscher und Österreicher zum Holocaust von Ressentiment geprägt. Der Begriff des Ressentiments spielt in der psychoanalytischen Literatur keine wesentliche Rolle. Es waren Michel de Montaigne und vor allem Friedrich Nietzsche, die ihn berühmt machten. Obwohl das Ressentiment also aus der Moralphilosophie stammt, ist er auch für das historische Unbewusste von größter Bedeutung. Das Ressentiment ist ein psychischer Mechanismus.1 Er ermöglicht jenen, die sich ohnmächtig fühlen, Genugtuung, indem ihre unerfüllten narzisstischen Wünsche ein Ventil finden. „Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.“2 – so klingt das bei Nietzsche. Die „Sklaven“ sind hier einem weiteren Sinne zu verstehen als jene, die sich von der Macht ausgeschlossen, vom politischen System gegängelt und von den Eliten missachtet fühlen. Inwiefern diese Haltung für andere nachvollziehbar ist, spielt dabei keine Rolle. Die bloße Wahrnehmung der Zurücksetzung erzeugt enttäuschten Narzissmus. Das Ressentiment hat seinen Ursprung im Unbewussten und nicht im für andere sichtbaren politischen Handeln oder den materiellen Verhältnissen. 1Vgl. Rüdiger Bittner, Ressentiment, in: Richard Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality. Essays on Nietzsche’s On the Genealogy of Morals, Berkeley/Los Angeles/London 1994 (S. 127–138), S. 128. 2Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, Bd. 5.), München 1980, S. 270.

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Zum Beispiel war jene gesellschaftliche Gruppe, welche die Stütze des aufstrebenden Nationalsozialismus bildete – der „neue Mittelstand“ – keineswegs diejenige gewesen, die unter der Weltwirtschaftskrise am meisten zu leiden hatte; es war aber jene, deren Mitglieder die Scham der Niederlage der Nation, mit der sie sich identifizierten und die Demütigungen durch die Entente im Versailler Frieden am tiefsten empfanden. Ihrer Begeisterung für die vorgestellte Gemeinschaft der Nation, für die sie mit hurrapatriotischer Naivität in den Krieg gezogen waren, wurde durch die totale Niederlage ein ernüchterndes Ende gesetzt. Die wilhelminischen Allmachtsfantasien von globaler Vormacht, die viele Deutsche verinnerlicht hatten, fanden aber auch im krisenhaften Alltag der Zwischenkriegszeit kein Ventil. Für Gerhard Botz liegt die Erklärung für die Faschismusdisposition des Mittelstands der 1930er Jahre deshalb nicht in ökonomischer Deprivation, sondern in „frustrierter Aufwärts-Mobilität“.3 Zu den grundlegenden Merkmalen des Ressentiments gehört, dass die Scham und Frustration, aus denen es entsteht, nicht direkt adressiert werden können, denn diese werden ja durch die Zensur der Moral ins Unbewusste gedrängt. „Der Mensch des Ressentiments […] versteht sich auf das Schweigen […].“4, schrieb deshalb Nietzsche. Die Faktizität des Holocaust kann nicht ernsthaft bestritten werden, obwohl das eine Erleichterung des Schuldgefühls brächte. Es entsteht folglich bei den Betroffenen das Gefühl, Opfer der Verhältnisse zu sein. Je schwächer die geschichtswissenschaftliche Definitionsmacht über das Narrativ zu den Fakten ist, desto eher kann das Ressentiment alternative Deutungen anbieten. Für die empfundene Ohnmacht suchen Subjekte, die vom Ressentiment angetrieben werden, Ventile – Objekte, an denen sie imaginäre Rache für ihr Befinden üben können, da ihnen konkretes Handeln ja verwehrt ist. Diese Objekte sind notwendigerweise andere, oft Fremde – Juden, Muslime, Ausländer, Vertreter politischer Eliten, die als abgehoben oder gar als Volksverräter empfunden werden. Teilnehmer einer Pegida-Kundgebung in Dresden 2015 trugen einen hölzernen Galgen mit sich, an dem stellvertretend Schilder mit den Aufschriften „Siegmar »das Pack« Gabriel“ und „Angela »Mutti« Merkel“ gehenkt waren.5 Ähnliches ereignete sich im Rahmen der Nominierung Donald Trumps als Präsidentschaftskandidat bei der Republican National Convention in Cleveland 2016, als

3Gerhard Botz, Strukturwandlungen des österreichischen Nationalsozialismus (1904–1945), in: Historische Sozialforschung 28 (2016) (S. 214–240), S. 239. 4Nietzsche 1980, S. 272. 5https://www.srf.ch/news/international/merkel-am-galgen-juristisches-nachspiel-zu-pegida-demo, zuletzt aufgerufen am 22.02.2018.

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Delegierte forderten, Hillary Clinton zu erhängen bzw. zu erschießen.6 Mithilfe symbolischer Aggressionen wie dieser kann eine Triebabfuhr gewährleistet, die empfundene Unlust externalisiert werden. Ähnliche Vorgänge finden sich auch in der Geschichtsarbeit. Ihre Mechanismen können helfen, einen modus vivendi mit eigentlich unerträglichen kollektiven Erinnerungen zu finden. Diese Erinnerungen verschwinden jedoch nicht einfach, sondern werden von der Psyche durchgearbeitet. Weil Geschichte Ergebnis kollektiver Auseinandersetzungen mit Vergangenheit ist, kann dieser Prozess im Fall der Geschichtsarbeit nicht individuell bleiben. Erst die gesellschaftliche Einbindung subjektiver Auseinandersetzung mit kollektiven Gedächtnisinhalten gibt ihr einen intersubjektiv nachvollziehbaren Sinn, den man historisch nennen kann. Die zentralen Motive internalisierter kollektiver Erinnerungen kehren folglich in veränderter Form im Diskurs über Geschichte wieder. Wer verstehen will, welche Bedeutung diese Ergebnisse der Geschichtsarbeit, die wir als Geschichtsbilder oder historische Narrative wahrnehmen, für die kollektive Identität spielen und wie sie entstanden sind, muss die Mechanismen der Geschichtsarbeit selbst untersuchen. Es genügt also gerade nicht – wie das die Historisten versuchten – die Quellen zu analysieren. Quellen können wir uns als Verweis auf die latenten Inhalte der Geschichte vorstellen, ohne dass wir dabei wenigstens die Quellen als gegeben vorstellen dürften, welche ja ebenfalls erst durch unser Interesse als solche konstituiert werden. Die methodische und vom historischen Unbewussten angestoßene Erzeugung und Untersuchung von Quellen führt überhaupt erst zur Entstehung der manifesten Formen der Geschichte. Es ist dieser Prozess, in dem latente Inhalte des historischen Unbewussten durch Prozesse wie Verschiebung oder Verdichtung zu manifesten Geschichtsbildern verarbeitet werden, der für die Erzeugung von Geschichte entscheidend ist. Die wissenschaftliche Herangehensweise an diese Arbeit unterscheidet sich dabei nur der Form – etwa in Bezug auf Quellen als wesentliches Objekt der Arbeit oder dem methodischen Vorgehen –, nicht aber dem Prinzip nach von anderen Formen der Erzeugung von Geschichte. Der Schweizer Historiker David Gugerli verglich in einem Gespräch einmal die geschichtswissenschaftliche Methode mit einer Black Box. Der Historiker, so sagte er, gehe ins Archiv und dort geschehe etwas Seltsames: Auf irgendeine Art und Weise, die dem Historiker intuitiv verständlich ist, sich aber kaum konkretisieren lasse, werde plötzlich aus den Quellen Geschichte. Ganz Ähnliches geschieht bei der öffentlichen Auseinandersetzung mit Vergangenheit. Jener

6Vgl.

Kranish/Fisher 2016, S. 338.

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schwer fassbare Prozess, in dessen Zug Inhalte des historischen Unbewussten in bewusste Geschichtsbilder verwandelt werden, ist die Geschichtsarbeit. Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft besteht nun darin, die Black Box zu öffnen und den darin befindlichen Mechanismus zu betrachten, um zu einem brauchbaren Verständnis seiner Wirkung zu gelangen. Die Geschichtsarbeit halte ich für ein gut geeignetes Modell dieses Mechanismus. Sie ist, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch in historischen Vorgängen und Strukturen am Werk, die uns bestens vertraut erscheinen.

5.1 Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie Ein wichtiger Prozess der Geschichtsarbeit ist die Verschiebung. In der Traumanalyse ist damit ein Mechanismus der Traumarbeit gemeint, der Wünsche vom eigentlichen Objekt an ein Ersatzobjekt umadressiert, das mit dem ersten durch eine Assoziationskette verbunden ist. Das geschieht vor allem dann, wenn die Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Objekt des Triebs unerträglich oder für die Traumzensur inakzeptabel, die Auseinandersetzung an sich aber unvermeidlich ist. „Die Verschiebung ähnelt der Metapher und der Anspielung. Laut Freud erinnert sie an jenen »Schmied […], der sich eines todwürdigen Verbrechens schuldig gemacht hatte. Der Gerichtshof beschloß, daß die Schuld gesühnt werde, aber da der Schmied allein im Dorfe und unentbehrlich war, dagegen drei Schneider im Dorfe wohnten, wurde einer dieser drei an seiner Statt gehängt.«“7 Als Primärvorgang der Traumarbeit hat die Verschiebung eine „deutliche Abwehrfunktion“8. Wenn die Psyche mit einer Vorstellung konfrontiert wird, die unerträglich ist – einer lähmenden Angst oder einem Trauma beispielsweise – können die psychischen Prozesse, die eigentlich mit diesem unerträglichen Objekt in Verbindung stehen, zu einem anderen, akzeptableren, hin verschoben werden. Für Freud erklärt das, warum in Träumen häufig Objekte auftauchen, die aus dem Kontext zu fallen scheinen. Auch das kollektive Unbewusste kennt Verschiebungen. Die Staatsdoktrin und das damit verbundene gesellschaftspolitische System Österreichs beruhten

7Remo

Bodei, Variationen des Ichs. Personen und Landschaften der Träume, in: Gaetano Benedetti/Erik Hornung (Hg.), Die Wahrheit der Träume, München 1997 (S. 227–247), S. 228. 8Laplanche/Pontalis 1973, S. 605.

5.1  Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie

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­ ährend der ersten Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg auf einer Verw schiebung historischer Konflikte der Zwischenkriegszeit auf ein hegemoniales Geschichtsbild, das als „Opferthese“ bezeichnet wird. Dieses Narrativ bezeichnet Österreich als „erstes Opfer“ nationalsozialistischer Aggression und vermeidet so eine Auseinandersetzung mit der Mitverantwortung der österreichischen Gesellschaft an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Gleichzeitig deckte es die gesellschaftlichen Gräben der Zwischenkriegszeit zu, indem es die Solidarität aller Österreicherinnen und Österreicher als Opfer deutscher Aggression anrief. Als die „Opferthese“ Mitte der 1980er Jahre verstärkt in Zweifel gezogen wurde, begünstigte dieser Paradigmenwechsel das Ende des Systems der österreichischen Konsensdemokratie, die auf dem überkommenen historischen Narrativ aufbaute. Bestimmte gesellschaftliche Tendenzen, die von der Verschiebung überdeckt worden waren, traten nun offen zutage, ohne dass die Geschichtswissenschaft in der Lage gewesen wäre, ein neues Dispositiv über die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs zur Verfügung zu stellen. Stattdessen gewannen faschistisch geprägte Elemente des historischen Unbewussten an politischer und gesellschaftlicher Legitimität. Anders als die im Friedensvertrag von Saint-Germain festgeschriebene Erste Republik wurde die Zweite Republik bei ihrer Gründung 1945 und erst recht bei ihrer Unabhängigkeit 1955 von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung nicht als „Staat wider Willen“ empfunden. Erst im Lauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich jedoch eine breit akzeptierte nationale österreichische Identität.9 Der politische Konsens, einen von Deutschland unabhängigen Staat errichten zu wollen, hatte sich gegen Kriegsende keineswegs unangefochten durchgesetzt. Noch 1943 hatten sowohl Sozialdemokraten als auch Christlichsoziale teilweise einen Verbleib Österreichs im postfaschistischen Deutschland im Sinn.10 Friedrich Adler, der die überragende Identifikationsfigur der österreichischen Sozialdemokraten im Exil gewesen war, setzte sich noch 1955 für einen Wiederanschluss an die Bundesrepublik ein.11 Doch schon auf dem dritten Parteitag der SPÖ 1947 betonte der Gewerkschafter Friedrich Hillegeist unter dem Beifall der Delegierten, dass die Österreicherinnen und

9Vgl. Anton Pelinka/Sieglinde Rosenberger, Österreichische Politik. Grundlagen – Strukturen – Trends, Wien 2007, S. 60–61. 10Vgl. Erika Weinzirl, Die Vor- und Frühgeschichte der Zweiten Republik, in: Wolfgang Mantl (Hg.), Politik in Österreich. Die Zweite Republik: Bestand und Wandel (Studien zu Politik und Verwaltung 10), Wien/Köln/Graz 1992 (S. 83–105), S. 84–85. 11Vgl. Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2015, Wien 2015, S. 36.

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­ sterreicher im „Gegensatz zum Jahre 1918, als uns die damaligen Alliierten die Ö Unabhängigkeit aufzwingen mussten“ nun, nach den Erfahrungen des NS-Staats „dankbar und freudig ein unabhängiges Österreich als Geschenk der Alliierten annehmen wollen.“12 Es ist vor allem der neuen Staatsdoktrin von Österreich als „erstem Opfer“ nationalsozialistischer Aggression geschuldet, dass sich die politischen Eliten beider Lager mehrheitlich für ein unabhängiges Österreich aussprachen und alles daran setzten, eine österreichische als gezielt nicht deutsche Identität zu verankern. Der Verlust der Hegemonie des Hauses Habsburg über den Deutschen Bund und die unfreiwillige Trennung von Deutschland wurden nun umgedeutet. Österreich wurde nicht länger als innerdeutscher Antagonist Preußens, sondern als Feind eines preußischen Deutschlands gedacht. Um die „Opferthese“ zu plausibilisieren, wurden durch sekundäre Bearbeitung aus antipreußischen Geschichtsbildern neue historische Narrative erzeugt. Österreich sollte nun als alter Gegner deutscher Aggression erscheinen. Dieses Bemühen ging so weit, dass 1945 etwa Deutsch als Schulfach durch das Fach „Unterrichtssprache“ ersetzt wurde. Intellektuelle und Politiker, die eine Zugehörigkeit der Österreicherinnen und Österreicher zur deutschen „Kulturnation“ postulierten, wurden öffentlichkeitswirksam gemaßregelt.13 Worum es dabei ging, machte der sozialdemokratische Politiker Julius Deutsch bei seiner Rede auf dem SPÖ-Parteitag 1947 klar: „Wer ein Kriegsverbrechen oder ein anderes Verbrechen an der Menschheit begangen hat, der soll seine harte, gerechte Strafe erleiden, aber er und nicht ein anderer! Würden wir eine kollektive Verantwortlichkeit der Völker anerkennen, dann sänke unsere Rechtsauffassung um einige tausend Jahre zurück in die Zeit der Barbarei.“14 Die Welt würde keine Ruhe finden, so erklärte Deutsch, „wenn ganze Völker für das verantwortlich gemacht werden, was einzelne verbrochen haben.“15 Die „Opferthese“ gab dem Staat Österreich die Möglichkeit, sich der gesellschaftlichen Mitverantwortung für die Verbrechen des Nationalsozialismus und damit auch Forderungen nach Reparationen und Entschädigungen zu entziehen. In der Ministerratssitzung vom 9. November 1948 zur Entschädigung

12Friedrich

Hillegeist, Rede zum Parteitag der SPÖ 1947 (zit. n. d. Protokoll des dritten Parteitages der SPÖ. Wien, 23.–26. Oktober 1947, S. 198). 13Vgl. Rathkolb 2015, S. 36–37. 14Julius Deutsch, Rede zum Parteitag der SPÖ 1947 (zit. n. d. Protokoll des dritten Parteitages der SPÖ. Wien, 23.–26. Oktober 1947, S. 189). 15Julius Deutsch 1947, ebd.

5.1  Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie

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enteigneter Juden erklärte der ÖVP-Minister für Handel und Wiederaufbau Ernst Kolb: „Von dem Reichtum hat Österreich nichts und das Unrecht, das den Juden zugefügt wurde, hat Österreich nicht zugefügt. Österreich und das Großdeutsche Reich, das ist ein Unterschied.“16 Diese Haltung ist symptomatisch für damalige Position des Staates zu seiner Vergangenheit. Eine wichtige Grundlage dieser Doktrin war die „Moskauer Erklärung über Österreich“ in der die Außenminister des Vereinigten Königreichs, der Sowjetunion und der USA am 1. November 1943 erklärt hatten, dass ihre Regierungen Österreich als „das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte“, anerkannten und sich für ein unabhängiges Österreich aussprachen.17 Es spricht einiges dafür, dass die Alliierten 1943 eigentlich nicht daran dachten, ein unabhängiges Österreich zu errichten und die Moskauer Erklärung hauptsächlich propagandistischen Zwecken diente.18 Den österreichischen Regierungen der Besatzungszeit 1945–1955 diente die Erklärung jedoch als Argumentationshilfe, und zwar sowohl den Alliierten als auch der eigenen Bevölkerung gegenüber. In der Proklamation der Unabhängigkeit Österreichs durch die provisorische Staatsregierung vom 1. Mai 1945 nahm die angebliche Rolle Österreichs als Opfer breiten Raum ein. Den nationalsozialistischen Eroberungskrieg habe „kein Österreicher jemals“ gewollt oder vorausgesehen. Die Anerkennung des Opferstatus durch die Alliierten in der Moskauer Erklärung habe das bestätigt.19 Die Tatsache, dass die Alliierten Österreich im selben Dokument an seine Verantwortung „für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands“20 erinnerten, erschien den politischen Eliten der jungen

16Protokoll

der 132. Sitzung des Ministerrats vom 9. November 1948 (zit. n. d. Dokumententeil in: Robert Knight, „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“: Die Wortprotokolle der Österreichischen Bundesregierung von 1945 bis 1952 über die Entschädigung der Juden, Wien/Köln/Weimar 2000, S. 146). 17Moskauer Erklärung über Österreich, 1. November 1943 (zit. n. dem Dokumententeil in: Gerald Stourzh, Geschichte des Staatsvertrages 1945–1955. Österreichs Weg zur Neutralität, Graz/Wien/Köln 1980, S. 214). 18Vgl. Robert H. Keyerslingk, 1. November 1943: Die Moskauer Deklaration – die Alliierten, Österreich und der Zweite Weltkrieg, in: Rolf Steininger/Michael Gehler (Hg.), Österreich im 20. Jahrhundert. Ein Studienbuch in zwei Bänden. (Band 2: Vom zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart), Wien/Köln/Weimar 1997 (S. 9–37), S. 18–20. 19Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs, in: Staatsgesetzblatt für die Republik Österreich, ausgegeben am 1. Mai 1945, 1. Stück. Online verfügbar unter: https://www.ris. bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1945_1_0/1945_1_0.pdf, zuletzt aufgerufen am 08.01.2018. 20Ebd., S. 214.

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Zweiten Republik hingegen kaum erwähnenswert und wurde von der neuen Regierung sogleich relativiert.21 Österreichische Politiker arbeiteten sogar aktiv und mit großem Einsatz darauf hin, eine Dokumentation der Mitverantwortung von Österreicherinnen und Österreichern aus dem Staatsvertrag von 1955 – dem wichtigsten Gründungsdokument der Zweiten Republik – zu streichen. Der spätere Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, der 1955 noch Beamter im Bundeskanzleramt gewesen war, erinnerte sich zwanzig Jahre später, dass die Verhandlungen der Botschafterkonferenz von zweiten bis 13. Mai 1955 in Wien hauptsächlich um dieses Thema kreisten. Da die österreichischen Verhandler sich nicht durchsetzen konnten, wurde die Schuldfrage zur Chefsache erklärt und bei der Außenministerkonferenz am 14. Mai erneut angesprochen. Dort, wenige Stunden vor der öffentlich zelebrierten Unterzeichnung des Vertrags, wurde jeglicher Hinweis auf die österreichische Mitverantwortung getilgt.22 Im österreichischen kollektiven Gedächtnis spielt der Staatsvertrag eine herausragende Rolle. Jahrelang hatten die politischen Eliten des Landes unter reger Anteilnahme der Massenmedien auf einen Vertrag über die Unabhängigkeit hingearbeitet. Die zentrale Bedingung der Sowjetunion – die Blockfreiheit Österreichs – gab Anlass zum österreichischen Nationalfeiertag, der an den Nationalratsbeschluss der „immerwährenden Neutralität“ Österreichs am 26. Oktober erinnern soll. Unmittelbar nach Vertragsunterzeichnung wurde das Dokument vom Balkon des Schlosses Belvedere aus einer jubelnden Menge präsentiert. Tausende Menschen hatten sich im Garten versammelt. Sie schwenkten Taschentücher und rot-weiß-rote Fähnchen. Die Wochenschaubilder dieses Ereignisses erreichten in Österreich einen ungeheuren Bekanntheitsgrad. Sie boten ein willkommenes Gegenstück zu jenen Bildern enthusiastischer Menschenmassen am Heldenplatz, die nach dem „Anschluss“ Adolf Hitler bei seinem Auftritt auf dem Balkon der Hofburg zugejubelt hatten. 2005 wurde das Staatsvertragsdokument im Rahmen einer Ausstellung im Belvedere erneut inszeniert. In seiner Eröffnungsrede sagte Bundespräsident Fischer: „Die Vergangenheit ist keine versiegelte Kiste, die wir in eine Ecke stellen können. Sie ist mit ihren schmerzlichen und freudigen Seiten immer noch Teil der Gegenwart.“23 Dass mit dem Staatsvertrag als „High-

21Vgl.

Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs. Rudolf Kirchschläger, Erinnerungen an die Wiener Botschafterkonferenz 1955, in: Zeitgeschichte 2/8 (1974/75) (S. 177–179), S. 178. 23Heinz Fischer, Eröffnungsrede zur Staatsvertragsausstellung „Das neue Österreich“, 12.05.2005 (zit. n. einer Presseaussendung der Österreichischen Präsidentschaftskanzlei) 22Vgl.

5.1  Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie

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light“24 der Ausstellung vor allem an die schönen Zeiten erinnert werden sollte, liegt nahe. Die Gründung der Zweiten Republik war, wie Cornelius Lehngut so treffend feststellte „direkt mit der Textdarstellung als Opfer verknüpft, ohne die dieser Nationsbildungsprozess kaum möglich gewesen wäre.“25 Die SPÖ hätte nach Kriegsende durchaus die Rolle der österreichischen Sozialisten als Widersacher des Faschismus in der Zwischenkriegszeit betonen können. Dadurch hätte sie aber die Wunden der 1930er Jahre wieder aufgerissen. Stattdessen wurde versucht, das Gemeinsame in den Mittelpunkt zu stellen: Die behauptete Opferrolle aller Österreicherinnen und Österreicher, die durch den Geist der Lagerstraße gleich gemacht worden waren. Dieses Geschichtsbild wurde so nachhaltig im kollektiven Gedächtnis Österreichs verankert, dass es selbst die Umbrüche in der Frage der Mitschuld am Holocaust überdauert hat. In einer 2007 durchgeführten Umfrage zur österreichischen Gedächtniskultur gaben nur 15 % der Befragten an, Österreicherinnen und Österreicher hätten mit den Nationalsozialisten kollaboriert; eine relative Mehrheit von 37 % stimmte hingegen der Aussage zu, Österreich sei das erste Opfer des Nationalsozialismus gewesen.26 Das Opfernarrativ war nicht nur persistenter Gründungsmythos der Zweiten Republik, sondern half auch, die tiefen Gräben zwischen Sozialdemokraten und Christlichsozialen zuzudecken, die während der Ersten Republik aufgerissen worden waren. Der Geschichtsmythos stand also nicht bloß an der Wiege der neuen österreichischen Nation, sondern sicherte auch deren Bestand. Seit den frühen 1920er Jahren waren sich die beiden Lager und ihre jeweiligen paramilitärischen Verbände, der sozialdemokratische „Republikanische Schutzbund“ und die christlichsozialen „Heimwehren“ bewaffnet gegen-übergestanden. Immer wieder kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen, etwa bei der sozialdemokratischen „Julirevolte“ 1927 infolge des „Schattendorfer Urteils“ oder dem gescheiterten „Pfriemer-Putsch“ der Heimwehren 1931. Die christlichsozial dominierten Regierungen der 1920er und frühen 1930er Jahre stützen sich auf die Loyalität von Heer und Polizei, um größere und kleinere Unruhen niederzuschlagen. Die Kontrolle über den Sicherheitsapparat stellte damit die wesentliche Voraussetzung für

Online verfügbar unter: http://www.bundespraesident.at/newsdetail/artikel/staatsvertragsausstellung-offiziell-eroeffnet-die-vergangenheit-ist-keine-versiegelte-kiste, zuletzt aufgerufen am 08.01.2018. 24Ebd. 25Cornelius

Lehngut, Waldheim und die Folgen. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich, Frankfurt a. M. 2013, S. 62. 26Vgl. Guggenberger 2007, S. 54–55.

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den Übergang von der durch Gewalt geprägten, aber demokratischen Situation vor 1933 zum austrofaschistischen System dar.27 Die angespannte Lage eskalierte, als die christlichsoziale Regierung unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß 1933 ein autoritäres Regime errichtete. Der Nationalrat (in dem die Sozialdemokraten stärkste Fraktion waren, aber über keine absolute Mehrheit verfügten) und der Verfassungsgerichtshof wurden von der Exekutive am Zusammentreten gehindert und der Schutzbund aufgelöst. Versammlungen und Aufmärsche wurden verboten, die Presse unter Zensur gestellt. Als am 12. Februar 1934 das Linzer Parteilokal der Sozialdemokraten im Hotel Schiff von der Polizei durchsucht werden sollte, widersetzten sich die dort versammelten Schutzbündler und lösten damit den sogenannten Februaraufstand aus. Der unvorbereitete und unkoordiniert kämpfende Schutzbund wurde von der Übermacht aus Bundesheer, Polizei und Heimwehren in nur drei Tagen überwältigt. Zu den hunderten Toten der teilweise verbissenen Kämpfe, in denen das Bundesheer auch Artillerie und Panzerzüge gegen die in Gemeindebauten verschanzten Schutzbündler einsetzte, kamen noch standrechtliche Hinrichtungen und Inhaftierungen in Gefängnissen und Internierungslagern. Auf die blutige Niederschlagung des Februaraufstands folgte die Umgestaltung des bis dahin als Provisorium ausgegebenen autoritären Regimes zur faschistischen Diktatur. Damit war jene Befürchtung eingetreten, der die Sozialdemokraten in ihrem „Linzer Programm“ 1926 Ausdruck verliehen hatten: „Die Bourgeoisie“ werde „versucht sein, die demokratische Republik zu stürzen, eine monarchistische oder faschistische Diktatur aufzurichten […].“28 Die Hoffnung, das Bundesheer würde in diesen Fall die Republik verteidigen und so der Arbeiterklasse ermöglichen, die Staatsmacht im Bürgerkrieg zurückzuerobern,29 hatte sich jedoch als naiv erwiesen. Viele Angehörige der politischen Eliten der frühen Zweiten Republik waren an den blutigen Konflikten der 1920er und 1930er Jahren beteiligt gewesen. In den Jahren nach Kriegsende einen Modus für die Zusammenarbeit zu finden, war also keine leichte Aufgabe. Indem sich beide Lager als Opfer des Nationalsozialismus stilisierten und das historische Konfliktpotenzial auf einen gemeinsamen

27Vgl.

Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938 (Politik und Zeitgeschichte Bd. 8), Wien/Berlin 2013, S. 212. 28Linzer Programm der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Österreichs, 1926 (zit. n. Albert Kadan/Anton Pelinka, Die Grundsatzprogramme der Österreichischen Parteien. Dokumentation und Analyse, St. Pölten 1979, S. 80). 29Vgl. ebd., S. 80.

5.1  Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie

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Gegner übertrugen, gelang es, das nötige Maß an Kooperation herzustellen. Die Verschiebungen im Geschichtsbild, die dafür vorgenommen wurden, waren aus heutiger Sicht zum Teil atemberaubend. So wurden hohe Funktionäre der austrofaschistischen Diktatur die ersten Bundeskanzler der demokratischen Zweiten Republik: Leopold Figl, der in der Diktatur Bauernbunddirektor und Landesführer der Niederösterreichischen „Sturmscharen“ gewesen war, regierte von 1945 bis 1953. Sein Nachfolger Julius Raab hatte als Führer der niederösterreichischen Heimwehr 1930 im „Korneuburger Eid“ geschworen, den „westlichen demokratischen Parlamentarismus“ zu verwerfen und sein Blut für die drei Gewalten im neuen Staat: „den Gottglauben, seinen eigenen harten Willen und das Wort seiner Führer“ zu geben.30 Raab war von 1953 bis 1961 Bundeskanzler. Beide hatten mit Adolf Schärf und Bruno Pittermann sozialdemokratische Vizekanzler. Sowohl Schärf als auch Pittermann waren im Zuge des Februaraufstands verhaftet worden und nach ihrer Freilassung Repressalien des Regimes ausgesetzt gewesen. Nach Kriegsende betonte die christlichsoziale ÖVP in ihrem Programm von 1949, sie würde „jedes Einparteiensystem, das zwangsläufig zur Diktatur führen muß, als der menschlichen Natur nicht entsprechend ablehnen.“31 Die offensichtliche Diskrepanz zwischen diesem Bekenntnis und den Handlungen der Führungselite der ÖVP während der 1930er Jahre versuchte man mit der notwendigen Abwehr der nationalsozialistischen Bedrohung zu rechtfertigen, die einen starken Staat nötig gemacht habe: „In Wahrheit betrachteten die führenden Köpfe der damaligen Regierung die Ausschaltung der Volksvertretung als einen unerwünschten und nur provisorischen Zustand, der durch die tödliche Gefahr […] infolge der nationalsozialistischen Bedrohung […] notwendig geworden war.“32 Da die Konflikte der Zwischenkriegszeit noch so präsent seien, mahnte die ÖVP zur zurückhaltenden Beurteilung des austrofaschistischen Regimes. Es sei bedauerlich, dass die Sozialdemokraten „gewisse Unzulänglichkeiten und Mißgriffe des autoritären Regimes zum Anlaß nahmen, um die Österreichische Volkspartei, die mit den damaligen Ereignissen gar nichts zu tun hat, anzugreifen und zu verleumden.“33

30Korneuburger Eid, 18. Mai 1930 Online verfügbar unter: http://www.oesta.gv.at/ Images/2010/4/28/1125708095.jpg, zuletzt aufgerufen am 05.01.2018. 31Alfred Kasamas, Programm Österreich. Grundsätze und Ziele der Österreichischen Volkspartei, o. O. 1949, S. 81. 32Ebd., S. 86. 33Ebd., S. 86.

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Die These, das austrofaschistische Regime habe durch die Zerschlagung demokratischer Strukturen und die Ausschaltung der Opposition der nationalsozialistischen Machtübernahme in die Hände gespielt, sei „Geschichtsfälschung“. Es sei vielmehr der mangelnde Patriotismus der ihrem Selbstverständnis nach internationalen Sozialdemokraten gewesen, der „Hitler den Weg nach Österreich erleichtert“ habe.34 Das Argument einer marxistischen Internationalen führte zur paradoxen Situation, dass die SPÖ in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs oftmals wesentlich entschiedener gegen Ansprüche der sowjetischen Militärverwaltung auftrat als die ÖVP. Das „Linzer Programm“ hatte dagegen noch die Verbundenheit mit den „Arbeiterparteien aller Nationen“35 betont. Um sich von der sowjetischen Besatzungsmacht abzugrenzen, polemisierten SPÖ-Funktionäre in der Formierungsphase der Zweiten Republik heftig gegen die österreichischen Kommunisten. Am vierten Parteitag der SPÖ 1949 wetterte der einflussreiche SPÖ-Minister und spätere Nationalratspräsident Karl Waldbrunner gegen die „volksfremde und staatsfeindliche Kommunistische Partei“, die als knapp verhinderter „Totengräber unserer zweiten Republik“ alles daran setzte, einen friedlichen Aufbau des neuen Staates zu verhindern. Die „Mauer dagegen“ sei einzig und allein die SPÖ.36 Der alte Feind ÖVP wurde im Vergleich dazu höchstens mit Samthandschuhen angefasst. SPÖ-nahe Gewerkschafter unter Führung des späteren Innenministers Franz Olah schlugen auch die von Kommunisten angeführten „Oktoberstreiks“ des Jahres 1950 nieder. Die Exekutive hatte, insbesondere in der sowjetischen Besatzungszone, nicht gewagt, gegen die Streikenden vorzugehen. Auslöser für die Streiks waren geplante Preiserhöhungen unter anderem auf Grundnahrungsmittel gewesen, die von den Regierungsparteien und der Sozialpartnerschaft insgeheim ausgehandelt worden waren. Über ihr Zentralorgan, die Arbeiter-Zeitung, versuchte die SPÖ zu kalmieren. Als es am 26. September dennoch zu Demonstrationen und ersten organisierten Streiks kam, richtete die Partei eine Warnung an die Arbeiterinnen und Arbeiter: „Schützt euren Arbeitsplatz!“37. Schon am

34Ebd.,

S. 87. Programm S. 75. 36Karl Waldbrunner, Rede zum Parteitag der SPÖ 1949 (zit. n. d. Protokoll des vierten Parteitages der SPÖ. Wien, 10.-12. November 1949, S. 79). 37Schützt euren Arbeitsplatz! Eine Warnung der Sozialistischen Partei, in: Arbeiter-Zeitung, 27.09.1950, S. 1. 35Linzer

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folgenden Tag wurde der „kommunistische Generalstreikversuch“ für gescheitert erklärt und die kommunistische Agitation als Putschversuch dargestellt. „Kommunistische Terrorgruppen“ hätten, so der Vorwurf der SPÖ, mit dem rechten VdU gemeinsame Sache gemacht, um Demokratie und Freiheit zu beseitigen. „Die Versuche der Kommunisten und ihrer faschistischen Mitläufer, die Arbeiter- und Angestelltenschaft für dieses verbrecherische Vorhaben zu gewinnen, sind auch in den letzten zwei Tagen gescheitert.“38 Etwa 200.000 Menschen – deutlich mehr als die rund 5 % KPÖ-Wähler und die noch geringere Zahl an Parteifunktionären – hatten sich am Streik beteiligt. Erst 2015 wurden jedoch die streikenden Gewerkschaftsmitglieder vom Österreichischen Gewerkschaftsbund rehabilitiert und der Vorwurf eines kommunistischen Putschversuchs zurückgenommen.39 Um die Opferthese zu legitimieren und eine Kooperation von ÖVP und SPÖ zu ermöglichen, etablierten die Parteieliten das historische Narrativ eines solidarischen Österreichpatriotismus politischer KZ-Häftlinge über die Gräben alter Feindschaften hinweg. Die gemeinsame Erfahrung nationalsozialistischen Terrors machte – so lautete die Botschaft an die Öffentlichkeit – alles andere vergessen. Vor allem die ÖVP arbeitete an der Etablierung dieses Narrativs. Die von christlichsozialen Politikern in Dachau und Mauthausen erlittenen Qualen sollten sie gegen den Vorwurf immunisieren, bis 1938 selbst einem faschistischen Regime gedient zu haben. Vor allem zwei Gründe sprechen gegen die tatsächliche Bedeutung der Hafterfahrungen für die Kooperation von SPÖ- und ÖVP-Politikern. Erstens überlebten die einflussreichen inhaftierten Sozialisten wie Schutzbund-Führer Alexander Eifler das KZ nicht, sodass die Verbindung christlichsozialer zu sozialdemokratischen Mithäftlingen nach der Befreiung allenfalls ideeller, nicht aber persönlicher Natur sein konnte.40 Zweitens wurden die kommunistischen Häftlinge, die in den Kreisen der österreichischen „Politischen“ in den Lagern tätig gewesen waren, nach Kriegsende aus der postulierten Gemeinschaft österreichischer Patrioten im KZ ausgeschlossen. „Der immer wieder beschworene »Geist der Lagerstraße« diente primär als Erklärung […], warum die Konflikte

38Laßt Kommunisten und Faschisten unter sich! Ein Aufruf der Sozialdemokratischen Partei und der Gewerkschaften, in: Arbeiter-Zeitung, 28.09.1950, S. 1. 39Vgl. Erich Foglar, Vorwort, in: Peter Autengruber/Manfred Mugrauer, Oktoberstreik. Die Realität hinter den Legenden über die Streikbewegung im Herbst 1950. Sanktionen gegen Streikende und ihre Rücknahme, Wien 2016 (S. 7–8). 40Vgl. Rathkolb 2014, S. 76.

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der Ersten Republik, die in der Auflösung des Parlaments, im blutigen Bürgerkrieg vom Februar 1934 und in der politischen Verfolgung von Sozialdemokraten […] geendet hatten, plötzlich nicht mehr zählen sollten.“41 Wenn die Konflikte der Zwischenkriegszeit überhaupt thematisiert wurden, dann meist in Zusammenhang mit dem darauf folgenden NS-Regime. In dessen Ablehnung bestand der eine – eigentlich der einzige – tragfähige Konsens, auf dem eine Nachkriegsordnung beruhen konnte, für die eine Kooperation der nicht versöhnten Gegner Voraussetzung war. Dieser Konsens zeigt Wirkung bis in die Gegenwart. So bezeichnete der sozialdemokratische Altbundespräsident Heinz Fischer in einem Gastkommentar über Geschichte und Zukunft der Sozialdemokratie in der konservativen „Kleinen Zeitung“ die austrofaschistische Diktatur verharmlosend als Phase „antiparlamentarischer Strömungen“ und „autoritärer Tendenzen“42, um gleich darauf die faschistische Natur des NS-Regimes zu betonen. Er blieb damit in seiner Diktion noch zurückhaltender als selbst die ÖVP in ihrem Parteiprogramm von 1949. Fischer setzte damit einerseits die Tradition des „Rollenverzichts“ österreichischer Bundespräsidenten fort, die durch die Verfassung mit sehr großen Machtmitteln ausgestattet wären, realpolitisch jedoch als Vermittler agieren. Andererseits blieb Fischer dem rhetorischen Burgfrieden verpflichtet, in dessen Schatten er als Politiker seit den 1960er Jahren sozialisiert worden war. Vom Ende des zweiten Weltkriegs bis in die 1980er Jahre war das politische System Österreichs geprägt vom aufwendig erhaltenen Konsens zwischen den beiden großen Volksparteien SPÖ und ÖVP. Dass diese Verbindung keine Liebesbeziehung sein konnte, war stets offensichtlich. Sie sei, schrieb Erwin Ringel noch 1993 im Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte, ein „notwendiges Übel“ gewesen. Diese Übel bestand für Ringel darin, dass eine Kooperation der beiden Lager alternativlos war und die unterschwellige Angst vor erneuten Konflikten zwischen SPÖ und ÖVP zu einer außerordentlich konfliktscheuen Grundtendenz österreichischer Politik im Allgemeinen führe: „Bei uns werden seit langer Zeit alle Konflikte unter der Devise »Wir werden keinen Richter brauchen« unter den Teppich gekehrt“.43

41Ebd.,

S. 76. Fischer, Sozialdemokratie, ein Auslaufmodell?, in: Kleine Zeitung, 30. 12.2017,

42Heinz

S. 4. 43Erwin

Ringel, „Ich bitt’ euch höflich, seid’s keine Idioten“. Politikverdrossenheit und österreichische Identität, in: Erwin Ringel (Hg.), „Ich bitt’ euch höflich, seid’s keine Trottel“. Politikverdrossenheit und österreichische Identität, Wien 1993 (S. 11–49), S. 17–18.

5.1  Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie

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Um beiden großen Lagern der Ersten Republik möglichst gleichen Einfluss auf den Staat zu geben, wurde ein Proporzsystem etabliert. Der ehemalige ÖVP-Bundeskanzler Josef Klaus charakterisierte diese System so: „Stellenbesetzungen, Subventionen, ja sogar Regierungs- und Beamtendelegationen, die ins Ausland reisten, mussten im Verhältnis 1:1 besetzt werden.“44 Wegen der überragenden Stellung der beiden Volksparteien in der österreichischen Gesellschaft, welche die in demokratischen Staaten sonst übliche Grenzziehung zwischen Staat und Gesellschaft, parteipolitischen und privaten Bereichen weitestgehend außer Kraft setzte,45 zog sich der Proporz durch beinahe alle Lebensbereiche. In den Aufsichtsräten der verstaatlichten Industrie, in den Massenmedien, den Schulen und Universitäten – überall mussten Postenbesetzungen exakt im Verhältnis 1:1 erfolgen. Die Sendezeit im staatlichen Rundfunk musste sekundengenau geteilt, Orden und Auszeichnungen gleichmäßig verteilt verliehen werden. Diese Aufteilung wirkte tief in den Alltag der Menschen hinein. So gibt oder gab es in Österreich jeweils zwei (nämlich SPÖ- bzw. ÖVP-nahe) Autofahrerklubs, Sportdachverbände, Alpinvereine, Banken, Versicherungen, Einzelhandelsketten usw. Die Zugehörigkeit zu oder das bloße Frequentieren einer dieser Institutionen, die als Vorfeldorganisationen der jeweiligen Partei fungierten, galt als Ausweis der Zugehörigkeit zur „schwarzen“ bzw. „roten Reichshälfte“, wie die Einflusssphären von ÖVP und SPÖ bezeichnet wurden. Jeder Bürger mit Parteibuch von SPÖ oder ÖVP konnte darauf zählen, innerhalb der Sphäre der eigenen Partei wohlwollend behandelt zu werden – ob es nun um eine Anstellung oder Beförderung, einen Bankkredit oder eine Wohnung ging – und von den Vertretern der Gegenseite wenigstens als Teil des Systems akzeptiert zu werden. Die KPÖ und das durch den Nationalsozialismus diskreditierte kleinere „dritte Lager“ der Ersten Republik, die Deutschnationalen, spielten in diesem System bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Dazu kam die Funktion der Sozialpartnerschaft als – natürlich ebenfalls paritätisch besetzte – „Schattenregierung“. Arbeiterkammer und sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaften auf der einen, Wirtschaftskammer und Industriellenvereinigung auf der anderen Seite übten einen informellen Einfluss auf die österreichische Politik aus, welcher den Möglichkeiten der gewählten Mandatare und der Minister in nichts nachstand. Für Bundeskanzler Bruno Kreisky

44Zit.

n. Rathkolb 2015, S. 78. Anton Pelinka, Struktur und Funktion der politischen Parteien, in: Heinz Fischer (Hg.), Das politische System Österreichs, Wien 1982 (S. 31–53), S. 48.

45Vgl.

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bestand „das Wesen und die Haltbarkeit der österreichischen Sozialpartnerschaft vor allem darin, daß sie sich freiwillig zu dieser Zusammenarbeit entschlossen hat, sie niemand dazu zwingt, aber auch niemand zwingen kann.“46 Die Sozialpartner legten über Kollektivverträge konsensual die Löhne fest und dominierten die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Landes. Streiks haben deshalb in Österreich ausgesprochenen Seltenheitswert – es existiert nicht einmal ein gesetzliches Streikrecht. Das Proporzsystem leistete, was es sollte: Es sorgte für außerordentliche politische Stabilität in der Kooperation zweier eigentlich bis aufs Blut verfeindeter Lager und stellte sozialen Frieden sicher, indem es gewährleistete, dass eine breite Bevölkerungsmehrheit vom wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Krieg profitieren konnte. Diese Stabilität bedeutete jedoch auch, dass Wahlen nur eine untergeordnete Bedeutung im politischen Leben einnahmen. Welche der beiden großen Parteien den Bundeskanzler stellte, spielte angesichts der Beharrungskräfte des Proporzsystems keine besondere Rolle, zumal der österreichische Bundeskanzler im Gegensatz zum bundesdeutschen Pendent nicht über eine Richtlinienkompetenz verfügt. Stellte die ÖVP von 1945–1970 die ersten vier Bundeskanzler der zweiten Republik, so waren die nächsten vier Kanzler von 1970 bis 1997 Sozialdemokraten. In keinem Fall ging mit der Regierung eines Kanzlers eine Richtungsentscheidung zur Abkehr von der Konsensdemokratie und dem Proporzsystem einher. Nicht einmal die Phasen der ÖVP- bzw. SPÖ-Alleinregierungen änderten daran etwas. Die seit einer Verfassungsnovelle im Jahr 1929 mit außergewöhnlichen Machtmitteln ausgestatteten Bundespräsidenten (von 1919 bis 2017 allesamt entweder von SPÖ oder ÖVP bzw. deren Vorgängerparteien gestellt) verzichteten ohnehin sämtlich auf die Ausübung dieser Macht und verstanden ihre politische Rolle als die von Bewahrern des Status quo. In den ersten vier Jahrzehnten der Zweiten Republik schien es, als könne nichts an diesem „ehernen Gesetz der Oligarchie“47 rütteln. Doch mehr als eine Generation nach dem Ende des zweiten Weltkriegs sollte die österreichische Gesellschaft doch noch von ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit eingeholt werden. Mitte der 1980er Jahre geriet der geschichtspolitisch dominante Konsens über Österreich als Opfer deutscher Aggression ins Wanken. Da die Opferthese

46Bruno

Kreisky, „Österreich wird moderner und menschlicher“ Regierungserklärung III, 5.11.1975 (zit. n. Kreisky, Reden Band 2. Wien 1981, S. 505). 47Pelinka 1982, S. 49.

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als Staatsdoktrin Grundlage für das Proporzsystem war, auf dem das gesellschaftlich-politische Zusammenleben in Österreich beruhte, hatte Zweifel daran das Potenzial, die österreichische Gesellschaft fundamental zu verändern. Weil die Parteipolitik ihren Einfluss jahrzehntelang bis tief in den Alltag der Österreicherinnen und Österreicher geltend gemacht hatte, betraf die Infragestellung des historischen Grundkonsenses von ÖVP und SPÖ nicht nur den Bereich offizieller politischer Institutionen, sondern das Zusammenleben in seiner Gesamtheit. Die Tatsache, dass mit der „Opferthese“ eine Staatsdoktrin gelebt wurde, die selbst den Versuch einer Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht nur überflüssig, sondern sogar gefährlich machte, hatte zwei Grundtendenzen in Politik und Geschichtswahrnehmung zur Folge, die Österreich stark von der Bundesrepublik unterscheiden: 1. Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Tätern und Opfern des NS-Regimes begann im Vergleich mit der Bundesrepublik um Jahrzehnte verspätet, nämlich erst in den 1980er Jahren. 2. Es gibt in der österreichischen Gesellschaft bis heute keinen antifaschistischen Grundkonsens. Sobald die „Opferthese“ infrage gestellt und die Verschiebung historischer Schuld entlarvt wurde, traten diese Tendenzen offen zutage. Das Proporzsystem verlor damit sein geschichtspolitisches Fundament, was zu seiner ebenso raschen wie für viele seiner Vertreter überraschenden Auflösung führte. Während die Übertragung der ungelösten Konflikte der Ersten Republik auf die „Opferthese“ also jahrzehntelang die Stabilität des politischen Systems gewährleistete, erzeugte sie durch das bloße Überdecken der nationalsozialistischen Vergangenheit ein Problem: Weil faschistisches Gedankengut nicht gesellschaftlich geächtet ist, konnten Personen, die autoritärem oder sogar nationalsozialistischem Gedankengut zumindest nahestehen, in Regierungsverantwortung gelangen, ohne dass dieser Umstand von einer breiten Bevölkerungsmehrheit als skandalöse oder wenigstens als abzulehnende Entwicklung verstanden wird. Der einmal beschworene „Geist der Lagerstraße“ suchte Österreich so unerwartet wieder heim. Zweifel an der „Opferthese“ und das damit verbundene Ende der österreichischen Konsensdemokratie waren wiederholt Thema politischer Debatten in Österreich, etwa der latenten und wiederholt aufflammenden Feindschaft zwischen dem „Nazijäger“ Simon Wiesenthal und Bundeskanzler Bruno Kreisky, der „Waldheim-Affäre“ ab 1986 und dem Aufstieg der FPÖ, der mit der Machtübernahme Jörg Haiders in der Partei im selben Jahr begann.

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Während die „Waldheim-Affäre“ und der Erfolg der FPÖ unter Führung Jörg Haiders nachhaltigen Einfluss auf die österreichische Politik nahmen und auch international Aufsehen erregten, ist die sogenannte „Kreisky-Wiesenthal-Affäre“ ein Beispiel für die Persistenz historischer Narrative. Die Vermengung von Opferthese und latentem Antisemitismus, die für die Affäre kennzeichnend war, ist symptomatisch für die geschichtspolitische Befindlichkeit der österreichischen Gesellschaft vor Mitte der 1980er Jahre. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass die Auseinandersetzung um Nationalsozialisten an den Schalthebeln der Macht ausgerechnet zwischen zwei Juden – Simon Wiesenthal und Bruno Kreisky – geführt wurde. Diese Volte der Geschichte lässt tief ins historische Unbewusste Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg blicken. Simon Wiesenthal, der später Berühmtheit erlangen sollte, indem er Adolf Eichmann im Exil aufspürte, begann unmittelbar nach seiner Befreiung aus dem KZ Mauthausen damit, Namen von NS-Verbrechern an die US-amerikanische Militärverwaltung zu übermitteln und arbeitete als Dolmetscher für den militärischen Abwehrdienst in Mauthausen, der nach der Befreiung des Lagers ehemalige Mitglieder der Wachmannschaft suchte und verhaftete. Tage nach der Befreiung hatte er sich in einem Brief an den amerikanischen Lagerkommandanten gewendet: „Ich habe gehört, daß Sie für Gerechtigkeit sorgen, und deshalb nenne ich Ihnen hiermit die Namen von 91 Naziverbrechern, die ich in vier Jahren KZ-Haft kennengelernt habe.“48 Auch nachdem Mauthausen unter sowjetische Verwaltung geriet, blieb Wiesenthal als Berater für die Amerikaner tätig.49 Wiesenthal selbst erklärte sein Engagement damit, dass die jungen, unerfahrenen Offiziere, denen er im Lager begegnete, in seinen Augen der Aufgabe kaum gewachsen schienen. Er empfand es als Berufung, die NS-Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.50 Nach seiner Befreiung aus dem Lager ließ sich Wiesenthal zunächst in Linz nieder, wo er in der kleinen jüdischen Gemeinde tätig war und die „Jüdische Historische Dokumentation“ gründete. In den Wirren der Nachkriegszeit war Wiesenthal als halboffizieller Verwalter und Organisator tätig, der zwischen den jüdischen „Displaced Persons“ und Behörden vermittelte. Er nutzte diese Position auch dazu, Augenzeugenberichte und Daten über NS-Verbrecher zu sammeln.

48Zit.

n. Maria Sporrer/Herbert Steiner (Hg.), Simon Wiesenthal. Ein unbequemer Zeitgenosse, Wien 1992, S. 55. 49Vgl. Tom Segev, Simon Wiesenthal. Die Biografie, München 2010, S. 85–88. 50Vgl. Simon Wiesenthal, Recht, nicht Rache. Erinnerungen, Frankfurt a. M./Berlin 1989, S. 47–48.

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Wiederholt geriet Wiesenthal, der sich unter anderem als Präsident des „Jüdischen Zentral-Komitees für die Amerikanische Zone in Österreich“ bezeichnete, mit anderen Überlebenden und israelischen Offiziellen in Konflikt. Aus einigen dieser Auseinandersetzungen entstanden Rechtsstreitigkeiten, die Wiesenthal bis in die 1960er Jahre beschäftigen sollten.51 Auf Adolf Eichmanns Spur stieß Wiesenthal eher zufällig. Seiner Linzer Vermieterin war der Name ihres alten Nachbarn Eichmann in den Akten, an denen Wiesenthal gearbeitet hatte, aufgefallen: „Wussten Sie, daß seine Eltern hier in dieser Straße wohnen, nur ein paar Häuser weiter auf Nummer 32?“52 Erst Jahre später, 1960, sollte Eichmann von israelischen Agenten aus seinem argentinischen Exil entführt und in Israel vor Gericht gestellt werden. 1961 verlegte Wiesenthal seinen Wohnsitz und Arbeitsort nach Wien. Sein Name war infolge des Eichmann-Prozesses allgemein bekannt, sein Buch „Ich jagte Eichmann“53 zum Bestseller geworden. In Wien arbeitete Wiesenthal zunächst offiziell für die jüdische Kultusgemeinde. Mit dieser lag er jedoch in ständigem Streit. Dabei drehte es sich hauptsächlich um die Nähe der Kultusgemeinde zur SPÖ, die Wiesenthal nicht guthieß. Als Lobbyist seines Dokumentationszentrums und der österreichischen Juden, als der Wiesenthal sich betrachtete, geriet er sehr bald in die österreichische Parteipolitik. Dort musste er zwangsläufig auf jenen Politiker treffen, der als österreichischer „Sonnenkönig“ zum „Übervater“54 der Zweiten Republik werden sollte – Bruno Kreisky. Auf den ersten Blick hatten Wiesenthal und Kreisky manches gemeinsam: Beide waren Juden und hatten in ihrer Jugend- und Studienzeit mit antisemitischen Vorurteilen zu kämpfen gehabt, beide hatten unter Verfolgung durch die Nationalsozialisten gelitten. Dort endeten die Gemeinsamkeiten jedoch. Bruno Kreisky, der sowohl in Gefängnissen des austrofaschistischen Regimes als auch der Gestapo gesessen hatte, stammte im Gegensatz zu Wiesenthal aus einer bürgerlichen, nichtreligiösen Familie. Nach seiner Rückkehr aus dem schwedischen Exil begann er eine steile politische Karriere: 1951 war er Beamter in der Sektion für Auswärtige Angelegenheiten des Bundeskanzleramts und wurde noch im selben Jahr außenpolitischer Berater des sozialdemokratischen Bundespräsidenten Theodor Körner. Nach dem Wahlerfolg der SPÖ 1953 wurde

51Vgl.

Segev 2010, S. 95–99; 160–161. 1989, S. 93. 53Simon Wiesenthal, Ich jagte Eichmann. Tatsachenbericht, Gütersloh 1961. 54Ringel 1993, S. 14. 52Wiesenthal

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er Staatssekretär für auswärtige Angelegenheiten und gehörte zu den Verhandlern des Staatsvertrags. 1959 wurde Kreisky Außenminister, 1967 – nach der Wahlniederlage der SPÖ unter Bruno Pittermann und der darauffolgenden Alleinregierung der ÖVP – Vorsitzender der SPÖ und schließlich von 1970 bis 1983 Bundeskanzler. Kreisky, der sich nach seiner Rückkehr nach Österreich immer wieder antisemitischen Ressentiments, auch vonseiten seiner Parteigenossen ausgesetzt sah, wollte seine politische Karriere nicht dadurch gefährden, dass er in der Öffentlichkeit als Jude wahrgenommen würde.55 Noch 1970 plakatierte die ÖVP ihren Spitzenkandidaten Josef Klaus mit dem Slogan „Ein echter Österreicher“, was ihn, so die implizite Botschaft, vom Juden Kreisky unterschiede. Dass Kreiskys jüdische Herkunft seinen politischen Spielraum einengte, galt in der Öffentlichkeit als axiomatisch: „Tenor der Meinungen war […]: Auch Supermann Kreisky hat ein unbewältigtes Problem – seine jüdische Herkunft.“56 Vom Bemühen um Distanzierung war jenes berühmt gewordene zufällige Treffen Wiesenthals mit Kreisky geprägt, bei dem sich die beiden 1958 begegneten. Wiesenthal war als Teil der jüdischen Gemeindeleitung zu Verhandlungen mit Bundeskanzler Raab geladen. Im Treppenhaus begegneten die Besucher Kreisky; man stellte sich dem Staatssekretär vor. „Ich hoffe, Sie kommen nicht zu mir!“, antwortete dieser.57 Die Anekdote verweist auf die geschichtspolitische Grundhaltung Kreiskys, die darauf gerichtet war, den Holocaust möglichst nicht zu thematisieren. Wo das nicht möglich war, sollte zumindest die kollektive Verantwortung Österreichs nicht betont werden. Was in der Bundesrepublik 1986 den Historikerstreit ausgelöst hatte, fiel im geschichtspolitischen Diskurs Österreichs zur selben Zeit nicht einmal auf, wenn es aus dem Mund des Bundeskanzlers kam. Kreisky – der selbst im Holocaust dutzende Angehörige verloren hatte – stellte den Massenmord an den europäischen Juden in einen Gesamtzusammenhang, in dem es schließlich nur noch Opfer eines Mordens gab, das sich als Naturgewalt verselbstständigt hatte und keine Täter mehr brauchte: „[…] was 1938 für die österreichischen Juden begonnen hat, ging bald weit darüber hinaus. Erst kamen die Juden anderer europäischer Nationen an die Reihe, dann die »Arier«, die

55Vgl.

Oliver Rathkolb, Vorwort zu: Bruno Kreisky, Erinnerungen. Das Vermächtnis des Jahrhundertpolitikers, Wien/Graz/Klagenfurt 2017, S. 9; 14. 56Ulrich Brunner, Kratzer am Kanzler, in: „Vorwärts“, 18.12.1975, S. 57Vgl. Segev 2010, S. 163.

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­ orweger, die Holländer, und eigentlich blieb niemand verschont.“58 Den HoloN caust wollte Kreisky nicht als singuläres Ereignis verstanden wissen, sondern als Symptom einer allgemeinen Tendenz des 20. Jahrhunderts: „Der Massenmord hat seither nicht aufgehört, und in den letzten Jahren hat er eine so unfaßbare Steigerung erfahren, daß ich mich immer wieder aufs Neue frage, ob der Kampf dagegen nicht vergeblich ist.“59 „Die österreichischen Juden“ stehen hier stellvertretend für Österreich als erstes Opfer des Nationalsozialismus, gegen den anzukämpfen sich nicht lohnt, zumal es auch niemanden zu geben scheint, der dafür verantwortlich ist. Den Weltgeist kann man schließlich nicht für den Gang der Dinge belangen. Diese Sichtweise war geschichtspolitisches Kalkül. Kreisky war bereit, auf eine Abrechnung mit den Tätern zu verzichten – es waren einfach zu viele. Stattdessen appellierte er an die Verlusterfahrungen, die alle Überlebenden gemacht hatten. Das kollektive Gedächtnis der Österreicher sollte nicht von partikularen Gruppen mit jeweils eigener historischer Identität bestimmt sein, sondern das gemeinsame Leid zur Zeit des Nationalsozialismus betonen. Zynischerweise bezog das auch die Täter mit ein. Anders als nach dem Ende der Apartheid in Südafrika ging es dabei nicht um Aufarbeitung und Verzeihen des Geschehenen, sondern um dessen kollektive Verdrängung. Das Unwohlsein, das viele heimgekehrte Juden überkam, wenn sie auf der Straße ihre ehemaligen Nachbarn trafen, die an der Ermordung ihrer Familien beteiligt gewesen waren, sollte einer unausgesprochenen, weil unaussprechlichen Einsicht weichen: Ohne die (Mit-) Täter ist kein Staat zu machen. Österreich wäre entvölkert. Jedweder Diskurs über gesellschaftliche Verantwortung für den Holocaust musste also vermieden werden, weil die öffentlich gemachte Schuld und Scham der Täter zu groß sein müssten, als dass sie einfach ignoriert werden könnten. Kreisky war als Jude und Sozialdemokrat wie kein anderer geeignet, stellvertretend auf die Aufarbeitung der Verbrechen zweier faschistischer Systeme zu verzichten. Österreich konnte nicht nationalsozialistisch sein – ein Jude war schließlich Bundeskanzler. Ebenso wenig konnte Österreich von Gewalt und Bürgerkrieg der Zwischenkriegszeit gespalten sein – ein Sozialdemokrat saß schließlich als Erster unter Gleichen dem paritätischen Konsens der ehemals verfeindeten Lager vor. Kreisky personifizierte das kollektive geschichtliche Unbewusste Österreichs, das von den Traumata der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ablenkte, indem es eine

58Bruno

Kreisky, Zwischen den Zeiten. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 1986, S. 101. 59Kreisky 1986, S. 101.

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gewaltige Verschiebung vollzog. Da ganz Österreich zum Opfer erklärt worden war, musste die schwierige Frage, wie sich Täter und Opfer zueinander verhalten sollten und wer wann was davon gewesen war, gar nicht erst gestellt werden. Dieser Abwehrmechanismus des kollektiven historischen Unbewussten ermöglichte es einer ganzen Generation, das Land sozial und wirtschaftlich wieder aufzubauen, ohne sich der Tatsache stellen zu müssen, dass sie selbst es zuvor in Schutt und Asche gelegt hatte. Stimmen, die allzu laut auf die stattgefundene Verschiebung hinwiesen, hatten dabei nicht mit Dankbarkeit zu rechnen. Die Nationalratswahl vom 01. März 1970 gewann die SPÖ mit ihrem Spitzenkandidaten Bruno Kreisky. Die Entscheidung der ÖVP, ab 1966 alleine zu regieren und den Nationalratswahlkampf als Zweikampf zwischen Klaus und Kreisky zu inszenieren, wurde als geradezu selbstmörderischer Bruch mit der politischen Kultur der Zweiten Republik gedeutet und für die Niederlage der ÖVP 1970 verantwortlich gemacht. Der Kurs der ÖVP wurde im Wahlkampf mit „Harakiri“ und „politischer Selbstverbrennung“ gleichgesetzt.60 Vielfach unausgesprochen schwang in dieser Einschätzung die kollektive Erinnerung an die gewaltsamen Auseinandersetzungen der beiden Lager eine Generation früher mit. Nie wieder sollten Christlichsoziale und Sozialdemokraten einander feindlich gegenüber stehen. Für die informellen Spielregeln österreichischer Politik bedeutete das beinahe zwangsläufig eine große Koalition. Gewiss, die paritätische Aufteilung des Landes unter den beiden Lagern war so tief greifend, dass der historische Konsens nicht durch ein paar Jahre Alleinregierung einer der beiden Parteien gefährdet werden konnte. Dennoch: Ein gewisses Unbehagen im kollektiven historischen Unbewussten blieb. Die betont kämpferische Wahlkampflinie der ÖVP trug das Ihre dazu bei. Noch am Wahlabend, nur Minuten, nachdem das Ergebnis verkündet worden war, führte der ORF ein Doppelinterview mit Klaus und Kreisky im Innenministerium. Just in dem Moment, als Klaus eine Koalition mit der FPÖ ausgeschlossen hatte, kam FPÖ-Chef Friedrich Peter hinzu. Auf die an Kreisky gerichtete Frage, ob er seiner Einschätzung nach „praktisch so gut wie Bundeskanzler“ sei, antwortete der SPÖ-Vorsitzende ebenso vielsagend wie scheinbar unpassend: „Herr Peter ist in der Zwischenzeit gekommen.“61 Tatsächlich sollte Peters FPÖ eine entscheidende Rolle für die Kanzlerschaft Kreiskys spielen,

60Ö1 Sonderjournal, 01.03.1970, 00:32 Online verfügbar unter: http://www.mediathek.at/ atom/06B5DA95-172-000A1-00000378-06B545E3, zuletzt aufgerufen am 17.01.2018. 61Ebd., 00:33.

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und zwar auf eine Art und Weise, die am Wahlabend nicht einmal zur Sprache gekommen war. Mit 48,42 % Stimmen für die SPÖ waren zwar die Verhältnisse der Wahl von 1966 gedreht worden, aber die SPÖ hatte eine absolute Mandatsmehrheit verfehlt. Während die Mehrheit der politischen Beobachter damit rechnete, dass die Republik zur Normalität einer großen Koalition zurückkehren würde, schien eine kleine Koalition zwischen SPÖ und FPÖ immerhin eine denkbare Variante zu sein. Wer hätte ahnen können, dass die SPÖ eine Minderheitsregierung unter Duldung der FPÖ und damit eine Alleinregierung stellen würde? Aus Sicht der SPÖ mochte die Herangehensweise nur konsequent erscheinen. Schließlich hatte sie, wie Kreisky am Wahlabend betonte, ein besseres Ergebnis in absoluten und relativen Stimmen erzielt als die ÖVP bei der vorigen Wahl. Trotzdem hatte sie bei der Mandatsverteilung den Kürzeren gezogen. Eine Minderheitsregierung war die einzige Möglichkeit, die ÖVP in die Opposition zu verbannen, ohne die FPÖ, die als Sammelbecken von Altnazis galt, formal an der Regierung zu beteiligen. Dieses Revanchefoul an der ÖVP war teuer erkauft: Der Preis war eine Wahlrechtsreform, die das politische Überleben der FPÖ sichern sollte.62 Auf diese Reform hatte die FPÖ zusammen mit Kreisky spätestens seit 1963 hingearbeitet. Kreisky erklärte später, sein Eintreten für die Wünsche der FPÖ – zunächst gegen den Widerstand der übrigen SPÖ-Parteiführung – habe zwei Gründe gehabt: Erstens habe ihm die Aussicht auf ein Zweiparteiensystem aus demokratiepolitischen Gründen nicht behagt. Zweitens habe er befürchtet, dass SPÖ und ÖVP in eine systematische Frontstellung gegeneinander geraten würden.63 Damit wäre eine politische Situation entstanden, die jener der Ersten Republik strukturell geähnelt hätten. Aber ausgerechnet die FPÖ als ausgleichendes Element und willfährigen Mehrheitsbeschaffer zu begreifen? Das ging selbst ausgesprochenen Machtpolitikern wie Franz Olah und Bruno Pittermann, die Kreiskys Deal mit der FPÖ in den 1960er Jahren noch verhindern konnten, zu weit. Bruno Kreisky hatte deutlich weniger Berührungsängste mit Altnazis in der Politik – das Bündnis mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher Peter stellte nur die Spitze des Eisbergs dar. Genau daran sollte sich der Konflikt mit Simon Wiesenthal immer wieder entzünden. Hella Pick äußerte die Ansicht, die

62Vgl.

Heinrich Neisser, Die Reform der Nationalratswahlordnung, in: Österreichisches Jahrbuch für Politik (1992) (S. 361–385), S. 363. 63Vgl. Bruno Kreisky, Im Strom der Politik. Der Memoiren zweiter Teil, Berlin 1988, S. 403–404.

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­ iografie Kreiskys habe eine wesentliche Rolle für dessen Aufgeschlossenheit B ehemaligen Nationalsozialisten gegenüber gespielt.64 Das geteilte Leid der Haft im Austrofaschismus wog nach dieser Interpretation schwerer als Haft, Folter und Vertreibung im Nationalsozialismus. Welche biografischen Erfahrungen sich wie auf das politische Handeln Kreiskys ausgewirkt haben mochten, muss letztlich offen bleiben. Klar ist, dass schon die Wahlarithmetik einen völligen Ausschluss ehemaliger Nationalsozialisten unmöglich machte – jedenfalls für eine Partei, die Massenbewegung sein wollte. Über acht Prozent der österreichischen Bevölkerung waren NSDAP-Mitglieder gewesen. Rechnet man deren Verwandte, Freunde, Mitarbeiter und andere Personen aus dem engeren sozialen Umfeld hinzu, kann man leicht feststellen, dass der Großteil der Österreicherinnen und Österreicher entweder selbst Parteimitglied gewesen, oder mit „Ehemaligen“ eng verbunden waren. Die kollektive Verschiebung gesellschaftlicher Verantwortung hin zur Opferthese ermöglichte es diesen Personen, sich ihrer individuellen Verantwortung bzw. der ihrer Familienmitglieder nicht stellen zu müssen. Die Frage „Was hast du während des Krieges getan?“ spielte 1970 für die österreichische Politik keine große Rolle. Die Klientel der SPÖ war von dieser Problematik weniger betroffen als jene der ÖVP, denn die NSDAP war ihrem Anspruch zum Trotz niemals eine Arbeiterpartei gewesen. Gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen waren Arbeiter in der Partei unterrepräsentiert – „nur“ 15 bis 20 % der österreichischen Arbeiterschaft hatten ihr angehört, dagegen 60 % der Freiberufler, 50 % der Studenten und 40 % der öffentlichen Bediensteten.65 Andererseits versuchte die SPÖ in der Zweiten Republik den Mittelstand als zusätzliche Wählerschicht zu erschließen und also eben jene gesellschaftliche Gruppe anzusprechen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus wesentlich befördert hatte. Gerhard Botz bezeichnete die Faschismus-Anfälligkeit des „neuen Mittelstandes“ in Österreich als dessen typische mentale Disposition.66 In der sozialpsychologischen Verfasstheit dieser staatstragenden Bevölkerungsgruppe verbanden sich Scham und trotziges, aber unausgesprochenes Ressentiment. Das machte sie empfänglich für die Opferthese und damit einhergehende Verschiebung des unbearbeiteten Traumas des Nationalsozialismus.

64Vgl.

Pick 1997, S. 380. Botz, 2016, S. 238. 66Vgl. Ebd., S. 240. 65Vgl.

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Noch viel schwerer als das Risiko, „Ehemalige“ als Wähler zu verlieren, wog für die SPÖ als Regierungspartei die Schwierigkeit, Politik und öffentliche Verwaltung ohne die Mitarbeit ehemaliger Nationalsozialisten zu bewältigen. 1941 waren 60 % der Lehrer und 90 % der Beamten Parteimitglieder gewesen. Aufgrund der Altersstruktur der NSDAP, der überproportional viele junge Männer angehört hatten, kann davon ausgegangen werden, dass eine große Zahl an Spitzenbeamten der späten 1960er und frühen 1970er Jahre während der Zeit des Nationalsozialismus in ihren Beruf eingetreten waren. In Kreiskys erstem Kabinett fanden sich mit Erwin Frühbauer, Josef Moser, Otto Rösch und Hans Öllinger gleich vier ehemalige Nationalsozialisten. Sie waren aktive NSDAP-Mitglieder, Öllinger außerdem bei der SS gewesen. Obwohl beide Großparteien in den Jahren nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft um ehemalige Nationalsozialisten warben, zeigt sich in dieser Konstellation weniger der Wunsch, „Ehemalige“ in die Regierung Österreichs gezielt einzubeziehen, sondern vielmehr die Schwierigkeit, das Land ohne die Mitwirkung der alten Eliten zu verwalten. Das trifft insbesondere auf Landwirtschaftsminister Öllinger zu. Die Personalreserve der SPÖ für den Posten war denkbar dünn. Kreisky und Öllinger hatten einander zuvor nicht einmal gekannt. Heinz Fischer schrieb später, die Suche nach einem Landwirtschaftsminister sei ebenso überstürzt wie dilettantisch vor sich gegangen. Niemand in der SPÖ-Führungsriege habe sich zuvor über diese Personalie Gedanken gemacht und so stand man nach dem Wahlsieg ohne Landwirtschaftsminister da. In einem Telefonat sei der Name Öllinger gefallen. Kreisky konnte damit nichts anfangen: Er wollte wissen, wie dieser Öllinger mit Vornamen hieße und was ihn für das Amt geeignet mache.67 Nachdem Hans Öllingers Vergangenheit publik geworden war, attackierte Simon Wiesenthal die neue, von der FPÖ gestützte Minderheitsregierung öffentlich. Kreisky reagierte seinerseits mit heftigen Angriffen auf Wiesenthal und dessen Tätigkeit. Der Kanzler betrachtete Wiesenthals Arbeit als staatsfeindlich und darüber hinaus parteipolitisch motiviert. Kreisky verstieg sich schließlich zur insinuierten Behauptung, Wiesenthal sei ein Gestapo-Spitzel gewesen; die Arbeit des Dokumentationszentrums nannte er mafiös.68 Am Ende war es Wiesenthal, der klein beigeben musste. Nachdem Kreisky seine Unterstellungen halbherzig zurückgenommen hatte, verzichtete Wiesenthal nicht nur auf einen Prozess

67Vgl. 68Vgl.

Heinz Fischer, die Kreisky-Jahre 1967–1983, Wien 1993, S. 67. Peter Michael Lingens, Das Ende einer Affäre, in: „Profil“, 10.12.1975, S. 12.

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5  Die Geschichtsarbeit am Werk

gegen den Kanzler, sondern entschuldigte sich noch öffentlich für den „Fehler“, die SS-Vergangenheit des FPÖ-Obmanns Friedrich Peter in einem für Kreisky ungünstigen Moment veröffentlicht zu haben. Wiesenthal bat um Nachsicht, denn: Jeder Mensch mache Fehler.69 Bruno Kreisky reagierte auf öffentliche Kritik häufig emotional und überschießend – eine Verhaltensweise, die sich im Lauf von Kreiskys langer Regierungszeit intensivierte: 1975 schrieb der Spiegel, Kreisky lasse „neuerdings kaum eine Gelegenheit aus, um durch Zornesausbrüche an seinem Bild als souveräner Staatsmann zu kratzen.“70 Die Heftigkeit, mit der Kreisky Journalisten und politische Widersacher abkanzelte, war allgemein bekannt. Nichts schien Kreisky mehr in Rage zu bringen als die Konfrontation mit seiner jüdischen Herkunft und der Frage nach seinem Verhältnis zu Juden und zu Israel: „Sagen Sie einmal, Herr Redakteur, kommen Sie zu mir und wollen vom Kanzler der Republik Auskünfte haben, oder wollen Sie mit mir ein Verhör machen? […] Das ist eine unerhörte Frechheit, ich schmeiße Sie am liebsten gleich hinaus.“71, maßregelte er etwa den israelischen Journalisten Zeev Barth. Bereits 1970 hatte sich der Zorn des frischgebackenen Kanzlers auf Wiesenthal und dessen Kritik an der neuen Regierung gerichtet. Es müsse laut der von Kreisky propagierten Sichtweise erlaubt sein, dass ehemalige Nationalsozialisten politisch tätig würden. Das ohnehin schon gespannte Verhältnis zwischen Wiesenthal und Kreisky schlug in offene Feindschaft um – die beiden sollten in Zukunft, wiederholt und noch weitaus heftiger aneinandergeraten. Ein großer Teil der österreichischen Presse folgte Kreisky und forderte, dass ein Schlussstrich unter die nationalsozialistische Vergangenheit Österreichs gezogen würde. Im privaten Kreis sprach Wiesenthal über diese Auseinandersetzung von der „Nazipolitik“ der Regierung. Er habe nun „eine neue Sorte von Antisemitismus kennen gelernt.“72 Als antisemitisch empfand Wiesenthal die fehlende Solidarisierung des Juden Kreisky mit den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus. Wiesenthal konnte nicht verstehen, wieso Kreisky partei-, staats- und machtpolitischen Erwägungen Vorrang gegenüber der juristischen, politischen und moralischen Auseinandersetzung mit ehemaligen Nationalsozialisten gab.

69Vgl. „Wiesenthal zog Klage bedingungslos zurück. Kreisky: »Erledigt«“, in: Oberösterreichische Nachrichten, 04.12.1975. 70„Kreisky: »Die Juden – ein mieses Volk«“, in: Der Spiegel 47 (1957), S. 22. 71Der Spiegel 47 (1957), S. 22. 72Segev 2010, S. 303.

5.1  Verschiebung: Opferthese und Konsensdemokratie

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Wiesenthal schien nicht zu begreifen, dass Kreisky so großzügig mit der Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten umging nicht obwohl, sondern gerade weil er Jude war. „Wie alle assimilierten Juden stand er unter dem Druck und Trauma, alles besser machen zu müssen, um in der traditionelle antisemitischen österreichischen Umwelt gesellschaftlich Gleichwertigkeit und Anerkennung zu erreichen.“73 So charakterisierte das Nachrichtemagazin „Profil“ Kreiskys Verhältnis zum Judentum in einem Porträt des Kanzlers 1975. Kreisky empfand es als anmaßend, dass sich jüdische Interessensgruppen an ihn als Juden wendeten. „Die Juden nehmen sich so furchtbar viel mir gegenüber heraus, das erlaube ich nicht.“74 Kreiskys außergewöhnliche Situation war diese: Als Vertreter gleich mehrerer Opfergruppen arbeitete er mit ehemaligen Mittätern zusammen an der Zukunft des Staates. Für die Schuld im kollektiven Unbewussten fungierte die Regierung Kreiskys dadurch als eine Art personifizierte Generalamnestie. Wirken konnte sie nur – das ist das spezifisch Österreichische an der historischen Situation – weil diese symbolische Vergebung erfolgte, ohne jemals ausgesprochen zu werden, also ohne die Verschiebung kollektiver Schuld durch die Opferthese offenzulegen. Insofern brauchte, wie auf einem SPÖ-Plakatsujet 1979 postuliert, Österreich Kreisky tatsächlich. Gerade die Auseinandersetzung mit Wiesenthal gab Kreisky Gelegenheit, sich vom Judentum zu distanzieren: „Er selbst fühle sich nicht zu irgendeiner »besonderen Loyalität« gegenüber Israel verpflichtet. Im Übrigen kämen er und Wiesenthal »aus ganz anderen Kulturkreisen«.“75 Er, Kreisky, sei „nicht dazu da, der jüdischen, der israelischen Öffentlichkeit mich wie ein Angeklagter zu verantworten.“76 Dieses antijüdische Ressentiment Kreiskys steht stellvertretend für das des österreichischen kollektiven Unbewussten. Auch die österreichische Gesellschaft wollte sich nicht als Angeklagte verantworten müssen. Das Leid der Juden im Holocaust entlarvte jedoch die österreichische Opferthese als Verschiebung und drohte dadurch, sie unwirksam zu machen. Da die Opferthese das geschichtspolitische Fundament österreichischer Gesellschaft bildete und das Zusammenleben in der Konsensdemokratie ermöglichte, erschien die implizite Relativierung der Opferthese als Angriff auf das kollektive Unbewusste.

73Die

Elixiere des Dr. Kreisky, in: „Profil“, 07.10.1975, S. 17. Spiegel 47 (1957), S. 22. 75Ebd., S. 22. 76Ebd., S. 22. 74Der

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Diese doppelte angenommene Opferrolle der Österreicher – zum einen als Opfer des Nationalsozialismus, zum anderen als zu Unrecht Beschuldigte – zeitigte als kollektives Ressentiment deutliche Auswirkungen für das österreichische Geschichtsverständnis und prägte die Politik des Landes über Jahrzehnte.

5.2 Verdichtung: Geschichte zwischen Schuld und Scham „Das erste, was dem Untersucher bei der Vergleichung von Trauminhalt und Traumgedanken klar wird“ 77, schrieb Freud über die Traumarbeit, „ist, daß hier eine großartige Verdichtungsarbeit geleistet wurde.“ Während die Niederschrift von Traumgedanken sich häufig über viele Seiten erstrecke, könne der manifeste Traum oft in wenigen Worten zusammengefasst werden.78 Der konkrete Inhalt des Traums ist also weniger umfangreich als die Gedanken, die ihm zugrunde liegen. Der Prozess, der dazu führt, basiert aber nicht auf Auslassung, sondern auf Komprimierung. Der verdichtete manifeste Traum steht nicht nur für, sondern enthält alle zugehörigen Traumgedanken. Der manifeste Traum deutscher Identität ist Auschwitz: „Es gibt keine deutsche Identität ohne Auschwitz.“79 Der Satz enthält eine doppelte Verdichtung. Zum einen das Vernichtungslager, das symbolisch für alle Verbrechen des Nationalsozialismus steht, zum anderen die historische Schuld, die zum Kristallisationspunkt gesellschaftlichen Selbstverständnisses wurde. Wie viele Nationen haben im Zentrum ihrer selbst ungeheuer symbolträchtigen Hauptstadt ein Mahnmal errichtet, das an die Verbrechen der eigenen Vorfahren erinnert? Das Mahnmal sollte mit der Walser-Bubis-Kontroverse eine jener öffentlichen Debatten auslösen, in denen die intellektuelle Elite Deutschlands ein ums andere Mal ihre Position zur Schuld und Sühne der Deutschen am und für den Holocaust schärfte. Bei der Dankesrede, die Martin Walser am 11. Oktober 1998 in der Paulskirche anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hielt, nahm der Autor in aller Deutlichkeit gegen den etablierten Umgang mit der Geschichte Stellung: „In der Diskussion um das Holocaustdenkmal in Berlin kann die Nachwelt einmal nachlesen, was Leute anrichten, die sich für das Gewissen von anderen verantwortlich fühlen. Die Betonierung des

77Freud

2013, S. 285. Freud 2013, S. 285. 79Wie Anm. 138. 78Vgl.

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Zentrums der Hauptstadt mit einem fußballfeldgroßen Albtraum. Die Monumentalisierung der Schande.“80 Für Walser gehörte das Mahnmal zur Pathologie einer historisch fundierte Selbstgeißelung und Geringschätzung, die alleine die Deutschen an den Tag legten.81 Völlig zurecht ging Walser davon aus, dass die Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Holocaust gegenwärtigen Zwecken diente (welchen denn sonst, könnte man fragen): „kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien die Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, daß sich etwas in mir gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt. Anstatt dankbar zu sein für die unaufhörliche Präsentation unserer Schande, fange ich an wegzuschauen. Ich möchte verstehen, warum in diesem Jahrzehnt die Vergangenheit präsentiert wird wie noch nie zuvor. Wenn ich merke, daß sich in mir etwas dagegen wehrt, versuche ich, die Vorhaltung unserer Schande auf Motive hin abzuhören, und ich bin fast froh, wenn ich glaube entdecken zu können, daß öfter nicht mehr das Gedenken, das Nichtvergessen das Motiv ist, sondern die Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken.“82 Walser übersah, dass das Gedenken stets gegenwärtigen Zwecken dient. Der wichtigste davon ist die Konstruktion einer historisch fundierten kollektiven Identität, die in Deutschland untrennbar mit dem Symbol Auschwitz verbunden ist. Das Nichtvergessen ist die Manifestation von Schuldgefühl, Ressentiment und Scham durch die Geschichtsarbeit. In der deutschen Nachkriegsgeschichte war und ist dabei bis heute der Prozess der Verdichtung dominant, auch wenn er unterschiedliche Formen annahm. Eines ist klar: Angesichts der jahrzehntelangen intensiven Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit historischer Schuld kann die in den 1960er Jahren prominente These Alexander und Margarete Mitscherlichs, die deutsche Erinnerungskultur wäre in erster Linie durch Verdrängung geprägt83, nicht aufrechterhalten werden. Die große Leistung des Psychoanalytiker-Ehepaares Mitscherlich besteht darin, überhaupt das kollektive historische Unbewusste als prägend für deutsche Gesellschaft und Politik erkannt zu haben.

80Martin Walser, Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Walser-Bubis-Debatte, Frankfurt a. M. 1999 (S. 7–17), S. 13. 81Vgl. Walser 1999, S. 11. 82Walser 1999, S. 12. 83Vgl. Alexander Mitscherlich/Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967.

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Die ­Fehleinschätzung der Mitscherlichs beruhte darauf, dass sie vor allem die politischen Eliten der Adenauer-Ära vor Augen hatten, ohne den Blick auf die sich bereits deutlich abzeichnende und gänzliche andere Perspektive der nachfolgenden Generation zu richten.84 Für das Establishment der 1950er Jahre war kollektive Verdrängung ein pragmatischer Imperativ zur Fortführung der politischen Geschäfte: Man schüttet eben kein dreckiges Wasser weg, wenn man kein reines hat. Für die nachfolgenden Generationen erwies sich das nicht als tragfähige Grundlage der Gesellschaft. Sie suchten aktiv und nachdrücklich die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Die kollektive deutsche Identität ist durch die Verdichtung des Holocaust so tief geprägt, dass weder gegenwärtige Politik noch gesellschaftliche Zukunft ohne den ständigen und unmittelbaren Rückgriff auf die Geschichte denkbar sind. Verdichtung des kollektiven historischen Unbewussten als Fundament manifesten gesellschaftlichen Lebens findet sich vielleicht nirgends so ausgeprägt wie in Deutschland – außer in Israel. Keine andere Gruppe von Tätern und keine andere von Opfern nationalsozialistischer Verbrechen haben ihre Erfahrungen so tief in das historische Unbewusste nachfolgender Generationen eingebrannt wie die (West-)Deutschen und die europäischen Juden. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit war und ist für beide Gesellschaften ebenso schmerzlich wie unvermeidlich. Verdrängung oder Verschiebung standen als Mechanismen zum Umgang mit der kollektiven Erfahrung nicht zur Verfügung. Das Erlebte war zu gewaltig und der politische Druck, jene Verantwortung zu übernehmen, aus der ein beträchtlicher Teil der ehemaligen Angehörigen des NS-Staates – nunmehr Bürger der Republik Österreich und der DDR – sich nach 1945 zunächst hatten stehlen können, zu groß. Folglich bediente sich die Geschichtsarbeit beim Umgang mit dem kollektiven historischen Unbewussten des wohl sonderbarsten seiner Prozesse: der Verdichtung. Wie bei der Traumarbeit werden dabei die Versatzstücke des Unbewussten zu einem erleb- und begreifbaren Inhalt komprimiert, der sich in Geschichtsbildern, in Gedenktagen und Mahnmalen sowie nicht zuletzt der Forderung manifestiert, ihn nicht aus dem kollektiven Gedächtnis verschwinden zu lassen wie einen bösen Traum nach dem Erwachen. Das Erstaunlichste an der Verdichtung ist, dass sie, genau wie die Verschiebung, eine Abwehrfunktion erfüllt. Was, wenn das Unerträgliche unausweichlich ist? Augen zu und durch! Im Fall

84Vgl. Neele Kerkmann, Mehr Verantwortung wagen: Studentenproteste bis RAF, in: Torben Fischer/Matthias N. Lorenz (Hg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“, Bielefeld 2015 (S. 188–197), S. 188.

5.2  Verdichtung: Geschichte zwischen Schuld und Scham

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kollektiver d­eutscher Identität erlaubt die Verdichtung eine Abwehr des über Generationen vermittelten und ins historische Unbewusste aufgenommenen Schuldgefühls. Ganz nach christlicher Tradition hat ein Sünder, Respekt, sogar Liebe und letztlich Vergebung verdient, wenn er nur aufrichtige Reue zeigt. Die deutsche Identität nach dem Holocaust beruht auf der ostentativen Hinwendung zur gesellschaftlichen Schuld, die sich durch etwas ausdrückt, das man einen verantwortungsvollen Umgang mit der Geschichte nennen könnte. Die rituelle Reue des kollektiven mea culpa dient also nicht den Opfern, sondern den Tätern und ihren Nachkommen. Deshalb kann die deutsche Gesellschaft nicht ohne ihre historische Schuld als Identifikationsangebot auskommen ehe der Holocaust-Albtraum nicht zu Ende geträumt ist. „Gegenwärtig vergeht keine Woche“, schrieb Günter Grass zur Jahrtausendwende, „in der nicht vor dem Vergessen gewarnt wird. […] Es ist, als gewönnen die in nur zwölf Jahren begangenen Verbrechen mehr und mehr Gewicht, je größer die zeitliche Distanz zu den pauschal als Schande bezeichneten Untaten wächst. […] Wenn wir die Zukunft planen, hat die Vergangenheit im angeblich jungfräulichen Gelände bereits ihre Duftmarken hinterlassen und Wegweiser gepflockt, die in abgelebte Zeiten zurückführen.“85 In dieselbe Kerbe schlägt auch das Lamento der Neuen Rechten, stellvertretend geäußert von Ulrich Schacht in seinem Beitrag zum 1994 erstmals erschienen essayistischen Sammelband über „Die selbstbewusste Nation“86, der wichtigsten programmatischen Schrift der Neuen Rechten. Als unerträglich empfindet Schacht demnach den „anhaltende(n) Sieg »Hitlers in uns selbst« (Max Picard) – seinen Testamentsvollstreckern, solange wir nichts, aber rein gar nichts anderes gewesen sein wollen oder dürfen als die größten Bösen aller Zeiten: davor und danach und so Gott und der derzeitige Bundestag wollen: für immer!“87 Damit nahm Schacht bewusst auf die berühmte Kollektivscham-Rede des ehemaligen Bundespräsidenten Theodor Heuss Bezug, in der dieser behauptet hatte: „Das schlimmste, was uns Hitler angetan hat – und er hat uns viel angetan – ist doch dies gewesen, daß er uns in die Scham gezwungen hat, mit ihm und seinen Gesellen gemeinsam den Namen Deutsche zu tragen.“

85Günter

Grass, Mein Deutschland, in: Willy-Brandt-Kreis (Hg.), Zur Lage der Nation. Leitgedanken für eine Politik der Berliner Republik, Berlin 2001 (S. 136–160), S. 139. 86Heimo Schwilk/Ulrich Schacht, Die selbstbewusste Nation, Berlin 1994. 87Ulrich Schacht, Stigma und Sorge. Über die deutsche Identität nach Auschwitz, in: Heimo Schwilk/Ulrich Schacht, Die selbstbewusste Nation, Berlin 1994 (S. 57–68), S. 62 (Hervorhebung im Original).

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Die Deutschen würden demnach angesehen, „wie die Nazis es gewohnt waren, die Juden anzusehen.“88 Auch hier also: Die Deutschen als Opfer ungerechter Behandlung durch die Geschichte. Theodor Heuss war konservativ und überzeugter Christ, jedoch ganz sicher kein Antisemit oder Unterstützer der Nationalsozialisten. Seine eleganten Reden gegen die NSDAP im Reichstag gehören zum Scharfzüngigsten, das den Nationalsozialisten in den 1930er Jahren entgegengesetzt wurde. Allerdings wollen auch die Angehörigen der Neuen Rechten nicht als Nationalsozialisten wahrgenommen werden. Heuss, dem es auf den „politischen Stil“89 ankam und der kein Freund der unmittelbaren Volksherrschaft war, würde wohl den Stil der Neuen Rechten – jedenfalls den ihrer radikaleren Elemente – ablehnen, aber inhaltlich manche Übereinstimmung finden. Diese Überschneidungen mit (national-)konservativen Positionen macht sich die Neue Rechte zunutze, um ihre Anliegen als legitime Äußerungen im Rahmen des etablierten diskursiven Raums auszugeben. Im Zusammenhang mit der Geschichtsarbeit ist Ulrich Schachts Bemerkung über die Deutschen als Opfer der Geschichte insofern bemerkenswert, als sie sehr klar die Funktionsweise der Verdichtung bei der Erzeugung von Geschichte verdeutlicht. Das zugrunde liegende Gefühl ist hier die Scham, die allerdings als Zumutung empfunden wird und Ressentiment erzeugt – eigentliche Opfer der Geschichte wären demnach die Deutschen: „Die Anstifter und Täter von Auschwitz sind nicht zu entschulden; aber die Enkel der Täter müssen nicht entschuldet werden. Dazwischen liegt ein Stück verbrecherischer deutscher Nationalgeschichte, aus dem heute ein Teil der Weltgeschichte des politischen Verbrechens geworden ist.“90 Schacht beklagt, dass sich die Wahrnehmung deutscher Geschichte auf die Singularität Auschwitz verdichtet und verdammt die Unlustgefühle, die damit einhergehen. Er erkennt ganz genau, dass es sich bei der Auseinandersetzung mit dem Holocaust um einen Prozess des historischen Unbewussten handelt – das belegt der Verweis auf das Buch des Schweizer Arztes und Philosophen (und entschiedenen Gegners der Psychoanalyse) Max Picard, „Hitler in uns selbst“91. Er erkennt aber ebenso den Wert dieser Verdichtung zur

88Theodor

Heuss, Mut zur Liebe (Rede zur Feierstunde der Gesellschaft für Christlich-jüdische Zusammenarbeit, Wiesbaden 07.12.1949), in: Theodor Heuss, Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden, Tübingen 1984 (S. 381–388), S. 382. 89Vgl. Theodor Heuss, Stilfragen der Demokratie, in: Theodor Heuss, Politiker und Publizist. Aufsätze und Reden, Tübingen 1984 (S. 450–465). 90Schacht 1994, S. 64–65. 91Max Picard, Hitler in uns selbst, Erlenbach/Zürich 1946.

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Stabilisierung deutscher Identität und des darauf beruhenden politischen Systems. Aus Sicht der Neuen Rechten ist es nun folgerichtig, genau diese Funktion der Verdichtung zu bekämpfen, weil sie die damit einhergehende Identität ablehnen. Die Zeit dieser historischen Identität sieht die Neue Rechte als abgelaufen und jene des gegenwärtigen politische Systems mit ihr. „Man kann tun was man will“, schrieb Botho Strauss in einem zentralen Text der Neuen Rechten auf die liberale Demokratie gemünzt, „irgendwann zerbricht jede Form, die Krüge zerbrechen, und die Zeit läuft aus.“92 In der ursprünglich im „Spiegel“ erschienen Version seines Essays „Anschwellender Bocksgesang“ war diese radikale Passage noch nicht enthalten gewesen.93 Sie findet sich erst im Sammelband Heimo Schwilks und Ulrich Schachts. Ein Zeichen für das wachsende Selbstbewusstsein der Neuen Rechten? Der Geschichtsrevisionismus der Neuen Rechten in Deutschland hat, anders als die plumpe Verweigerungshaltung und die verschwörungstheoretisch unterfütterte Leugnung historischer Fakten durch manche Neonazis, erkannt, dass sein lohnendstes Ziel nicht die Vergangenheit selbst ist, sondern mit der Geschichtsarbeit gleichsam deren Produktionsbedingungen. Die deutsche Wiedervereinigung spielt als Narrativ dabei eine zentrale Rolle. Zur Verdichtung des Holocaust in der deutschen Identität gehört auch das oftmals unbewusste Verständnis, die historische Teilung der Nation stelle eine Strafe für das verübte historische Unrecht dar und die Wiedervereinigung folglich eine Art Absolution. Die „Normalität“, worunter die Neue Rechte das Ende der Verdichtungsarbeit, also den oft geforderten Schlussstrich versteht, wäre durch den „Einbruch von 1989 […] Geschichtsgrund geworden“, denn: „Die Aufhebung der deutschen Teilung […] durch den historischen Prozess selber, der immer auch ein geschichtsgerichtliches Revisionsverfahren gegen die Status-quo-Verwalter war, verlangt ihre geistige Anerkennung.“94 Anlässlich des „Sommermärchens“, der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, schien die Versöhnung vieler Deutscher mit ihrer nationalen Identität offenbar zu werden. Das Straßenbild war von den Farben Schwarz-Rot-Gold geprägt –­ deutsche Fahnen zu schwenken war nach der Wiedervereinigung salonfähig

92Botho

Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: Heimo Schwilk/Ulrich Schacht, Die selbstbewusste Nation, Berlin 1994 (S. 19–40), S. 20. 93Botho Strauß, Anschwellender Bocksgesang, in: „Der Spiegel“ 6 (1993), S. 202–207. 94Heimo Schwilk/Ulrich Schacht, Einleitung, in: Heimo Schwilk/Ulrich Schacht (Hg.), Die selbstbewusste Nation, Berlin 1994 (S. 11–17), S. 12.

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geworden, aber das Ausmaß der Begeisterung der Deutschen für Deutschland als weltoffene, friedliche Nation war neu. Die Presse schien sich einig, dass die Weltmeisterschaft eine neue Ära positiven deutschen Selbstbewusstseins eingeläutet hatte.95 So jubelte etwa die FAZ: „Das Sommermärchen Fußball-WM hat das Land der Dichter und Denker grundlegend verändert. Nach den Finalspielen der 18. Weltmeisterschaft steht der triumphale Erfolg der zweiten WM-Endrunde auf deutschem Boden nach 1974 außer Zweifel.“96 Obwohl hier von „grundlegendem Wandel“ die Rede war, wurde sogleich eine Kontinuität zu Deutschland als Kulturnation, als „Land der Dichter und Denker“ hergestellt. An eine historische Schuld der Deutschen mochte in diesem Sommer hingegen niemand denken. Dennoch war sie unausgesprochen stets präsent. Etwa, wenn postuliert wurde, das Ereignis habe gezeigt, „daß auch die Deutschen begeisternd, ausgelassen und vor allem friedlich feiern können.“97, oder wenn sich Franz Beckenbauer in seiner Funktion als Präsident des WM-Organisationskomitees erfreut zeigte, dass bei den Fanfesten „unterschiedliche Rassen und Religionen nebeneinander gestanden“98 hatten. Einen unbeschwerten Sommer lang schien es, als könne die deutsche Öffentlichkeit den Elefanten im Raum ignorieren. Das „Sommermärchen“ war der bisherige Höhepunkt einer Entwicklung, die in der Folge der Wiedervereinigung die Verdichtung als primären Vorgang deutscher Geschichtsarbeit zugunsten der Verdrängung zur Disposition gestellt hatte. Der Ausgang dieser Dynamik ist offen. Bisher scheint jedoch die Verdichtung unvermindert als zentraler Prozess deutscher Geschichtsarbeit zu fungieren – auch und gerade durch die andauernden Debatten, die das Ende einer historischen Identität fordern, die im Holocaust ihren Kristallisationspunkt hat. Mit der Wiedervereinigung habe Deutschland einer verbreiteten Sichtweise zufolge seine Sünden abgebüßt. Doch noch im Jahr 2000 – ein Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung – hielten drei Viertel der Deutschen aller Altersgruppen es

95Vgl. Martin Tschiggerl, Wir und die Anderen. Die Konstruktion nationaler Identität und Alterität in der Sportberichterstattung der drei Nachfolgegesellschaften des NS-Staates (Dissertation Universität Wien 2017), S. 238–248. 96Ein Sommermärchen veränderte Deutschland, in: „FAZ“, 07.07.2006 Online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball-wm-2006/deutschland-und-die-wm/blatterbeste-wm-aller-zeiten-ein-sommermaerchen-veraenderte-deutschland-1359675.html, zuletzt aufgerufen am 11.06.2018. 97Sommermärchen, in: „FAZ“, 07.07.2006. 98Sommermärchen, in: „FAZ“, 07.07.2006.

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für wichtig, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten.99 Die Bedeutung des Holocaust für die kollektive historische Identität der Deutschen mag zwischen der Wiedervereinigung und dem historischen Tabubruch der Beteiligung der Bundeswehr am Kosovokrieg 1998–1999 und dem Afghanistankrieg ab 2001 sogar noch zugenommen haben. In den Jahren um die Wiedervereinigung wurde deutlich, dass der politische und gesellschaftliche Einfluss jener Generation, deren Angehörige zu großen Teilen der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte misstraute, weil die „Unfähigkeit zu trauern“100 ihr die Konfrontation mit dem historischen Unbewussten erschwerte, im Verschwinden begriffen war und keine relevante gesellschaftliche Kraft mehr darstellte.101 Dieser bis dahin persistente Kern jener gesellschaftlichen Gruppen, die der Verdichtung aus verschiedenen Gründen ähnlich wie heutige Neue Rechte einen anderen Mechanismus der Geschichtsarbeit – die Verschiebung – vorgezogen hätte, war im eigentlichen Sinne des Wortes ausgestorben. Die von ihm propagierten Narrative (Wirtschaftswunderland, demokratisches Bollwerk gegen und verwandtschaftlich verbundene Brücke in den totalitär regierten sowjetischen Einflussbereich, Friedensnation, etc.) waren endgültig gegenüber der singulären Bedeutung des Symbols Auschwitz zurückgetreten. Unter dem Eindruck einer robusteren deutschen Außenpolitik, die ausgerechnet von den rot-grünen Regierungen Kanzler Gerhard Schröders und Außenminister Joschka Fischers betrieben wurde, kam es folglich zu einer Verschiebung der historischen Legitimation deutscher Politik. Sie hatte zur Folge, „daß der bis dahin nahezu unangefochtene oberste Lernsatz deutscher Vergangenheitsbewältigung eine Zurückstufung erfuhr: An die Rangstelle von »Nie wieder Krieg« trat »Nie wieder Auschwitz«.“102 Im Rahmen der transitional justice, also aus juristischer Perspektive, war eine kollektive Schuld aller Deutschen zwar gelegentlich erwogen worden, aber im Großen und Ganzen nicht ernsthaft zur Debatte gestanden.103 Der Aufwand, den

99Vgl.

Alphons Silbermann/Manfred Stoffers, Auschwitz. Nie davon gehört?, Berlin 2000, S. 230. 100Mitscherlich 1967. 101Vgl. Ulrich Schneider, Rolle rückwärts – vom politischen Gebrauch der Geschichte, in: Johannes Klotz/Ulrich Schneider (Hg.), Die selbstbewußte Nation und ihr Geschichtsbild. Geschichtslegenden der Neuen Rechten – Faschismus/Holocaust/Wehrmacht, Köln 1997 (S. 8–30), S. 9. 102Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen, München 2009, S. 40. 103Zu den Erwägungen der Alliierten und der abweichenden Situation in der SBZ vgl. die Anmerkungen in Frei 2009, S. 159–160.

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die Westalliierten trieben, um einzelne Täter unter Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu überführen und zu bestrafen, war beträchtlich. Die Tatsache, dass Funktionäre des NS-Regimes von den Alliierten nicht einfach summarisch exekutiert wurden, wie die Nationalsozialisten selbst das mit Vertretern des stalinistischen Sowjetregimes getan hatten, lässt darauf schließen, dass ihnen daran gelegen war, die Schuld nicht nur juristisch, sondern auch moralisch zu begrenzen. Wäre man von einer moralischen Schuld aller Deutschen ausgegangen, so hätte man sich nicht um juristische Treffsicherheit zu bemühen brauchen, da die Bestrafung in diesem Fall keine Unschuldigen hätte treffen können. Dennoch fühlten viele Deutsche sich mit dem Vorwurf einer kollektiven Schuld konfrontiert. „Fast die gesamte Welt erhebt Anklage gegen Deutschland und die Deutschen.“, postulierte Karl Jaspers in einer Vorlesung an der Universität Heidelberg kurz nach Kriegsende. „Unsere Schuld wird erörtert mit Empörung, mit Grauen, mit Haß, mit Verachtung. Nicht nur die Sieger, auch einige unter den deutschen Emigranten, sogar Angehörige neutraler Staaten beteiligen sich daran.“104 Allein, es lassen sich nur sehr wenige solcher Vorwürfe nachweisen. Das publizistische Geraune über die Ungerechtigkeit des Kollektivschuldvorwurfs konnte folglich auch kaum konkrete Beispiele beibringen. Entsprechend bezeichnete Norbert Frei den Vorwurf als kollektive Einbildung, hinter der ein identitätspolitisches Kalkül stecke.105 Obwohl die Alliierten davon ausgingen, dass es nötig sei, die Deutschen mit den Verbrechen des NS-Regimes zu konfrontieren – etwa durch erzwungene KZ-Besuche oder Propaganda wie „Die Todesmühlen“106 – also versuchten, Verdrängung als Mechanismus der Geschichtsarbeit zu verunmöglichen, zogen sie niemals die Deutschen als Kollektiv zur Verantwortung; weder für den Krieg, noch für den Holocaust. Weder hatte die Bundesrepublik Reparationszahlungen zu leisten, noch wurde sie politisch, diplomatisch, militärisch oder wirtschaftliche ausgegrenzt, sondern im Gegenteil noch gefördert. Erst recht konnte von einer umfassenden oder nachdrücklichen juristischen Verfolgung über die Hauptkriegsverbrecherprozesse hinaus nicht die Rede sein.107 Anders als im Fall

104Karl Jaspers, Die Schuldfrage, in: Erneuerung der Universität. Reden und Schriften 2945/46, Heidelberg 1986 (S. 113–213), S. 133. 105Vgl. Frei 2009, S. 168. 106Hanuš Burger, Die Todesmühlen, Deutschland 1945. 107Zur (unvollständigen) juristischen Aufarbeitung des NS-Regimes in der Bundesrepublik wurde viel geschrieben. Einen Überblick über das Thema bietet der erste Teil von Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 1996, S. 25–131.

5.2  Verdichtung: Geschichte zwischen Schuld und Scham

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der ­chilenischen Comisión de Verdad y Reconciliación nacional oder der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission wurden die Mittäter auch nicht moralisch verantwortlich gemacht. Man hinderte die politischen Eliten der Adenauer-Ära nicht einmal daran, Funktionäre und Mitläufer des NS-Regimes in die Regierung und Verwaltung des neuen demokratischen Staates zu integrieren. Die Verdichtung des historischen Unbewussten auf die kollektive Schuld und die Scham für die Verbrechen des Nationalsozialismus wurde den Deutschen nicht von außen aufgezwungen, sondern selbst gewählt. Die Kollektivschuld war Produkt „des schlechten Gewissens“108. Zwar ist es durchaus plausibel vom praktischen Nutzen des Ressentiments, das aus dem, wenngleich eingebildeten, so doch als ungerecht empfundenen Kollektivschuldvorwurfs für die politische Stabilisierung westdeutscher Identität auszugehen; ein anderer Aspekt ist jedoch noch bedeutsamer: In der Externalisierung der empfundenen Scham war bereits die Verdichtung am Werk. Zweifellos gibt es einen Bruch in der Erinnerung, der zwischen jener Generation der Adenauer-Zeit, die Alexander und Margarete Mitscherlich vor Augen gehabt hatten und der Generation, die in den 1960er Jahren jung war, verlief. Die Sichtweise der Älteren war von Ressentiment und Ablehnung geprägt und nicht von dem Bemühen, einen offenen und produktiven Umgang mit der eigenen Geschichte zu finden. Doch gerade in der eingebildeten, beinahe paranoiden Überzeugung, alle Welt hasse die Deutschen wegen ihrer Schuld am Holocaust, bestand die Verdichtungsarbeit der Adenauer-Generation. Sie arbeitete verbissen an einer Schuldumkehr, dabei war niemand in vergleichbarer Weise auf die gesellschaftliche Schuld und das daraus resultierende kollektive Schamgefühl fixiert wie sie selbst (und selbstverständlich die Überlebenden). 2011 gab Günter Grass dem israelischen Historiker und Journalisten Tom Segev ein Interview für die „Haaretz“. Auf die Segevs Frage, warum er seine Zugehörigkeit zur Waffen-SS fast sein gesamtes Erwachsenenleben lang verheimlicht hatte, antwortete Grass: „Weil ich mich geschämt habe. Ich war ein dummer junger Nazi gewesen. Das wurde mir nach dem Krieg klar und ich schämte mich dafür. Ich schäme mich bis heute.“109 Scham ist ein außerordentlich starkes Gefühl (und dem Ekel verwandt). In der Psychoanalyse Freuds spielt sie nur eine untergeordnete Rolle. Intensiv setzte

108Frei

2009, S. 168. Segev, The German Who Needed a Fig Leaf, in: „Haaretz“, 26.08.2011 Online verfügbar unter: https://www.haaretz.com/the-german-who-needed-a-fig-leaf-1.5158486, zuletzt aufgerufen am 11.06.2018. (Übersetzung TW). 109Tom

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5  Die Geschichtsarbeit am Werk

sich hingegen der US-amerikanische Psychologe Léon Wurmser mit der Scham auseinander. Er erfasste den Zusammenhang von Schuld und Scham als zentralen Konflikt „im Leben ganzer Kulturen, Gesellschaften und politischer Kräfte.“110 Wir wissen aus dem täglichen Erleben, wie sehr das Denken des Schamerfüllten sich auf seine Scham verdichtet: Wer sich schämt, will nichts anderes mehr, als nicht angeschaut zu werden, zu verschwinden, im Erdboden zu versinken. Dass dieser Wunsch oft genug ohnmächtig ist, verschlimmert die Sache nur noch, wie Erik H. Erikson feststellte: „Der Schamerfüllte möchte […] am liebsten die Augen aller anderen zerstören. Stattdessen muss er seine eigene Unsichtbarkeit wünschen.“111 Die Scham erhält dadurch eine autoaggressive Qualität. Der Zorn über das Geschehene richtet sich unbewusst auf das Subjekt selbst. Das, was sich in Martin Walser gegen die „Dauerpräsentation unserer Schande wehrt“ ist nichts anderes als der Wunsch, die Scham zu verhüllen, die mit der Schande einhergeht. Was aber, wenn nun Scham das dominierende Identitätsmerkmal einer Gesellschaft ist? Die Frage ist, warum die Deutschen an ihrer Scham festhalten, welche gesellschaftliche Funktion sie erfüllt. Zweifellos hätten die Westdeutschen sich nach 1945 gewünscht, sich den prüfenden Blicken der Weltöffentlichkeit auf ihre Schuld entziehen zu können, so wie es den Ostdeutschen und Österreichern – unter gänzlich unterschiedlichen Vorzeichen und in unterschiedlichem Ausmaß – gelungen war. Das war jedoch unmöglich. Doch weil die Scham so unerträglich war, musste sie kollektiv abgewehrt werden. Die Psychologie der Scham hält für diese Situation eine Reihe von Mechanismen bereit. Einer davon ist die Projektion. Durch sie „werden andere mit Eigenschaften ausgestattet, für die man sich selbst schämt (z. B. Schwäche oder homosexuelle Wünsche), und mit den entsprechenden Ausdrücken beschimpft (»Schwächling«, »schwule Sau«).“112 Projektion war sicher im Spiel, als die Adenauer-Generation die anderen (die Alliierten, die Weltöffentlichkeit, die Geschichte, etc.) zu Tätern erklärte. Zusammen mit dem Gefühl, zu Unrecht verfolgt zu werden, das seinen Ausdruck im Ressentiment fand, erzeugte das Schamgefühl jene eigentümliche kollektive Sicht auf Geschichte, die zwar die eigene Schuld vehement ablehnte, gleichzeitig aber vollkommen auf sie fixiert war. Die Natur der Verdichtung änderte sich, als die folgende Generation ab den 1960er Jahren begann, ihr eigenes Geschichtsbild zu entwerfen. Das Ressentiment

110Léon Wurmser, Die Maske der Scham. Die Psychoanalyse von Schameffekten und Schamkonflikten, Berlin u. a. 1998, S. xxxii. 111Erik H. Erikson, Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1999, S. 243. 112Marks 2007, S. 80.

5.2  Verdichtung: Geschichte zwischen Schuld und Scham

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war nun weniger prägend, denn viele junge Deutsche gingen nicht davon aus, dass ihre Eltern unschuldig waren. Folglich hatten sie auch nicht das Gefühl, die Übernahme historischer Verantwortung sei unzumutbar. Das war nur möglich, weil es sich bei der Schuld der zweiten Generation nicht um die eigene individuelle, sondern die eigene kollektive Schuld handelte. Man schämte sich, jedoch nicht für die eigenen Taten, sondern die der Eltern. Das eröffnete die Möglichkeit, andere Strategien im Umgang mit der Schuld und damit der Schamabwehr zu entwickeln. Ein Eingeständnis der Schuld war der Kriegsgeneration unmöglich gewesen, weshalb sie zur Projektion greifen musste. Die folgende Generation konnte sich jedoch einerseits mit der kollektiven Schuld identifizieren, andererseits aber von jeder persönlichen Schuld distanzieren. Anstelle der Projektion trat der Perfektionismus als Mechanismus der Schamabwehr.113 Dabei versucht der Schamerfüllte, weitere Beschämung zu vermeiden, indem er sich bemüht, jeden möglichen Anlass dazu von vornherein auszuräumen. Die Deutschen taten das, indem sie demonstrativ Verantwortung für die Schuld ihrer Vorfahren übernahmen. Sich der Geschichte zu stellen und dieses Bemühen öffentlich sichtbar zu machen wurde zur staatsbürgerlichen Tugend. Der Umgang mit historischen Gedenkstätten und Mahnmalen ist dafür ein wichtiger Gradmesser.114 Wer heute durch den Säulenwald des Holocaustmahnmals in Berlin geht, kann leicht erkennen, wer unter den Besuchern kein Deutscher ist. Besucher aus dem Ausland betreten (auch jenseits von den im Projekt „Yolocaust“ dokumentierten Geschmacklosigkeiten115) den Ort meist ohne jenen betont feierlichen Ernst und die seit der Kindheit eingeübte und empfundene Betroffenheit, die viele deutsche Besucher an den Tag legen. Das Angebot, das die Neue Rechte auf dem geschichtspolitischen Markt feilbietet, ist einfach: Sie erklärt, dass sie der kollektiven Scham und den damit einhergehenden Unlustgefühlen ein Ende setzen könne, indem sie die Verdichtungsarbeit beendet. Das will sie dadurch erreichen, dass sie die Spielregeln ändert, nach der die Geschichtsarbeit in Deutschland seit Ende des Zweiten Weltkriegs funktioniert. Bisher bestanden Umbrüche im Umgang mit der Scham über die historische Schande; die Neue Rechte erklärt hingegen, dass es keine Schande gäbe und folglich nichts, wofür man sich schämen müsste. Dabei bestreitet sie

113Vgl.

Marks 2007, S. 81. Stefanie Endlich, Orte des Erinnerns – Mahnmale und Gedenkstätten, in: Peter Reichel/Harald Schmid/Peter Steinbach (Hg.), Der Nationalsozialismus – die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009 (S. 350–377). 115https://yolocaust.de/, zuletzt aufgerufen am 16.05.2018. 114Vgl.

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5  Die Geschichtsarbeit am Werk

weder die Faktizität des Holocaust noch die Verantwortung der Täter, ja, sie leugnet eigentlich nicht einmal die historische Verantwortung von deren Nachkommen. Stattdessen appelliert sie an das zentrale Motiv der Revisionisten und Schlussstrichzieher, das in deren Unwillen besteht, das kollektive Schamgefühl zu ertragen. Genau entlang der Leitlinien dieser Strategie bewegte sich der AfD-Fraktionsführer Alexander Gauland, als er den Holocaust als „Vogelschiss“ in der deutschen Geschichte bezeichnete. Dass er kurz darauf beim AfD-Landesparteitag (ausgerechnet!) in Nürnberg mit deutlichem Unterwerfungsgestus weit zurückrudern musste116, spricht für die überragende Bedeutung des Verdichtungsprozesses in der deutschen Tagespolitik. Gaulands Vorgehen war jedoch symptomatisch für die von der politischen Rechten seit den 1990er Jahren verstärkt verfolgte Taktik, den Holocaust zwar nicht zu leugnen, aber als irrelevant zu bezeichnen, um so den Verdichtungsprozess im kollektiven historischen Unbewussten zu brechen. Die Neue Rechte möchte die Blöße der historischen Schuld nicht verdecken, sondern sie vergessen machen, möchte „Des Kaisers neue Kleider“ spielen. Von dieser Strategie fühlen sich gerade eben nicht in erster Linie Neonazis angesprochen, sondern konservative Bürger, die sich nicht länger schämen wollen. Einer von ihnen schrieb Martin Walser einen Dankesbrief, der die Haltung vieler Deutscher auf den Punkt bringt: „Ich habe niemandem in meinem Leben etwas angetan und trotzdem verspüre ich Schuldgefühle. Diese Zwiespältigkeit trage ich nun mein ganzes Leben mit mir herum, und auch wenn ich nicht will, die Medien, die diese Themen oft mit einer Hingabe ausbaden, verbreiten in mir immer wieder diese schrecklichen Schuldgefühle. […] In Ihrer Rede haben Sie dieses Gewissen angesprochen, das mich bisher unbewußt belastet. Ich danke Ihnen dafür, daß Sie das so offen angesprochen haben, und ich bin mir sicher, daß es vielen so geht, vor allem jungen Menschen, die sich unbescholten fühlen.“117 Jener Dieter Müller, der Martin Walser den zuvor zitierten Dankesbrief geschrieben hatte, möchte, ebenso wie Walser selbst und viele andere Deutsche „den öffentlichen Gebrauch von Erinnerung »an die Schande« gestoppt

116Vgl. Paul Kreiner, Alexander Gauland will „Vogelschiss beseitigen“, in: „Stuttgarter Zeitung“, 09.06.2018 Online verfügbar unter: https://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.afdparteitag-in-nuernberg-alexander-gauland-will-vogelschiss-beseitigen.89e67269322f-4073-8907-e161ab0e5800.html, zuletzt aufgerufen am 11.06.2018. 117Dieter Müller, Brief an Martin Walser, in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Walser-­BubisDebatte, Frankfurt a. M. 1999 (S. 41–42), S. 42.

5.2  Verdichtung: Geschichte zwischen Schuld und Scham

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und nur ins Einzelgewissen zurückversetzt sehen.“118 Es ist sicher, dass genau das im Lauf der Generationenfolge früher oder später geschehen wird. Bleibt bloß die Frage, mit welchen Konsequenzen. Die derzeitige kollektive Identität der Deutschen beruht auf der Verdichtung des historischen Unbewussten zum Symbol Auschwitz – dem stärksten Anker nationalen Selbstverständnisses in der ansonsten so „verworrene(n) Identitätsdebatte“119 der deutschen Staaten. Es ist dies jene kollektive Identität, auf der das liberaldemokratische System des wiedervereinten Deutschlands beruht. Man kann nicht einfach Eines ohne das Andere verändern. Keineswegs soll damit gesagt sein, dass eine Abkehr von der Verdichtungsarbeit zwangsläufig auch eine Abwendung von der Demokratie bedeuten muss. Es wäre aber naiv anzunehmen, dass ein Herrschaftssystem einen tief greifenden Wandel seiner identitätspolitischen Voraussetzungen selbstverständlich überdauert. Jenen Akteuren der Neuen Rechten, die einen politischen Systemwandel anstreben und gerade deshalb das historische Unbewusste gezielt ansprechen, ist dieser Zusammenhang offenbar weit stärker bewusst, als den Freunden der liberalen Demokratie – allen voran der Geschichtswissenschaft.

118Wolfram Schütter, Wunden („Frankfurter Rundschau“, 14.10.1998), in: Frank Schirrmacher (Hg.), Die Walser-Bubis-Debatte, Frankfurt a. M. 1999 (S. 44–45), S. 45. 119Konrad H. Jarausch, Normalisierung oder Re-Nationalisierung? Zur Umdeutung der deutschen Vergangenheit, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995) (571–584), S. 576.

6

Gesellschaft ohne Geschichte

Am 17. Juli 2003 – das Vereinigte Königreich war als wichtigster Verbündeter der USA gerade Besatzungsmacht im Irak – hielt Tony Blair eine Rede vor dem US-Kongress, der ihm gerade einen hohen Orden verliehen hatte. Ein bemerkenswerter Satz, den der britische Premierminister dabei äußerte, blieb weitgehend unwidersprochen: „There never has been a time [when] a study of history provides so little instruction for our present day.“1 Das ist insofern erstaunlich, als sich die propagandistischen Bemühungen der Anführer der sogenannten „Koalition der Willigen“ fleißig historischer Metaphern bedient hatten, die offensichtlich dazu dienten, das kollektive historische Unbewusste ihrer Bürger anzusprechen – die Rede vom „Kreuzzug“ des Westens und der „Achse des Bösen“ sind die bekanntesten. Für die eigene geschichtspolitische Inanspruchnahme war die Geschichte also gut genug gewesen. Ein Verweis auf die komplizierte Verhältnis des Vereinigten Königreichs als ehemaliger Kolonialmacht zum Irak oder andere geschichtswissenschaftlich begründete Einschätzungen zum Vorgehen der Besatzungsmacht schienen hingegen unerwünscht. Das ist, folgt man dem britischen Geschichtstheoretiker John Tosh, typisch für den Umgang politischer Eliten (und der mit ihnen verbündeten Massenmedien) mit Geschichte und der Sensibilität der Bürgerinnen und Bürger für geschichtswissenschaftlich fundierte Sichtweisen: „The news media draw on historical material only fitfully, and on many key topics not at all. For the most part the electorate is not in a position to apply historical perspective to the evaluation of current policies and attitudes.“2

1Tony

Blair, Rede vor dem US-Kongress, 17.07.2003, Online verfügbar unter: http://www. cnn.com/2003/US/07/17/blair.transcript/, zuletzt aufgerufen am 09.05.2018. 2Tosh 2008, S. 5. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_6

117

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6  Gesellschaft ohne Geschichte

Den scheinbaren Widerspruch, der darin besteht, dass einerseits Geschichte als Unterhaltungsformat in der Medienlandschaft der Gegenwart so präsent ist und politische Eliten sich geschichtspolitisch fundierter Propaganda so erfolgreich bedienen, andererseits aber die Geschichtswissenschaft ihre gesellschaftliche Bedeutung größtenteils eingebüßt hat, kommentierte Tosh so treffend, dass ich eine längere Passage im Wortlaut widergebe: „It may seem perverse to begin a book about the public role of history with a lament for its marginal status in Britain today. For has not history become a staple of TV channels, and is not an increasing proportion of people’s leisure time taken up by family history, visits to historic sites, and more variants of collecting than have yet been documented? Should not historians be grateful that their subject has become ‚the new gardening‘? The problem is that – with the exception of a few TV programmes – none of these activities bring historical perspective to bear in issues of topical importance. Indeed, their very popularity diminishes the public space that is available for that kind of analysis. We are confronted with the paradox of a society which is immersed in the past yet detached from its history.“3 Wie kann es sein, dass eine Gesellschaft vergangenheitsversessen und gleichzeitig ohne Geschichte ist? Die Lösung dieser Frage liegt in der eingenommenen Perspektive: Für Tosh sind Vergangenheit und Geschichte nicht dasselbe. Für die Öffentlichkeit sind diese Begriffe jedoch deckungsgleich, denn das außerwissenschaftliche Geschichtsverständnis ist zutiefst historistisch geblieben. Tosh betrachtet, stellvertretend für den Mainstream gegenwärtiger Geschichtswissenschaft, Geschichte als narrative Konstruktion von Vergangenheit mit dem Ziel, die Gegenwart verständlich zu machen. Diese Position ist einer Öffentlichkeit, die unter Geschichte die Summe des vergangenen Geschehens versteht, nicht zu vermitteln. Wer aber die Geschichte als objektiv gegeben betrachtet, ist anfällig für geschichtspolitische Instrumentalisierung, denn über Geschichte zu sprechen heißt aus dieser Perspektive schlicht, auf historische Tatsachen zu verweisen. So verstanden ist Geschichte nicht etwas, das hinterfragt werden soll oder kann (außer es handelt sich um „Geschichtsfälschung“). Geschichte wird folglich auch nicht als jenes Tor zum kollektiven Unbewussten, als Katalysator für Ressentiments, Begeisterung oder Identität reflektiert, als der sie durch politische Propaganda benutzt wird. Die Gesellschaft ohne Geschichte ist eine ohne Geschichtsbewusstsein, eine in der das historische Unbewusste regiert, ohne jemals ans Licht zu kommen. Die Geschichtsarbeit

3Tosh

2008, S. 5–6.

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kann hier ihr Werk ganz ohne Störung durch reflexive Erfassung und Analyse verrichten. Ich möchte im Folgenden das besondere Verhältnis skizzieren, das dem historischen Unbewussten und der Geschichtsarbeit in den liberalen Demokratien des sogenannten Westens, genauer: der Bundesrepublik und Österreichs zukommt. Dabei soll verdeutlicht werden, dass sowohl die politischen Systeme beider Gesellschaften als auch große Teile des jeweiligen kollektiven historischen Unbewussten im Umbruch sind. Der Geschichtswissenschaft bietet sich damit die Gelegenheit, oder vielmehr die Notwendigkeit, ihre Stimme im historisch fundierten gesellschaftlichen Diskurs wiederzufinden. Das Geschichtsverständnis der westlichen Moderne ist, anders als das des Historischen Materialismus, nicht teleologisch. Dem Fortschritt (der Zivilisation, der technischen Entwicklung, des Wirtschaftswachstums, der Ausbreitung der menschlichen Spezies und ihres Lebensraums) sind keine Grenzen gesetzt. Es ist insofern paradox, dass ausgerechnet der Triumph des Kapitalismus und damit jener wirtschaftspolitischen Ideologie, deren Fundament das neuzeitliche Fortschrittsdenken bildet, das hervorbrachte, was von manchen für das „Ende der Geschichte“4 gehalten wurde. Mit der liberalen Demokratie westlicher Prägung, also der repräsentativen Demokratie, habe die Menschheit demnach zur historisch letzten Herrschaftsform gefunden.5 Lang lebe die bessere Weltordnung, die repräsentative Demokratie als der historische Nullpunkt der Posthistoire! Ist die repräsentative Demokratie also eine Gesellschaft ohne Geschichte im doppelten Sinne, eine, die weder auf eine kollektive historische Identität ihrer Mitglieder angewiesen ist, noch selbst jemals Geschichte haben wird, weil sie als unveränderliche Gegebenheit im eigentlichen Sinne des Wortes keine Zukunft hat, die von der Gegenwart deutlich unterscheidbar wäre? Die vermeintliche Unverrückbarkeit des demokratischen Systems ist ein Problem, wie manche Theoretiker meinen: Menschen, die das Glück haben, in einer stabilen Demokratie zu leben, neigen dazu, dieses politische System für so unwandelbar zu halten wie den Nordstern. Stimmen werden abgegeben und gezählt, Politiker kommen und gehen, politische Strategien haben Erfolg oder scheitern, doch das System bleibt. Es ist also nur zu verständlich, wenn sich eine gewisse saturierte Bequemlichkeit einstellt, der Grad der Partizipation abnimmt und die Demokratie als solche für ­selbstverständlich

4Francis

Fukuyama, The End of History and the Last Man, New York 1992. 1992, S. xi.

5Fukuyama

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gehalten wird.6 Den schönen Vergleich mit dem Nordstern verdanken wir Roland Rich, einem australischen Diplomaten, der als Leiter des UN Democratic Fund vor allem mit sozialen Gruppen zu tun hatte, die unter einem Mangel an Demokratie litten und mithilfe der UNO für mehr politische Partizipation kämpften. Aus dieser Perspektive muss der demokratische Eifer des durchschnittlichen Deutschen oder Österreichers bestenfalls lau wirken. Das Lamento von den Bürgern, die ihre Demokratie für selbstverständlich hielten und deshalb zu wenig hegten, ist weit verbreitet. Es beruht, wie Colin Crouch feststellte, auf einer ziemlich elitären Sicht auf Demokratie.7 Diese Sichtweise hält das öffentliche Desinteresse an politischer Partizipation und Demokratie im Allgemeinen für die Ursache der Legitimationskrise, in der die repräsentativen Demokratien des Westens zu stecken scheinen. Dabei wird gerne übersehen, dass sich die Bürger dieser Staaten – nicht weniger als der Volkssouverän also – keineswegs als Totengräber der Demokratie betrachten, sondern als von ihr Betrogene. Aus dieser Sicht wird aus der Ursache das Symptom. Der Schwarze Peter befindet sich auf einmal in Händen der politischen Elite. Der Begriff „liberale Demokratie“, mit dem die westlichen Demokratien der Gegenwart theoretisch gefasst werden, impliziert bereits eine Spannung zwischen zwei einander abstoßenden Polen: Einerseits der Volkswille als Mehrheitswille – das ist das demokratische Element; andererseits die Rechte des Individuums, die dessen Freiheit vom Kollektiv garantieren sollen – das ist das liberale Element. Wie diese gegensätzlichen Kräfte in Übereinstimmung zu bringen sind, welchem wie viel Einfluss über die Gesellschaft eingeräumt wird, ist ständiger Gegenstand von Entwicklungen demokratischer Systeme.8 Richard Rorty sah – ohne deswegen gleich das Ende der Geschichte auszurufen – in dieser Frage die letzte, weil einzig entscheidende, die eine Theorie des Staates ebenso wie die Praxis des Regierens zu behandeln habe: „John Stuart Mill’s suggestion that governments devote themselves to optimizing the balance between leaving people’s private lives alone and preventing suffering seems to me pretty much the last word.“9 Die demokratischen Systeme der deutschen Bundesrepublik und Österreichs zeichneten sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg durch ein hohes

6Vgl.

Roland Rich, Democracy in Crisis. Why, Where, How to Respond, Boulder 2017, S. 2. 7Vgl. Crouch 2004, S. 2. 8Vgl. Frank Cunningham, Theories of Democracy. A Critical Introduction, New York 2002, S. 30. 9Richard Rorty, Contingency, Irony, Solidarity, Cambridge 1989, S. 63.

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Maß an Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit aus. Das liberale Moment dominierte, demokratische Elemente im engeren Sinn waren hingegen eher wenig ausgeprägt. Die Ursache für diese Entwicklung ist in der faschistischen Geschichte beider Gesellschaften zu finden. Mit der Weimarer bzw. der Ersten Österreichischen Republik hatten beide Gesellschaften eine kurze Phase liberaldemokratischer Systeme erlebt, die jedoch nur von November 1918 bis Januar bzw. März 1933, also nicht einmal fünfzehn Jahre lang Bestand gehabt hatten. Die darauf folgenden faschistischen Regime waren wohl insofern demokratisch, als ihre Vertreter – solange noch freie Wahlen abgehalten worden waren – die Mehrheit der Wahlberechtigten hinter sich gewusst hatten. Auch als sie auf Wahlen keine Rücksicht mehr zu nehmen brauchten, inszenierten sie ihre Herrschaft als Massenbewegungen in denen der Volkswille unmittelbar zum Ausdruck kam. Es lag nahe, nach dem Sturz des NS-Staats nicht erneut dem demokratischen Element bei der Organisation seiner liberaldemokratischen Nachfolgestaaten, der Bundesrepublik und Österreichs (die DDR war ihrem propagandistischen Namen zum Trotz kaum eine Demokratie und ganz sicher nicht liberal), den Vorzug zu geben. Immerhin war davon auszugehen, dass sich die nationalsozialistische Politik breiten Rückhalts in der Bevölkerung erfreut hatte. Stattdessen etablierten sich Systeme, die allgemein Rechts- und Verfassungsstaatlichkeit und besonders die liberalen Freiheitsrechte des Einzelnen betonten. Direktdemokratische Partizipationsmöglichkeiten blieben jedoch jahrzehntelang unterentwickelt. Das bezieht sich nicht nur auf das weitgehende Fehlen direktdemokratischer Instrumente in Verfassung und politischem Alltagsgeschäft, sondern auch auf die Auswirkungen typischer Partizipationsformen repräsentativer Demokratien wie Wahlen, Demonstrationen, Streiks und öffentliche Debatten. Die viel gelobte Stabilität der repräsentativen Demokratien der Bundesrepublik und Österreichs bedeutete ja nichts anderes, als dass Eingriffe des Volkssouveräns in das Handeln der politischen Eliten entweder wirkungslos waren oder von vornherein unterblieben. In diesem Zusammenhang lässt sich sehr wohl argumentieren, dass wir im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts im sogenannten Westen demokratischere Zustände erleben, als sie ein halbes Jahrhundert zuvor geherrscht hatten.10 Die politischen Eliten erfahren deutlich weniger unkritischen Respekt der Öffentlichkeit – insbesondere auch der veröffentlichten Meinung, denn die Neigung zur Hofberichterstattung, wie sie etwa unter der Kanzlerschaft Bruno Kreiskys zu

10Vgl.

Crouch 2004, S. 12.

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beobachten war, hat deutlich abgenommen. Abmachungen hinter verschlossenen Türen werden nicht länger vertrauensvoll hingenommen – man denke bloß an den heftigen Widerstand, der den europäischen Regierungen insbesondere in Deutschland und Österreich entgegenschlug11, als sie ab 2013 weitreichende Handelsabkommen mit den USA und Kanada unter Ausschluss der Öffentlichkeit abzuschließen versuchten. Die Tatsache, dass Politiker aller Lager von ihren populistischen Kollegen gelernt haben, der öffentlichen Meinung einen bedeutenden Teil ihres politischen Denkens zu widmen, kann also auch positiv verstanden werden. Claus Leggewie verwies jedoch zurecht darauf, dass politisches Handeln, das primär auf kurzfristige Popularität gerichtet ist, Schwierigkeiten hat, wesentliche Zukunftsfragen – etwa in der Umweltpolitik – adäquat zu behandeln.12 Ähnliches gilt auch für die ausstehenden Reformen der Sozialsysteme (Pensionen, Grundeinkommen, etc.), Austeritäts- und Kreditpolitik sowie Entwicklungshilfe. Die fehlende Planbarkeit zukünftiger gesellschaftlicher Entwicklungen als Epochensignatur der Moderne erweist sich auch als konstitutives Merkmal einer repräsentativen Demokratie, die mit Blick auf die öffentliche Meinung in kurzen Zeiträumen inszeniert wird. Claus Leggewie dazu: „Die irritierende Figur der Endlichkeit (des wirtschaftlichen Wachstums, der natürlichen Ressourcen und der verfügbaren Zeit) drängt das in der Neuzeit auf »Un-Endlichkeit« programmierte Selbstbewusstsein ebenso in die Enge wie die im Zyklus von Wahlen verhafteten Politiker. Deren Zeitrhythmus ist – und zwar in paradoxer Folge des imaginierten Möglichkeitsraums – kurzfristig, oft auch kurzatmig auf die jeweilige Legislaturperiode ausgerichtet, und durch permanente Wahlkämpfe und langwierige Inauguralphasen neuer Regierungen weiter verkürzt. Wo sich politische Instanzen den Unternehmensrhythmen anpassen, gerät Politik zusätzlich in den

11Mit

jeweils 39 % Zustimmung zu TTIP erreichten laut einer Studie des Pew Research Center die Pläne für ein transatlantisches Handelsabkommen in Deutschland und Österreich europaweit mit Abstand den geringsten Rückhalt in der Bevölkerung. Vgl. Bruce Stokes, Is Europe on board for a new trade deal with the U. S.?, 2015. Online verfügbar unter: http://www.pewresearch.org/fact-tank/2015/01/29/is-europe-on-board-for-a-new-trade-deal-with-the-u-s/, zuletzt aufgerufen am 06.05.2018. 12Vgl. Claus Leggewie, Die demokratische Frage heute, in, Andreas Langenohl/Jürgen Schraten (Hg.), (Un)Gleichzeitigkeiten – Die demokratische Frage im 21. Jahrhundert, Marburg 2011 (S. 57–91), S. 58.

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Sog volatiler Quartalsbilanzen und Börsenbarometer; kongenial unterwirft sich der politische Betrieb dem Diktat monatlicher Meinungsumfragen.“13 Dass die öffentliche Meinung zum Götzen gegenwärtiger Politik avancierte, und – was von vielen Wählern kritisch betrachtet wird14 – politische Akteure ihr Handeln ganz danach ausrichten, also ihr Mäntelchen nach dem Wind hängen, ist mit Blick auf die jüngere Geschichte keineswegs selbstverständlich. Die österreichische Demokratie ist als Fallbeispiel besonders deutlich: In Österreich stellte wie zuvor bereits beschrieben der aufwendig aufrechterhaltene Konsens zwischen Sozialdemokraten und Konservativen zwischen 1947 und 2000 die Standardsituation politischer Machtausübung dar. Ob SPÖ oder ÖVP dabei den nicht mit Richtlinienkompetenz ausgestatteten Kanzler stellten, machte für die wesentlichen politischen Richtungsentscheidungen keinen großen Unterschied. Über die als „Schattenregierung“ bezeichnete Sozialpartnerschaft und die politischen Kräfte in Bundesländern und Gemeinden setzte sich die de facto-Herrschaft der Großen Koalition selbst unter den Alleinregierungen der ÖVP (1966–1970) bzw. der SPÖ (1970–1983) und der Koalition zwischen SPÖ und FPÖ (1983–1986) fort. Sieg oder Niederlage bei Wahlen hatten auf die paritätische Aufteilung gesellschaftlicher und politischer Macht im Staat zwischen SPÖ und ÖVP kaum erkennbaren Einfluss. Für die Bundesrepublik gilt das skizzierte Bild nur mit starken Einschränkungen. Doch auch hier strebte seit der Staatsgründung 1949 keine nennenswerte politische Partei einen Regime- oder deutlichen Politikwechsel an. Die Grundsätze bundesdeutscher Politik waren unter allen Regierungen die gleichen: Die Bundesrepublik war und blieb ein prowestlicher, marktwirtschaftlich und auf Wirtschaftswachstum ausgerichteter, antikommunistischer und – aus historischen Gründen – antinationalistischer Sozialstaat. Ihr politisches System ist bis heute betont repräsentativ und verfassungsstaatlich. Der Eindruck, der unter diesen äußerst stabilen Bedingungen bei den Bürgern der Bundesrepublik und vergleichbarer Staaten entstand, war weniger der, dass Demokratie eine Selbstverständlichkeit sei, sondern, dass keine Demokratie im engeren Sinn vorhanden wäre. Die Bedingungen politischer Partizipation waren dergestalt, dass die Staatsbürger keinen wahrnehmbaren Einfluss auf die Politik „ihres“ Staates nehmen konnten. Zwar konnten tatsächlich Machthaber unblutig

13Leggewie

2011, S. 58. Manfred Güllner, Nichtwähler in Deutschland (Studie im Auftrag der FriedrichEbert-Stiftung), 2013, S. 81. Online verfügbar unter: http://library.fes.de/pdf-files/dialog/10076.pdf, zuletzt aufgerufen am 04.05.2018.

14Vgl.

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abgewählt werden oder mussten zumindest gelegentlich für Korruption, Misswirtschaft oder politische Fehler persönlich Verantwortung übernehmen – am politischen System als solchem änderte das nichts. Als Folge lehnt heute die Mehrheit der jungen Menschen in Deutschland zwar parteienstaatliche Institutionen, durch die sie sich nicht vertreten fühlen, nicht aber die Idee der Demokratie per se ab.15 Seit 1983, als sich nur 11,7 % der Wahlberechtigten nicht an der deutschen Bundestagswahl beteiligten oder eine ungültige Stimme abgaben, stieg der Anteil der Nichtwähler kontinuierlich und erreichte bei der Bundestagswahl 2009 mit 28,7 % seinen historischen Höchststand. Auf Landesebene gaben sogar 43,3 % keine (gültige) Stimme ab. Im selben Zeitraum verloren CDU/CSU und SPD große Teile ihrer Wählerschaft. Gemeinsam hatten Schwarz und Rot 1983 noch 76,7 % der Wählerstimmen erreicht. 2009 gelang es nicht mehr, überhaupt eine Stimmenmehrheit für die Große Koalition zu erzielen. Auf regionaler und kommunaler Ebene sind der Vertrauensverlust der ehemaligen Großparteien und der Anstieg an Nichtwählern noch gravierender: Bei der hessischen Kommunalwahl 2011 vereinigten Schwarz und Rot zusammen nur noch 29,4 % der Stimmen auf sich, die Nichtwähler erreichten dafür mit 54,9 % die absolute Mehrheit. In Frankfurt am Main stimmte im selben Jahr nur noch ein Fünftel der Wahlberechtigten für eine der alten Volksparteien, knappe zwei Drittel enthielten sich der Stimme.16 Jene, die mit dem herrschenden politischen System so unzufrieden sind, dass sie sich nicht an ihm beteiligen möchten, sind mittlerweile in der ­Mehrheit. Ist das nun ein Beweis für die von Roland Rich konstatierte Lieblosigkeit der Deutschen im Umgang mit ihrer Demokratie? Im Gegenteil: Das Desinteresse eines Großteils der Wahlberechtigten an der Ausübung ihres Rechts ist in der Einschätzung begründet, dass sie durch die Teilnahme an Wahlen nicht in der Lage sind, Politik im Sinne ihrer Interessen als Bürgerinnen und Bürger zu beeinflussen. Einschlägige empirische Studien widerlegen die Ansicht, dass Menschen sich der Wahl enthalten, weil sie kein Interesse an Politik haben, oder gar mit den politischen und gesellschaftlichen Zuständen so zufrieden sind, dass sie keinen Grund für ein korrigierendes Eingreifen sehen. Die Gründe für Wahlenthaltung liegen mehrheitlich in der Einschätzung, von den zur Wahl stehenden Kräften

15Vgl.

Wolfgang Gaiser/Martina Gille/Johann de Rijke, Einstellungen junger Menschen zur Demokratie. Politikverdrossenheit oder politische Kritik? Online verfügbar unter: http:// www.bpb.de/apuz/234705/einstellungen-junger-menschen-zur-demokratie?p=all, zuletzt aufgerufen am 24.06.2018. 16Vgl. Güllner 2013, S. 9–10.

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nicht repräsentiert zu werden und der Wahrnehmung, dass Parteien keine Überzeugungen vertreten, an denen man sie messen könne.17 Die Bürgerinnen und Bürger halten den repräsentativ-demokratischen Verfassungsstaat für ein undemokratisches System – womit sie durchaus recht haben, wenn man Demokratie im engeren Sinne als politisches System versteht, das durch Entscheidungen seiner Bürger gelenkt wird. Um ein solches handelt es sich bei den repräsentativen Demokratien des Westens erfahrungsgemäß eher nicht. Dieser Umstand war der Preis der jahrzehntelangen Stabilität dieser Systeme. Dass Menschen die Teilnahme an Wahlen, die sie als Formalakte ohne konkrete politische Auswirkungen betrachten, nicht als notwendig oder wünschenswert wahrnehmen, ist nur folgerichtig. Ich halte es für erhellend, an dieser Stelle einen erstmals 1990 erschienen Essay des US-amerikanischen Politiktheoretikers Sheldon S. Wolin zu diskutieren. Wolin charakterisierte die liberale Demokratie als Demokratie ohne Demos: „No one with a passing familiarity with the politics of the richest democracy doubts that it is a highly managed democracy with only rhetorical gestures toward egalitarianism, widespread participation in power, or respect for the sensibilities of ordinary people.“18 Zwei Aspekte des Begriffs managed democracy erscheinen mir bemerkenswert. Erstens ließe er sich leicht als „gelenkte Demokratie“ übersetzen, also mit einem Begriff mit dem wir nicht etwa liberale, sondern ausgeprägt populistische und illiberale Systeme charakterisieren. Verweist diese semantische Übereinstimmung auf ein einendes Element beider Formen von Demokratie? (Nehmen wir einen Augenblick an, es wäre so: Dann läge der Schluss nicht fern, dass der Demos weder in liberalen, noch in illiberalen Demokratien nicht viel zu sagen hätte – eine verstörende Hypothese.) Zweitens beschreibt managed democracy, obwohl auf die USA gemünzt, nicht bloß den Zustand sondern vor allem die Intention der demokratischen Systeme der Bundesrepublik und Österreichs nach dem Zweiten Weltkrieg äußerst treffend. Kennzeichen der managed democracy ist für Wolin die weitgehende Immunität des politischen Systems gegen den Zugriff seiner Bürger, ein Merkmal, das für die bundesdeutsche und insbesondere die österreichische Demokratie in den Jahrzehnten nach 1945 charakteristisch ist. Auch Wolin führt das Desinteresse der Bürger an politischen Vorgängen auf diese Trennung zurück. Der Indikator, den er ausmacht, sind jedoch nicht

17Vgl.

Güllner 2013, S. 80–85. 2016, S. 313.

18Wolin

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­ ahlenthaltungen, sondern die achselzuckende Akzeptanz, mit der die Bürger W Skandale wie Korruption, Wahlbetrug und Misswirtschaft als Teil des politischen Alltags ertragen: „This is why, for example, the media expresses astonishment when they learn that the »stories« on which they have lavished such energy, ingenuity, and resources are mostly ignored by the citicenry. The latter don’t much care about [them] for they know that those revelations are meant to show the »system works« and they understand very well that it doesn’t work for them.“19 Jedoch waren die Bürger der managed democracies lange Zeit mit der politischen Lage zufrieden, was sich unter anderem in der breiten Zustimmung zu den Vertretern des herrschenden Systems bei Wahlen ausdrückte. Das war jedoch kein genuines Verdienst des Systems selbst, sondern günstigen Begleitumständen zu verdanken. Wenn Vertreter der politischen Eliten repräsentativer Demokratien dieses System als das beste aller Zeiten lobten, schmückten sie sich, wie es der Heidelberger Politologe Manfred Schmidt ausdrückte, „mit fremden Federn“20. Vieles was wir Bürgerinnen und Bürger repräsentativer Demokratien an unseren politischen Systemen schätzen, ist nicht ursächlich mit ihrer demokratischen Verfasstheit verbunden. Wer würde schon auf Wohlstand, Liberalität und Rechtsstaatlichkeit verzichten wollen? Auf seine demokratischen Rechte verzichtet hingegen ein Großteil der Bürger und zwar wie gezeigt nicht etwa, weil sie daran nicht interessiert sind, sondern weil diese Rechte ihrer Wahrnehmung nach de facto nicht existieren. In aller Regel findet ja politische Willensbildung in repräsentativen Demokratien ohne Beteiligung oder sogar unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Lobbying und politische Einflussnahme unterschiedlicher Interessenvertretungen, die das Wohlergehen der von ihnen vertretenen Personen im Sinn haben, stellen den Normalfall politischer, insbesondere legistischer Initiativen dar. Mit dem Ideal der Volksherrschaft hat das wenig zu tun.21 Dass in der Betrachtung jener repräsentativ-demokratischen Systeme, die in Westeuropa seit Ende des Zweiten Weltkriegs die Norm staatlicher Herrschaftsausübung darstellen, dem demokratischen Element überproportional viel Aufmerksamkeit geschenkt wird, führt zu einer verzerrten Wahrnehmung der Leistungsfähigkeit von Demokratie als Herrschaftssystem. Vieles, das an der

19Wolin

2016, S. 313–314. G. Schmidt, Zur Leistungsfähigkeit von Demokratien – Befunde neuerer vergleichender Analysen, in: André Brodocz/Marcus Llanque/Gary S. Schaal (Hg.), Bedrohungen der Demokratie, Wiesbaden 2008, (S. 29–41), S. 32. 21Vgl. Carolyn M. Hendriks, The Politics of Public Deliberation. Citizen Engagement and Interest Advocacy, New York 2011, S. 4. 20Manfred

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Demokratie gelobt wird, ist eher Produkt anderer Regimemerkmale, etwa des ökonomischen Wohlstands dieser Staaten, ihrer säkularen politischen Kultur und der tief verwurzelten Rechtsstaatlichkeit. Keines dieser Merkmale ist exklusives Kennzeichen oder gar Produkt demokratischer Herrschaftsformen.22 Was hat sich geändert? Warum sind die Bürger der Bundesrepublik und Österreichs mit der liberalen Ausrichtung ihrer Staaten nicht mehr zufrieden? Die Gründe für die Ablehnung des Systems sind, ebenso wie jener für die Zustimmung zu ihm, nicht systemimmanent, sondern in den Begleitumständen zu suchen. Einer dieser Begleitumstände ist die wirtschaftliche Lage. Es wäre voreilig anzunehmen, dass sich die ökonomische Situation der von Lohnarbeit Abhängigen in den vergangenen Jahrzehnten verschlechtert hätte. Pauschal trifft das nämlich nicht zu. Zwar wurden breite Teile der Bevölkerung in prekäre Arbeitsverhältnisse gedrängt und stiegen die Preise für unverzichtbare Güter des täglichen Lebens, insbesondere für Wohnen, überproportional stark an, doch insgesamt verfügen Lohnabhängige in Österreich heute über knapp zehn Prozent mehr inflationsbereinigtes Einkommen als noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts.23 Tatsache ist aber auch, dass im selben Zeitraum die Vermögen um knapp 150 % anstiegen.24 Weil in Österreich die Vermögen sehr ungleich verteilt sind25 und im internationalen Vergleich kaum besteuert werden26, ergibt sich eine wachsende relative Ungleichheit zwischen vielen Lohnabhängigen, die in den vergangenen Jahrzehnten nur moderat am steigenden gesellschaftlichen Wohlstand partizipierten und wenigen Vermögenden, die ihren Reichtum in weit höherem Maße stei-

22Vgl.

Schmidt 2008, S. 32–33. die Zahlen der Statistik Austria zum Arbeitnehmerentgelt. Online verfügbar unter: https://www.statistik.at/web_de/services/stat_uebersichten/einkommen_loehne/index.html, zuletzt aufgerufen am 06.05.2018. 24Vgl. Credit Suisse Global Wealth Databook 2017, S. 21. Online verfügbar unter: http:// publications.credit-suisse.com/tasks/render/file/index.cfm?fileid=FB790DB0-C175-0E07787A2B8639253D5A, zuletzt aufgerufen am 06.05.2018. 25Vgl. „Die Verteilung von Vermögen in Österreich“ (Studie der Arbeiterkammer) 2013. Online verfügbar unter: https://media.arbeiterkammer.at/wien/PDF/Publikationen/Vermoegensverteilung_2013.pdf, zuletzt aufgerufen am 06.05.2018. 26Vgl. Zur Besteuerung der Vermögen in Österreich. Übersicht, ökonomische Analyse und neue Wege“ (Institut für Höhere Studien) 2009, S. 7. Online verfügbar unter: https:// www.ihs.ac.at/publications/lib/besteuerung_vermoegen260809.pdf, zuletzt aufgerufen am 06.05.2018. 23Vgl.

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gern konnten. In etwas abgeschwächter Form gilt das auch für Deutschland, das eine vergleichbare Entwicklung zeigt. Wenn wir uns daran erinnern, dass die Faschismus-Disposition des Mittelstands in den 1930er Jahren nicht aus seiner ökonomischen Deprivation herrührte, sondern aus der frustrierten sozialen Aufwärtsmobilität seiner Angehörigen, kann diese Entwicklung als Faktor für den gegenwärtigen unausgesprochenen Wunsch nach einem Regime- oder wenigstens Politikwechsel nicht außer Acht gelassen werden. Das bedeutet keineswegs, dass die gegenwärtige sozioökonomische Situation auf die Wiedergeburt des Faschismus hinausläuft – die Geschichte wiederholt sich nicht einfach – wohl aber, dass sie die Unzufriedenheit mit dem herrschenden liberalen System begünstigt. Resultat dieser Entwicklung könnte beispielsweise eine Stärkung demokratischer Elemente zugunsten der Zurückdrängung des Liberalismus in der Gesellschaft sein. Eine weitere Rahmenbedingung liberaler Demokratie wird von politikwissenschaftlichen Analysen gemeinhin übersehen: Die kollektive historische Identität. Auch hier zeigt sich eine Gemeinsamkeit mit der gesellschaftlichen Situation der Zwischenkriegszeit. Damals wie heute war die kollektive historische Identität in Deutschland und Österreich brüchig. Mit dem Ende des Wilhelminischen Kaiserreichs bzw. der Herrschaft des Hauses Habsburg waren den 1918 gegründeten Staaten ihre historischen Wurzeln abhandengekommen. Da zum Gründungsnarrativ beider Staaten die explizite Abkehr von der Geschichte (und der historischen Niederlage im Krieg) gehörten, konnten ihre Eliten nicht nahtlos an einer mythischen Vorgeschichte anknüpfen. Deutschland und Österreich waren zu Staaten ohne Geschichte geworden. Entscheidend ist, dass diese Geschichtslosigkeit von den Angehörigen der jeweiligen Gesellschaften mehrheitlich als erzwungenes Resultat der Kriegsniederlage empfunden wurde. Das unterschied ihre Situation fundamental von jener der USA oder des nachrevolutionären Frankreich, die hundert Jahre zuvor ebenfalls Gesellschaften ohne Geschichte gewesen waren. Dort wurde der Mangel an historischer Identität nicht als Verlust, sondern als Gewinn begriffen, der in eine zukunftsorientierte kollektive Identität mündete. Die Bürger der Vereinigten Staaten und des republikanischen Frankreich fühlten sich nicht durch eine lange gemeinsame Geschichte verbunden, sondern durch die manifeste Bestimmung, gemeinsam Geschichte zu machen. Was die USA und Frankreich um 1800 von Deutschland und Österreich zwischen den Weltkriegen unterschied, war also nicht der Verlust des historischen Mythos, sondern die Tatsache, dass den Bürgern der ersteren ein positiver Ersatzmythos zur kollektiven Identitätsstiftung angeboten wurde, jenen der letzteren jedoch nicht. Das einzig verbliebene gesellschaftlich verbindende historische Narrativ war das der Niederlage. Erinnern wir uns, dass Narrative historischer

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Identität dazu dienen, jene Selbstliebe, die dem erwachsenen Ich verboten ist, auf die Gemeinschaft zu übertragen und in Form kollektiver Identität zu empfinden. Es ist nicht leicht, ausgerechnet die eigene Niederlage als identitätsstiftendes Narrativ zu verinnerlichen und zu lieben. (Nach dem Zweiten Weltkrieg gelang das nur, weil dieser Weg angesichts der Dimensionen deutscher Verbrechen unausweichlich war. Irgendeine Form kollektiver Identität ist unverzichtbar, also verdichtete sich die Kollektivschuld zum Träger deutscher Identität.). Es überrascht also nicht, dass Ressentiment, Rachegelüste und Hass um sich griffen – ebenso wenig, dass die Juden zu ihrer Projektionsfläche wurden. Der im Vergleich zum latenten Antisemitismus radikale Judenhass wurde zum Ersatzmythos, der notwendig geworden war, weil die Deutschen und Österreicher ihre historische Identität verloren hatten. In seinem Aufstieg sehen wir rückblickend die Geschichtsarbeit überdeutlich am Werk. Heute, da die kollektiven historischen Identitäten der Deutschen und Österreicher, die nach 1945 erarbeitet wurden, abermals bröckeln, zeichnet sich wiederum kein positiver Ersatzmythos (wie etwa der einer gemeinsamen europäischen Identität) ab. Schlimmer noch, die Geschichtswissenschaft der Gegenwart hat historische Mythen grundsätzlich verworfen und zwar unter anderem gerade weil nationalistische und antisemitische Mythen einen derart hohen Blutzoll forderten. Was sie übersieht ist, dass diese Mythen sich vor allem deshalb etablierten, weil nach dem Wegbrechen historischer Identität nach 1918 kein anderes tragfähiges Narrativ kollektiver Identität als Projektionsfläche des unbewussten Wunsches nach narzisstischer Liebe zur Verfügung stand. Gehen wir Historiker, die keine Historisten mehr sein wollen und können, sehenden Auges denselben Weg? Ich habe zuvor postuliert, dass sich die Geschichte nicht wiederholt – aber sehr wohl kann sie ein altes Thema variieren! Wenigstens, so könnte man sich trösten, scheint das Interesse der Bürger an der Demokratie wieder zu steigen. Der Anteil der Nichtwähler bei Wahlen in Deutschland ist seit 2013 erstmals seit einer Generation wieder im Sinken begriffen. Viele Wählerinnen und Wähler, die sich zuvor nicht vertreten gefühlt hatten, nehmen seit damals wieder an Wahlen teil – Tendenz steigend. Sie scheinen eine Vertretung gefunden zu haben, der sie ihre Stimme geben wollen: 2013 betrat die AfD die politische Bühne der Bundesrepublik. In der Einleitung zu diesem Buch hatte ich meinem Erstaunen Ausdruck verliehen, dass Donald Trump als Präsidentschaftskandidat in der Lage gewesen war, einen politischen Mythos der Reagan-Ära zu reaktivieren: „Make America Great Again!“ Es sollte uns noch viel mehr zu denken geben, dass derselbe Mythos, der im Deutschland und Österreich der 1930er Jahre so erfolgreich war, erneut Zulauf erhält. Er füllt jenes identitätspolitische Vakuum, das die nachhistoristische Geschichtswissenschaft in der Gesellschaft ohne Geschichte hinterlassen hat.

7

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Fast während des gesamten 19. und des Großteils des 20. Jahrhunderts dominierte der Historismus als theoretische Strömung den geschichtswissenschaftlichen Diskurs. Wie jeder -Ismus brachte er ein totalitäres Moment mit sich. Der Historismus war vor allem in der deutschsprachigen Wissenschaft derart erfolgreich, dass er zum Metanarrativ ohnegleichen wurde. „Welt und Leben sehen anders aus und offenbaren tiefere Hintergründe, wenn man sich gewöhnt hat, sie mit seinen Augen anzuschauen.“1, schrieb Friedrich Meinecke 1936. Wer die Geschichte versteht, so dachten viele, könne auch die Zukunft kompetent gestalten. Ist denn nicht schließlich die Geschichte die Lehrmeisterin des Lebens? Die Vertreter des Historismus waren davon überzeugt. Von der älteren Geschichtsphilosophie der Aufklärung, die Geschichte als Konstruktionen der Gegenwart verstand, grenzten sie sich dadurch ab, dass sie die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit der Vergangenheit selbst für die Wissenschaft postulierten. Man müsste nur die geeigneten Methoden anwenden, um im Zuge der Quellenkritik der Vergangenheit ihr Geheimnis zu entlocken – so lautete ihr Credo. Die Vergangenheit wurde zu einer objektivierbaren Tatsache, der es sich zu bemächtigen galt. Welch eine Versuchung für Gesellschaften, deren Zusammenhalt auf historischen Narrativen beruht!. Verschiedene geisteswissenschaftliche Strömungen des 20. Jahrhunderts – darunter der (Post-)Strukturalismus, die Gender- und Postcolonial Studies, mit Einschränkungen auch die Struktur- und Kulturgeschichte – haben jedoch die Vorstellung von der Vergangenheit als wissenschaftlich verfügbarer Letztbegründung

1Friedrich

Meinecke, Die Entstehung des Historismus (Werke Bd. 3), München/Wien 2016,

S. 2. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_7

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so nachhaltig diskreditiert, dass sich die zuvor so erfolgsverwöhnte Geschichtswissenschaft bis heute nicht davon erholt hat. So ist auch die in der Geschichtswissenschaft verbreitete Rede vom Bedeutungsschwund der Geschichte zu verstehen. Das letzte Aufbäumen des Historismus, das gelegentlich im Strukturkonservatismus der Wissenschaftslandschaft und an vereinzelten Versuchen, einer objektiven Erkenntnismöglichkeit der Geschichtswissenschaft das Wort zu reden, erkennbar wird, wirkt jedoch in der Wissenschaft der Gegenwart seltsam anachronistisch.2 Die Lösung des Problems für den gesellschaftlichen Bedeutungsverlust der Geschichtswissenschaft – die sich überhaupt erst im Historismus als moderne Wissenschaft zu verstehen begann – liegt deshalb nicht in der Rückkehr zu diesem Historismus, die wir, selbst wenn wir es wollten, gar nicht bewerkstelligen könnten. Dass die Geschichtswissenschaft ihren dogmatischen Anspruch, alleine über die wahre Vergangenheit zu verfügen, aufgegeben hat, bedeutet keineswegs, dass sie nicht glaubt, überhaupt noch etwas erklären zu können. Die vielen Historikerinnen und Historikern als solche gar nicht bewusste Renaissance geschichtsphilosophischer Thesen überträgt vielmehr die Verantwortung für die Geschichte auf die Forschung. Geschichte ist nicht länger dann legitimes Ergebnis historischer Forschung, wenn sie die vermeintlich wirkliche Vergangenheit aus dem Schutthaufen historischer Fakten befreit und die Eigenheit der jeweiligen Zeit herausgearbeitet hat, sondern, wenn ihr Zustandekommen Kriterien wissenschaftlichen Arbeitens genügt und das entstandene Narrativ anschlussfähig für die Rezeption durch die Öffentlichkeit ist. Der Anspruch gegenwärtiger Geschichtswissenschaft besteht also nicht darin, die eine, wahre Geschichte zu enthüllen, sondern eine unter vielleicht vielen möglichen Geschichten zu plausibilisieren. Keineswegs ist damit der Beliebigkeit das Wort geredet: Dass viele richtige Geschichten existieren, bedeutet nicht, dass es keine falschen gäbe, oder dass alle richtigen Geschichten gleich gut geeignet wären, einen Sachverhalt zu erklären.3 Gleichwohl erscheint diese Sichtweise historischen Laien oftmals unbefriedigend. Allzu oft ziehen sie sich unbewusst auf historistische Geschichtsbilder zurück, und damit auf das, was Ernesto Laclau und Chantal Mouffe so treffend den „Bunker der Orthodoxie“4 nannten.

2Vgl.

Walach 2018, S. 178. Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a. M. 1990, S. 35. 4Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy. Towards a Radical Democratic Politics, London/New York 2014, S. viii. 3Vgl.

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In der öffentlichen Wahrnehmung und insbesondere im Schulunterricht herrscht folglich ein positivistisches Geschichtsverständnis vor, das nur sehr wenig mit der aktuellen historischen Forschung zu tun hat. Studierende historischer Fächer sind – das ist jedenfalls meine Erfahrung – allzu oft wissenschaftlich konservativer als ihre Lehrenden. Wer das als selbstverständlich empfindet, sei an die 1960er Jahre und die Blütezeit von Reformuniversitäten wie Paris VIII erinnert, als die Studierenden selbstbewusst neue Zugänge, Themen, neue Disziplinen, kurz – eine neue Wissenschaft – forderten. Was macht die unsichere Vergangenheit so schwer zu ertragen? Das Phänomen hat sowohl eine subjektive als auch eine gesellschaftliche Dimension. Zur ersten ist zu sagen, dass der Einzelne, das Individuum keineswegs so vereinzelt oder so unteilbar wäre, wie diese Begriffe nahelegen. Seit Sigmund Freund gilt als Grundprinzip der Erforschung der Psyche, dass sich das Ich in Auseinandersetzung mit dem Anderen konstituiert. Dieser Prozess dauert ein Leben lang und verlangt nach ständiger Anpassung von Selbst- und Fremdbildern. Slavoj Žižek hat dieses Prinzip auf hegelsche Dialektik übertragen, womit ein historischer Aspekt in das Verhältnis gelangt. Die Geschichte wird zum zeitlichen Anderen, zu dem sich das Subjekt in Bezug setzt. Wird das Gegenüber brüchig, ist auch das Ich, das sich im Verhältnis dazu konstituiert, gefährdet. Was für den Einzelnen gilt, trifft auch auf das Verhältnis sozialer Gruppen zur Geschichte zu. Dieses Verhältnis wird durch das kulturell verfügbare Wissen über Vergangenheit ebenso geprägt wie durch den Vergleich dieses Wissensbestandes mit gegenwärtiger Erfahrung. Was aber geschieht, wenn kein konsensuales Wissen über die Vergangenheit verfügbar ist? Wie kann angesichts multiperspektivischer historischer Narrative gesellschaftlicher Konsens über das Zusammenleben in der Gegenwart erzeugt werden? Demokratische Gesellschaften sind von diesen Fragen stärker als andere betroffen, weil sie unbedingt auf ein höheres Maß an Konsens angewiesen sind. Die gegenwärtige Krise der Demokratie steht also in Zusammenhang mit der Krise des Historismus. Die Legitimationskrise der Demokratie ist auch eine historische Identitätskrise demokratischer Gesellschaften. Noch in den 1980er Jahren postulierte Emil Angehrn, moderne Gesellschaften bräuchten künftig wohl keine historische Identität mehr zur Sicherung ihres Überlebens oder ihrer Legitimität.5 Diese Ansicht beruhte auf der aufmerksamen Beobachtung der Verhältnisse zwischen historischem Subjekt,

5Vgl.

Emil Angehrn, Geschichte und Identität, Berlin/New York 1985, S. 368.

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Gesellschaft und Geschichtswissenschaft. Staat und Nation, deren „gestörtes Verhältnis zu sich selber“ eine klärende Aufarbeitung ihrer Vergangenheit erst nötige mache,6 erschienen in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts als Dinge, die bald der Vergangenheit angehören könnten. Vertreter der sogenannten Posthistoire rechneten mit dem Entstehen einer postnationalen Weltordnung, die Geschichte als gesellschaftliches Identifikationsangebot obsolet machen, oder sogar die Geschichte vollständig suspendieren würde.7 Was bliebe, wäre die historische Dimension subjektiver Identität. Nichts davon ist bisher eingetreten. Im Gegenteil: Der totgesagte Nationalstaat hat wieder Aufwind. Dagegen hat die geschichtswissenschaftlich legitimierte historische Gewissheit als Fundament des Sozialen das Ende des Jahrtausends tatsächlich nicht überlebt. Ein gesichertes, dogmatisches Wissen über Vergangenheit steht zur Bildung gesellschaftlicher Identität nicht mehr zur Verfügung. Das Fehlen von Gewissheit über die Vergangenheit äußert sich in politischer Orientierungslosigkeit: „Der Zusammenbruch der Erwartungshorizonte einer selbstbezogenen Gegenwart bringt die Vernichtung des Politischen als strategischer Vernunft mit sich und befördert eine allein instrumentelle und verwaltende Vernunft.“8 Die Diagnose ist richtig, aber auf der Suche nach Ursachen sind die Theoretiker der europäischen Linken zu kurzsichtig. Manche, wie Daniel Bensaïd machen das politische Programm der konservativen Kräfte dafür verantwortlich, dass den von Lohn- und Sozialleistungen abhängigen Staatsbürgerinnen und -bürgern das historische Klassenbewusstsein abhandengekommen ist. Andere halten wie Colin Crouch den „dritten Weg“ der Sozialdemokratie, also „New Labour“ selbst für verantwortlich. Nach dieser Lesart hätten sich die Sozialisten im Nadelstreif vom Neoliberalismus beinahe zu Tode umarmen lassen. Die Sozialdemokratie hätte, so schrieben Gerhard Schröder und Tony Blair 1999 in einem gemeinsamen Papier, „neue Zustimmung auch gewonnen, weil sie nicht nur für soziale Gerechtigkeit, sondern auch für wirtschaftliche Dynamisierung und für die Freisetzung von Kreativität und Innovation steht.“9 Diese Politik ist auf ganzer Linie gescheitert. Wie die beiden Regierungschefs selbst betonten,

6Anghern

1985, S. 3. Michael Hardt/Antonio Negri, Empire, Cambridge/London 2000, S. xiv–xv. 8Daniel Bensaïd, Der Permanente Skandal, in: Demokratie? Eine Debatte, Berlin 2012 (S. 23–54), S. 27. 9Tony Blair/Gerhard Schröder, Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Online verfügbar unter: http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html, zuletzt aufgerufen am 20.12.2017. 7Vgl.

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war die Mehrheit europäischer Regierungen am Ende des 20. Jahrhunderts sozialdemokratisch dominiert. Und heute? Die Sozialdemokratie liegt am Boden. Sozialdemokratische Parteien fahren bei Wahlen regelmäßig Negativrekorde ein. Populistische Bewegungen und die ebenfalls unter Druck stehenden, aber deutlich widerstandsfähigeren Konservativen graben ihnen das Wasser ab. Längst hat diese Dynamik alles Skandalöse verloren, so normal ist sie geworden. Angesichts dieser Entwicklungen suchen linke Eliten nach Ursachen und finden – ganz ihrer Erwartungshaltung entsprechend – einen bekannten Gegner: den Neoliberalismus. Das Problem scheint für sie darin zu liegen, dass der Kapitalismus sich aller Lebensbereiche bemächtigt habe (was richtig ist), also zum Herrensignifikanten des Sozialen geworden sei, sodass sich alles Zwischenmenschliche zu ihm in Bezug setzen müsse. Das gälte folglich auch und insbesondere für die politischen Instrumentarien demokratischer Staaten, allen voran also für Wahlen. Die Demokratie sei „nur insofern repräsentativ, als sie zuerst konsensuelle Repräsentation des Kapitalismus ist, der heute in »Marktwirtschaft« umbenannt ist.“10 Während alle gebannt auf den omnipräsenten Kapitalismus blicken, bleibt das Fehlen des Historismus unbemerkt. Das ist aus mehreren Gründen nachvollziehbar: Zum einen ist bisher der Druck auf die Parteien des linken Spektrums stärker als auf die europäische Rechte. Zwar sehen sich auch dort traditionelle Parteien einem Vertrauensverlust ausgesetzt, doch scheint die politische Rechte deutlich erfolgreicher darin, ihr Programm in populistische und scheinbar systemkritische Bewegungen zu verpflanzen und so die Legitimationskrise der Traditionsparteien zu umgehen. Das gilt seit den 1980er Jahren für die extreme Rechte wie etwa die „Freiheitliche Partei Österreichs“, den „Front/Rassemblement National“ und neuerdings die „Alternative für Deutschland“. Doch auch den Konservativen ist es, wie „La République en Marche!“ in Frankreich oder der „Neuen Volkspartei“ in Österreich, wiederholt gelungen, traditionelle wirtschaftsliberale Programme als Erneuerung zu präsentieren. Insofern scheint sich die Einschätzung zu bestätigen, dass neoliberale Politik zu Beginn des 21. Jahrhunderts an einem entsprechenden Zeitgeist als Grundkonsens anknüpfen kann. Zum anderen ist es leicht, das Fehlen des Historismus, also einer geschichtstheoretischen Strömung zu übersehen, wenn sich der Neoliberalismus so deutlich in allen Lebensbereichen bemerkbar macht. Dagegen scheint es sich beim ­Ringen

10Alain

Badiou, Wofür steht der Name Sarkozy?, Zürich/Berlin 2008, S. 97.

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der Geschichtswissenschaft um eine neue theoretische Ausrichtung um eine Debatte von Spezialisten ohne breite lebensweltliche Auswirkungen zu handeln. Und schließlich vermissen selbst jene Linksintellektuellen, die Kenntnis von der Krise des Historismus haben, dessen strukturkonservativen Einfluss auf die Wissenschaft eher nicht. Immerhin waren es vor allem dezidiert linke Wissenschaftstheorien, die den Historismus in jahrzehntelangem Kampf zum Einsturz brachten. Warum also sollte nun die Krise des Historismus mit der Krise der Demokratie in Verbindung gebracht werden? Für die Debatte um Gegenwart und Zukunft liberaler Demokratien erscheint das Ende des Historismus noch weniger relevant, wenn man ihn im Sinne Friedrich Meineckes mit der gleichnamigen Strömung der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft gleichsetzt. Dieser Historismus mit seinen Hauptvertretern Leopold von Ranke, Johann Gustav Droysen und vielleicht noch Wilhelm Dilthey erscheint dann als rein deutsches und vor allem rein akademisches Problem, das noch dazu vermeintlich überwunden ist. Sowohl die französische Geschichtswissenschaft mit ihrer teilweise klar linken, bisweilen sogar marxistischen Grundtendenz, als auch die angloamerikanische Geschichtswissenschaft, die den Historismus im engeren Sinne vergleichsweise wenig rezipierte, ließen diesen als Sonderfall erscheinen. Dieser Eindruck täuscht. Betrachtet man den Historismus nicht als historischen Sonderweg, sondern als -Ismus im eigentlichen Sinn, eben als identitätsstiftendes Metanarrativ, wird seine Bedeutung für die Verfasstheit demokratischer Gesellschaften klar. Das historistische Denken geht von zwei aufeinander aufbauenden Prämissen aus. Erstens: Die Vergangenheit ist der Geschichtswissenschaft zugänglich und objektiv erforschbar. Deshalb sind Vergangenheit und Geschichte prinzipiell eins. Zweitens: Weil alles Vergangenheit hat, ist also alles geschichtlich erklärbar, oder mit den Worten Droysens: „Jeder Punkt in dieser Gegenwart ist ein gewordener. Was er war und wie er wurde, ist vergangene; aber seine Vergangenheit ist ideell in ihm.“11 Diese Art positivistischen und totalitären Geschichtsverständnisses war vielleicht im deutschen Historismus besonders stark ausgeprägt. Grundsätzlich war sie aber Konsens beinahe aller geschichtstheoretischen Strömungen des 19. und wenigstens der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gegen diesen Konsens richtete sich Karl Poppers Kritik am „Elend des Historizismus“12, dem sich alle Sozialwissenschaften zu beugen hätten.

11Johann 12Karl

Gustav Droysen, Grundriss der Historik, Leipzig 1882, S. 8. Popper, The Poverty of Historicism, London 1957.

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Gesellschaftliche Identität ohne historische Kontextualisierung scheint unmöglich. Dagegen ist die Frage, wie dieser geschichtliche Zusammenhang hergestellt wird, offener denn je. Der überwältigende Erfolg des Historismus, der die Geschichtswissenschaft zur Leitwissenschaft einer Epoche machte, beruhte auf drei Elementen: Erstens beförderte er als explizit nationale Geschichtswissenschaft eben jene libidinösen Bindungen, die es dem Subjekt erlauben, sich mit der Gesellschaft (mit dem, was Droysen die „sittlichen Mächte“ nannte) zu identifizieren: „Aber auch der Genialste, Willensstärkste, Mächtigste ist nur ein Moment in dieser Bewegung der sittlichen Mächte, immerhin an seiner Stelle ein besonders bezeichnendes und wirksames. Als solches und nur als solches fasst ihn die historische Forschung, nicht um seiner Person Willen, sondern um seiner Stellung und Arbeit in dieser, jener der sittlichen Mächte, um der Idee Willen, deren Träger er war.“13 Zweitens gelang es dem Historismus, seine Forschungsergebnisse gegen Widerspruch abzusichern, indem er glaubhaft machte, dass es sich dabei um objektive Erkenntnisse handle, denen nicht widersprochen werden könnte. Das historistische Verständnis von Geschichte beruht auf Weiterentwicklungen zentraler Positionen des Deutschen Idealismus. Wesentlich für das Selbstverständnis der Historisten war jedoch, die Philosophie Hegels, Fichtes und Schellings von dem zu befreien, was sie als metaphysischen Ballast betrachteten.14 Jede historische Epoche – so postulierten sie – sei aus sich selbst und nur aus sich selbst heraus verständlich. Es sei möglich, ein entsprechendes Verständnis zu entwickeln, indem Quellen als empirisch fassbare Überlieferungen historischer Epochen untersucht würden. Die Geschichte sei demnach nicht eine Frage des subjektiven Standpunkts, sondern „Ergebnis empirischen Wahrnehmens, Erfahrens und Forschens.“15 So ging Ranke in seiner Arbeit von der Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit historischer Phänomene aus.16 Nicht nur werde die Geschichte vom Willen des Individuums bestimmt, sondern dadurch auch jede historische Zeit individuell. Entsprechend war das methodische Vorgehen der Historisten typischerweise induktiv. Jenseits basaler Überlegungen zur Quellenkritik konnte die historistische Geschichtswissenschaft folglich nicht nur auf

13Droysen

1882, S. 22 (Hervorhebung im Original). Ranke 1906, S. 18. 15Droysen 1868, S. 8 (Hervorhebung im Original). 16Vgl. Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971, S. 9. 14Vgl.

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t­heoretischen Überbau weitgehend verzichten, theoriegeleitetes Arbeiten musste sogar als schädlich erscheinen! Schließlich impliziert Geschichtstheorie stets einen heuristischen Vorgriff, ein hypothetisches grundsätzliches Vorverständnis des Untersuchungsgegenstandes, eben eine deduktive Annahme, der die Untersuchung des Einzelfalls als Falsifikationsversuch dient. Wenn der Geschichtswissenschaft ihre traditionelle Theorieferne als Versäumnis angelastet wird, so geschieht das häufig in Unkenntnis der Tatsache, dass die bewusste Abwendung von der als quasi-scholastisch verstandenen Theorie Kern des wissenschaftlichen Programms des Historismus war: „Alle empirische Forschung richtet sich nach den Gegebenheiten, auf die sie gerichtet ist. Und sie kann sich nur auf solche richten, die ihr unmittelbar zu sinnlicher Wahrnehmbarkeit gegenwärtig sind.“17 Und schließlich produzierte die historistische Wissenschaft Narrative, die Form und Inhalt nach vertraut und daher für breite Rezeption äußerst anschlussfähig waren. Zentrales Grundmuster historistischer Geschichtswahrnehmung war jener Fortschrittsgedanke, der wohl die Signatur der Moderne schlechthin darstellt. Während Ranke auf die Eigenständigkeit jeder historischen Epoche verwies („jede Epoche ist unmittelbar zu Gott, und ihr Wert beruht gar nicht auf dem was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst“18) ohne jedoch historischen Fortschritt grundsätzlich auszuschließen, betonten die meisten Historisten in der Nachfolge Droysens die Bedeutung der „fortschreitenden Geschichte, deren Werden und Wachsen ihre Entfaltung ist.“19 So wurde dem Fortschritt auch gleich eine zyklische Bewegung eingeschrieben, die in Narrativen von Aufstieg, Blüte und Verfall ausgedrückt wurden. Diese Wahrnehmungsweisen sind bis heute prägend, teilweise innerhalb, vor allem aber außerhalb der Kreise professioneller Historiker. Die Topoi historistischer Geschichtswissenschaft bedienten und bestärkten exakt jene Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte, die für den Zeitgeist der (späten) Neuzeit typisch waren – sie waren dadurch gesellschaftlich nachvollziehbar. „Wir Viktorianer“ überschrieb Michel Foucault seine Einleitung zu „Der Wille zum Wissen“, um zu zeigen, dass die Sexualmoral der Epoche der strengen Königin nur äußerlich abgestreift wurde, während sie tatsächlich immer noch stumm und unverrückbar, nur eben in anderer Form über unsere Schlafzimmer wacht. Auf ganz ähnliche Art und Weise hat die Geschichtswissenschaft den Historismus

17Droysen

1882, S. 8. 1906, S. 17. 19Droysen 1882, S. 23. 18Ranke

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zu voreilig abgeschrieben. Am Schluss von Agatha Christies Roman „The Body in the Library“ erklärt Miss Marple lapidar: „My nephew Raymond tells me, in fun, of course, that I have a mind like a sink. He says that most Victorians have. All I can say is that the Victorians knew a good deal about human nature.“20 Eine schlechte Fantasie war auch das Credo der Historisten, die endlich die Geschichte von der Philosophie abtrennen und bei den Naturwissenschaften einordnen wollten. Es scheint, als seien die heute geschmähten Positivisten genau wie Miss Marples Viktorianer recht gute Kenner der menschlichen Natur gewesen. Den unbewussten Wunsch nach historischer Identität hatten sie besser erkannt oder jedenfalls stärker befriedigt als wir heutige Historiker. Nicht nur, dass wir heutige Historiker diesen Wunsch, der als externalisierte Selbstliebe eigentlich ein existenzieller Trieb ist, nicht befriedigen; wir verbieten ihn uns und unseren Zeitgenossen sogar, denn, so charakterisierte Robert Pfaller ein verbreitetes Missverständnis über das Denken der Postmoderne: „die Postmoderne hat eine ganz bestimmte Form des Wissens entwickelt – das Wissen, dass es so etwas wie besseres Wissen nicht gäbe. Sie hat uns nicht nur gelehrt, sondern uns sogar spüren lassen, dass vorgebliches Wissen in Wahrheit nur eine Erzählung sei und dass die Epoche der großen Erzählungen vorbei sei.“. Das fatale Missverständnis besteht nun darin, dass die selbstreflexive Rede vom historischen Narrativ nicht so gemeint ist, wie es von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, nämlich als historischer Nihilismus. Mein Kollege Martin Tschiggerl war 2018 in einer Radiosendung des österreichischen öffentlichen Rundfunks zu Gast. Er sprach über seine Forschung zu historischen Narrativen und nationaler Identität im Sport. Ein erboster Anrufer nach dem anderen – ­allesamt Männer in fortgeschrittenem Alter – meldete sich. Man merkte ihnen an, dass ihnen das, was sie gehört hatten, sehr nahe ging, wenn sie mit zornerfüllter Stimme erklärten: Das ist alles nicht wahr, was Sie da sagen! Das sind nicht nur irgendwelche Narrative, das ist alles wirklich so gewesen! Die Historiker sollten lieber jemanden fragen, der wirklich dabei war, anstatt sich nur irgendetwas auszudenken! Es ist kaum vorstellbar, dass ein Zeitgenosse Rankes diesen in ähnlicher Art und Weise über die Geschichte Preußens belehrt hätte. Das Problem liegt in der Wahrnehmung, historische Narrative seien „nur“ irgendetwas Ausgedachtes. Wenn Historiker von Narrativen sprechen, meinen sie einen bestimmten Sinnzusammenhang historischer Fakten. Durch die Verwendung des Begriffs distanzieren sie sich

20Agatha

Christie, The Body in the Library, London 2016, S. 206–207.

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von der naiven Ansicht, es gebe eine objektive Geschichte. Sie wollen dadurch die Geschichte, die ihr Beruf ist, nicht abwerten. Genau dieser Eindruck scheint allerdings zu entstehen. Über den Umweg der libidinösen Bindungen an die Geschichte fühlen Subjekte sich durch diesen Eindruck unbewusst selbst abgewertet und reagieren mit Unverständnis, Ablehnung und oft auch Wut. Die unbewussten Bindungen an historisch konstituierte Identität sind eine Tatsache, mit der die Geschichtswissenschaft sich auseinandersetzen muss, wenn sie gesellschaftlich anschlussfähig sein möchte. Dass die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte die posthistoristische Entwicklung der Geschichtswissenschaft von selbst nachvollzieht, ist nicht zu erwarten – jedenfalls ist das in vergangenen Jahrzehnten nicht geschehen. Es ist an der Zeit, dass der Prophet ein Stück weit zum Berg geht: Wir Historiker müssen wieder Historisten werden. Damit ist nicht gemeint, dass wir abermals Genie-, Quellen- und Wahrheitskulten huldigen sollen. Diese Götzen gehören hoffentlich für immer der Vergangenheit an. Sehr wohl müssen wir jedoch Wege finden, Diskurshoheit zurückzugewinnen. Das kann im Rekurs auf das kollektive historische Unbewusste gelingen. Die Geschichtswissenschaft muss, wenn sie wieder ein relevanter gesellschaftlicher Faktor werden will, ebenso darauf Bedacht nehmen, welche latenten Strukturen das öffentliche Geschichtsbewusstsein prägen, wie auf die Art und Weise, in der dieses Bewusstsein erzeugt wird: Das kollektive historische Unbewusste und die Geschichtsarbeit.

Teil III Methode

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Was tun? Plädoyer für eine Geschichte im Dienst der Gegenwart

Wem gehört die Geschichte? Ist sie das exklusive Terrain von Spezialisten, oder ist sie für jedermann offen?1 Gegenwärtig hängt die Antwort auf diese Fragen ganz davon ab, welche Art von Geschichte gemeint ist. Denn die Spezialisten und die Öffentlichkeit haben von ihr – grob gesprochen – ganz unterschiedliche Begriffe. Das hat zur Folge, dass die Stimme der Geschichtswissenschaft im gesellschaftlichen Diskurs kaum noch gehört wird. Abgesehen von der verletzten Eitelkeit professioneller Historiker müsste dadurch niemand Schaden davontragen, wären nicht die liberalen Demokratien der Gegenwart so ungemein historistische, das heißt auf kollektiv geteiltes Wissen über Vergangenheit aufgebaute Gesellschaften. Diese durch Geschichte zusammengehaltenen Gemeinschaften können auf Geschichte nicht verzichten, sehr wohl aber auf Historiker. Das tun sie auch zunehmend. Michael Wallace beschrieb die Bedeutung der Geschichte als gesellschaftlicher Konstruktion von Vergangenheit so: Zwar kann unser Verständnis der Vergangenheit uns nicht sagen, was wir in der Gegenwart tun sollen – das hängt davon ab, wer wir sind und was wir wollen. Auch die Zukunft unserer Gesellschaft wird nicht durch ihre Geschichte entschieden, sondern durch das gegenwärtige Übereinkommen von Menschen mit unterschiedlichen Vorstellungen, wie ihre gemeinsame Zukunft aussehen soll. Wenn wir jedoch kein reflektiertes Verständnis für eine gemeinsame Vergangenheit gewinnen können, leben wir nur auf der Oberfläche der Dinge, sind Erklärungen ausgeliefert, die sich bloß auf das Zufällige, Flüchtige, das Unmittelbare beziehen. Wir stellen die falschen Diagnosen für unsere

1Vgl.

Barry Strauss, Why Is Troy Still Burning?, in: Historically Speaking, 8/1 (2006) (S. 18–20), S. 18.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_8

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Schwierigkeiten und verirren uns auf der Suche nach Lösungen. Ein Verständnis für Geschichte zu entwickeln heißt, unsere Möglichkeiten für einen guten Umgang mit der Gegenwart zu verbessern.2 Diese wichtige Funktion der Geschichte sollten wir sorgsam einsetzen und das bedeutet, dass der Rat von Spezialisten unverzichtbar für den Umgang mit ihr ist. Jedermann wird einsehen, dass man das Steuer eines Flugzeugs besser Spezialisten überlässt. Wer würde schon ins Cockpit gehen, die Piloten fragen, warum um alles in der Welt denn keine gute alte Dampfmaschine anstelle des Jettriebwerks verbaut wurde und anschließend versuchen, ein paar Loopings zu fliegen? Über die Geschichte glaubt hingegen ein jeder verfügen zu können. Das ist – um Missverständnissen vorzubeugen – keine Klage, sondern zeigt vor allem, dass die Geschichte für die Lebenswelt aller unmittelbar bedeutsam ist. Beklagenswert ist vielmehr, dass Historiker es verabsäumt haben, jene komplexe Sichtweise auf Geschichte, die sie in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben, auch einer breiten Öffentlichkeit verständlich zu machen. Professionelle Historiker, die ihre Arbeit heute aus guten Gründen auf jenen „skeptischen Thesen“ aufbauen, denen Carlo Ginzburg polemisch unterstellte, „auf der Reduktion der Geschichtsschreibung auf ihre narrative oder rhetorische Dimension (zu) beruhen“3, erscheinen einer historisch interessierten Öffentlichkeit als wirre Philosophen. Ihrer reflektierten (man könnte auch sagen: verkopften) Sicht auf Geschichte gelingt es nicht, am kollektiven historischen Unbewussten jener Gesellschaften anzuknüpfen, in denen sie tätig sind. Ich hatte zuvor postuliert, dass wir Historiker der Öffentlichkeit entgegenkommen müssen. Die Lösung für das Problem besteht aber nun gerade nicht darin, sich als Historiker dumm zu stellen oder die Öffentlichkeit durch trivialisierte Darstellungen zu infantilisieren, sondern die Angehörigen der historisch interessierten Öffentlichkeit ebenfalls zu (Geschichts-)Philosophen zu machen, also darin, den Berg auch zum Propheten gehen zu lassen. Dazu gehört zunächst anzuerkennen, dass die wissenschaftliche Sichtweise auf Geschichte nicht die einzig legitime oder gar die einzig mögliche ist. Die Tatsache, dass es so viele Wirklichkeiten wie Subjekte gibt, schließt nicht aus, dass Historiker versuchen, ihr jeweiliges Konzept von Geschichte anschlussfähig für andere zu machen. Voraussetzung dafür ist, ein Verständnis dafür zu

2Michael

Wallace, The Politics of Public History, in: Jo Blatti (Hg.), Past Meets Present. Essays about Historic Interpretation and Public Audiences, Washington D. C. 1987 (S. 37–53), S. 37–38. 3Carlo Ginzburg, Die Wahrheit der Geschichte. Rhetorik und Beweis, Berlin 2000, S. 11.

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entwickeln, wie die Wirklichkeit des anderen beschaffen ist. Selbst wenn die wissenschaftliche Geschichte informierter und reflektierter ist, als die der historisch interessierten Öffentlichkeit – was nutzt das? Die Aufgabe der Geschichtswissenschaft besteht nicht darin, Recht zu haben, sondern zu einer möglichst guten Bewältigung der Probleme der Gegenwart beizutragen. Das kann sie nicht, wenn niemand auf sie hört. Als Angehörige einer Gesellschaft, die sich als historisch gewordene Gemeinschaft definiert, haben Bürger und Bürgerinnen das Recht zu sagen: Wir machen uns unsere Geschichte selbst.4 Nur erscheint es mir unabdingbar, dass sie dabei auf Rat von Leuten hören, die über einschlägiges Expertenwissen und Erfahrung in diesem Feld verfügen. Das bedeutet keineswegs eine Entdemokratisierung von Geschichte. Im Gegenteil: Ein öffentlicher Diskurs über Geschichte – im Gegensatz zum blinden Vertrauen in die professionelle Geschichtswissenschaft – ist nur dann zu befürworten, wenn er auf informierten und reflektierten Positionen beruht. Die wesentliche Rolle von Experten ist also notwendige Voraussetzung für die überfällige Demokratisierung der Geschichte. Die Deutungsmacht über die Geschichte ist kein herrschaftsfreier Ort und war es noch nie. Aber wie soll die Herrschaft dort ausgeübt werden? Das ist die entscheidende Frage, die sich die posthistoristische Geschichtswissenschaft zu stellen hat. Die Wissenschaft des Historismus war im Wesentlichen meritokratisch: Legitim war ausschließlich die Stimme derer, die den cursus honorum der akademischen Laufbahn absolviert und sich dabei Verdienste um die Wissenschaft erworben hatten. Diese Art der Herrschaft über die Geschichte hat sich überlebt. Dem Bedürfnis nach historischer Identität innerhalb demokratischer Gesellschaften ist eine demokratische Geschichte besser angemessen. Analog zum Modell radikaler Demokratie gilt es, eine radikale Geschichte im Sinne einer öffentlichen und offenen, partizipativen und einladenden Arbeit am kollektiven Gedächtnis zu etablieren. Erste zaghafte Schritte zur theoretischen Begründung dieses Verhältnisses wurden schon seit den späten 1970er Jahren unternommen, etwa von Thomas Bender, der mit seinem Buch „Community and Social Change in America“5 das Verhältnis von Neoliberalismus und gemeinschaftlichen Bindungen betrachtete oder Harry Boytes „Community is Possible. Repairing Americaʼs Roots“6, das in eine ähnliche Kerbe schlug.

4Vgl.

Wallace 1987, S. 53. Bender, Community and Social Change in America, New Brunswick 1978. 6Harry Boyte, Community is Possible. Repairing America’s Roots, New York 1984. 5Thomas

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Dass die Öffentlichkeit den Anspruch, ihre Geschichte selbst zu gestalten, unüberhörbar erhebt, bedeutet gerade nicht, dass man der Geschichtsarbeit als kollektiver Wunscherfüllung das Feld überlassen und alles Unangenehme ausblenden soll. Ergebnis eines solchen Rückzugs wäre eine plebiszitäre Geschichte, deren einziges Ziel im individuellen und gesellschaftlichen Lustgewinn bestünde. Revisionistische Geschichtspolitik im Dienste der extremen Rechten versucht gegenwärtig, genau diesen Zustand herzustellen um ihre ausgrenzende Identitätspolitik historisch zu legitimieren. Verzichtet die Wissenschaft schon von sich aus auf die Teilnahme an der öffentlichen Debatte, darf sie sich folglich nicht wundern, wenn dabei plebiszitäre Geschichte herauskommt, die einzig vom historischen Unbewussten und seinen Wünschen beherrscht wird und in der die Wissenschaft bestenfalls als irrelevant, schlimmstenfalls als störend empfunden wird. Ein Modell für die Zukunft der Geschichtswissenschaft stellt die politische Theorie zur Verfügung. Mitte der 1980er Jahre formulierten Ernesto Laclau und Chantal Mouffe die zentrale Prämisse postmarxistischen Denkens, die als (von der herrschenden Sozialdemokratie nicht befolgte) Handlungsanleitung für linke Politik gedacht war: Die Aufgabe der Linken besteht nicht darin, die liberaldemokratische Ideologie zu bekämpfen, sondern im Gegenteil, sie zu vertiefen und in Richtung einer radikalen Demokratie auszuweiten.7 Laclau und Mouffe reagierten mit dieser Forderung auf die Einsicht der Linken, dass die marxistische Theorie klassischer Prägung nicht länger als hegemoniales Leitbild zur Gestaltung linker Demokratie taugt. Die vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Rede vom Ende der Großen Erzählungen verfrüht war, denn von einem Bedeutungsverlust des Nationalismus oder gar des Kapitalismus ist nichts zu erkennen. Richtig ist hingegen, dass linke Metanarrative ihre Überzeugungskraft verloren haben, womit auch der enge Zusammenhang zwischen postmoderner Theorie und linken Überzeugungen verständlich wird. Gegenwärtig gibt eine ganze Reihe von Parallelen zwischen posthistoristischer Geschichte und postmarxistischer Theorie. Die wichtigste besteht in der Tatsache, dass beide im Vergleich mit ihrer älteren Orthodoxie an gesellschaftlichem Einfluss verloren haben. Das ist Resultat des Unwillens oder der Unfähigkeit, über wirksame Dogmatik gesellschaftliche Hegemonie zu erzielen. Eine weitere, damit in Zusammenhang stehende Gemeinsamkeit ist, dass sich sowohl Historiker als

7Vgl.

Laclau/Mouffe, London/New York 2014, S. 160.

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auch linke Theoretiker von einflussreichen zu segmentierten Eliten gewandelt haben, die ihre Überlegungen allen gegenteiligen Beteuerungen und Ansprüchen zum Trotz hauptsächlich an einen kleinen Kreis Eingeweihter adressieren. (Das gilt jedenfalls für jene Teile der Linken, die überhaupt an Zielsetzungen festhielten, die über bloßen Machterhalt hinausgingen.) Die dritte Gemeinsamkeit besteht darin, dass sowohl die Geschichtswissenschaft als auch die politische Linke sich weitgehend von emotionaler Aufladung ihrer Wirkungsbereiche, die sie als unvernünftig bzw. populistisch ablehnen, distanzierten. Beide haben also – und hier sind wir mitten in der Geschichtspolitik – die Verknüpfung ihrer jeweiligen Gebiete mit unbewussten kollektiven Wünschen der politischen Rechten überlassen. Das zeigen geschichtspolitische Entwicklungen wie die „geistig-moralische Wende“ der Ära Kohl oder die revisionistische Funktionalisierung des historischen Unbewussten durch die extreme Rechte – Prozesse, denen weder die Geschichtswissenschaft noch die politische Linke wirkungsvoll entgegen tritt. Wenn nun die Herausforderung der Geschichtswissenschaft und der Linken ähnlich sind, scheint es zumindest einen Versuch wert, sich auch ähnlicher Lösungsstrategien zu bedienen. Auf praktischer Ebene verlangt dieser Versuch ein undogmatisches, am jeweiligen Problem orientiertes Vorgehen. Die öffentliche Geschichte könnte dabei ähnlich funktionieren wie die von Patrizia Nanz und Claus Leggewie überschwänglich geforderten und in einigen europäischen Pilotprojekten ausprobierten „Zukunfts- oder Bürgerräte“.8 Das sind beratende Gremien, in denen zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger unter Anleitung von Experten Vorschläge für die Politik erarbeiten. Ich halte es für geraten, sich innerhalb der Geschichtswissenschaft Gedanken darüber zu machen, in welcher Art und Weise Bürger in die historische Forschung eingebunden werden können. Ich möchte dazu ein Beispiel aus einem Seminar zu Public History geben, das ich 2018 an der Universität Wien gehalten habe. Selten zuvor hatte ich derart interessierte und kritische Studenten getroffen. Der allergrößte Teil von ihnen kam aus kleinen Ortschaften in ländlichen Gegenden. In solchen Gemeinden sind in Österreich häufig Kriegerdenkmäler zu finden, die dem Gedenken an gefallene Soldaten der beiden Weltkriege aus den jeweiligen Gemeinden gewidmet sind.

8Vgl.

Patrizia Nanz/Claus Leggewie, Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung, Berlin 2016. Einige solcher Räte sind europaweit seit mehreren Jahren etabliert, so z. B. in Irland oder im österreichischen Bundesland Vorarlberg. Vgl. Büro für Zukunftsfragen, Amt der Vorarlberger Landesregierung (Hg.), Bürgerräte in Vorarlberg. Eine Zwischenbilanz, Bregenz 2014. Online verfügbar unter: https://www.vorarlberg.at/pdf/ kurzfassungbuergerraetezw.pdf, zuletzt aufgerufen am 11.06.2018; https://www.citizensassembly.ie/en/, zuletzt aufgerufen am 11.06.2018.

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Wir diskutierten im Plenum sehr angeregt, wie damit umzugehen sei, wenn bekannt wäre – was oft der Fall ist –, dass jene Männer, an die erinnert wird, an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Viele Studierende waren der Ansicht, solche Denkmäler müssten geschleift werden. Man sollte lieber Denkmäler für die Opfer errichten. Ich gab zu bedenken, dass die Toten in der Erinnerung ihrer Nachkommen keine Mörder waren, sondern womöglich geliebte Menschen, deren Tod Trauer ausgelöst hatte und dass die Zuneigung für die Verstorbenen möglicherweise einen wesentlichen Teil der kollektiven Identität der Bewohner darstellt. Sollte man sich nicht auch so an sie erinnern dürfen? Und würde ein wissenschaftliches und geschichtspolitisches Verbot dieser Art von Erinnerung nicht eher Ressentiment und Ablehnung verursachen, letztlich vielleicht gar zu einer Delegitimation der Geschichtswissenschaft in den Augen der Bevölkerung führen? Oder würde andererseits die Wissenschaft ihre Prinzipien und damit ihre Existenzberechtigung verraten, wenn sie politische Überlegungen und die öffentliche Meinung zur Grundlage ihres methodischen Vorgehens macht? Die Meinung der Studenten dazu war geteilt. Persönlich bin ich der festen Überzeugung, dass jene Recht hatten, die Vorschläge machten, wie zusammen mit den Bewohnern eine differenzierte Sichtweise auf das Handeln ihrer Vorfahren gewonnen und sichtbar repräsentiert werden könnte. Wie das im Einzelfall gelingen kann, ist eine weitaus komplexere Frage, auf die es keine allgemeingültige Antwort geben kann. Zweifellos kann öffentliche Geschichte nicht von festen Gremien wie Bürgerräten gestaltet werden – dagegen sprechen neben organisatorischen und methodischen Gründen wie etwa der Forderung nach problemgeleiteter Forschung auch Fragen wissenschaftlichen Selbstverständnisses. So mutet der Gedanke einer „Kommission für Geschichte“ schauerlich autoritär an und ist mit der Freiheit der Forschung wohl kaum vereinbar. Es spricht hingegen aus meiner Sicht überhaupt nichts dagegen, dass Historikerinnen und Historiker, die an einem konkreten Projekt arbeiten, jene Teile der Öffentlichkeit, die ihre Arbeit betrifft, routinemäßig in die Forschung miteinbeziehen. Wie soll man dabei vorgehen? Die Frage macht deutlich, dass sich aus dem theoretischen Konzept Geschichtsarbeit methodische Implikationen ableiten lassen. Es ist also möglich, konkrete Schritte einer wissenschaftlichen Intervention für die Erzeugung öffentlicher Geschichtsbilder zu setzen, die den unbewussten Motiven der Geschichtsarbeit Rechnung tragen. Dabei liegt der Fokus klar auf den Bedürfnissen, die das jeweilige Kollektiv an die Geschichte richtet. Geschichte wird folglich in ihrer funktionalen Dimension für Gesellschaft verstanden und nicht als Narrativ, das einer naiven Suche nach Wahrheit über die Vergangenheit verpflichtet ist.

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Der Bezug auf die Geschichtsarbeit muss auf zwei Ebenen erfolgen: Vorbedingung für eine gelungene Intervention der Wissenschaft in den historischen Diskurs ist, wirkende Mechanismen der Geschichtsarbeit erst einmal zu identifizieren. Dabei müssen der Historiker oder die Historikerin die durch Geschichtsarbeit „entstellten“ Analogieschlüsse, die aus Elementen des historischen Unbewussten entstanden sind, so interpretieren, dass zunächst unverständliche Motivationen erklärbar werden. Die Rolle der Geschichtswissenschaft im Umgang mit der Geschichtsarbeit entspricht also jener der Traumdeutung, wie Freud sie charakterisierte: „Der Traumdeutung bleibt es überlassen, den Zusammenhang wiederherzustellen, den die Traumarbeit vernichtet hat.“9 Indem die Geschichtswissenschaft analog zur Traumdeutung eine Geschichtsdeutung vornimmt, kann ein Verständnis dafür entstehen, welche unbewussten Wünsche ein historisches Narrativ erfüllen, welche kollektiven Bedürfnisse es befriedigen soll. Kommen wir nochmals auf das Beispiel der Heldendenkmäler für Kriegsverbrecher zurück: Eine Analyse des kollektiven historischen Unbewussten einer konkreten Dorfgemeinschaft – durch Interviews, Diskussionen, etc. – könnte zum Beispiel eine Lesart stützen, nach der das Festhalten an der Ehrung der Gefallenen Resultat einer Verschiebung ist. Das bestimmende unbewusste Gefühl könnte zum Beispiel Scham sein, die mit den Verbrechen der Vorfahren verknüpft wird. Die Identifikation mit der Geschichte der eigenen Gemeinschaft kann dadurch schmerzlich sein, weshalb ein anderes, nicht schambesetztes Narrativ für das kollektive Erinnern gewählt wird. Der Triebökonomie entsprechend verändert sich die Bedeutungsaufladung dadurch nicht. Die Bindung an das Heldennarrativ ist deshalb ebenso stark, wie es das Schamgefühl war. Das Interesse der Wissenschaft wird wohl darin bestehen, ein Narrativ zu erzeugen, das den historischen Fakten angemessen, also plausibel und widerstandsfähig gegen Falsifikation ist. Das Interesse der Öffentlichkeit wird jedoch viel eher darin bestehen, sich nicht dem Schamgefühl aussetzen zu müssen. Eine Historikerin oder ein Historiker, die mit der Öffentlichkeit zusammenarbeiten möchten, muss diese Interessenslage berücksichtigen. Das gemeinsam zu erarbeitende Narrativ muss also nicht nur wissenschaftlich abgesichert sein, sondern auch gewährleisten, dass der Öffentlichkeit eine Alternative zum Schamgefühl geboten wird. Das kann gelingen, indem entweder Verdichtung als alternativer Prozess der Geschichtsarbeit gewählt, oder die Verschiebung auf ein anderes Narrativ umgeleitet wird. Es ist hingegen nicht die Aufgabe der Wissenschaft, der Öffentlichkeit zu erklären, dass sie Unrecht hat. Es liegt in der Natur

9Freud

2013, S. 316.

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der Sache, dass eine derart belehrende Haltung nur noch stärkere Ablehnung produziert und die wissenschaftliche Intervention folglich scheitert. Aufgabe der Wissenschaft ist vielmehr, der Öffentlichkeit Unterstützung bei der Formulierung historischer Narrative zu bieten, die sowohl wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, als auch die Wünsche des historischen Unbewussten befriedigen. Um nicht feindlich und paternalistisch zu wirken, muss sie das – wir sind nun bei der zweiten Ebene angelangt – durch sogenannte ungesättigte Deutungen erreichen. Dabei verlässt die Intervention nicht die Ebene der Figurabilität, des dritten von Freud beschriebenen Vorgangs der Traum- bzw. Geschichtsarbeit neben Verdichtung und Verschiebung. Im Rahmen dieses Vorgangs werden die Bilder, in unserem Fall also die historischen Narrative ausgewählt, die den latenten Inhalten des historischen Unbewussten ihre bewusst erlebbare Form geben. Wenn es Historikern gelingt, auf dieser figurativen Ebene zu verbleiben, haben sie mit viel weniger Widerstand des historischen Unbewussten zu rechnen. Der deutsche Psychoanalytiker Herbert Will verglich die ungesättigte Deutung mit einem „Geschenk, das noch verpackt ist. Als solches regt sie die Emotionen, Wünsche und Ängste des Empfängers an.“10 Als Beispiel für eine gelungene ungesättigte Deutung wählte Will eine Episode aus der Lehranalyse seines Kollegen Stanley Stern bei Hans Loewald: „»I dreamt of my mother, sitting behind me as I was driving…« – a dream fragment recalled about seven months into the analysis. » You felt she was always on your back, « he said, and I burst into tears, the first time I had cried as an adult.“11 Es geht hierbei um einen offensichtlichen Übertragungsvorgang. Stern hatte seine Mutter in eine Szene geträumt, die der Analyse mit Loewald, der – wie in klassischer Analyse üblich – stets unsichtbar hinter Stern saß. Eine gesättigte Deutung hätte den Mechanismus der Übertragung expliziert und die unbewussten Vorgänge aufgedeckt: „Ihre Mutter ist Ihnen im Nacken gesessen und Sie befürchten, das könnte Ihnen mit mir genauso passieren. Auf der anderen Seite hoffen Sie, von mir Verständnis und Freiheit für Ihre Entwicklung zu bekommen. Es ist eine Angst da, ob das gut gehen kann.“12 Löwald wählte den viel unterschwelligeren Weg der ungesättigte Deutung, indem er die

10Herbert Will, Wie ungesättigte Deutungen entstehen, in: Psyche 5 (2018) (S. 374–396), S. 377. 11Stanley Stern, My Experience of Analysis with Loewald, in: Psychoanalysis Quarterly 78 (2009) (S. 1013–1031), S. 1014. 12Will 2018, S. 377.

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Bilderwelt des Traumes nicht verließ und über sich genau so sprach, wie Stern ihn geträumt hatte: Als Bild seiner Mutter. Analog dazu würde ein Historiker oder eine Historikerin nicht erklären: „Sie schämen sich dafür, was ihre Eltern und Großeltern im Krieg getan haben und Sie verheimlichen diese Scham, indem Sie sie zu Helden erklären. Nun befürchten Sie, dass ich mit meiner Forschung den Heldenmythos zerstöre und Sie zwinge, sich vor mir und sich selbst zu schämen.“ Es erscheint mir sehr zweifelhaft, dass eine solche Erklärung, wie elaboriert sie im Einzelfall auch sein möge, anschlussfähig für die angesprochene Öffentlichkeit sein könnte. Besser wäre: „Sie möchten Ihren Vater/Großvater in liebender Erinnerung behalten. Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, wie wir das ermöglichen können.“. Zwei Vorbedingungen müssen für das Gelingen öffentlicher Geschichte stets gegeben sein: Zum Ersten muss das Verhältnis von professionellen Historikern und historisch interessierter Öffentlichkeit durch gegenseitigen Respekt geprägt sein. Beide Seiten müssen also die für die öffentliche Geschichte konstitutive geteilte Autorität ernst nehmen. Zum Zweiten ist besonders aufseiten der Wissenschaft ein Verständnis dafür nötig, was die jeweiligen Akteure motiviert, darunter auch und gerade für jene irrationalen, unbewussten Momente, die sich dem Zugriff der traditionellen Geschichtswissenschaft im Allgemeinen entziehen. Eine Historikerin oder eine Historiker im Dienst der öffentlichen Geschichte muss also Experte für das historische Unbewusste und die Geschichtsarbeit sein. Es mag sein, dass Historiker, deren Expertise zumeist in anderen Felder liegt, mit dieser Aufgabe manchmal überfordert sind. Es spricht jedoch nichts dagegen, sich in einem solchen Fall der Unterstützung psychoanalytisch geschulter Experten zu versichern – eine Arbeitsbeziehung, mit der die Oral History beste Erfahrungen gemacht hat. So gelangte etwa die US-amerikanische Frauenhistorikerin Kathryn Anderson durch ihre Zusammenarbeit mit der Therapeutin Dana Jack zu wichtigen Einsichten über psychische Aspekte von Zeitzeugeninterviews: „As a result of my discussions with Dana, a trained therapist, I have developed a new appreciation for oral history’s potential for exploring questions of self-concept and (self-)consciousness, for documenting questions of value and meaning in individualsʼ reflections upon their past.“13 Doch selbst in dieser Konstellation ist es unabdingbar, dass Historiker über ein Grundverständnis für das historische

13Kathryn

Anderson/Dana C. Jack, Learning to Listen. Interview Techniques and Analyses, in: Robert Perks, Alistair Thomson (Hg.) The Oral History Reader, New York 2016 (S. 179–192), S. 183.

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Unbewusste und die Geschichtsarbeit verfügen und dieses im Dialog mit der Öffentlichkeit anwenden können. Das ist gewiss eine ungewohnte Rolle. Worin bestand traditionell die Funktion von Historikern als Spezialisten für Geschichte im gesellschaftlichen Diskurs über Vergangenheit? Gangolf Hübingers Beschreibung dürfte unter vielen Historikern Zustimmung finden: „Als intellektueller Fremdenführer konfrontiert er seine Gegenwart mit der Fremderfahrung der Vergangenheit und beweist einen Spürsinn für relevante Perspektiven. Als Fachmann für die gedankliche Ordnung der Probleme verarbeitet er die Erfahrungsbestände vergangener Epochen mit begriffsklaren Konzepten und vermeidet extreme Kehrtwendungen von der Theoriebesessenheit zur Theorievergessenheit. Als Lotse […] der Geschichte wahrt er eine kritische Distanz zu den Klippen der Geschichtspolitik.“14 Was da beschrieben wird ist ein unbestechlicher Verwalter, einer, der über dem kurzlebigen Diskurs der Gegenwart steht, einer, der besser weiß, wie die Geschichte „eigentlich“ gewesen ist und damit schon ganz zufrieden sein kann. Nun gut, wenn das das Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft ist, braucht sie sich über schwindenden gesellschaftlichen Einfluss nicht zu wundern. Über diese Art Geschichtswissenschaft hätte sich Nikita Chruschtschow keine Sorgen machen müssen, als er Historiker als gefährliche Leute bezeichnete, die in der Lage wären, dem Regime Schwierigkeiten zu machen und deshalb an der kurzen Leine gehalten werden müssten.15 Wenn Historiker am unfertigen Projekt der Aufklärung teilhaben wollen, wenn sie einen Beitrag zu dem leisten möchten, was sie unter einer positiven Entwicklung ihrer Gesellschaft verstehen, müssen sie sich einmischen. Sie müssen ihrer Stimme Gehör verschaffen und das Feld der Geschichtspolitik nicht freiwillig jenen überlassen, die daraus bloß politisches Kleingeld schlagen wollen. Dazu gehört, die Gesellschaft mitunter auf schmerzliche Weise mit dem zu konfrontieren, was sie lieber im historischen Unbewussten gelassen hätte. Also hinaus mit der Geschichtswissenschaft aus den viel zitierten Elfenbeintürmen! Hinaus aus den akademischen Wohlfühlzonen und selbstbezüglichen Meinungsblasen der Forschung! Die Geschichtswissenschaft steht vor der undankbaren Aufgabe, eine Gesellschaft mit ihrer Geschichte in Verbindung zu bringen, die

14Gangolf

Hübinger, In zwei Welten leben. Zu den Aufgaben des Historikers, in: Jaqueline Nießer/Juliane Tomann (Hg.), Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit, Paderborn u. a. 2014 (S. 37–45), S. 42. 15Vgl. Nancy Whitter Heer, Politics and History in the Soviet Union, Cambridge/London 1971, S. 11.

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das gar nicht will, weil ihr diese Geschichte im Innersten unangenehm ist. Aber Wissenschaft jenseits von Histotainment und selbstgenügsamer Stubengelehrsamkeit darf manchmal auch wehtun. Wir Historikerinnen und Historiker können bei der Begegnung mit dem historischen Unbewussten ebenso viel lernen: etwa, dass wir nicht die Verfügungsgewalt über die historische Wahrheit besitzen, oder dass historische Identität jeden und jede umtreibt. Die Rolle des Historikers im Umgang mit der Öffentlichkeit wurde gelegentlich mit der eines Schiedsrichters verglichen.16 Das Bild einer Hebamme oder eines Analytikers erscheint mir noch treffender. Das bedeutet: Nicht der Historiker als Spezialist verpflanzt, wie noch im Denken des Historismus, aber auch der Struktur-, Sozial- und Kulturgeschichte vielfach üblich, Wissen über Geschichte in die Köpfe der Individuen. Stattdessen entwickeln diese unter Anleitung des Historikers selbst ein subjektives, aber wissenschaftlich fundiertes, das heißt tragfähiges und gegen Falsifikation widerstandsfähiges Geschichtsbild. Historiker, die nicht auch Lernhelfer sind, haben – ob sie nun in ihrem Berufsalltag unterrichten oder nicht – ihre Profession verfehlt. Geschichte lernen ist mehr als ein bloßer Zuwachs an Information. Im Idealfall ist es durch die Lebenswelt des Lernenden motiviert und knüpft unmittelbar an ihr an. So kann Geschichte persönliche Bedeutung gewinnen. Individuen entwickeln ihr jeweiliges Verständnis von Vergangenheit und Gegenwart in Bezug auf ihre eigene Rolle in diesem Verhältnis, aufgrund ihrer eigenen (biografischen) Erfahrungen und des gesellschaftlichen Umgangs damit. Der Besuch einer historischen Stätte wird deshalb von jedem Individuum anders erlebt und mit anderer Bedeutung versehen, abhängig von Erinnerungen, zuvor gemachten Erfahrungen und Vorwissen.17 Dieser Befund gilt nicht nur für Individuen, sondern noch viel mehr für die von ihnen gebildeten Kollektive. Für diese gilt, vereinfacht gesagt, dass sie sich genau jene Geschichtsbilder zimmern, die ihnen helfen, ihre gegenwärtig erwünschte Identität zu legitimieren. Es stellt sich gesellschaftlicher Sicht also weniger die Frage, wie bestimme kollektive Vorstellungen von Vergangenheit von der Wissenschaft beurteilt werden, sondern die, „welche Geschichtsbilder und Erinnerungsorte für die Bewältigung welcher Zukunftsaufgaben geeignet sind und welche Konzepte des Zusammenlebens in der globalisierten Welt sie präfigurieren.“18

16Vgl.

Jorma Kalela, Making History. The Historian und Uses of the Past, Houndsmills 2012, S. 33. 17Vgl. Faye Sayer, Public History. A Practical Guide, London/New York 2015, S. 77. 18Irene Götz, Deutsche Identitäten. Die Wiederentdeckung des Nationalen nach 1989, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 164.

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Was dabei gerade von Historikern zu oft vergessen wird, ist, dass sich kollektive Erinnerungen, Erfahrungen und Wissen einerseits und individuellen Erinnerungen, Erfahrungen und Wissen gegenseitig bedingen und dass sich daher beide aus den Triebstrukturen des Unbewussten speisen: Der Wunsch nach Identifikation mit anderen, Schuldgefühl, Ressentiment, das Bedürfnis, zeitliche Struktur zu erleben und sich selbst darin einzuordnen, etc. Angeregt durch historisches Lernen, sei es im Schulunterricht, im Museum, an einer historischen Stätte und dergleichen mehr, erzeugt die Geschichtsarbeit aus dem historischen Unbewussten und dem Erlernten Geschichte. Je nachdem, welche Prozesse der Geschichtsarbeit am Werk sind – Verschiebung, Verdichtung, Verdrängung usw. – werden geeignete Narrative ausgewählt, um dem Produkt der Geschichtsarbeit eine manifeste Form zu geben: Opferidentität, Täteridentität, Niemals vergessen!, Schlussstrich… Wenn die Rolle des Unbewussten bei der Erzeugung von Geschichte nicht beachtet wird, bleiben die Bemühungen von Historikern auf öffentliche Geschichtsbilder einzuwirken, die von Schiedsrichtern und das heißt: oberflächlich. Meiner Erfahrung nach sind viele Personen, die in der Geschichtsvermittlung tätig sind, viel bessere Analytiker des historischen Unbewussten, als ihnen klar ist. Das liegt daran, dass ihren intuitiven und durch Erfahrung erworbenen Kenntnissen des Unbewussten in der Geschichte keine systematische Theorie und Methode gegenübersteht, die ihnen helfen könnte, ihre Kenntnisse noch gezielter anzuwenden. Dasselbe gilt für Oral Historians. Beide Gruppen von Historikern sehen die Geschichtsarbeit ständig am Werk und haben gelernt, mit diesem Prozess umzugehen, ohne ihn explizit als solchen wahrzunehmen oder zu benennen. Insbesondere jene Spezialisten der Geschichte, die mit einer historisch interessierten Öffentlichkeit zu tun haben (und welche haben das eigentlich nicht?), sollten sich bewusst machen, dass die Auseinandersetzung mit Geschichte eine existenzielle Unternehmung ist, die tief in das Verhältnis von Subjekt und Gesellschaft reicht. Die berüchtigte Theorie- und Methodenferne der Geschichtswissenschaft hat auch vor der Haltung der Geschichtswissenschaft gegenüber der historisch interessierten Öffentlichkeit nicht Halt gemacht. Als Disziplin ist die Public History gerade dabei, ihre angloamerikanische Wiege zu verlassen und unter anderem auch in der deutschsprachigen akademischen Landschaft Fuß zu fassen.19 Welcher Einfluss ihr beschieden sein wird, hängt ganz maßgeblich davon ab, ob die

19Vgl.

Serge Noiret/Thomas Cauvin, Internationalizing Public History, in: James B. Gardner/Paula Hamilton (Hg.), The Oxford Handbook of Public History, New York 2017 (S. 25–43).

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Public History in der Lage sein wird, mehr aus sich zu machen, als die bloße Systematisierung von bereits etablierter Praxis. Genau das ist allerdings gegenwärtig ihre „raison d’être“20. Ich halte das für einen schweren Fehler. Die Public History hat ein Identitätsproblem. Sie weiß buchstäblich nicht, wer sie ist oder was unter dem Begriff eigentlich zu verstehen sei.21 Die maßgeblichen Lehr- und Handbücher welcher anderen historischen Disziplin beginnen mit dem verschämten Eingeständnis, dass man nicht genau sagen könne, was eigentlich das Feld der jeweiligen Disziplin sei? Dieses Identitätsproblem resultiert aus der Genese des Fachs, das kein solches sein wollte, sondern lediglich ein Sammelbecken für Historiker darstellte, deren einzige Gemeinsamkeit darin bestand, irgendetwas mit der Öffentlichkeit zu tun zu haben – ohne dass damit ein klarer Öffentlichkeitsbegriff verbunden war. Es liegt in der Natur der Sache, dass die konkreten Herausforderungen der sehr diversen Tätigkeiten, die unter dem Begriff Public History subsummiert werden – von der Museumsdidaktik über Living History bis zur Oral History – nicht über einen Kamm geschoren werden können. Es würde der Public History jedoch helfen, ihr Profil zu schärfen, wenn sie über eine gemeinsame Theorie verfügte. Das historische Unbewusste und die Geschichtsarbeit erscheinen mir dabei als notwendiger, jedoch nicht hinlänglicher Bestandteil. Eine öffentliche Geschichte braucht unter anderem auch ein tragfähiges Konzept von Öffentlichkeit, von öffentlicher Forschung und forschendem Lernen. Dadurch würde auch das methodische Vorgehen der unterschiedlichen Ansätze, die zur Public History gehören, konziser und überzeugender, denn Methode und Theorie gehören zusammen. Sie sind „zwei Seiten einer Medaille, nämlich der Systematisierung von Vorannahmen und Wegen historischer Erkenntnis, die einer erkenntnisgeleiteten Perspektive folgen. Mit ihrer Hilfe machen wir als Wissenschaftler sowohl uns als auch anderen deutlich, wie Thesen formuliert, Fragen gestellt und Antworten gefunden werden. Theorie und Methode stehen in einem dialektischen Verhältnis zu einander und bedingen sich gegenseitig: Es gib folglich kein Primat der Theorie oder der Methode. Das eine ist nicht ohne das andere zu denken.“22

20James

B. Gardner/Paula Hamilton, The Past and Future of Public History. Developments and Challenges, in: James B. Gardner/Paula Hamilton (Hg.), The Oxford Handbook of Public History, New York 2017 (S. 1–22), S. 1. 21Vgl. Cauvin, 2016, S. 10–11; Gardner/Hamilton 2017, S. 1; Cherstin M. Lyon/Elizabeth M. Nix/Rebecca K. Shrum, Introduction to Public History. Interpreting the Past, Engaging Audiences, London 2017, S. 1. 22Tschiggerl/Walach/Zahlmann 2018, S. 6.

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8  Was tun? Plädoyer für eine Geschichte im Dienst der Gegenwart

Die zentrale Bedeutung, die historische Identität für die Verfasstheit liberaler Demokratien einnimmt, verlangt nach einer fundierten und theoretisch reflektierten Auseinandersetzung mit der Rolle öffentlicher Geschichte für Politik und Gesellschaft. Historiker müssen ein tiefgehendes Verständnis dafür entwickeln, wie ihre Arbeit vom kollektiven historischen Unbewussten beeinflusst wird und umgekehrt – sie müssen verstehen lernen, wie Geschichtsarbeit funktioniert. Dieses Verständnis ist Voraussetzung dafür, die Öffentlichkeit gezielt in die Produktion von Geschichte einzubinden, anstatt ihr nur möglichst verständlich und unterhaltsam Geschichte zu vermitteln. Wie will man etwa durch Holocausterziehung jene erreichen, die aus unbewusster Scham besonders laut nach einem Schlussstrich rufen, wenn man die unbewusste transgenerationelle Weitergabe dieser Scham nicht versteht? Wie helfen, eine kollektive historische Identität zu bauen, ohne nationalistische Ressentiments zu bedienen, wenn man nicht weiß, wie diese Ressentiments entstehen und welche Rolle sie bei der Entstehung subjektiver historischer Wirklichkeit spielen? Glauben wir Historiker wirklich, wir könnten den Botschaften geschichtspolitischer Propaganda, die so gekonnt auf der Klaviatur des historischen Unbewussten spielen, sich so geschickt die Prozesse der Geschichtsarbeit zunutze machen, etwas entgegensetzen, bloß weil wir uns für informierter und reflektierter halten, kurz, weil wir glauben, Recht zu haben? Viele Historiker sehen sich in einer Zwickmühle zwischen ihrer Verantwortung für die Gesellschaft, in der sie leben und jener vorgestellten Vergangenheit, die ihre Leidenschaft ist. Ihr Selbstbild, zu dem ein bestimmtes Verständnis intellektueller Redlichkeit gehört, ist zu großen Teilen historisch. Die allermeisten werden in sich in einem Satz Gangolf Hübingers wiederfinden: „Historiker sind einem doppelten Verantwortungsdruck ausgesetzt, dem gegenüber der Vergangenheit und dem gegenüber der Gegenwart.“23 Diese Sichtweise enthält einen persistenten Kern historistischen Positivismus, weil sie impliziert, dass die Vergangenheit etwas Unveränderliches sei, dem man Unrecht täte, würde man es nicht rein und klar erkennen und gegen den Zugriff der Gegenwart beschützen. Die Vergangenheit um ihrer selbst willen lieben – da wären wir bei Ranke: Jede Epoche „beruht gar nicht auf dem was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst.“24 Wenn wir die Überwindung des naiven historistischen Quellenpositivismus ernst meinen, dann müssen wir jedoch zugestehen: Wir schulden der Vergangenheit gar nichts, der Gegenwart alles.

23Hübinger 24Ranke

2014, S. 37. 1906, S. 17.

9

Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte

In den vorangegangenen zwei Teilen dieses Buches wurde die Geschichtsarbeit theoretisch begründet und gezeigt, wie sie zur Entstehung bewusster Geschichtsbilder aus unbewussten Motiven beiträgt. Die Geschichtsarbeit als Methode zu nutzen heißt, steuernd in den Prozess der Geschichtsarbeit einzugreifen, der gleichwohl auch ohne Zutun von Historikern ablaufen würde. Es ist also wichtig zu verstehen, dass sich die Geschichtsarbeit daher stets der vollständigen Kontrolle durch Historiker entziehen wird. Die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern mit der Öffentlichkeit als kollaborative Anstrengung zur Erzeugung von Geschichte ist gegenwärtig eines unter vielen Betätigungsfeldern der Public History, die sich weitgehend unsystematisch damit befasst. Von Kindheit an steckte die Public History, dieser Wechselbalg der historischen Fächer, der nie so recht wusste, wo er hingehört, in einer Identitätskrise. Die Tatsache, dass sich viele Historiker gerade im englischen Sprachraum, wo die Public History sich zuerst etablierte, damit zufrieden geben, zu konstatieren, dass man eben nicht genau sagen könne, was die Public History sei1, legt dafür beredtes Zeugnis ab. Doch die Public History weiß nicht nur nicht, wer sie ist, sie weiß auch nicht, was sie eigentlich erreichen möchte – das wird gleich noch näher zu erklären sein. Es erscheint daher kaum sinnvoll, die Public History in ihrer jetzigen mangelhaften Form einfach nach Kontinentaleuropa zu importieren. Deutschsprachige Historiker könnten aus der bisherigen Entwicklung des Fachs lernen, dass es einer wissenschaftlichen Disziplin ohne Theorie und ohne Methode an Überzeugungskraft fehlt. Anstatt also fröhlich das Pferd weiter von hinten aufzuzäumen und die Public History als eher wahlloses

1Vgl.

Cauvin 2016, S. 10–11; Gardner/Hamilton 2017, S. 1–2.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5_9

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Sammelsurium induktiver Schlüsse zu betreiben, sollten wir uns etwa an der Frauen- und Geschlechtergeschichte ein Beispiel nehmen, die der Theoriebildung stets einen wichtigen Rang eingeräumt hat. Deshalb – und nicht aus kleinlichem sprachlichem Chauvinismus – unterscheide ich zwischen der Public History wie sie derzeit mehrheitlich praktiziert wird und der öffentlichen Geschichte, wie sie meiner Ansicht nach sein sollte. Irmgard Zündorf hat erste Schritte zu einer Systematisierung unternommen, denn sie hat sich im Gegensatz zu vielen ihrer US-amerikanischen Kollegen an einer trennscharfen Definition der Public History versucht: „Public History umfasst einerseits jede Form der öffentlichen Geschichtsrepräsentation, die sich an eine breite, nicht geschichtswissenschaftlich vorgebildete Öffentlichkeit richtet, und beinhaltet andererseits die geschichtswissenschaftliche Erforschung derselben.“2 Das scheint mir eine akkurate Darstellung der Zielrichtung von Public History zu sein, wie sie gegenwärtig betrieben wird. Zündorfs Definition würde allerdings ebenso treffsicher die traditionelle Populärgeschichte beschreiben. Darin liegt ein schwerwiegendes Problem. Die geteilte Autorität als vorgeblich konstitutives Merkmal der Public History kommt in Zündorfs Definition zurecht nicht vor. Allzu oft handelt es sich dabei nämlich um ein bloßes Lippenbekenntnis. Die wenigsten Veröffentlichungen über Public History zeigen eine konsequente Einbindung der Öffentlichkeit als Forscher. Partizipative Elemente historischer Forschung wie Sondengänger, Laien als Archäologen, Sammler und Kuratoren, Reenactment und Living History fristen gegenüber Fragen der öffentlichen Vermittlung wissenschaftlicher Geschichtsbilder ein vollkommen marginalisiertes Schattendasein.3 Die Öffentlichkeit nicht bloß zu belehren, sondern

2Irmgard

Zündorf, Zeitgeschichte und Public History, 2016. Online verfügbar unter: http:// docupedia.de/zg/Zuendorf_public_history_v2_de_2016, zuletzt aufgerufen am 29.06.2018. 3Jene Veröffentlichungen in deutscher und englischer Sprache, die den besten Überblick über den Forschungsstand zur Public History aus jüngerer Zeit bieten, seien an dieser Stelle kursorisch genannt: Christoph Kühberger/Andreas Pudlat (Hg.), Vergangenheitsbewirtschaftung. Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft, Innsbruck 2012; Hilda Kean/Paul Martin (Hg.), The Public History Reader, London 2013; Jeremy Black, Contesting History. Narratives of Public History, London 2014; Cord Arendes, Who We Are: Public Historians as Multiple Personalities?, in: Public History Weekly 36 (2015); Thomas Cauvin, Public History. A Textbook of Practice, New York 2016; James B. Gardner/ Paula Hamilton (Hg.), The Oxford Handbook of Public History, New York 2017; Cherstin M. Lyon/Elizabeth M. Nix/Rebecca K. Shrum, Introduction to Public History. Interpreting the Past, Engaging Audiences, Lanham 2017; Martin Lücke/Irmgard Zündorf (Hg.), Einführung in die Public History, Göttingen 2018.

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mit ihr zusammenzuarbeiten stellt oftmals eine frustrierende Erfahrung dar, weil Rahmenbedingungen, Ziele und Ergebnisse dieser Arbeit oft nicht leicht mit Ausbildung und Selbstverständnis professioneller Historiker zu vereinen sind.4 Wenn jedoch der Anspruch der Public History als Fach nicht darüber hinausgeht, Laien erklären zu wollen, was die wissenschaftliche Sichtweise auf Geschichte ist – und diese dabei vielleicht noch zu privilegieren – so ist das in einer Art und Weise paternalistisch, der angesichts des legitimen Interesses der Öffentlichkeit, ihre Geschichte zu gestalten, zurecht wenig Erfolg beschieden sein wird. Ein Historiker, der einer als Publikum verstandenen Öffentlichkeit erst einmal geduldig erklärt, was es heißt, wissenschaftlich zu denken, verhält sich wie ein Therapeut der eine wichtige Grundregel vernachlässigt, nämlich: „»Nimm, was der Patient dir bringt.« Das bedeutet für den Therapeuten, daß er lernen muß, mit seinem Patienten in dessen eigener »Sprache« zu kommunizieren, anstatt ihm […] zunächst eine neue Art des Denkens und der Begriffsbildung beizubringen.“5 Mit einem ganz ähnlichen Vorhaben ist in den vergangenen Jahrzehnten die Politik auf ganzer Linie gescheitert. Diesen Schluss wird man ziehen dürfen, wenn man sich die unüberschaubare Zahl an Initiativen vor Augen führt, mit deren Hilfe politische Institutionen vergeblich versuchten, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass und warum Dinge wie die Europäische Union, die Bankenrettung oder transatlantische Freihandelsabkommen zu ihrem Besten sein. Die Bürger empfanden das mehrheitlich als belehrend und unehrlich. Das Scheitern dieser Politik beruht auf zwei fundamentalen Fehlern. Zum einen hat sie versucht, irrationalen Prozessen wie der Angst vor Kontrollverlust, der Abneigung gegenüber Fremden, der Wut auf die Eliten und dergleichen mit rationalen Argumenten zu begegnen. Dass diese nicht verfingen, ist angesichts der völlig unterschiedlichen Ebenen, auf denen gesprochen und gehandelt wurde, überhaupt nicht verwunderlich (Populisten aller Couleurs haben dagegen realisiert, wo und wie das Interesse der Wähler anzusprechen ist, ohne allerdings dieses Verständnis für konstruktive Lösungen einzusetzen.6). Zum anderen haben es die politischen Eliten verabsäumt, das Elektorat zu ermutigen, selbst wesentliche Entwicklungen einzufordern und zu gestalten. Das

4Vgl.

Franco 2017, S. 70. Watzlawick, Die psychotherapeutische Technik des »Umdeutens«, in: Paul Watzlawick/Giorgio Nardone (Hg.), Kurzeittherapie und Wirklichkeit, München/Zürich 2012 (S. 135–145), S. 141. 6Vgl. Ruth Wodak, Politik mit der Angst. Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse, Wien/Hamburg 2016. 5Paul

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führte dazu, dass etwa im Rahmen der EU wichtige Schritte zur europäischen Einigung zwar gesetzt wurden – weil sie aber allesamt top-down implementiert wurden, können sich viele Bürger nicht mit ihnen identifizieren. Nationalen Regierungen, ob populistisch oder nicht, wurde dadurch wiederholt Gelegenheit gegeben, „Brüssel“ als elitären Sündenbock zu inszenieren. Die Geschichtswissenschaft ist drauf und dran, die politischen Fehler der vergangenen Jahrzehnte auf wissenschaftlicher Ebene zu wiederholen: Rationale Argumente für irrationale Motivationen und Veränderungen von oben nach unten, die durch geduldiges Erklären leichter zu schlucken werden sollen. Wie sonst soll denn der Anspruch der Public History verstanden werden „Geschichte fachwissenschaftlich abgesichert und trotzdem für ein wissenschaftlich nicht vorgebildetes Publikum verständlich und gleichzeitig anschaulich zu erzählen, die subjektiven Erfahrungen Einzelner einzubinden, die räumliche Dimension historischer Prozesse zu veranschaulichen, die Bildlichkeit der Geschichte einzubeziehen und schließlich insgesamt die »Geschichte als Raum des kulturellen Gedächtnisses« neu zu konzipieren.“7? Das Vorhaben, „die subjektiven Erfahrungen Einzelner einzubinden“ klingt jedenfalls verdächtig nach der hohlen politischen Phrase „die Sorgen der Bürger ernst nehmen“ zu wollen. Die Politik hat nicht verstanden, dass die Öffentlichkeit ein legitimes Interesse daran hat, nicht bloß verwaltet und belehrt zu werden, sondern Politik selbst zu gestalten. Vor dem Scherbenhaufen dieser Ignoranz, die zur Delegitimation liberaler politischer Institutionen führte, stehen wir heute. Die Geschichtswissenschaft scheint ihrerseits nicht zu verstehen, dass die Öffentlichkeit ein legitimes Interesse hat, Geschichtsbilder zu gestalten und zwar auch dann, wenn diese von der wissenschaftlichen Sichtweise abweichen. Diese Haltung wird bei aller bevormundenden Sorge der Public History um das „wissenschaftlich nicht vorgebildete Publikum“ zur weiteren Delegitimation der Geschichtswissenschaft führen, weil unterschiedliche Öffentlichkeiten stets ihre eigenen Geschichtsbilder gegenüber den von der Wissenschaft vertretenen bevorzugen werden.8 Dieser Tatsache muss die Geschichtswissenschaft Rechnung tragen, indem sie Definitionsmacht von Laien über die Geschichte anerkennt. Was aber, so werden nun viele Historiker fragen, wenn sich die Öffentlichkeit ein Geschichtsbild zimmert, das nicht richtig ist? In dieser Frage mischen sich

7Zündorf

2016. Roy Rosenzweig/David Thelen, The Presence of the Past. Popular Uses of History in American Life, New York 1998, S. 178.

8Vgl.

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berechtigte Sorge über die politische Instrumentalisierung von Geschichte mit wissenschaftlicher Arroganz und Angst vor Kontrollverlust. Zu letzterer braucht hier nicht mehr gesagt zu werden, die Sorge um politische Instrumentalisierung von Geschichtsbildern, die der Konfrontation mit den Fakten nicht standhalten würden, muss aber adressiert werden. Dürfen wir Historiker die Kontrolle über die Geschichte Leuten überlassen, die weder geschichtswissenschaftlich ausgebildet sind, noch sich den Kontrollmechanismen der wissenschaftlichen Gemeinschaft und deren ethischen Ansprüchen unterwerfen? Ich würde mit einer Gegenfrage antworten: Was ist denn die Alternative? Die Geschichtswissenschaft ist doch längst in der Situation eines Steuermannes an Bord eines Schiffes ohne Ruder. Weiter am nutzlosen Steuerrad zu drehen mag die eigene Moral heben; den Kurs des Schiffes wird es nicht ändern. Sobald wir akzeptieren, dass Wind und Wellen die Richtung bestimmen, werden wir Historiker immerhin wieder handlungsfähig. Wenn wir – um die Metapher ein letztes Mal zu bemühen – durch Gewichtsverlagerung und Segeltrimm ein wenig Aktionsraum zurückgewinnen können, sollten wir das auch tun. Darüber, dass die Geschichtswissenschaft jede Hilfe annehmen sollte, die sie bekommen kann (folglich auch die der Psychoanalyse), scheint Einigkeit zu herrschen. Das gilt insbesondere für ein genuin interdisziplinäres Fach wie die Public History: Ihr „fehlen zwar eigenständige methodische Ansätze, was auch zum Vorwurf einer »mangelnden Theoriebildung« führt. Der Mangel kann aber ebenso als Potenzial der Public History verstanden werden, denn er führt zur Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen. Die »Kooperation mit Geschichtstheorie, Historischer Forschung, Kultur- und Medienwissenschaften sowie mit der Didaktik der Geschichte« bietet die Möglichkeit, Geschichtsrepräsentationen aus ganz unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und verschiedene Analyseansätze zu diskutieren.“9 Ja, Theoriebildung und Methoden hängen zusammen – das Fehlen beider ist wesentlich verantwortlich für die anhaltende Orientierungslosigkeit der Public History. Ich habe versucht, mit dem historischen Unbewussten als Grundlage der Geschichtsarbeit eine Theorie der öffentlichen Geschichte zu skizzieren. Die Geschichtsarbeit lässt sich aber auch als genuine Methode einer öffentlichen Geschichte profilieren. Ihre Anwendung würde allerdings dazu führen, dass die Geschichtswissenschaft ihren Anspruch als erklärende Letztinstanz der Narrative über Vergangenheit zugunsten einer bescheideneren Rolle als Ratgeberin

9Zündorf

2016.

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aufgeben muss. Davon, dass dieser Schritt für die posthistoristische Geschichtswissenschaft notwendig ist, bin ich überzeugt. Ich schlage eine methodische Vorgehensweise in zwei Schritten vor: Erstens, eine Analyse der wirkenden Prozesse der Geschichtsarbeit, d. h.: Die Forschung muss danach fragen, auf welche Art und Weise die jeweils vorherrschenden Narrative über Vergangenheit entstehen, welche unbewussten Motive ihnen zugrunde liegen und welche Wege die Geschichtsarbeit genommen hat, um aus dem historischen Unbewussten bewusste Geschichtsbilder zu erzeugen. Dieser Schritt würde, das sei nochmals erwähnt, völlig falsch verstanden werden, betrachtete man ihn als naive Suche nach dem verborgenen eigentlichen Grund der Geschichte. Zweitens, das Durcharbeiten dieser Prozesse, also das bewusst Machen ihres Vorhandenseins und ihrer Wirkungen, sowie der gesellschaftlich produktive Umgang mit dem neuen Bewusstsein. Diese Arbeit muss von der Öffentlichkeit selbst verrichtet werden. Die Rolle des Historikers dabei beschränkt sich auf gezieltes Nachfragen, die Bereitstellung von Fachkenntnissen und Fakten sowie das Angebot ungesättigter Deutungen. Danach, und das müssen die Historiker akzeptieren, ist das Narrativ nicht länger in ihren Händen. Die Rolle der Geschichtswissenschaft im Rahmen der Geschichtsarbeit besteht nicht darin, ein bestimmtes Geschichtsbild zu oktroyieren. Sie besteht aber auch nicht in erster Linie darin – und das ist der Irrweg, den die Public History bisher verfolgt – zu erklären und zu überzeugen. Aufgabe der Geschichtswissenschaft für eine öffentliche Geschichte ist, mäeutische Fragen zu stellen, nicht Lehrerin, sondern Lernhelferin zu sein. So paradox es auch wirken mag: Allein durch diesen Wechsel zu einer scheinbar weniger einflussreichen Rolle kann die Geschichtswissenschaft ihren Platz im Diskurs über Geschichte wiederfinden, denn dieser Diskurs wird nun einmal innerhalb demokratischer Öffentlichkeiten geführt, die sich ihre Geschichtsbilder nicht diktieren lassen. Die Geschichtswissenschaft hat darum die Wahl, entweder den Vormund der Geschichte spielen zu wollen, was ihr nur noch im Rahmen einer segmentierten Fachöffentlichkeit und ohne Einfluss auf den gesamtgesellschaftlichen Diskurs über Vergangenheit gelingen kann, oder zum Geburtshelfer einer öffentlichen Geschichte zu werden. Wie schon im Rahmen der Theoriebildung orientiere ich mich auch bei der Beschreibung der Geschichtsarbeit als Methode an psychoanalytischen Konzepten. Dazu sei abermals gesagt, dass es dabei um eine bloße heuristische Handreichung geht – ähnlich wie in der Formierungsphase der Oral History. Die Geschichtsarbeit als Methode hat nicht das Ziel, irgendetwas oder irgendjemanden heilen zu wollen, sie positioniert sich nicht im psychotherapeutischen

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Schulenstreit oder erhebt den Anspruch, ein therapeutisches System durch simple Analogie auf den Bereich der Geschichte übertragen zu wollen. Weder betreibt sie Kurpfuscherei, noch steht sie in der Tradition pseudowissenschaftlicher Esoterik im Stile des kollektiven Unbewussten bei C. G. Jung. Als geschichtlicher Ersatzmythos für den quellenpositivistisch motivierten Wahrheitsanspruch des Historismus taugt sie erst recht nicht. Wer hofft, hinter dem Bewussten endlich historische Gewissheiten finden zu können, wird also bitter enttäuscht werden. Die Geschichtsarbeit dient nicht der Wahrheitsfindung. Sie ist einerseits eine Theorie des historischen Unbewussten und andererseits eine geschichtswissenschaftliche Methode zur Interaktion von professionellen Historikern mit historisch interessierten Öffentlichkeiten. Wie große diese Öffentlichkeit ist – eine Familie, eine Dorfgemeinschaft, eine Nation – ist dabei zunächst einmal unerheblich. Die theoretischen Rahmenbedingungen und einzelnen methodischen Schritte lassen sich bei der Planung eines lokalen Museums ebenso einsetzen wie bei der eines nationalen Gedächtnisortes. Ist die jeweilige Öffentlichkeit zu groß, als dass alle ihre Mitglieder unmittelbar angesprochen werden könnten, muss der Prozess durch die Auswahl passender Kommunikationsmittel und von Repräsentanten, die unterschiedliche Teilöffentlichkeiten vertreten können, modifiziert werden. Die Geschichtsarbeit bedient sich psychoanalytischer Konzepte und psychotherapeutischen Vokabulars als gedankliche Stütze. Als Modell für Vorgänge, mit denen sich die Geschichtswissenschaft bisher fast gar nicht auseinandergesetzt hat, zeigt die Geschichtsarbeit Vorgehensweisen auf, mit deren Hilfe die Geschichtswissenschaft ihr Erkenntnisinteresse und ihren Handlungsspielraum auf Bereiche jenseits des Geschichtsbewusstseins ausweiten kann. Sie kann, weil sie ein theoretisches Verständnis des öffentlichen Bedürfnisses nach Geschichte bietet, professionelle Historiker und historisch interessierte Öffentlichkeit näher zusammenbringen und dadurch die Stimme der Geschichtswissenschaft im historischen Diskurs wieder hörbar machen. Wie genau, so fragte Barbara Franco, können nicht-hierarchische, an den Bedürfnissen der Öffentlichkeit orientierte Methoden erfolgreich mit wissenschaftlichen Standards vereint werden um eine historische Zusammenarbeit zu etablieren, die dezentraler und kollaborativer ist als die gegenwärtige Praxis der Public History?10 Diese Frage soll die Geschichtsarbeit als Methode beantworten.

10Vgl.

Franco 2017, S. 84.

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9.1 Analyse Wie kann eine Analyse der Prozesse der Geschichtsarbeit erfolgen? Wenn wir uns vor Augen halten, dass es sich dabei um eine Methode für die öffentliche Geschichte handelt wird klar, dass zunächst die Öffentlichkeit bestimmt werden muss, mit der interagiert werden soll. Die erste Frage dabei lautet: Wer hat überhaupt Anteil an der jeweiligen Öffentlichkeit, wessen Äußerungen oder Handlungen fließen in die diskursbildende Summe der Äußerungen oder Handlungen ein? Das wird häufig nur näherungsweise zu bestimmen sein. Öffentlichkeit als Matrix der Geschichtsarbeit wird durch gemeinsame Teilhabe von Subjekten an medialen Prozessen konstituiert, die Vorstellungen über Vergangenheit zum Thema haben. Medial meint in diesem Zusammenhang nicht bloß die Übermittlung und Rezeption intentionaler Botschaften, sondern „alle Funktionen kultureller Praktiken und Objekte, die von Subjekten genutzt werden, um Informationen über Alterität zu gewinnen oder an sie zu richten.“11 Ob es sich dabei um Teile der Alterität handelt, die selbst Subjekte sind oder nicht, spielt für die Funktionsweise von Medien an sich keine Rolle. Diese Unterscheidung ist aber das entscheidende Kriterium für das Bestehen von Öffentlichkeit: Wenn unterschiedliche Subjekte einander als Teil ihrer jeweiligen Alterität wahrnehmen, anerkennen und sich so zueinander in Bezug setzen, entstehen Öffentlichkeiten. Daraus folgt, dass Partizipation an der öffentlichen Sphäre immer dann gegeben ist, wenn ein Subjekt andere sowohl wahrnimmt, als auch von ihnen wahrgenommen wird. Öffentliche Teilhabe kann nach dieser Sichtweise nicht inhärente Qualität eines Individuums oder eines bestimmten Gesellschaftssystems sein, die unabhängig vom Verhältnis zu anderen entweder gegeben ist oder nicht, sondern ist situativ zu beurteilen. Zu einer interaktionsfähigen Öffentlichkeit, die in der Lage ist, medial vermittelte Anschauungen zu verhandeln, gemeinschaftlichen Willen auszudrücken und Gestaltungsmacht auszuüben, ist eine Form längerfristiger medialer Beziehungen zwischen Subjekten nötig, die jedenfalls lange genug stabil sein müssen, um die konstitutive Interaktion zu ermöglichen. Die bloße Tatsache, dass Subjekte eine Öffentlichkeit bilden, sagt per se nichts darüber aus, ob es sich dabei um den freiwilligen und selbstbestimmten Austausch von Bürgern, die zufällige Anwesenheit am selben physischen oder virtuellen Ort, oder der vermeintlich nur auf Zeugenschaft beschränkten Funktion der

11Tschiggerl/Walach/Zahlmann

2018, S. 81.

9.1 Analyse

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zum Publikum versammelten Menge handelt. All diese Konstellationen (und noch mehr darüber hinaus) können Öffentlichkeiten darstellen. Innerhalb einer größeren öffentlichen Sphäre können Teilöffentlichkeiten bestehen, die etwa durch soziale Merkmale (wie Alter, Geschlecht, Ethnie, politische Überzeugungen, etc.), Arten der Partizipation (Themenführerschaft, Mitsprache, Zeugenschaft; gleichberechtigt/durch Machtgefälle geprägt, online/ offline, konform/nicht konform, etc.) oder andere Distinktionsmerkmale unterschieden sein können. Dazu kommt, dass keine Öffentlichkeit ein geschlossenes System bildet. Eine Öffentlichkeit zu definieren und als solche anzusprechen ist daher immer das Ergebnis heuristischer Verallgemeinerungen. Die Definition von Öffentlichkeiten im Rahmen der Geschichtsarbeit sollte schon allein deshalb problembezogen erfolgen. Dabei gilt es, pragmatische Fragen zu stellen: Wem ist es überhaupt möglich, zu partizipieren? Wen kann ich als Historiker ansprechen? Wer ist bereit, meine Mitarbeit zu akzeptieren? Neben technischen Fragen wie Zugang zu Kommunikationsmitteln, gemeinsamer Sprache und anderen Rahmenbedingungen der Partizipation geht es also in erster Linie um die Frage, wessen Teilhabe als legitim erachtet wird. Als Faustregel zu ihrer Beantwortung mag dienen: Wer betroffen ist, soll mitbestimmen. Wenn die Grenzen der jeweiligen Öffentlichkeit abgesteckt sind, ist die Frage zu beantworten, ob die zu verhandelnde historische Fragestellung von außen an sie herangetragen wird, oder dort bereits Thema, vielleicht sogar konstitutives Motiv darstellt. Im ersten Fall ist es Aufgabe des Historikers, ein Problembewusstsein zu schaffen. Mittel dazu können beispielsweise Ausstellungen, Vorträge, Podiumsdiskussionen oder dergleichen sein. Ob eine solche Intervention das gewünschte Ergebnis erzielt, hängt wesentlich davon ab, ob jene Funktionen von Geschichte angesprochen werden können, die Laien häufig interessiert: „Identity, family history, and personal experience are […] major reasons for participation.“12 Der Versuch, Interesse für ein historische Thema zu wecken, stellt bereits einen Vorgriff auf spätere Phasen der Analyse dar, muss doch der Historiker dabei unbewusste Motive, die für die jeweilige Öffentlichkeit relevant sind, antizipieren. Der nächste Schritt folgt einer einfachen Handlungsanweisung, ist aber in der Umsetzung schwierig. Die Anweisung stammt vom „Paten“ der Oral History, Studs Terkel und sie lautet: „»Listen… listen… listen… listen.« And if you do,

12Cauvin

2016, S. 217.

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people will talk. Theyʼ ll alwalys talk.“13 Dieser Rat ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn persönliche Gespräche und Interviews spielen in jeder Phase der Analyse eine wichtige Rolle. Konkret muss es nun darum gehen, zu erfassen, was die beteiligten Personen zu der jeweiligen Fragestellung zu sagen haben. Dazu scheint mir ein Methodenmix aus narrativen Interviews, Leitfrageninterviews, Fragebogen zur quantitativen Datenerhebung und historischer Diskursanalyse (sofern eine veröffentlichte Debatte zum Thema greifbar ist) gut geeignet. Die ganze Palette der üblichen Erhebungs- und Analysemethoden, mit denen Historiker arbeiten (inhaltsanalytische und quantitative Verfahren wie Close und Distant Reading, vergleichende Analysen, diskursanalytische Techniken, etc.) können dabei je nach Problemstellung zum Einsatz kommen. Man könnte die Geschichtsarbeit daher als Metamethode bezeichnen, die dazu dient, andere Methoden in bestimmter Art und Weise, also mit Bezug auf eine spezifische Forschungssituation auszuwählen und zielgerichtet einzusetzen. Ist die jeweilige Öffentlichkeit zu groß, um jede einzelne Person zu befragen, sollte nach Möglichkeit eine Stichprobe befragt werden, die repräsentativ für die beteiligten Teilöffentlichkeiten ist. Bei der Durchführung der jeweiligen Forschungsmethoden soll nicht die spätere Frage nach den Prozessen der Geschichtsarbeit gestellt werden, sondern solche Fragen, die an den Lebenswelten der betroffenen Personen anknüpfen. Gesprächspartner zu direkt mit der Forschungsfrage zu konfrontieren ist ein häufiger methodischer Fehler, den wir aus Oral History-Interviews kennen. Er führt meist zu Verwirrung und wirkt sich negativ auf den Erzählfluss aus. Erinnern wir uns: Das Interesse von Historikern und Öffentlichkeit ist selten deckungsgleich. Ein geeigneter Stimulus muss aber in erster Linie für die Befragten interessant und anregend sein, nicht für den Fragenden. Auch Widerstände gegen bestimmte Fragen müssen antizipiert und vermieden werden. In einer Befragung über die Auswirkungen von umstrittenen Gemeindezusammenlegungen ging z. B. Fritz Schütze so vor: Anstatt nach der Zusammenlegung selbst zu fragen, die ein stark ideologisch aufgeladenes Thema war, zu dem sich verfestigte Fronten gebildet hatten, fragte er nach der Namenswahl für die neu entstandene Gemeinde.14 Dabei kam im Lauf der Gespräche die Rede natürlich

13Studs

Terkel/Tony Parker, Interviewing an Interviewer, in: Robert Perks/Alistair Thomason (Hg.), The Oral History Reader, New York 2006 (S. 123–128), S. 124. 14Vgl. Fritz Schütze, Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung von kommunalen Machtstrukturen, Bielefeld 1977 (zit. n. Ivonne Küsters, Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 47.

9.1 Analyse

167

auf die Gemeindezusammenlegung – aber zu Bedingungen die von den Erzählern selbst festgelegt wurden. Erhebung und Analyse sollten so ergebnisoffen wie nur irgend möglich erfolgen. Wenngleich Freuds Idealvorstellung der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“15 des Analytikers, also der von Vorannahmen vollkommen freien Aufnahme des Gesagten, die Fiktion der Wahrnehmung ohne Erkennen nicht erfüllbar ist, sollten sich Historiker bei der Geschichtsarbeit zunächst nach Möglichkeit von Bewertungen, Kontextualisierungen und (zu) gezielten Nachfragen fernhalten. Diese Empfehlung spreche ich nicht aus, weil ich glaube, dass Historiker sich solcherart zu quasi-objektiven Instanzen machen könnten – das ist unmöglich – sondern, weil allzu fokussierte Forschung gleich zu Beginn der Analyse den Möglichkeitsraum der Narrative zu sehr beschneiden würde. Valerie Yow bot dazu ein Beispiel aus eigener (Interview-)Erfahrung: „NARRATOR: My mother was active. She received several medals for bravery from the Irish government. INTERVIEWER: Very good! And how about your father?“16 Die Interviewerin, die ihr Interesse bereits auf den Vater eingeengt hatte, schnitt hier einen vielversprechenden Erzählstrang ab. Das ist sicherlich ein extremes Beispiel, doch die Gefahr, die eigene Sichtweise so zu privilegieren, dass andere dadurch marginalisiert werden, ist stets gegeben. Ihr kann nur begegnet werden, indem Forscher sich zunächst möglichst aller (Vor-)Urteile enthalten. Diese Vorgehensweise ist der zentrale Anspruch der in den Sozialwissenschaften verbreiteten Grounded Theory. Was kann die G ­ eschichtswissenschaft von dieser Methode lernen, um Geschichtsarbeit zu leisten? Zunächst einmal ist bemerkenswert, wie viel Grounded Theory und freudsche Psychoanalyse gemein­sam haben. Mir ist keine systematische Auseinandersetzung der beiden Methoden miteinander bekannt, aber sie haben für ähnliche Problemstellungen ähnliche Lösungen gefunden. Die entscheidende Frage lautet: Wie kann ein ­präjudizierender Blick auf den Untersuchungsgegenstand vermieden werden? Die Antwort der Psychoanalyse liegt in der Forderung nach „gleichschwebender Aufmerksamkeit“, die der Grounded Theory in der Umkehrung des traditionell deduktiven Verhältnisses von Theorie und Methode. Bei Anwendung der ­Grounded Theory werden theoretische Annahmen aus der Betrachtung der u­ ntersuchten Fälle entwickelt

15Vgl. 16Yow

Laplanche/Pontalis 1973, S. 169. 2016, S. 158.

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9  Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte

und nicht umgekehrt. Sie versteht sich als „strategische Methode zur Theoriegenerierung“17. Beiden Methoden haftet das implizite Versprechen an, die Erforschung des Unbewussten bzw. der sozialen Verhältnisse unaxiomatisch und objektiv betreiben zu können. Das ist zweifellos unmöglich. Schon die jeweilige Fragestellung bzw. das Interesse am Untersuchungsgebiet können nicht ohne theoretische Voraussetzung sein: „Die Theorie bestimmt, was wir tun können.“18, wie Paul Watzlawick feststellte. Am elaborierten psychoanalytischen Theoriegebäude, auf dem die Anwendung der Psychoanalyse als Methode beruht, wird das ebenso augenfällig wie an der Forderung, Theorie aus systematisch gewonnenen Daten zu entwickeln19, was eben ein wissenschaftliches System voraussetzt, das seinerseits auf einer ganzen Reihe theoretischer Vorannahmen beruht. Die unerfüllbare Forderung einer nicht axiomatischen Theoriebildung wird allerdings sofort anwendbar und praxistauglich, wenn man den Begriff „Theorie“ durch „Hypothese“ ersetzt. Forschung, insbesondere narrative Interviews, die nicht hypothesengeleitet ist, gehören zum geschichtswissenschaftlichen Alltagsgeschäft. Oftmals, insbesondere bei vielen studentischen Arbeiten, würde man sich sogar eine stärkere Leithypothese wünschen, die das Forschungsinteresse stärker profilieren und zuspitzen würde. In der ersten Phase der Anwendung von Geschichtsarbeit als Methode ist davon jedoch abzuraten, weil die Interessen von professionellen Historikern und der Öffentlichkeit an der Geschichte so weit auseinanderklaffen. Anstatt nun das öffentliche Interesse zu antizipieren, sollten Historiker bei der Anwendung der Geschichtsarbeit in einem ersten Schritt möglichst hypothesenfrei erfassen, worin das Interesse der Öffentlichkeit liegt. Diese Hypothesenfreiheit bedeutet nicht, dass der Erhebung gar keine theoretischen Vorannahmen oder durch Erfahrung und Kultur geprägte Sichtweisen zugrunde liegen, sondern nur, dass im Rahmen der Erhebung die gleich anschließend genannten Fragen zu wirkenden Prozessen der Geschichtsarbeit noch nicht beantwortet werden. Die so erhobenen Aussagen werden in einem zweiten Schritt herangezogen, um eine Arbeitshypothese zu bilden, die Prozesse der Geschichtsarbeit zum Gegenstand hat.

17Barney G. Glaser/Anselm L. Strauss, Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern 2005, S. 31 (Hervorhebung im Original). 18Watzlawick 2012, S. 137. 19Vgl. Glaser/Strauss 2005, S. 11.

9.1 Analyse

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Die Fragen, die dazu beantwortet werden müssen, lauten: Welche Prozesse der Geschichtsarbeit (Verschiebung, Verdichtung, Figuration) haben welchen Anteil an der Produktion welcher Geschichtsbilder und wie drücken sie sich aus? Sind die Antworten auf diese Fragen für alle Teilöffentlichen gleich? Falls nicht, wie unterscheiden sie sich? Auf welche unbewussten Motive (Wunsch nach Identität, Schamkonflikte, Schuldgefühle, etc.) könnten diese Prozesse verweisen? Sind all diese Fragen vorläufig beantwortet und zu einer Arbeitshypothese zusammengeführt, muss erneut mit den zuvor Befragten gesprochen werden, nun aber mit dem klaren Vorsatz, die Arbeitshypothese zu überprüfen. Während Forscher sich in der ersten Phase der Befragungen zu starker Fokussierung enthalten sollten, dient diese zweite Erhebung ausdrücklich auch dem exmanenten Nachfragen mit dem Ziel, das Gespräch auf das Forschungsinteresse zu lenken. Aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse kann es auch geraten sein, Teilöffentlichkeiten neu zu definieren, also – in den Begrifflichkeiten der Grounded Theory gesprochen – „theoretisches Sampling“ zu betreiben und die Frage zu stellen: „welchen Gruppen oder Untergruppen wendet man sich […] als nächstes zu? Und mit welcher theoretischen Absicht?“20 Durch diese Anpassungen an den nach der ersten Erhebungsphase entwickelten Erkenntnisstand erhält der Analyseprozess hermeneutische Qualitäten.21 Der Zweck dieses Nachfragens, insbesondere sofern im eigentlichen Wortsinne Personen und nicht andere Quellen „befragt“ werden, sollte offen kommuniziert werden, damit die Gesprächspartner nicht den Eindruck erhalten, im Rahmen der ersten Erhebungsphase unzulängliche Antworten gegeben, also „versagt“ zu haben: „Wir hatten ja schon vor unserem letzten Treffen vereinbart, noch einmal über das Thema zu sprechen. Bei unserem vorigen Gespräch haben sich einige Dinge ergeben, die ich besonders interessant finde, aber noch nicht so sehr im Mittelpunkt gestanden hatten. Wenn es Ihnen recht ist, würde ich heute gerne mit Ihnen über diese Dinge sprechen. Das ist wichtig für mich, denn ich möchte ganz sicher sein, Sie auch richtig zu verstehen.“. Wiederum gilt, dass die eigene Forschungsfrage in den meisten Fällen keinen geeigneten Erzählstimulus darstellt. Denken wir nochmals an das im Kapitel „Gesellschaft ohne Geschichte“ genannte Beispiel des Umgangs mit umstrittenen Kriegerdenkmälern. Wenn ein Forscher etwa einen Schamkonflikt als Motiv für

20Glaser/Strauss

2005, S. 55. Jan Kruse, Qualitative Interviewforschung. Ein integrativer Ansatz, Weinheim/Basel 2014, S. 48.

21Vgl.

170

9  Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte

Verschiebungen in der Geschichtsarbeit vermutet, sollte er oder sie nicht etwa fragen: „Schämen Sie sich dafür, was Ihr Großvater im Krieg getan hat?“, sondern besser: „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie daran denken, dass andere Menschen erfahren, was Ihr Großvater im Krieg getan hat?“. Stefan Hammel hat für die Klassifizierung suggestiver Bedeutungsangebote (wer nun vor dem Begriff der Suggestion zurückschreckt: um nichts anderes handelt es sich selbst bei den unschuldigsten Fragen) in psychotherapeutischen Narrativen vier Typen definiert. Hammel unterscheidet zwischen Suggestion durch Deklaration, per Direktive, durch Implikation und als Frage.22 Auf unser Beispiel bezogen könnten diese Typen etwa so ausgedrückt werden: 1. Deklaration: „Bestimmt schämen Sie sich, wenn Sie daran denken, dass andere Menschen erfahren, was Ihr Großvater im Krieg getan hat.“ 2. Direktive: „Schämen Sie sich…!“ 3. Implikation: „Wenn Sie daran denken, dass… fühlen Sie sich vielleicht, als würde man mit dem Finger auf Sie zeigen.“ 4. Frage: „Wie fühlen Sie sich, wenn Sie daran denken, dass…?“ Wir sehen, dass nur die Suggestion als Frage dem Erzähler die Möglichkeit gibt, unsere Annahme, er oder sie würde sich schämen, gar nicht zu beachten und stattdessen eine gänzlich andere Deutung anzubieten. Für die Analyse der Geschichtsarbeit ist das außerordentlich bedeutsam. Die Frage ist unter den vier von Hammel genannten Typen deshalb klar zu bevorzugen. Im Rahmen einer Therapie mögen konfrontativere Zugänge in vielen Situationen besser geeignet sein, aber uns geht es nicht um Heilung, sondern darum, unsere Arbeitshypothese zu überprüfen. Zeigt sich, dass die Annahme von Schamgefühlen als Motiv nicht haltbar ist, muss die Hypothese verworfen oder modifiziert werden. Während in der ersten Erhebungsphase quantitative oder diskursanalytische Verfahren eine wertvolle Ergänzung zu narrativen Interviews darstellen, oder diese ganz ersetzen können, stellen in der Phase von Nachfragen zur Überprüfung der Arbeitshypothese qualitative Interviews ein unverzichtbares Korrektiv dar. Ziel der Geschichtsarbeit als Methode ist schließlich, die Sichtweise der Öffentlichkeit zu erfassen und einzubinden. Die Modifizierung der Arbeitshypothese und die Kontrollerhebung muss daher so lang wiederholt werden, bis die

22Vgl.

Stefan Hammel, Handbuch des therapeutischen Erzählens. Geschichten und Metaphern in Psychotherapie, Kinder- und Familientherapie, Heilkunde, Coaching und Supervision, Stuttgart 2009, S. 65–272.

9.2 Durcharbeiten

171

Hypothese nicht länger in Widerspruch zu den Ergebnissen der Befragung steht oder inkommensurable Ergebnisse beinhaltet. Bei der Anwendung dieser Analyse als elaborierter Metamethode können Historiker ihre ganze Erfahrung im Umgang mit den ihnen vertrauten Methoden ausspielen. Das Neue besteht in erster Linie in der Zielrichtung der Analyse, plausible Erkenntnisse über wirkende Prozesse der Geschichtsarbeit zu erlangen. Neu sind also die theoretischen Rahmenbedingungen der Analyse, die sich nun auch auf das erstreckt, was zunächst nicht gesagt werden konnte, weil es nicht bewusst war. Das verlangt von Historikern weniger eine Änderung ihrer Arbeitsweise als vielmehr ihrer Denkweise. Hier nochmals die einzelnen Schritte der Analyse zusammengefasst: 1. Gesamtöffentlichkeit abgrenzen → 2. Teilöffentlichkeiten definieren → 3. Hypothesenfreie Erhebung durchführen → 4. Arbeitshypothese zu wirkenden Prozessen entwickeln → 5. Kontrollerhebung durchführen (falls erfolgreich → weiter zum Durcharbeiten, falls nicht → zurück zu Schritt 4)

9.2 Durcharbeiten Die Analyse der Geschichtsarbeit und ihrer Formen hat uns zwar mit einem neuen Kontext – der Erforschung des historischen Unbewussten – konfrontiert, uns aber noch nicht auf gänzlich unbekanntes Terrain geführt. Anders das Durcharbeiten als zweiter Teil der Geschichtsarbeit als Methode. Die Legitimität des öffentlichen Interesses an Geschichte endet nicht bei der Wahrnehmung ihrer Motive durch professionelle Historiker. Sie erstreckt sich auch auf das Recht, Geschichte zu machen, also Narrative über Vergangenheit zu entwickeln, die ihre Bedürfnisse erfüllen. Aufgabe des Historikers dabei ist, als Ratgeber dafür zu sorgen, dass diese Narrative plausibel sind, also im Einklang mit den Fakten stehen und sich daher gegen Falsifikationsversuche als widerstandsfähig erweisen. Es wäre ein Bärendienst für die jeweilige Öffentlichkeit, sie nicht darauf hinzuweisen, wenn das von ihr entwickelte Narrativ die Konfrontation mit den Fakten nicht überstehen kann oder den Boden wissenschaftlicher Überprüfbarkeit ganz verlässt und zum Dogma oder zur Verschwörungstheorie gerät.

172

9  Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte

Darüber hinaus kann der Historiker als unparteiischer Experte für Geschichtswissenschaft eine ausgleichende, moderierende Funktion einnehmen, in der er oder sie zum Beispiel faktische Unklarheiten aus dem Weg räumen kann. Das ist wichtig, weil es in dieser Phase um das gemeinsame Durcharbeiten der unbewussten Motive der Geschichtsarbeit und der individuellen Bedeutungszuweisung an sie geht, was sozialen Konfliktstoff birgt. Wenn wir eine Öffentlichkeit als Summe der gegenseitigen Wahrnehmungen historischer Subjekte betrachten, wird klar, dass die Trennlinien der Geschichtsarbeit als Methode nicht (nur) zwischen professionellen Historikern und Öffentlichkeit, sondern auch innerhalb der jeweiligen Öffentlichkeit selbst (sowie auch innerhalb der geschichtswissenschaftlichen Gemeinschaft) verlaufen. Das Durcharbeiten unbewusster historischer Motive ist daher die Leistung von Subjekten im Austausch miteinander. Diese soziale Dimension hat der Begriff des Durcharbeitens bei Freud nicht. Die Beziehung des Individuums zu seiner sozialen Umwelt wird in klassischer Psychoanalyse, anders als bei stärker systemtheoretisch fundierten Ansätzen, stark virtualisiert, indem sie in die biografische Vergangenheit verwiesen und über formalisierte Modelle (Ödipuskonflikt, Elektrakonflikt, etc.) verhandelt wird. Die soziale Beziehung kann dabei auf ihre Funktion für die psychische Entwicklung reduziert werden. Unter Durcharbeiten versteht die Psychoanalyse folglich einen „Vorgang, durch den die Analyse eine Deutung integriert und die Widerstände überwindet, die sie hervorruft. Es handelt sich dabei um eine Form psychischer Arbeit, die es dem Subjekt erlaubt, bestimmte verdrängte Elemente zu akzeptieren und sich von der Bemächtigung der Wiederholungsmechanismen zu befreien.“23 Beim Durcharbeiten der Motive des historischen Unbewussten im Rahmen der Geschichtsarbeit muss sich das Subjekt jedoch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass Geschichte eine soziale Kategorie ist. Das subjektive Durcharbeiten muss sich folglich in Beziehung zur Arbeit anderer Subjekte setzen. Es gilt dabei, Konsens herzustellen oder Unvereinbarkeiten zu definieren, ein schwieriger Prozess, der Potenzial für starke soziale Reibungshitze beinhaltet. Die Rolle des Historikers in diesem Prozess ähnelt trotz aller gerade skizzierten Unterschiede der des Analytikers, wie sie von Jean Laplanche und Jean-­Bertrand Pontalis beschrieben wurde: „Korrelativ wird, vom technischen Standpunkt aus gesehen, das Durcharbeiten durch Deutungen des Analytikers begünstigt, die

23Laplanche/Pontalis

1973, S. 123.

173

9.2 Durcharbeiten

besonders darin bestehen, zu zeigen, wie die infrage kommenden Bedeutungen sich in verschiedenen Zusammenhängen wiederfinden.“24 Kommen wir nochmals auf das Beispiel eines Kriegerdenkmals zurück, bei dem zwei Prozesse der Geschichtsarbeit aufeinander prallen: Verschiebung (die sich in der Verehrung der Vorfahren als Helden ausdrückt) und Verdichtung (die im Wunsch nach historischer „Gerechtigkeit“ für die Opfer zum Ausdruck kommt). Wie soll ein Historiker dabei konkret vorgehen? Um das Durcharbeiten zu strukturieren, soll er oder sie eine Reihe ungesättigter Deutungen vornehmen, die dem aus der Analyse gewonnenen Kenntnisstand entsprechen. Dabei sollten die zugrunde liegenden Motive nicht direkt angesprochen werden. Eine derart konfrontative Vorgehensweise mag in der Therapie angemessen sein. Dem Durcharbeiten als sozialer Prozess zur Erarbeitung gemeinschaftlicher Geschichtsbilder kann sie aber kaum förderlich sein. Eine effektive Deutung muss allen Beteiligten die Gelegenheit geben, die Motive und Prozesse der Geschichtsarbeit durchzuarbeiten, ohne dabei das Gesicht zu verlieren oder durch die Offenlegung intimer Vorgänge des Unbewussten beschämt zu werden. Eine Deutung, die offen auf Schuldgefühle, Schamkonflikte oder Hass hinweist, wird allenfalls dazu führen, diese Motive und Mechanismen zu verstärken. Deshalb sollte ein Historiker die Phase des Durcharbeitens nicht durch Erklärungen wie „Viele hier schämen sich dafür, was ihre Eltern und Großeltern im Krieg getan haben“ beginnen. Eine geeigneter Deutung wäre zum Beispiel: „Viele hier möchten ihre Eltern und Großeltern in liebender Erinnerung behalten. Die Tatsache, dass im Krieg schreckliche Dinge geschehen sind, macht das sehr schwierig. Wir wollen gemeinsam überlegen, wie wir das trotzdem ermöglichen können“ Dadurch wird klar, was die Interessenlage einer bestimmten Teilöffentlichkeit ist. Die Legitimität dieser Interessen wird betont und die übrige Öffentlichkeit implizit aufgefordert, bei der Bewältigung einer schwierigen Aufgabe mitzuhelfen, anstatt sich konfrontativ zu verhalten und die existierenden Gräben dadurch zu vertiefen. Die Scham vor der Scham kann so vermieden werden. Auch die Bedürfnisse und Interessen anderer Teilöffentlichkeiten sollen in dieser Art und Weise vorgestellt werden. Im konkreten Fall etwa: „Viele haben das Gefühle, nicht zur Ruhe kommen zu können, wenn wir uns als Gemeinschaft nicht auch mit dem Leid auseinandersetzen, das ihre Eltern und Großeltern verursacht haben.“.

24Laplanche/Pontalis

1973, S. 123.

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9  Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte

Danach sollte möglichst allen Beteiligten klar sein, welche Sichtweisen existieren, dass sie alle legitim und warum sie bedeutsam sind. Ehe über die Deutungen diskutiert werden kann, müssen Rahmenbedingungen festgelegt werden, die den Prozess vom unproduktiven Muster gegenseitiger Schuldzuweisungen emanzipieren und verdeutlichen, dass jeder Beitrag zur Debatte einen Lösungsansatz beinhalten oder voranbringen soll. Im Idealfall wird nun über die Vergangenheit gesprochen, aber die Zukunft adressiert. Findet die Debatte virtualisiert, also über massenmediale Vermittlung statt, muss diese Rahmensetzung in Zusammenarbeit mit journalistischen „Gatekeepern“ wie (Chef-)Redakteuren, Kommentatoren und Forenmoderatoren erfolgen. Ist die jeweilige Öffentlichkeit klein genug, um im Rahmen von Versammlungen angesprochen zu werden (die auch in virtualisierten Debatten eine wichtige repräsentative Rolle spielen können), haben Historiker mehr Möglichkeiten, unmittelbar in den Verlauf der Diskussion einzugreifen. Doch auch in diesem Fall kann es sich wohl als nützlich erweisen, einerseits geschulte Mediatoren wie etwa Therapeuten, andererseits anerkannte Autoritäten aus der jeweiligen Gemeinschaft in den Prozess einzubeziehen. In die Debatte sollten die beteiligten Forscher nach Möglichkeit nur dann eingreifen, wenn ihre fachliche Expertise gefragt ist, etwa um Fragen zu historischen Fakten zu beantworten. Die Leitung der Diskussion sollte im Idealfall von den gerade erwähnten Mediatoren übernommen werden, die darin besser ausgebildet und erfahrener sind. Wo das nicht möglich ist, bietet die sozialwissenschaftliche Methode der Gruppendiskussion als Erhebungsverfahren einige Hinweise, die für Historiker leichter umsetzbar sind als gruppentherapeutische Methoden. Es kann außerdem sinnvoll sein, mit Diskussionleitfaden zu arbeiten um nicht den Überblick zu verlieren. Auch dafür bietet die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis bewährte Konzepte.25 Als heuristische Methode für die Leitung von Gruppendiskussionen hat sich bewährt, eine Reihe von Teilnehmerrollen zu unterscheiden. Für den Umgang mit diesen Archetypen lassen sich wenigstens grob skizzierte Strategien beschreiben. Wie etwa soll man mit „Schweigern“ und „Vielrednern“, mit sachkompetenten und weniger informierten, mit emotional stark und weniger stark betroffenen Debattenteilnehmern umgehen? Für all diese Fälle existiert ein Standardrepertoire an Verhaltensweisen und Phrasen, das insbesondere unerfahrenen Diskussionsleitern helfen kann, ihre intuitive Herangehensweise zu

25Vgl.

Kruse 2014, S. 201–202.

9.2 Durcharbeiten

175

ergänzen und zu strukturieren.26 Als Daumenregel mag dienen, dass die Bedürfnisse aller Mitglieder der jeweiligen Öffentlichkeit wichtig für die Erzeugung eines gemeinsamen Geschichtsbildes sind, weshalb auch die Meinung aller gehört werden sollte. Zur Frage, wie offen, bzw. strukturiert die Debatte verlaufen soll, mag eine Gegenüberstellung von Merkmalen der jeweiligen Ausprägungen hilfreich sein:27 Offen

Strukturiert

Suspensive Haltung des Diskussionsleiters – Interventionistische Haltung – engagierte wenig Eingriff in den Verlauf der Debatte Diskussionleitung Initiierung einer selbstläufigen Debatte

Strukturierung auf ein bestimmtes Ziel hin

Offene Fragen bzw. Stimuli

Steuernde Fragen bzw. Stimuli

Immanente Fragen

Exmanente Fragen

Welcher Haltung ein Diskussionsleiter im konkreten Fall zuneigt, muss sicherlich ad hoc entschieden werden. Im Allgemeinen besteht das Ziel der Debatte jedoch nicht wie in der Anwendung als sozialwissenschaftliche Forschungsmethode primär in der Datenerhebung, sondern im Durcharbeiten von Prozessen der Geschichtsarbeit. Diese Leistung kann nur durch die Mitglieder der jeweiligen Öffentlichkeit selbst erfolgen, weshalb es ratsam scheint, sich als Historiker am Pol größtmöglicher Offenheit zu orientieren. Obwohl das primäre Ziel der Debatte nicht die Datenerhebung, sondern die methodisch durchgeführte Geschichtsarbeit ist, müssen im Lauf der Debatte Daten erhoben werden. Findet die Diskussion vor allem im Rahmen von Versammlungen statt, sollten diese für die spätere Auswertung aufgezeichnet und unter Umständen transkribiert werden, geht es hauptsächlich um eine virtualisierte Debatte, ist das nicht im selben Umfang nötig. Nachdem alle möglichen Positionen geäußert, gehört und debattiert wurden, ist die Phase des Durcharbeitens im engeren Sinn abgeschlossen. Nun kommt den Historikern wieder eine aktivere Rolle zu. Es gilt nun, das Gesagte operationalisierbar zu machen, indem es in ein System von Begriffen und Kategorien eingeordnet wird. Das kann etwa im Rahmen einer Inhalts- oder Diskursanalyse erfolgen; am Ende muss eine verwertbare Matrix von Aussagen stehen, die bestimmten ­Vorstellungen über die Funktionen

26Vgl.

Siegfried Lamnek, Gruppendiskussion. Theorie und Praxis, Weinheim/Basel 2005, S. 161–168. 27Vgl. Kruse 2014, S. 199–200.

176

9  Geschichtsarbeit als Methode der öffentlichen Geschichte

von Geschichte entsprechen. Diese manifesten Vorstellungen über Geschichte und den richtigen Umgang mit ihr, die im Rahmen des Durcharbeitens gewonnen wurden, müssen anschließend auf die Prozesse der Geschichtsarbeit zurückgespiegelt werden. Das heißt, dass der ursprünglich Analysevorgang gewissermaßen zurückgespult wird, nur, dass sich die Bedingungen infolge des Durcharbeitens geändert haben. Ein historisches Narrativ, das durch Analyse und Durcharbeiten der unbewussten Motiven der Geschichtsarbeit gewonnen wurde, darf nicht auf der Ebene seiner manifesten Ausprägungen verharren, sondern muss wiederum auf das historische Unbewusste wirken. Nur so kann es das Bedürfnis nach Geschichte befriedigen. Die Aufgabe des Historikers ist nun eine doppelte: Einerseits müssen aus dem Durcharbeiten zentrale Anliegen und Wünsche destilliert werden, andererseits Formen gefunden werden, durch welche diese Motive fähig werden, das Unbewusste anzusprechen. Wäre das entwickelte Narrativ nur intellektuell fassbar, ohne anschlussfähig für die Bedürfnisse des historischen Unbewussten zu sein, wäre nicht viel gewonnen. Wenn also Historiker am Ende des Prozesses der Geschichtsarbeit konkrete Narrative vorschlagen, müssen sie sich einige wichtige Fragen stellen: Befriedigt dieses Narrativ jene unbewussten Wünsche an die Geschichte, die sich zuvor als Mechanismen der Geschichtsarbeit ausgedrückt hatten, z. B. den Wunsch nach Identität, nach Versöhnung, nach einem Ende des Schamgefühls, der Externalisierung von Schuld? Tut es das auf eine Art und Weise, die auch wissenschaftlich vertretbar und plausibel ist? Vereint es die Wünsche möglichst aller Teilöffentlichkeiten, oder schließt sie wenigstens nicht kategorisch aus? Hier fließen also die theoretischen Vorbedingungen wieder ganz deutlich in die methodische Umsetzung ein. Durch diesen Prozess wird die Theorie methodisch auf sich selbst zurückgeworfen. Dieses kybernetische Verhältnis von Theorie und Methode zeigt, dass eines nicht getrennt vom anderen zu denken ist. Die Geschichtsarbeit als Methode ist dann erfolgreich, wenn sie unbewusste Prozesse, die unproduktive Geschichtsbilder erzeugten, identifizieren und durcharbeiten, also kontrolliert ablaufen lassen konnte, sodass sie zu neuen, geeigneteren Ergebnissen führen. Was darunter jeweils zu verstehen ist, kann jenseits der unverzichtbaren Forderung nach guter Geschichtswissenschaft nur aus Sicht einer Öffentlichkeit definiert werden, deren Mitglieder ein Bedürfnis nach guter Geschichte verspüren. Während die Kriterien für gute Wissenschaft (Faktenbasiertheit, grundsätzliche Falsifizierbarkeit bei gleichzeitig hoher Falsifikationsresistenz, intersubjektive Nachvollziehbarkeit) auf allgemein verbindlichen Standards beruhen, ist gute Geschichte schwer zu fassen. Eines scheint jedoch

9.2 Durcharbeiten

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klar: Geschichte ist nur dann gut, wenn sie in der Lage ist, die Wünsche des historischen Unbewussten zu erfüllen. Eine letzte Frage ist schließlich noch zu stellen: Welche konkrete Form soll das durch die Geschichtsarbeit entwickelte Narrativ annehmen? Mit der bloßen Erzeugung eines Narrativs ist die Arbeit ja noch nicht getan. Es muss nun auch sichtbar gemacht, erzählt werden – ob es sich bei dieser Erzählung etwa um ein Denkmal, ein Buch, ein Theaterstück, eine Ausstellung oder gar ein ganzes Museum handelt, hängt von der konkreten Problemstellung ab. Auch in dieser Phase muss die Öffentlichkeit eingebunden werden, indem sie Gelegenheit erhält, Vorschläge zu machen oder bestimmte Aspekte ganz zu verwerfen. All das ist im Allgemeinen umso leichter zu bewerkstelligen, je kleiner die betroffene Öffentlichkeit ist. Doch selbst im nationalen Rahmen ist eine solche Vorgehensweise möglich, etwa, indem man politischen Parteien, NGOs, Vereinen und Privatpersonen die Möglichkeit gibt, unterschiedliche Vorschläge zu begutachten und Änderungsvorschläge einzubringen, bzw. eigene Vorschläge zu machen, Umfragen durchführt, zu Versammlungen einlädt oder Gremien im Sinne von Bürger- und Zukunftsräten mit den jeweiligen Vorschlägen befasst. Das Ziel der Geschichtsarbeit als Methode besteht schließlich darin, von der Gegenwart aus Vorstellungen über Vergangenheit zu entwickeln, die einer gemeinsamen Zukunft dienen sollen. Hier nochmals die einzelnen Schritte des Durcharbeitens zusammengefasst: 1. Ungesättigte Deutungen der Analyseergebnisse anbieten → 2. Öffentliche Debatten begleiten und dokumentieren → 3. Aufzeichnungen untersuchen und operationalisierbare Ergebnisse erzeugen → 4. Narrative entwickeln → 5. Narrative erzählen

Nachwort

In einem Gymnasium im 19. Wiener Gemeindebezirk befindet sich ein bemerkenswertes Denkmal. Auf den ersten Blick erscheint es belanglos genug: eine Erinnerung für die in den Weltkriegen gefallenen Schüler und Lehrer der Schule. Ähnliches gibt es tausendfach in Deutschland und Österreich. Bemerkenswert ist dieses spezielle Denkmal, weil es in seiner jetzigen Form ein Narrativ bildet, das am Ende eines Prozesses steht, der mit dem Begriff der Geschichtsarbeit wohl am besten zu fassen ist. In der Schule – das heißt unter ihren Schülern, Schülerinnen, Lehrern und Lehrerinnen – hat ein Umgang mit der Vergangenheit stattgefunden, der, obwohl unsystematisch und ohne theoretischen Kontext ablaufend, durch intuitive Entscheidungen und Fingerspitzengefühl eine gemeinsame Geschichte erzeugt hat, die ganz unterschiedlichen Bedürfnissen des historischen Unbewussten Rechnung trägt. Die Geschichte des Denkmals bis 2010 ist typisch und sie ist deshalb schnell erzählt. 1935 wurde auf Betreiben eines nationalsozialistischen Lehrers in der Schule eine heroisierende Gedenktafel für die im ersten Weltkrieg gefallenen Schulangehörigen angebracht. 1945 sorgte eine Erweiterung des Denkmals dafür, dass nun auch der Verherrlichung des Todes von Schülern und Lehrern im Dienst der Wehrmacht diente. Die Tatsache, dass viele jüdische Angehörige der Schule Opfer des nationalsozialistischen Regimes geworden waren, blieb unerwähnt. Dabei sollte es so lange bleiben, bis vor wenigen Jahren ein Geschichtelehrer, Martin Krist, einen Zettel mit folgendem Text neben das Denkmal klebte: „Die 1935 von Prof. Ernst Peche, einem illegalen Nationalsozialisten und Lehrer des G 19, entworfene und angebrachte Gedenktafel sowie die nach 1945 hinzugefügte Marmorummantelung erinnern in militaristischer Weise an die im Ersten und Zweiten Weltkrieg gefallenen Schüler und Lehrer des G 19.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5

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Nachwort

Der nach 1945 angebrachte Zusatz verschweigt dabei in beschämender Weise die in der Zeit der nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltherrschaft dem NS-Terror zum Opfer gefallenen und ermordeten Lehrer, Schülerinnen und Schüler. Insofern ist diese Gedenktafel und ihre nach 1945 angebrachte Ergänzung auch ein Zeitdokument der in Österreich lange vorherrschenden Verdrängung der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der österreichischen Jüdinnen und Juden in der Zeit des NS-Terrorregimes.“1 Eine Debatte über das Denkmal kam in Gang. Sicher war es respektvoll, legitim und sogar wünschenswert, der getöteten Schüler und Lehrer zu gedenken. Aber konnte man angesichts der unterschiedlichen historischen Kontexte die Toten der beiden Weltkriege gleichsetzen? Und wollte man die vertriebenen und getöteten jüdischen Angehörigen der Schule weiterhin unerwähnt lassen? 2010 wurde das Denkmal einem Entwurf der beiden damaligen Kunststudenten Aldo Ernstbrunner und Stefan Klampfer entsprechend umgestaltet. Die Tafel, die an die Toten des Ersten Weltkriegs erinnerte, wurde aus der Marmorumrandung für die Opfer der Jahre 1939 bis 1945, die Soldaten gewesen waren, entfernt und direkt daneben wieder angebracht. Das Denkmal für die Gefallenen des Zweiten Weltkriegs selbst wurde nicht angetastet. Das entstandene Loch und die nackten Ziegel dahinter zeigen aber, dass hier jahrzehntelang etwas fehlte: Das Gedenken an die 104 von der Schule Vertriebenen, die nun durch ebenso viele senkrechte Striche hinter dem Denkmal repräsentiert werden. Ein Text macht diese Zusammenhänge für Betrachter verständlich. Seine eigentliche Bedeutung erhält das neue Denkmal durch die geschichtspolitische Debatte, die zu seiner Entstehung führte und die Sensibilisierung dafür, dass die Geschichte zwar nicht als Summe des vergangenen Geschehen, sehr wohl jedoch als Narrativ kollektiver Identität verfügbar werden kann. Als Beispiel sei ein Auszug aus dem Essay einer Schülerin zitiert, der sich mit dem Denkmal auseinandersetzt: „Ich weiß noch ganz genau, wie die Gedenktafel früher aussah. Eine weiße Wand, in der Mitte eine Bronzetafel mit einer Marmorumrandung. Nicht besonders aufregend. Aber vielleicht war genau das das Ziel. Man wollte nicht zu viel Aufmerksamkeit der Vergangenheit widmen. Man wollte das Ganze vergessen, den Schmerz für sich behalten und nur in der Gegenwart leben. Man hätte vor einigen Wochen eine Umfrage in der Unterstufe machen sollen, wie viele

1Der

Text und weitere Informationen zum Denkmal sind online verfügbar unter: http:// www.erinnern.at/bundeslaender/wien/schulprojekte/denkmal-ins-neue-licht-gerueckt, zuletzt aufgerufen am 09.07.2018.

Nachwort

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denn wissen, wofür dieses Denkmal im Stiegenaufgang steht. Ich wäre gespannt gewesen, was herausgekommen wäre. Aber nun sieht das ganz anders aus. Aus der Gedenktafel wurde im wahrsten Sinne der Worte eine Gedenkwand.“2 Längst nicht immer nimmt die Geschichtsarbeit einen derart glücklichen Ausgang. Von theoriebasiertem und methodengestütztem Handeln erwarten wir uns, dass es die Ergebnisse von Reflexions- und Handlungszusammenhängen systematisiert, überprüfbar macht und ein Stück weit dem Zufall entreißt. Diesen bescheidenen Anspruch wird man auch an die theoretischen Fragen und methodischen Schritte des historischen Unbewussten und der Geschichtsarbeit stellen dürfen. Wie viel sie jedoch einerseits zur Rehabilitation der Geschichtswissenschaft im Diskurs über Geschichte und andererseits zur Stabilisierung der liberalen Demokratie durch die Erzeugung angemessener historischer Dispositive beitragen kann, ist eine ganz andere Frage. Vielleicht nur wenig – aber damit wäre immerhin schon etwas gewonnen. Vielleicht viel – man kann schließlich hoffen. Beantworten lässt sich die Frage nur, wenn sich die Geschichtswissenschaft auf das historische Unbewusste und die öffentliche Geschichte einlässt.

2 http://www.erinnern.at/bundeslaender/wien/schulprojekte/denkmal-ins-neue-licht-­ gerueckt, zuletzt aufgerufen am 09.07.2018.

Nachweise Quellen Holger Affenbach, Schlafwandelnd in die Schlacht, in: Der Spiegel 39/2012 (S. 50–51). Rudolf Augstein, Die neue Aschwitz-Lüge, in: Der Spiegel 41 (1986) (S. 62–63). Kurt Bauer, Die dunklen Jahre. Politik und Alltag im nationalsozialistischen Österreich 1938–1945, Frankfurt a. M. 2017. Ders., Täter, Opfer, Thesen, Mythen, derStandard.at, 23.11.2017. Online verfügbar unter: http://derstandard.at/2000068369207/Taeter-Opfer-Thesen-Mythen#forumstart, zuletzt aufgerufen am 22.12.2017. Berlusconi si corregge. „Mai difeso Mussolini“, in: La Reppublica, 11.09.2003. Online verfügbar unter: http://www.repubblica.it/2003/i/sezioni/politica/berlugiudici/spectator/spectator.html, zuletzt aufgerufen am 02.03.2018. Georg Bernhard, Marxismus und Klassenkampf, in: Sozialistische Monatshefte 4 (1898) (S. 103–108). Eduard Bernstein, Der Kampf der Sozialdemokratie, in: Die Neue Zeit 16 (1898) (S. 484–497). Tony Blair, Rede vor dem US-Kongress, 17.07.2003, Online verfügbar unter: http://www. cnn.com/2003/US/07/17/blair.transcript/, zuletzt aufgerufen am 09.05.2018. Tony Blair/Gerhard Schröder, Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten. Online verfügbar unter: http://www.glasnost.de/pol/schroederblair.html, zuletzt aufgerufen am 20.12.2017. Hartmut Bookmann u. a., Deutsches Historisches Museum in Berlin. Denkschrift von Hartmut Bookmann, Eberhard Jäckel, Hagen Schulze und Michael Stürmer für den Senator für Wissenschaft und Kulturelle Angelegenheiten des Landes Berlin vom Januar 1982 (zit. n. Christoph Stölzl (Hg.), Deutsches Historisches Museum. Ideen – Kontroversen – Perspektiven, Frankfurt a. M./Berlin 1988. Martin Broszat, Wo sich die Geister scheiden. Die Beschwörung der Geschichte taugt nicht als nationaler Religionsersatz, in: Historikerstreit. Die Dokumentation der Kontroverse um die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung, München/Zürich 1987 (S. 189–195). Hanuš Burger, Die Todesmühlen, Deutschland 1945. Büro für Zukunftsfragen, Amt der Vorarlberger Landesregierung (Hg.), Bürgerräte in Vorarlberg. Eine Zwischenbilanz, Bregenz 2014 Online verfügbar unter: https://www.vorarlberg.at/pdf/kurzfassungbuergerraetezw.pdf, zuletzt aufgerufen am 11.06.2018. Agatha Christie, The Body in the Library, London 2016. Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012. Julius Deutsch, Rede zum Parteitag der SPÖ 1947 (zit. n. d. Protokoll des dritten Parteitages der SPÖ. Wien, 23.–26. Oktober 1947). Die Elixiere des Dr. Kreisky, in: „Profil“, 07.10.1975. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 T. Walach, Das Unbewusste und die Geschichtsarbeit, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24892-5

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