Die Unsichtbarkeit des Politischen: Theorie und Geschichte medialer Latenz [1. Aufl.] 9783839409695

Demokratische Gesellschaften geben ihren Bürgern das Versprechen, die Geschäfte der Politik durchsichtig zu machen - ein

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Die Unsichtbarkeit des Politischen: Theorie und Geschichte medialer Latenz [1. Aufl.]
 9783839409695

Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung. Latenz – Politik – Medialität
2. Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte
3. Die unsichtbare Hand. Zur Latenz einer literarischen Metapher
4. Verschwörungstheorien. Zum Imaginären des Verdachts
5. Metamorphosen und Maskeraden. Spielarten politischer Un-/Sichtbarkeit
6. Schwärme: Die latenten Autologiken der Selbst-Regierung

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Lutz Ellrich, Harun Maye, Arno Meteling Die Unsichtbarkeit des Politischen

2009-10-20 11-08-57 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0330223930540918|(S.

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Lutz Ellrich (Prof. Dr. phil.) lehrt Medienkulturwissenschaft an der Universität zu Köln. Harun Maye (M.A.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität Weimar. Arno Meteling (Dr. phil.) lehrt Neuere deutsche Literatur an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Carsten Zorn (Dr. phil.) war wissenschaftlicher Mitarbeiter am Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« der Universität zu Köln.

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Lutz Ellrich, Harun Maye, Arno Meteling Die Unsichtbarkeit des Politischen. Theorie und Geschichte medialer Latenz Mit einem Kapitel von Carsten Zorn

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Diese Publikation ist im Sonderforschungsbereich/Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 427 »Medien und kulturelle Kommunikation«, Köln, entstanden und wurde unter Verwendung der ihm von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Lutz Ellrich, Harun Maye, Arno Meteling, Carsten Zorn Satz: Justine Haida, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-969-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt Lutz Ellrich 1. Einleitung. Latenz – Polit ik – Medialität 7

Harun Maye, Arno Meteling 2. Mediale Latenz und polit ische Form. Posit ionen und Konzepte 13

Harun Maye 3. Die unsichtbare Hand. Zur Latenz einer literar ischen Metapher 153

Arno Meteling 4. Verschwörungstheor ien. Zum Imaginären des Verdacht s 179

Lutz Ellrich 5. Metamorphosen und Maskeraden. Spielar ten polit ischer Un- /Sichtbarkeit 213

Carsten Zorn 6. Schwärme : Die latenten Autologiken der Selbst-Regierung 339

1. Einleitung. Latenz – Politik – Medialität Lutz Ellrich »Es zeigt sich, daß hinter dem so genannten Vorhange, welcher das Innere verstecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sei, das gesehen werden kann.« G.F.W. Hegel: Phänomenologie des Geistes (1806) Kräfte, die im Verborgenen wirken oder unterschwellig ihre Potenziale entfalten, haben nicht allein die kollektive Fantasie, sondern auch das wissenschaftliche Denken immer schon fasziniert. Unter den Formeln und Ausdrücken, mit denen man den eigentümlichen Status von kaum merklichen, aber dennoch wirkmächtigen Faktoren zu fassen versucht, erweist sich der Begriff »Latenz«1 als besonders aufschlussreich. Phänomene, auf die der Begriff gemünzt ist, sind nämlich nicht völlig unsichtbar und unbekannt, sie hinterlassen vielmehr Spuren, welche gedeutet, verknüpft und ›hochgerechnet‹ werden müssen, um sie als Vorzeichen für ein herannahendes Ereignis zu entziffern. Dabei kann es sich um drohende Gefahren (also künftige Schäden) oder um günstige Entwicklungen (also bevorstehendes Heil) handeln. Obschon »Latenz« eher Kräften mit negativen Wirkungen zugeschrieben wird, ist sie 1. Bemerkenswert ist die Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Gegenstände, bei deren Erforschung der Latenz-Begriff zum Einsatz gelangt. Allein schon im Bereich der Sozialwissenschaften reicht das Spektrum von Studien zur Konstitution der Gesellschaft (Bernhard Giesen: »Latenz und Ordnung«, in: Rudolf Schlögl u.a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole, Konstanz 2004, S. 73-100) über die kriminologische Diskussion der Dunkelziffer (Bernd Wehner: Die Latenz der Straftaten. Die nicht entdeckte Kriminalität, Wiesbaden 1957; Heinrich Popitz: Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, Tübingen 1968) bis hin zu einer allgemeinen Kulturtheorie der Latenz (Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt a.M. 2000; Aleida Assmann/Jan Assmann (Hg.), Schleier und Schwelle, 3 Bde., München 1997/1998/1999). Als problemorientierten Überblicksartikel vgl. Lutz Ellrich: »Latenz«, in: Ludwig Jäger/Marcus Krause/Erika Linz (Hg.), Kulturwissenschaftliche Medientheorie. Ein Forschungshandbuch, München 2009.

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auch eine Kategorie, die im utopischen Denken eine kaum zu überschätzende Rolle spielt.2 Das extreme Interesse an verborgenen Potenzialen lässt sich aber nicht allein auf menschliche Ängste und Hoffnungen zurückführen, sondern ist Teil des Bedürfnisses, die Welt im Ganzen zu begreifen. Alle nicht unmittelbar zugänglichen oder sichtbaren Phänomene wecken die Neugier des Menschen und erregen sein Erkenntnisinteresse. Insbesondere die okzidentale Kultur, so darf man vermuten, ist von einem Wahrheitskonzept geprägt, wenn nicht besessen, das dem Verborgenen einen eminenten Stellenwert, mehr noch: den höchsten Rang unter den erkenntniswürdigen Gegenständen verleiht. Roland Barthes‹ pointierte These, »das Verborgene [sei] für das westliche Denken ›wahrer‹ als das Sichtbare«3, legt davon ein exzentrisches Zeugnis ab und gibt gleichzeitig zu verstehen, dass die Wertschätzung des Verborgenen selbst zu den offenkundigen, eben nicht versteckten Tatsachen gehört. Ein machtvoller Wille treibt demnach die abendländischen Menschen dazu, »in verhüllte Wissenskontinente vor[zu]dringen, indem [sie] bisher Unthematisches thematisch machen, noch Unbekanntes ans Licht bringen und nur dunkel Mitgewusstes in ausdrücklich Gewusstes umwandeln.« 4 Dieser allgemeine Befund muss jedoch relativiert werden, denn unter den meisten gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, von denen wir Kenntnis haben, ist der Wille zum wahren Wissen gewöhnlich mit dem Verlangen gekoppelt, die gewonnenen Erkenntnisse keineswegs allen Mitgliedern der jeweiligen Kultur und schon gar nicht allen Exemplaren der Gattung zugänglich zu machen, sondern vor vielen Mitmenschen geheim zu halten – sei es, um die Erträge, die sich aus der Anwendung des Wissens ergeben, nicht mit ihnen teilen zu müssen, sei es, um sie vor den angeblich schädlichen Folgen der Wahrheit zu schützen. Erwerb und Verteilung des Wissens erweisen sich – sobald man die konkreten Vorgänge in Augenschein nimmt – als Praktiken, die fast immer in soziale Machtverhältnisse eingebettet sind, ja in einer komplexen Wechselwirkung zu ihnen stehen und deshalb selbst als Quellen derjenigen Macht fungieren können, die darüber zu befinden sucht, was nicht (allgemein) bekannt sein darf und was jetzt und künftig (von bestimmten oder allen Personen) gewusst werden soll. Dieses Zusammenwirken von Wissen und Macht gehört seit alters her zu den schwer zu verbergenden, oft benannten Grundelementen der Politik; und so ist es keine Überraschung, dass im Kontext der aktuellen Diskurse über die theatrale Beschaffenheit der modernen Medien- und Wissensgesellschaft unumwunden die Behauptung vertreten wird, dass politische Fragen davon handeln, »was auf der Bühne der Gesellschaft sichtbar wird und was verbor-

2. Vgl. Ernst Bloch: Tendenz – Latenz – Utopie, Frankfurt a.M. 1978. 3. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie (1980),

Frankfurt a.M. 1989, S. 110f. 4. Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern, Frankfurt a.M. 2009, S. 18. Zu den aussichtslosen, religiös motivierten Versuchen, Neugier und Wissensdurst im Okzident einzudämmen, vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966.

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Einleitung. Latenz – Politik – Medialität

gen bleibt«5. Für demokratische Gesellschaften, die sich den Anschein geben, politische Operationen, mit deren Hilfe sie sich selbst steuern, durch den Einsatz von Medien weitgehend sichtbar und transparent zu machen (d.h. bis zur äußersten Grenze, an der die Sichtbarkeit dysfunktional wird, zu veröffentlichen), ist das Problem der Bestimmung dessen, was verborgen gehalten werden darf und muss, besonders virulent.6 Nicht nur autoritäre und totalitäre Regime, sondern auch Demokratien weisen selbstverständlich Zonen des Latenten und Verborgenen auf. Aber anders als jene Herrschaftssysteme, deren repressive Strukturen ohne Geheimhaltung gar nicht fortbestehen könnten, werden demokratische Gesellschaften beständig von Diskursen auf Trab gehalten, die das akzeptierbare bzw. legitime Verhältnis von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Öffentlichkeit und Geheimnis betreffen. Die Spannung zwischen diesen beiden Polen bildet den Ausgangspunkt für zahlreiche Debatten über die Medialisierung und Ästhetisierung der Politik, denen das interessierte Publikum beachtliche Aufmerksamkeit zollt. Wer solche Debatten verfolgt oder an ihnen mitwirkt, bemerkt rasch, dass neben dem Latenzbegriff eine Reihe semantischer Substitute und Derivate im Umlauf ist.7 Viele Beteiligte scheinen großes Vertrauen in die sachliche Prägnanz und appellative Kraft des benutzten Vokabulars zu besitzen, ohne dass hinreichend deutlich wird, was jeweils genau gemeint ist oder welche speziellen Kriterien gelten, um Angemessenheit und heuristische Qualität der Termini zu beurteilen. Hier besteht erheblicher Klärungsbedarf. Die nachfolgenden teils historisch, teils systematisch angelegten Studien widmen sich daher auch der dringlichen Aufgabe, den leichtfertigen und ansteckend wirkenden Umgang mit diversen Begriffen, die sich auf latente Phänomene und ihre Effekte richten, ein wenig zu erschweren. Wie sehr methodische Bedachtsamkeit und konzeptionelle Präzision von Nöten sind, verdeutlichen die gegenwärtigen Diskussionen über Latenz und Manifestation des Politischen unter Bedingungen der Mediengesellschaft. Dass die Spektakel der Politik nur den fatalen ›Entzug‹ 5. Matthias Warstat: »Ausnahme von der Regel«, in: Christel Weiler u.a. (Hg.), Strahlkraft. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, Berlin 2008, S. 116-133, hier: S. 121. 6. Herfried Münkler unterscheidet in seiner Analyse des Problems zwei Idealtypen politischer Herrschaft (autoritäre und bürgerlich-demokratische) und setzt sie in ein Verhältnis zu den politischen Basisfunktionen ›Entscheidungsfindung‹ und ›Ordnungsstiftung‹: In der Demokratie besitze die Entscheidungsfindung einen relativ hohen Visibilisierungsgrad, während die Ordnungsstiftung kaum sichtbar sei, bei autoritären Herrschaftsformen verhalte es sich umgekehrt (»Die Visibilität der Macht und die Strategien der Machtvisualisierung«, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 213-230). Vgl. auch Sabine R. Arnold/Christian Fuhrmeister/Dietmar Schiller: »Hüllen und Masken der Politik. Ein Aufriß«, in: Dies. (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien/Köln/Weimar 1998, S. 7-24. 7. Vielfach ist von latenten Mächten, Strukturen und Botschaften die Rede. Überdies geizt man nicht mit Hinweisen auf das Dunkle, Verborgene, Unsichtbare, Verdeckte, Intransparente etc.

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des Politischen überdecken und zugleich ein Indiz für dessen bevorstehende Wiederkehr liefern, gehört derzeit zu den provokantesten Diagnosen, die man vernehmen kann. Um freilich herauszufinden, ob das Politische inzwischen verschwunden ist oder nach wie vor aus dem Verborgenen heraus seine bedrohlichen Wirkungen erzielt oder demnächst als erlösendes, vielleicht auch furchtbares Ereignis geschieht oder ganz andere, noch ungeahnte Gestalten annehmen wird, ist ein Analyse-Besteck erforderlich, das sich erst dann zusammenstellen lässt, wenn man ein kontrastscharfes Bild von den vorhandenen Konzepten gewonnen und ihre Schwächen und Lücken herausgearbeitet hat. Hierzu sollen die folgenden Einzelstudien einen Beitrag leisten. Dennoch lieferte nicht das Unbehagen an den gegenwärtigen Debatten den unmittelbaren Anlass, um die komplexe Verbindung von Latenz, Politik und Medialität näher zu beleuchten. Die konkrete Idee zum vorliegenden Buchprojekt entstand vielmehr im Kontext empirischer Untersuchungen der so genannten ›digitalen Elite‹.8 Dieser Personenkreis beschreibt sich nämlich selbst als latente Avantgarde und beruft sich dabei auf Eigenschaften, die für andere Funktionseliten angeblich nicht charakteristisch sind. Ähnliche Auffassungen lassen sich aber auch bei jungen, agilen Beraterteams finden, die sich nach eigenem Bekunden »in der Grauzone der Legitimität«9 bewegen, um politische Amtsträger mit den nötigen Informationen und Kontakten zu versorgen. Beide ›Eliten‹ sind fest davon überzeugt, dass sie in einer Art submedialem Raum, also hinter den medial errichteten Kulissen operieren und nur auf diese Weise genau den Einfluss auf die gesellschaftlichen Prozesse ausüben können, der ihrer jeweiligen Bedeutung entspricht. Während die Denkfigur der Latenz bei den politischen ›Hintergrund-Eliten‹ einen konspirativen Beiklang besitzt, weist sie bei der ›digitalen Elite‹ eher eine inspirative Note auf. Die erfindungsreichen Subjekte treten gleichsam hinter die Technik, der sie den Weg ebnen, zurück; und sie können dies tun, weil sie sich als Träger einer Form von vorläufigem Geheimwissen verstehen, das nicht per se der Etablierung fragwürdiger Machtverhältnisse dient, sondern durch das Medium Computer, dem sich die ›digitale Elite‹ (oft rückhalt- und rücksichtslos) verschrieben hat, bedingt ist. Einerseits ergeben sich damit Verbindungen zur allgemeinen Medientheorie, welcher Marshall McLuhan, Friedrich Kittler, Régis Debray, Niklas Luhmann und viele andere ein markantes Profil verliehen haben: Medien – so heißt es in den einschlägigen Texten – eröffnen und verschließen Möglichkeitsbereiche, Sinnzonen, Praktiken usw., indem sie als Medien gerade nicht in Erscheinung treten.10 Andererseits bildet sich 8. Siehe Lutz Ellrich: »Die unsichtbaren Dritten. Notizen zur ›digitalen Elite‹«, in: Ronald Hitzler/Stefan Hornbostel (Hg.), Elitenmacht, Opladen 2004, S. 79-90, sowie Ders.: »Die ›digitale Elite‹ als Impulsgeber für sozialen Wandel«, in: Andreas Ziemann (Hg.), Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz 2006, S. 141-160. 9. Vgl. Jens Tenscher: »Politikvermittlungsexperten. Die Schaltzentralen politischer Kommunikation«, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen 3 (2000), S. 7-16, hier: S. 15. 10. Vgl. Lutz Ellrich: »Mediologische Latenz und die Rekursion der Daten«, in:

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Einleitung. Latenz – Politik – Medialität

in den Selbstbeschreibungen der ›digitalen Elite‹ aber auch ein alternatives Medienverständnis heraus, demzufolge die Kapazitäten und Leistungen der Medien nur ausgeschöpft und gesellschaftlich nutzbar gemacht werden können, wenn die spezifische Medialität der Medien auch den ›gewöhnlichen‹ Nutzern in hohem Maße bewusst wird und der Umgang mit den vielgestaltigen neuen Kommunikationstechniken zu einer expliziten – eben nicht mehr latenten – ›Politik der Medien‹ führt. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich das gesellschaftlich vorherrschende Verständnis der Medien und dessen praktische Umsetzung heute als ein zentraler politischer Faktor. Die folgende Zusammenstellung von fünf Studien, die im Rahmen des von der DFG geförderten Forschungskollegs »Medien und kulturelle Kommunikation« verfasst wurden, hebt deshalb auch mit einer Analyse derjenigen Leitkonzepte an, die einen systematischen Bezug zwischen medialer Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit herstellen, ohne dabei die Frage nach der Konstitution des Politischen aus dem Blick zu verlieren (Kapitel 2). Im Anschluss an diese umfassende Präsentation relevanter Latenztheorien und ihrer basalen Denkfiguren liefert Kapitel 3 einen begriffsgeschichtlichen Abriss, in dessen Mittelpunkt das Kollektivsymbol der »unsichtbaren Hand« steht. Die Rede von der unsichtbaren Hand stiftet einen interdiskursiven Zusammenhang zwischen der ökonomischen Auffassung von den selbstregulativen Kräften des Marktes, den verborgenen Gesetzen der Geschichtsphilosophie und dem Geister- und Geheimbundroman des 18. Jahrhunderts. Dieser Zusammenhang macht deutlich, dass die göttliche Hand der Vorsehung nicht einfach durch die Logik der politischen Ökonomie abgelöst wird, sondern in der unheimlichen Metapher ein sehr irdisches Nachleben besitzt und sogar noch im zeitgenössischen Topos der medialen Manipulation präsent ist. Kapitel 4 konzentriert sich demgegenüber auf die eigentümliche Verdachts-Logik von modernen Verschwörungstheorien und paranoiden Welterklärungsmodellen, an denen abzulesen ist, dass latente Verfahren und Praktiken des Politischen seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr allein der Sphäre des Staates zugeordnet werden können, sondern auch für die ehrgeizigen Zusammenschlüsse bürgerlicher Privatpersonen charakteristisch sind. In Praxis und Theorie der Verschwörung und Arkanpolitik wird – wie sich hier zeigt – eine Form der medialen Latenzbeobachtung eingeübt, die die Grenzen zwischen literarischer Fiktion, wissenschaftlicher Bestimmung und politischer Planung zu verwischen droht. Kapitel 5 widmet sich sodann dem Status des Politischen in den relevanten Diskursen der letzten vier Jahrzehnte und zeichnet die Wandlungsprozesse und Konkurrenzkämpfe derjenigen Theorien nach, die die verborgeBirgit Mersmann/Thomas Weber (Hg.), Mediologie als Methode, Berlin 2008, S. 61-78. Siehe auch das folgende Statement: »Gerade weil Medien im digitalen Raum scheinbar unsichtbar werden, bedarf es einer epistemologisch orientierten Medientheorie als Ort der Reflexion des Verborgenen« (Wolfgang Ernst: Medienwissen[schaft] zeitkritisch, Reihe Öffentliche Vorlesungen, Humboldt-Universität Berlin 2004, S. 4).

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nen Mechanismen der Macht freizulegen suchen. Dabei wird deutlich, dass sich im Lichte der diskursiven Gefechte nicht allein der Ort, an dem die entscheidenden Weichen gestellt werden, sondern auch die Ebene, auf der die determinierenden Kräfte angesiedelt sind, in der Spätmoderne verschoben haben. Als Folge dieser Änderung treten nun Fragen nach den neuartigen ökonomischen Latenzen oder jenen auff ällig offensiven Strategien aktueller Sicherheitspolitik in den Vordergrund der Debatten und verlangen politische Antworten, die – wenn überhaupt – nur innovative Alternativkonzepte geben könnten. Kapitel 6 stellt sich dieser Herausforderung und untersucht die derzeit laufenden Diskurse über die so genannte ›Intelligenz von Schwärmen‹, welche unter ›Eingeweihten‹ als zeitgerechte Form der Verarbeitung von Unvorhersehbarkeit und Unkontrollierbarkeit gesellschaftlicher Prozesse gilt. Was sich in den ›Schwärmen‹ latent heranbildet ist nichts Geringeres als ein neues Machtdispositiv, das sich auf medial generierte Formen subjektiver Handlungskoordination stützt. Breit angelegte Theorieprojekte sind unter den gegenwärtigen Bedingungen akademischen Arbeitens, das großes Engagement bei der Einrichtung der neuen BA/MA-Studiengänge verlangt und die Bewältigung umfangreicher Verwaltungsaufgaben einschließt, wohl nur noch in Gruppen möglich, deren Mitglieder ihre unterschiedlichen Expertisen einbringen und auch dem Streit der Meinungen nicht ausweichen. Danken möchte ich daher allen Beteiligten für ihre mitunter kontroversen Beiträge zum Gelingen des Unternehmens: zunächst einmal Sabine Müller, die an der Vorbereitung dieser Studie beteiligt war,11 sodann Harun Maye und Arno Meteling, die mehrere anregende Workshops und Tagungen zum Projekt-Thema organisiert haben, ferner Carsten Zorn, der in der Schlussphase des Projekts zum Team stieß und durch seine Diskussionsbeiträge sowie ein eigenes Kapitel zusätzliche Akzente setzte, und schließlich Jessika Jürgens, Lisa Wolfson, Claudine da Rocha und Aleksander Marcic, die den Autoren als studentische Hilfskräfte zugearbeitet haben.

11. Vgl. ihre Arbeiten zum Thema: »Das Netz als Knoten in politischer Theorie und Praxis. Zum Lösungspotential der Figur der Latenz«, in: Kulturwissenschaftliches Jahrbuch 1 (2005), S. 31-57; »Diesseits des Diskurses. Die Geburt der Diskursanalyse aus dem Geiste der Latenz«, in: Franz X. Eder (Hg.), Historische Diskursanalysen. Genealogie, Theorie, Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 131-149.

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2. Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte Harun Maye, Arno Meteling

2.1 Das Unbewusste 2.1.1 V ER SCHIEBUNG UND V ERDICHT UNG . D ER L ATENTE I NHALT DER P S YCHE (F REUD ) Als erste kulturwissenschaftliche Formulierung der Latenz können das Konzept des »Unbewussten« und die Theorie der Latenz in der Psychoanalyse Sigmund Freuds gelten. Den Begriff der »Latenz« verzeichnet das einschlägige Vokabular der Psychoanalyse von Laplanche und Pontalis für die Psychoanalyse zweimal: als »Latenzperiode oder Latenzzeit«1 und als den für das Konzept des Unbewussten zentralen »latenten Inhalt«2. Mit »Latenzperiode« oder »Latenzzeit« beschreibt Freud in psychologischer Umwidmung des medizinischen Terminus eine zeitlich begrenzte Unterdrückung der Libido und speziell die Phase des Stillstands der Sexualentwicklung zwischen der infantilen Sexualität in der »Blüteperiode vom zweiten bis zum fünften Jahre«3 und dem Beginn der Pubertät. Eingeleitet und begleitet wird sie von zahlreichen Verdrängungsprozessen und der »infantilen Amnesie« an die frühen Jahre der Kindheit, 4 wie Freud in seinen Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (19041905) notiert. Dort schreibt er auch über das »Sexualleben der Kinder[, das] sich zumeist um das dritte oder vierte Lebensjahr in einer der Beobachtung

1. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, S. 278. In der Medizin bezeichnet die »Latenzzeit« oder »Inkubationszeit« eine Phase des Krankheitsverlaufs, in der keine typischen Symptome auftreten. Den Begriff der »sexuellen Latenzperiode« entlehnt Freud dabei Wilhelm Fließ. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften. Auswahl und Nachwort von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a.M. 1961, S. 53. 2. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Vokabular, S. 277. 3. S. Freud: Sexualtheorie, S. 100. 4. Ebd., S. 47-78.

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zugänglichen Form zum Ausdruck bringt«5. Laplanche und Pontalis fügen in diesem Zusammenhang hinzu, dass die sexuelle Latenz, wenn auch nur sekundär, im Sinne Freuds ebenfalls durch »soziale Institutionen verstärkt [wird], deren Einfluss sich mit dem des Über-Ichs verbindet«6. Die Abhandlungen thematisieren allerdings – vergleichbar den Mechanismen, die in der Traumdeutung (1900) beschrieben werden, – den Kern der Freudschen Psychoanalyse als eine Figur der Latenz, als ein »Mantel des Vergessens und Verdrängens«,7 der die wesensbestimmenden Erfahrungen der Kindheit, vor allem die sexuelle Entwicklung mit ihren Blüte- und Latenzzeiten, verdeckt.8 Der zweite Latenzbegriff in der Psychoanalyse bezeichnet den »latenten Inhalt« des Unbewussten. Definiert wird er von Laplanche und Pontalis als »Gesamtheit der Bedeutungen, zu der die Analyse einer Produktion des Unbewussten, besonders des Traumes, führt. Einmal entziffert, erscheint der Traum nicht mehr wie ein Bilderrätsel, sondern wie eine Organisation von Gedanken, wie eine Erzählung, die einen oder mehrere Wünsche ausdrückt«9. Der »latente Trauminhalt«10 als neues Analyseziel, wie er in Freuds Traumdeutung zum ersten Mal in Erscheinung tritt, stellt dabei die entscheidende Differenz zur bisherigen Traumforschung dar. Es geht um »neues« bzw. um neu entdecktes und latentes »psychisches Material«, das erst durch die Verfahren der Psychoanalyse aus dem manifesten Trauminhalt gewonnen wird.11 Die entscheidende Instanz dabei ist das »Unbewusste«. In der Traumdeutung wird diese als eine rebusartige Ordnung definiert, die die Inhalte der Psyche adressiert und verwaltet, die aber, um verständlich zu werden, entziffert werden muss. Aufgabe der Psychoanalyse ist die Decodierung und Transkription der änigmatischen Strukturen des Unbewussten und somit eine Umschrift und Hebung dieser Ordnung in einen sicht- und lesbaren Klartext.12 Die bei5. Ebd., S. 51. 6. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Vokabular, S. 279. 7. Alexander Mitscherlich: »Nachwort. Freuds Sexualtheorie und die notwendi-

ge Aufklärung der Erwachsenen«, in: Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie und verwandte Schriften. Auswahl und Nachwort von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a.M. 1961, S. 191-201, hier S. 196. 8. Hier ist eine implizite Fortsetzung zentraler Themen romantischer Literatur zu vermerken: die Familie als Treibhaus und die Sexualität des Kindes im »Familienroman« der bürgerlichen Kleinfamilie. Siehe dazu Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900, München 1995, sowie Friedrich Kittler: Dichter – Mutter – Kind, München 1991. 9. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Vokabular, S. 277. 10. Sigmund Freud: Die Traumdeutung (1900). Nachwort von Hermann Beland, Frankfurt a.M. 1995, S. 284-500, hier S. 284 (»Die Traumarbeit«). 11. Ebd., S. 284. 12. Schon die Entstehung der Unterscheidung »manifest/latent« in der Psychoanalyse gründet dabei auf zwei historischen Medienformationen, deren genaue Effekte auf die Freudsche Psychoanalyse aber selbst weitgehend latent bleiben: den optischen Medien des 19. Jahrhunderts und der Interpretation romantischer Literatur.

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2. Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte

den entscheidenden Mechanismen im Unbewussten, die entzifferbare Rätselbilder produzieren, sind die Verschiebung und die Verdichtung. Eine Verschiebung bedeutet die Stellvertretung von Bildern und Begriffen füreinander. Bei einer Verdichtung können Begriffs- und Bilderketten durch einen einzigen Begriff oder ein einziges Bild dargestellt werden. Die psychoanalytische Interpretation deutet die dunklen Stellen dieser Traumbilder als Konzentrationspunkte nicht zensierter Wünsche, Triebe und Regungen, die das Bewusstsein zwar verrätselt heimsuchen, aber in jeder Hinsicht den Normen und Verhaltensweisen einer äußeren Realität widersprechen. In Schach und damit unter der Oberfläche des Sichtbaren gehalten werden sie durch Verdrängung und Zensur. Nur wenn diese Kontrollen gelockert werden, wie im Traum, in Fehlleistungen oder in der Kunst, kommen diese verdrängten Impulse wieder an die Oberfläche. Da der psychische Kontrollapparat dabei aber nicht ausgeschaltet ist, gelangen die Triebe und Wünsche nicht unverschlüsselt, sondern figurativ zum Ausdruck. Traumbilder und neurotische Symptome sind deshalb das Ergebnis einer Verzerrung verdrängter Wünsche (meist infantiler Herkunft). An den manifesten Inhalt des Traums können wir uns erinnern. Dieser ist das Ergebnis der Verdeckung des latenten Inhalts durch die Traumarbeit der Verdichtung und Verschiebung. Das Prinzip dieser Traumarbeit ist dynamisch, gekennzeichnet durch ein unauf hörliches Gleiten. In seinen Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1915/16-1916/17) geht Freud in der VII. Vorlesung noch einmal auf den Unterschied zwischen manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken ein: »Ich schlage Ihnen jetzt vor, eine Abänderung unserer Nomenklatur eintreten zu lassen, die unsere Beweglichkeit erleichtern soll. Anstatt verborgen, unzugänglich, uneigentlich sagen wir, indem wir die richtige Beschreibung geben, dem Bewusstsein des Träumers unzugänglich oder unbewusst.«13

Das Unbewusste ist seit der Psychoanalyse deshalb der neue Generalbegriff für sämtliche psychischen und auch sozialkulturellen Figuren der Latenz. Mit einem Modell, das unterhalb der Aufteilung von Bewusstsein, Vorbewusstem und Unbewusstem in der Psyche noch eine verborgene Ordnung unterstellt und diese Schichten überdies über Verrätselung und Codierung miteinander in Verbindung bringt, ist die Freudsche Psychoanalyse für die Entwicklung eines ganz neuen Verdachts verantwortlich. Anhand der Analyse eines Traums (sinnfällig vom Bergsteigen) in der VII. Vorlesung stellt Freud auch den »neuen Typus der Beziehung zwischen manifestem und latentem Traumelement«14 vor. Der manifeste Trauminhalt, so seine Beobachtung, ist die »Darstellung« des latenten Trauminhalts, »eine plastische, konkrete Verbildlichung, die Ausgang vom Wortlaute nimmt« 15. Dieser Art 13. Sigmund Freud: »VII. Vorlesung. Manifester Trauminhalt und latente Traumgedanken«, in: Ders.: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1915-1916). Biographisches Nachwort von Peter Gay, Frankfurt a.M. 1991, S. 108-119, hier S. 108. 14. Ebd., S. 115. 15. Ebd.

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der Beziehung, so Freud, kommt eine besondere Bedeutung für die Traumbildung zu. Denn die manifesten Ersatzbilder dienen der »Absicht des Verbergens«, und ihr Verfahren ist die »Technik unseres Bilderrätsels«16. Die asymmetrischen Beziehungen zwischen latenten und manifesten Trauminhalten, die sich durch Verschiebungs- und Verdichtungsprozesse auszeichnen, bewegen sich deshalb nicht allein in einem strukturell-rhetorischen Kontext, sondern sind grundlegender noch durch eine mediale Differenz bestimmt. Denn während das Manifeste des Traums vorwiegend aus den visuellen Bildern der Verrätselung besteht, ist die Verbindung zum Wort als Ursprung des Traums verschüttet. Sichtbarmachende Traumarbeit ist deshalb zum einen bildcodierende und verrätselnde Inszenierung, zum anderen philologische Archäologie. Um die manifesten Rätselbilder in Sprache umwandeln und dabei den latenten Trauminhalt bergen zu können, muss die Psychoanalyse diese Verfahren der Traumarbeit und damit auch die Figur des Mediensprungs selbst nachvollziehen.17 Als Vorläufer dieser neuen Analyseweise können zum einen Physiognomik und Graphologie sowie hypnotische Praxen im 18. Jahrhundert benannt werden, Wissenschaften und Techniken, die von der strukturellen Verbindung zwischen einer Oberfläche und einer verborgenen und verrätselten Tiefenschicht ausgehen und dabei von sichtbaren Spuren und Indizien auf unsichtbare Prozesse und Mechanismen schließen.18 Zum anderen ist es die Literatur des 19. Jahrhunderts und sind es besonders die Rhetoriken und Ikonographien der Romantik, die das Inventar des Imaginären für die Psychoanalyse bereitstellen. So stehen die zahlreichen dunklen Brunnenschacht-, Höhlen- und Bergwerksszenarien in dieser Literatur selbst schon für das Unbewusste, das sexuell Verdrängte und die dunklen Stellen der Psyche.19 Auch das psychoanalytische Konzept einer Identitätsspaltung, beispielsweise in ein 16. Ebd., S. 116. 17. Auch Freuds bekannte literarische Interpretation der romantischen Er-

zählung Der Sandmann (1817) von E.T.A. Hoffmann wird, so Friedrich Kittler, von der Erkenntnis der Bild-Text-Relationen im Unbewussten bestimmt. Entwickelt hat Freud dieses Verfahren bei der Traumdeutung, die die nachträgliche und scheinbare Einheit des manifesten Traums ignoriert und den latenten Traumtext als »Rebus« liest, das Gesetzen nicht der Naturalität und Mimesis, sondern der Hieroglyphik folgt. Friedrich Kittler: »›Das Phantom unseres Ichs‹ und die Literaturpsychologie«, in: Ders./Horst Turk (Hg.), Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a.M. 1977, S. 139-166, hier S. 148. Sigmund Freud: »Das Unheimliche (1919)«, in: Ders.: Der Moses des Michelangelo. Schriften über Kunst und Künstler, Frankfurt a.M. 1993, S. 135-172. 18. Siehe auch die Herleitung der Psychoanalyse Freuds nach dem »Indizienparadigma« der kunsthistorischen »Morelli-Methode«. Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57. 19. Manfred Frank: Das kalte Herz. Texte der Romantik, Frankfurt a.M., Leipzig 1996.

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»Über-Ich« und ein »Es«, das sich gleichsam ›unterhalb‹ des kontrollierten Selbst (»Ich«) befindet, wird von Freud nicht zufällig an E.T.A. Hoff manns Erzählung Der Sandmann (1817) ausbuchstabiert, denn auch die romantische Literatur erforscht schon die widersprüchlichen Innenräume des Unbewussten und formuliert beispielsweise mit dem literarischen Topos des »Doppelgängers«20 das Modell eines fremden Selbst im eigenen aus. Die Psychoanalyse überführt auf diese Weise Dichtung in Wissenschaft und lokalisiert ursprünglich literarische Phantasmen im Konzept des Unbewussten. Sie misst das »Phantom unseres eigenen Ichs«21 aus und verräumlicht rhetorisch das Unbewusste als verborgenen und labyrinthischen Ursprung des Selbst. Mit der Psychoanalyse weitet sich die literarische Semiotisierung von Körper und Unbewusstem damit auf den medizinischen und wissenschaftlichen Diskurs aus. Oberfläche und Tiefe, Außen und Innen des Menschen geraten gleichermaßen ins Blickfeld und werden zueinander in Beziehung gesetzt. Freuds Psychoanalyse kann mit der Erfindung des Unbewussten als der eigentliche Stifter des kulturwissenschaftlichen Diskurses der Latenz gelten. Mit der Ausmessung und Enträtselung des Innenraums entwickelt Freud für ganz heterogene Symptome und Störungen Modelle, die auf einem Oberflächen-TiefenKonzept beruhen. Die Tiefenschicht bleibt in diesem Modell dabei konstitutiv unsichtbar, aber als aus dem Verborgenen drohende Instanz stets präsent. Als »Wiederkehr des Verdrängten« oder als Effekt eines »Traumas« kann sie sich bei Freuds Patienten, in der Literatur und auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen plötzlich und mit katastrophalen Folgen zurückmelden.22

20. Vgl. Otto Rank: Der Doppelgänger. Eine psychoanalytische Studie. Reprint der Ausgabe von 1925 mit einem Nachwort von Mladen Dolar (1914), Wien 1993 und Friedrich Kittler: »Romantik – Psychoanalyse – Film: eine Doppelgängergeschichte«, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften, Leipzig 1993, S. 81-104. 21. Neil Hertz fasst die Wirksamkeit der Freudschen Latenzfigur des Unbewussten konzise zusammen, wenn er Freud zitiert, dass er die Psychoanalyse erfunden habe, weil es zu diesem »etwas« noch keine Literatur gab, »was wir heute mit einem Stoßseufzer ›Die Bürde der Vergangenheit‹ (The Burden of the Past) oder ›Die Einflußangst‹ (The Anxiety of Influence) nennen«. Neil Hertz: »Freud und der Sandmann«, in: Ders.: Das Ende des Weges. Die Psychoanalyse und das Erhabene, Frankfurt a.M. 2001, S. 127-156, hier S. 127. Siehe auch Detlef Kremer: »›Ein tausendäugiger Argus‹. E.T.A. Hoffmanns ›Sandmann‹ und die Selbstreflexion des bedeutsamen Textes«, in: Mitteilungen der E.T.A. Hoffmann-Gesellschaft 33 (1987), S. 66-90. 22. Ein vergleichbares Spezialmodell entwickelt Freud in der Notiz über den Wunderblock (1925). Ein Kinderspielzeug, eine druckempfindliche tabula rasa aus Wachs, der »Wunderblock«, wird zum Palimpsest-Modell für das Gedächtnis. Die Wachsplatte lässt sich zwar immer neu löschen und beschreiben, aber die Spuren aller früheren Einschreibungen bleiben als unsichtbare Vertiefungen erhalten. Damit erfüllt das Gedächtnis also zwei medientechnische Bedingungen: unbegrenzte Aufnahmefähigkeit und die Erhaltung von Dauerspuren.

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Eine weitere Vorstufe der Psychoanalyse als Latenztheorie stellen die Studien über Hysterie (1895) von Freud und Josef Breuer dar.23 Schon im bekannten Fall der »Frl. Anna O.« (d.i. Bertha Pappenheim) überträgt Breuer das medizinische Phasenmodell auf die »neuropathische Belastung« Anna O.s. Der Krankheitsverlauf zerfällt in mehrere gut getrennte Phasen; es sind: »A) Die latente Inkubation. Mitte Juli 1880 bis etwa 10. Dezember. In diese Phase, die sich in den meisten Fällen unserer Kenntnis entzieht, gewährte die Eigenart dieses Falles so vollständigen Einblick, dass ich schon deshalb sein pathologisches Interesse nicht gering anschlage. […] B) Die manifeste Erkrankung; eine eigentümliche Psychose, Paraphasie, Strabismus convergens, schwere Sehstörungen, Kontrakturlähmungen, vollständig in der rechten oberen, beiden unteren Extremitäten, unvollständig in der linken oberen Extremität, Parese der Nackenmuskulatur. Allmähliche Reduktion der Kontraktur auf die rechtsseitigen Extremitäten. Einige Besserung, unterbrochen durch ein schweres psychisches Trauma (Tode des Vaters) im April […].« 24

Die hysterische Simulation eines Geburtsvorgangs bei Anna O., die beispielsweise unter Hypnose stattgefunden haben soll, hat Breuer dann zwar wohl in Angst und Schrecken versetzt, bestätigt aber eine der psychoanalytischen Generaldiagnosen, dass Neurosen erstens die Effekte gewöhnlich nicht sichtbarer gestörter Sexualfunktionen sind und zweitens deren Ursachen in der kindlichen Vergangenheit des Patienten gesucht werden müssen. Es gilt also in der psychologischen Diagnose immer ein doppelt Verborgenes aufzuspüren: Zunächst müssen die unter der Oberflächen liegenden Fehlfunktionen als Auslöser der Krankheitssymptome ermittelt werden, die dann einer Anamnese unterzogen werden, um dann die latenten Gründe für diese Auslöser zu ermitteln, die in der Geschichte verborgen liegen. Die Anlage zu einem analytischen Blick auf das Latente ist in der Vorgeschichte zur Erforschung des Unbewussten an eine spezifisch mediale Latenz gekoppelt. Eine besondere Rolle in der Verbindung zwischen psychischen Phänomenen und den technischen Medien spielte die Photographie als diagnostische Kulturtechnik der Sichtbarmachung. Sie hat dabei keine rein dokumentarische Funktion in der Art, dass photographische Karteien von Krankheitssymptomen zur besseren Wiedererkennung gespeichert würden, sondern sie ist vor allem in der Hysterieforschung als aktive Interferenz in die klinischen Prozesse zu begreifen. In der Salpêtrière, der Pariser Klinik des Neurologen Jean-Martin Charcot, in der Freud vier Monate lang 1885-1886 hospitiert, wird beispielsweise mittels photographischer Methoden die antike

23. Josef Breuer/Sigmund Freud: Studien über Hysterie (1895). Einleitung von Stavros Mentzos, Frankfurt a.M. 1997. 24. Josef Breuer: »Beobachtung I. Frl. Anna O… (Breuer)«, in: Josef Breuer/Sigmund Freud: Studien über Hysterie (1895). Einleitung von Stavros Mentzos, Frankfurt a.M. 1997, S. 42-66, hier S. 43.

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›Frauenkrankheit‹ der Hysterie,25 die sich durch eine Vielzahl unerklärlicher physischer Symptome auszeichnet, die durch eine unbekannt und unsichtbar bleibende neurologische (bei Freud dann: psychische) Störung entstehen, nicht nur festgehalten, sondern zuallererst auch zur Sichtbarkeit gebracht. So bestätigt sich der Vorwurf der Simulation, der der Hysterie anhaftet, auf merkwürdige Weise, da die körperlichen Symptome – wie Verkrampfungen und ungewöhnliche Körperstellungen der Patientin bis zum »hysterischen Bogen« – sich nur einstellen, wenn der Arzt sie seinem Publikum im Hörsaal vorführt oder der Photograph diese aufzeichnen soll. Hysterie entsteht somit einerseits auf den öffentlichen Blick und die theatrale Vorführung des Arztes hin sowie andererseits auf Knopfdruck des Photoapparates.26 Vor der photographischen Hysterieforschung in Charcots Salpetrière kann auch schon die Geschichte des »animalischen Magnetismus«, des Mesmerismus und der Hypnose im 18. und 19. Jahrhundert, als Wissen und Praxis von der medialen Latenz betrachtet werden. Franz Anton Mesmer begründet mit seiner »dynamischen Psychiatrie« die Erforschung und Nutzung der unsichtbare Kräfte, die zwischen dem Therapeuten und seinem Patienten zirkulieren. Vor allem die Elektrizität (medicina electrica) und andere nicht sichtbare Energien werden dabei zur Beschreibungsfolie für den »Magnetismus«.27 Die Reden über »sympathetische Ströme« und »unsichtbare Fluida« ergänzen und ersetzen ab der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend das Paradigma der antiken Humoralpathologie. Die Konzepte von kosmischer Fluidität und Sympathie tragen, so Albrecht Koschorke, damit auch zur Modellbildung einer unsichtbaren Instanz des Unbewussten bei. Zunächst wird dieses als kosmisch-fluidaler Zusammenhang aller Wesen begriffen, eine außerkörperliche und physikalisch-kosmologische Verbindung, die auch das Moralische mit einschließt. Der Marquis de Puységur, ein Schüler Mesmers, entwickelt den Mesmerismus danach zum »magnetischen Schlaf«, zu Begrifflichkeit und zur Praxis der »Hypnose« weiter. Nach den Diskussionen über das Unbewusste, die im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts vornehmlich noch in Literatur und Naturphilosophie geführt werden, wird die Studie L’Automatisme psychologique (1889) von Pierre Janet dann zum Gründungsdokument einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Unbewussten, der »dynamischen Psychiatrie«. Sie gerät damit zum größten Einfluss für die psychologischen und psychoanalytischen Forschungen Freuds, Alfred Adlers und Carl Gustav Jungs. Letztlich setzt die therapeutisch eingesetzte magnetische oder hypnotische Séance zum letzten Mal auch so etwas wie einen unmittelbaren 25. Nach der humoralpathologischen Vorstellung, der Uterus (gr. »hystera«) wandere auf der Suche nach Wasser im Körper umher. 26. Vgl. J. Breuer/S. Freud: Studien über Hysterie; Stavros Mentzos: Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen, Frankfurt a.M. 1980; Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997; Elisabeth Bronfen: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998. 27. Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1996, S. 101-112.

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Austausch zwischen zwei Menschen in Szene. Danach werden endgültig Medienwechsel vonnöten, um die Geheimnisse des Patienten zu bergen oder zu enträtseln. Aus der unmittelbaren Verbindung einer kosmischen Dynamik werden in der Psychoanalyse therapeutisches Gespräch (»talking cure«) und analytische Tiefenhermeneutik.

2.1.2 D IE S ICHTBARKE I T DER L ATENZ . Z E ICHEN , S PIEGEL UND A NAMORPHOSE (L AC AN ) Jacques Lacans strukturalistische Rhetorik erkennt in den Mechanismen der »Verschiebung« und »Verdichtung« in der unbewussten Traumarbeit bei Freud die Figuren der »Metonymie« und der »Metapher« und spezifiziert damit die sprachlich-rhetorische Herkunft der psychoanalytischen Theorie. Lacans Lektüre der Freudschen Psychoanalyse funktioniert als Übersetzung des linguistischen Strukturalismus (Ferdinand de Saussure, Roman Jakobson) sowie der Mathematik und der Kybernetik auf die Mechanismen der Psyche. Das Lacansche Unbewusste ist symbolisch, das heißt, es ist wie eine Sprache strukturiert.28 Dies Unbewusste konvergiert mit dem Modell einer Latenzarchitektur der strukturalistischen Zeichensysteme. Eine Zeichenfunktion basiert dabei auf ihrer Rekurrenz. Ein singuläres Zeichen existiert nicht. So wird die Bedeutung des Zeichens von außen, durch Differenz und Wiederholung, an das Zeichen herangetragen. Allein an Spuren ist die latente Struktur gebende Macht des Zeichensystems noch sichtbar. Die Exteriorität des Zeichens ist für dieses also sowohl konstitutiv als auch weitgehend unsichtbar.29 Wie Jacques Derrida in Freud und der Schauplatz der Schrift formuliert, gibt es dieses Phantasma einer »Übersetzung […] nur, wenn ein feststehender Code die Ersetzung oder Transformation der Signifikanten und die Bewahrung desselben Signifikats erlaubt, das immerfort präsent ist, ungeachtet der Abwesenheit dieses oder jenes bestimmten Signifikanten«30.

Entscheidend für Lacans Umschrift der Freudschen Psychoanalyse ist in diesem Sinne eine Neucodierung der Mechanismen des Unbewussten, die wesentlich auf zwei Umstellungen beruht. So wird erstens zwar der Abschaf28. Jacques Lacan: Das Seminar. Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), Olten, Freiburg 1978, S. 26. 29. Jacques Derrida: »Gegen Husserls ausdrückliche Absicht sieht man sich somit veranlasst, die Vorstellung als Vorstellung von der Möglichkeit ihrer Wiederholung und die einfachste Form der ›Vorstellung‹, die ›Gegenwärtigung‹, von der Möglichkeit der ›Vergegenwärtigung‹ abhängig zu machen. Die Präsenz des Präsens ist von der Wiederholung und nicht umgekehrt ableitbar.« Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt a.M. 1979, S. 106. 30. Jacques Derrida: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1994, S. 302-350, hier S. 321.

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fung des Realitätsprinzips bei Freud zugestimmt, aber mit dem Konzept des unhintergehbaren und notwendigen, aber stets in der Latenz verharrenden »Realen« ein Aspekt in das theoretische Gefüge der Psyche eingebracht, der nicht nur über die Alltagsrealität hinausweist, sondern auch eine Wahrheit jenseits des Symbolischen und Imaginären beansprucht. Zweitens findet eine Verschiebung der theoretischen Begriffe statt, die bei Freud zwar schon ökonomisch und thermodynamisch geprägt, aber vor allem von einem Räumlichkeitsdenken aus der Rhetorik dominiert waren. In Lacans strukturalem und funktionalem Modell der Psychoanalyse hingegen wird neben der Rhetorik auch der Einfluss der Medien manifest, um die unsichtbaren Vorgänge des Unbewussten sichtbar werden zu lassen. So funktioniert die einflussreichste Gedankenfigur Lacans nur über das Medium des Spiegels – nicht allein als Reflexionsraum, sondern als notwendiges Supplement, als Initiator in der Identitätsbildung des Subjekts. In Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion (1936)31 wird die Fixierung auf das Imaginäre etabliert, das durch das Bild eines heilen Körpers (moi) im Spiegel repräsentiert wird. Der eigene unvermittelte Körper ( je) erscheint dabei notwendig als zerstückelt, unkontrollierbar und defizitär. Die Aufgabe de »je« ist es, mittels Sprache, also dem zentralen Medium des Symbolischen, mit diesem Imaginären fertig zu werden. Die für Lacan entscheidende Initiierung des Spiegelstadiums und damit auch die psychische Geburt des Ichs ist die Szene, in der sich das Kind zwischen dem 6. und dem 18. Lebensmonat im Spiegel erblickt und mit einer »jubilatorischen Geste« selbst erkennt. Zum ersten Mal wird dem Kind, dessen zerstückelter Blick sonst allein die »Partialobjekte« seines Körpers wahrnimmt, die Vollständigkeit seines Körpers bewusst. Gekoppelt ist diese Erkenntnis an ein imaginäres und allmächtiges Größenselbst, ein Ideal-Ich (moi). Ebenfalls unauflöslich mit dieser Szene verbunden ist allerdings die Spaltung des Subjekts, denn der imaginäre und ideale Spiegelkörper ist eben, so muss das Kind erkennen, nicht identisch mit dem eigenen gefühlten zerstückelten und defizitären Körper ( je). Das imaginäre Verkennen, die Hinwendung zum Imaginären als dem heilen, narzisstisch besetzten, aber vor allem bildhaft organisierten Ganzen, wird dabei ebenso zur Matrix der Subjektwerdung wie sein ursprünglicher Dualismus. Diese Aktivität ist das Symbolische und ihr Ziel die Überwindung des Dualismus und damit die Verflüssigung oder Szene- bzw. Filmwerdung dieses statischen Bildes vom Imaginären (imago). Gewährleistet wird dies durch den Eintritt in die symbolische Ordnung, durch die Sprache, die vom großen Anderen gegeben wird und mit der die Gesetze des Vaters, mithin der Gemeinschaft, der Gesellschaft oder des Staates, zur Bedeutung gelangen. Das Symbolische wird bei Lacan vor allem durch die Wiederholung (automaton) strukturiert und entspricht im Wesentlichen dem Zeichensystem Ferdinand de Saussures. Das bedeutet, dass dieses Ordnungssystem (S) als der große 31. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung scheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongress für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: Ders.: Schriften 1. Hg. v. Norbert Haas, Frankfurt a.M. 1975, S. 61-70.

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Andere buchstäblich das Subjekt durchwaltet. Von einer Instanz jenseits des Symbolischen, aber sowohl mit dem Imaginären als auch dem Symbolischen in Form eines Borromäischen Knotens verbunden, kommen Flüchtigkeit, Akzidens (tyché) und die latente Macht des »Dings« als Stellvertreter des Realen zum Prozess der Subjektwerdung hinzu. Das bedeutet, dass jedes der drei Register des Psychischen (Reales-Symbolisches-Imaginäres) mit dem anderen verbunden ist und dass die Auflösung nur eines Elements die Auflösung der gesamten Psyche bedeutet. Das Reale ist dabei eine konstitutiv jenseitige Größe, die nicht kontrollierbar, nicht fassbar und unsagbar ist. Es sucht das Subjekt heim und kann deshalb strukturell mit dem Trauma verglichen werden. Es ist die exklusive Instanz, die sich der Sprache und damit dem Symbolischen entzieht, aber zugleich den Grund für die Signifi kation des Symbolischen überhaupt liefert. Später entwickelt Lacan aus dem Konzept des Realen das »Objekt klein a«, das den psychischen Prozess in Gang hält. Das Objekt klein a, das als Ziel des Subjekts im Imaginären angesiedelt ist, ist ein libidinös besetztes Ding, das dem Realen entstammt und als bemerkenswertes, oft grausiges Ereignis, vergleichbar einem Trauma, hängen bleibt. Das Begehren, dieses Ding zu berühren, um mit ihm eins und damit zu einem Subjekt zu werden, befreit das Subjekt aus dem Wiederholungszwang. Die Durchschreitung erfolgt im Symbolischen, so dass das Objekt klein a alle drei Register der Psyche aneinander koppelt. In dem Seminar Vom Blick als Objekt klein a32 verwendet Lacan für die Struktur des Unbewussten exemplarisch die Figur der Anamorphose und weist auf das Gemälde Die Gesandten (1533) von Hans Holbein dem Jüngeren hin, auf dem ein längs verzerrter Totenkopf als memento mori verborgen ist. »Anamorphose« bezeichnet ein verborgenes oder verzerrtes Bild, das nur aus einer bestimmten Perspektive (Längenanamorphose) oder mit einem speziellen Spiegel oder Prisma (katoptrische Anamorphose) sichtbar wird. Sie wird unter anderem dazu benutzt, Botschaften und Bilder in anderen Bildern zu verschlüsseln und kann daher in der Struktur des Unbewussten sowohl für das Ergebnis einer Verschiebung (Metonymie) als auch einer Verdichtung (Metapher) im Sinne beispielsweise einer verkleinerten und dadurch verrätselten Darstellung, vergleichbar einem Mikropunkt, stehen. Diese Vorstellung des »Dings«33 als einem unsichtbaren Motor, der das Subjekt zwingt, durch das Symbolische zu gehen, taucht auch als »Fleck« in visuellen Zusammenhängen auf. Bei Lacan eröff net in diesem Kontext das Auge des Subjekts zwar oberflächlich das Feld des Sehens. Dieses aber ist von dem Blick der Dinge schon längst räumlich aufgeteilt, und das Subjekt tritt immer schon als beobachtetes in das Feld ein. So wie das Subjekt ein Bild betrachtet, ist sein Blick der »Fleck« oder der »Schirm« in der Landschaft, des Tableaus oder Bildes. 32. Jacques Lacan: »Vom Blick als Objekt klein a«, in: Ders.: Das Seminar. Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), Olten, Freiburg 1978, S. 72126. 33. Zu Jacques Lacans Übernahme des Kantischen Begriffs siehe Hans-Dieter Gondek/Peter Widmer (Hg.), Ethik und Psychoanalyse. Vom kategorischen Imperativ zum Gesetz des Begehrens: Kant und Lacan, Frankfurt a.M. 1994.

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Dieser ist dem skotom vergleichbar, dem blinden Fleck, der entsteht, wenn das Subjekt ein Objekt, ein Ding, betrachtet. In Lacans Modell ist dies der Punkt, an dem das Ding schon vorher zurückblickt. Dieser Blick ist das privilegierte Objekt klein a auf der Ebene des Sehens, reduziert auf einen fokalen Nullpunkt, aber gleichzeitig auch der Initiator des Schautriebes, der Erzeuger von Schein und Faszination bei der Betrachtung von Kunst.34 Slavoj Žižek fügt diesem Lacanschen Konzept der »dialektischen Anamorphose«35 ein Wahrnehmungsmodell der wechselnden Schärfentiefe hinzu. Ist das Ding, der eine Teil der wahrgenommenen Szene, beispielsweise in Holbeins Gesandten, sichtbar, ist die »übrige Realität verwischt«: »Wenn wir den verschwommenen Fleck klar als Totenschädel erkennen und somit den Punkt erreichen, an dem ›der Geist ein Knochen ist‹, dann ist der Rest der Wirklichkeit nicht länger auszumachen.«36 Unser Blick auf die Realität ist also, so Lacan wie Žižek, in der betrachteten Szene immer schon enthalten: »Lacans Begriff vom blinden Fleck in der Realität führt die anamorphische Verzerrung in die Realität selbst ein. Die Tatsache, dass es die Realität nur für das Subjekt geben kann, muss in die Realität selbst – in Gestalt eines anamorphischen Flecks – eingeschrieben werden. Dieser Fleck steht für den Blick des Anderen, für den Blick qua Objekt.«37 Die Lücke zwischen Auge und Blick eröffnet deshalb den – durchaus gesellschaftlich und überwachungstechnisch zu deutenden und damit paranoischen – Sachverhalt, dass das wahrnehmende Subjekt immer schon von einem unsichtbaren Beobachter, mitunter einem nichtkörperlichen und panoptischen System, wahrgenommen wird und dass diese Beobachtung nicht den blinden Flick des eigenen Sehens, sondern auch die immer schon vorgängige Aufteilung des Blickfeldes bedeutet.

2.1.3 D A S O P T I SCH -U NBE WUS S TE (B EN JAMIN , F LUS SER ) Angeregt durch Lacans strukturalistische Lektüre der Psychoanalyse, die ihr mediales Supplement offen legt, haben auch die Medientheorien die Begriffsbestimmungen Freuds aufgenommen und versuchen mit der Unterscheidung latent/manifest ein mediales Unbewusstes – also die Verborgenheit medialer Strukturen und Wirkungsweisen – vor allem hinsichtlich des »Optisch-Unbewussten« in Bild, Photographie, Film und Computer zu analysieren.38 Die Sichtbarmachung dieser medialen Latenz wird allerdings nicht mehr von der 34. Siehe vor allem den Übertrag von strukturalistischer Psychoanalyse für die Filmtheorie und damit die Analogisierung von Traum und Kino über die Mechanismen der Verschiebung und Verdichtung in Christian Metz: The Imaginary Signifier. Psychoanalysis and the Cinema, Bloomington 1982. 35. Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a.M. 2001, S. 103-108. In einem Folgeband weicht die Figur der Anamorphose weitestgehend der Figur der Parallaxe. Vgl. Slavoj Žižek: : Parallaxe, Frankfurt a.M. 2006. 36. S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 107. 37. Ebd., S. 107-108. 38. Lutz Ellrich: »Psychoanalytische Medientheorien«, in: Stefan Weber (Hg.), Medien- und Kommunikationstheorien, Konstanz 2003, S. 253-276.

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psychoanalytischen Arbeit erwartet, sondern den technischen Medien selbst überantwortet. Bei Friedrich Kittler beispielsweise wird die Latenz nicht nur direkt mit diesen Medien gleichgesetzt, sondern, so Kittler im Gegenzug weiter, auch die Psychoanalyse verdankt ihre Begriffe und Vorstellungen den Medien: »Freuds Traumdeutung, auf deren Titelblatt stolz und voreilig die Zahl Null eines neuen Jahrhunderts prangt, inauguriert Medientransposition als Wissenschaft.«39 Diese Medientransposition von Traum in Rede setzt eine Analogie voraus, die, wie auch Derrida für Freud festlegt, nach festgelegten Regeln, nach konstanten Codes funktioniert: »Deutungstechniken, die Texte als Scharaden oder Träume als Bilderrätsel behandeln, sind keine Hermeneutik. Sie sind es nicht, weil sie nicht übersetzen. Die Übersetzung eines Rebus scheitert daran, dass Buchstaben in freier Natur, der Referenz allen Übersetzens, nicht vorkommen. […] Um manifeste Trauminhalte in latente Traumgedanken zu transponieren, muss zunächst und zuerst jedes der zwei Medien als definierte Elementenmenge mit definierten Verknüpfungsregeln (Fügungsgesetzen) angeschrieben werden.«40

Das »Andere seiner Decodierung«, 41 die Photographien, Filmaufnahmen und »Zerhackungen des Großen Hysterischen Bogens«, 42 die Freud z.B. während seiner Hospitanz bei Charcot sieht, ignoriert dieser aber geflissentlich. Auch das Kino bleibt der Traumdeutung fern, optische Medien wirken nur in der Latenz der Psychoanalyse fort. So bilden optische Medien bei Freud eine auff ällige Leerstelle, obwohl gerade der Film schon früh psychologisch, psychophysisch und psychotechnisch in das Diskursfeld des Unbewussten rückt. Georg Wilhelm Pabst etwa dreht mit Geheimnisse einer Seele (1926) eine frühe und prominente Verfilmung der psychoanalytischen Theorien und lässt bei Freud anfragen, ob dieser nicht als Berater des Films arbeiten möchte. Freud lehnt ab. Auch Luis Buñuels und Salvador Dalís Film Un chien andalou (1928)43 als Ausdruck eines kinematographischen Surrealismus verweist wie selbstverständlich auf die von Freud sichtbar gemachten Prozesse des Unbewussten, wie sie beispielsweise im manifesten Trauminhalt vorkommen. Die Basistechnik des Films, vor allem der Schnitt der Montage, wird (unbeeinflusst von der Freudschen Psychoanalyse) z.B. von Hugo Münsterberg schon 1916 als »Traumtechnik« verstanden. 44 Besonders in der fi lmischen Tricktechnik sieht Münsterberg eine deutliche Implementierung der Mechanismen des F. Kittler: Aufschreibesysteme 1800-1900, S. 344. Ebd., S. 345. Ebd., S. 349. Ebd. Alfred Hitchcock hat sich das hellsichtig zunutze gemacht und Salvador Dalí für die Ausgestaltung der Traumsequenz in dem Psychoanalyse-Film Spellbound (1945) engagiert. Vgl. dazu auch François Truffaut: Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht? München 1977, S. 154-158. 44. Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino. Hg. v. Jörg Schweinitz, Wien 1996. 39. 40. 41. 42. 43.

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Unbewussten am Werk. Anmerken lässt sich dazu, dass mit der Psychoanalyse um 1900 jedenfalls bis heute eine Sprache verfügbar gemacht wird, die ein Instrumentarium zur Beschreibung innerer Vorgänge bereitstellt, das zusammen mit dem Film psychische Vorgänge nicht nur zu beschreiben, sondern unter Umständen diese auch zu beeinflussen vermag. An die Seite der Psychoanalyse rückt deshalb der Film als Verursacher von Veränderungen in der Ökonomie der Seelenzustände. Wer z.B. kurz vor seinem vermeintlichen Tod noch einmal sein ganzes Leben vorüberziehen sieht, betrachtet keine Romanseiten mehr, nicht mehr die Linearität von Schrift wie in verschütteten Traumelementen, sondern erlebt bewegte Bilder im Zeitraffer und in dynamischen Jump Cuts – Filmschnitten, die Zeit und Raum in einem Augenblick verändern: »Um 1900, also unmittelbar nach Entwicklung des Films, scheinen sich die Fälle von Bergsteigern, Alpinisten und womöglich auch Schornsteinfegern gehäuft zu haben, die einen fast tödlichen Absturz von Bergen oder Dächern trotz allem überlebten. Wahrscheinlicher allerdings, dass sich nicht die Fälle, sondern die wissenschaftlichen Interessenten an ihnen gehäuft haben. Jedenfalls machte bei Medizinern wie Dr. Moriz Benedict, aber auch bei mystischen Anthroposophen wie Dr. Rudolf Steiner sofort eine Theorie die Runde […]. Die Theorie besagte, dass die Abstürze […] im so genannten Erlebnis […] gar nicht schrecklich oder angstbesetzt seien. In der Sekunde des drohenden Todes würde vor den inneren Augen vielmehr in rasendem Zeitraffer der Film eines ganzen gewesenen Lebens noch einmal ablaufen […].«45

Walter Benjamin nimmt die Fäden auf, die zum gemeinsamen Ursprung von Psychoanalyse und optischen Medien zurückführen, um das photographische Konzept des »Optisch-Unbewussten« zu postulieren. 46 In der Kleinen Geschichte der Photographie (1931) wird dieses Konzept als eine unbewusste visuelle Ebene entwickelt, d.h. allein der Einsatz optischer Techniken wie Zeitlupe oder Vergrößerung lassen das Optisch-Unbewusste sichtbar werden. Der Photoapparat ist bei Benjamin deshalb kein bloßer Abbildungsapparat, sondern er durchdringt die Realität. Neue Wahrnehmungsdispositive, neue Formen der Apperzeption entstehen mit dieser neuen Medientechnik. Schon in der Einbahnstraße (1928) hat sich Benjamin mit dem Auf kommen einer neuen Bilderschrift auseinandergesetzt und dabei die neuen Anforderungen an die Wahrnehmung als Anpassung an moderne Medien und urbane Kulturtechniken angedeutet. Im Aufsatz über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935/36) werden diese Überlegungen dann explizit: »Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektive auch die Art und Weise ihrer 45. Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 29-30. 46. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (1935)«, in: Ders.: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a.M. 1977, S. 7-44, hier S. 36.

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Sinneswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.«47 In diesem Text wird auch die Aura von Kunstwerken als latentes Residuum kultischer Verehrung definiert. Diese schwindet zusehends in den neuen Medien. Während die Photographie noch ein Interimsmedium darstellt, ist der Film gänzlich von ihr befreit und daher gezwungen, sich mit dem »Starsystem« einen neuen künstlichen Schein zu erschaffen, ein Surrogat der Aura. In diesem Zusammenhang erfolgt auch der zentrale Einsatz des Optisch-Unbewussten bei Benjamin. Denn die neuen Medien enthüllen zwar neue Wirklichkeitsaspekte, aber nur insofern sie diese zugleich konstruieren: »Indem der Film durch Großaufnahmen […], durch Betonung versteckter Details an den uns geläufigen Requisiten, durch Erforschung banaler Milieus unter der genialen Führung des Objektivs, auf der einen Seite die Einsicht in die Zwangsläufigkeiten vermehrt, von denen unser Dasein regiert wird, kommt er auf der anderen Seite dazu, eines ungeheuren und ungeahnten Spielraums uns zu versichern! Unsere Kneipen und Großstadtstraßen, unsere Büros und möblierten Zimmer, unsere Bahnhöfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschließen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so dass wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trümmern gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen. Unter der Großaufnahme dehnt sich der Raum, unter der Zeitlupe die Bewegung.«48

In der Medientheorie funktioniert die Programmierung, die sich im Speicher des jeweiligen Mediums verbirgt, analog zur Definition des OptischUnbewussten. Benjamin begreift die Medien als Apparaturen, die optische, akustische oder motorische Ereignisse aus ihrer Unzugänglichkeit lösen und neue, unbewusste Räume des Wissens und der Macht zugänglich machen. Während Kittler diese Verbergungsstrukturen zum Teil noch eindeutig und mit einer verschwörungstheoretischen Rhetorik beispielsweise den Machenschaften von Microsoft zuschiebt, die ausgerechnet die Benutzeroberfläche »Windows« (dem »Fenster zur Welt«) in einen »Protected Mode« verwandeln, entwirft Vilém Flusser mit seiner Theorie von den Technobildern eine medienontologische Perspektive, die – durchaus parallel zur Beschreibung der psychischen Mechanismen bei Freud und Lacan – besagt, dass sich die Schrift als Programmschrift unsichtbar in die Entwicklung vom Bild zum Technobild und damit in moderne visuelle Medien wie Photoapparat, Filmkamera oder Computer einfädelt. 49 47. Ebd., S. 14. 48. Ebd., S. 23. 49. Friedrich Kittler: »Protected Mode«, in: Ders.: Draculas Vermächtnis. Tech-

nische Schriften, Leipzig 1993, S. 208-224; Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1992; Ders.: Schriften. Bd. 1. Lob der Oberfl ächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Mannheim 1993; Ders.: Schriften. Bd. 4. Kommunikologie, Mannheim 1996.

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Aber schon die Technik der bewegten Bilder selbst, so muss speziell zum Film ergänzt werden, lässt sich als eine Form medialer Latenz begreifen, da erst die Kombination bestimmter Eigenschaften des Auges mit bestimmten Operationen des Gehirns für die Illusion von Bewegung einer Reihe von Standbildern sorgt. Spätestens bei 16 Bildern pro Sekunde wird der Eindruck einer kontinuierlichen Bewegung erzeugt. Unterhalb der bewussten Wahrnehmung und in Korrespondenz zu den Dynamiken des Unbewussten, die in Film- und Medientheorie mit den Montagetechniken des Films gleichgesetzt werden, operieren als Sonderformen des Optisch-Unbewussten Subliminal Images.50 Das sind Bilder, die so kurz auf der Filmleinwand erscheinen, dass sie die bewusste Aufmerksamkeit des Zuschauers unterlaufen und direkt auf das Unbewusste einwirken. Sie sind manchmal nur ein Frame, eine 24tel Sekunde, lang. Der tatsächliche Effekt maskierter und unterschwelliger Werbung ist zwar ungeklärt und zielgericht-appellativ wahrscheinlich ohne Bedeutung, aber nachweislich hinterlassen auch subliminale Reize Spuren im Gedächtnis und führen zu einer unbewussten Informationsverarbeitung. Subliminal Images tauchen, nachdem sie zu einem Mythos in der Kinowerbung geworden sind, zum ersten Mal prominent in dem ökonomisch bislang erfolgreichsten Horrorfilm auf: Williams Friedkins The Exorcist (1973)51. Dort erhält der Teufel ein oder wenige Frames lang ein Gesicht, während er sich ansonsten ausschließlich über Gesicht und Stimme des kleinen Mädchens Regan mitteilt, das er besetzt hält. Das filmische Technobild – nach Flussers Definition als Produkt eines zuvor verschriftlichten Programms – wird in der zweiten Potenz des technischen Bildes somit noch mittelbarer. Es genügt nicht mehr, dass der Kinozuschauer den Kopf von der Leinwand der Platonischen Höhlenwand wendet, um den Projektor zu bemerken, sondern er muss inzwischen um den geheimen Einsatz von einmontierten Bildfragmenten oder eine digitale Bild50. Hermann von Helmholtz formuliert schon 1866 im letzten Band seines Handbuchs der physiologischen Optik das psychophysische Konzept des »unbewussten Schlusses«. Dieses Konzept geht entgegen einem einfachen Empirismus von einem unbewussten Mechanismus kognitiver Prozesse aus, der die empirischen Reize nach einer eigenen Logik verarbeitet. Beispiele dafür sind die relative Wahrnehmung von Helligkeit oder die Ekliptik. Dieser unbewusste Schluss sorgt auch für die Kontinuität von optischen Täuschungen (wie die »Serviettenringtäuschung« von Wilhelm Wundt) und für die Vor-Urteile in der Wahrnehmung zwischen Menschen. So ist der erste – visuelle – Eindruck von einem anderen Menschen kein direkter und spontaner, sondern schon das Ergebnis unbewusster Zuschreibungsprozesse. Die automatische neurologische Verarbeitung der visuellen Sinneseindrücke findet nicht bewusst statt und zwingt zu einer nicht reflektierbaren Vorentscheidung. Dinge werden deshalb durch eine nicht wahrnehmbare und willentlich zu widersetzende Macht als wahr angenommen, ganz einfach weil sie mit den Augen wahrgenommen werden. 51. William Friedkin benutzt diese Technik mindestens in noch zwei weiteren Filmen (Cruising, 1980, und Jade, 1998). Weitere jüngere Beispiele für Subliminal Images in Filmen sind Twilight Zone – The Movie (1983) von John Landis, Joe Dante, George Miller und Steven Spielberg, David Lynchs Lost Highway (1996), David Finchers Se7en (1995) und Fight Club (1999).

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bearbeitung wissen, die schon in das Filmband selbst implementiert sind. Diese Techniken medialer Latenz unterlaufen effektiv noch jede »Taktilität« eines opernhaften Gesamtkunstwerks oder der neuen Medien. Ohne eine bewusste Erinnerung an die Bilder zu haben, nimmt das Unbewusste des Kinozuschauers den Schock der zersplitterten Realität des Films auf.

2.1.4 D A S POL I T I SCHE U NBE WUS S TE (F REUD, J AME SON , Ž I ŽEK , C A S TOR I ADI S ) Die politische Form des Unbewussten bzw. eine psychoanalytische Politik der Gemeinschaft, die auf einem Modell der Latenz beruht, findet sich früh in Freuds Totem und Tabu (1912/13) als Szene einer Gemeinschaft stiftenden Urverschwörung.52 Präfiguriert wird diese von der griechisch-römischen Mythologie, wie sie beispielsweise in Hesiods Theogonie (8. Jh. v. Chr.) auftaucht,53 in der vom Aufstand der Olympier gegen die Titanen, beispielsweise von der Kastration Kronos’ durch seinen Sohn Zeus, dem künftigen Göttervater, berichtet wird. Die Begründung einer Gemeinschaft liegt mythologisch betrachtet also im Tyrannen-, Königs- oder Vatermord, dem eine Verschwörung der Brüder vorangeht. Freud beginnt allerdings – ausgehend von der Prämisse einer grundsätzlichen Vergleichbarkeit zeitgenössischer individueller Neurosen mit ›wilden‹ und mythischen Verhaltensweisen – mit der Erforschung kultureller Tabus, vor allem dem Inzesttabu. In der Nachfolge zeitgenössischer Ethnologie, beispielsweise James Georges Frazers The Golden Bough (1890), untersucht Freud Riten, Ge- und Verbote bei so genannten ›Naturvölkern‹. Seine zentrale These zur Entstehung der Inzestscheu besteht in der Erzählung eines Vatermordes durch eine konkurrierende Brüdergemeinschaft. Der getötete Vater wird hernach zum Totem, das durch Schuldgefühle, die die Tötung begleitet haben und nachhaltig fortwirken, für heilig erklärt wird. Das Totemtier als Identitätssymbol eines Bruderstammes darf nicht getötet werden, und die Mitglieder eines Stammes, die einem Totem angehören, dürfen auch nicht miteinander in sexuellen Kontakt treten. Die evolutionsbiologische Bevorzugung der Exogamie wird somit zu einer Kulturgeschichte des Tabus und der Sublimation, beispielsweise wenn zu bestimmten Feiern das Totemtier in rituellen Ausnahmesituationen doch getötet und verspeist werden kann. Einen Überschlag dieser Ontogenese von Totem und Tabu zum phylogenetischen Ödipuskomplex unternimmt Freud dann, wenn er eine latente Verankerung und Vererbung dieser Inzestscheu in der Psyche des Einzelnen sieht. Auch der tyrannische »Vater der Vorzeit« fi ndet letztlich seine Entsprechung im gesellschaftlichen Über-Ich.54 52. Sigmund Freud: Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. Einleitung von Mario Erdheim, Frankfurt a.M. 1997. 53. Hesiod: Theogonie, Stuttgart 2002. 54. Die These, dass die Angst zum Gemeinschaftspakt vor der Souveränität führt und damit Freuds Gemeinschaftstheorie mit der Gesellschaftstheorie von Thomas Hobbes verbindet, stammt von Roberto Esposito: Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft, Berlin 2004.

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Eine Fortsetzung dieser kulturtheoretischen Überlegungen findet sich in Freuds später Schrift Das Unbehagen in der Kultur (1930).55 Dort schreibt er die in Jenseits des Lustprinzps (1920) entwickelte Theorie zweier gegensätzlicher Triebe fort, die das menschliche Handeln dominieren und die Kultur durchwalten: Eros und Thanatos, Vereinigungs- und Todes- oder Zerstörungstrieb, die meist in Kombination die menschlichen Handlungen steuern. Zum einen treibt die Macht der Liebe die Menschen dazu, Familien zu bilden, zum anderen formiert der Zwang zur Arbeit eine Kulturgemeinschaft, die dem Familienverbund widerspricht. Der Todestrieb, so stellt Freud fest, steht den Sicherheitsmaßnahmen der Kultur gegenüber. Auch das Über-Ich, die moralische Instanz, dämmt die Triebe des Menschen ein, in dem es die Schuldgefühle entwickelt. Während Freud, so kann man hinzufügen, dabei allerdings jede Form von offener Gesellschaftskritik von seiner Kulturtheorie fernhält, unternehmen so genannte ›freudomarxistische Bewegungen‹ später die Kombination psychoanalytischer mit gesellschaftlichen Theorien. Die Freudsche Massenneurose in Das Unbehagen in der Kultur wird z.B. bei Wilhelm Reich zum deutlich sichtbaren Effekt sozialer und sexueller Unterdrückung des einzelnen im Kapitalismus. Übernommen wird dieser Ansatz der psychischen Beeinflussung des Individuums durch die Gesellschaft – zum Teil auch kritisch – beispielsweise von Vertretern der Kritischen Theorie, vor allem von Erich Fromm und Herbert Marcuse (Eros and Civilization, 1955). Als die »verborgene Tendenz in der Psychoanalyse« legt Marcuse vor allem die Verbindung von Onto- und Phylogenese des Menschen genau so wie den kulturellen Einfluss, speziell die Unterdrückung des Individuums, auf den psychischen Apparat offen.56 Eine zentrale These Fredric Jamesons zum politischen oder kulturel55. Sigmund Freud: Abriss der Psychoanalyse. Das Unbehagen der Kultur. Mit einer Rede von Thomas Mann als Nachwort, Frankfurt a.M. 1970. Hier wird die Geschichte des Menschen bzw. seiner Kulturalisierung auch schon am Maßstab der Medienentwicklung gemessen: »Mit all seinen Werkzeugen vervollkommnet der Mensch seine Organe – die motorischen wie die sensorischen – oder räumt die Schranken für ihre Leistung weg. Die Motoren stellen ihm riesige Kräfte zur Verfügung, die er wie seine Muskeln in beliebige Richtungen schicken kann; das Schiff und das Flugzeug machen, dass weder Wasser noch Luft seine Fortbewegung hindern können. Mit der Brille korrigiert er die Mängel der Linse in seinem Auge, mit dem Fernrohr schaut er in entfernte Weiten, mit dem Mikroskop überwindet er die Grenzen der Sichtbarkeit, die durch den Bau seiner Netzhaut abgesteckt werden. In der photographischen Kamera hat er ein Instrument erschaffen, das die flüchtigen Seheindrücke festhält, was ihm die Grammaphonplatte [sic!] für die ebenso vergänglichen Schalleindrücke leisten muss, beides im Grunde Materialisationen des ihm gegebenen Vermögens der Erinnerung, seines Gedächtnisses. Mit Hilfe des Telephons hört er aus Entfernungen, die selbst das Märchen als unerreichbar respektieren würde; die Schrift ist ursprünglich die Sprache des Abwesenden, das Wohnhaus ein Ersatz für den Mutterleib, die erste, wahrscheinlich noch immer ersehnte Behausung, in der man sicher war und sich so wohl fühlte.« Ebd., S. 86-87. 56. Herbert Marcuse: Triebstruktur und Gesellschaft (Eros and Civilization,

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len Unbewussten besagt, dass kulturelle Artefakte Repräsentationen unterschwelliger sozialer und ökonomischer Widersprüche in der Geschichte sind. Diese werden allerdings nicht inhaltlich gespiegelt, sondern, und darin folgt Jameson Theodor W. Adorno,57 sie treten in ästhetischen Formen zutage. Die Aufgabe des Analytikers ist es, die jeweils politische und ökonomische Basis, also das Unbewusste der Kunstwerke, offen zu legen. Eine systematische Auseinandersetzung mit den Begriffen der strukturalistischen Psychoanalyse findet sich in The Political Unconscious (1981), in dem Jameson vor allem auf die Lacansche Latenzfigur einer Unterscheidung zwischen dem Symbolischen und dem Realen verweist. So wie das Reale ausschließlich in der Strukturierung durch das Symbolische sichtbar wird, also als Unmittelbares nie in Erscheinung treten kann, aber dennoch aus der Abwesenheit die Psyche zu steuern vermag, sieht Jameson Geschichte unter der Symbolisierung der Textualität am Werk. Literatur ist in The Political Unconscious der sichtbarmachende Akt der Symbolisierung von Geschichte, speziell der gesellschaftlichen Widersprüche und des Klassenkampfes, und die Entzifferung ihrer (unbewusst) ideologisch geprägten Formung erlaubt einen Einblick in die latenten Ordnungen und Effekte nicht nur der literarischen Struktur der Geschichte, sondern auch jener Mythen, deren Ablösung diese Geschichte sein wollte. Jameson setzt also zunächst die Historizität des Unbewussten an die Stelle einer ahistorisch und strukturell operierenden Psychoanalyse, die er als ideologisch charakterisiert. Seine eigene literarische Analyse basiert auf der Demaskierung historischer »kultureller Fakten« als »sozial-symbolische Akte«. Für ihn widersprechen dabei Marxismus, psychoanalytische und (post-) strukturalistische Theorien einander nicht, sondern der Marxismus wird als totaler und grundlegender theoretischer Rahmen für alle anderen Theorien betrachtet. Geschichtsbewusstsein und damit auch sozioökonomische Totalität sind für ihn die notwendige Basis aller kulturellen Äußerungen. Geschichte wird dabei als ein großer Fluss betrachtet, eine einzige große Erzählung, die an singulären kulturellen Artefakten manifest wird: »Genau hierin findet die von mir vorgeschlagene Theorie des politischen Unbewussten ihre Funktion und Notwendigkeit, indem sie die Spuren dieser ununterbrochenen Erzählung ausfindig macht, indem sie die unterschlagene und verschüttete Wirklichkeit dieser grundlegenden Geschichte wieder an der Oberfläche des Textes ablesbar werden lässt.«58 1984 erscheint Jamesons bekanntester Text Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism.59 Jameson bestimmt darin die »ästhetische Postmo1955). Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a.M. 1967, S. 1726. 57. Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Hg. v. Gretel Adorno/Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1995. 58. Fredric Jameson: Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns, Reinbek bei Hamburg 1988, S. 15-16. 59. Fredric Jameson: »Postmoderne – Zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus«, in: Andreas Huyssen/Klaus R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek bei Hamburg 1986, S. 45-102.

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derne« nicht als künstlerisch-literarische Stilrichtung, sondern als die »kulturelle Dominante« des spätkapitalistischen Zeitalters. In dieser »Postmoderne« lösen sich die Grenzen zwischen Kunst, Massenkultur und Marketing endgültig auf. Kunst wird sozial und ökonomisch umcodiert. Konstitutive Merkmale der Postmoderne sind dabei die Oberflächlichkeit, der Verlust von Individualität und Historizität, eine Hinwendung zum Nostalgischen und die Abhängigkeit dieser Phänomene von einer völlig neuen Technologie, die ihrerseits für ein neues Weltwirtschaftssystem steht, das ein neues globales Raumgefühl produziert. Kunst und Kultur repräsentieren für Jameson in ihren fragmentarischen, geschichtslosen und oberflächlichen Pastiche-Formaten die Basis einer »postmodernen« Gesellschaft und lassen damit die Logik des Spätkapitalismus sichtbar werden. Diese Feststellungen sind die theoretischen Grundbedingungen für die endgültige Ausweitung des Konzepts zu einem »geopolitical unconscious« in The Geopolitical Aesthetic (1992)60. Zentral für die geopolitische Kultur im Spätkapitalismus ist für Jameson dabei die Nichtrepräsentierbarkeit des gegenwärtigen »Weltsystems«, die dieser nicht mehr an der Literatur oder an postmoderner Architektur ausfindig macht, sondern am Verschwörungsfilm der 1970er und 1980er Jahre. Dieser repräsentiert für ihn allein noch die Unüberschaubarkeit einer globalisierten Welt des Spätkapitalismus – vergleichbar der postmodernen »Unübersichtlichkeit«61 bei Jürgen Habermas. Gegenwärtige Technologien, wie Fernsehen oder der Computer, haben demnach keine emblematische Kraft mehr. Ihr Äußeres repräsentiert nicht mehr eine bestimmte Epoche oder Technik, sondern verweist allein noch auf eine nicht mehr sichtbare und deswegen unheimlich gewordene Totalität. Ein globales Computersystem wird im Verschwörungsfi lm deshalb beispielhaft zu einem labyrinthischen Netz von Informationsagenturen und geheimen Regierungsstellen und soll eine Komplexität erzeugen, die die Denk- und Vorstellungskapazität des Zuschauers übersteigt. Der Verschwörungsfi lm, so Jameson, wird damit zur Allegorie einer totalen Verschwörung des »Weltsystems«, das sich nicht mehr kartieren lässt. Als theoretische Fortsetzung des verborgenen Zusammenhangs von Psyche, Gesellschaft und Kultur, wenn auch unter anderen Vorzeichen, stehen die Texte Slavoj Žižeks für eine konkrete Politisierung der Lacanschen Psychoanalyse an Beispielen aus Literatur, Film und Popular Culture ein. Vor allem die Lacansche Bestimmung des Blicks sowie die drei Register des Psychischen (das Reale, das Symbolische und das Imaginäre) bestimmen seine Analysen. Der »große Andere« ist für Žižek dabei das Regulativ der sozialen

60. Fredric Jameson: The Geopolitical Aesthetic: Cinema and Space in the World System, Bloomington, Indianapolis, London 1995. 61. Jürgen Habermas: Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M. 1985. Dies ist der programmatische Begleitband zur ideengeschichtlich-theoretischen Abrechnung mit der »postmodernen« Philosophie. Siehe dazu Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen (1985), Frankfurt a.M. 1996.

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Normen in der Gesellschaft, etwas, das in Zeiten der »Post-Politik«62 jedoch zunehmend an Wirkung verliert: »Derzeit haben wir es jedoch mit einer anderen Form der Leugnung des Politischen zu tun, und zwar mit einer postmodernen Post-Politik, die das Politische nicht mehr bloß ›verdrängt‹, um es in Schach zu halten, und die ›Wiederkehr des Verdrängten‹ zu beschwichtigen, sondern es noch wirksamer ausschließt, so dass die postmodernen Formen ethnischer Gewalt […] nicht länger einfache ›Wiedergänger‹ des Verdrängten sind, sondern ein Ausgeschlossenes (aus dem Symbolischen) darstellen, das – wie wir seit Lacan wissen – im Realen wiederkehrt.«63

Die Legitimität traditioneller Regularien wird in der Postmoderne dabei zum neuen Gegenstand von Reflexion. Weiterhin findet für Žižek in der Post-Politik eine Verabschiedung von der Form der öffentlichen Debatte und eine Hinwendung zu ideologiefreien Ideen sowie zur Aushandlung von Kompromissen statt. Ersetzt wird der politische Konflikt durch die »Kollaboration von aufgeklärten Technokraten (Ökonomen, Meinungsforschern…) mit liberalen Multikulturalisten«64. Pragmatisches Experten- und Verwaltungswissen wird, so Žižek, gegen die Möglichkeit politischer Diskussion gesetzt. Dabei finde allerdings ein Prozess statt, der – ganz kapitalistisch – Partikulares nicht ausschließt, sondern sich einverleibt. Post-Politik stelle sich dabei gegen eine Universalisierung von Aussagen, um konkreten und damit partikularen Problemen zu begegnen. Dem latenten universalen Missstand, wie er konstitutiv sowohl durch die ganz grundsätzliche Spaltung des Subjekts als auch durch die ökonomischen Widersprüche perpetuiert wird, wird dabei ausgewichen. Das Format der Post-Politik ist letztlich dem logos, rationale Lösungen zu finden, zugewandt, und stellt sich gegen den polemos in der Vermeidung eines grundsätzlichen politischen Streits. Der »eigentlich politische Akt (die Intervention)«,65 etwas, das nicht nur die Funktion der Dinge festlegt, sondern den Rahmen selbst verändert, fällt, so bemerkt Žižek kritisch, dabei weg. Žižek diskutiert und übernimmt abseits seiner Kritik an der Post-Politik nicht nur die »Postmoderne«-Definition Jamesons, sondern beispielsweise in Liebe Deinen Nächsten? Nein, Danke! und Die Tücke des Subjekts auch dessen Bestimmung von »Verschwörung« und »Paranoia« als entscheidende Narrative in einem globalisierten Spätkapitalismus. Er betrachtet die Paranoia als präzise Definition des Glaubens an einen »großen Anderen, der tatsächlich im Realen existiert und nicht einfach nur […] eine symbolische Fiktion«66 ist. Das zeitgenössische Subjekt wird in diesem Glauben paradoxerweise zum einen von absolutem Vertrauen und zum anderen von zynischer Distanz beherrscht: S. Žižek: Tücke des Subjekts, S. 272-282. Ebd., S. 272-273. Ebd., S. 273. Ebd. Slavoj Žižek: Liebe Deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 159. 62. 63. 64. 65. 66.

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»Das typische Subjekt von heute lässt sich schrankenlos auf paranoide Phantasien über Verschwörungen, Bedrohungen und exzessive Formen des Genießens des Anderen ein, während es nach außen hin den zynischen Schein wahrt, jedweder allgemeinen Ideologie zu misstrauen. Das Misstrauen gegenüber dem großen Anderen (der Ordnung symbolischer Fiktionen), die Weigerung des Subjekts, »es ernst zu nehmen«, hängt vom Glauben ab, dass es einen »Anderen des Anderen« gibt, dass ein geheimer, unsichtbarer und allmächtiger Agent wirklich »die Fäden zieht« und die ganze Show am Laufen hält: hinter der sichtbaren, öffentlichen Macht gibt es noch eine andere, obszöne, unsichtbare Machtstruktur. Dieser andere verborgene Agent spielt die Rolle des »Anderen des Anderen« im Sinne Lacans, die Rolle einer Meta-Garantie der Konsistenz des großen Anderen (der symbolischen Ordnung, die das gesellschaftliche Leben reguliert).«67

Ein entscheidender Unterschied zu Jameson findet sich bei Žižek allerdings in der Einspielung der Aspekte des Öffentlichen und Privaten, wie sie bei Jürgen Habermas und Richard Sennett thematisiert werden,68 geht aber noch darüber hinaus. Denn Žižeks psychoanalytische Prämissen des Politischen setzen grundsätzlich auf zwei komplementären Figuren auf: eine Defi nition des Subjekts im Sinne der Lacanschen Psychoanalyse und die Zweiseitigkeit politischer Systeme, d.h. die Koppelung einer öffentlichen oder Verkündigungsseite von Ideologie mit einem »schmutzigen Geheimnis«, das als verborgener, aber notwendiger Motor der Reproduktion politisch-phantasmatischer Öffentlichkeit diene. Dieses Geheimnis ist in vielen Fällen, wie Žižek beschreibt, die Ursprungsgewalt im Gründungsakt der Gesellschaft. Eine besondere Bedeutung kommt dabei, und Žižek übernimmt hier Denkfi guren von Jacques Rancière,69 der politischen Öffentlichkeit zu, dem Politischen als »Domäne der Erscheinung«70: »Von Bedeutung ist hier die Unterscheidung zwischen der Erscheinung und dem postmodernen Simulakrum, das sich nicht mehr von der Wirklichkeit unterscheiden lässt.« 71 Denn nicht die Wirklichkeit geht im Zeitalter postmoderner Simulation unter, sondern die Erscheinung: »Um es mit Lacan zu sagen, das Simulakrum ist imaginär (Illusion), wohingegen die Erscheinung symbolisch (Fiktion) ist. Beginnt sich die spezifische Dimension der symbolischen Erscheinung aufzulösen, so werden das Imaginäre und das Reale zunehmend ununterscheidbar.«72 Es gilt für Žižek also, den Raum des Politischen als symbolische Fiktion – und man könnte hinzufügen: als öffentliche Arena des Politischen – mit all seinen medialen Repräsentationsmöglichkeiten – vor dem »heftigen Angriff des postmodernen, alles umfassenden Gesellschaftskörpers […] mit seiner Vielfalt an 67. S. Žižek: Tücke des Subjekts, S. 503. 68. Ausführlicher werden diese beiden Positionen diskutiert im Kapitel 2.3.2

Strukturwandel der Öffentlichkeit (Habermas, Meyer, Sennett) in diesem Band. 69. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M. 2002. 70. S. Žižek: Tücke des Subjekts, S. 268. 71. Ebd. 72. Ebd., S. 269.

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Partikularidentitäten zu verteidigen« 73. Diese Sphäre des Politischen ist für Žižek radikal öffentlich, eine notwendige Bühne für universale Diskussion und des »Erscheinens« des Politischen. Eine direkte Implementierung psychoanalytischer Figuren in politische Philosophie findet sich über die Figur des »Imaginären« auch in Cornelius Castoriadis’ Entwurf einer Gesellschaft als imaginärer Institution (1984). So entlehnt Castoriadis zwar den Begriff des »Imaginären« aus der Psychoanalyse, nimmt allerdings eine radikale Umwertung in der Weise vor, dass das Imaginäre nicht »das Spekulare, ›Spiegelhafte‹, das offensichtlich nur ein Bild von, ein reflektiertes Bild ist, anders gesagt: das Widerspiegelung und damit ein Abfallprodukt der platonischen Ontologie (des eidolon)«74 ist, sondern der Spiegel selbst und damit überhaupt erst die Bedingung der Möglichkeit, dass etwas, wie die Welt, ein Bild von etwas sein kann. Das Imaginäre bei Castoriadis ist die konstante Operation einer nicht determinierten Schöpfung von Bildern, »die jeder Rede von ›etwas‹ zugrundeliegen«75. Dazu zählen auch Gesellschaftstheorien und politische Entwürfe, die, so muss man beachten, der Geschichte und der Gesellschaft nicht äußerlich sein können. Castoriadis’ Projekt, das er »Aufklärung« nennt, kann deshalb auch nur eine im »Gesellschaftlich-Geschichtlichen« eingebettete Reflexion der gesellschaftlichen und politischen Bedingungen des Imaginären sein, die zu politischen Entwürfen und Handeln führen. Eine apriorische Theorie könne es aber für Castoriadis ebenso wenig geben wie ein – theoretisches oder politisches – Reden im Namen der »Vernunft«, der »Geschichte« oder einer »Klasse«. Nie könne jemand im Namen von jemandem sprechen. Das Reden von etwas oder jemandem ist deshalb eine Rhetorik der »Bemäntelung« und »Täuschung«.76 Wie aber steht für Castoriadis die Instanz der »Psyche« zum Imaginären? Wie kann die Psyche als »radikale Imagination« mit dem Gesellschaftlich-Geschichtlichen als das »gesellschaftlich Imaginäre« zusammengedacht werden? Wie verwandelt sich die Psyche von einem monadenhaften Zustand in ein »gesellschaftliches Individuum«77? Die Entwicklung der Psyche, so Castoriadis’ These, ist nicht vom Gesellschaftlich-Geschichtlichen zu trennen. Denn das Individuum instituiert sich buchstäblich in der Erkennung und Anerkennung anderer Individuen, Objekten, der Welt, der Gesellschaft und Institutionen – »Dinge also, die für die Psyche ursprünglich weder Sinn noch Sein haben« 78. Castoriadis benennt, ähnlich wie Jameson, aus neomarxistischer Sicht damit einen der entscheidenden blinden Flecke in der Freudschen Psychoanalyse. Dessen Bestimmung vom Unbewussten als geschichtslos, überzeitlich und sozial widerspruchsfrei79 erschaff t für Castoriadis einen Nicht-Ort der Vorstellung, der 73. Ebd. 74. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer

politischen Philosophie. Frankfurt a.M. 1997, S. 12. 75. Ebd. 76. Ebd., S. 13-14. 77. Ebd., S. 456. 78. Ebd. 79. Ebd., S. 457.

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sich der Logik und Sinnzuschreibung widersetzt und sich damit auch den Regeln der sprachlichen Ordnung entzieht. Gegen die rhetorische Umformung der Verschiebungs- und Verdichtungsmechanismen in der Freudschen Traumdeutung durch Metapher und Metonymie bei Lacan klagt Castoriadis deshalb ein, »dass nämlich Metapher, Metonymie und die übrigen Tropen der Wachsprache den Operationen des Unbewussten etwas erborgen, ohne freilich deren Vielgestaltigkeit und Reichtum wiedergeben zu können«80. Dem radikalen Anderen also, dem Unstrukturierten der reinen Vorstellung bzw. dem vordiskursiven und vorrhetorischen Imaginären, das das Unbewusste zu denken aufgibt, wird damit das buchstäblich utopische Potenzial entzogen. Diese latente Energie, das unbestimmte Begehren vor der Versprachlichung und auch der Bebilderung im Unbewussten bezeichnet Castoriadis als »Magma«. Diese »verborgene« und »versenkte« Unbestimmtheit gilt, so Castoriadis, für die Psyche wie für die Gesellschaft und ist prinzipiell als das radikal Imaginäre und damit als Gegenfi ktion zu existierenden politischen Alternativen gedacht. In der ›Magmalogik‹ des Seins bleibt dieses Reservoir unerschöpflich und unbegrifflich, eine residuale Energie. Hinzufügen muss man diesem Modell allerdings, dass das Offenhalten eines zu prägenden Potenzials zwar kontinuierlich Möglichkeiten und Alternativen bereithalten mag, dass aber die Verweigerung dieses radikal Unbewussten zu jeglicher Form von Signifi kation auch eine eigenwillige Lektüre des Freudschen Unbewussten darstellt. Castoriadis Interpretation Freuds durch die Verwendung einer geologischen Metapher ist dabei schon selbst eine Verdeckungsoperation mit dem Ziel, so Susanne Lüdemann, der Immunisierung von magmatischen Teilen des Gesellschaftlichen, Imaginären und Unbewussten gegen Signifi kation: »Dort, wo Nietzsche ein ›bewegliches Heer von Metaphern und Metonymien‹ ausmacht; dort, wo Freud den Traum mit einem Bilderrätsel vergleicht, das sich nicht auflösen lässt, […] dort, wo Lacan (im Anschluss an Jakobson) die Freudschen unbewussten Primärprozesse, Verdichtung und Verschiebung, als metaphorische und metonymische Operationen entziffert; kurz: dort, wo Metaphysikkritik, Strukturalismus und strukturale Psychoanalyse Rhetorik als den beweglichen, ins Unbewusste der Subjekte eingelassenen Unterbau von identitäts- und mengenlogischen ›Sekundärprozessen‹ (Freud) (wieder)entdecken, statuiert Castoriadis einen ›Sinn‹ und eine ›Bedeutung‹ (besser: ein Magma von Bedeutungen), das angeblich von jeder Rede, jeder Symbolisierung und jeder Rhetorik unabhängig sein soll.« 81

80. Ebd., S. 459. 81. Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologi-

schen und politischen Imaginären, München 2004, S. 51-52. Lüdemann fasst Castoriadis’ Definition des Imaginären dann so zusammen, »das radikale Imaginäre wie das Unbewusste werden [bei Castoriadis] weiter als ›ungeteilter Strom‹ affektbesetzter Vorstellungen vor jeder Repräsentation verstanden, der aus der ›Tiefe‹ der Psyche als creatio ex nihilo hervorquillt«. Ebd., S. 52.

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Denn, so Lüdemann, nicht erst Lacan versieht das Unbewusste und seine Zugänge oder »Königswege« wie Traum, Witz oder Fehlleistung mit einer Struktur, deren Verankerung in der Rhetorik liegt.82 Das Unbewusste als latente, das heißt als kontinuierlich aus dem Verborgenen drohende Macht im Menschen, beruht schon bei Freud auf einer Struktur, die sprachlich und rhetorisch organisiert ist. Eine nicht signifizierte und deshalb stets utopische Möglichkeitsform in Gestalt des »Magmas«, die Castoriadis in der Freudschen Definition des Unbewussten zu erkennen glaubt, widerspricht nicht nur, so kann man zusammenfassen, den grundsätzlichen Strukturen der Psychoanalyse, die wesentlich ökonomisch und rhetorisch aufgebaut sind, sondern auch den komplizierten En- und Decodierungsmechanismen zwischen den manifesten und latenten Schichten des psychischen Apparats, wie Freud sie beispielsweise in der Traumdeutung beschreibt. Die Latenz des Unbewussten ist nicht einfach seine Unbewusstheit, sondern sowohl die latenten Traumelemente als auch der manifeste Trauminhalt sind beide schon Formatierungen unterworfen und medial konstituiert – als vorgängige Schrift und als hieroglyphisches Bilderrätsel.

2.2 Kommunikation 2.2.1 M ANIF E S TE UND L ATENTE F UNK T IONEN (L UHMANN , M ERTON ) Das Konzept der »latenten Funktion« ist ein direkter Theorieimport aus der Psychoanalyse in die Kommunikationsforschung,83 wirkmächtig eingeführt durch Robert K. Merton.84 In der Analyse sozialer Strukturen wird laut Merton nicht hinreichend zwischen der »subjektiven« Kategorie der Motivation und der »objektiven« Kategorie der Funktion unterscheiden. In der wissenschaftlichen Darstellung ist bei sozialen Kommunikationen und Handlungen in diesem Zusammenhang oft von »Interessen«, »Bedürfnissen« und »Zweck82. Ebd., S. 63. 83. »As will be readily recognized, I have adapted the terms ›manifest‹ and

›latent‹ from their use in another context by Freud (although Francis Bacon had long ago spoken of ›latent process‹ and ›latent configuration‹ in connection with processes which are below the threshold of superficial observation).« Robert K. Merton: »Manifest and Latent Functions«, in: Ders.: Social Theory and Social Structure (1949). Enlarged Edition. New York, London 1968, S. 73-138, hier S. 115. 84. Genau genommen durch Robert K. Merton und Paul Lazarsfeld, der in enger Zusammenarbeit mit Merton als einer der ersten Soziologen die funktionale Analyse der Massenmedien betrieben hat. Paul F. Lazarsfeld/Neil W. Henry: Latent Structure Analysis, Boston 1968. Bei dieser latent structure analysis handelt es sich um eine mathematische Methode innerhalb der funktionalistischen Soziologie. Sie wurde entwickelt um Strukturen zu beschreiben, die man nur mit Hilfe statistischer Analysen sichtbar machen kann. Bei Merton dagegen bezeichnet »Latenz« eher Strukturen und Funktionen, die nicht kommuniziert werden (können).

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setzungen« einerseits und »unbewussten Konsequenzen« oder »nicht-intentionalen Leistungen für die Gesellschaft« andererseits die Rede. Kommunikatives Handeln kann sowohl innerhalb sozialer Strukturen als auch für ein anderes Bewusstsein weitreichende Konsequenzen haben, die nicht intendiert waren oder von dem Handelnden erst gar nicht bemerkt werden. Ebenso gibt es soziales Verhalten, dessen Zielvorstellung oder eigentlicher Zweck nicht erfüllbar ist, das aber dennoch eine uneigentliche Funktion für eine Gruppe oder ein gesellschaftliches Teilsystem haben kann. Um diese Kategorien nicht zu vermischen und gleichzeitig eindeutiger beschreiben zu können, soll in der Soziologie und Kommunikationsforschung zwischen latenten und manifesten Funktionen unterschieden werden: »Manifest Functions are those objective consequences contributing to the adjustment or adaption of the system which are intended and recognized by participants in the system. Latent Functions, correlatively, being those which are neither intended or recognized.«85

Manifeste Funktionen beziehen sich demnach auf intentionales Handeln, das als rational und interessengeleitet beschrieben werden kann, latente Funktionen bezeichnen dagegen nicht beabsichtigte oder unbewusste Konsequenzen von Handlungen. Man könnte die latenten Funktionen noch genauer unterscheiden, etwa in unvorhergesehene, unbeabsichtigte, unerkannte oder unbewusste Handlungsfolgen, aber für das Folgende ist zunächst die reine Form, nicht der Inhalt der Unterscheidung zentral. Aus der Form der Unterscheidung ergibt sich zwangsläufig eine paradoxe Situation, da die Kommunikation, sobald sie angenommen ist, etwas ganz anderes, mitunter sogar das Gegenteil von dem bewirkt, was sie als Kommunikation intendiert hatte. Es ergibt sich dann die Frage, ob latente Interessen, Wünsche und Bedürfnisse bewusst oder unbewusst die eigentlichen Motive hinter dem funktionalen Verhalten von Gruppen, Institutionen oder anderen Akteuren in der Gesellschaft sind. Eine solche Frage ist auf der Ebene des Bewusstseins und seiner psychologischen oder phänomenologischen Theoriebauarchitektur jedoch nicht mehr zu beantworten. Psychologische oder subjektphilosophische Erklärungsversuche enden genau dann, wenn Latenz nicht mehr als Verdrängung oder Manipulation, sondern als eine Funktion der Gesellschaft gedacht werden muss. Merton führt die Regenzeremonie der Hopi-Indianer als einen Fall für scheinbar irrationales Verhalten an. Denn »unsere Meteorologen«, so Merton, wüssten ja sicher, dass die Beschwörung von Regen in kein kausales Verhältnis zu dessen Erscheinen gebracht werden kann. Die eigentliche Intention des Rituals kann demnach nicht erfüllt werden. Mit Hilfe der Unterscheidung latenter und manifester Funktionen kann der Soziologe jedoch feststellen, dass dieses Verhalten sehr wohl eine sozial sinnvolle Funktion haben kann, z.B. für den Zusammenhalt oder die Rollenzuweisung in der Gruppe, auch wenn

85. R. Merton: Manifest and Latent Functions, S. 105.

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diese Funktion den Akteuren nicht bewusst und von der ursprünglichen Zwecksetzung völlig verschieden ist: »And to be sure, our meteorologists agree that the rain ceremonial does not produce rain; but this is hardly to the point. It is merely to say that the ceremony does not have this technological use; that this purpose of the ceremony and its actual consequences do not coincide. But with the concept of latent function, we continue our inquiry, examining the consequences of the ceremony not for the rain gods or for meteorological phenomena, but for the groups which conduct the ceremony. […] Through the systematic application of the concept of latent function, therefore, apparently irrational behavior may at times be found to be positively functional for the group. Operating with the concept of latent function, we are not too quick to conclude that if an activity of a group does not achieve its nominal purpose, then its persistence can be described only as an instance of ›inertia‹, ›survival‹ or ›manipulation‹ by powerful subgroups in the society.«86

Etwas forciert formuliert, ergibt sich durch die Einführung des Latenzkonzepts also die Möglichkeit einer Alternative zu einer aufgeklärten oder kritischen Darstellung soziologischer Gegenstände. Es muss nicht mehr zwangsläufig die Wirksamkeit verborgener Mechanismen oder geheimer Mächte unterstellt werden, wenn sich eine kausale Verbindung von Ursache und Wirkung nicht sehen oder mit dem veranschlagten methodischen Instrumentarium begreifen lässt, sondern man kann jetzt auch mit dem Unbeobachtbaren rechnen. Da sich die klassische Soziologie kaum um diese Funktion der Latenz gekümmert hat, »vielleicht weil die Latenz ihr den Brotverdienst gab, indem sie es ihr ermöglichte, Verborgenes ans Licht zu ziehen«87, oder weil Latenz in einer aufgeklärten Gesellschaftstheorie keinen Platz mehr haben soll,88 möchte vor allem die soziologische Systemtheorie im Anschluss 86. Ebd., S. 118f. 87. Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation (1964). 2.

Aufl ., Berlin 1972, S. 370. 88. So ist z.B. in der Theorie des kommunikativen Handelns von Jürgen Habermas kein Platz für eine Latenz der Kommunikation vorgesehen. Denn wenn »wir einem Gegenüber als einem Subjekt und nicht als einem Gegenstand, den wir manipulieren können, begegnen«, müssen wir ihm auch Zurechnungsfähigkeit unterstellen, so lautet die diskursethische Begründung. »Wir erwarten, dass handelnde Subjekte allen Normen, denen sie folgen, intentional folgen. Wir sind also unfähig, in der Interaktion selber dem Gegenüber unbewusste Motive zuzuschreiben. Sobald wir das tun, verlassen wir die Ebene der Intersubjektivität und behandeln den anderen als ein Objekt, über das wir mit dritten kommunizieren können, aber eben nicht mit ihm selber.« Um den Zuständigkeitsbereich der Psychoanalyse damit aber nicht vollständig negieren zu müssen, klammert Habermas den therapeutischen Diskurs, »in den beide Partner mit der Absicht eintreten, unbewusste Motive zu Bewusstsein zu bringen«, ausdrücklich von dieser Bestimmung aus. Inwiefern diese Idealisierung des Diskurses und der Kommunikation bei Habermas selbst eine latente Funktion für die Konzeption einer normativen Gesellschaftstheorie übernimmt, ist eine andere

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an Merton eine »epistemologische Aufwertung der Latenz« erreichen, die deutlich macht, dass die Beobachtung strukturfunktionaler Latenz nicht ausschließlich die sozial- oder psychotherapeutische Aufgabe hat, Irrtümer, Verdrängtes oder verborgene Ideologien aufzudecken.89 Funktionalistische Ansätze, zu deren Vertretern Merton und Luhmann gezählt werden können, werden dafür gerne kritisiert. Man unterstellt dem Funktionalismus eine Stabilisierung tradierter Werte, die einer wissenschaftlichen Rechtfertigung des Status Quo Vorschub leiste. Der politische Gehalt von gesellschaftlichen Konflikten und Semantiken werde entschärft oder zum Verschwinden gebracht, so lautet ein oft geäußerter Generalverdacht, zuletzt von Peter Wehling. Merton wird von Wehling zwar einerseits dafür gelobt, dass er eine »hohe Aufmerksamkeit für Ambivalenzen, Paradoxien und Latenzen in sozialen Prozessen« und »der sich allmählich entwickelnden soziologischen Beschäftigung mit Nichtwissen ohne Zweifel entscheidende Impulse gegeben« habe, andererseits habe er aber »die Problematik der nicht-gewussten Handlungsfolgen und des Nichtwissens durch ihre Integration in funktionalistische Argumentationszusammenhänge erheblich entschärft.«90 Zwar werden den latenten Funktionen bei Merton auch die latenten Dysfunktionen gegenübergestellt, aber die weitere Analyse konzentriert sich in erster Linie auf die positiven Effekte solcher Funktionen, z.B. wenn danach gefragt wird, inwiefern latente Funktionen ihre positive Wirkung einbüßen, wenn sie manifest, also erkannt und bewusst werden. Es mag wichtig sein, immer wieder darauf hinzuweisen, dass Latenz in einer offenen Gesellschaft auch negative Folgen haben kann. Es ist deshalb aber keineswegs folgerichtig zu behaupten, dass die Einführung des Konzepts der latenten Funktion die Thematik der Latenz ihrer »Sprengkraft beraubt« habe.91 Eine unbestreitbare Stärke dieses Konzepts scheint ja eben nicht nur Frage, die hier ausgeklammert bleiben muss. Jürgen Habermas: »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz«, in: Jürgen Habermas/ Niklas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt a.M. 1971, S. 114-122. 89. Niklas Luhmann: Wie lassen sich latente Strukturen beobachten?, in: Paul Watzlawick/Peter Krieg (Hg.), Das Auge des Betrachters. Beiträge zum Konstruktivismus. FS für Heinz von Foerster (1991), Heidelberg 2002, S. 71. An anderer Stelle geht Luhmann noch weiter und bezeichnet Latenz als die »aufregendste Entdeckung der neuzeitlichen Wissensforschung«, die von der akademischen Erkenntnistheorie nicht verarbeitet werden konnte (und daher marginalisiert werden musste), weil deren klassisch-ontologische Disposition eindimensional »sachlich orientiert« war. Da die Latenz nicht gegenständlich fassbar, also keine Sache ist, sondern eine Codierungsregel, d.i. ein bestimmter Modus der Beobachtung, gibt es auch ganz buchstäblich nichts zu sehen, sobald man das Konzept der Latenz selbst beobachten möchte. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 89. 90. Peter Wehling: Im Schatten des Wissens? Perspektiven der Soziologie des Nichtwissens, Konstanz 2006, S. 48-64. 91. Ebd., S. 55.

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darin zu bestehen, entgegen der herrschenden Meinung auf die mitunter positiven Effekte von latenten Funktionen für die Gesellschaft hinzuweisen, sondern durch die Unterscheidung von manifesten und latenten Funktionen auch die Bewusstseinslatenz von einer Kommunikationslatenz differenzieren zu können. Bevor diese Differenzierung eingeführt wird, soll aber zunächst der Begriff der latenten Funktion genauer bestimmt werden. Ein einfaches Beispiel für ein positives Verständnis latenter Funktionen findet Luhmann wohl nicht zufällig in einem Programmbereich der Massenmedien: »Die Werbung mag zwar durch Hoffnung auf Verkaufserfolge motiviert sein. Ihre latente Funktion liegt aber in der Erzeugung und Festigung von Kriterien des guten Geschmacks für Leute, die von sich aus darüber nicht mehr verfügen; also in der Belieferung mit Urteilssicherheit in Bezug auf die symbolischen Qualitäten von Objekten und Verhaltensweisen.«92

Neben die manifeste Funktion der Werbung (Stimulation von Nachfrage, Produktanpreisung), die auf das Unbewusste von psychischen Systemen zielt, tritt demnach auch eine latente Funktion, die dem Programmbereich der Werbung selbst unbewusst ist und gerade dadurch eine stabilisierende Funktion für die Gesellschaft übernimmt. Die Nachfrage für eine solche latente Funktion der Werbung existiere vor allem bei den neuen Eliten, so formuliert Luhmann spöttisch, die angeblich durch ihren schnellen gesellschaftlichen Aufstieg und unkonventionelle Heiratspraktiken über keine ererbten Distinktionsmerkmale oder eine vorbildliche Lebensführung mehr verfügen würden. Trotzdem könne man daraus noch nicht auf eine systematische Manipulation der öffentlichen Meinung schließen, denn eine solche Argumentation verkürzt die Komplexität der systeminternen Selektionskriterien und unterstellt einen Direktzugriff auf den Programmbereich eines Systems, der so nicht gegeben ist.93 Analytisch interessant wird der Begriff der latenten Funktion allerdings erst, sobald Indizien dafür vorliegen, dass Zwecksetzungen oder soziale Strukturen (z.B. Hierarchien) »einen Begleitschutz durch Latenz benötigen«94. Latenz gilt dann operativ als »letztes Struktursicherungsmittel«, dessen Uneinsehbarkeit kein Zufall oder böse Absicht ist, sondern ein notwendig unsichtbares Regulativ, das Kommunikationsschwellen aufbaut oder ganz bewusst die Kommunikation über Strukturen ablehnt oder verhindert. Ohne solche Latenzen, so die systemtheoretische Behauptung, können weder Mediensysteme noch Gesellschaften (auch und gerade demokratische) ihr Bestehen sichern.95 92. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband, Frankfurt a.M. 1997, S. 1105. 93. Ebd., S. 1096-1109. 94. Niklas Luhmann: »Selbstreferenz und Teleologie in gesellschaftstheoretischer Perspektive«, in: Ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 26. 95. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 456ff.

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Ein erster Entwurf für einen solchen Begleitschutz durch Latenz findet sich bei Talcott Parsons. In dieser frühen Variante der soziologischen Systemtheorie wird das allgemeine Handlungssystem in ein soziales System und ein kulturelles System unterschieden (es gibt bei Parsons noch zwei andere Handlungssubsysteme, den »Verhaltensorganismus« und das »Persönlichkeitssystem«, die aber für das Folgende nicht relevant sind). Beide Systeme werden als autonom und operativ geschlossen konzipiert, die als Handlungssysteme jedoch gleichwohl notwendig interagieren. Diese Interaktion ist paradox strukturiert, denn einerseits soll das soziale System der Träger des kulturellen Systems sein (jenseits von sozialer Kommunikation kann die Kultur nicht existieren), andererseits soll die Kultur aber dem sozialen System vorangehen und eine steuernde Funktion ausüben. Parsons bestimmt die Kultur daher als ein latentes Subsystem der Gesellschaft, dessen Aufgabe darin besteht, Symbole und Werte zu generieren, die eine integrative und handlungsorientierende Funktion haben. Die Herstellung und Bereitstellung dieser Symbole geschieht für das soziale System uneinsehbar in dem als latent konzipierten Subsystem der Kultur, das als Programm von Handlungsorientierung bereitsteht, ohne von den Handlungen verändert werden zu können. Handlung bezeichnet in dieser Theorie jedes menschliche Verhalten, das symbolisch ausgerichtet ist und aus dessen Interaktion das soziale System hervorgeht. Kulturelle Symbolsysteme und »symbolische Austauschmedien« (bei Luhmann heißen diese Medien dann »symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien« und sind nicht mehr exklusiv kulturell definiert) sind als Code organisiert und steuern die Kommunikationsprozesse. Soziale Systeme als Handlungssysteme lassen sich analytisch von dem kulturellen System unterscheiden, deren Träger sie gleichwohl sind. Die kulturelle Steuerung muss also gleichzeitig als innerhalb und außerhalb des sozialen Systems gedacht werden. Durch die soziale Institutionalisierung wird eine Generalisierung der normativen Verbindlichkeit kultureller Strukturen in der Gesellschaft erreicht, die zugleich auch eine notwendige Bedingung für die Interpenetration (strukturelle Kopplung) zwischen dem kulturellen und dem sozialen System ist. Ein gutes Beispiel für eine Institution dieser Art sind die modernen Bildungsanstalten, z.B. das »kulturelle Treuhandsystem« der Schule und der Universität. Diese normative Kraft hat neben ihrer integrativen Steuerungsfunktion auch die Funktion der Erhaltung latenter Strukturen (latent pattern maintenance und tension management) innerhalb des Sozialsystems.96 Neben einer Fähigkeit zum Wandel muss jedes System auch seine Stabilität sichern können, damit es im Wandel dennoch als identisch begriffen werden kann. Das Verhältnis zwischen Stabilität und Wandel soll als eine relative Offenheit und Geschlossenheit im System institutionalisiert werden und dazu bedarf es eines Latenzschutzes der Strukturen.97 Die Strukturen der Kommunikations96. Talcott Parsons/Neil J. Smelser: Economy and Society. A Study in the Integration of Economic and Social Theory, London 1956, S. 13-20. 97. Talcott Parsons/Gerald M. Platt: Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis (1973), Frankfurt a.M. 1990, S. 51-67.

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und Handlungsmuster definieren das System räumlich nach innen (gegenüber seiner Umwelt) und zeitlich nach außen (als Kontinuität in der Zeit). Parsons geht sogar so weit, die Erhaltung latenter Strukturen mit der Erhaltung der Integrität eines »artspezifischen Genpools« zu vergleichen.98 Mit dieser organischen Metapher soll die lebenswichtige Funktion latenter Strukturen für die Existenz der sozialen Systeme betont werden. Die steuernde Struktur eines Systems, seine ›Kultur‹, ist also unsichtbar, sichtbar sind dagegen nur die Formbildungen und Operationen des Systems. Sie geht den Systemoperationen im eigentlichen Sinne voraus und kann deswegen ein konkret gegebenes Sozialsystem auch zeitlich überdauern. Die Paradoxie dieses Ansatzes besteht in der Unauflösbarkeit der zirkulären Begründung von sozialer Handlung und kultureller Orientierung. Am Ursprung einer solchen Konzeption von Gesellschaft steht eine bereits gegebene Struktur, die unsichtbar werden muss, wenn soziale Kommunikation autopoietisch gedacht werden soll. Die Kultur muss dann als ein latentes Subsystem begriffen werden, das selber uneinsehbar ist, wie Dirk Baecker dieses Unbehagen der Systemtheorie an der Kultur pointiert reformuliert: »Damit wird die Invisibilisierung in den Begriff der Latenz übersetzt und diese Latenz sorgt fürderhin dafür, dass der Zirkel von Handlung, Symbol und Orientierung nicht mehr offengelegt werden kann, weil er von der Differenz zwischen manifest und latent mit Erfolg durchschnitten wird. Parsons unterstreicht die Externalität der Kultur jetzt sogar, indem er das latente Subsystem explizit gegenüber dem laufenden Wechselspiel von Handlung und Sanktion, also den Auseinandersetzungen innerhalb der sozialen Situation isoliert. Das latente Subsystem sei gegenüber diesen Auseinandersetzungen, so Parsons, insensitiv. Es sei gerade der Verzicht auf die Interaktion mit der Situation, die das Kulturelle an der Kultur kennzeichne.«99

Die latente Kultur, so könnte man das Konzept auf den Punkt bringen, manifestiert sich in Speichermedien, die jene kulturellen Strukturen auf bewahren und als Orientierungsprogramme wieder in die Gesellschaft einspeisen. Um den oben angesprochenen Zirkelschluss zu vermeiden, muss die Kultur also entweder als extern (als ein System jenseits der Gesellschaft) oder als unsichtbar gedacht werden (als ein latentes Subsystem in der Gesellschaft). Beide Varianten laufen jedoch in gewisser Weise auf dasselbe Ergebnis einer Ver98. »Ganz wie die Gene bei den höheren Lebewesen den Lebenszyklus des einzelnen Organismus übersteigen, wie sie von Generation zu Generation weitergegeben werden und sich sowohl langsamer als auch über andersartige Prozesse verändern als der individuelle Organismus, so überdauern auch kulturelle Merkmale die Lebenszeit ihrer Wirtsgesellschaft. Kulturelle Systeme können sterben, wenn die Persönlichkeiten und Gesellschaften, die ihre Träger sind, ausgelöscht werden; sie können ihre Träger aber auch überdauern. Kultur wird nicht alleine durch Lehren und Lernen von Generation zu Generation weitergegeben; sie kann auch in externalisierten Symbolen Verkörperung finden, etwa in Kunstwerken, im Druck oder auch in Speichermedien wie den Magnetbändern bei Computern.« Ebd., S. 26-30. 99. Dirk Baecker: Wozu Kultur? 3. Aufl ., Berlin 2003, S. 137f.

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borgenheit der Kultur in der Gesellschaft(stheorie) hinaus, und daher scheint der Begriff einer buchstäblich latenten Beziehung zwischen Kultur und Gesellschaft hier durchaus gerechtfertigt zu sein. Luhmann hat in seiner Fortführung der Systemtheorie von Parsons dann zwar fast vollkommen auf den Begriff der Kultur verzichtet, aber gleichwohl an dem Begriff der Latenz festgehalten und deren »Schutzfunktion« noch einmal präzisiert: »Latenz ist nicht irgendeine Art von Abwesenheit. […] Latenz ist eine spezifische Art von Abwesenheit, eine tragende und fast könnte man sagen subjektive Art von Abwesenheit, die strukturelle Selektionen erst ermöglicht.«100

Die Latenz produziert laut Luhmann also ein spezifisches Eigenverhalten des Systems, das gegen sozialpsychologische Aufklärung und »Durchschautwerden« immun ist. Für die traditionellen Latenztheorien ist Latenz hingegen ein Effekt von unbewusster Verdrängung oder bewusster Verzerrung, die einen bestimmen Inhalt produziert, den es aus seiner Verborgenheit zu rekonstruieren gilt. Dabei wird in einem theoretischen Kurzschluss das Konzept des Unbewussten von psychischen auf soziale Systeme übertragen.101 »Soziologen«, so Luhmann, »die nicht mehr an Natur und nicht mehr an Vernunft zu glauben wagen, glauben dann wenigstens noch an Latenz« 102, und sprechen von einem gesellschaftlichen Unbewussten. Ein solches Konzept der Latenz 100. Niklas Luhmann/Peter Fuchs: Reden und Schweigen, Frankfurt a.M. 1992,

S. 216. 101. Harald Wasser hat darauf hingewiesen, dass Luhmanns Systemtheorie allerdings nur einen sehr eingeschränkten Begriff von psychischen Systemen entwickelt hat, der über weite Strecken der klassischen Subjektphilosophie entlehnt wurde. Solange Psyche und Bewusstsein in der Systemtheorie als identisch gedacht werden, kann es auch keine unbewussten psychischen Prozesse geben, was wiederum dazu führt, dass die Systemtheorie mit der Mehrzahl psychologischer und psychoanalytischer Forschung nicht kompatibel ist. Wasser schlägt daher eine theoretische Integration des Freudschen Unbewussten in die Systemtheorie vor. Siehe Harald Wasser: »Luhmanns Theorie psychischer Systeme und das Freudsche Unbewusste. Zur Beobachtung strukturfunktionaler Latenz«, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 10/2 (2004), S. 355-390. Siehe dazu auch die anregende Arbeit von Thomas Khurana: Die Dispersion des Unbewussten. Drei Studien zu einem nicht-substantialistischen Konzept des Unbewussten: Freud – Lacan – Luhmann, Gießen 2002. 102. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 457. In den von Peter Fuchs nachträglich veröffentlichten Arbeitsnotizen zu dem gemeinsamen Buch »Reden und Schweigen« wird Luhmann noch deutlicher: »[Wer die Unterscheidung manifest/latent verwendet], schafft sich damit eine Position der Überlegenheit. Er kann sehen, dass der andere nicht sehen kann, was er nicht sehen kann. Er hat den Überblick. Er hat die bessere Position. Wer aber nun dies wieder beobachtet, kann sich fragen, wozu er dies nötig hat – als Chefideologe, als Parteifunktionär, als amüsanter Kongressredner, als Soziologe, als professioneller Therapeut oder aus irgendwelchen anderen

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ermöglicht es dem aufgeklärten Soziologen oder Kulturwissenschaftler, sowohl die manifesten als auch die latenten Ebenen, Strukturen und Inhalte zu beobachten, während das Objekt der Beobachtung (z.B. ein beobachteter Beobachter) dazu nicht in der Lage sein soll. An Stelle von solchen sozialtherapeutischen Annahmen wird in der Systemtheorie ein Konzept favorisiert, das von Was-Fragen auf Wie-Fragen umstellt. Latenz wird demnach nicht als eine aus dem Unbewussten in das Bewusstsein zu hebende Verdrängung oder Verzerrung konzipiert, sondern als notwendige und unhintergehbare Voraussetzung von Gesellschaft und Kommunikation betrachtet. Der Modus einer solchen Beobachtungsweise transformiert die jeweils unterstellte Latenz in Kontingenz. Diese erscheint dann nicht mehr als natürlicher oder analytischer Urgrund eines verborgenen »Daseins«, einer »Kraft«, »Macht« oder »Dynamik«, deren Wirksamkeit unter der Oberfläche einer zivilisatorischen oder medialen Formgebung aufgedeckt werden soll, sondern als eine kommunikativ notwendige Voraussetzung, die allerdings unterschiedlich aufgefüllt werden kann.103 Eine so verstandene operative Latenz ist nicht einfach in der Kontingenz ihrer Formbildungen aufgehoben, sondern erscheint völlig unabhängig von nicht mehr überzeugenden Aprioris unverzichtbar als Regulativ und Motivationsressource der gesellschaftlichen Kommunikation. Daher muss zwischen der Annahme einer Bewusstseinslatenz (die irgendeinen verborgenen Inhalt haben soll) und einer Kommunikationslatenz (die eine Funktion für die Kommunikation selbst hat) unterschieden werden.104 Es lassen sich mindestens drei Arten von Kommunikationslatenz unterscheiden: (1.) Die Unkenntnis oder unabsichtliche Blockierung von Themen. (2.) Die empirische Unmöglichkeit des Wissens über einen Gegenstand, dessen Existenz aber gleichwohl vorausgesetzt werden muss (ein klassisches Thema der Philosophie). (3.) Die Latenz als Strukturschutz.105 Hinter dem Konzept des Strukturschutzes steht die Einsicht, dass kompensatorischen Gründen.« Niklas Luhmann: »Notizen zu Reden und Schweigen«, in: Soziale Systeme. Zeitschrift für soziologische Theorie 5/2 (1999), S. 220. 103. Dabei ist nach Helmut Lethen das Konzept der »Latenz« mit dem der »Authentizität« so eng verknüpft, dass die Latenz sowohl den Status eines Gemeinplatzes als auch einer gesellschaftlichen Authentizitätsformel haben kann. Ein solcher Topos oder topographische Formel bildet ein Schema, demzufolge sich unter oder hinter gesellschaftlichen Formen »latent Dynamisches« befinde, dass zwei prototypische Ausprägungen kennt: den Verdacht (als Maskerade) oder das Authentische (eines unentfremdeten Daseins). Die Sehnsucht nach solchen Formeln, wonach das Authentische immer unterhalb einer medialen Oberfl äche verborgen liegen soll, kann jedoch nicht nur kompensatorische, sondern auch schützende Funktionen für die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Komplexität übernehmen. Helmut Lethen: »Versionen des Authentischen: sechs Gemeinplätze«, in: Hartmut Böhme/Klaus R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaft. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 205-231. 104. N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 458f. 105. Denn, so geben Niklas Luhmann und Peter Fuchs zu bedenken, »damit wird man dann in die Frage getrieben, ob und inwieweit so gewonnene Einsichten

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ein auf Dauer gestelltes Reden über Strukturen nicht zwangsläufig »human«, »progressiv« oder »emanzipatorisch« wirken muss.

2.2.2 D IE U NTERWELT DE S GE SELL SCHAF TL ICHEN I MAGINÄREN (C A S TOR I ADI S , G IE SEN , L EFORT) Bernhard Giesen hat anschaulich skizziert, inwiefern ein funktionaler Zusammenhang zwischen sozialer Ordnung und Latenz immer schon vorausgesetzt werden muss. Denn die »Hobbesianische Frage« nach der Möglichkeit sozialer Ordnung kann nicht alleine über rationale oder normative Erklärungsmodelle gelöst werden, sondern beruht auf »nichtvertraglichen Grundlagen« des Gesellschaftsvertrages.106 Diese Grundlagen dürfen nicht kommuniziert werden, wenn eine sinnvolle Organisation des Sozialen gelingen soll. Sie verbleiben in der Latenz, sind aber auf eine uneigentliche Weise konstitutiv für die Konstruktion der Gesellschaft. Ein Strukturschutz ist daher in einem ganz elementaren Sinne notwendig, wenn soziale Ordnung Bestand haben soll. Symbolisierung, Ritualisierung, Mythologisierung und andere kulturelle Operationen, in denen die Gesellschaft die Begründung und Dauer ihrer politischen Form organisiert, sind laut Giesen also nicht die Ursache, sondern die Wirkung einer immer schon vorausgesetzten Unterwelt des Politischen. Jede rationale Ordnung der Gesellschaft ruht demnach auf vorrationalen Grundlagen, auf einer unheimlichen »Unterwelt des Absurden, Ungeheuerlichen und Dämonischen«. Diese »Unterwelt« meint hier allerdings keine dämonischen oder religiösen Mächte, sondern bezeichnet metaphorisch die verwirrenden Möglichkeiten und vielfältigen Alternativen der Kommunikation in der modernen Gesellschaft, einen »Abgrund von Sinnlosigkeit«, der verborgen bleiben muss, wenn Ordnung und sinnvolle Kommunikation gelingen soll.107 Die Herstellung von Latenzschutz hingegen sei die Leistung von »Kultur« als einem sinnstiftenden Horizont, so Giesen im Anschluss an Parsons, »der im Augenblick des Handelns für Ego und Alter ›vorausgesetzt‹ wird, und der damit die Unterwelt des Absurden latent hält«.108 Der heimliche Latenzschutz der Kultur schirmt die Kommunikation also von der unheimlichen Latenz der beim Re-entry ins Eingesehene zerstörend wirken, ob und inwieweit die Struktursicherungsfunktion von Latenzen unterhöhlt wird, wenn sie in die kommunikativen Prozesse je beobachteter Systeme hineinartikuliert wird.« N. Luhmann/P. Fuchs: Reden und Schweigen, S. 183. 106. Bernhard Giesen: »Latenz und Ordnung. Eine konstruktivistische Skizze«, in: Rudolf Schlögl/Bernhard Giesen/Jürgen Osterhammel (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole. Grundlagen der Kommunikation in historischen und gegenwärtigen Gesellschaften, Konstanz 2004, S. 73-100, hier S. 73f. 107. »Die Begriffe des Dämons, des Traumas, der Gefahr, des Untergangs, des Risikos oder der Sünde sind – in jeweils verschiedenen kulturellen Modellen – Platzhalter für dieses ›Loch‹ innerhalb der sinnhaften Ordnung der Welt.« B. Giesen: Latenz und Ordnung, S. 78. 108. B. Giesen: Latenz und Ordnung, S. 76.

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»Unterwelt« ab und muss als Medium oder Rahmen der Gesellschaft vorausgesetzt werden, bleibt dabei aber selbst der Sichtbarkeit entzogen. Sichtbar sind hingegen nur die Symbole, die das Dämonische bannen und das ungreifbare Allgemeine der Gesellschaft vorstellbar machen sollen. Die Einheit der Gesellschaft gründet demnach in einer imaginären Ordnung, die jeder realen Teilung der Gesellschaft (System/Umwelt, Basis/Überbau, Herrscher/Beherrschte) vorangehen muss, damit das Gemeinsame überhaupt als solches adressiert werden kann. Die Gesellschaft hat neben ihrer juristischen also immer auch noch eine imaginäre Verfassung, damit sie als Gesellschaft in Erscheinung treten kann. Damit die politische Form einer Gesellschaft tatsächlich die Wirklichkeit einer sittlichen Idee oder eines allgemeinen Willens sein kann, muss sie zunächst erzählbar und vorstellbar werden. Die Vorstellung einer gemeinsamen Einheit und Ganzheit, sowie eines Raumes, in dem sich diese Einheit verwirklicht, muss durch Metaphern und Medien hergestellt werden, damit die vielen Anteillosen und Vereinzelten sich als eine ›Bevölkerung‹ begreifen können. Durch den Zwang zur Verbildlichung ist jede reale und instituierte Herrschaft mit einer ihr vorgängigen Tradition (der Erzählbarkeit und Verbildlichung von Herrschaft) verbunden, auf die zurückgegriffen werden muss, um von den Beherrschten Anerkennung und Legitimation zu erhalten. Diese Funktion leistet die Kultur bzw. das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, wie Parsons und Giesen ausgeführt haben. Die Kultur kann zwar als das Gedächtnis der Gesellschaft bezeichnet werden, sie ist als Gedächtnis aber nicht einfach nur ein Container von unveränderbaren Programmen, die als Handlungsorientierung zur Verfügung gestellt werden, wie bei Parsons, »sondern sie ist es als je aktuelle Operation des Einwands ausgeschlossener Möglichkeiten gegen wahrgenommene Möglichkeiten. Das setzt voraus, dass ausgeschlossene Möglichkeiten als ausgeschlossene (die Soziologie kennt dafür den Begriff der Latenz) mitgeführt werden, also eingeschlossen sind.«109

Diese heimliche Latenz, die konstitutiv für die sinnhafte Ordnung des Sozialen ist, kann in einer anderen Begrifflichkeit auch als ein leerer Platz im politischen Zentrum der modernen Gesellschaft beschrieben werden – »ähnlich wie eine Wand erst durch ein Loch als Wand sichtbar wird. Das Loch hingegen ist eine Leere, ein Nichts, das sich grundsätzlich der direkten Beschreibung entzieht und nur auf indirekte Weise, durch den Blick auf seine Ränder wahrnehmbar wird.«110 Für Claude Lefort, dessen politische Philosophie maßgeblich von jenem leeren Platz im Zentrum der politischen Herrschaft handelt, zeigt sich das 109. D. Baecker: Wozu Kultur?, S. 81. Kurz gefasst: »Die Latenz besteht in den Möglichkeiten, die in einem System nicht benutzt werden können, obwohl sie bestimmt oder bestimmbar sind. In jedem sozialen System gibt es Latenz.« Claudio Baraldi/Giancarlo Corsi/Elena Esposito: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a.M. 1997, S. 179. 110. B. Giesen: Latenz und Ordnung, S. 76.

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Politische in der Gesellschaft daher nicht in dem Handeln der Institutionen und ihrer Akteure, sondern in der Weise des Erscheinens und Verbergens jener Momente, in denen sich die Gesellschaft instituiert.111 Die Symbolisierung, Ritualisierung und Mythologisierung als die generischen Prinzipien eines politischen Imaginären werden verschleiert, sobald es innerhalb der Gesellschaft einen festen und partikularen Ort der Politik geben soll, gleichsam eine Politik der Gesellschaft, die das Politische exklusiv verwaltet und nicht mehr an ein Außen oder Jenseits der Gesellschaft (Ursprungserzählung, Naturzustand, transzendente Legitimation) anbindet: »Wenn man zwischen dem trennt, was zur Ökonomie, zur Politik (in dem Sinne, wie sie die moderne Wissenschaft versteht), zum Rechtlichen und zum Religiösen gehört, um darin die Zeichen spezifischer Systeme ausfindig zu machen, würde man ebenso vergessen, dass wir nur dadurch zu einer solchen analytischen Unterscheidung kommen, indem wir an der Idee einer originären Dimensionalität des Sozialen festhalten, dass sich diese Dimensionalität nur zusammen mit der Idee ihrer originären Form gibt, ihrer politischen Form.«112

Wie ist das zu verstehen? Einerseits enthält der Begriff der Gesellschaft bereits den Bezug auf ihre politische Dimension, aus dem einfachen Grund, weil das, was Raum oder System der Gesellschaft genannt wird, »nicht als etwas in sich Seiendes, als ein System von Beziehungen erfassbar ist, gleichgültig, wie komplex wir uns dieses System auch vorstellen mögen«, sondern nur als eine imaginäre Dimension existiert, die von allen bewusst oder unbewusst vorausgesetzt werden muss, wenn soziale Kommunikation stattfinden soll.113 Weit entfernt davon, eine greif bare Entität zu bezeichnen, muss der soziale Raum also zunächst in eine Form, in eine Szene gesetzt werden. Dieses InSzene-Setzen der Gesellschaft, ihre Theatralität, kann mit einer Wendung von Jacques Rancière als eine »Aufteilung des Sinnlichen« bezeichnet werden, die festlegt, wie die Bühne der Gesellschaft beschaffen sein soll, wer am Gemeinsamen teilhaben darf und wer nicht, welche Zonen sichtbar oder unsichtbar sind.114 Der Gesellschaft liegt also nicht nur eine Kultur, sondern auch eine Ästhetik zugrunde, die bestimmt, was der Einbildungskraft gegeben ist und wie das Imaginäre in Erscheinung treten kann. Das sozialtechnologische Prinzip der Gewaltenteilung und des Funktionalismus hat laut Lefort dagegen eine Entkörperung und imaginäre Leerstelle der Macht zur Folge, d.h. die moderne Gesellschaft (und jene Sozialwissenschaft, die von ihr handelt) setzt die Vorstellung einer gesellschaftlichen Totalität außer Kraft oder meint wenigstens auf die Idee einer politischen Gemeinschaft 111. Claude Lefort: »Die Frage der Demokratie (1983)«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 281-297, hier S. 284. 112. Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen?, Wien 1999, S. 38f. 113. Ebd., S. 38. 114. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien. Hg. v. Maria Muhle, Berlin 2006, besonders S. 21-49.

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verzichten zu können.115 Wie Cornelius Castoriadis, Claude Lefort und Marcel Gauchet gezeigt haben,116 ist diese rationale Aufhebung des Mythos und Imaginären der Gesellschaft allerdings nur scheinbar möglich, denn mit der Vorstellung eines Unvorstellbaren lässt sich zwar eine Theorie der Gesellschaft denken, aber kein Staat machen. In der Tat meint die Systemtheorie von Niklas Luhmann, auf deren Funktionalismus diese Kritik zutrifft, ohne den Begriff des Imaginären auskommen zu können. Es gibt aber mittlerweile Versuche, diese Leerstelle der Leerstelle in der Systemtheorie zu füllen. So hat Armin Nassehi vorgeschlagen, die Funktion des Politischen in der Gesellschaft nicht nur traditionell in der Herstellung kollektiv bindender Entscheidungen zu sehen, sondern auch in der Herstellung eines soziologischen und politischen Imaginären, damit gesellschaftliche Ereignisse, Handlungen und Kommunikationen auch als Operationen der Gesellschaft (und nicht der Natur oder Kultur) sichtbar werden und ihr zugeschrieben werden können. Das Ziel dieser Sichtbarmachung ist die Integration heterogener Handlungen und Kommunikationen in die Vorstellung einer Einheit der Gesellschaft, die üblicherweise in Metaphern des Organischen oder in der Metapher des Gesellschaftsvertrags anschaulich gemacht wird. Die Konjunkturen der jeweiligen Gesellschaftsbegriffe sind also letztlich Konjunkturen funktionierender Metaphern.117 Imagination und Institution sind in dieser Sichtweise zwar die beiden äußersten Pole, in denen sich die Gesellschaft denken lässt, sie schließen einander aber keineswegs aus, sondern sind ganz im Gegenteil sogar wechselseitig aufeinander angewiesen. Das ist eine Paradoxie der Makrosoziologie. In der traditionellen Lesart erscheint der Ursprung der Gesellschaft als ein Ereignis, das sich in seiner Gründungsmacht vollendet und aufhebt. Nach dem Ereignis fällt der Ursprung dem Vergessen anheim und wird von dem Hervorgebrachten in einer Weise durchgestrichen, als hätte es nie einen Ursprung gegeben, so dass die instituierte Gesellschaft dem Ursprung ihrer Genese entfremdet gegenübersteht. Aber dieser Ursprung ist auch in der konstituierten Gesellschaft latent vorhanden, er ist niemals abwesend, sondern bleibt gerade in seiner Verkennung und Verstellung anwesend-abwesend wirksam. Das Oxymoron »anwesend-abwesend« besagt, dass es keine absolute Kontinuität zwischen dem Ursprung und der Institution geben kann, denn der Ursprung ist nicht mehr unmittelbar präsent und kann auch nicht direkt wiedergewonnen werden, es kann umgekehrt aber auch keine Diskontinuität bestehen, weil der Ursprung nicht absolut entzogen ist: die Gesellschaft existiert nur inso115. Nach der pointierten Formulierung von Susanne Lüdemann ist ein solcher Funktionalismus das artikulierte Phantasma, dass es in der modernen Gesellschaft kein Phantasma (kein Imaginäres) mehr gebe. Susanne Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München 2004, S. 50. 116. Claude Lefort/Marcel Gauchet: »Über die Demokratie. Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen (1976)«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 89-122. 117. Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 345-348.

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fern das Gemeinsame keine reale Entität oder gar ein realer Raum der Gesellschaft ist, sondern als imaginärer Raum symbolisch gestiftet werden muss. Diese Stiftung oder Schöpfung der Gesellschaft findet nicht nur ein einziges Mal an einem unvordenklichen Ursprung statt, sondern muss immer wieder aktualisiert und offenbart werden, wenn die Gesellschaft (innerhalb der Gesellschaft) als das Gemeinsame angerufen werden soll: »Die Gesellschaft ist Selbstschöpfung. Die Schaffung der Gesellschaft und Geschichte ist die Leistung der instituierenden Gesellschaft im Gegensatz zur instituierten; instituierende Gesellschaft heißt: das gesellschaftliche Imaginäre im radikalen Sinne. […] Um also eine signifikante Gesellschaft zu verstehen, bedarf es der Durchdringung (oder der Wiederaneignung) imaginärer gesellschaftlicher Bedeutungen, die diese Gesamt-Gesellschaft beinhalten.«118

In diesem Sinne hat Cornelius Castoriadis in seinem Entwurf einer politischen Philosophie mit Nachdruck darauf bestanden, dass die Institutionen der Gesellschaft nicht nur symbolisch und rational strukturiert, sondern auch untrennbar mit dem verbunden sind, was er das gesellschaftliche oder radikale Imaginäre nennt, das als schöpferische und produktive Einbildungskraft tätig und die Wurzel des Symbolischen ist: »Es handelt sich dabei um die elementare und nicht weiter zurückführbare Fähigkeit, ein Bild hervorzurufen.« 119 Ohne die Annahme eines Imaginären bliebe die Bestimmung des Symbolischen unvollständig und auch unverständlich, weil gar keine Einheit oder Identität vorhanden wäre, an der sich das Symbolische orientieren könnte. Die Gesellschaft als imaginäre Institution zu beschreiben, heißt das Gesellschaftliche und Politische nicht in den Begriffen der »überkommenen Logik und Ontologie« zu denken, sondern als eine unbestimmte und schöpferische Seinsart, vor jeder identitäts- und mengenlogischen Prägung. Da die überlieferten Begriffe der politischen Philosophie für dieses Vorhaben untauglich erscheinen, führt Castoriadis dazu einen neuen und schillernden Terminus ein, der zur zentralen Metapher seiner politischen Theorie avanciert: das Magma. Die Assoziationen in der Alltagssprache reichen von flüssiger Lava bis zu einer »gekneteten Masse«. Castoriadis bezeichnet damit das Gesellschaftliche vor seiner Unterscheidung in bestimmbare Mengen und identifizierbare Teile, als »eine nicht-mengenförmige Organisationsweise einer Mannigfaltigkeit, für die das Gesellschaftliche, das Imaginäre und das Un-

118. Cornelius Castoriadis: »Die griechische polis und die Schaffung der Demokratie (1983)«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 298-328, hier S. 300f. 119. C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 196-282, hier S. 218. Castoriadis knüpft in seiner politischen Philosophie ganz explizit an die Tradition der klassischen deutschen Philosophie an, vor allem an Kant, Fichte, Hegel und ganz besonders natürlich an Marx und Freud – allerdings in einer sehr freien und teilweise fragwürdigen Weise. Zur Kritik und produktiven Fortführung von Castoriadis siehe S. Lüdemann: Metaphern der Gesellschaft, S. 47-61.

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bewusste als Beispiel dienen können« 120. Die Substanz und das Politische der Gesellschaft als eine nicht abzählbare Vielheit zu denken, ist demnach eine strategische Entscheidung gegen die überlieferte arithmetische oder geometrische Bestimmung politischer Verhältnisse, aber auch gegen die moderne Biopolitik der Bevölkerung und deren Verwaltung und rechnerische Planung des Lebens.

2.2.3 E V IDENZ

UND

K ONT INGENZ S YMBOL I SCHER R EPR Ä SENTAT ION (K ANT)

Unabhängig davon, wie widersprüchlich und intuitiv oder konsequent und sympathisch einem dieses Anliegen erscheinen mag, wirft das Denken einer aus dem Nichts sich selbst schöpfenden Gesellschaft allerdings mehr Probleme auf, als es zu lösen verspricht. Logische Widersprüche auszumachen dürfte dem Anliegen zwar nicht gerecht werden, aber wie ein radikales Imaginäres vor jeder Form der Repräsentation und der symbolischen Verarbeitung unentfremdet wirksam sein kann, bleibt zumindest eine offene Frage.121 Wenn man die imaginären Momente des Politischen betonen möchte, scheinen die Überlegungen von Claude Lefort einfacher und überzeugender zu sein. Der imaginäre Anteil jeder Herrschaft zeigt sich laut Lefort schon überdeutlich in den unverzichtbaren Ritualen und Insignien der Macht – und zwar nicht nur in der totalen Herrschaft einer Reichsmacht oder im Ancien Régime, sondern auch in der entkörperten modernen Demokratie. Denn jede Regierung braucht einen eigenen Sprachgebrauch, der sich von der Alltagssprache unterscheidet, sowie die Berufung auf eine legendäre Vergangenheit. Unter Umständen gehören auch noch ein gewisses »Prestigepathos« und die Inszenierung von Emblemen und besonderen Umgangsformen zu diesen Ritualen der Macht.122 Das Ganze der Gesellschaft muss jedenfalls als ein Imaginäres im Symbolischen anschaulich gemacht werden, entweder durch Verkörperung oder Verbildlichung der souveränen Herrschaft. In Szene gesetzt wird dieses Imaginäre durch mediale und rhetorische Evidenzverfahren.123 Die rhetorische Figur der evidentia bezeichnet die detailreiche Häufung oder Aufzählung zur Darstellung eines konkreten Gegenstandes oder aber einer reinen Idee, insbesondere einer Person, Sache oder 120. C. Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 310. An anderer Stelle spricht er auch von einem »unentwirrbaren Bündel verfilzter Gewebe aus verschiedenen und dennoch gleichartigen Stoffen, übersät mit virtuellen und flüchtigen Eigenheiten«. Ebd., S. 565. 121. Einschlägig ist die Kritik von Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 380-389. 122. Claude Lefort/Marcel Gauchet: »Über die Demokratie. Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen (1976)«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 98. 123. Ludwig Jäger: »Schauplätze der Evidenz. Evidenzverfahren und kulturelle Semantik. Eine Skizze«, in: Michael Cuntz/Barbara Nitsche/Isabell Otto/Marc Spaniol (Hg.), Die Listen der Evidenz, Köln 2006, S. 37-52.

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eines kollektiven Geschehens. Neben der descriptio ist hier vor allem die hypotyposis als Illustration wirksam.124 Diese detaillierende Aufzählung oder Anschauung hat keine greif bare Präsenz und fi ndet nur in der Vorstellung statt, d.h. abwesende, vergangene, zukünftige Dinge oder Handlungen werden durch die Einbildungskraft als gegenwärtig wirksam oder sprechend vorgestellt. Die Vorstellung des Gemeinwesens ist eine hypotyposis (»abbilden«, »vor die Augen stellen«) als Veranschaulichung eines an sich ungreif baren abstrakten Begriffs. Solche Sinnbilder der Gesellschaft sind unverzichtbar, haben aber einen problematischen epistemologischen Status, weil sie einen imaginären Mehrwert erzeugen, der nicht in der reinen Illustration des Begriffs aufgeht.125 Die Erläuterung und Problematik dieser Figuration ist besonders ausführlich von Kant in der Kritik der Urteilskraft beschrieben worden. Zur Verdeutlichung der Problematik müssen hier aber ein paar knappe Ausführungen genügen. Alle Imaginationen, die man einem Begriff a priori unterlegt, sind laut Kant entweder schematisch oder symbolisch. Die schematische Darstellung eines Begriffs ist eine unmittelbar anschauliche Demonstration, z.B. die geometrische Konstruktion eines Dreiecks, die den Begriff des Dreiecks unmittelbar abbildet. Die symbolische Imagination hingegen vermittelt ihre Anschauung durch eine Analogie, also metaphorisch. Kant erläutert die Funktion der symbolischen Hypotypose exemplarisch anhand von zwei verschiedenen Vorstellungen des Gemeinwesens: »So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt. Denn zwischen einem despotischen Staate und einer Handmühle ist zwar keine Ähnlichkeit, wohl aber zwischen der Regel, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.«126

Die Unterstellung einer gemeinsamen Kausalität, einer »Regel« der Reflexion, muss hier verbergen, was zuvor noch ganz unmissverständlich als unmöglich bezeichnet wurde: »Die Realität unserer Begriffe darzutun, werden immer Anschauungen erfordert. […] Verlangt man gar, dass die objektive Realität der Vernunftbegriffe, d.i. der Ideen, und zwar zum Behuf des theoretischen Erkenntnisses derselben dargetan

124. Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik (1963), 10. Aufl ., Ismaning 1990, § 369, S. 117f. 125. Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007, S. 55-64. 126. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft (1790), hg. v. Karl Vorländer, 7. Aufl , Hamburg 1990, S. 256.

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werde, so begehrt man etwas Unmögliches, weil ihnen schlechterdings keine Anschauung angemessen gegeben werden kann.«127

Dennoch kann die politische Philosophie im Bewusstsein dieser Unmöglichkeit nicht auf ein Spiegelbild ihrer eigenen Ideen verzichten. Also muss einem Begriff, »den nur die Vernunft denken, und dem keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, eine solche untergelegt«128 werden, aber genau darin besteht der Abgrund einer symbolischen Darstellung, die mit dem Dargestellten bloß der Form der Reflexion und nicht dem Inhalt nach übereinkommen will. Nach der Form einer ganz andersartigen Reflexion könnte man die nach Volksgesetzen strukturierte Republik nämlich auch als Guillotine oder Galgen versinnbildlichen, wie es z.B. Edmund Burke getan hat.129 Und selbst diese Übereinkunft verdankt sich nur einem Missbrauch (Katachrese) rhetorischer Figuren, weil die Analogie zwischen dem Gemeinwesen und seinen Sinnbildern (Handmühle, Uhr, Schiff, beseelter Körper, Gesellschaftsvertrag, Organismus u.a.) eine Übertragung darstellt, die nicht auf einem gegebenen tertium comparationis, sondern auf einer gewaltsamen Auslegung, einer bloßen Unterstellung beruht: Es wird nicht einfach eine Anschauung aufgefunden, die das Prinzip des Staates natürlich oder motiviert oder wenigstens besonders adäquat in sich enthält, sondern zwei völlig verschiedenen Anschauungen wird eine Form der Reflexion untergelegt, die vorher gar nicht gegeben war und die jederzeit auch anders bestimmt werden könnte.130 Die symbolische Hypotypose schaff t eine künstliche Ähnlichkeit zwischen zwei Vorstellungen, die für sich betrachtet keine Ähnlichkeit erkennen lassen. Daraus folgt, dass diese Figur nicht eine von der Natur gegebene oder eine in der Reflexion notwendig erscheinende Verbindung zwischen dem Gegenstand und einem Prinzip der Reflexion illustriert, sondern willkürlich eine solche unterlegt. Die Gesellschaft beruht letztlich also tatsächlich auf einer unheimlichen Unterwelt, sowohl in der realen Stiftung durch eine kriegerische Auseinandersetzung, als auch durch die setzende Macht der SpraEbd., S. 254. Ebd., S. 255. A. Koschorke u.a.: Der fiktive Staat, S. 227-233. »Unsere Sprache ist voll von dergleichen indirekten Darstellungen, nach einer Analogie, wodurch der Ausdruck nicht das eigentliche Schema für den Begriff, sondern bloß ein Symbol für die Reflexion enthält. So sind die Wörter Grund (Stütze, Basis), abhängen (von oben gehalten werden), woraus fließen (statt folgen), Substanz (wie Locke sich ausdrückt: der Träger der Akzidenzen), und unzählige andere nicht schematische, sondern symbolische Hypothesen, und Ausdrücke für Begriffe nicht vermittelst einer direkten Anschauung, sondern nur nach einer Analogie mit derselben, d.i. der Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz andern Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespondieren kann.« Kant: Kritik der Urteilskraft, B257. Zur Problematik metaphorischer Rede in dem berühmten § 59 der Kritik der Urteilskraft ist einschlägig Paul de Man: »Epistemologie der Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher. 2. Aufl ., Darmstadt 1996, S. 414-437. 127. 128. 129. 130.

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che, die einen Abgrund von schwindelerregenden Möglichkeiten referenzieller Verirrung eröff net. Die setzende Macht mag ihren Ursprung zwar in einem historischen Subjekt namens König, Volk oder volonté générale haben, realisiert wird sie aber erst in der Kommunikation und Rhetorik der Gesellschaft. Die ›Hobbesianische Frage‹ nach der Möglichkeit sozialer Ordnung, die Bernhard Giesen erneut gestellt hat, kann nicht durch eine absolute Begründung, eine absolute Rationalität beantwortet werden, weil ihre sprachliche Setzung nicht notwendig, sondern arbiträr ist. Andererseits ist die Konstitution sozialer Ordnung aber notwendig und unausweichlich, wenn das Gemeinsame stattfinden soll. Es gibt keine Alternative zu dieser unmöglichen Notwendigkeit der imaginären Gesellschaft. Den philosophischen und sozialwissenschaftlichen Grundlegungen des Gemeinwesens wird es niemals gelingen, eine rein rationale und funktionale Bestimmung ihres Gegenstandes zu erreichen, sondern es kann lediglich darum gehen, den Übergang von einer organischen oder mechanischen Bildlichkeit zu einer politischen, sozialen oder kulturellen Begrifflichkeit »ohne einen zu gewaltsamen Sprung möglich« (Kant) erscheinen zu lassen, selbst wenn dieser Sprung vielleicht nie ohne Zwang gelingen wird.131 Und auch Giesen stellt fest, dass die Transkription von Symbolen des Allgemeinen in konventionelle Zeichen, die keine innere und notwendige Verbindung mit dem behaupten, für das sie einstehen, zu einer Transformation der dämonischen Unterwelt in kulturelle Metanarrative führt, die aus einer auratischen Gemeinschaft eine funktional differenzierte Gesellschaft hervorgehen lassen. Diese metaphorische Fassung der Gesellschaft ist zwar rational begründbar, aber in Relation zu ihrem Gegenstand beliebig geworden, d.h. eine Metapher kann jederzeit gegen andere Anschauungen ausgetauscht werden. Was als »latent« und was als »manifest« zu gelten hat, ist zur Sache eines Diskurses geworden, der nicht mehr an normativen Kriterien oder gar der »Wahrheit« orientiert ist: »An die Stelle der Symbole im engeren Sinne treten Allegorien und Metaphern, bei denen die Differenz zwischen Zeichen und Bezeichnetem schon ausdrücklich mitgedacht wird. Das schwer darstellbare Allgemeine wird in eine sichtbare Form gebracht, die bestreitbar und ersetzbar ist, das Jenseits wird ›verdiesseitigt‹, die identitätsverbürgende kulturelle Voraussetzung wird erfahrbarer und wechselnder Gegenstand. […] Was latent war, wird nun in der Kommunikation bewegt.«132

Aber nicht nur in solchen makrosoziologischen Abstraktionen, sondern auch in der Mikrosoziologie lassen sich Beispiele für Strukturschutz und Latenz finden. Denn auch Organisationen sind durch latente Strukturen, die ihren Bestand sichern sollen, gekennzeichnet. Die Universität, an drei Teilsysteme 131. Zur Notwendigkeit der Hobbesianischen Frage siehe Harun Maye: Der Leviathan von Thomas Hobbes zwischen Metaphorik und Maschinenbau. Zur medialen Latenz eines politischen Gemeinwesens, in: Jörn Ahrens/Stephan Braese (Hg.), Im Zauber der Zeichen. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Mediums, Berlin 2007, S. 58-74. 132. B. Giesen: Latenz und Ordnung, S. 84.

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der Gesellschaft strukturell gekoppelt, ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit und Probleme latenter Selektionsprozesse: »Die Probleme entstehen durch Strukturen der Universität, die für Studierende (und andere Akteure) kaum einzusehen sind und die unabhängig von Personen Konflikte und Risikolagen vorprogrammieren.« 133 Diese Probleme, so argumentiert der Pädagoge Frank Berzbach, lassen sich jedoch kaum oder nur durch den unerwünschten Nebeneffekt neuer Probleme beheben, denn die Universität sei, um funktionsfähig zu bleiben, auf die interne Selektion der ungenügend vorbereiteten Studierenden angewiesen. Diese Notwendigkeit der Selektion wird in den von einer humanistischen Tradition geprägten Fächern verschleiert und dementsprechend beherrschen andere Themen die Diskussion über Bildung und Ausbildung in der Hochschule. Selektion, so Berzbach, werde in der politischen Öffentlichkeit wie auch in der Hochschule oft als ungerecht beurteilt und sei den Verantwortlichen als Verfahren unangenehm. Da die Universität jedoch auf Selektion angewiesen ist, würden die Kriterien der Selektion latent gehalten. Die Selektionskriterien werden universitätsintern wiederum in die strukturelle Kopplung der drei Teilsysteme Wissenschaft, Erziehung und Verwaltung, die sich in der Universität treffen und durch Abstimmungsfehler eine Verzögerung des Studiums quasi schon vorprogrammieren, verlagert und damit unsichtbar. Die Zielvorgaben an die Studierenden sind kurze Studienzeiten, Erfahrung mit Interdisziplinarität, Auslands- und Praxiserfahrung, hohe Motivation, selbstständiges Arbeiten und ein überdurchschnittlicher Studienabschluss. Diese Zielvorgaben, so Berzbach, sind in sich widersprüchlich und benachteiligen vielleicht gerade jene hochmotivierten sowie materiell wenig abgesicherten Studierenden, die man ja eigentlich fördern wollte. Auslands- und Praxiserfahrung, die in der Regel von den deutschen Universitäten nur unzureichend organisiert und finanziert werden können, sind aus der Perspektive der Wissenschaft allemal Sekundärtugenden, die in Kombination mit der Forderung nach kurzen Studienzeiten das eigentliche Studium noch einmal drastisch verkürzen und ein selbstständiges wissenschaftliches Arbeiten eher erschweren. Die so genannte Abbrecherquote, gerade in den humanistischen Fächern, erzeugt eine indirekte Sichtbarkeit dieser Strukturen. Die Hochschulpolitik hat die Problematik zwar längst erkannt und mit der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen reagiert, aber ob diese Studienreform die Problemlage verringern oder verstärken wird, bleibt abzuwarten. Bei politischen Interventionen in ein derart komplexes System muss jedenfalls mit neuen Latenzen und nicht intendierten Effekten gerechnet werden. 134 133. Frank Berzbach: »Die latenten Selektionen der Universität«, in: Das Hochschulwesen 48/4 (2000), S. 113. Für den amerikanischen Kontext siehe den Klassiker von Talcott Parsons/Gerald M. Platt: Die amerikanische Universität. Ein Beitrag zur Soziologie der Erkenntnis (1973), Frankfurt a.M. 1990. 134. Im akademischen System gibt es mittlerweile nicht wenige Stimmen, die die Bologna-Reformen im Hinblick auf deren manifeste Funktion als kontraproduktiv einschätzen: »Die Einschreibeverfahren sind komplizierter als vorher, die Studienmöglichkeiten gehen an den Studienwünschen nun weiter vorbei, die Curricula

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2.2.4 B E WUS S T SE INS - UND K OMMUNIK AT IONSL ATENZ (L UHMANN ) Durch die Unterscheidung von Bewusstseins- und Kommunikationslatenz ist es möglich geworden, nicht bloß latente Funktionen, sondern die Funktionen der Latenz innerhalb gesellschaftlicher Kommunikation und Systembildung zu beobachten. Der Wert dieser Beobachtungsmöglichkeit bleibt allerdings unverstanden, wenn man noch an der Einheit eines erkennenden Subjekts festhält, dem ein Objekt entgegensteht, das entweder gesehen oder nicht gesehen werden kann. Die erkenntnistheoretische Wende ergibt sich erst durch eine Beobachtung zweiter Ordnung, d.i. eine selbstreflexive Operationsweise, die Beobachter beobachtet. Es geht also um Metakommunikation. Wer einen Beobachter als Beobachter beobachten will, kann ihn nicht nur als ein bloßes Objekt begreifen, sondern muss die auf der Ebene einer ersten Ordnung benutzte Unterscheidung bezeichnen können. Eine Beobachtung zweiter Ordnung beobachtet, was der Beobachter erster Ordnung nicht beobachten kann, und nicht beobachten kann er die Unterscheidung, die er seinem Beobachten zugrunde legt. Unter einer solchen Perspektive lässt sich Latenz darauf zurückführen, dass jede Beobachtung eine Unterscheidung verwenden muss, die während der Beobachtung nicht bezeichnet werden kann: »Das Problem der Latenz zieht sich dann zusammen auf die Frage, wie man Unterscheidungen beobachten kann, die ein Beobachter verwendet, um etwas zu bezeichnen, und die deshalb im Moment ihrer operativen Verwendung unbeobachtbar sind. Und die Antwort müsste lauten: nur mit Hilfe anderer Unterscheidungen, für die dasselbe gilt.«135

Der Latenzbegriff erzeugt so zwingend den Gegenbegriff der Manifestation. Wo etwas in der Tiefe zu suchen ist oder aus derselben wirksam werden soll, muss es auch eine entweder verdeckende oder durch die Tiefenwirkung wandelbare Oberflächenstruktur geben. Die Einführung der Latenz ermöglicht, was vorher einfach gegeben war oder sich an der Einheit eines Begriffs (onto) logisch orientieren konnte, jetzt als Differenz zu beobachten. Und zwar immer als Differenz von Oberfläche und Tiefe – in dieser Unterscheidung muss das Spezifische des sich wechselseitig bedingenden Begriffspaars Latenz und

sind überladen, die Chancen der Mobilität zwischen den Universitäten, national und transnational, haben zumindest im B.A.-Studium abgenommen, die B.A.-Studierenden haben zwar die gesteigerte Sicherheit, einen Studienabschluss zu schaffen, sie haben aber mit diesem Abschluss mehr Akzeptanzprobleme auf dem Arbeitsmarkt. Daraus ergibt sich, dass sich die Studiendauer bis zum ersten verlässlich anerkannten akademischen Grad, dem M. A., durch die Reform verlängert.« So Georg Vobruba: »Die Universität als System von Unverantwortlichkeiten. Wie konnte es zu einer Hochschulreform kommen, deren Folgen jetzt weithin als ruinös empfunden werden? Eine organisations- und politiksoziologische Analyse«, in: FAZ (18.03.2009), S. N5. 135. N. Luhmann: Latente Strukturen, S. 68.

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Manifestation erkannt werden. Die Codierung136 latent/manifest fungiert dabei nicht wie eine Unterscheidung unter anderen, sondern begründet einen Tiefendiskurs als Möglichkeit und Formationsregel diverser Ordnungen des Wissens, sowie von Texten, die mit Hilfe dieser ausgezeichneten Unterscheidung ein solches Wissen überhaupt erst entstehen lassen. Latenz und Manifestation sind demnach nicht nur ein Begriffspaar aus der Traumdeutung von Sigmund Freud oder das methodische Besteck für eine Kritik der politischen Ökonomie. Auch dient die Unterscheidung nicht einfach zur Grundlegung einer neuen Wissenschaft, z.B. Psychoanalyse oder Marxismus, sondern geht über die Werke und Methoden jener Disziplinen hinaus, in denen sie historisch zum ersten Mal systematisch aufgetreten ist. Sie begründet vielmehr einen Diskurs, der durch einen zweiwertigen Schematismus codiert ist und durch die Möglichkeit einer Wiedereinführung des Codes in das von ihm Unterschiedene unbegrenzte Diskursmöglichkeiten schaff t. So kann ein Beobachter (z.B. Merton), der die Unterscheidung latent/manifest zum Ausgangspunkt seiner Beobachtungen (z.B. einer Regenzeremonie der Hopi) macht, von einem anderen Beobachter (z.B. dem Leser von Mertons Abhandlung) ebenfalls mit dieser Unterscheidung beobachtet werden.137 Damit eine solche Komplexität, die nicht selten in Form einer Paradoxie auftreten kann, nicht zu einer Lähmung oder dem Abbruch von Kommunikation führt, muss sie bearbeitet und entfaltet werden. Deshalb oder vielleicht auch nur deswegen gibt es Zweitcodierungen der Unterscheidung latent/manifest, in denen die Unterscheidung anders und abweichend ausgedrückt werden kann. In den hier interessierenden Beobachtungsbereichen sind das die folgenden Unterscheidungen: (1.) bewusst/unbewusst (2.) kommunikabel/inkommunikabel (3.) öffentlich/geheim (4.) eigentlich/uneigentlich (5.) sichtbar/unsichtbar. 136. »Unter Code möchte ich, in Abweichung vom linguistischen und eher in Anlehnung an den biologischen Sprachgebrauch, eine Duplikationsregel verstehen, die für Vorkommnisse oder Zustände, die an sich nur einmal vorhanden sind, zwei mögliche Ausprägungen bereitstellt.« Niklas Luhmann: »Ist Kunst codierbar?«, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Opladen 1981, S. 246. Ausführlicher zum Code-Begriff ist das Kapitel 2.5 Unsichtbarkeit in diesem Band. 137. R. Merton: Manifest and Latent Functions, S. 118: »Ceremonials may fulfill the latent function of reinforcing the group identity by providing a periodic occasion on which the scattered members of a group assemble to engage in a common activity«, so lautet das Ergebnis von Mertons Beobachtung, die durch die Applikation des Schemas gesteuert ist. Der blinde Fleck seiner Argumentation liegt im Verkennen der Kontingenz dieser Beobachtung, denn sobald man das Schema latent/manifest auf sich selbst anwendet, ist es keinesfalls sicher, welches Verhalten latent genannt werden kann. Ebenso kann man mit Hilfe der Unterscheidung nicht entscheiden, ob diese Unterscheidung sich auf der Seite der Latenz oder der Manifestation befindet. Der Leser von Mertons Abhandlung kann nicht mehr sicher sein, dass die latente auch die eigentliche Funktion ist. Für die Hopi jedenfalls, gerade weil sie nicht zu »unseren Meteorologen« gehören, ist die Regenzeremonie keinesfalls irrational oder nur latent funktional. Der nächste Regen wird das bestätigen.

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Diese Oppositionen können sich gegenseitig supplementieren oder reflektieren, z.B. wenn der uneigentliche Gebrauch von Sprache unter dem Aspekt beobachtet wird, ob er bewusst oder unbewusst geschieht, ob Inkommunikabilität öffentlich ausgestellt oder lieber geheim gehalten wird oder ob die latente Funktion die eigentliche oder die uneigentliche Funktion für eine soziale Gruppe ist. Aber obwohl alle diese Unterscheidungen durch den Gegensatz von Oberfläche und Tiefe bestimmt sind, aktualisieren sie in ihrem Kontext jeweils andere Aspekte der Latenz. Das Wechseln der Perspektive, der Austausch von beobachtungsleitenden Unterscheidungen, die aber alle nur Transkriptionen der Leitunterscheidung manifest/latent sind, ermöglicht den Anschluss weiterführender Kommunikationen, die mehr und anderes thematisieren können, als nur die Oszillation des Beobachteten zwischen einem einzigen Begriffspaar. Die Kombination von Beobachtungen, die durch eine Zweitcodierung der Ausgangsunterscheidung gesteuert werden, erlaubt den Auf bau von Komplexität und damit auch eine Darstellung von Latenz, die über eine bloße Feststellung oder Aufklärung verborgener Inhalte hinausgehen kann.138 Es geht nicht mehr bloß um die Substanz einer Latenz und deren Manifestation, sondern darum, von einer Beschreibung zu einer anderen wechseln, und so jeden Zustand doppelt, also alternativ beschreiben zu können. Das Programm (Tiefendiskurs) bleibt erhalten, aber die thematischen Vorzeichen der Codierung und auch die Reichweite der damit zu treffenden Aussagen über den Gegenstand haben sich geändert. Eine Alternative, die Latenz der Kommunikation zu beschreiben, ergibt sich durch die Umschrift der Unterscheidung von einem topographischen zu einem erkenntnistheoretischen Modell. Ein Beobachter erster Ordnung beobachtet seinen Gegenstand als eine Tatsache, eine Entität in der Welt. Was er nicht sehen kann, ist die Kontingenz der Unterscheidung, die sein Beobachten strukturiert. Ein Beobachter zweiter Ordnung, für den natürlich das Gleiche gilt, kann das erkennen: 138. Zu diesem Vorschlag siehe auch N. Luhmann/P. Fuchs: Reden und Schweigen, S. 199-208. Die Produktivität dieser Kombinatorik ist allerdings auf die Binarität eines Codes angewiesen, der durch die Beschränkung auf zwei Werte jede Möglichkeit des »Dritten«, des »Anderen«, des »Fremden« oder auch des »Parasiten« der Unterscheidung erst einmal ausschließt. Die Möglichkeit einer Synthese aus oder einer Alternative zu den beiden Codewerten würde die Kommunikation über Zweitcodierungen der Latenz zum Stillstand bringen. Diese Beschränkung mag im Fall der Latenz zunächst als widersinnig erscheinen, da sie doch der Inbegriff des Einwands eines dritten Wertes gegen das Ausschlussverfahren von binären Unterscheidungen zu sein scheint. Nur wäre dieser Einwand selbst wiederum einer Unterscheidung geschuldet, die binär strukturiert ist, nämlich der Unterscheidung zwischen Zweiwertigkeit und Dreiwertigkeit. Höchstens lässt sich feststellen, dass der Beobachter selbst der Parasit seiner eigenen Beobachtung ist, denn er profitiert von einer Unterscheidung, die er benutzen, aber nicht gleichzeitig bezeichnen kann. Er sieht nicht, dass er nicht sieht, was er nicht sieht. Er ist selbst der ausgeschlossene Dritte seiner eigenen Unterscheidung. Siehe dazu Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 194-209.

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»Für ihn gewinnt daher auch der Begriff der Latenz einen anderen Sinn, bezogen nämlich auf den blinden Fleck des beobachteten Beobachters, auf das, was er nicht sehen kann. Und das, was in der Gesellschaft als natürlich und notwendig gilt, wird in dieser Perspektive etwas Artifizielles und Kontingentes. […] In dem Maße, in dem Theorien in diesem Sinne radikal konstruktivistisch überarbeitet werden, muss die Voraussetzung einer strukturellen Latenz durch die Voraussetzung einer operativen Latenz ersetzt werden. Das heißt für die Ebene der Beobachtung zweiter Ordnung, dass notwendige Latenz kontingent wird, nämlich wählbar wird und immer auch anders möglich ist – je nachdem, welche Unterscheidung der Beobachtung zugrundegelegt wird.«139

Wenn das eine weitere Möglichkeit ist, in der die Funktion der Latenz beschrieben werden kann, ist es nicht mehr ausreichend nur nach deren negativer und verdunkelnder Seite zu fragen. Im Unterschied zum Begriff der latenten Struktur oder Funktion ermöglicht das Konzept der operativen Latenz eine komplexe Beobachtung von Beobachtungen, so dass Handlungen, Rollen, Institutionen oder Systeme nicht nur auf die Selektivität ihrer Inhalte hin beobachtbar werden (ihre Ein- und Ausschlüsse), sondern auch im Hinblick auf die temporären Formen, die diesen Inhalten zugrunde liegen. Was einem Beobachter erster Ordnung zunächst als ein gegebener und vorgefundener Inhalt erscheint, wird in einer Beobachtung zweiter Ordnung als austauschbares Moment innerhalb eines Latenzdiskurses sichtbar, der die Strukturen erzeugt, von denen er spricht. Damit ist nicht gemeint, dass diese Strukturen nur im Diskurs existieren und keine reale Grundlage haben, sondern dass die Aufklärung eines blinden Flecks in der Gesellschaft immer auch die Abklärung einer zuvor sichtbaren Ursache zur Folge haben kann. Was als latent erscheint, hat die Form von etwas Artifiziellen angenommen, das abhängig von der gewählten Beobachtungsperspektive immer auch anderes erscheinen kann. Sobald die Latenz als Form in die Kommunikation eintritt, muss ihr Inhalt kontingent werden, d.h. ehemalige Latenzen können durch einen Wechsel der Beobachtungsperspektive plötzlich manifest werden, dafür treten andere an deren Stelle. Offensichtlich bevorzugt der Latenzdiskurs einen Gegenbegriffsaustausch (antonym substitution), der ebenfalls darauf hin beobachtet werden kann, ob er offen oder geheim vorgenommen wird. Es ist ein feiner Unterschied ob die Codierung latent/manifest durch die Zweitcodierung geheim/öffentlich oder ob nur eine Seite der Unterscheidung ersetzt wird, z.B. in der Unterscheidung latent/oberflächlich. Offensichtlich konturiert der Gegenbegriff die Seite der Unterscheidung, die im Zentrum der Aufmerksamkeit steht und die daher für einen verborgenen Austausch der Gegenbegriffe nicht unempfindlich sein kann. Wer z.B. das Beobachtungsschema eigentlich/uneigentlich bevorzugt, möchte eventuell verdecken, dass die analysierte Uneigentlichkeit (in 139. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1119-1121. Diese Umschrift von einem topographischen Modell in einen operativen Konstruktivismus der Latenz liefert keine neuen Antworten auf eine alte Frage, sondern formuliert diese Antwort lediglich in einer Weise, in der man die Antwort zuvor noch nicht zu sagen wusste.

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der Sprache oder in den Medien) sich keiner bewussten Entscheidung verdankt, deren Korrektur man dann einfordern könnte, sondern die Ursache von unbewussten Strukturen ist, die durch ein intentionales Handeln nicht verändert werden können. Der Latenzbegriff ermöglicht eine komplexe Beschreibung kultureller und sozialer Kommunikation, weil durch die Applikation der Unterscheidung latent/manifest jede Handlung oder Kommunikation, die auf einen Sachverhalt zu reagieren meint, auf verborgene Motive oder Interessen hin beobachtbar wird, unabhängig von der Frage ob diese Motive den Beteiligten bewusst sind oder nicht. In diesem Sinne ist »Latenz« zwar ein kritischer Begriff der Kulturwissenschaften, der aber nicht mehr für sich beanspruchen kann, zur soziologischen Aufklärung der Verhältnisse beizutragen oder gar deren Wahrheit aus der Verborgenheit entborgen zu haben. Der Latenzdiskurs ist unabschließbar, er kann nach seiner eigenen Logik zu keinem Ende gebracht werden, denn hinter jeder Tiefenstruktur, die man an die Oberfläche gezerrt hat, lassen sich noch weitere und tiefere Tiefen vermuten, deren Existenz weder endgültig bewiesen noch verneint werden kann. An dieser Stelle zeigt sich die Verwandtschaft des Latenzdiskurses mit der Verschwörungstheorie, deren Logik durch einen infiniten Regress gekennzeichnet ist. Theorien der Verschwörung beobachten politische Akteure anhand der Unterscheidung öffentlich/geheim, so dass hinter den politischen Handlungen auf der politische Bühne eine potenziell unendliche Kette von Akteuren und unsichtbaren Mächten an den Steuerungsfäden ausgemacht werden kann.140 Zusammengefasst kann zwischen drei Formen von Latenz unterschieden werden: (1.) Latenz als Strukturschutz, als Krisenmanagement des Systems, (2.) Latenz als Aufklärung von blinden Flecken in der Beobachtung der Gesellschaft, (3.) Latenz als operative Konstruktion, die Latenzen in Kontingenzen transformiert. Mit jeder Form kann etwas anderes beobachtet werden, gemeinsam ist allen drei Versionen aber die Wichtigkeit des analytischen Grundbegriffs der Latenz selbst, die so gesehen ein Beobachtungsschema, eine Codierungsregel von Kommunikation ist, die binäre Unterscheidungen auf ausgeschlossene dritte Werte (latente Motive) hin beobachtet. Da aber auch die Latenz innerhalb jener Binarität operiert, gegen die sie den Einwand eines dritten Werts ausspielt, muss sie auf Zweitcodierungen ihrer Ausgangsunterscheidung (latent/manifest) zurückgreifen, die es ihr erlauben, den blinden Fleck einer Unterscheidung mit einer alternativen Semantik zu bezeichnen – die allerdings immer auch eine Gegenbegriffl ichkeit kennt und somit ebenfalls binär codiert ist. Abschließend soll hier noch auf einen kurzen Text von Carsten Zorn hingewiesen werden, der Luhmanns Konzept einer witzigen Lektüre unterzogen hat, indem er dessen Beobachtung der Unterscheidung latent/manifest zum Ausgangspunkt einer Beobachtung macht, die ebenfalls mit dieser Unterscheidung arbeitet. Zorns These besagt, dass es neben der manifesten (theorieimmanenten) auch eine latente Funktion der funktionalen Latenz in der 140. Eine gute Einführung in die Logik der Verschwörungstheorie bietet Daniel Pipes: Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen, München 1998.

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Systemtheorie gäbe, die darin bestehe, das Dämonische und Unheimliche der Latenz (die Unterwelt des Absurden) zu bannen – »beginnend mit Mertons Vorschlag, in dessen Folge Latenz zunächst zu einer alltäglichen und, vor allem, sozial höchst dienlichen (eben funktionalen) Begleiterscheinung allen soziokulturellen Geschehens wird« 141. In der Systemtheorie sei eine Forcierung dieser »latenzbannenden« Funktionalisierung der Latenz feststellbar, da Luhmann Mertons Konzept der latenten Funktion in das biologisch-kybernetische Konzept des »blinden Flecks« übersetzt und somit zu einem (lösbaren) Problem der Erkenntnistheorie »entschärft«.142 Ähnlich wie bei der systemtheoretischen Umschrift von Gefahren in kalkulierbare Risiken wird Latenz dadurch bei Luhmann zu »etwas Nachträglich-einer-Wahl-Unterwerfbares – das dann gezielt und rational kalkuliert durch anderes ersetzt werden kann«143. Zorns ironische Aufklärung der systemtheoretischen Abklärung verweigert sich klugerweise einer wertenden Antwort auf die Frage, ob man Luhmann für diese Transformation der Unterwelt in eine gesellschaftliche Normalität loben oder tadeln sollte. Wahrscheinlich weil er weiß, dass auch eine Beobachtung von funktionalen Latenztheorien unter dem Gesichtspunkt ihrer latenten Funktionen und Motive sich dem Beobachtungsschema der Latenz und den Applikationen ihrer Codierungen verdankt.

2.3 Öf fentlichkeit 2.3.1 L ATENZ

TR ANSPARENZ IN DER M EDIENDEMOKR AT IE (D ÖRNER , M E Y ROW I T Z )

UND

Ohne Öffentlichkeit kann es die politische Form der Demokratie nicht geben. Ohne ein offenes Kommunikationssystem ist eine offene Gesellschaft nicht möglich, ganz gleich welches Demokratiemodell favorisiert wird. Entscheidend für diese Verbindung zwischen dem politischem System und der Öffentlichkeit ist deren mediale Konstitution, d.h. jede Form von Öffentlichkeit (sowohl die »repräsentative« als auch die »bürgerliche« oder »proletarische«) ist immer durch Kommunikationsmedien gestiftet und durch eine spezifische Kommunikationskultur geprägt. In einer zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit muss diese Kommunikationskultur unabhängig von dem bevorzugten Demokratiemodell mindestens die drei wichtigen Funktionen der Transparenz, der Validierung und der Orientierung erfüllen, damit sich eine öffentliche Meinung herausbilden kann.144 Den Massenmedien kommt dabei eine 141. Carsten Zorn: »Funktion. Oder: Operativ gesehen weist dieser Fall keine Besonderheiten auf«, in: Stefanie Diekmann/Thomas Khurana (Hg.), Latenz. 40 Annährungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 91-97, hier S. 92. 142. Ebd.; so sagt es auch P. Wehling: Im Schatten des Wissens?, S. 49. 143. Ebd., S. 93. 144. Siehe hierzu ausführlich die Diskussionen in Friedhelm Neidhardt (Hg.), Öffentlichkeit, öffentliche Meinung, soziale Bewegungen. Sonderheft 34 (1994) der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie.

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Schlüsselfunktion zu, denn in demselben Augenblick, in dem die sichtbare Versammlungsöffentlichkeit (Interaktion) sich zu einer unsichtbaren Medienöffentlichkeit (Vereinzelung) wandelt, findet die strukturelle Kopplung zwischen dem politischen System und der Gesellschaft immer weniger in politischen Parteien und Interessenverbänden, sondern durch die Massenmedien selbst statt.145 In der modernen politischen Theorie lassen sich zugespitzt zwei Positionen beobachten, die diese Relation von Politik und Medien konträr darstellen und bewerten: Es gibt einerseits Theorien, die eine spezifisch demokratische Funktion der Medien in der Konstruktion und Steigerung von politischer Transparenz sehen – d.h. die Medien entbergen die Politik aus ihrer selbstverschuldeten Verborgenheit 146 –, sowie andererseits Theorien, die eine Divergenz zwischen dem politischen System und dem System der Massenmedien behaupten, deren Ursache ein Widerspruch zwischen der Logik der Medien und der Logik demokratischer Politik sein soll: d.h. die Medien kolonialisieren die Politik.147 Dass die Leistungsfähigkeit und Problematik von Macht etwas mit der medialen Vermittlung des Politischen zu tun hat, ist in der politischen Theorie mittlerweile ein Gemeinplatz. Im Bereich des Politischen wird Medialität dabei auf die Distributionsleistung moderner Massenmedien bezogen. Vor allem Demokratien sind unvermeidlich auf die öffentliche Darstellung ihrer Prozesse in den Massenmedien angewiesen, aber gleichzeitig von dem Eigenverhalten des Systems der Massenmedien abhängig.148 Daraus ergibt sich notwendig ein Begriff von Latenz, der ähnlich wie in den Theorien der Rhetorik durchweg als Unsichtbarkeit der zu bestimmten Zwecken eingesetzten Mittel vorgestellt wird. Einflussnahme oder Überzeugung findet in dieser Logik 145. Dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit wird ausführlich in den beiden zentralen Monographien von Jürgen Habermas und Richard Sennett beschrieben. Kurz und sachlich zu der aktuellen Situation ist Kurt Imhof: »Politik im ›neuen‹ Strukturwandel der Öffentlichkeit«, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen. Sonderband 14 (2003) der Zeitschrift Soziale Welt, S. 401418. 146. Joshua Meyrowitz: Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter, Weinheim, Basel 1987; Ernst-Otto Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. Das internationale System nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Aktualisierte Neuaufl., München 2002; Howard Rheingold: Virtuelle Gemeinschaft. Soziale Beziehungen im Zeitalter des Computers, Bonn 1994; Claus Leggewie/Christa Maar (Hg.), Internet & Politik. Von der Zuschauer- zur Beteiligungsdemokratie? Mannheim 1998; Ann Florini: The Coming Democracy. New Rules for Running a New World, Washington, DC 2005. 147. Jean-Marie Guéhenno: Das Ende der Demokratie, München, Zürich 1994; Thomas Schuster: Staat und Medien. Über die elektronische Konditionierung der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1995; Rudolf Maresch (Hg.), Medien und Öffentlichkeit. Positionen – Symptome – Simulationseinbrüche, München 1996; Pierre Bourdieu: Über das Fernsehen, Frankfurt a.M. 1998; Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt a.M. 2001. 148. Thomas Meyer: Was ist Politik? Opladen 2003, S. 221ff.

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der »Mediendemokratie« tendenziell nur unter der Bedingung statt, dass die mediale Vorselektion, die das Feld des Dargebotenen zugleich erschließt und eingrenzt, nicht kenntlich werden darf. Der Zusammenhang von Medien und Latenz formiert sich dabei prototypisch als ein zweiseitiges Relationsverhältnis: Stets wird davon ausgegangen, dass in einem sozialen oder politischen System latente Prozesse und Strukturen existieren, die nur durch eine kritische Medienberichterstattung sichtbar gemacht oder aufgeklärt werden können. Gleichzeitig produzieren die Massenmedien durch ihre Nachrichten- und Unterhaltungsformate aber auch eine eigene Form der Latenz, die dann als »Verblendungszusammenhang« oder »Manipulationsverdacht« adressiert werden kann. Eine so verstandene mediale Latenz bezeichnet damit sowohl Aufklärung als auch Abklärung, deskriptive Sichtbarmachung und systematische Unsichtbarkeit von verborgenen Strukturen und Funktionen. Es gibt also einen traditionellen Widerspruch innerhalb der strukturellen Kopplung von Öffentlichkeit und Transparenz einerseits, sowie zwischen dem Prinzip der Publizität und beispielsweise den Erfordernissen militär- und sicherheitspolitischer Geheimhaltung andererseits. Dabei ranken sich zwei ganz unterschiedliche Mythen um die angebliche Prägekraft der Medien: Erstens die Idealisierung einer radikalen Transparenz (Öffnung der Hinterbühne) durch die Aufklärung der Medien. Zweitens der Verdacht, dass sich hinter jedem Medium ein verborgener submedialer Raum befinde, der das eigentlich Politische im Verborgenen hält. Das Ideal der Transparenz ist dabei hauptsächlich als ökonomische und militärische Transparenz konzipiert, die als ein normatives Essential von Demokratien gedacht und als friedensstrategisches Argument geltend gemacht wird, »entsteht doch möglicherweise durch die sicherheitspolitisch entspannend wirkende Informationstransparenz ein verlässlicheres, stabileres und damit friedlicheres internationales Umfeld«149. Transparenz ist also das Gegenteil von Geheimpolitik.150 Beide Begriffe bezeichnen keine festen Zustände eines politischen Systems, sondern Entscheidungen für eine bestimmte politische Kultur in der 149. Gerhard Kümmel: Sicherheits- und Militärpolitik im Cyberspace. Die Verteidigungsministerien und Streitkräfte der Welt im Internet, Strausberg 2003, S. 32. Kümmel konstruiert für die mit Informationen über ihr militärisches Potenzial im Internet vertretenen Staaten sogar einen »Militärischen Transparenz-Index« (MTI), der als Summenindex Punkte für das Erfüllen signifikanter Kategorien addiert. Dieser Index kann auch noch mit einem entsprechenden »Freiheitsindex« und einem »Wohlstandsindex« gekoppelt werden, so dass angeblich korrelierende Zusammenhänge sichtbar werden. Mehr Transparenz soll demnach auch zu mehr Freiheit und Wohlstand führen. Der medial gestützte Austausch militärbezogener Informationen soll als eine vertrauensbildende Maßnahme wirksam werden. Zum friedensstrategischen Hintergrund der Kopplung von Demokratie und Medienöffentlichkeit in den internationalen Beziehungen ganz allgemein siehe E.-O. Czempiel: Weltpolitik im Umbruch. 150. Transparenz wird in diesem Umfeld der Friedens- und Konfliktforschung möglichst breit definiert, als »the degree to which information is available to outsiders that enables them to have a informed voice in decisions and/or to assess the

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Gesellschaft. Als politische Ideale sind sie die beiden Endpunkte einer kontinuierlichen Skala, auf der sich Staaten und Unternehmen gleichermaßen verorten müssen. Laut Ann Florini habe vor allem die Globalisierung, trotz ihrer oft überbetonten negativen Begleiterscheinungen, zur weltweiten Verbreitung und Akzeptanz von Transparenzkriterien beigetragen. Eine solche Proliferation von Transparenz sei erst durch das Ende des Ost-West-Konflikts und die zeitgleiche rasante Entwicklung der neuen Medien möglich geworden. Aber da die Medien Informationsflüsse sowohl aufdecken als auch verbergen können, brauche es vor allem eine politische Kultur der Transparenz, die auf den ethisch-rationalen Normen der Zivilgesellschaft beruhe, kurz: »regulation by revelation«.151 So lautet die Quintessenz und entscheidende Formel des politikwissenschaftlichen Liberalismus für die produktive Verbindung von Demokratie, Globalisierung, Transparenz und den neuen Medien. Eine solche Kopplung von Transparenz, Demokratie und Medien wurde aber auch schon für die klassischen Massenmedien behauptet, was sich paradigmatisch an den Arbeiten von Joshua Meyrowitz oder Andreas Dörner ablesen lässt. Für Meyrowitz ist das Fernsehen keine Droge im Wohnzimmer oder ein Instrument der Volksverdummung, sondern hat ganz im Gegenteil eine demokratisierende und gemeinschaftsstiftende Wirkung. Anders als die Printmedien, bei denen die Interaktion mit einem Buch, einer Zeitung oder einer Zeitschrift noch als sehr persönlich und intim bezeichnet werden kann, selegiert das Fernsehen seine Inhalte immer schon nach der Vorgabe, ein Massenpublikum anzusprechen und für alle Teile der Bevölkerung verständlich zu sein. Das Fernsehen unterminiert also die Aufrechterhaltung einer bildungsbürgerlichen Öffentlichkeit, so Meyrowitz, die primär nur ›unter sich‹ kommuniziert und dadurch die Interpretation der in einer Gesellschaft verfügbaren Information kontrolliert.152 Für die Theoretiker der Transparenz haben die elektronischen Medien (Fernsehen, Internet) eine neue »gemeindecisions made by insiders«. Vgl. Ann Florini (Hg.), The Right to Know. Transparency for an Open World, New York 2007, S. 5. 151. »Transparency provides the basis for a highly democratic, albeit nonelectoral, system of transnational governance based on the growing strength of the global civil society. It made sense to cling to secrecy in a world truly divided into discrete nation-states. But in this era of global integration, transparency is the only appropriate standard.« Ann Florini: »The End of Secrecy«, in: Foreign Policy 111 (1998), S. 50-63, hier S. 53 und S. 63. 152. Joshua Meyrowitz: »Von gedruckten zu elektronischen Situationen«, in: Ders.: Überall und nirgends dabei. Die Fernseh-Gesellschaft I, Weinheim, Basel 1990, S. 147-248. Meyrowitz hat diese Gedanken von Marshall McLuhan übernommen, der die demokratisierende und pädagogische Wirkung des Fernsehens auf den Slogan »togetherness« und »Klassenzimmer ohne Wände« gebracht hat. In dem gleichnamigen Text kritisiert er allerdings die Unterscheidung zwischen dem Buch als einem Kulturmedium und dem Fernsehen als Massenmedium: »We also think of the new media (press, radio, TV) as mass media and think of the book as an individualistic form – individualistic because it isolated the reader in silence and helped create the Western I. Yet it was the first product of mass production.« Marshall McLuhan:

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same Arena« geschaffen, eine elektronische Agora des Informationszeitalters, die unabhängig von den jeweiligen Inhalten eine gemeinschaftsbildende Wirkung entfaltet.153 Im Unterschied zur Lektüre von Büchern, deren psychosoziale Funktion in der Bestätigung der persönlichen Identität und einer »eigenen Realität« gesehen werden kann, dient das Fernsehen zur Vergewisserung und Beobachtung einer als extern verorteten Realität, wodurch ein Gefühl der Verbundenheit mit dieser Realität und mit den anderen (anonymen) Zuschauern in einem gemeinsamen öffentlichen Raum entsteht. Die elektronischen Massenmedien unterlaufen die Trennung zwischen Vorderbühne und Hinterbühne, indem sie öffentliche und private Situationen vermischen. Denn im Fernsehen wird nicht nur die diskret organisierte Kommunikation (Botschaft) übertragen, sondern auch unbewusste Ausdrucksformen (Mitteilung), die eigentlich gar nicht für den öffentlichen Diskurs bestimmt sind. Diese Unterscheidung zwischen Kommunikation und Ausdruck, die Meyrowitz von Erving Goffman entlehnt,154 wird auf die Unterscheidung zwischen Bühne und Hintergrund übertragen: »Einer der wichtigsten Unterschiede zwischen Printmedien und elektronischen Medien ist der, dass die Printmedien nur Kommunikationsformen enthalten, während die meisten elektronischen Medien auch persönliche Ausdrucksformen übermitteln. Die elektronischen Medien geben ein ganzes Spektrum von Informationen preis, die einst auf private Interaktion beschränkt waren. Sie ›enthüllen‹ Informationen, die früher nur zwischen Menschen ausgetauscht wurden, die sich ›von Angesicht zu Angesicht‹ gegenübertraten. In diesem Sinne sind die Printmedien ›systematisch auf die Bühne‹ oder die Öffentlichkeit ausgerichtet, während die elektronischen Medien systematisch auf den Hintergrund oder den nichtöffentlichen Bereich orientiert sind.«155

Andreas Dörner hat diese Thesen von Meyrowitz auf den Neologismus Politainment gebracht. In Analogie zum ›Infotainment‹ soll damit auf die en»Classroom without Walls«, in: Edmund Carpenter/Marshall McLuhan (Hg.), Explorations in Communication, Boston 1967, S. 1-3. 153. »Die soziale Bedeutung des Fernsehens mag daher zum Teil weniger darin liegen, was ›im‹ Fernsehen zu sehen ist, als vielmehr in der Tatsache, dass es sich beim Fernsehen um eine einzige große Bühne handelt. […] Das Wissen um die Existenz einer solchen gemeinsamen Arena ist in mancher Hinsicht vergleichbar mit dem Wissen um die Existenz eines »familiären Zuhauses«, wo Verwandte sich spontan – in Krisenzeiten – oder zu feierlichen Anlässen versammeln können. Eine solche Gelegenheit muss nicht jeden Tag wahrgenommen werden, um dauernd präsent zu sein.« J. Meyrowitz: Überall und nirgends dabei, S. 182-185. Zu dem Konzept und der Kritik dieser Vision einer elektronischen Agora am Beispiel des Internet siehe Horst Bredekamp: »Demokratie und Medien«, in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hg.), Bürger und Staat in der Informationsgesellschaft, Bonn 1998, S. 188-194. 154. Erving Goffmann: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag (1959). 3. Aufl ., München 1976. 155. J. Meyrowitz: Überall und nirgends dabei, S. 194.

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ge Kopplung zwischen politischer und unterhaltender Kommunikation aufmerksam gemacht werden: »Politainment bezeichnet eine bestimmte Form der öffentlichen, massenmedial vermittelten Kommunikation, in der politische Themen, Akteure, Prozesse, Deutungsmuster, Identitäten und Sinnentwürfe im Modus der Unterhaltung zu einer neuen Realität des Politischen montiert werden. Dies neue Realität konstituiert den Erfahrungsraum, in dem den Bürgern heutzutage typischerweise Politik zugänglich wird.«156

Diese Konstituierung einer eigenen politischen Realität durch die Massenmedien wird von Dörner insgesamt als unumgänglich angesehen und daher nicht negativ gewertet. Politik im Unterhaltungsformat mache Personen, Positionen und Konflikte sichtbar, die eigentlich gar nicht für die politische Kommunikation vorgesehen sind, sondern der Ausdrucksseite von Kommunikation zugerechnet werden. Die Visualisierung (der Hinterbühne) verstärkt eine mediale Dauerbeobachtung von politischen Eliten und begünstigt eine Orientierung für den Zuschauer. Politainment ist ein Interdiskurs, der populäre Bilder und Geschichten aufgreift, die politische Probleme allgemeinverständlich veranschaulichen und damit eine große Erreichbarkeit der Kommunikationsteilnehmer sicherstellen. Dieser Rückgriff auf die Unterhaltungskultur soll die Bürger politisch integrieren und einer zerstreuten Öffentlichkeit entgegenwirken. Weitere Funktionen des Politainment sind die Aufmerksamkeitslenkung durch »Agenda Setting« und die Sicherung von Anschlusskommunikation. Die Produktion und Distribution von politischen Themen muss auch die Rezeption von sozialen Gruppen und Privatpersonen erreichen, damit politische Kommunikation gelingen kann. Durch den vergemeinschaftenden Charakter der Massenmedien und das erfolgreiche Setzen von gemeinsamen Themen soll die eingeschränkte Interaktivität der Massenmedien auf der Ebene der Anschlusskommunikation überwunden werden, so dass in der Familie, am Arbeitsplatz oder unter Freunden auch politische Probleme zur Sprache kommen, die eine öffentliche Meinungsbildung ermöglichen. Entscheidend ist also nicht, dass die Medien eine Selektion der Themen, Bilder und Geschichten vornehmen, sondern das Wissen der Zuschauer um die allgemeine Gültigkeit dieser Selektion für alle anderen Teilnehmer der Massenkommunikation. Erst durch dieses Wissen kann überhaupt das Gemeinsame adressiert werden: »Die Bildwelten der Unterhaltungskultur bewegen sich in einem Modus des Als-ob. Sie stellen somit keine auf Wahrheit oder Authentizität zielende Widerspiegelung von politischer Realität dar, sondern alternative Konstruktionen von Wirklichkeit. Innerhalb deren entfaltet sich so etwas wie das politische Imaginäre der Gesellschaft: ein fiktionaler Raum, in dem Vorstellungen, Visionen, Träume und Gefühle des Politischen verhandelt werden.«157 156. Andreas Dörner: Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt a.M. 2001, S. 31. 157. Ebd., S. 68.

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Politainment ist für Dörner also keine reine Showveranstaltung, während hinter den Kulissen die politische Elite weiterhin Realpolitik gestaltet, sondern ein legitimes Instrument der Inszenierung und der unterhaltenden Vermittlung von Politik. Die gesellschaftliche Funktion unterhaltender Politik kann darüber hinaus als politisches Cheerleading beschrieben werden, als Katalysator einer optimistischen Stimmung in der öffentlichen Meinung und positiver Gefühle in der Bevölkerung (Feel-Good-Faktor). Politisches Emotionsmanagement werde in Europa im Regelfall zwar noch immer als Manipulation und Ablenkung von den realen Problemen der Politik beschrieben, sei aber in den USA schon lange als ein Instrument der symbolischen Politik akzeptiert und üblich: »Denn grundsätzlich ist die Wahrnehmung und das Gefühl, dass die Welt machbar und veränderbar ist, die wichtigste Voraussetzung dafür, dass überhaupt gehandelt wird. Depressiv gestimmte Menschen sind in der Regel wenig geneigt, Probleme anzupacken und mit Elan zu arbeiten, sich zu engagieren oder selbst Politik zu machen.«158

2.3.2 ST RUK T URWANDEL DER Ö F F ENTL ICHKE I T (H ABERMA S , M E YER , S ENNE T T) Das kann man natürlich auch anders sehen, denn öffentlich vorgetragene Begeisterung macht verdächtig. Dementsprechend vermutet die dystopische Variante der Medientheorie jenseits der Oberflächen einer medialen Öffentlichkeit Mechanismen einer ratio status oder Schlimmeres. Dieser Verdacht geht immer von der Unterstellung aus, dass sich unter der Oberfläche des Politischen, den Masken der Diplomatie, ein unbekanntes Subjekt verbirgt, das die Oberfläche zu seinen Gunsten manipulieren will. Hinter der Vorderbühne lässt sich also immer eine Hinterbühne vermuten und hinter der Zeichenoberfläche ein dunkler und submedialer Raum, der in undurchsichtige Tiefen führt und von unbekannten Subjekten bevölkert ist. Dieser submediale Raum ist das Andere der Medien, denn er gehört weder zu dem Bereich des Bedeuteten (Signifikat) noch zu dem Bedeutenden (Signifikant). Der submediale Raum steht als der Raum des Verdachts außerhalb des Symbolischen und bezeichnet die unvermeidlich paranoide Unterstellung, dass sich hinter dem Sichtbaren etwas Unsichtbares verbergen muss. Wie Boris Groys in einem Essay über die Logik des Verdachts ausführt, muss jeder Beobachter unabhängig von seiner konkreten Intention immer noch eine zweite Ebene, einen Raum der dunklen Bedrohung hinter der medialen Oberfläche unterstellen. Alles, was die mediale Oberfläche zeigt, stehe daher automatisch unter Verdacht.159 Eine frühe systematische Formulierung dieses Verdachts hat in der Studie von Jürgen Habermas zum Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962) ihre Programmschrift gefunden. Die bürgerliche Öffentlichkeit, deren Entwick158. Ebd., S. 72. 159. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München

2000, S. 218.

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lung Habermas nachzeichnet, verdankt sowohl ihre Existenz als auch ihre Verzerrung zwei distinkten Medienrevolutionen: der Etablierung einer neuen Buch- und Zeitschriftenproduktion im 18. Jahrhundert und dem Aufstieg der elektronischen Massenmedien im 20. Jahrhundert. Die Karriere der kritisch diskutierenden und räsonierenden bürgerlichen Öffentlichkeit ist dabei im 18. Jahrhundert eng an die neue und rasch anwachsende »Produktion von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, die Zunahme der Schriftsteller, der Verlage und Buchhandlungen, die Gründung von Leihbibliotheken und Lesekabinetten, vor allem von Lesegesellschaften« 160 gebunden. Mit der steigenden Zahl an Publizisten und Lesern sowie der Entstehung einer neuen »Lesekultur«, die über den engen Kreis der Gelehrten hinausreicht, kann »gleichsam aus der Mitte der Privatsphäre heraus ein Netz öffentlicher Kommunikation«161 beobachtet werden. Im Innern dieser neuen privaten Öffentlichkeit, die sich in vielfältigen Organisationsformen wie Aufklärungsgesellschaften und Bildungsvereinen, aber auch Geheimbünden ausdrückt, sieht Habermas vor allem »egalitäre Verkehrsformen, Diskussionsfreiheit, Majoritätsentscheidungen usw.« praktiziert. Im Privaten werden »politische Gleichheitsnormen einer künftigen Gesellschaft« 162 eingeübt. Sind diese Gesellschaften, die zum Teil im 17. Jahrhundert gegründet wurden, zunächst noch auf literarische und kunstkritische Inhalte ausgerichtet, so erhalten sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts und spätestens mit der Französischen Revolution einen Politisierungsschub, der sich auf ganz Europa erstreckt. Tagespolitische, ökonomische und geschichtsphilosophische Themen werden zu den entscheidenden Aspekten der neuen öffentlichen Meinung. Symptomatisch für diese Beobachtungen im Strukturwandel der Öffentlichkeit ist die Wahl eines literarischen Beispiels gleich zu Beginn der Studie. Es geht um eine Beobachtung, die der Protagonist in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795) macht. Wilhelm Meister, so gesteht dieser in einem Brief seinem Schwager Werner, möchte auch als Nichtadliger eine »öffentliche Person« sein und einem weiten Kreis gefallen. Da er als Bürgerlicher aber nicht die Aura der Selbstdarstellung zu erzeugen vermag, die einen »Edelmann« als Repräsentanten der öffentlichen Gewalt und als Teil einer »repräsentativen Öffentlichkeit« des Hofes auszeichnet, muss er dieses Bedürfnis auf der Bühne – nicht zufällig in der Rolle des Hamlet – ausspielen. Habermas erkennt darin eine doppelte Ungleichzeitigkeit: Zum einen entsteht der Roman schon vor dem Hintergrund einer ausgebildeten bürgerlichen Öffentlichkeit. Das bedeutet, dass der Adel im Wilhelm Meister nur noch als Folie für das neue bürgerliche Modell der »gebildeten Persönlichkeit« bzw. der »bereits vom Neuhumanismus der deutschen Klassik geprägte[n] Idee der sich frei entfaltenden Persönlichkeit«163 dient. Zum anderen bemerkt Habermas, dass 160. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962). Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt a.M. 1990, S. 13. 161. Ebd. 162. Ebd., S. 14. 163. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 68.

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Meisters Hamlet-Inszenierung nur anfänglich Erfolg haben kann, seine theatralische Sendung aber letztlich scheitern muss. Denn Meisters Wunsch, eine öffentliche Person zu sein, richtet sich an eine noch durch Repräsentation geprägte, mithin höfisch geregelte Öffentlichkeit. Dadurch verfehlt er die »bürgerliche Öffentlichkeit, zu deren Podium das Theater inzwischen geworden ist«164. Habermas macht also auf eine analoge Entwicklung – wenn nicht gar auf eine Wechselwirkung – im Wandel zwischen der Öffentlichkeit und dem Theater aufmerksam: Goethes Protagonist verkennt die Rolle der Künste und Medien im strukturellen Wandel der Gesellschaft genauso wie den strukturellen Wandel der Künste und Medien in der Gesellschaft selbst. Unterschwellig zeigt sich an der Einschätzung dieser Zäsur (von den Künsten zu den elektronischen Medien) bei Habermas auch eine wertende Verschiebung seiner Kriterien. Erfüllt das Theater, zumindest in der Mittelbarkeit literarischer Reflexion, noch eine Spiegel- und Appellfunktion, die über seine Darstellungsinhalte (Hamlet) auch öffentlichkeitskritisch und gesellschaftskorrigierend oder -stabilisierend funktionieren kann, schwenkt Habermas in seiner Betrachtung der neuen Medien auf eine eher abstrakte institutionssoziologische Betrachtung um, die allein den Vermachtungsaspekt in den Blick nimmt. Als neue Medieninhalte erscheinen im Strukturwandel der Öffentlichkeit ausschließlich Beispiele einer »Integrationskultur«,165 also Werbung und Öffentlichkeitsarbeit.166 Den ersten Bruch in der Entwicklung der bürgerlichen Öffentlichkeit sieht Habermas schon in der »Refeudalisierung« der Öffentlichkeit Mitte des 19. Jahrhunderts. Denn die für die Öffentlichkeit grundlegende Publizität führt nicht nur zu der Existenz von unterschiedlichen Arenen, in denen Privatleute ihre Meinungen streitbar vertreten, sondern auch zu ökonomischen Konkurrenzkämpfen. So sind die publizistischen Organe zwar vor dem Eingriff der öffentlichen Gewalt dadurch geschützt, dass sie in Privatbesitz sind, aber die Massenpresse gehorcht – im Zuge einer »Transformation von Staat in Ökonomie«167 – auch nicht den Regeln einer staatlichen Demokratie, die für 164. Ebd., S. 69. 165. Integrationskultur ist hier ein Synonym für die Kultur- und Bewusstseins-

industrie, dem zentralen Medienkonzept der Kritischen Theorie: »Der Gesamteffekt der Kulturindustrie ist der einer Anti-Aufklärung; in ihr wird, wie Horkheimer und ich es nannten, Aufklärung, nämlich die fortschreitende technische Naturbeherrschung, zum Massenbetrug, zum Mittel der Fesselung des Bewusstseins. Sie verhindert die Bildung autonomer, selbständiger, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen. Die aber wären die Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft, die nur in Mündigen sich erhalten und entfalten kann.« Theodor W. Adorno: »Résumé über Kulturindustrie«, in: Dieter Prokop (Hg.), Massenkommunikationsforschung. Bd. 1: Produktion, Frankfurt a.M. 1972, S. 347-354, hier S. 354. 166. Richard Felton Outcaults wegweisende Comicfigur »Yellow Kid« (1896) wird beispielsweise zum paradigmatischen Repräsentanten der »Yellow Press«, der »Sensationspresse« erklärt, wie überhaupt das Eindringen des Bildes in den Text den Untergang einer räsonierenden Lesekultur einzuleiten scheint. 167. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 21.

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alle gilt, oder einer geeinten bürgerlichen Öffentlichkeit, sondern den kapitalistischen und technischen Logiken konkurrierender Verlagshäuser. Dieser Strukturwandel, der sich mit den elektronischen Medien im 20. Jahrhundert zuspitzt, hat dann zur Folge, dass im Spätkapitalismus eine räsonierende und kritische Öffentlichkeit weitgehend verschwindet. Die elektronische Medienmacht transformiert nach Habermas die Öffentlichkeit in eine »vermachtete Arena«, in der um die »verborgene Steuerung verhaltenswirksamer Kommunikationsflüsse« gekämpft wird.168 Die Öffentlichkeit der Massenmedien ist nur noch dem Schein nach öffentlich, genauso wie die Integrität der Privatsphäre. Habermas macht die Existenz eines räsonierenden Publikums, dem er sowohl die entscheidende Funktion in der öffentlichen moralischen Desavourierung der staatlichen Arkanpolitik als auch der repräsentativen Öffentlichkeit zuspricht, eindeutig an der privaten Lektüre als einer bürgerlichen Praxis fest. Das Lesen – und davor noch das Schreiben – geht der öffentlichen Diskussion und Kritik im Salon oder in den Lesegesellschaften voraus. Der Strukturwandel der Öffentlichkeit ist deshalb das Ergebnis eines Wandels der Medien und der Kulturtechniken: Aus dem lesenden und räsonierenden Publikum wird ein audiovisuelles und konsumierendes Publikum, das an die elektronischen Massenmedien angeschlossen ist. Habermas sieht für die Gegenwart zwar nicht die Gefahr einer Wiedereinführung der repräsentativen Öffentlichkeit, aber am Horizont der Überlegungen droht eine neue private Arkanpolitik, die Züge einer »refeudalisierten bürgerlichen Öffentlichkeit«169 hat. Aus der Publizität wird in seiner »Verfallstheorie«170 publicity, und aus den Diplomaten und Hintermännern des Ancien Régime werden die ökonomischen Interessen von Privatpersonen: »Die durch die Massenmedien erzeugte Welt ist Öffentlichkeit nur noch dem Schein nach.«171 Prominent kritisiert wird dieses Modell einer einstmaligen Schlagkraft »bürgerlicher Öffentlichkeit« von Oskar Negt und Alexander Kluge in der gemeinsam verfassten Studie Öffentlichkeit und Erfahrung (1972). Sich auf die von Habermas nur einmal angedeutete »plebejische Öffentlichkeit«172 und damit auf die ausgeschlossenen Elemente des Bürgertums kaprizierend, stellen sie dem Idealtypus der bürgerlichen Öffentlichkeit den Erfahrungsbegriff der »proletarischen Öffentlichkeit« entgegen: »Proletarisches Leben bildet keinen Zusammenhang, sondern ist durch die Blockierung seiner wirklichen Zusammenhänge gekennzeichnet. Die Form des gesellschaftlichen Erfahrungshorizontes, die diesen Blockierungszusammenhang nicht aufhebt, sondern befestigt, ist die bürgerliche Öffentlichkeit.«173 168. Ebd., S. 27-28. 169. Ebd., S. 337. 170. Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen

Berichts. Unter Mitarbeit von Russel A. Berman/Karen Kenkel/Arthur Strum, Stuttgart, Weimar 2000, S. 96. 171. J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 261. 172. Ebd., S. 16. 173. Oskar Negt/Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organi-

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Mit der Anerkennung neuer Formen und Institutionen der Massenmedien, der »Bewusstseins- und Programmindustrien, der Werbung, der Öffentlichkeitsarbeit der Konzerne und Verwaltungsapparate«174 bestimmen Negt und Kluge jede Theorie der Öffentlichkeit als imaginär. So kann es für sie von vornherein nur eine »Kumulation […] abstrakt aufeinander bezogener Einzelöffentlichkeiten«175 geben, keine geschlossene Formation einer relevanten politischen Öffentlichkeit. Diese Pluralisierung und Zersplitterung des Begriffs der »Öffentlichkeit«, seine Anziehungskraft für Adjektivattribute unterschiedlichster Couleur, die sich schon in der Kritik Negts und Kluges zeigt, erweist letztlich den brüchigen Konstruktcharakter des Konzepts. Denn auch wenn Habermas die bürgerliche Öffentlichkeit als ein wesentliches Organisationsprinzip der politischen Gesellschaft begreift, bleibt der Begriff leer. »Öffentlichkeit« lässt sich semantisch offensichtlich so einfach umpolen und in so viele Aspekte aufspalten, dass der Einsatz im Feld des Politischen als Remedium oder zumindest als Gegengewicht zur staatlichen Gewalt, repräsentativen Öffentlichkeit, Manipulation oder auch zur Kultur- und Bewusstseinsindustrie fragwürdig wird. Man könnte dahingehend argumentieren, dass die Geburt der bürgerlichen Öffentlichkeit aus dem Innenraum des Privaten schon von Beginn an eine simultane Koexistenz zerstreuter Öffentlichkeiten voraussetzt und daher auch kein singuläres Publikum formt, sondern höchstens den Verdacht produziert, dass eine geschlossene öffentliche Meinung als temporäre Konstellation einer kleinen bürgerlichen Elite entsteht. Diese ›öffentliche Meinung‹ wäre dann keineswegs die Meinung der Mehrheit, sondern beruht auf der Interpretation und Manipulation von Intellektuellen, wie bereits der deutsche Rechtswissenschaftler Karl Salomo Zachariä 1839 deutlich festgehalten hat: »Man verwechsle nicht die öffentliche Meinung mit der Meinung der Mehrheit. Die erstere ist die präsumtive, (oder mutmaßliche), die letztere ist die wirkliche Meinung der Mehrheit. Die Meinung der Mehrheit läßt sich nur durch das Zählen der Stimmen ausmitteln, auf die öffentliche Meinung schließt man aus den Meinungen, die von einzelnen geäußert werden. Die Meinung der Mehrheit hat (voraussetzungsweise) eine entscheidende, die öffentliche Meinung hat nur eine beratende Stimme.«176

Als eine komplementäre Studie zu der Habilitationsschrift von Jürgen Habermas kann das Buch von Richard Sennett über den Verfall und das Ende der bürgerlichen Öffentlichkeit gelten. Sennett kritisiert geradezu das Ideal einer sationsanalyse von bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt a.M. 1972, S. 10. 174. Ebd., S. 12. 175. Ebd., S. 15. 176. Karl Salomo Zachariä: Vierzig Bücher vom Staate. Bd. 3. 2. Aufl ., Heidelberg 1839, S. 208. Zitiert nach Lucian Hölscher: »Öffentlichkeit«, in: Otto Brunner/ Reinhard Koselleck/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. IV, Stuttgart 1978, S. 455.

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Transparenz der Hinterbühne und die Intimität des Privaten als eine unzivilisierte Verfallserscheinung der bürgerlichen Öffentlichkeit des 18. Jahrhunderts. Für ihn ist dagegen ausgerechnet das Tragen einer Maske – eigentlich das Sinnbild der repräsentativen und feudalen Öffentlichkeit 177 – der Garant einer zivilisierten, unverfälschten Kommunikation: »Es ist nicht leicht, heutzutage von Zivilisiertheit zu sprechen, ohne gleich als Snob oder Reaktionär verdächtigt zu werden. Für die Zwecke dieser Untersuchung definiere ich Zivilisiertheit folgendermaßen: Zivilisiertheit ist ein Verhalten, das die Menschen voreinander schützt und es ihnen zugleich ermöglicht, an der Gesellschaft anderer Gefallen zu finden. Eine Maske zu tragen gehört zum Wesen von Zivilisiertheit. Masken ermöglichen unverfälschte Geselligkeit, losgelöst von den ungleichen Lebensbedingungen und Gefühlslagen derer, die sie tragen. Zivilisiertheit zielt darauf, die anderen mit der Last des eigenen Selbst zu verschonen.«178

Als eine Bedingung der Möglichkeit für eine gesellige Öffentlichkeit ist die Zivilisation der Maskerade im 20. Jahrhundert laut Sennett an ihr Ende gekommen, abgelöst und zu Grabe getragen von einer Ideologie der Intimität, 177. Habermas kritisiert Sennett dafür, dass er seine Diagnose des Zerfalls der bürgerlichen Öffentlichkeit an einem falschen Modell orientiere. Seine Analyse trage Züge der repräsentativen Öffentlichkeit in die klassische bürgerliche hinein und verkenne damit die bürgerliche Dialektik von Innerlichkeit und Öffentlichkeit: »Weil er die beiden Typen von Öffentlichkeit nicht hinreichend unterscheidet, glaubt er, das diagnostizierte Ende der öffentlichen Kultur mit dem Formenverfall des ästhetischen Rollenspiels einer distanziert unpersönlichen und zeremonialisierten Selbstdarstellung belegen zu können. Der maskierte Auftritt, welcher private Gefühle, Subjektives überhaupt den Blicken entzieht, gehört aber zu dem hochstilisierten Rahmen einer repräsentativen Öffentlichkeit.« Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 17. Diese Einschätzung ist zwar zutreffend, muss aber dennoch verwundern, weil Habermas ja selbst die moderne Medienöffentlichkeit als »Refeudalisierung der Gesellschaft« beschrieben und damit die Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene wieder eingeführt hat. Vgl. ebd., S. 337f. 178. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1974). 14. Aufl ., Frankfurt a.M. 2004, S. 335. Dem Wandel von einer Kultur der Maskerade zur Transparenz des Subjekts entspricht ein Wandel in der Repräsentationsweise der Macht. Im souveränen Machtmodell galt alle Sichtbarkeit dem Souverän und seiner Repräsentation, während die Untertanen im Dunkeln blieben. Das Individuelle der Beherrschten war von keinem öffentlichen Interesse. Die moderne Disziplinarmacht dagegen interessiert sich vor allem für das Individuelle der von ihr verwalteten Subjekte, während sie selbst unsichtbar bleibt. Es wäre also falsch, die Entleerung der Öffentlichkeit und die Kultivierung der Intimität als Entpolitisierung zu beschreiben, denn ganz im Gegenteil ist sie das genuine Produkt politischer Machttechniken. Grundlegend zu dieser politischen Ökonomie der Sichtbarkeit ist die zeitgleich mit Sennetts Studie erschienene Abhandlung von Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), Frankfurt a.M. 1977, besonders S. 192-292.

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die kompensatorisch die angebliche Anonymität, Entfremdung und Kälte der modernen Gesellschaft bewältigen soll und damit gleichsam hinter dem Rücken der Bürger alle politischen Kategorien (Öffentlichkeit, Klasseninteresse oder Solidarität) in psychologische umgeschrieben hat. An die Stelle der Masken sind die Persönlichkeit und der möglichst unverstellte Ausdruck getreten. Konsequenterweise konstatiert diese Verfallsgeschichte eine Entleerung des öffentlichen Raumes und eine narzisstische Abkehr von gesellschaftlichen Problemen, insofern die Gefühle und Motivationen des Individuums (vor allem in der entleerten Medienöffentlichkeit) mehr Aufmerksamkeit generieren können als politisches Handeln und dessen Ergebnisse: »Heute kommt es nicht darauf an, was man tut, sondern wie man sich dabei fühlt.«179 Der Rückzug in die Gemeinschaft, das Lokale, Individuelle und Familiäre dominiert ein gesellschaftliches Leben, das zunehmend von der »Schreckenswelt der Massenmedien« beherrscht ist, denn der moderne Glaube an die Aufrichtigkeit der Intimität und an die Ideologie der totalen Kommunikation sind parallele Tendenzen, die sich dem Aufstieg der modernen Massenmedien verdanken und damit gleichzeitig die kritische Publizität der bürgerlichen Öffentlichkeit zu Fall gebracht haben.180 Die Massenmedien degradieren die ehemaligen Teilnehmer einer diskursiven Öffentlichkeit zu Zuschauern eines Spektakels, denn sie heben die Persönlichkeit der Politiker in das Rampenlicht, während sie gleichzeitig deren Arbeit verdunkeln. Die Vorderbühne wird zur Hinterbühne und die ehemalige Hinterbühne, von deren Ausleuchtung sich die Transparenztheoretiker mehr Demokratie und Glaubwürdigkeit versprechen, wird in der medienkritischen Theorie von Sennett zur eigentlichen (und einzig sichtbaren) Vorderbühne. Nicht die Taten und Ergebnisse, sondern das Privatleben, die Innerlichkeit und Skandale der politischen Elite stehen im Zentrum der Medienöffentlichkeit, die nicht mehr als kritische Publizität auftritt, sondern als Verstärker und Distributionsapparat eines säkularen Charismas: »In seiner jüngsten, fernsehförmigen Gestalt lenkt das Charisma die Masse der Menschen davon ab, sich überhaupt noch intensiv mit gesellschaftlichen Gegenständen zu befassen; der Golf spielende oder mit einfachen Leuten zu Tisch sitzende Präsident nimmt sie so gefangen, das sie sich um »Probleme« gar nicht mehr kümmern, bis sich diese Probleme so weit zugespitzt haben, dass sie sich einer rationalen Lösung entziehen.«181 179. »Der charismatische Führer von heute beseitigt jede Distanz zwischen seinen eigenen Empfindungen und Impulsen und denen seines Publikums, und indem er die Aufmerksamkeit seiner Anhänger auf seine Motivationen lenkt, lenkt er sie davon ab, ihn an seinen Taten zu messen.« R. Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, S. 334 und S. 337. 180. »Es ist ein Merkmal von Unzivilisiertheit, wenn eine Gesellschaft ihren Bürgern das Gefühl vermittelt, ein Politiker sei glaubwürdig, weil er seine eigenen Motivationen zu dramatisieren vermag. Dann wird Politik zur Verführung.« Ebd., S. 332-337, hier S. 337. 181. »Das moderne Charisma ist ein Mittel zur Abwehr einer nichtpersönlichen

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Die elektronischen Massenmedien stützen das säkulare Charisma und die Ideologie der Intimität. Sie tragen für Sennett zwar nicht die Hauptverantwortung für die Entdiskursivierung der Öffentlichkeit und den Entzug des Politischen aus dem Bewusstsein der Gesellschaft, sind aber zentrale Verstärker und das »Waffenarsenal« jenes kulturellen Wandels, der diese Entwicklung ausgelöst haben soll.182 Die Konzentration auf die Persönlichkeit des Politikers, seine Motivationen und Interessen, darf allerdings nicht mit der Intention einiger Redakteure und Programmverantwortlichen verwechselt werden. Es ist nicht so, dass es den Medien freistünde »ernsthafter«, »verantwortlicher« oder »adäquater« über den politischen Prozess zu berichten. Vielmehr sind es laut Sennett strukturelle Zwänge, die den Massenmedien die Konzentration auf die Persönlichkeiten der Öffentlichkeit und deren Innerlichkeit gebieten.183 Die Eigenlogik der Medien, die strukturelle Passivität der Zuschauer, verlangt nach Kürze, Einfachheit und »Menschlichkeit« (human factor) der dargestellten Ereignisse. Die Realität der Politik ist dagegen in einem doppelten Sinne langweilig. Ihre lange Dauer und abstrakten Prozesse lassen sich weder darstellen noch dramatisieren. Also müssen die Medien vereinfachen und Entscheidungen einer Person zuordnen, deren permanente Sichtbarkeit den fehlenden Nachrichtenwert ersetzt. In Deutschland werden diese kritischen Thesen zum Verhältnis von Medien und Politik am deutlichsten von Thomas Meyer vertreten und auf den Begriff Mediokratie gebracht: »Der Begriff Mediokratie reicht weiter als der der Mediendemokratie, denn er schließt die politisch-kulturelle Diagnose ein, dass auf den Bühnen und für die Bühnen der Massenmedien zunehmend nur noch das in Betracht kommt, was sich mit dem politischen und kulturellen Geschmack der nach unten offenen breitest möglichen Schnittmenge der Gesellschaft verträgt, der wiederum durch seine triumphierende mediale Spiegelung bestätigt, bestärkt und durch die nötige Erhöhung der Dosis enthemmt wird. […] Eine zunehmend nach unten entgleitende Mittelmäßigkeit, die allmählich zur von vielen gewollten Maßlosigkeit wird, beherrscht die Kommunikationsweise und ihre inhaltlichen Angebote.«184

Diese – trotz aller expliziten Ablehnung von Kulturkritik – deutlich medienkulturkritisch eingefärbte Darstellung (»nach unten offen«, »Dosis«, »Maßlosigkeit«) übernimmt und radikalisiert die Grundthesen von Sennett insofern, Beurteilung des Staates, die in die Forderung nach einem Wandel münden könnte. Dabei verbirgt sich die Macht hinter den Motivationen des politischen Führers. Auf diese Weise wird das Funktionieren des Staates gewährleistet. Der zentrale Augenblick der charismatischen Erfahrung ist der, in dem man seine Stimme einem ›attraktiven‹ Politiker gibt, auch wenn man seine Politik womöglich gar nicht schätzt.« Ebd., S. 349. 182. Ebd., S. 157-363. 183. Ebd., S. 360f. 184. Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonialisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt a.M. 2001, S. 11.

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als den Medien in diesem Modell die Hauptschuld an der (tendenziell negativ eingeschätzten) Transformation der bürgerlichen in eine massenmediale Öffentlichkeit zugeschrieben wird. Dieser Einfluss der Medien sei zwar kein Geheimnis, entziehe sich aber der allgemeinen Aufmerksamkeit, weil die Medien eine »Tiefenstruktur unserer Erfahrungen« mitgestalten, die unbewusst wirksam ist. Meyers Hauptthese konfrontiert daher die Logik der Politik mit der Logik der Medien in einer agonalen Weise: »Die Logik des Politischen in der Politik selbst wird mithin in all ihren Dimensionen überlagert und durch neue, medien- und inszenierungsbezogene Faktoren ergänzt, überformt und relativiert, aber nicht annulliert.«185 Meyer spricht daher von einer Kolonialisierung der Politik durch das Mediensystem, die sich dadurch auszeichne, dass die den Medien eigentümlichen Programme und Codes auf das politische System übergreifen und dessen Programme und Codes überformen.186 Die sich daraus ableitende politische Form der Mediokratie im Unterschied zur klassischen Parteiendemokratie ist durch drei wesentliche Entwicklungen bestimmt: Erstens fehlt den politischen Inszenierungen oft eine erkennbare Policy-Dimension, d.h. politisch definierte Probleme werden nicht mehr durch entsprechende Handlungsprogramme und überprüf bare Lösungswege bearbeitet, sondern in Symbolpolitik aufgelöst. In inszenierten Bildern und Ritualen entsteht der Eindruck eines politischen Handelns, das auf der Ebene des instrumentellen Handelns nicht eingelöst wird. Zweitens führt die Kolonialisierung der Politik durch das Mediensystem zur Entmachtung der politischen Parteien. Als diskursive Akteure, die die Interessen unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen bündeln, formen und artikulieren sollen, werden die Parteien durch die Massenmedien ersetzt und aus dem Zentrum der Politik an die unsichtbaren Ränder abgeschoben. Umgekehrt erhalten die charismatischen Spitzenpolitiker durch die Medien einen großen Einfluss und sind dadurch nur noch lose an die Beschlüsse und Richtlinien ihrer Parteien gebunden. Der Unterschied zwischen der politischen Prozesszeit (lange Dauer, bindende Entscheidungen) und der medialen Produktionszeit (kurze Dauer, Selbstverwaltung) führt zwangsläufig zu einer Entwertung aller intermediären Instanzen jenseits der Massenmedien. Drittens kommt es zu einer Spaltung der Politik in eine Herstellungs- und in eine Darstellungsseite, die jene arkanpolitische Unterteilung in Vorderbühne (Darstellung, Symbolpolitik) und Hinterbühne (Herstellung, Realpolitik) eher zementiert anstatt sie aufzuheben: »Der politische Prozess in seinem Eigensinn, und zwar mit all den Akteuren, Interessen, Legitimationen und Alternativen, dem Einsatz von Macht und Einfluss, seinem Personal und seinen Begrenzungen, der ja auch in der Mediendemokratie die 185. Thomas Meyer: Was ist Politik? 2., überarbeitete und erweiterte Aufl ., Opladen 2003, S. 237. 186. Th. Meyer: Mediokratie, S. 89-95. Grundlegend – aber darin völlig konträr zu einer systemtheoretischen Betrachtung – zur These der »Kolonialisierung« eines Funktionsbereichs der Gesellschaft durch einen anderen ist Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 278ff.

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Herstellungsseite politischer Entscheidungen kennzeichnet, wird unter dem Einfluss des medialen Inszenierungsdrucks auf die Politik ins Unsichtbare abgedrängt – so wie ehedem im Zeitalter vor der Aufklärung die Kabinettspolitik im Wesentlichen Arkanpolitik war, deren Teilnehmer, Interessen, Gesichtspunkte, Zwänge und Abläufe sich auch dem interessierten Teil des Publikums entzogen, weil diese ihn nach dem Willen der Herrschenden im Prinzip nichts anzugehen hatten.«187

Ganz gleich, ob man diesen Zustand des politischen Systems als Mediokratie oder als Postdemokratie bezeichnet, kennzeichnend bleibt die strikte Unterteilung des Politischen in eine Vorder- und Hinterbühne, die der Unterscheidung zwischen einer idealistisch-symbolischen POLITIK und einer machiavellistisch-realistischen Politik entspricht, wie sie der Politikwissenschaftler Wolfgang Fach in seiner Studie über das Verschwinden der Politik eingeführt hat.188 Solche Argumente, die davon ausgehen, das eine bloß symbolische Politik die eigentliche Realpolitik (der Macht- und Wirtschaftsinteressen) bewusst oder unbewusst verschleiert und zum Verschwinden bringt, haben gegenwärtig Konjunktur, wiederholen aber immer wieder die alte Unterscheidung: »Der Begriff [Postdemokratie] bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«189

187. Th. Meyer: Mediokratie, S. 87. 188. »Politik ist in erster Linie ein besonderer Raum, jenes ganz andere, das

sich der gewöhnlichen Geschäftigkeit, Einsicht und Kompetenz entzieht, gleichwohl aber alle angeht. Dieses Heterogene (Bataille) erscheint uns einerseits als höhere Kunst oder überlegene Wissenschaft, sterblichen Göttern vorbehalten; andererseits hat es den Ruf weg, charakterlose Gesellen anzuziehen, die im Gegensatz zu anständigen Zeitgenossen über Leichen gehen; das eine (POLITIK) verhimmeln, das andere (Politik) verachten wir – und lassen es immer wieder im Vergessen oder Verdrängen verschwinden, entgeistert vom blendenden, ja magischen Effekt seines dem Alltag entrückten Pendants. […] Leben wir also in einer Art Doppelstaat (Ernst Fraenkel), in dem die POLITIK ihre hässliche Schwester aufs Ganze gesehen verdeckt und im entscheidenden Moment, der Wahl, sogar verschwinden lässt?« Wolfgang Fach: Das Verschwinden der Politik, Frankfurt a.M. 2008, S. 7-12. 189. Colin Crouch: Postdemokratie (2003), Frankfurt a.M. 2008, S. 10.

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Die vorgetragenen Argumente sind in Wahrheit kulturkritische Gemeinplätze (Topoi) und haben als solche eine lange Vorgeschichte, die mindestens auf Rousseau zurückgeht. Die soziologischen und politikwissenschaftlichen Aktualisierungen von Crouch, Meyer, Flach und anderen ›Experten‹ argumentieren dabei strikt innerhalb jener Vorgaben, die Ulrich Sarcinelli, Murray Edelman und Erving Goffmann in ihren klassischen Studien zur Ritualisierung und Symbolisierung der Politik entwickelt haben. 190 Edelman und Sarcinelli gehen z.B. beide davon aus, dass die Entscheidungspolitik sich auf einer den Blicken des Publikums entzogenen Hinterbühne abspiele, während die Politikerschauspieler auf der Vorderbühne ein Spektakel der symbolischen Pseudo-Politik zur Schau stellen – entweder mit der Absicht zur Verschleierung ihrer eigentlichen Interessen (Edelman) oder als unvermeidbare Folge aus den strukturellen Vorgaben der Massenmedien selbst (Sarcinelli). Hinter den »Sichtblenden der Medienöffentlichkeit« verschwindet demnach alles, was sich den medialen Inszenierungsformen nicht eingliedern lässt. In der Mediokratie diktiert die Einschaltquote als letzter Grund für alle Entscheidungen des Mediensystems indirekt auch dem politischen System die Zugangsbedingungen zur Öffentlichkeit. Unabhängig von den unterschiedlichen Formaten und Genres, so lautet ja auch eine starke Hypothese der Massenmedienforschung, lässt sich eine kleine Anzahl von zentralen Filterfunktionen und Selektionsregeln bestimmen, die den Zugang und die Verarbeitung von Informationen im Mediensystem steuern.191 Die wichtigsten Faktoren dieser Selektionslogik sind der Nachrichtenwert, die Ereignishaftigkeit, die Personalisierung und vor allem die Dramatisierungsfähigkeit von Themen und politischen Sachverhalten: »Empirische Analysen zeigen, dass die Präsentationsregeln [der Massenmedien] im Wesentlichen dieselben sind, mit denen das Theater als kulturelles Modell seine Wirkung erzielt, ohne sich allerdings im Fall der medialen Inszenierung als solche zu erkennen zu geben.«192

190. Ulrich Sarcinelli: Symbolische Politik. Zur Bedeutung symbolischer Politik in der Wahlkampfkommunikation der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1987; E. Goffmann: Wir alle spielen Theater; Murray Edelman: Politik als Ritual. Die symbolische Funktion staatlicher Institutionen und politischen Handelns (1964). 3., erweiterte Aufl ., Frankfurt a.M., New York 2005. 191. Die Selektion der Nachrichten erfolgt also nach klar bestimmbaren Attraktoren: die Information muss neu, aktuell und als Konflikt dramatisierbar sein. Normverstöße und Skandale, die moralisch bewertet werden können, werden von den Medien bevorzugt. Die Kommunikations- und Prozesslogik der Politik wird zugunsten von konkreten Handlungen und Taten vernachlässigt. Reproduziert wird somit ein ausgeprägtes Interesse an Personen, denen jene Handlungen zugeschrieben werden können, die unter Umständen aus einer bloßen Person eine interessante »Persönlichkeit« machen. Ausführlich zu dieser Logik der Medienselektion ist Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien. 2., erweiterte Aufl ., Opladen 1996, S. 53-81. 192. Th. Meyer: Mediokratie, S. 49.

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Mit anderen Worten: solange man die Medien als reine Vermittlungsinstanzen begreift, bleibt das Theatermodell latent, weil die elektronischen Medien der Politik ein Modell aufzwingen, das nicht mehr das klassische Modell des Theaters ist, aber dennoch der Theatralität des Politischen eine neue Dimension verleiht.

2.3.3 D IE THE AT R AL I TÄT DE S P OL I T I SCHEN (E LLR ICH , M ENKE , T ÄNZLER ) Im Unterschied zum Mainstream der sozial- und politikwissenschaftlichen Theorien, die jene strikte Trennung von Vorderbühne und Hinterbühne fortschreiben,193 bieten kulturwissenschaftliche Theorien eine Alternative, weil sie nicht mehr von Verschleierung oder Verzerrung sprechen, sondern von der Sichtbarkeit des Theatermodells ausgehen und damit eine mögliche Vermittlung zwischen den Theorien der Transparenz und den Theorien der Latenz anbieten. Denn sowohl die Transparenztheorie der Medien als auch die Medienkulturkritik sind in ihren Ergebnissen einseitig orientiert und tendieren zu monokausalen Erklärungsmodellen. Es kommt entsprechend zu einer Überschätzung der Transparenz und zu einer Unterschätzung der medialen Möglichkeiten, Politik differenziert darzustellen. Eine rein verborgene Macht kann als solche gar nicht mehr identifiziert werden; sie mag zwar Effekte auslösen, die als Machteffekte aber wirkungslos bleiben müssen. Umgekehrt ist jede Macht, die einer totalen Sichtbarkeit unterliegt, so machtlos wie der nackte Kaiser in Andersens berühmten Märchen.194 Die in der Politik- und Sozialwissenschaft übliche Unterscheidung zwischen einer symbolischen Politik der Vorderbühne und einem dahinter verborgenen Entscheidungshandeln ist nur der unoriginelle Sonderfall innerhalb einer allgemeinen Symbolisierung und Theatralität des Politischen: »Das Politische wird nicht erst durch eine nachträgliche Symbolisierung und Ritualisierung willentlich im Interesse dunkler Mächte (Edelman) oder durch die mediale Politikvermittlung technisch bedingt (Sarcinelli) manipuliert oder verschleiert. Symbolische Politik im Sinne von Pseudo-Politik ist nur ein Spezialfall eines basaleren Aspekts politischen Handelns, das in jeder Situation instrumentelle und expressive Anteile hat – auch das so genannte Entscheidungshandeln vollzieht sich in dieser Hinsicht symbolisch. Als Streben nach Macht und eines der Legitimation 193. »Dabei haben Medieninszenierungen in einem dem Theater weit überlegenen Maße die Möglichkeit, sich selbst zu dissimulieren. Je besser es gelingt, vom Medium abzulenken, die Bühne unsichtbar zu machen, die Prä-Inszenierung zu verleugnen, umso vollkommener die Inszenierung als scheinbare Realität.« Thomas Meyer/Rüdiger Ontrup: »Das Theater des Politischen. Politik und Politikvermittlung im Fernsehzeitalter«, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen, Wiesbaden 1998, S. 527. 194. Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Ethel Matala de Mazza/Andreas Kraß: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2002.

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bedürftigen Stellvertretungshandelns muss Politik dargestellt werden, ist sie per se symbolisch.«195

Die Unterscheidung zwischen einer Vorder- und einer Hinterbühne der Macht ist im Kontext medienkulturwissenschaftlicher Forschung fragwürdig geworden, da jede Politikvermittlung symbolisch genannt werden muss, insofern sie auf die Strukturbedingungen technischer oder symbolischer Medien angewiesen ist. Machtpolitik, wenn sie nicht kommuniziert und dargestellt werden kann, ist weder mächtig noch politisch. Und wenn sie dennoch Effekte auslösen sollte, können diese Effekte nicht als Wirkung jener Politik erkannt werden.196 Unter den Bedingungen einer Mediendemokratie kann auch nicht mehr davon ausgegangen werden, dass es den »kritischen Medien« noch gelingen könnte, »hinter« die Bühne zu blicken,197 denn die Hinterbühne ist das Produkt einer rhetorischen Unterstellung, die dem politischen Handeln unterlegt wird. Die Vorstellung einer Hinterbühne, deren Realität weder empirisch greif bar ist, noch als theoretisch notwendige Konstruktion zu überzeugen vermag, ist keine Tatsache, sondern beruht auf einer Ökonomie des Verdachts. Auch wenn nach Boris Groys ein solcher submedialer Raum angeblich notwendig unterstellt werden muss, lässt sich lediglich beobachten, dass Politik und Medien einer wechselseitigen Beeinflussung unterliegen (eventuell auch einer wechselseitigen Instrumentalisierung 198) und daher eher von einer strukturellen Kopplung und nicht von einer Kolonialisierung der Systeme gesprochen werden sollte. Die sichtbare Theatralität der Politik zeigt sich aber nicht nur in der fragwürdigen Unterscheidung zwischen Vorder- und Hinterbühne, sondern auch in anderen Begriffen, die in den Debatten zum Verhältnis von Politik und Medien gebraucht werden: Maske, Rolle, Schauspieler, Performanz und Inszenierung – diese Unterbegriffe sind als Momente des kulturwissenschaftlichen Konzepts der Theatralität allgegenwärtig in der Rede über symbolische Politik und prägen in der Alltagskommunikation die Vorstellungen davon, wie politisches Handeln zu begreifen ist. Indem das Modell des Theaters – die »bedeutendste Metapher in der Soziologie«199 – handlungs- und kommunika195. Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler: »Figurative Politik. Prolegomena zu einer Kultursoziologie politischen Handelns«, in: Hans-Georg Soeffner/Dirk Tänzler (Hg.), Figurative Politik. Zur Performanz der Macht in der modernen Gesellschaft, Opladen 2002, S. 17-33. 196. Eine in diesem Sinne differenzierte Analyse der Unterscheidung zwischen Macht und Gewalt bietet Niklas Luhmann: Macht. 2., durchgesehene Aufl ., Stuttgart 1988. 197. So lautet der dann doch etwas naiv wirkende Vorschlag von Th. Meyer: Was ist Politik, S. 238. 198. Kurt Imhof: »Politik im ›neuen‹ Strukturwandel der Öffentlichkeit«, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen. Sonderband 14 (2003) der Zeitschrift Soziale Welt, S. 411f. 199. »Und letzten Endes spielt das Theater die Rolle der bedeutendsten Metapher in der Soziologie. Deshalb sind alltägliches Leben, Literatur, Philosophie

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tionstheoretische Ansätze integriert, kann es zwischen Rollen- und Systemtheorie vermitteln. Zu den methodischen Implikationen des Ansatzes zählt explizit »die Anweisung, ein handlungstheoretisches Verfahren zu wählen, das Interaktionen von Personen im Hinblick auf Motive, Erwartungen, Wünsche, Emotionen etc. betrachtet und gegenläufige oder so genannte emergente Effekte intentionalen Handelns aus Akteurskonstellationen ableitet und nicht als vorgängige anonyme System- oder Struktureigenschaften verbucht«.200 Die Akteure wiederum sind nur in Relation zu einem Publikum handlungsmächtig, das die Darstellung begutachtet und dadurch die Legitimation der Handlungsmacht stiften, aber auch entziehen kann. In dieser Abhängigkeit der Herrschenden von den Beherrschten, die nicht nur Untertanen, sondern immer auch Publikum sind, ist die entscheidende Fragestellung des Konzepts der Theatralität enthalten. Erst in der grundsätzlichen Frage, ob die medialen Repräsentationen von Politik eher einen auratisierenden oder einen depotenzierenden Effekt haben, zeigt sich das Politische im Theater der Politik. Denn jede Form von neuzeitlicher Souveränität, die theatralische Effekte zur Repräsentation, Auratisierung oder Verschleierung der eigenen Herrschaft einsetzen muss, ist gleichzeitig nicht nur dem Verdacht ausgesetzt, bloßes Theater zu sein, sondern deckt auch die untrennbare Verbindung zwischen dem Konzept der Theatralität und der Demokratie auf. Die Verbindung von Demokratie und Theater ist aber keine Erfindung der zeitgenössischen Kulturwissenschaft oder der Medienkulturkritik, sondern ein alter Topos, der seit Platon die politische Philosophie begleitet. In der Politeia (492b-493d) und den Nomoi (701a) konfrontiert Platon die Herrschaft der Besten (aristokratia) mit der Massenherrschaft des Publikums (theatrokratia). Denn die Demokratie sei eigentlich eine Theatrokratie und führe, so Platon, zu einer Theatralisierung der Politik und habe damit zum Niedergang Athens beigetragen. Das (aktive) Bürgertum verhalte sich als (passives) Publikum und beurteile politische Streitfragen wie ein Theaterstück, d.h. nach »dem politischen und kulturellen Geschmack der nach unten offenen breitest möglichen Schnittmenge der Gesellschaft, der wiederum durch seine triumphierende mediale Spiegelung bestätigt, bestärkt und durch die nötige Erhöhung der Dosis enthemmt wird«201 – so lautet die moderne Beschreibung von Thomas Meyer, der nur den antiken Topos wiederholt:

und Soziologie durch die unsichtbaren Fäden eines Marionettentheaters verbunden.« José M. González García: »Zwischen Literatur, Philosophie und Soziologie. Die Metapher des Theatrum mundi«, in: Christiane Schildknecht/Dieter Teichert (Hg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt a.M. 1996, S. 87. 200. Lutz Ellrich: »Theatralität und Souveränität. Ein diskursanalytischer Beitrag zur thematischen Ausrichtung von Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft«, in: Matthias Karmasin/Carsten Winter (Hg.), Kulturwissenschaft als Kommunikationswissenschaft. Projekte, Probleme und Perspektiven, Wiesbaden 2003, S. 273-311, hier S. 277f. 201. Th. Meyer: Mediokratie, S. 11.

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»Sokrates: Wenn sie in dichter Masse beisammensitzen in Volksversammlungen oder Gerichtshöfen oder Theatern oder im Kriegslager oder bei sonstigen öffentlichen Ansammlungen einer großen Menge und mit viel Lärm je nachdem ihren Tadel oder ihr Lob über Reden oder Taten kundgeben, beides in ganz übertriebener Weise mit Schreien und Klatschen, und wenn sich ihnen selbst noch die Felsen und die ganze Örtlichkeit, wo sie tagen, mit ihrem Widerhall zugesellen, so dass der Lärm für Tadel und Lob auf das Doppelte verstärkt wird. Was glaubst du wohl, wie es in solcher Umgebung dem jungen Mann ums Herz sein wird, wie man zu sagen pflegt? Oder welche Bildung, im Einzelunterricht empfangen, könnte ihm ein hinreichendes Gegengewicht bieten? Wird sie nicht von solchem Tadel oder Lob fortgeschwemmt und von der Strömung mitgerissen, wohin sie sie trägt? Und wird er sich nicht zu den gleichen Anschauungen über schön und hässlich bekennen wie sie, sich dasselbe Ziel setzen wie sie und einer von ihrer Art werden?«202

Mit dem Topos der Theatrokratie hat sich eine medienkritische Reflexion demokratischer Politik entwickelt, der seine Attraktivität bis heute offensichtlich nicht verloren hat. Wenn selbst noch die Felsen und die ganze Örtlichkeit, d.i. die mediale Bühne der Politik, mit ihrem Widerhall den politischen Diskurs so stark beeinflussen, dass der Lärm für Tadel und Lob auf das Doppelte verstärkt wird, dann müssen politische Entscheidungen populäre Entscheidungen sein, und jeder, der sich mit politischer Bildung dagegen wehren möchte, wird unweigerlich von der Medienflut mitgerissen. Man kann, wie viele Demokratietheorien im 20. Jahrhundert, den Topos auch umkehren und eine eigentliche Basisdemokratie dem Theater entgegensetzen.203 Die Theatralisierung und das mediale Spektakel erscheinen dann nicht mehr als genuine Verkörperungen der Demokratie, sondern als deren repräsentative Verfallsform. In der Inversion des Topos widerspricht die Trennung der Bürger in passive Zuschauer (Wähler) und professionelle Schauspieler (Politiker) der Idee einer Gemeinschaft der Gleichen, die mit rationalen Argumenten mehrheitlich über das Gemeinwohl entscheiden soll. Aber auch diese Variante ist 202. Platon: Der Staat. Über das Gerechte. Übersetzt und erläutert von Otto Apelt. 11., erneut durchgesehene Aufl., Hamburg 1989, S. 492 b-c. Ausführlich zum Konzept der Theatrokratie ist Dirk Tänzler: Theatrokratie. Zur Kritik der politischen Ästhetik, Habil. Universität Konstanz 2005. 203. Der klassische Autor für diese Umkehrung des Topos, der die Demokratie gegen das Theater verteidigt, ist Jean-Jacques Rousseau: »Brief an Herrn d‹ Alembert. Über seinen Artikel ›Genf‹ im VII. Band der Enzyklopädie und insbesondere über den Plan, ein Schauspielhaus in dieser Stadt zu errichten«, in: Ders.: Schriften. Bd. 1. Nach alten Übersetzungen bearbeitet und herausgegeben von Henning Ritter. 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1988, S. 333-474. Im Unterschied zu Platon betont Rousseau vor allem den (schädlichen) Aspekt der Gewöhnung der Bürger an Verhaltenslehren der Entfremdung und Verstellung durch das Theater. Die Argumente von Rousseau dominieren bis heute die Debatten über die Gefährdung der Politik durch die Medien. Siehe Richard Sennett: »Rousseaus Anklage gegen die Stadt als Theater«, in: Ders.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1974). 14. Aufl ., Frankfurt a.M. 2004, S. 152-161.

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in dem antiken Vorbild bereits angelegt und brauchte nur noch aktualisiert zu werden. Christoph Menke hat diesen Topos aufgegriffen und dessen Anwendung auf moderne politische Verhältnisse korrigiert. Die Demokratie, so Menke, ist immer theatralisch, denn sobald jemand in einer politischen Versammlung zu reden beginnt, übernimmt er die Rolle des Redners und tritt aus der Versammlung heraus. Er wird zum Darsteller und alle anderen zum Publikum, d.h. die demokratische Versammlung wird in der Logik ihres Vollzugs automatisch theatralisch.204 Auch historisch sind Theater und Demokratie eng verbunden, was nicht nur Platons Ausführungen zur Theatrokratie deutlich machen, sondern auch die Geschichte des neuzeitlichen Theaters. Die Demokratie entsteht aus einer Infragestellung der absoluten Souveränität der Monarchie, die in der Französischen Revolution kulminiert, aber bereits einen langen Vorlauf im bürgerlichen Theater (seit Shakespeare) und der städtischen Oper (seit Monteverdi) des 17. Jahrhunderts hatte, wie Menke überzeugend verdeutlicht. Durch die bürgerliche Inszenierung der Monarchie auf einer Bühne wird deren Repräsentation neu dargestellt und beurteilt. Erst indem die theatralische Inszenierung des Souveräns verdeutlicht, dass dessen Macht immer auf Repräsentation angewiesen ist, kann der kritische Gedanke entstehen, dass diese Macht eventuell gar nicht transzendent legitimiert ist, sondern einzig und allein auf Repräsentation als solcher beruht. Das aber würde heißen, eine demokratische Form der Legitimation als Grundlegung (oder Aushöhlung) der Monarchie zu akzeptieren. Der Souverän, der den Souverän spielen muss, wird unweigerlich zum Darsteller und seine Untertanen zu einem Publikum, das dessen Schauspielkunst gelangweilt oder begeistert, affirmativ oder kritisch, anerkennend oder ablehnend beurteilt: »Der Souverän, der sich vor dem Publikum dazu erst machen muss, hat damit – ob er es weiß oder nicht – schon anerkannt, dass er seine Macht der Anerkennung durch ein Publikum verdankt, das eben dadurch, durch seine Macht der An- oder Aberkennung von Macht, zum eigentlichen Machthaber geworden ist. Damit hat die Souveränität die Seite gewechselt; sie ist von der Bühne dorthin zurückgekehrt, wo sie vorher schon einmal war: in den Zuschauerraum. Nur dass dort jetzt nicht mehr, wie in den Tänzen und Spielen der Höfe, am ausgezeichneten Platz der eine, privilegierte Zuschauer, sondern alle sitzen (das heißt natürlich: alle Bürger, die den Eintritt bezahlen können). Das ist die Demokratisierung der Souveränität, die im oder durch das Theater geschieht.«205

Im Theater kommt es also zu einer Depotenzierung der absoluten Souveränität, ganz einfach weil die theatralische Bühnensituation immer schon eine Trennung in Darsteller und Publikum impliziert, die eine geteilte Macht zur 204. Christoph Menke: »Die Depotenzierung des Souveräns im Gesang. Claudio Monteverdis Die Krönung der Poppea und die Demokratie«, in: Eva Horn/Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.), Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München 2006, S. 281-296, hier S. 293. 205. Ch. Menke: Die Depotenzierung des Souveräns im Gesang, S. 291.

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Bedingung der Möglichkeit ihrer Legitimation macht. Die demokratische Beobachtung der Repräsentation besteht in der Einsicht, dass die Macht der Repräsentation von keiner politischen Macht vollständig kontrolliert werden kann.206 Die Kritik am Theater der Politik geht also an ihrem Gegenstand vorbei, insofern demokratische Politik gar nicht anders als theatralisch handeln kann. Die Medienkulturkritik des Theaters der Politik sollte also durch eine Kritik der Politik durch das Theater ersetzt werden, so lautet das Fazit von Christoph Menke, damit der Antagonismus zwischen einer medialen Latenz und einer medialen Transparenz des Politischen aufgehoben werden kann: »Die Kritik der Politik durch das Theater ist daher nicht eine Bewertung von Zielen und Absichten, erst recht nicht ein Aufspüren verborgener Motive und Antriebe, sondern eine Analyse der Formen und Stile, in denen politische Repräsentation inszeniert wird. Die Kritik der Politik durch das Theater legt dadurch offen, was latent bleiben muss, um wirken zu können. Sie ersetzt Latenz durch Transparenz. Wie jedoch diese Transparenz selber wirkt; welche Wirkungen es also hat, dass die latenten Formen, Stile und Strategien politischer Inszenierung sichtbar werden, bleibt der Kontrolle entzogen; die politische Wirkung einer kritischen Analyse der latenten Inszenierungsweisen politischer Macht ist ihrerseits latent.«207

Welche Effekte eine solche Dialektik der Latenz haben wird, kann nicht a priori, sondern nur empirisch von Fall zu Fall entschieden werden. Sicher ist nur, dass weder die auratischen (Pomp und Pathos) noch die depotenzierenden Effekte (Desillusion und Kritik) der theatralischen Repräsentation von Macht auf Dauer gestellt werden können, sondern immer gefährdet sind, in ihr Gegenteil umzuschlagen. Denn Kritik und Affirmation können gleichermaßen unterhaltend sein, auf dem Theater müssen sie es sogar, um zu gefallen. Die einfache Gegenüberstellung zwischen Transparenz und Latenz ist jedenfalls insofern hinfällig, als die Legitimation von Souveränität oder auch eine so genannte Entscheidungspolitik nicht darauf angewiesen ist, ihre medialen und rhetorischen Verfahren latent zu halten, damit sie wirken können, wie Lutz Ellrich festgestellt hat: »Der Glanz der Vorführung muss keineswegs per se als Abglanz einer transzendenten Realität erscheinen. Die Inszenierung kann auch als Inszenierung überwältigen. Gerade moderne Formen der Repräsentation von Souveränität machen sich diese Möglichkeit zu Nutze. […] Das mediale Arrangement wirkt durch seine immanente Realität, die den Betrachtern den Eindruck vermittelt, dass die Souveränität ganz und gar für das Publikum durchsichtig wird, sobald sie die Art und Weise ihres ›Ge206. Zu diesem Perspektivwechsel, von einer Repräsentation der Macht zur Macht der Repräsentation, der auf eine Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Politik und Ästhetik um 1800 zurückgeführt werden kann, siehe Harun Maye: »Volk ohne Oberhaupt. Regierungskünste des Lesens um 1800«, in: Friedrich Balke/Harun Maye/Leander Scholz (Hg.), Ästhetische Regime um 1800, München 2009, S. 101118. 207. Ch. Menke: Die Depotenzierung des Souveräns im Gesang, S. 291.

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machtseins‹ bereitwillig und über jeden Manipulationsverdacht sich erhaben zeigend vor Augen führt. Der Transparenzeffekt löst unter diesen Bedingungen medialer Selbstpräsentation den Anschein einer transzendenten Deckung ab.«208

Die politische Form der modernen Demokratie ist also sowohl durch mediale Transparenz als auch weiterhin durch mediale Latenz geprägt. Drei mögliche Ausprägungen bleiben dabei weiterhin aktuell. Erstens wird die mediale Repräsentation von demokratischer Souveränität zwar offen präsentiert, gleichzeitig kann aber auch ein aufgeklärter Beobachter den Verdacht nicht entkräften, dass die entscheidenden Machtmechanismen und die relevanten Eliten in einem submedialen Raum den Blicken der Medien und der Bürger entzogen bleiben. Zweitens ist die politische Wirkung einer kritischen Analyse der latenten Inszenierungsweisen politischer Macht ihrerseits latent, wie Christoph Menke nachdrücklich betont hat. Mediale Latenz wäre demnach als eine durch Transparenz erzeugte Intransparenz zu verstehen.209 Man kann ganz einfach nicht beobachten, was geschieht, wenn sich die ästhetische Inszenierung von Macht als eine ästhetische Inszenierung zu erkennen gibt. Drittens haben die historischen Studien von Michel Foucault gezeigt, dass es seit dem Beginn der modernen Disziplinargesellschaft eine Verschiebung innerhalb der politischen Machtverhältnisse gegeben hat, die sich von einer absoluten Sichtbarkeit (Ancien Régime) zur Unsichtbarkeit der Macht (Moderne) gewandelt haben.210 Das mediale Spektakel der Gegenwart, dem die Bevölkerung und ihre Repräsentanten gleichermaßen ausgesetzt sind, wäre demnach nur die scheinbar unpolitische Vorderseite einer Machttechnik, deren Lichtkegel auf die Sagbarkeit und Sichtbarmachung ihrer Untertanen ausgerichtet ist und dabei gelernt hat, auf jedes Detail zu achten.

208. L. Ellrich: Theatralität und Souveränität, S. 299f. 209. Zu dieser Dialektik zwischen Transparenz und Intransparenz siehe auch die

grundsätzlichen Überlegungen von Matthias Haase/Dirk Setton: »Transparenz/Intransparenz. Zur Ontologie kulturellen Seins«, in: Stefanie Diekmann/Thomas Khurana (Hg.), Latenz. 40 Annährungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 207-217. 210. »Die Disziplinen sind eine Physik der Macht, so Foucault, die über eine Umkehrung der Sichtbarkeit funktionieren: Ist die souveräne Macht jene Macht, die sich zeigt, sich manifestiert und das Prinzip ihrer Kraft in der Bewegung ihrer spektakulären Entfaltung findet, ist im Gegenteil die disziplinäre Macht jene, die sich unsichtbar macht, um sich zu entfalten, und zugleich denen, über die sie sich ausübt, absolute Sichtbarkeit auferlegt. Diese disziplinären Techniken funktionieren aufgrund ihrer Latenz, die es ihnen erlaubt, in die Dinge und Menschen einzudringen, sie im Detail, d.h. in ihrer Individualität zu erkennen und sie so besser zu beherrschen«, so lautet die präzise Zusammenfassung dieser These durch Maria Muhle: »Bio-Politik. Zur Latenz von Leben und Politik«, in: Stefanie Diekmann/Thomas Khurana (Hg.), Latenz. 40 Annährungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 41-46, hier S. 42.

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2.3.4 Ö F F ENTL ICHE M E INUNG UND G EHE IMNI S (K ANT, K OSELLECK , L UHMANN ) Auch in der soziologischen Systemtheorie, die auf eine Beobachtung zweiter Ordnung abgestellt ist, wird der Zusammenhang von Transparenz und Latenz, von Authentizitätsanspruch und Manipulationsverdacht in Theorie und Praxis moderner Massenmedien ausdrücklich betont: »Das, was als Resultat der Dauerwirksamkeit von Massenmedien entsteht, die ›öffentliche Meinung‹, genügt sich selbst. Es hat deshalb wenig Sinn, zu fragen, ob und wie die Massenmedien eine vorhandene Realität verzerrt wiedergeben; sie erzeugen eine Beschreibung der Realität, eine Weltkonstruktion, und das ist die Realität, an der die Gesellschaft sich orientiert.«211

Ein Medienbegriff, der seinen Gegenstand nicht mehr als Container (räumlich) oder Kanal (zeitlich) beschreibt, sondern als einen beobachtungstheoretischen Begriff entwirft, stellt die Frage nach einer etwaigen Manipulation demnach anders als eine kritische Theorie der Medien: »Manipulation« ist hier die notwendige Voraussetzung (Formbildung) dafür, dass überhaupt etwas zu sehen ist. Manipulation ist so gesehen kein negativ konnotierter Begriff, sondern eine notwendige Kulturtechnik der Massenmedien. Denn gerade die öffentliche Meinung, so gibt Niklas Luhmann an anderer Stelle zu bedenken, ist seit ihrer Inthronisation in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine »unsichtbare Gewalt«, in der die Differenzbegriffe »manifest und latent zusammenfallen – und nur dass dies geschieht, bleibt latent«212, wie im Folgenden kurz angedeutet werden soll. Ohne Geheimnis und Latenz gibt es keine Öffentlichkeit und keine Demokratie. Diese These lässt sich historisch auch aus der Beobachtung gewinnen, dass die transzendente Legitimation des sichtbaren Souveräns am Ende des Barockzeitalters in die Krise gerät und um 1800 von einer Dialektik der Transparenz abgelöst wird. Die »Öffentlichkeit«, so Klaus Merten und Joachim Westerbarkey, verliert »als wechselseitig unterstellbare Wahrnehmbarkeit füreinander […] in der Industriegesellschaft an Stellenwert«213. Gemeint ist damit 211. N. Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1102. Bereits 1970 hatte Hans Magnus Enzensberger auf die geringe analytische Reichweite der Manipulationsthese aufmerksam gemacht: »Der liberale Köhlerglaube, als gäbe es in politischen und gesellschaftlichen Fragen eine reine, unmanipulierte Wahrheit, scheint sich bei der sozialistischen Linken einer merkwürdigen Geltung zu erfreuen: er ist die unausgesprochene Grundvoraussetzung der These von der Manipulation. […] Die elektronischen Medien räumen mit jeder Reinheit auf, sie sind prinzipiell ›schmutzig‹. Das gehört zu ihrer Produktivkraft.« Hans Magnus Enzensberger: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Kursbuch 20 (1979), S. 159-186, hier S. 163f. 212. Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1996, S. 466f. 213. Klaus Merten/Joachim Westerbarkey: »Public Opinion und Public Relations«, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.), Die

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eine ursprünglich überschaubare Öffentlichkeit, die auf Face-to-Face-Kommunikation und damit auf der Präsenz der Beteiligten basiert und letztlich vom Mythos der antiken Öffentlichkeit auf der agorá zehrt. Während diese Öffentlichkeit des personalen Meinungsaustauschs seit dem 18. Jahrhundert zunehmend wegbricht, übernehmen zunächst die Printmedien – Zeitschriften und Zeitungen – mit veröffentlichten Meinungen diese Rolle und simulieren die vergangene Öffentlichkeit der Präsenz. Literarische und künstlerisch ausgerichtete Zeitschriften werden dabei zunehmend von Zeitschriften mit populären und politischen Inhalten ergänzt. Publizisten, Leser und Akteure dieser neuen kritischen Vernunft sind zunächst die Salons, Tisch- und Lesegesellschaften sowie Logen und Geheimbünde, wie die Freimaurer oder Bayerischen Illuminaten: »Während sich in England die öffentliche Meinung bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert durch die Presse etabliert hat und als Supplement zum Parlament funktioniert, übernehmen in Deutschland die Logen der Freimaurer eine ähnliche Funktion.«214

Den geheimen Machenschaften der arcana imperii im Staat des Ancien Régime wird auf diesem Wege ein neues bürgerliches arcanum gegenübergestellt. Die Mitglieder der Salons und Lesegesellschaften bestehen schnell auch nicht mehr aus einem rein bürgerlichen Publikum. Aufgeklärter Adel, Kaufleute und Intellektuelle nehmen an der neuen eingehegten Öffentlichkeit teil, um Meinung zu machen und auszutauschen. Diese neuen Gemeinschaften eröffnen damit einen geschützten Kommunikationsraum für das Zusammentreffen von Mitgliedern verschiedener gesellschaftlicher Gruppierungen und Klassen abseits der staatlichen Gewalt. Die bürgerliche Öffentlichkeit, in der eine öffentliche und kritische Meinung gebildet wird, bedeutet deshalb erst einmal eine geheime Sphäre der Kommunikation, die nicht vom Staat eingesehen werden kann.215 Aus dieser geheimen Öffentlichkeit, die zum einen aus den Formaten eines persönlichen Zusammentreffens und zum anderen aus dem Austausch über die neuen Zeitschriften erwächst, wird dann zunehmend die im Strukturwandel der Öffentlichkeit beschriebene bürgerliche Öffentlichkeit. Diese Definition der Öffentlichkeit muss allerdings in einer hier entscheidenden Hinsicht modifiziert werden, insofern Habermas sie in Abgrenzung zum Privaten einführt: »Die Öffentlichkeit verhält sich komplementär zu dieser Privatsphäre, aus der sich das Publikum als Träger der Öffentlichkeit rek-

Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 188-211, hier S. 190. 214. P. U. Hohendahl: Öffentlichkeit, S. 16. 215. Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986; Ulrich im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982.

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rutiert.«216 Habermas bezieht sich bei dieser Grenzziehung auf Kants Studie Zum ewigen Frieden (1795), der in der Publizität die Wasserscheide zwischen Entscheidungen für das allgemeine Wohl und Entscheidungen von moralischer Bedenklichkeit sieht. Aber während Habermas darin das Gegensatzpaar öffentlich und privat erkennen will, dem er ausdifferenzierte Aufgaben für unterschiedliche Bereiche der Gesellschaft zuweist, ist es für Kant das Gegensatzpaar von öffentlich und geheim, das für die politische Äußerung von zentraler Bedeutung ist. Denn Publizität ist für Kant erst einmal keine ethische, sondern eine juridische Größe, eine transzendentale Formel des öffentlichen Rechts: »Alle auf das Recht anderer Menschen bezogenen Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht. Dieses Prinzip ist nicht bloß als ethisch (zur Tugendlehre gehörig), sondern auch als juridisch (das Recht der Menschen angehend) zu betrachten. Denn eine Maxime, die ich nicht darf laut werden lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus verheimlicht werden muss, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht öffentlich bekennen kann, ohne dass dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.«217

Kants entscheidendes Bestimmungsmerkmal des Öffentlichen, das Prinzip der Publizität, ist also zunächst nicht an einen Raum oder eine Sphäre des Öffentlichen gebunden, sondern ein Moment des öffentlichen Rechts. Dieses Rechtsprinzip soll einer wiederherzustellenden Einheit von Politik und Moral dienen, also exakt demjenigen Moment, dessen Auseinanderfallen von aufklärerischen Gruppierungen im 18. Jahrhundert am Staat des Ancien Régime kritisiert wird. Jeder Rechtsanspruch, so Kant, muss die Fähigkeit zur Publizität besitzen, um die Einheit von Politik und Moral zu gewährleisten. Jede gerechte Maxime muss deshalb prinzipiell auch veröffentlicht werden können. Umgekehrt muss eine Maxime, zu der man sich nicht öffentlich bekennen 216. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992, S. 429. 217. Immanuel Kant: »Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf

(1795)«, in: Ders.: Werkausgabe XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, B99-B101, hier S. 245. Das transzendentale Prinzip der Publizität bedeutet daneben auch, dass der Einheit des transzendentalen Bewusstseins die kommunikative Einigung aller empirischen ›Bewusstseine‹ in der Öffentlichkeit entsprechen soll. Die Publizität oder öffentliche Meinung ist also einerseits der mediale Effekt von Zirkulation und Kommunikation, andererseits muss die »Herrschaft der öffentlichen Meinung« als faktische Meinung der Bürger gedacht werden, weil sie sonst keine Herrschaft beanspruchen könnte. Damit ist allerdings keine sozialpsychologische Verankerung gemeint, denn die öffentliche Meinung ist nur in der Zirkulation der Bilder, Worte und Schriften greifbar. Der theoretische Bezug auf die faktische Meinung der Bürger hat also eine gesellschaftliche Funktion, ist aber keine empirische Tatsache.

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2. Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte

kann, verheimlicht werden, wenn sie gelingen soll, und ist deshalb nicht mit dem öffentlichen Recht vereinbar. Kurz: wenn eine Maxime bei ihrer Veröffentlichung den »Widerstand aller« herausfordert, muss sie ungerecht sein. Überdies ist bei Kant der Begriff des »Privaten«, den Habermas in der Funktion eines Komplements zum Öffentlichen als Prüfstand von Glaubwürdigkeit und Konsistenz aufruft,218 durchaus ambivalent und Gegenstand einer wortspielerischen Rhetorik. Wie Lucian Hölscher aufzeigt, ist das, was Kant »privat« nennt, »bislang stets ›öffentlich‹ genannt worden; der öffentliche Gebrauch der Vernunft dagegen ›privat‹ im Hinblick auf die politische Stellung desjenigen, der sie gebrauchte.«219 Das Adjektiv »öffentlich« wurde im 18. Jahrhundert offenbar unterschiedlich verwendet. Es kann einmal dasjenige bedeuten, das jedem offen zugänglich und verständlich ist, aber es kann sich auch auf alle Angelegenheiten beziehen, die Staat und Gesellschaft betreffen.220 So konnte Kant den Begriff des Öffentlichen sichtlich provokant invertieren, indem er jedem Bürger zwei Gebrauchsweisen seiner Vernunft zuteilt: einmal der Gebrauch der Vernunft zu »öffentlichen Zwecken« (der bei Kant aber »Privatgebrauch« genannt wird), den ein Bürger als Funktionsträger in einem öffentlichen Raum tätigt, zum anderen der Gebrauch der Vernunft als Privatmann, dessen Rede (im heutigen Verständnis: öffentliche Rede) außerhalb eines Raums staatlichen Gehorsams stattfindet: »Der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muss jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern. Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf. […] Der Gebrauch also, den ein angestellter Lehrer von seiner Vernunft vor seiner Gemeinde macht, ist bloß ein Privatgebrauch; weil diese immer nur eine häusliche, obzwar noch so große, Versammlung ist; und in Ansehung dessen ist er, als Priester, nicht frei, und darf es auch nicht sein, weil er einen fremden Auftrag ausrichtet. Dagegen als Gelehrter, der durch Schriften zum eigentlichen Publikum, nämlich der Welt, spricht, mithin der Geistliche im öffentlichen Gebrauche seiner Vernunft, genießt einer uneingeschränkten Freiheit, sich seiner eigenen Vernunft zu bedienen und in seiner eigenen Person zu sprechen.«221

218. J. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 413-414. 219. Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtli-

che Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979, S. 101. 220. Ebd., S. 102. 221. Immanuel Kant: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1783)«, in: Ders.: Werkausgabe XI. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, A485A488., hier S. 57.

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Eine weitere Ambivalenz innerhalb der Kantischen Formel bildet das Gegensatzpaar »Öffentlichkeit« und »Geheimnis«.222 Als »Geheimnis« wird alles bezeichnet, das verheimlicht werden muss und gerade dadurch die Unrechtmäßigkeit seiner Maximen erweist. Solche Geheimnisse sind im politischen Handeln des Ancien Régime, dessen Staatsklugheit einer Trennung von Politik und Moral folgt, nicht problematisch. Aber mit dem Auftritt der Auf klärung und damit der bürgerlichen Öffentlichkeit im 18. Jahrhundert muss das Geheimnis zum moralischen Skandal (öffentlich erklärt) werden. Das Öffentliche steht dementsprechend bei Kant auf der Seite des Rechtmäßigen, das Geheime auf der Seite des Unrechtmäßigen. Direkt im Anschluss an die Klärung dieses Sachverhaltes im Anhang der Abhandlung zum Ewigen Frieden stellt Kant die Schlüsselfrage nach der Rechtmäßigkeit oder Unrechtmäßigkeit des Tyrannensturzes. Die Entthronung eines Tyrannen durch das Volk sei kein Unrecht, wenn er die Rechte des Volkes angegriffen habe. Dennoch kann nach dem transzendentalen Prinzip der Publizität kein »Aufruhr«, der zum Sturz eines Tyrannen führt, jemals rechtmäßig sein, da die Maxime des Aufruhrs, will er gelingen, ja verheimlicht werden muss. Im Gegenzug kann der Tyrann aber rechtmäßig »frei heraus sagen, dass er jeden Aufruhr mit dem Tode der Rädelsführer bestrafen werde«, auch wenn er sich – aus der Perspektive des Volkes – im Unrecht befindet: »Das Unrecht des Aufruhrs leuchtet also dadurch ein, dass die Maxime desselben dadurch, dass man sich öffentlich dazu bekennte, seine eigene Absicht unmöglich machen würde. Man müsste sie also notwendig verheimlichen. – Das letztere wäre aber von Seiten des Staatsoberhaupts eben nicht notwendig. Er kann frei heraus sagen, dass er jeden Aufruhr mit dem Tode der Rädelsführer bestrafen werde, diese mögen auch immer glauben, er habe seinerseits das Fundamentalgesetz zuerst übertreten.«223

Damit durchkreuzt Kant sein Prinzip der Publizität als kongruente Schnittmenge von Politik und Moral. Denn die Publizität zeigt nicht die Rechtmäßigkeit der Maxime an, sondern im Grenzfall allein ihre Durchsetzungsfähigkeit, ihre Abhängigkeit von einer »unwiderstehlichen Obergewalt«. Ruft ein Staatsoberhaupt also auch den »Widerstand aller« gegen seine nicht rechtmäßigen Maximen hervor, so werden diese genau in dem Moment wieder ins Recht gesetzt, sobald der Widerstand niedergeschlagen ist. Das Prinzip der Publizität ist damit nur der Form nach an der Gerechtigkeit des Rechts beteiligt, denn Herrschaft ist eine Frage der Macht, nicht der Moral oder der Gerechtigkeit. Es sollte deutlich geworden sein, dass der Kantische Rechtsbegriff einerseits um die Differenz von Recht und Gerechtigkeit kreist, andererseits aber 222. Kurz und prägnant zu diesem Gegensatz ist Stefan Nowotny: »Klandestine Öffentlichkeit«, in: Gerald Raunig/Ulf Wuggenig (Hg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit, Wien 2005, S. 66-79; Stefan Nowotny: »Die Bedingung des ÖffentlichWerdens«, in: www.republicart.net/disc/realpublicspaces/nowotny03_de.html vom 18. Juni 2009. 223. I. Kant: Zum ewigen Frieden, B101f-B104, hier S. 246.

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auch um den Erhalt der absoluten Souveränität bemüht ist. Eine pointierte Aufnahme findet dieses sich selbst setzende und selbst aussetzende Performanzmodell des Rechts bekanntermaßen bei Carl Schmitt und Walter Benjamin.224 Konsequent weitergedacht, so kritisiert Hannah Arendt Kants Ansatz, führt das Prinzip der Öffentlichkeit im Verhältnis zum Aufruhr zu einem überraschenden Schluss: »Die Alternative zur bestehenden Regierung ist für Kant nicht die Revolution, sondern der coup d’état. Und ein Staatsstreich muss, im Gegensatz zu einer Revolution, in der Tat im Geheimen vorbereitet werden, während revolutionäre Gruppen oder Parteien immer darauf bedacht waren, ihre Ziele öffentlich bekannt zu machen und wichtige Teile der Bevölkerung dafür zu gewinnen.«225

Die Doppelbödigkeit, die im Kantischen Konstrukt nunmehr durchscheint, beruht auf seinem Begriff der Öffentlichkeit (Stefan Nowotny spricht dagegen nicht von der Ambiguität des Begriffs, sondern nur von einem »Missverständnis«). Die Öffentlichkeit kann in letzter Konsequenz weder völlig getrennt vom Aufruhr, noch ohne Widerspruch zu demselben gedacht und deswegen auch nicht in Anschlag gegen eine Revolution gebracht werden. Es ist also gerade das Prinzip der Publizität selbst, das zu der Kontamination des öffentlichen Rechts durch die Ungerechtigkeit führt, so die interessante Pointe von Stefan Nowotnys Kant-Lektüre: »Während das Prinzip der Öffentlichkeit grundsätzlich auf die Möglichkeit der Zustimmung ›aller‹ abzielt, indem es Ungerechtigkeit ausschließt, leuchtet an seinem anderen Ende die extreme Möglichkeit des Ausschlusses ›aller‹ auf – an dem Punkt nämlich, an dem die ›Fähigkeit der Publizität‹ sich nichts anderem mehr verdankt als der herrschenden ›Obergewalt‹ und der potenziell die revolutionäre Situation markiert.«226

Das Geheime kann also nicht als etwas Überwundenes betrachtet werden, das sich in einem öffentlichen rationalen Diskurs verflüchtigt hat, sondern muss paradoxerweise als ein strukturelles Moment des Öffentlichen gedacht werden. Niklas Luhmann bezeichnet dieses Verhältnis als einen Wiedereintritt (re-entry) der Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene: Die Öffentlichkeit wird durch Private gebildet, deren Interaktion und Meinungsbildung aber genau des224. So Carl Schmitts bekannter dezisionistischer Rekurs von Souveränität auf den Akt der Entscheidung über den Ausnahmezustand. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität (1922), Berlin 1979; Walter Benjamin: »Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation von Gewalt.« Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt«, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. II,1. Hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, S. 179-203, hier S. 198. 225. Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer Philosophie, München 1998, S. 82. 226. D. Nowotny: Die Bedingung des Öffentlich-Werdens.

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wegen nicht öffentlich beobachtet werden kann, d.h. die Herrschaft der öffentlichen Meinung ist selbst eine heimliche Herrschaft, sie ist gleichsam die »unsichtbare Hand« oder der »Heilige Geist« des politischen Systems.227 Unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung soll das Verborgene ans Licht gezogen und rationalisiert werden, gleichzeitig ist jene Instanz, die diese Aufklärung vollbringen soll, aber ein abgeklärtes, ein ungreifbares Medium. Die unsichtbare Hand der Öffentlichkeit tritt jedoch nicht an die Stelle der sichtbaren Hand des Souveräns, sondern sie ist ein Medium für die Beobachtung von Kommunikation. Ihre Herrschaft ist eine Herrschaft des Unsichtbaren, nicht weil Entscheidungen im Schutz einer so genannten Hinterbühne getroffen werden, sondern insofern sie eine Beobachtung zweiter Ordnung ist; d.h. sie muss jede öffentliche Kommunikation immer auch auf ihre Latenz hin beobachten und jeder manifesten Argumentation noch ein zweites, unsichtbares Motiv unterlegen: »Politiker mögen (ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge) noch so sehr motiviert sein, in Sachangelegenheiten etwas zu verbessern; im Medium der öffentlichen Meinung werden sie auf nicht mit dargestellte Motive und Merkmale hin beobachtet. Man könnte daraufhin von einer selbstkritischen Tendenz der öffentlichen Meinung sprechen, ohne allerdings damit die Vorstellung zu verbinden, es käme auf diese Weise die Wahrheit an den Tag. Denn der Modus der Beobachtung zweiter Ordnung transformiert Latenzen in Kontingenzen, nicht in einzig-richtige Auffassungen. Er unterminiert das, was dem unmittelbaren Beobachter als natürlich und notwendig erscheinen kann, und bringt es in die Form des Artifiziellen, des Auch-anders-Möglichen.«228

Diese Transformation von Latenz in Kontingenz bezieht sich allerdings nur auf latente Themen und Inhalte, nicht aber auf die Form der Latenz selbst. Die rhetorische und analytische Figur der Latenz ist unauflösbar und kann nicht mehr auf andere Begriffe oder Konzepte reduziert werden. Als ein kulturwissenschaftlicher Grundbegriff der Analyse von kultureller Kommunikation ist sie unverzichtbar und historisch untrennbar mit dem Begriff der Öffentlichkeit verbunden. Denn im Begriff der Öffentlichkeit sind Latenz und Transparenz nicht absolut getrennte Funktionen, sondern gehören ganz im Gegenteil untrennbar zusammen: »Entgegen allen Erwartungen der Tradition garantiert Öffentlichkeit kein validiertes und als solches bekanntes Wissen, geschweige denn eine Art Vernunftauslese. Vielmehr ist Öffentlichkeit geradezu ein Symbol für die durch Transparenz erzeugte Intransparenz.«229

Historisch lässt sich diese Spannung in der Konzeption von Öffentlichkeit gut an Reinhart Kosellecks Analyse zum krisenhaften Übergang vom Absolutismus zur Aufklärung nachvollziehen. In Kritik und Krise (1954) nimmt er 227. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Hg. v. André Kieserling, Frankfurt a.M. 2000, S. 279. 228. Ebd., S. 293. 229. Ebd., S. 285.

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sich der Dynamik von »öffentlich« und »geheim« als dem entscheidenden Katalysator eines Umbruchs vom Ancien Régime zur Aufklärung an. Koselleck setzt dabei nicht auf die Durchsetzungskraft einer emanzipierenden bürgerlichen Öffentlichkeit, wie es Habermas unternimmt,230 sondern auf die Verfasstheit des Politischen im Staat selbst. Entscheidend für seinen Argumentationsgang ist dabei Carl Schmitts Lektüre des Leviathan von Thomas Hobbes.231 Schmitt vertritt dort die These, dass der moderne Staat notwendig durch die Ausgrenzung eines »moralischen Innenraumes«232 entstanden sei. Für ihn ist es deshalb exakt die »Unterscheidung von Außen und Innen«,233 also von Öffentlichkeit und privater Moral, die von Hobbes zum ersten Mal in das politische System eingeführt wurde und die Einheit des Staats auseinander brechen lasse: »Der Auf bruch der bürgerlichen Intelligenz erfolgt aus dem privaten Innenraum, auf den der Staat seine Untertanen beschränkt hatte. […] Die Aufklärung nimmt ihren Siegeszug im gleichen Maße als sie den privaten Innenraum zur Öffentlichkeit ausweitet.«234 Eine neue bürgerliche Moral rückt also im 18. Jahrhundert aus dem verborgenen Privaten gegen die nach einer ratio status ausgerichteten und dezidiert nichtmoralischen Staatsgewalt in den »Raum der Öffentlichkeit«235 vor. Aber nur im Geheimen, nur durch die Verschwörung der »Stillen im Lande«, die erst im zweiten Schritt an die Öffentlichkeit dringt, wird die Transformation des Absolutismus zur 230. Habermas erwähnt im Strukturwandel der Öffentlichkeit Kosellecks Studie in den Endnoten zwar als eine Untersuchung, der er »viele Hinweise« verdanke, setzt sich im Haupttext aber nicht mit Kosellecks Thesen auseinander. Siehe Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 161. Fußnote 2. Habermas zitiert hingegen nur zwei Seite danach Carl Schmitt zum Verhältnis von Privatem und Öffentlichem mit einer Aussage, die als eine der Grundlagen der Studie Kosellecks gelten kann: »In dem Augenblick, in dem die Unterscheidung von Innen und Außen anerkannt wird, ist die Überlegenheit des Innerlichen über das Äußerliche und damit die des Privaten über das Öffentliche im Kern bereits entschiedene Sache.« So Carl Schmitt, zitiert nach Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 163. Fußnote 8. Habermas fokussiert dabei die Abwertung des Religiösen bei Hobbes mit einer gleichzeitigen generellen Aufwertung des Privaten. Diese Beobachtung trifft dabei zwar Schmitts Versuch, gegen eine Privatisierung der Religion anzugehen, verfehlt aber die politischen privaten Öffentlichkeiten des 18. Jahrhunderts, die Koselleck ins Visier nimmt. 231. Zu Schmitts Kritik an Hobbes’ Verwendung des Leviathan-Symbols siehe Ruth Groh: Arbeit an der Heillosigkeit der Welt. Zur politisch-theologischen Mythologie und Anthropologie Carl Schmitts, Frankfurt a.M. 1998, S. 25-63. 232. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1973, S. 30. Siehe auch Jan-Friedrich Missfelder: »Die Gegenkraft und ihre Geschichte. Carl Schmitt, Reinhart Koselleck und der Bürgerkrieg«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte (2006), S. 310-336. 233. Carl Schmitt: Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols (1938). Hg. v. Günter Maschke, Köln 1982, S. 80. 234. R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 41. 235. Ebd., S. 43.

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bürgerlichen Aufklärung erreicht. Stillschweigend und verborgen versammeln sich Tisch- und Lesegesellschaften, Salons und Geheimbünde, die für Habermas den Keim der bürgerlichen Öffentlichkeit bilden: »Also jenseits und zuvor aller politischen Planungsarbeit, die geleistet wurde, markiert das Geheimnis durch seine doppelte Funktion, nämlich die Gesellschaft zusammenzuschließen und zu schützen, eine geistige Frontlinie, die durch die absolutistische Staatenwelt hindurchlief. Durch das Geheimnis und hinter ihm vollzog sich eine soziale Gruppierung, die das Gewicht einer indirekten Gewalt bekam […]. Es sind bereits und gerade die innergesellschaftlichen Funktionen, die – scheinbar ohne den Staat zu berühren – die absolutistische Souveränität in Fragen [sic!] stellten.«236

Allein die Aufrechterhaltung eines eingehegten, privaten und letztlich verborgenen Raums ist der Garant sowohl für die Existenz als auch für die politische Relevanz der verschworenen Gemeinschaften gegen den Absolutismus. Das Geheimnis muss in diesen abgeschlossenen Gesellschaften deshalb über das Staatsrecht gestellt werden und erhält beispielsweise in den Freimaurerlogen, so Koselleck, den Status eines »Naturrechts«. Das Geheimnis ist das entscheidende Kriterium für die Träger der Auf klärung und damit für die bürgerliche Öffentlichkeit. Kurz gefasst: »Das Logengeheimnis bricht die Staatsgewalt.«237 Die Öffentlichkeit kann also weder als die Einheit der Differenz von Meinungen begriffen werden, noch als ein transparentes Medium (puissance invisible), von dem man eine rationale Aufklärung der Tradition erwartet. Sie ist, mit Luhmann gesprochen, vielmehr »das Medium der Selbst- und Weltbeschreibung der modernen Gesellschaft. Sie ist der Heilige Geist des Systems, die kommunikative Verfügbarkeit der Resultate von Kommunikation«.238 Gleichzeitig ist sie aber auch ein unheiliger Geist, denn unter der Hand und im Rücken des Systems existiert ein geheimer Fortbestand der arcana imperii, deren Latenz die Transparenz der Öffentlichkeit allererst ermöglicht.

2.4 Rhetor ik DER R HE TOR IK Z W I SCHEN UND V ERBORGENHE I T (A R I S TOTELE S , P L ATON )

2.4.1 THEOR IE

K L ARHE I T

Aristoteles war der erste Theoretiker, der die Rhetorik in einem Lehrbuch systematisch geordnet und auf einen Begriff gebracht hat, der bis heute gültig ist: »Die Rhetorik sei also als Fähigkeit definiert, das Überzeugende, das jeder Sache innewohnt, zu erkennen. Keine andere Wissenschaft hat diese Aufgabe, denn von diesen lehrt und stellt überzeugend jede nur die ihr zugrunde liegende Materie dar 236. Ebd., S. 65. 237. Ebd. 238. N. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1107f.

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[…] Die Rhetorik hingegen scheint sozusagen an dem, was ihr vorgegeben ist, das Überzeugende sehen zu können. Daher sagen wir auch, dass ihr wissenschaftliches Betätigungsfeld nicht ein ihr eigenes, abgegrenztes Gebiet umfasst.«239

Als »Kunst der Rede« hat die Rhetorik keinen bestimmten Gegenstand, sondern ist eine lehr- und lernbare Technik der Kommunikation. Die Rhetorik lehrt also kein Spezialwissen, sondern die Praxis kunstvollen Argumentierens: das Auffinden glaubwürdiger Argumente, die nicht nur an sich selbst überzeugen, sondern dabei auch den rechten Augenblick und die Stimmungslage des Publikums berücksichtigen, die Klarheit und Angemessenheit in Ordnung und Ausdruck erkenn lassen, sowie dem Ohr gefällig sind. Die Rhetorik hat daher seit der Antike eine zentrale Bedeutung als Bildungs-, Denk- und Darstellungsdisziplin. Beginnt die Praxis der Rhetorik (die Mündlichkeit der ars bene dicendi) also immer als Kommunikation, so beginnt die Theorie der Rhetorik (die Schriftlichkeit der ars bene scribendi) immer als System. Der Segmentierung der Rede in der Praxis entspricht deren Systematisierung in den Lehrbüchern der Rhetorik. Dort entfaltet sich die Rhetorik in fünf Subsystemen (officia oratoris): inventio, dispositio, elocutio, memoria und actio. Dabei sind die ersten beiden Produktionsstadien der Rede unter dem Gesichtspunkt der Latenz eher uninteressant. Die elocutio dagegen, deren explizite Tradierung nie abgebrochen ist, bezeichnet einen Bereich der rhetorischen Lehre, in dem der Beziehung zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit die höchste Aufmerksamkeit zukommt. Die elocutio ist in erster Linie die Lehre vom Redeschmuck (ornatus), d.h. von den rhetorischen Tropen und Figuren, sowie von der Sprachrichtigkeit (puritas), Deutlichkeit (perspicuitas) und Angemessenheit (aptum). In der Geschichte der Rhetorik hat die starke Fokussierung der Metapher nicht nur andere interessante Tropen, sondern auch die den figurae verborum vorgeordneten virtutes in den Hintergrund gerückt. Hier ist vor allem die perspicuitas zu nennen, die gemeinsam mit ihrem Gegensatz, der obscuritas, die Oppo239. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und herausgegeben von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999, 1355b. In der sehr freien Übersetzung dieser Stelle durch Nietzsche, die jene Definition von Aristoteles erweitert und ohne Legitimation bereits in die Nähe einer Universalisierung der Rhetorik rückt, ist »die Kraft, welche Aristoteles Rhetorik nennt, an jedem Ding das heraus zu finden und geltend zu machen, was wirkt und Eindruck macht, zugleich das Wesen der Sprache: diese bezieht sich ebenso wenig wie die Rhetorik auf das Wahre, auf das Wesen der Dinge, sie will nicht belehren, sondern eine subjektive Erregung und Annahme auf Andere übertragen.« Friedrich Nietzsche: »Geschichte der griechischen Beredsamkeit«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Fünfter Band, München 1922, S. 298. Vor allem Nietzsches Wiedergabe des griechischen peithein mit »was wirkt und Eindruck macht« ist eine folgenschwere Entscheidung. Das Wort kann sowohl »überzeugen« als auch »überreden« bedeuten und Nietzsches Übersetzung ist daher eine Akzentverschiebung. Die Nähe der Rhetorik zur Dialektik (Überzeugen), auf die es Aristoteles in seiner Abhandlung ankommt, wird geschwächt zugunsten einer sophistischen Auffassung, der es vor allem darum geht, die Zuhörer einer Rede zu beeinflussen (Überreden).

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sition von Attizismus und Asianismus artikuliert. »Attizismus« bezeichnet den bewussten Verzicht auf jede Künstlichkeit in einer Rede und ist ein rhetorisches Stilideal, das danach strebt, seine Kunst zu verbergen und das Künstliche durch eine fingierte Natürlichkeit des Ausdrucks zu ersetzen. Dieser Paradoxie einer kunstlosen Kunst korrespondiert die rhetorische Regel, dass der Redner seine Redetechnik verbergen können muss, wenn er Erfolg haben will.240 Rhetorische Kommunikation darf nicht rhetorisch wirken, wenn sie gelingen soll (dissimulatio). Die Transparenz oder Klarheit der Rede (perspicuitas) ist die Voraussetzung ihrer Glaubwürdigkeit. Ihr Gegenteil, ein Zuwenig an Klarheit in res und verba, heißt obscuritas. Diese Dunkel- oder Verborgenheit tritt aber nicht nur als ein zu vermeidendes Übel auf, sondern hat als eine richtungs-unentschiedene obscuritas auch eine lizenzierte Funktion.241 In bestimmten Fällen muss die Ambiguität der Worte geradezu gesucht werden, denn eine zu große perspicuitas kann bei einigen literarischen Gattungen oder einem gebildeten Publikum unter bestimmten Umständen nicht angemessen sein. Eine solche bewusste Verborgenheit traut dem Publikum, das sich dadurch geehrt fühlen soll, ein gewisses Maß an Mitarbeit (Rätselraten) zu. Gerade die rhetorischen Tropen und Figuren stellen eine spezielle richtungs-unentschiedene obscuritas dar, weil sie innerhalb des ornatus als Verfremdung dienen. Aristoteles geht in der Poetik ausführlich auf den notwendigen Ausgleich zwischen Klarheit und Dunkelheit ein, wobei er für eine ausgewogene Mischform plädiert.242 Die Rhetorik ist sich aber auch selbst eine verborgene Kunst, so lautet der berühmte Einwand von Platon und Aristoteles, da ihr Lehrgebäude nur einer äußerlichen Systematik folgt, die den Grund der Kunstgriffe, die sie

240. Die Wirksamkeit der Rede hängt also direkt mit dem Grad des Verbergens zusammen. Die Kunst besteht darin, die Stilmittel der Rede nicht merken zu lassen. Oder auch mit den Worten von Nietzsche: »Die Kunst des Redners ist, nie eine Künstlichkeit merken zu lassen: daher der charakteristische Stil, der aber erst recht ein Produkt der höchsten Kunst ist: wie die ›Natürlichkeit‹ des guten Schauspielers. […] Im Munde dessen, der für sich oder eine Sache redet, muss die Rede ganz angemessen und natürlich erscheinen: man muss also an die Kunst der Vertauschung nicht erinnert werden, weil sonst der Zuhörer misstrauisch wird und überlistet zu werden fürchtet.« Friedrich Nietzsche: »Geschichte der griechischen Beredsamkeit«, in: Ders.: Gesammelte Werke. Fünfter Band, München 1922, S. 306. 241. Siehe Heinrich Lausberg: Elemente der literarischen Rhetorik (1963). 10. Aufl age, Ismaning 1990, § 130-133. 242. »Die vollkommene sprachliche Form ist klar und zugleich nicht banal. Die sprachliche Form ist am klarsten, wenn sie aus lauter üblichen Wörtern besteht; aber dann ist sie banal. […] Die sprachliche Form ist erhaben und vermeidet das Gewöhnliche, wenn sie fremdartige Ausdrücke verwendet. Als fremdartig bezeichne ich die Glosse, die Metapher, die Erweiterung und überhaupt alles, was nicht üblicher Ausdruck ist. Doch wenn jemand nur derartige Wörter verwenden wollte, dann wäre das Ergebnis entweder ein Rätsel oder ein Barbarismus.« Aristoteles: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, 1457b-1458b.

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anwendet, nicht anzugeben oder von einem Oberbegriff abzuleiten vermag.243 Als eine ›Pseudowissenschaft‹ habe sie keinen Begriff von ihrem Tun und sei folglich zu echter Erkenntnis unfähig. Aus diesen Gründen wollte Platon die Rhetorik nicht als eine Kunst anerkannt wissen, denn so, wie die Sophisten sie lehren, sei sie allenfalls eine Kunst der Täuschung und damit das genaue Gegenteil der wahrheitsliebenden Dialektik.244 Er spricht der Beredsamkeit ab, eine wahre Kunst (téchne) zu sein und verweist sie auf das Gebiet der Tricks (empeiria). Diese Grenze zwischen Tricks und Technik werde, so Platon, von den Sophisten nicht eingehalten. Dies komme zwar der Persuasion zugute, schwäche aber gleichzeitig ihren disziplinären Status.245 Die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Rhetorik kann für Platon daher nur ihre Umschrift in eine spezielle Psychologie sein, die ein Wissen über den Zusammenhang der verschiedenen Seelenteile (Rezeption) mit den Gattungen der Rede (Produktion) systematisch herstellen kann (Sachbezug). Das theoretische Wissen vom Gegenstand und das konkrete Handeln in veränderlichen Situationen sollen als eine Einheit betrachtet werden. Solange die Rhetorik sich nicht als Theorie begründen kann, gilt sie der Philosophie entweder als Formalismus oder bloße Rednerei.246 Im Verlauf ihrer Geschichte hat die Rhetorik diesen Vorwurf niemals zufriedenstellend abwenden können, weshalb die neueren Theoretiker der Rhetorik darauf verzichten, die Rhetorik als positive episteme zu entwerfen und stattdessen den Begriff des Formalismus und der doxa theoretisch aufwerten. Die Antwort auf die theoretische Herausforderung der Rhetorik muss also in dem epistemologischen Problem selbst gesehen werden. Die Rhetorik hat kein epistemologisches Problem, das logisch gelöst werden kann, sondern sie markiert vielmehr ein unlösbares Problem der Epistemologie. 243. Aristoteles veranschaulicht dieses Gebrauchswissen der (sophistischen) Rhetorik durch einen schönen Vergleich: »Sie [die Sophisten] wähnten zu unterweisen, da sie doch keine Theorie, sondern nur deren Leistungen vorlegten. So machten sie es ähnlich wie ein Mann, der jene Kunst zu lehren verspräche, die dafür sorgt, dass den Leuten die Füße nicht weh tun, der dann aber nicht die Schusterei lehrte und die Mittel und Wege zeigte, um dabei den gedachten Zweck zu sichern, sondern eine reiche Auswahl aller möglichen Schuhe zur Verfügung stellte: auf diese Weise hätte er ja freilich dem Bedürfnis abgeholfen, aber keine Kunst gelehrt.« Aristoteles: Sophistische Widerlegungen (Organon VI). Übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, Hamburg 1968, 184a. 244. Kritisch gegenüber dieser philosophischen Abwertung der Sophisten ist Heinrich Gomperz: Sophistik und Rhetorik. Das Bildungsideal des »eu legein« in seinem Verhältnis zur Philosophie des V. Jahrhunderts. 2. Neudruck der Ausgabe 1912, Aalen 1985. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive siehe auch Otto A. Baumhauer: Die sophistische Rhetorik. Eine Theorie sprachlicher Kommunikation, Stuttgart 1986. 245. Platon: »Gorgias«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Neu hg. von Ursula Wolf. Band 1, 34. Aufl ., Reinbek bei Hamburg 2004, 501a. 246. Platon: »Phaidros«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Neu hg. von Ursula Wolf. Band 2, 34. Aufl . Reinbek bei Hamburg 2004, 270d-272a.

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Die zahlreichen Formen, die im Bereich der Figurenlehre tradiert werden, sind nicht nur alle auf unterschiedliche Weise durch die Unterscheidung eigentlich/uneigentlich strukturiert, sondern sind gleichzeitig selber die rhetorische Bedingung der Möglichkeit dieser Unterscheidung. Die Funktionsweise der Rhetorik, ihr Oszillieren zwischen direkter und indirekter Kommunikation, kann selber nur rhetorisch beobachtet werden. Es gibt also keine Metasprache der Rhetorik, d.h. es lässt sich nur rhetorisch über die Rhetorik reden.247 Dieser paradoxe Sachverhalt, der von einer Epistemologie, die auf dem traditionellen System der Logik aufsetzt, nicht mehr erfasst werden kann, bezeichnet einen Sonderfall der Kommunikation. Die Rhetorik kann nur figurativ (selbstauslegend) zum Thema werden. Rhetorische Tropen werden durch (eventuell andere) Tropen reinterpretiert, d.h. überall dort, wo Tropen und Figuren zum Thema werden, erscheinen in deren Beschreibung bewusst oder unbewusst neue Tropen und Figuren, die dann ihrerseits wieder zu einem Objekt der Beschreibung werden können. Dieses logische Problem, dass traditionellerweise als das Problem von Objekt- und Metasprache verhandelt wird,248 kann im Fall der Rhetorik als Problem einer unvermeidbaren Latenz der Tropen und Figuren bezeichnet werden. Die Latenz, vom lateinischen latens oder latere (»verborgen« oder »versteckt sein«), bedeutet in der Übersetzung von Anselm Haverkamp das »aus dem Verborgenen Drohende«.249 Ganz allgemein können damit alle Oberflächeneffekte gemeint sein, deren Ursprung unsichtbar, verborgen oder gar absichtlich verschleiert ist. Daraus ergibt sich notwendig ein Begriff von Latenz, der in den Theorien der Rhetorik durchweg als Unsichtbarkeit der zu bestimmten Zwecken eingesetzten Mittel vorgestellt wird (als dissimulatio der téchne). Die Differenz zwischen einer eigentlichen und uneigentlichen Redeweise (von der Verstellung der Person durch die Maske bis zur Verstellung der Wörter durch die Trope) ist daher für die traditionelle Rhetorik konstitutiv. Es besteht immer der Verdacht, dass hinter den scheinbar so klaren Worten ein ganz 247. »Die Geschichte der Rhetorik ist nämlich, wenn die disziplinäre Perspektive ihr Recht behält, nichts anderes als selbst rhetorisch. […] Das, was diese Konstruktion ihrer Geschichte zu sehen erlaubt, wäre abzuwägen gegen das, was sie verstellt.« Michael Cahn: Kunst der Überlistung. Studien zur Wissenschaftsgeschichte der Rhetorik, München 1986, S. 15. Wenn also jede Metaerzählung der Rhetorik selbst nur rhetorisch von ihrem Gegenstand handeln kann, dann ist die Rhetorik nicht wahrheitsfähig. Sie ist für Cahn daher bereits seit Platon eine »Pseudodisziplin, die das, was sie sich zumutet, nicht erbringen kann und nur rhetorisch ihr Überleben als Disziplin sichert«, ebd., S. 18. Das Wesen der Rhetorik – vorausgesetzt, sie hat eine Wesenheit und nur eine einzige – lässt sich nicht aus der Latenz ›entbergen‹, sondern ist mit ihr identisch. 248. Ausführlich zu diesem Problem ist Erhard Schüttpelz: Figuren der Rede, Berlin 1996. Die Kurzfassung bietet Erhard Schüttpelz: »Objekt- und Metasprache«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Literaturwissenschaft, München 1995, S. 179-216. 249. Anselm Haverkamp: Figura cryptica. Theorie der literarischen Latenz, Frankfurt a.M. 2002, S. 7.

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anderer (verborgener oder verrätselter) Sinn liegen könne. Insofern die Rhetorik ein formales System von technischen Regeln und Prozessen darstellt und somit an normative Grundsätze der Ethik oder des Rechts nur indirekt gekoppelt werden kann, ist seit ihrem Bestehen der Verdacht auf Dauer gestellt, dass durch ihren politisch-kommunikativen Einsatz nicht nur die Wahrheit befördert, sondern auch umgekehrt die Unwahrheit bestimmter »Wahrheiten« intentional und systematisch verschleiert werden kann. Die politische Relevanz der rhetorischen Einstellung liegt auf der Hand: Ihre Erfindung, so lautet wenigstens die rhetorische Selbstbeschreibung, ist untrennbar mit dem Sturz der tyrannis und der Demokratisierung der griechischen Stadtstaaten verbunden. Die Rhetorik hatte jedenfalls immer schon eine lebensweltliche Pragmatik, denn sie verstand sich als Technik im Machtkampf der politischen Arena. Gut und überzeugend reden zu können, war in der griechischen polis, in der alle Entscheidungen mehrheitlich getroffen wurden, das entscheidende Medium für die politische Einflussnahme. Der antike Politiker war ein rhetor. Die Untrennbarkeit von Rhetorik und Politik hat sich von der Stoa bis in die höfische Kultur des Mittelalters und der Neuzeit erhalten.250 Erst im Zeichen der Auf klärung und Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts sollte diese politische Strategie der absichtsvollen Maskerade und der kunstvollen Beredsamkeit zugunsten einer Tugendethik aufgehoben werden.251 Am Ende des 18. Jahrhunderts ist also der entscheidende epistemologische Bruch in der Geschichte der Rhetorik zu verankern. Einerseits wird ihre Funktion von der philosophischen Disziplin der Ästhetik abgelöst, deren Grundbegriffe viele Elemente der klassischen Rhetorik ersetzt haben. Andererseits wurde die Rhetorik von einer Kunstlehre der Kommunikation zu einer Stillehre der Produktion versachlicht. Seitdem werden von Gelehrten keine Lehrbücher der Rhetorik mehr geschrieben, sondern Studien über die Rhetorik als ein Objekt gelehrter Methodologie. Sie wurde, was Aristoteles 250. Exemplarisch für diese Verbindung von Politik und Rhetorik im 16. und 17. Jahrhundert sind die so genannten Klugheitslehren, die Politik nicht als Fortsetzung von Ethik oder Theologie begreifen, sondern als eine eigengesetzliche Technik der Staatsräson nach dem Vorbild der antiken Rhetorik entwerfen. Die berühmteste Monographie dieser Gattung stammt von dem spanischen Jesuitenpater Balthasar Gracian (1601-1658), der die Abhängigkeit der Politik von einer klugen Verstellungskunst in 300 Aphorismen beschrieben hat: »Pfeile durchbohren den Leib, aber böse Worte die Seele. Ein wohlriechender Teig verursacht einen angenehmen Atem. Es ist eine große Lebensklugheit zu verstehen, die Luft zu verkaufen. Das meiste wird mit Worten bezahlt, und mittels ihrer kann man Unmöglichkeiten durchsetzen. So treibt man in der Luft Handel mit Luft […] Allezeit habe man den Mund voll Zucker, um seine Worte damit zu versüßen, so dass sie selbst dem Feinde wohlschmecken.« Balthasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit (1647). Aus dessen Werken gezogen von D. Vincencio Juan de Lastanosa und aus dem Spanischen treu und sorgfältig übersetzt von Arthur Schopenhauer, München 2005, Aphorismus Nr. 267. 251. Eine kurze Fassung dieser Ablösung der politischen Rhetorik durch die Rhetorik der Antirhetorik bietet Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2. Aufl ., München 2003, S. 15-34.

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hatte verhindern wollen, zu einem eigenen, abgegrenzten Gebiet der Gelehrsamkeit. Als ästhetische Stillehre war sie nur noch ein Teilbereich akademischer Lehre in der philosophischen Fakultät. Aber erst diese Versachlichung der Rhetorik, so könnte die ironische Pointe lauten, erscheint als Möglichkeitsbedingung ihrer Renaissance in der akademischen Sprachphilosophie des 19. und 20. Jahrhunderts. Denn erst bei Friedrich Nietzsche erreichte die Diskussion um das epistemologische Problem der Rhetorik eine neue Dimension, die in den alten Debatten unhinterfragt geblieben ist.

2.4.2 D IE L ATENZ

DER R HE TOR IK (N IE T Z SCHE)

IN DER

S PR ACHE

Auch wenn Nietzsche, obschon zehn Jahre lang als Professor für Altphilologie in Basel tätig (1869-1879), kein Spezialist auf dem Gebiet der Rhetorik war und auch keine Theorie der Rhetorik verfasst hat, ist sein Name dennoch unverstellbar mit einer Renaissance der Rhetorik verbunden. Diese Renaissance bezieht sich weniger auf die Kunstfertigkeit seiner eigenen Schriften, meint also nicht den von ihm proklamierten »großen Stil«, sondern bezeichnet die so genannte sprachphilosophische Wende in seinem Denken (1873/74), die sich als ein notwendiger »Umweg über die Rhetorik« (Lacoue-Labarthe) darstellt.252 Nietzsche begründet, wenn auch nicht als Erster, so doch folgenreich, das Axiom von der Unhintergehbarkeit der Rhetorik als Fundament einer erkenntnistheoretischen Sprachkritik. Sprachkritik ist für Nietzsche von zentraler Bedeutung, weil er mit ihrer Hilfe versucht, die platonische Metaphysik zu bekämpfen und gleichzeitig seinen Rückgriff auf die Sophisten und Vorsokratiker (am deutlichsten auf Heraklits »alles fließt«) zu rechtfertigen. In jedem Hauptwort, so konstatiert er, verbirgt sich ein zentrales »Vorurteil«, eine Verfälschung und Verführung der Sprache. Jeder Begriff, so Nietzsche in seinem sprachkritischen Essay Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, entstehe durch Gleichsetzen des Ungleichen: »So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch ein Vergessen des Unterscheidenden gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur außer den Blättern etwas gäbe, das ›Blatt‹ wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären.«253 252. Zu Nietzsches sprachphilosophischer Wende und deren Attraktivität für den so genannten Poststrukturalismus ist immer noch grundsätzlich Werner Hamacher (Hg.), Nietzsche aus Frankreich. Frankfurt a.M., Berlin 1986. Siehe auch Ernst Behler: »Die Sprachtheorie des frühen Nietzsche«, in: Tilman Borsche (Hg.), Centauren-Geburten. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin 1994, S. 99-111. 253. Friedrich Nietzsche: »Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg.

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Obwohl er die Logik von Gattung und Art (bzw. Ober- und Unterbegriff ) eher rhetorisch als argumentativ kritisiert, vertritt Nietzsche die Ansicht, dass es nur durch die Negation der individuellen Vielfalt in der Natur zu Begriffen in der Sprache kommen kann. Erst das absichtsvolle Übersehen des Individuellen spendet demnach die Abstraktion des Begriffs, denn in der Natur selbst gibt es keine Gattungen, Formen und Begriffe. Nietzsches Resümee dieser angeblichen Tatsache ist berühmt und schon oft angeführt worden: »Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.« [KSA 1, 881]254

Die Materialität der Kommunikation (Metall, Begriff ) macht vergessen, dass eine Münze keine Realie, sondern ein Kommunikationsmedium ist (Geld, Metapher). Aber nicht nur Begriffe und Wörter sind Gegenstand seiner Kritik, auch die sprachliche Schlussfolgerung wird als Effekt einer grammatikalischen Illusion entlarvt. In dem Satz »der Blitz leuchtet«, so Nietzsche, trete ein tautologisches Moment am Subjekt-Prädikat-Schema zutage.255 Was an diesem Beispiel noch trivial erscheint, bekommt bedenkliche Züge, wenn Nietzsche diesem in die Grammatik eingelassenen Schluss bis in die Moralvorstellungen nachspürt. In der Abhandlung Zur Genealogie der Moral formuliert er:

von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, München 1988, S. 880 [Im Folgenden zitiert als KSA]. Was er hier an dem Beispiel eines Blattes vorführt, meint er auch an den menschlichen Handlungen zeigen zu können (in den Aphorismen 11-16 von »Menschliches, Allzumenschliches« formuliert Nietzsche diese Auffassung vor allem in Bezug auf die metaphorische Erscheinung und das »Ding an sich«). 254. »Wir glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen.« KSA 1, 879. Nietzsche meint sogar die Kopplung von Kognition und Sprache als metaphorische Motivierung beschreiben zu können: »Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher. Und jedes Mal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andere und neue.« KSA 1, 879. Nietzsche diskutiert diesen Zusammenhang zwischen Sprung-Tropen und Physiologie etwas ausführlicher auch in seiner Rhetorikvorlesung. Siehe Nietzsche: Geschichte der griechischen Beredsamkeit, S. 298. 255. »Subjekt, Objekt, Prädikat – diese Trennungen sind gemacht und werden jetzt wie Schemata übergestülpt über alle anscheinenden Tatsachen. Die falsche Grundbeobachtung, dass ich glaube, ich bin’s, der etwas tut, etwas leidet, der etwas ›hat‹, der eine Eigenschaft hat.« Friedrich Nietzsche: »Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre«, Schlechta-Ausgabe. Bd. III., München 1956, S. 456.

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»Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als Thun, als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die VolksMoral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein ›Sein‹ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ›der Thäter‹ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun: es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung.« [KSA 5, 279]

Nietzsches Zweifel bezieht sich also auf die Existenz jener von der Sprache »untergeschobenen Wechselbälger«, den Subjekten [KSA 5, 280]. Die grammatikalische Struktur reißt ganzheitliche Phänomene nach einem künstlich gemachten Schema auseinander und baut so hinter dem »Werden« eine Instanz auf, die das Werden jeweils »thut«, d.h. verantworten soll.256 In einer so konzipierten Sprachkritik wird die Zuständigkeit der Rhetorik universal. In seinen beiden Basler Rhetorikvorlesungen (WS 1872/73 und SS 1874), die eine Darstellung der antiken Rhetorik bzw. eine Geschichte der griechischen Beredsamkeit versprechen, lehrt Nietzsche seinen Studenten einen sehr weiten Begriff von Rhetorik, der mit dem Begriff von Sprache überhaupt konvergiert: »Es ist aber nicht schwer zu beweisen, dass was man als Mittel bewusster Kunst ›rhetorisch‹ nennt, als Mittel unbewusster Kunst in der Sprache und deren Werden thätig war, ja, dass die Rhetorik eine Fortbildung der in der Sprache gelegenen Kunstmittel ist, am hellen Lichte des Verstandes. Es giebt gar keine unrhetorische ›Natürlichkeit‹ der Sprache, an die man appelliren könnte: die Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten. […] Das ist der erste Gesichtspunkt: die Sprache ist Rhetorik, denn sie will nur eine doxa, keine episteme übertragen. […] In summa: die Tropen treten nicht dann und wann an die Wörter heran, sondern sind deren eigenste Natur. Von einer ›eigentlichen Bedeutung‹, die nur in speziellen Fällen übertragen würde, kann gar nicht die Rede sein. Ebenso wenig wie zwischen den eigentlichen Wörtern und den Tropen ein Unterschied ist, giebt es einen zwischen der regelrechten Rede und den so genannten rhetorischen Figuren. Eigentlich ist alles Figuration, was man gewöhnlich Rede nennt.«257 256. Auch das Cogito von Descartes hält er dementsprechend für eine bloße Verführung durch die Grammatik. Denn das Prädikat »denken« erfordert, wie jedes Prädikat, ein Subjekt. Also erklärt man das Ich zum Subjekt und macht es mit diesem ›Taschenspielertrick‹ zum Akteur. Tatsächlich aber, so Nietzsche, ist es der Akt des Denkens selbst, durch den überhaupt erst ein Ich-Bewusstsein hervorgebracht wird. Für das Denken gilt bei Nietzsche: erst der Akt, dann der Akteur. Vgl. KSA 5, 31. 257. Nietzsche: Geschichte der griechischen Beredsamkeit, S. 297-300. Bei Gustav Gerber, der wichtigsten Quelle für diese Vorlesung, lautet die entscheidende Stelle fast identisch: »Alle Wörter sind Lautbilder und sind in Bezug auf ihre Bedeutung an sich und von Anfang an Tropen. Wie der Ursprung des Wortes ein künstlicher war, so verändert es auch seine Bedeutung wesentlich nur durch künstlerische Intuition. Eigentliche Worte d.h. Prosa giebt es in der Sprache nicht.« Gustav Gerber: Die

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So ungewöhnlich und interessant diese Bestimmung des Rhetorischen klingen mag, war sie jedoch keineswegs neu, sondern das Produkt einer ausgiebigen Kompilation aus rhetorischen und sprachphilosophischen Lehrbüchern. Die Nietzsche-Philologie hat mittlerweile einen großen Teil der Zitate, versteckten Anspielungen und Paraphrasen entschlüsselt. Der wichtigste Einfluss für Nietzsches Thesen war sicherlich der Gymnasialdirektor Gustav Gerber (1820-1901), dessen Hauptwerk Die Sprache als Kunst die Basler Vorlesung viele unmarkierte Zitate verdankt. Gerbers These »von der latenten Rhetorizität bzw. – näher an seiner Diktion orientiert – von der latenten Metaphorizität der Sprache (wie des Denkens)«258 wird hier also von Nietzsche übernommen und zu einem allgemeinen Prinzip der Kritik (»der unreinen Vernunft«, wie es schon bei Gerber selbst heißt) ausgebaut. Die Figuration sei kein Sprachmodus neben anderen, sondern zeichne die Sprache insgesamt aus: die Sprache ist Rhetorik. Dieses Axiom von der rhetorischen Beschaffenheit der Sprache ist eine tragende Säule von Nietzsches Denken, denn die Sprachphilosophie berührt auch all seine anderen großen Themenbereiche, von der »Umwertung aller Werte« bis zu dem berüchtigten »Willen zur Macht«.259 Die Rhetorik erscheint nicht mehr bloß als ein Instrumentarium der Textanalyse, ein Gegenstand der Philologie, sondern wird zu einem Medium der Welterkenntnis und damit zu einem Gegenstand der Philosophie. So kann von der Rhetorik behauptet werden, was ihr seit Platon immer wieder abgesprochen wurde: nicht nur eine doxa, sondern auch eine Epistemologie zu sein – wenn auch eine negative.260 Sprache als Kunst (1871-74). 2 Bde. Nachdruck der 2 Aufl . Berlin 1885, Hildesheim 1961, S. 333. 258. Josef Kopperschmidt: »Nietzsches Entdeckung der Rhetorik oder Rhetorik im Dienste der Kritik der unreinen Vernunft«, in: Ders./Helmut Schanze (Hg.), Nietzsche oder »Die Sprache ist Rhetorik«, München 1994, S. 42. Ausführlich zu den Quellen und Datierungsproblemen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesungen sind Glenn Most/Thomas Fries: »Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung«, in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.), Nietzsche oder »Die Sprache ist Rhetorik«, München 1994, S. 17-38. 259. Diese These wird – kaum überraschend – von der philosophischen Nietzsche-Forschung nicht ausnahmslos geteilt, ist aber im Kontext einer dekonstruktiven Theorie der Rhetorik von entscheidender Bedeutung. Paul de Man gibt zu erkennen, dass es zwar so »scheint, als hätte sich Nietzsche von den Problemen der Sprache zu denen des Selbst und zu einer Philosophie gewandt, die in unvermitteltem existentiellen Pathos wurzelt, einem Pathos, das für die Interpretation seines Werks so maßgeblich wurde«, plausibilisiert aber dagegen die Vermutung, dass Nietzsches »frühen Spekulationen über Rhetorik [auch] in späteren Schriften ausgeführt und entwickelt werden«. Vgl. Paul de Man: »Rhetorik der Tropen (Nietzsche)«, in: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 149. 260. Streng genommen kann es für Nietzsche gar keine Epistemologie (mehr) geben; wenigstens keine, an deren Einsichten man konstruktiv anschließen könnte, da jede Erkenntnistheorie durch das Nadelöhr oder die »Zwingburg« [KSA 1, 887] der Sprache gehen muss, deren Zugang immer schon verstellt ist. Inwiefern ein anderer

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Aber das ist noch nicht alles, denn gleichzeitig erweitert Nietzsche die rhetorische Leitunterscheidung zwischen eigentlicher und uneigentlicher Rede durch die Unterscheidung zwischen einer bewussten und einer unbewussten Rhetorizität in der Sprache. Der bewusste Gebrauch rhetorischer Figuren bezieht sich weiterhin auf die kunstvolle Gestaltung der Sprache in Politik und Dichtung. Dagegen bezeichnet das Unbewusste der Sprache bei Nietzsche ihren tropologischen Charakter (die Begriffe sind vergessene Metaphern, d.h. alle Wörter sind an sich und von Anfang an, in Bezug auf ihre Bedeutung, Tropen), der die Entscheidung zwischen einer eigentlichen und einer uneigentlichen Redeweise unmöglich macht: »Werden nämlich die Tropen als generelle erkenntnis-organisierende Schemata konzipiert, die unhintergeh- und unvermeidbar sind, dann erhalten die bewusst erzeugten Wirkungen rhetorischer Kunstmittel, die das Thema der klassischen Rhetorik sind, einen neuen Status. Sie geraten zu hochartifiziellen, spezifischen Effekten, die im Umgang mit der Sprache angestrebt, aber auch unterlassen werden können. Sie sind, obschon sie bestimmte in der Sprache liegende Muster bloß fortsetzen, letztlich kontingent, während die latenten Figuren den Charakter der Notwendigkeit besitzen.«261

Eine reine Eigentlich- oder Buchstäblichkeit der Sprache ist demnach nicht mehr erreichbar. Nietzsches Feststellung, es gäbe keine unrhetorische »Natürlichkeit« der Sprache, an die man appellieren könnte, bedeutet also einerseits, dass die Rhetorik pragmatisch nicht von der Sprache zu trennen ist, andererseits aber auch, dass diese Verbindung zwischen Sprache und Rhetorik nicht natürlich oder ursprünglich gedacht werden kann. Die Rhetorik ist nicht das Wesen oder die Ontologie der Sprache, sondern bezeichnet lediglich die Unmöglichkeit, die Sprache von ihrer rhetorischen Tiefenstruktur abzulösen. Selbst eine Aufklärung oder Kritik dieser Latenz des Rhetorischen kann deren Wirkung und Notwendigkeit nicht außer Kraft setzen. Die Rhetorizität der Sprache muss als eine latente Struktur begriffen werden, die unhintergehbar ist, und daher nicht bloß die Manifestation sprachlicher Kunstmittel in einer Rede bezeichnet (elocutio).262 Diese Unterscheidung markiert die Aggregatzustand der Sprache im Denken Nietzsches möglicherweise dennoch einen methodischen Zugang zur Welt offen hält, davon handelt Dietz Bering: »Paralinguistische Mimesis. Sprachskepsis und Sprachvertrauen bei Friedrich Nietzsche«, in: Jürgen Schiewe (Hg.), Welche Wirklichkeit wollen wir? Beiträge zur Kritik herrschender Denkformen, Schliengen 2000, S. 37-50. 261. Lutz Ellrich: »Der Ernst des Spiels. Zu drei Versuchen einer dekonstruktiven Nietzsche-Lektüre«, in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.), Nietzsche oder »Die Sprache ist Rhetorik«, München 1994, S. 197f. 262. »Die Latenz von Tiefenstrukturen ist es, die der Rhetorik ihre Wirkung verschafft; aus der Latenz heraus, und nicht aufgrund der Evidenz ihrer Manifestation, kommt es zu dieser Wirkung.« Anselm Haverkamp: »Figura Cryptica. Paul de Man und die Poetik nach Nietzsche«, in: Josef Kopperschmidt/Helmut Schanze (Hg.), Nietzsche oder »Die Sprache ist Rhetorik«, München 1994, S. 247.

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wesentliche Differenz zwischen antiken und modernen Konzepten der Rhetorik.263 In diesem Zusammenhang muss man auch Nietzsches berühmten Ausspruch, dass die Griechen oberflächlich aus Tiefe gewesen sein sollen, als eine Rückprojektion der modernen Rhetorik in die Antike lesen.264 Methodisch invertiert Nietzsche dabei nicht nur einfach die traditionellen Unterscheidungen des hermeneutischen Diskurses (Hülle/Kern, Oberfläche/ Tiefe, Wirkung/Ursache), sondern führt diese Unterscheidungen auf die Abhängigkeit von sprachlichen Strukturen zurück (Grammatik, Rhetorik), die in seiner negativen Erkenntnistheorie an die Stelle der reinen Formen des Denkens treten. In der Basler Vorlesung von 1874 wird diese Vertauschung (das Prinzip der Inversion hinter der berühmten »Umwertung der Werte«) von Ursache und Wirkung als Metonymie bestimmt, eine Trope, die für Nietzsche das Grundmodell figurativer Sprache überhaupt darstellt.265 Es scheint zwar bisweilen so, als ob Nietzsche lediglich die Wertung der Begriffe vertauscht, dabei aber den Status der Positionen (»Subjekt«, »Wahrheit«, »Selbst« u.a.) unangetastet beibehält, so dass lediglich der »Schein« oder die »Uneigentlichkeit« mit der Wahrheit die Plätze tauscht, aber dieser Eindruck täuscht. Der Schein ist nicht einfach die eigentliche Bezeichnung (verbum proprium) für die Wahrheit, denn genau dieses antike Schema von res und verba, von der Zuordnung einer eigentlichen und einer uneigentlichen Stellung der Wörter zu den Sachen, wurde ja von Nietzsches Bestimmung der Rhetorik außer Kraft gesetzt, d.h. letztlich als ein Effekt der Rhetorizität in der Sprache erkannt. Nietzsches Kritik der Metaphysik erschöpft sich nicht in einer neuen Meta263. Ausführlich dazu sind John Bender/David E. Wellbery: »Die Entschränkung der Rhetorik«, in: Aleida Assmann (Hg.), Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996, S. 97-104. 264. Dieses Zitat stammt aus der Vorrede zur zweiten Ausgabe der fröhlichen Wissenschaft und handelt trotz einiger Aussagen über »Weib« und »Wahrheit« vielleicht gar nicht von Kastrationsangst sondern kann auch als ein gegenaufklärerisches Plädoyer für Latenz gelesen werden: »Man sollte die Scham besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo?…Oh diese Griechen! Sie verstanden sich darauf, zu leben: dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfl äche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben! Diese Griechen waren oberfl ächlich – aus Tiefe!« KSA 3, 352. 265. »Metonymia, Setzung eines Hauptwortes für ein anderes, […] in der Sprache sehr mächtig: die abstrakten Substantiva sind Eigenschaften in uns und ausser uns, die ihren Trägern entrissen werden, und als selbstständige Wesen hingestellt werden. […] Jene Begriffe, die lediglich unserer Empfindung ihr Entstehen verdanken, werden als das innere Wesen der Dinge vorausgesetzt: wir schieben den Erscheinungen als Grund unter, was doch nur Folge ist. Die Abstrakta erregen die Täuschung, als seien sie jenes Wesen, welches die Eigenschaften bewirkt, während sie nur in Folge jener Eigenschaften von uns bildliches Dasein erhalten.« F. Nietzsche: Geschichte der griechischen Beredsamkeit, S. 319.

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physik mit negativem Vorzeichen, sondern basiert auf einer Epistemologie der Tropen, deren latente Struktur den notwendigen Untergrund für die Umwertung oder Wahrheit des Scheins selbst bildet. Die These von der strukturellen Unsichtbarkeit des Rhetorischen in der Sprache wird bei Nietzsche zum Ausgangspunkt einer Zeitdiagnose, die sich an der antiken Verbindung von Rhetorik und Politik orientiert und als Kulturund Gesellschaftskritik auftritt. In Richard Wagner in Bayreuth, der vierten unzeitgemäßen Betrachtung, die zur Einweihung des Bayreuther Festspielhauses 1876 geschrieben wurde, wird das Problem der Sprache zum »Nothstand« und zu einer Krankheit der modernen Gesellschaft erklärt, die nur durch eine erneuerte Sprache, d.i. »die Stimme der Kunst Wagner’s«, geheilt werden könne: »Es gibt Menschen, welche diesen Zuruf verstehen, und es werden ihrer immer mehr; diese begreifen es auch zum ersten Male wieder, was es heissen will, den Staat auf Musik zu gründen.« [KSA 1, 458] In dieser Festschrift entfaltet Nietzsche eine Theorie der Kunst und des Gesangs als Ursprung einer Gemeinschaft der Wagnerianer, die als Gegenmodell zur Gesellschaft der »modernen Menschen« auftreten soll. Was dieser Stimme die Kraft gibt, die Sprache der Moderne zu reinigen, ist nicht ein Ende des rhetorischen Sprechens überhaupt (höchstens das Ende einer falschen Rhetorik der »Convention«), sondern vielmehr die Stiftung eines verloren gegangenen Zusammenhangs zwischen den Sprechern und ihren Sprachäußerungen.266 Die »Krankheit«, von der Nietzsche spricht, ist also eine Krankheit der Sprache und in direkter Folge auch der modernen Gesellschaft, die keine Einheit und keinen Zusammenhang mehr bilden kann, sondern sich in der »Convention« eines medial gestifteten Zusammenhangs verliert und zerstreut: »Der Mensch kann sich in seiner Noth vermöge der Sprache nicht mehr zu erkennen geben, also sich nicht wahrhaft mittheilen: bei diesem dunkel gefühlten Zustande ist die Sprache überall eine Gewalt für sich geworden, welche nun wie mit Gespensterarmen die Menschen fasst und schiebt, wohin sie eigentlich nicht wollen; sobald sie mit einander sich zu verständigen und zu einem Werk zu vereinigen suchen, erfasst sie der Wahnsinn der allgemeinen Begriffe, ja der reinen Wortklänge, und in Folge dieser Unfähigkeit, sich mitzutheilen, tragen dann wieder die Schöpfungen ihres Gemeinsinns das Zeichen des Sich-nicht-verstehens, insofern sie nicht den wirklichen Nöthen entsprechen, sondern eben nur der Hohlheit jener gewaltherrischen Worte und Begriffe. So nimmt die Menschheit zu allen ihren Leiden auch noch das Leiden der Convention hinzu, das heisst des Übereinkommens in Worten und Handlungen ohne ein Übereinkommen des Gefühls.« [KSA 1, 455]

Die latente Rhetorizität der Sprache wird von Nietzsche als eine deregulierte, gespenstige Gewalt beschrieben, die das Sprechen und Handeln der Subjekte 266. Eine ausführliche Lektüre dieser selten gelesenen vierten unzeitgemäßen Betrachtung bietet Oliver Kohns: »Friedrich Nietzsche in Bayreuth. Die Oper als Versprechen einer originalen Sprache«, in: Harun Maye/Cornelius Reiber/Nikolaus Wegmann (Hg.), Original/Ton. Zur Mediengeschichte des O-Tons, Konstanz 2007, S. 217-236.

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mit einer unsichtbaren Hand manipuliert. Die »krankhaft wuchernden Mittel und Formen« der Sprache machen den modernen Menschen zu einem »Sclaven der Worte«, dessen Erscheinen in Politik und Gesellschaft »ganz und gar Schein geworden« sei: »er wird in dem, was er jetzt vorstellt, nicht selber sichtbar, viel eher versteckt«. [KSA 1, 455-457] Die negative Bewertung des sonst von Nietzsche ja durchaus positiv verhandelten Scheins bezieht sich hier auf die Produktion einer souveränen Sichtbarkeit, die alles Kulturelle und Soziale zu einem repräsentativen Anteil der Gesellschaft vereinheitlicht und damit zum Verschwinden bringt. Das hier favorisierte Gegenbild wäre eine Gemeinschaft der Nicht-Repräsentierbarkeit, die jene Sphäre der sprachlichen und souveränen Verallgemeinerungen unterläuft. Das wäre die Utopie einer Gemeinschaft ohne Gesellschaft, eines Kollektivs ohne Voraussetzungen, das sich dem Regime der Sichtbarkeit sozialer und künstlerischer Formen entzieht und niemals in einem Nationalstaat oder einer repräsentativen Demokratie aufgehoben werden kann. Ein solches Modell von Gemeinschaft, das seine methodische Basis nicht in den Sozialwissenschaften, sondern in der Philologie und Sprachphilosophie verortet, wird in der poststrukturalistischen und dekonstruktiven Philosophie des Politischen aufgegriffen und aktualisiert.267 Denn trotz der innovativen Verbindung von antiker Rhetorik und moderner Sprachphilosophie konnte oder wollte Nietzsche die Kopplung zwischen den rhetorischen Operationen (Eigentlichkeit/Uneigentlichkeit) und ihrer ethischen Bewertung (Wahrheit/Lüge) nicht aufgeben. Auch wenn er den Schein der sprachlichen Konventionen nicht einfach gegen eine angeblich ursprüngliche oder natürliche Sprache ausspielt, sondern eine »Umwandelung der Natur«, d.h. einen anderen wahrhaftigeren Schein einfordert, bleibt er doch in dem ethischen Schema einer kalkulierten Bewertung des Scheins befangen. Auch bleibt das Problem der Referenz sprachlicher Zeichen ungelöst, wenn gleichzeitig das Postulat einer bewussten und einer unbewussten Referentialisierung unvermittelt bestehen bleibt.

2.4.3 D IE L ATENZ DER R HE TOR IK IN DER R HE TOR IK ( DE M AN , H AVERK AMP) Erst in den Lektüren von Paul de Man wird dieses Problem bei Nietzsche ausdrücklich thematisiert und, so Anselm Haverkamp, einer neuen rhetorischen Konsequenz zugeführt: »Paul de Mans Gebrauch rhetorischer Termini beruht auf einer der weitest gehenden Revisionen, die der Begriff der Rhetorik in diesem Jahrhundert erfahren hat. Dass sie, wie so vieles im 20. Jahrhundert, auch bei de Man mit Nietzsche zu tun hat, liegt auf der Hand.«268

267. Einen ersten Überblick über solche Positionen bietet der Sammelband von Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994. 268. A. Haverkamp: Figura cryptica, S. 241. Dass Haverkamps Konzept der figura

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Das Konzept einer rhetorischen Dekonstruktion schließt also explizit an Nietzsches Universalisierung der Rhetorik an. Der Clou besteht in einer erneuten Radikalisierung rhetorischer Konzepte: die Leitunterscheidung eigentlich/uneigentlich lässt sich nicht mehr mit Gewissheit treffen, gleichzeitig kann die Rhetorik aber nicht auf diese Unterscheidung verzichten, wenn sie als ein technisches System Bestand haben will. Sprache und Kommunikation werden heimgesucht von der Rhetorizität ihrer Strukturen, die Rhetorik wiederum wird heimgesucht von der Unentscheidbarkeit ihrer Aussagen. In der Dekonstruktion geht es nicht um die Behauptung, dass Sprache keine Referenz mehr hätte, denn Sprache referiert immer auf etwas, sondern um die Unentscheidbarkeit zwischen zwei verschiedenen Lektüren, zwei verschiedenen Modi der Referenz. Paul de Man beschreibt diese Unentscheidbarkeit als eine Aporie der Referenz, die dadurch gekennzeichnet ist, dass zwei vollkommen kohärente Lektüren eines Textes in direkter Konfrontation aufeinander bezogen sind, wobei die eine genau jenen Irrtum bezeichnet, der von der anderen denunziert und aufgelöst werden muss (z.B. eigentlich/uneigentlich, metaphorisch/metonymisch, performativ/konstativ). Diese Aporie ist unauflösbar, weil aus dem Zusammenhang des Textes kein Kriterium ermittelt werden kann, das einer der beiden Lektüren Priorität über die andere sichern könnte: »Rhetorik ist darin ein Text, dass sie zwei miteinander unverträgliche, sich wechselseitig zerstörende Blickpunkte ermöglicht und deshalb jedem Lesen oder Verstehen ein unüberwindliches Hindernis in den Weg legt«.269 Medientechnisch erfährt die Rhetorik bei de Man eine Umakzentuierung von der impliziten Mündlichkeit der Persuasion zur Schriftlichkeit einer Epistemologie der Tropen und Figuren. Für die Rhetorik als Text gilt eine »Gleichursprünglichkeit von Bedeutung und Schrift« bzw. von Sprache und Schrift die jede ontologische oder phänomenologische Hierarchisierung dieser Medien unterläuft.270 cryptica Paul de Man (und nicht Quintilian oder Baumgarten) zu verdanken ist, liegt auf der Hand. 269. Paul de Man: »Rhetorik der Persuasion (Nietzsche)«, in: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 176. 270. Nikolaus Wegmann: »Dekonstruktion«, in: Klaus Weimar (Hg.), Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1, Berlin/New York 1997, S. 334f. Wegmann hat das dekonstruktive Verfahren der Lektüre bei de Man deutlich als Aufmerksamkeit für die Latenz der Rhetorik reformuliert: »Ziel ist eine Schicht des Textes, von der der Autor nichts weiß oder die er zumindest nicht beherrscht und die den Zusammenhang des Textes und damit eine Auffassung in Frage stellt, für die ein Text nur eine transparente Folie über Bedeutung und Sinn ist. Eine Freilegung dieser gefährdenden Kräfte verlangt einmal, dass der Text von innen, von seinen eigenen Voraussetzungen her nachvollzogen wird. Andererseits wird gezeigt, dass das jeweils Vorausgesetzte nur eine Setzung ist, die andere Möglichkeiten ausblendet und dabei übersieht, dass das, was vermeintlich ausgeschlossen ist, weiter fortwirkt, ja die Konstruktion des Textes zerrüttet. Der Text wird zu einer Struktur ohne sinngebendes Zentrum, in der konträr zu einem Textverständnis, das von der Autorität des Autors oder vom Ge-

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Analog zu diesem Modell hat Manfred Lauermann in einem kurzen Text zum Thema die tiefenhermeneutische Kulturanalyse von Alfred Lorenzer beschrieben. Lorenzer appliziert die Unterscheidung latent/manifest auf einen Lektüremodus von Texten, der dem Verfahren der Dekonstruktion vergleichbar ist: »Nur das, was am Text festgemacht ist, zählt, wobei die Unterscheidung von ›manifest‹ und ›latent‹ nur dann sinnvoll wird, wenn im selben Bild, d.h. am selben Text, zwei Bedeutungen auszumachen sind. Der Textinhalt muss doppeldeutig sein. Unterhalb der manifesten Bedeutung muss im Text ein anderer, konkurrierender ›Sinn‹ enthalten sein – vergleichbar der verborgenen Figur eines Vexierbildes. Die Gegensätzlichkeit und Eigensinnigkeit ist entscheidend; der latente Sinn eines Textes ist ja nicht der ›Tiefsinn‹ des manifesten. Selbstverständlich lässt sich jeder einigermaßen gehaltvolle Text in seiner manifesten Bedeutung inhaltsanalytisch vertiefen, lässt sich auf Spuren seiner Entstehungsbedingungen hin abklopfen, lässt sich strukturell aufschlüsseln, objektiv einordnen usw. – aber all das hat nichts mit dem latenten Sinn zu tun.«271

Lorenzer benennt deutlich, worauf es auch bei der rhetorisch orientierten Dekonstruktion ankommt: der latente Sinn ist eben genau nicht die Tiefenbedeutung des manifesten Sinns, denn das wäre ja die zentrale Position der klassischen Hermeneutik, von der allegorischen Interpretation eines vierfachen Schriftsinns bis hin zu Hans-Georg Gadamers Bestimmung des entbergend-bergenden Wesens der Sprache: »Die Sprache hat eine bergende und sich selbst verbergende Kraft, so dass das, was in ihr geschieht, vor dem Zugriff der eigenen Reflexion geschützt ist und gleichsam im Unbewussten geborgen bleibt«272. Gadamers Dialektik zwischen Verbergen und Entbergen bezeichnet das genaue Gegenteil einer rhetorischen Latenztheorie, wie sie im Anschluss an de Man von Anselm Haverkamp entwickelt worden ist. Das danken einer organischen Einheit her gedacht wird, alle Beziehungen, und zwar ohne jede Hierarchie, möglich sind.« Ebd. 271. Alfred Lorenzer: »Tiefenhermeneutische Kulturanalyse«, in: Ders. (Hg.), Kultur-Analysen, Frankfurt a.M. 1986, S. 11-98. Zitiert nach Manfred Lauermann: »Zur Form der Latenz«, in: Dirk Baecker (Hg.), Probleme der Form, Frankfurt a.M. 1993, S. 126. 272. Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Band 2, Tübingen 1993, S. 198. Gadamer hat diese phänomenologisch-hermeneutische Bestimmung des Wesens der Sprache von seinem Lehrer Heidegger übernommen, dessen Philosophie nie von einem ganzen Satz oder gar dem System der Sprache ausgeht, sondern immer an einzelnen Worten hängt. Heidegger bestimmt die latente Macht des Wortes im Einklang mit der hermeneutischen Tradition als »das verborgene Wesen (verbal) des Wortes, das sagend unsichtbar und schon im Ungesprochenen das Ding als Ding uns darreicht. […] Denn was kann es für den Sagenden Denkwürdigeres geben als das sich verschleiernde Wesen des Wortes, das entscheinende Wort für das Wort?« Martin Heidegger: »Das Wort (1958)«, in: Ders.: Unterwegs zur Sprache. 13. Aufl ., Stuttgart 2003, S. 236.

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hermeneutische Modell rekurriert auf einen Begriff der Sprache, wie er seit der Antike und dem Mittelalter das Rückrat der septem artes liberales bildet, und eine innere Einheit von res und verba voraussetzt.273 Die drei sprachlichen Künste (Grammatik, Rhetorik und Dialektik) haben in diesem Modell nicht nur einen gemeinsamen Ursprung, den Logos, sondern bilden auch eine harmonische Beziehung innerhalb (als Regelsystem) und außerhalb (als Referenzsystem) der Sprache. Trotz sprachphilosophischer Bedenken und Zweifeln an diesem Modell, müssen alle Hermeneutiken zumindest implizit eine gewisse Einheit der Sprache unterstellen, wenn sie die These von der Einheit des Sinns nicht aufgeben wollen. Die dekonstruktive Radikalisierung der Rhetorik betriff t dagegen sogar diese elementarsten Strukturen der Sprache als differentielles System. Die logische Einheit in der arbeitsteiligen Differenz zwischen Grammatik und Rhetorik wird von de Man aufgelöst und durch die rhetorische Unterscheidung zwischen Figur und Trope ersetzt. Im Gegensatz zu den rhetorischen Figuren (z.B. Pleonasmus, Chiasmus oder Inversion), welche die innersprachliche Stellung der Wörter organisieren und somit in Konkurrenz zu der Grammatik treten, generieren erst die Tropen einen semantischen Unterschied zwischen einer eigentlichen und einer übertragenen Bedeutung. Selbst Nietzsche hatte Grammatik und Rhetorik noch als eine untrennbare Basisstruktur der Sprache konzipiert und gemeinsam in das Projekt der Metaphysikkritik eingebunden, aber erst bei Paul de Man treten sie in einen unauflösbaren Gegensatz.274 Damit wird einerseits Nietzsches Universalisierung der Rhetorik aufgegriffen und auf den gesamten Umfang der Sprache ausgedehnt. Andererseits ist für de Man, der Nietzsches Pointe zu Ende denkt, die Unterscheidung zwischen einer bewussten und einer unbewussten Rhetorizität der Sprache hinfällig, da keine bewusste Manipulation der sprachlichen Kunstmittel mehr vorstellbar ist, die nicht schon durch die latente Ambiguität der Worte untergraben wäre. Der bewusste Einsatz von Tropen muss insofern als unlesbar bezeichnet werden, als nicht mehr sicher entschieden werden kann, an welcher Stelle im Text ein bewusster Anfang und wo ein bewusstes Ende der Rhetorik zu verorten ist. Denn wenn alle rhetorischen Operationen auf einer Vertauschung oder Umgruppierung von Wörtern beruhen, dann ist es »in hohem Maße unwahrscheinlich, dass eine weitere solche Umkehrung hinreichen könnte, die Dinge an ihren eigentlichen Platz zu rücken. Eine ›Wendung‹ oder eine Trope, zu einer Reihe früherer Umkehrungen hinzugefügt, wird die Wendung zum Irrtum nicht aufhalten.«275

273. »Indeed, it was not only in antiquity but until the Cartesian revolution that language was viewed as simultaneously linking and harmonizing all the intellectual and physical functions of man and of the physical world as well.« Marshall McLuhan: The Classical Trivium. The Place of Thomas Nashe in the Learning of His Time (1943). Hg. v. W. Terrence Gordon, Corte Madera 2006, S. 16. 274. Paul de Man: »Semiologie und Rhetorik«. In: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 31-51. 275. P. de Man: Rhetorik der Tropen (Nietzsche), S. 156.

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Vor allem die so genannten Sprung-Tropen (Metonymie, Allegorie und Ironie), die nicht nur einen unmotivierten Wechsel des Bildbereichs bezeichnen, sondern für die Bedeutung des Wortes Trope selbst einstehen, stehen daher im Zentrum der dekonstruktiven Aufmerksamkeit. In letzter Konsequenz werden von de Man alle Tropen unter zwei Meistertropen (master tropes) subsumiert, von denen dann nicht mehr gesagt werden kann, was sie eigentlich sind: die Ironie und die Allegorie. In The Concept of Irony276 – einem der interessantesten Texte von Paul de Man, der leider immer noch nicht übersetzt worden ist – entwirft er die Ironie als eine »figure in deconstruction«, d.i. eine Trope, die sowohl die zentrale Trope der Dekonstruktion darstellt als auch eine Trope, die ihre eigene Dekonstruktion anzeigt. Das Konzept der Ironie zitiert überdies den Titel der Dissertation von Sören Kierkegaard und ist damit selbst schon ein ironischer Titel, ist eine Ironie der Ironie. Einerseits markiert de Man damit einen Diskurs der Sekundarität, in den jede Rede über Tropen und Figuren immer schon involviert ist, andererseits ist der Titel ironisch zu lesen, weil das Konzept der Ironie in der Einsicht kulminiert, dass die Ironie gar kein Konzept ist. In der Tat stellt die Ironie für einen konzeptuellen Entwurf ein fundamentales Problem dar: wenn die Ironie ein Konzept wäre, dann müsste es auch eine mögliche Definition von ihr geben. Es sieht aber ganz so aus, als wenn es unmöglich wäre, eine Definition der Ironie festzuhalten. Das Problem manifestiert sich in der historischen Abfolge einiger Interpretationen der Trope »Ironie«, die de Man in seinem Text aufmarschieren lässt, die den jeweils vorangegangenen Interpretationen immer wieder vorgeworfen haben, sie wüssten nicht was die Ironie sei: Karl Wilhelm Ferdinand Solger über August Wilhelm Schlegel, Georg Wilhelm Friedrich Hegel über Solger und über Friedrich Schlegel, schließlich auch Sören Kierkegaard über Hegel. Es scheint offenbar sehr kompliziert zu sein, die Ironie als eine Trope zu bestimmen, was für de Man die naheliegende Frage aufwirft, ob die Ironie überhaupt eine Trope darstellt? Traditionell wird sie natürlich als eine Trope bestimmt, aber de Man fragt noch einmal rhetorisch: »is irony a trope? Traditionally, of course, it is, but: is it a trope?« Ist die Ironie eine Trope? Die vagen Umschreibungen in den Lexika und Wörterbüchern – z.B. als eine Redeweise, bei der das Gegenteil des eigentlichen Wortlauts gemeint sei oder als Benutzung des Vokabulars der Gegenpartei, damit das Publikum die Unglaubwürdigkeit dieses Vokabulars erkennt – zeigen schon, dass hier eine nur schwer zu fassende rhetorische Form, und eine viel radikalere Negation vorhanden ist, als in den verwandten Tropen der Synekdoche, der Metapher oder der Metonymie. Ironie erscheint als eine universale Trope, als Trope aller Tropen, die grundsätzlich die Funktion aller anderen Tropen umfasst und damit auch simulieren kann. Die Ironie ist nie das, was sie vorgibt zu sein, denn der Begriff der Ironie muss immer wieder von sich selbst abweichen, damit die Ironie als eine Andersrede wirken kann. Eine endgültige Definition oder Feststellung würde sie zum Verschwinden bringen, weil ihre Funktion innerhalb des rhetorischen Systems und des Ensembles etablierter Tropen 276. Paul de Man: »The Concept of Irony«, in: Ders.: Aesthetic Ideology. Hg. von Andrzej Warminski, Minneapolis, London 1996, S. 163-184.

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und Figuren, die der Abweichung selbst ist. Ironie (eironeia), als Trope aller Tropen, bedeutet »Wendung« oder »Verstellung« und steht damit für das Prinzip der Rhetorizität selbst ein. Paul de Man, weit entfernt davon noch einmal eine positive Definition der Ironie zu versuchen (»I will attempt a definition, but you won’t be much wiser for it.«), beschreibt die Wirksamkeit der Ironie deswegen in drei Momenten, die er aus der Lektüre von Friedrich Schlegel gewonnen hat: 1. Die Ironie ist durch den steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung bestimmt. 2. Die Ironie lässt sich nicht regieren, denn wer einmal in sie eingetreten ist, kann nicht mehr aus ihr herausgehen. 3. Die Ironie ist eine permanente Parekbase (die Unterbrechung der Diegese, z.B. durch das Heraustreten des Schauspielers aus seiner Rolle). Diese Bestimmungen kommen dem Effekt, den die Ironie benennt, sehr nah, weil sie keine positive Definition geben, sondern als die »Ironie der Ironie«277 bezeichnet werden müssen: »So that we can complete, if you want, Schlegel’s definition: if Schlegel said irony is permanent parabasis, we would say that irony is the permanent parabasis of the allegory of tropes. (That’s the definition which I promised you – I also told you you would not be much more advanced when you got it, but there it is: irony is the permanent parabasis of the allegory of tropes.) The allegory of tropes has its own narrative coherence, its own systematicity, and it is that coherence, that systematicity, which irony interrupts, disrupts.«278

Die Ironie ist von Anfang an eine permanente Unterbrechung jeder Erzählung – und damit auch ein Heraustreten aus der Geschichte der Rhetorik selbst (als einer großen Allegorie der Tropen). Die Allegorie (als sequenzielle Narration) wird von de Man als eine Trope der Ironie aufgefasst und ist damit ebenfalls in einen Prozess der Selbstschöpfung und Selbstvernichtung involviert, der in und aus sich selbst zu keinem Ende kommen, sondern nur von außen angehalten werden kann. Die Ironie als tropologische Bewegung markiert eine Unterbrechung jener fortschreitenden Narration, die als »Allegorie« bestimmt werden muss (und umgekehrt). Man könnte die Epistemologie der Tropen abschließend als eine ironische Allegorie oder umgekehrt als eine allegorische Ironie bezeichnen.279 Sie sind eigentlich als rhetorische Tropen bestimmbar, dieser Status wird aber durch ihre eigenen Operationen uneigentlich andauernd in Frage gestellt. Die Ironie und die Allegorie sind die »master tropes« der Dekonstruktion, weil sie den Streit zwischen doxa und 277. Friedrich Schlegel: »Über die Unverständlichkeit (1800)«, in: Ders.: Schriften zur Literatur. Hg. von Wolfdietrich Rasch, München 1970, S. 337ff. Ausführlich zu dieser Kopplung von Unverständlichkeit und Ironie ist Eckhard Schumacher: Die Ironie der Unverständlichkeit. Johann Georg Hamann, Friedrich Schlegel, Jacques Derrida, Paul de Man, Frankfurt a.M. 2000. 278. P. de Man: The Concept of Irony, S. 179. 279. Wie eine ironische Lektüre allegorischer Texte und eine allegorische Lektüre ironischer Texte verfährt, demonstriert de Man ansatzweise ebenfalls an Texten von Nietzsche, vgl. P. de Man: Rhetorik der Tropen (Nietzsche), S. 146-163.

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episteme sowie zwischen Lüge und Wahrheit nicht nur darstellen, sondern auch verkörpern. Sie sind nicht einfach nur Tropen oder Instrumente der Dekonstruktion, sondern in der Applikation zugleich immer auch in ihre eigene Dekonstruktion begriffen und letztlich nur so auf den Begriff zu bringen. Deswegen sind sie, laut de Man, nicht mehr als eine Technologie der Textanalyse einsetzbar, weil der durch sie generierte Sinn im Moment des Entstehens sofort wieder vernichtet würde.280 Anselm Haverkamp entwickelt seine Theorie der Latenz im Anschluss an Paul de Man. Die Allegorie erscheint, abgeleitet von Quintilian (institutio oratoria, Bücher VIII-IX), auch bei Haverkamp als eine Realisierungsvariante der Ironie. Die unlesbare Ausdehnung der Ironie über den gesamten Umfang eines Textes wird von Haverkamp in dem Übergang von einer rhetorischen Trope zur Figur der Rhetorik verortet: Als Trope, die eine Wendung oder Umkehr anzeigt, bleibt die Ironie relativ offenkundig und identifizierbar, aber als Figur einer durchgängigen Andersrede bleibt die Ironie latent, weil sie sich über den gesamten Text erstreckt und daher nicht mehr sicher identifiziert werden kann.281 Sie wird dadurch zur Markierung einer Rhetorizität des Textes, von der nicht mehr gesagt werden kann, wo sie anfängt oder endet. Sie ist nicht mehr auf ein Wort oder einen Satz festgelegt, sondern umgreift die gesamte Redesituation. Damit wird die Rhetorik performativ, so dass eine Theorie der Rhetorik sich über die in ihr verborgene Performanz bewusst werden muss (und umgekehrt, denn »eine Theorie der Performanz kann gar nicht anders, als eine Theorie der Latenz zu unterstellen«282). Diese 280. »Wenn man dagegen, wie wir es tun, sagt, die Allegorie (als sequentielle Narration) sei ein Tropus der Ironie […], dann sagt man damit etwas, das nur zu wahr, dabei aber nicht intelligibel ist. Und das schließt auch ein, dass es nicht als technisches Mittel zur Textanalyse einzusetzen ist.« Paul de Man: »Pascals Allegorie der Überzeugung (1981)«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt a.M. 1998, S. 91. 281. »Das Figurenkapitel [Quintilians] bestätigt die Latenz vom Resultat her. Dieses Resultat handelt umgekehrt – quasi dialektisch – in seinem Manifestwerden vom Verschwinden des Tropus in der Figur, des tropisch markierten im Schema. Die Ironie, die als Tropus markiert ist, sofern sie eine im Wort identifizierbare Umkehrung darstellt, wird in der Ausführlichkeit der Figur zur unfassbaren Implikation: […] Während die Ironie in Gestalt der Figur als totius voluntatis fictio, als Figment einer durchgängigen Intention, implizit eher denn explizit auftritt und in Erscheinung tritt, ohne ihre Intention offen einzugestehen. Wenn die Ironie dagegen als Tropus auftritt, tritt sie markiert auf, und wird sie, ironischerweise, von den Romantikern als bloße rhetorische Ironie abqualifiziert.« Anselm Haverkamp: »Metaphora dis/ continua – Base Respects of Thrift But None of Love (1994)«, in: Ders. (Hg.), Die paradoxe Metapher, Frankfurt a.M. 1998, S. 367. 282. Anselm Haverkamp: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004, S. 159. Auch David Wellbery macht auf den rhetorischen Untergrund aufmerksam, den jede Theorie der Performanz notwendig unterstellen muss: »Rhetoric not only emphasizes the persuasive element that is so essential to performance theory, but it also provides directives that cover every aspect of the productive process from inven-

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unkontrollierbare Performanz rhetorischer Tropen und Figuren ist ein Effekt der rhetorischen Technik (téchne), die im Verlauf der Rhetorikgeschichte zur Kunst (ars) umgeschrieben und dann zunehmend vergessen worden ist.283 Als Endpunkt dieser Entwicklung wird üblicherweise die Konsolidierung der philosophischen Ästhetik im 18. Jahrhundert benannt, in deren Begriff einer ästhetischen repraesentatio (Vorstellung) große Teile der rhetorischen Figurenlehre konvergiert sind.284 Eine Konvergenz, die nicht geglückt ist, sondern die Rhetorik lediglich in die Latenz verschoben hat, wie Haverkamp am Beispiel von Alexander Gottlieb Baumgarten zeigen konnte: »Meine These lautet umgekehrt: Baumgartens Ästhetik ist die über die lange zwiespältige Renaissance-Karriere der Rhetorik erstmals in ihrer vollen Tragweite wiedergewonnene Rhetorik Quintilians. […] Quintilians Tropen und Figuren, die als metaphorisch ornamentale Beleuchtung ein künstliches Licht werfen und deshalb traditionell lumina heißen, sind bei Baumgarten zu elementaren Tiefenstrukturen des kryptischen Funktionierens der Sinne für jede Sinngebung geworden. Sein Terminus dafür ist die figura cryptica (Aesthetica § 784), oder ›crypsis of method‹ in der Tradition ramistischer Logik.«285 tion to public presentation.« David E. Wellbery: Lessing’s Laocoon. Semiotics and Aesthetics in the Age of Reason, Cambridge 1984, S. 47. 283. Dazu Haverkamp mündlich: »Diese Spaltung des Technikbegriffs ist ein typisches Zeichen der Latenz. Denn die Technik ist formal gesehen das Instrument, das mit Latenzen am entschiedensten umgeht oder technisch nutzt. […] Von daher ist die Technik die klarste Manifestation von allem, was latent denkbar ist und also Bedrohung hervorruft. Dies wiederum ruft eine Art und Weise von Technik auf den Plan, die manipuliert und damit umgeht. Das macht die Rhetorik im übertragenen Sinne – und zwar sowohl im guten wie im schlechten Sinne: Denn wenn die Technik teilweise zu beherrschen ist, dann kann man sie eben für gute wie für schlechte Zwecke ausnutzen.« Latenzzeit. Die Leere der fünfziger Jahre. Ein Interview mit Anselm Haverkamp. Von Juliane Rebentisch und Susanne Leeb, in: Texte zur Kunst 50/2003, S. 51. Die Rhetorik wäre dann genau jene Kunst, die diese Einsetzbarkeit markieren und so vorführen kann, dass »die Technik als ein Latenthaltungsinstrument durchschaubar oder auswertbar oder lernbar« ist. 284. Exemplarisch für diese Umschrift um 1800 ist die ästhetische Theorie Schillers. Die schöne Kunst wird dort als der eigentliche Gegenstand des Ästhetischen bestimmt und von der bloßen Kunstfertigkeit unterschieden. In einem Brief an Körner (03.02.1794) erläutert Schiller das Modell: »Aber sehr oft geschieht es, dass man ein Urteil des Geschmacks zu fällen glaubt, wenn man bloß über diese technische Vollkommenheit urteilt, und daher rührt es, dass man in den Begriff der Schönheit Eigenschaften aufgenommen hat, welche bloß der Wahrheit und der Brauchbarkeit gelten. Scheidet man nun aber das Technische von dem Ästhetischen und trennt von dem Begriff der Spezies (der schönen Kunst), was bloß den Begriff der Gattung (Kunst schlechtweg) angeht, so ist man erst auf dem rechten Wege zur Entdeckung der Schönheitsregeln.« 285. Anselm Haverkamp: »Wie die Morgenröthe zwischen Tag und Nacht. Alexander Gottlieb Baumgarten und die Begründung der Kulturwissenschaften in Frank-

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Baumgartens Ästhetik der sinnlichen Erkenntnis funktioniert laut Haverkamp auf der verdeckten Grundlage rhetorischer Technik, die von der Philosophie nicht aufgehoben, sondern lediglich in die Latenz verschoben werden konnte. Ironie und Allegorie, die sich gegenseitig vertreten können, kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu, da es sich um jene beiden Tropen handelt, die latent immer auch Figuren sind und genau deshalb ihre Wirkung unkontrolliert und unkontrollierbar entfalten können. Genau diese Problematik wird 1758 im zweiten Teil von Baumgartens Ästhetik verhandelt: »Omnis tropus, quem definui, est figura, sed cryptic, cuius genuine forma non statim apparet, quoniam est figura contracta per substitutionem (Jeder Tropus, wie ich ihn definiert habe, ist eine Figur, aber eine versteckte Figur [Bodmer sagt: heimliche Ironie], deren angestammte Form nicht gleich in Erscheinung tritt, weil es sich um eine durch Substitution herbeigeführte Figur handelt).«286

Neben Derrida, Jakobson und Blumenberg ist es vor allem Paul de Man, der diesen lange verdrängten Untergrund wieder in die Oberflächen ästhetischer und erkenntnistheoretischer Analysen eingeschrieben hat.287 Die sophistische Auffassung der Rhetorik als einer geheimen Macht in der Sprache, die der Redner Gorgias noch in Analogie zur Magie bestimmt hatte (Enkomion auf Helena, 12-14), wird hier wieder aufgegriffen und als figura cryptica bestimmt. Die crypsis of method verweist, in Analogie zu der Verborgenheit Gottes, auf eine Macht der Technik in oder hinter dem Text, die zwar verschiedene rhetorische Formen annehmen kann, dabei aber selbst unsichtbar bleibt. Daher furt an der Oder«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 76/1 (2002), S. 8 und S. 16. 286. »Baumgarten beruft sich durchgehend auf Quintilian, und es ist anzunehmen, dass er an dieser Stelle die den Tropen innewohnende Latenz zur Figur meint und zur ästhetischen Konsequenz geführt hat. Aber er tut es über Ramus und dessen genera der vier Haupttropen, die er in der Reihenfolge Metapher, Synekdoche, Ironie, Metonymie aufzählt und als contracta auffasst, in denen die Latenz der Figur qua crypsis angelegt ist. Das heißt, die vier Tropen Metapher, Synekdoche, Ironie, Metonymie sind latente Allegorien, deren Substituierbarkeit nach Typen von contracta qua Substitution logisch begrenzt ist.« Anselm Haverkamp: Metapher. Die Ästhetik in der Rhetorik. Bilanz eines exemplarischen Begriffs, München 2007, S. 44. Baumgarten wird hier in der Übersetzung von Haverkamp wiedergegeben. 287. »Roman Jakobson, Hans Blumenberg, Paul de Man, die wichtigsten Anregungen der letzten fünfzig Jahre zu nennen, haben linguistisch, philosophisch und literaturwissenschaftlich, vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus, in Anknüpfung an das Lexikon desselben Quintilian, den Baumgarten neu schrieb, Cassirers Vorschlag der ›symbolischen Formen‹ veralten lassen, ohne die Prägnanz dieses Ausdrucks gegenstandslos zu machen. Tatsächlich hat die Konstruktion der figura cryptica selbst, als Prägnanzfigur ästhetisch zweiter Natur, wenn nicht einen neuen Allegoriebegriff, so doch dessen Pseudomorphose im Symbol Goethes oder in Marx’ und Freuds Fetisch aufgerufen und möglich gemacht.« A. Haverkamp: Wie die Morgenröthe zwischen Tag und Nacht, S. 17.

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kann innerhalb einer Theorie der Rhetorik nicht definiert werden, was eine figura cryptica eigentlich ist, sondern diese kann sich nur uneigentlich (in konkreten Lektüren) aufzeigen lassen.288 Die figura cryptica, da sie nicht dem traditionellen Ensemble der Tropen und Figuren entstammt, hat die Funktion eines Stellvertreters (»Jokers«) inne.289 In Analogie zur Bestimmung der Ironie bei de Man lässt sie sich entweder als eine universale Trope denken, die in einer konkreten Analyse für alle anderen Tropen einstehen kann (als deren Simulation), oder als eine theoretische Markierung der verborgenen Rhetorizität in der ästhetischen Repräsentation selbst. Die veranschlagte Reichweite ist gewaltig. So soll die figura cryptica nicht nur einen neuen Allegoriebegriff (oder dessen »Pseudomorphose im Symbol Goethes«) und die Konzeption des Fetisch im Werk von Freud und Marx möglich gemacht haben, sondern auch in der gegenwärtigen Mediendebatte den Begriff der Medien selbst ersetzen können. Wider das Apriori der Rede von Medialität setzt Haverkamp – darin eher Nietzsche als de Man verpflichtet – das Apriori der Rhetorik: »Die Medien stehen für die Latenz dessen, was Repräsentation pauschal als Leistung unterstellt wird. Ich schlage vor, anstelle der ›Medien‹ – an der Stelle im genauen Sinne dessen, wofür sie stehen, und dass sie überhaupt für etwas außer ihnen selbst, sponte sua, stehen – Latenz als Grundbegriff der Kulturwissenschaften zu supponieren.«290 288. »Als Theorie der Latenz ist Poetik immer nur ansatzweise, in immer anders gelagerten Ansätzen, auf manifeste Gestalten zu bringen, kann sie der singulären Natur der Sache nach nur diskontinuierlich auftreten und handgreiflich werden. Sie kommt immer anders, an immer anderen aistheta in den Blick, macht immer andere Geschichten.« A. Haverkamp: Figura cryptica, S. 18. 289. Da das Konzept der figura cryptica sich selber gerne kryptisch ausspricht, muss man sich auf den Klartext verlassen, der das Gegenkonzept polemisch kennzeichnen soll und daher außerhalb der eigenen Bestimmungsversuche steht. Denn was Haverkamp in Parenthese über den Begriff der Medien verkündet, lässt sich auch auf die »crypsis of method« problemlos übertragen: »Indem ich Rhetorik an die Stelle setze, an der in ihrem Programm Medien steht – jener Fetisch, der allen Fortschritt als Sollwert verblassen lässt und als Joker alle kulturtheoretischen Patiencen löst – lokalisiere ich die Medialität der Mittel anders.« Anselm Haverkamp: »Repräsentation und Rhetorik. Wider das Apriori der neuen Medialität«, in: Georg Stanitzek/Wilhelm Vosskamp (Hg.), Schnittstelle. Medien und kulturelle Kommunikation, Köln 2001, S. 77. 290. A. Haverkamp: Figura cryptica, S. 10. In der früheren Fassung dieser Einleitung zu einer Theorie der literarischen Latenz – die Kapitel der Monographie sind allesamt überarbeitete Versionen von Aufsätzen, die bereits in den 1990er Jahren veröffentlicht wurden – geht Haverkamp noch deutlicher auf diese Ersetzung und ihre forschungspolitischen Implikationen ein: »Ohne Rhetorik und den von ihr begründeten Repräsentationsbegriff gibt es keinen Medienbegriff, haben wir keinen und sind wir außerstande, uns einen auch nur zu machen. […] Ich widerspreche damit unter anderem dem uneingeschränkten Technik-Apriori, dem diese Entwick-

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Die Repräsentation der Medien entpuppt sich in dieser Lesart als das verborgene Apriori der Rhetorik, deren Tropen und Figuren an die Stelle der Medien und deren Begrifflichkeit treten (sollen). Die Universalisierung der Dekonstruktion zu einer Theorie literarischer Latenz überschätzt dabei zwar eventuell den Beitrag der eigenen Disziplin (Rhetorik, Komparatistik) zu einer allgemeinen Medienkulturwissenschaft, aber der Einsatz kann als Bereicherung angesehen werden und scheint sich zu lohnen. Ein nicht auf Persuasion, sondern auf Technik zentrierter Rhetorikbegriff bietet die Möglichkeit, das traditionelle Wissen der Philologie auch innerhalb einer neu formierten Kulturwissenschaft anschlussfähig zu kommunizieren. In dieser Lesart könnte Kulturwissenschaft mehr sein als ein »bloßer Medien-Nachvollzug«. Die Systemstelle der Medien vertritt bei Haverkamp eine rhetorisch informierte Philologie, die weder einer literarischen Fiktionalität oder Sinngebung noch einem wie immer gearteten Klartext ergeben ist, sondern Lektüren betreibt, um deren Revidierbarkeit sie weiß. Latenzbeobachtung heißt also nicht, hinter den medialen Oberflächen einen Klartext aufzuspüren, sondern bezeichnet die Möglichkeit das in einem gegebenen kulturellen Moment Sagbare und Unsagbare, Gesagte wie auch und wesentlich Ungesagte zu beschreiben.291 Die Rhetorik bietet sich als Vermittlung zwischen Medienwissenschaft und Literaturwissenschaft besonders an, weil sie den blinden Fleck in der Kommunikation zwischen den Disziplinen benennt: So wie das medientheoretische Paradigma an einer verkürzten Kritik der literaturwissenschaftlichen Methodik laboriert, weil es die rhetorische Qualität von Texten unterschlägt, so scheint das rhetorische Paradigma medientheoretische Implikationen zu transportieren, sobald man es von der Hermeneutik abgrenzt.292 Denn die radikale Formalisierung der Rhetorik, wie sie von Paul de Man betrieben wird, kann in letzter Konsequenz nur Programmierung heißen:

lung in unseren Mediendiskussionen unterworfen wird; die Rede im Namen ihrer Arbeitsgruppe von den medialen Bedingungen gibt davon einen Begriff. Sinnvoll wäre ein solches Apriori aber allenfalls – wenn man an einer Apriorisierung von Mediengeschichte überhaupt interessiert sein sollte – als eins der rhetorischen téchne aufzufassen.« A. Haverkamp: Repräsentation und Rhetorik, S. 77. Hinter diesem Einsatz lässt sich eine forschungspolitische Wunschkonstellation vermuten, was sich schon daran zeigt, dass die ›Schule‹ nicht müde wird, den Einsatz zu wiederholen: »Kulturwissenschaft unter dem Grundbegriff der Latenz kann mithin, legt man einen solchen Medienbegriff zu Grunde, nicht mehr einfach oder allein ›Medienwissenschaft‹ sein.« Thomas Khurana/Stefanie Dieckmann: »Latenz. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Latenz. 40 Annährungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 13. 291. Diese Form der Latenzbeobachtung markiert die Einheit der durchaus heterogenen Kapitel in dem Buch von Anselm Haverkamp: Latenzzeit. Wissen im Nachkrieg, Berlin 2004. 292. Ausführlich zu dieser Debatte ist Lars Friedrich: »Die Rhetorik der Programmierung. Kittler, de Man und die Allegorie der Zahl«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 78/3 (2004), S. 501.

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»So aufgefasst, erreichen die Tropen die Voraussagbarkeit, die der einer Maschine gleicht. Sie setzen die Formen in Gang wie die Kurbel einen Leierkasten. […] Die Vorzüge dieser Formalisierung sind beträchtlich. Sie garantieren unter anderem die Kontinuität und das Gleichgewicht, die für die Schönheit der Linien und Gestalten eine notwendige Bedingung sind.«293

Rhetorische Programmierung, verstanden als die verborgene Steuerung von Repräsentation, bezeichnet keinen Zugriff von außen, sondern eine selbstrekursive Funktion der Text-Maschine. Die Rekursion besetzt dabei genau jene Stelle, die im geisteswissenschaftlichen Diskurs die Reflexion eingenommen hatte.294 Der Unterschied besteht vor allem darin, dass eine rekursive Funktion sich selbst entweder direkt oder indirekt aufrufen kann (Rhetorik), anstatt, wie im Fall der Reflexion, bloß semantische Anschlüsse an die eigene Themenstellung zu generieren (Hermeneutik). Latenz als ein Grundbegriff der Kulturwissenschaften könnte diese verdeckte Rhetorizität auch im Gebrauch der neuen Medien thematisch werden lassen: »Theatralität, Bühne und Rahmen, Apparate und Maschinen, stützen diesen Auftritt [der Latenz], der das Auftreten der Rhetorik in der Maske der Repräsentation ist. Sie verdienen deshalb die erneute Aufmerksamkeit, die man ihnen schenkt, bis in jedes technische Detail.«295 Die Latenz ist also nicht nur medientechnisch vermittelt, sondern die Repräsentationen der modernen Medien folgen laut Haverkamp auch selbst einer rhetorischen Struktur, die ihnen verborgen ist. Aber so wichtig diese rhetorische Grundlegung der Medienkulturwissenschaft auch sein mag, kann nicht übersehen werden, dass die politische Analyse der Mediengesellschaft sich kaum an dem Verlegenheitsbegriff der »Latenzzeit« orientiert,296 sondern in dem Begriff der »Theatralität« eine Synthese 293. Paul de Man: »Ästhetische Formalisierung: Kleists Über das Marionettentheater«, in: Ders.: Allegorien des Lesens, Frankfurt a.M. 1988, S. 228ff. Geoffrey Bennington und Lars Friedrich haben de Mans Formalisierungstechnik rhetorischer Strukturen konsequent als Maschinenlesbarkeit bzw. Programmierung beschrieben: »De Man reads like a machine. But he also reads machines; and insofar as his readings are texts, they are machines too.« Geoffrey Bennigton: »Aberrations. De Man (and) the machine«, in: Lindsay Water/Wlad Godzich (Hg.), Reading de Man Reading, Minneapolis, London 1989, S. 214. 294. Zum Unterschied zwischen Rekursion und Reflexion im kulturwissenschaftlichen Diskurs siehe kurz und prägnant Markus Krajewski: »Ein Brief zur Moderne der Moderne der Moderne«, in: Arch+. Zeitschrift für Architektur und Städtebau. Nr. 146 (1999), S. 43-45. 295. A. Haverkamp: Figura cryptica, S. 16. 296. »Latenzzeit ist ein Verlegenheitsterminus, ein Vorschlag, wie man mit der Periode der fünfziger Jahre umgehen kann, in deren Leere etwas passiert sein muss, selbst wenn es nicht sichtbar ist. […] Eigentlich ist Latenzzeit ein Fachterminus aus der Psychoanalyse für eine Phase in der Individualentwicklung des Kindes, in der es scheinbar keine Entwicklung gibt, in der aber dennoch die Voraussetzungen für alles Weitere gegeben werden. Die Verlegenheit besteht darin, dass sich dieser Begriff nicht einfach auf Kulturelles verallgemeinern lässt, zumal die Psychoanalyse

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aus Rhetorik, Medienöffentlichkeit und dem Politischen verfolgt. Wie aber könnte eine solche Analyse der Verbindung von Latenz und politischer Form aus einer dekonstruktiven Perspektive erfolgen? Als mögliche Antwort auf diese Frage soll zum Abschluss noch ein kurzer Blick auf einen Theoretiker der Latenz geworfen werden, dessen Denken dem Paradigma der Dekonstruktion nahe steht und dem es laut Anselm Haverkamp gelungen ist, das »Betriebsgeheimnis der europäischen Demokratie«297 offen zu legen. Denn »wenn man sich die Frage vorlegt, ob man Latenz als Grundbegriff der Kulturwissenschaften ansetzen sollte, so hätte man in Agamben ganz gewiss einen Verbündeten«.298 Dieser Vermutung von Andreas Platthaus gilt es im Folgenden nachzugehen.

2.4.4 B IOPOL I T IK

UND B E T R IEBSGEHE IMNI S SE DER EUROPÄ I SCHEN D EMOKR AT IE (A GAMBEN )

Laut Giorgio Agamben hat die Geburt der modernen Demokratie und der Menschenrechte ein verborgenes Fundament, dass er als »Biopolitik« und Produktion des »nackten Lebens« bezeichnet. Den Analysen von Foucault folgend, der die Aufgabe der Polizei im 18. Jahrhundert als eine »Sorge um das Leben« anhand von Autoren wie Heinrich Gottlob von Justi oder Johann Peter Frank bestimmt hatte, ist die moderne Politik laut Agamben durch ein Verschwinden des Politischen gekennzeichnet, an dessen Stelle eine Logik der Polizei tritt: »In seiner Unterscheidung zwischen ›Politik‹ und ›Polizei‹ weist von Justi ersterer eine rein negative Aufgabe zu (die Bekämpfung der inneren und äußeren Feinde des Staates), letztere eine positive (die Pflege und das Wachstum des Lebens der Bürger). Man kann die nationalsozialistische Biopolitik (und mit ihr einen guten Teil der modernen Politik auch außerhalb des Dritten Reichs) nicht verstehen, wenn man nicht sieht, dass sie das Schwinden der Unterscheidung zwischen den beiden der fünfziger Jahre selbst als Symptom gelesen werden kann. […] Paul de Man hat – übrigens auch in dieser Zeit – die Formel ›Blindness and Insight‹ aufgebracht. Diese Formulierung eignet sich zur Beschreibung der Situation in den Fünfzigern besser als die allzu patente von der »Stunde Null«, die so tut, als käme was Neues – ja, und dann kam nichts.« »Latenzzeit. Die Leere der fünfziger Jahre. Ein Interview mit Anselm Haverkamp. Von Juliane Rebentisch und Susanne Leeb«, in: Texte zur Kunst, S. 45f. Zu der paradoxen Verbindung von »Blindness and Insight« in der Medienöffentlichkeit, sowie dem synthetischen Begriff der »Theatralität« siehe ausführlich das Kapitel 2.3 Öffentlichkeit in diesem Band. 297. Anselm Haverkamp: »Das Betriebsgeheimnis der europäischen Demokratie. Giorgio Agambens ›Homo Sacer‹ – Anmerkungen zu einem lebenswichtigen Buch«, in: Literaturen 01 (2001), S. 23-25. 298. Andreas Platthaus: »Blindheit. Wie Giorgio Agamben der Latenz auf den Grund geht«, in: Stefanie Diekmann/Thomas Khurana (Hg.), Latenz. 40 Annährungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 47.

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Gliedern impliziert: Die Polizei wird nun Politik, und die Sorge um das Leben fällt mit dem Kampf gegen den Feind zusammen.«299

Das Leben der Untertanen, das im Feudalismus keine politische Rolle gespielt hatte, wird seit dem 19. Jahrhundert zunehmend zu einem Objekt der Politik, die dadurch Biopolitik geworden ist und sich als Polizei verhält. Dieser Konvergenz von Politik und Polizei entsprich in der Lesart Agambens die Konvergenz von Demokratie und Totalitarismus. Denn beide Regierungsformen haben eine gemeinsame Basis in der Produktion eines nackten Lebens, dem zentralen Thema der modernen Politik.300 Agamben betont allerdings nicht so sehr den biopolitischen Bruch in der Geschichte der Herrschaft seit dem 18. Jahrhundert, sondern untersucht in historisch unterschiedlichen Machtkonstellationen biopolitische Aspekte, die sich im Verlauf der Moderne radikalisiert haben. Für Foucault ist die vormoderne Souveränität durch ihre Macht gekennzeichnet, die Untertanen jederzeit sterben lassen zu können (die Hinrichtung der Untertanen), wohingegen die moderne Macht sich dadurch auszeichnet, das bloße Leben zu gestalten (die Biopolitik der Bevölkerung).301 Das Recht über Leben und Tod – sterben zu machen oder Leben zu lassen – kennzeichnet also die vormoderne souveräne Herrschaft. Diese Herrschaft ist in Bezug auf die Untertanen nicht produktiv, denn sie unterhält ein rein negatives Verhältnis zu deren Leben. Moderne Herrschaftsformen brechen mit diesem Prinzip und versuchen entsprechend das Leben der Bevölkerung zu verlängern, verbessern und produktiv zu nutzen. Agamben hingegen konstatiert keinen historischen oder strukturellen 299. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben (1995), Frankfurt a.M. 2002, S. 156. 300. Agamben verweist zur Erläuterung dieser These – neben Michel Foucault und Leo Strauss – auch auf Hannah Ahrendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus (1951), München 1986, S. 452ff. In diesem Buch verbindet Ahrendt die Erfindung und den Schutz der Menschenrechte mit der Existenz des modernen Nationalstaats. Wo dieser Staat in eine politische Krise, in faktische Bedeutungslosigkeit oder an Menschen gerät, die ohne staatliche Zugehörigkeit sind (Flüchtlinge, Nomaden, Lagerinsassen unter Schutzhaft, homines sacri usw.), komme auch der Begriff des zivilisierten Menschen an sein Ende und entstehe ein neues Barbarentum. Denn ein Flüchtender, dessen Status nicht von einer nationalen Institution begutachtet wurde, besitzt offenbar gar keine Rechte, noch nicht einmal Menschenrechte. Der supranationalen Verrechtlichung des Menschen korrespondiert also auch die Möglichkeit seiner totalen Rechtlosigkeit. Die gegenwärtige Trennung zwischen humanitärer Hilfe und dem Politischen bezeichnet genau jene Grenze zwischen den Menschen- und den Bürgerrechten. Der Mensch der Menschenrechte ist daher der Homo Sacer und nicht der Bürger. Diese Überlegungen von Hanna Ahrendt zu den Elementen und Ursprüngen totaler Herrschaft sind der Ausgangspunkt von Agambens kritischer Betrachtung der so genannten Humanität von Menschenrechten. 301. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1988, S. 160-172.

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Gegensatz zwischen Souveränität und Biopolitik, Recht und Polizei, sondern ganz im Gegenteil zu Foucault deren Komplizenschaft. Die Biopolitik sei im Abendland vielmehr immer schon der Kern von souveräner Macht gewesen: »Die vorliegende Untersuchung betrifft genau diesen verborgenen Kreuzpunkt zwischen dem juridisch-institutionellen Modell und dem biopolitischen Modell der Macht. […] Man kann sogar sagen, dass die Produktion eines biopolitischen Körpers die ursprüngliche Leistung der souveränen Macht ist. In diesem Sinn ist die Biopolitik mindestens so alt wie die souveräne Ausnahme. Indem der moderne Staat das biologische Leben ins Zentrum seines Kalküls rückt, bringt er bloß das geheime Band wieder ans Licht, das die Macht an das nackte Leben bindet und knüpft auf diese Weise […] an das Unvordenkliche der arcana imperii an.«302

Aber der Verweis auf den theoretischen Einfluss von Foucault führt leicht in die Irre, denn auch wenn Agamben mehrfach betont hat, an die Untersuchungen von Foucault anzuschließen, so entlehnt er aus dessen Arbeiten doch nur den aufmerksamkeitsbindenden Terminus, verfolgt aber keineswegs eine Diskursanalyse oder genealogische Untersuchung dieser neuen »Biopolitik«.303 Seine Methode kann eher als ein philosophisch-philologisches Lektüreverfahren beschrieben werden, dessen Vorliebe für Aporien und Paradoxien wohl nicht zufällig an die rhetorisch orientierte Dekonstruktion von Derrida und de Man erinnert.304 Der neue Protagonist der modernen Politik, das nackte Leben, wird laut Agamben durch einen zunehmend auf Dauer gestellten Ausnahmezustand konstituiert, d.i. laut Carl Schmitt, auf den sich Agamben hier maßgeblich bezieht, die paradoxe Situation einer rechtlichen Aufhebung der Verfassung um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schützen. In den von Agamben und auch Rancière so genannten postdemokratischen Gesellschaften der Gegenwart existiert somit eine strukturelle Analogie zu einer kommissarischen Diktatur, in der Teilbereiche der Verfassung oder einige Grundsätze des Rechts suspendiert werden können, ohne dabei ihre formale Gültigkeit zu verlieren, weil die Suspension nur eine konkrete Ausnahme bedeutet, de-

302. G. Agamben: Homo Sacer, S. 16. 303. Maria Muhle hat eine solche Genealogie der Biopolitik vorgelegt und dabei

ausführlich gezeigt, inwiefern das Projekt von Agamben keineswegs als Fortführung des Denkens von Foucault begriffen werden kann: »Während Foucault das Leben als einfaches und methodisch unbestimmtes fasst, wird es bei Agamben zu nacktem oder bloßem Leben, das sich vom qualifizierten Leben abgespalten hat. […] Im Gegensatz zu den Thesen Agambens soll in der vorliegenden Arbeit gezeigt werden, dass das Zusammenfallen von Biopolitik und souveräner Macht keine Notwendigkeit hat, die in der Bestimmung der Biopolitik begründet läge.« Maria Muhle: Eine Genealogie der Biopolitik. Zum Begriff des Lebens bei Foucault und Canguilhem, Bielefeld 2008, S. 21 und S. 38. 304. Eva Geulen: Giorgio Agamben zur Einführung, Hamburg 2005, S. 17-31 und S. 127-128.

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ren Dauer und Gültigkeit aber flexibel gehandhabt werden kann.305 Ohne hier weiter auf diese komplexe Logik des Ausnahmezustands eingehen zu können, soll lediglich festgehalten werden, dass Agambens Lektüre von Schmitts Souveränitätslehre sich nicht so sehr für die geschichtsphilosophischen oder rechtshistorischen Thesen interessiert, sondern hauptsächlich für die rhetorische Figur einer ausschließenden Einschließung (des nackten Lebens außerhalb der Gesetze, aber im Bann der Souveränität) und deren Umkehrung in einer einschließenden Ausschließung (des Souveräns, der über den Gesetzen steht). Diese Paradoxie bildet den theoretischen Kern von Agambens politischer Philosophie und beruht auf einer altgriechischen Unterscheidung innerhalb des Begriffs vom Leben, sowie einer Figur aus dem römischen Recht, dem Homo Sacer, d.i. jenes nackte Leben, das laut Agamben von jedem getötet werden kann, aber nicht geopfert werden darf. Die Griechen kannten für das, was seit den Römern mit dem Begriff Leben (vita) bezeichnet wird, kein eigenes Wort, sondern gebrauchten zwei Begriffe, die eine qualitative Unterscheidung markieren: zoé bedeutet das bloße Leben als solches, das alle Lebewesen teilen (Tiere, Menschen und auch Götter), bíos hingegen meint eine bestimmte Lebensform, z.B. das kontemplative Leben der Philosophen (bíos theoretikós) oder das politische Leben (bíos politikós) in der pólis. Es handelt sich also um die Unterscheidung zwischen einem unqualifizierten Leben, das an sich keinen weiteren Wert hat, und einem qualifizierten Leben, dem die Aufmerksamkeit und Wertschätzung der abendländischen Philosophie gehört. Ziel und Endzweck eines Mitglieds der Ge305. Bereits Carl Schmitt hatte zur Erläuterung dieser These geäußert, dass man nicht meinen solle, ein solches Unternehmen entzöge sich jeder juridischpolitischen Betrachtung, da es sich bei der souveränen Entscheidung scheinbar nur um eine bloße Machtfrage (der Definition) handelt. Das sei aber dann nicht der Fall, wenn eine Gewalt angenommen würde, die ohne selbst verfassungsmäßig konstituiert zu sein, trotzdem mit jeder bestehenden Verfassung in einem solchen Zusammenhang steht, dass sie als die begründende Gewalt erscheinen kann, auch wenn sie selbst niemals von ihr erfasst wird, so dass die Souveränität infolgedessen auch nicht dadurch negiert werden kann, dass die bestehende Verfassung sie etwa negiert. Das sei der Sinn der pouvoir constituant im Unterschied zur pouvoir constitué für die in der Verfassung eine schriftliche Rechtsgrundlage besteht. Siehe dazu Carl Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. 2. Aufl ., München, Leipzig 1928, besonders S. 135-140. Aber genau diese voraussetzungsreiche und politikwissenschaftlich fragwürdige These motiviert Agambens Lektüre von Carl Schmitts Verfassungslehre. Agambens Radikalisierung von Schmitt besteht in der Annahme, dass der Ausnahmezustand seinen Status als Ausnahme verloren habe und zu einer Norm – dem verborgenen Grundsatz des Regierens in der postdemokratischen Gesellschaft – geworden sei. Siehe dazu ausführlich Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1), Frankfurt a.M. 2004. Zur theoretischen Verknüpfung von Demokratie und Diktatur bei Carl Schmitt siehe Ulrich Thiele: Advokative Volkssouveränität. Carl Schmitts Konstruktion einer ›demokratischen‹ Diktaturtheorie im Kontext der Interpretation politischer Theorien der Aufklärung, Berlin 2003.

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meinschaft muss es also sein, ein tugendhaftes (gutes) Leben zu führen – und genau deswegen ist das rein natürliche Leben aus dieser Gemeinschaft ausgeschlossen und auf den privaten Bereich des oîkos eingeschränkt.306 Diese Unterscheidung zwischen einem bloßen Leben als Mensch und einem politisch qualifizierten Leben als Untertan oder Bürger wurde in der griechischen Philosophie noch offen verhandelt, aber bereits in der römischen Antike nicht mehr getroffen, obwohl sie untergründig weiterhin wirksam war. Das bloße Leben ist von jeder Lebensform buchstäblich entkleidet, nackt. Das nackte Leben ist der übriggebliebene Rest, wenn alle qualitativen Bestimmungen des Lebens (z.B. als tugendhaftes, gottgefälliges, rechtgeleitetes oder freiheitliches Leben) abstrahiert und abgezogen worden sind. Dieses Leben, das in der antiken pólis und auch noch in der souveränen Monarchie der Neuzeit (Territorialstaat) aus der Politik ausgeschlossen war, ist unter den modernen Bedingungen der Nation (Bevölkerungsstaat) zu einem zentralen Objekt der Politik geworden. Denn die alteuropäische Souveränität konstituierte sich nicht etwa nur über den positiven Wert eines gut geführten Lebens, sondern vor allem über den Ausschluss des nackten Lebens aus der Politik, während die moderne Souveränität durch die ausschließende Einschließung dieses Lebens in die Politik gekennzeichnet ist. Also erst durch die Unterscheidung zwischen einem qualitativen (bíos) und einem bloß quantitativen Leben (zoé) wird aus einem natürlichen Leben (vita) ein nacktes Leben (homo sacer), ganz einfach weil sich die Qualität des politischen Lebens erst aus der Negation der Qualität des natürlichen Lebens ergibt.307 306. »Die aus mehreren Dörfern sich bildende vollendete Gemeinschaft nun aber ist bereits der Staat, welcher, wie man wohl sagen darf, das Endziel völliger Selbstgenügsamkeit erreicht hat, indem er zwar entsteht um des bloßen Lebens, aber besteht um des vollendeten Lebens willen.« Aristoteles: Politik (1252b-1253a), Reinbek bei Hamburg 1994, S. 46. 307. Auch der Körper des Leviathan, der ja als Kompositkörper aus den Leibern seiner Untertanen geformt ist, kann in diesem Licht neu gelesen werden. Denn es sind laut Agamben genau diese absolut tötbaren Leiber der Bevölkerung, die den neuen politischen Körper des Abendlandes bilden. Zu Agambens These über eine verborgene Thanatopolitik in der modernen Biopolitik siehe Leander Scholz: »Während für Leo Strauss die Aristotelische Unterscheidung zwischen einem guten und einem bloßen Leben diejenige Unterscheidung ist, die es erst ermöglicht, das Ideal der Zivilisation ins Werk zu setzen und dem Politischen ein télos abzulesen, sieht Agamben die eigentliche Leistung dieser Unterscheidung in der Absonderung eines bloßen Lebens von einem politisch qualifizierten Leben. […] Dem Ideal des politischen Lebens ist das natürliche Leben daher von Anfang an in der Form seiner Ausschließung eingeschrieben, so dass geradezu in Umkehrung zu Strauss das télos des Politischen nicht in den Möglichkeiten der Aufrichtung eines Ideals angesichts des natürlichen Lebens besteht, sondern in den Möglichkeiten, in denen das natürliche Leben negiert werden kann.« Leander Scholz: »Jenseits des Liberalismus. Giorgio Agamben und die Kritik der modernen politischen Philosophie bei Leo Strauss und Carl Schmitt«, in: Janine Bröckelmann/Frank Meier (Hg.), Die gouvernementale Maschine. Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster 2007, S. 166-188.

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Die Geburt der modernen Demokratie, in der sich der Mensch als Subjekt der politischen Macht begreift und universelle Menschrechte deklariert, geht einher mit dem Aufkommen einer anthropologisch und pädagogisch geschulten Disziplinarmacht, die den Menschen als nacktes Leben zu dem spezifischen Objekt ihrer Machtpolitik erhebt. In Inversion von Aristoteles könnte man sagen: der moderne Staat entsteht aus dem vollendeten und politisch qualifizierten Leben seiner Bevölkerung, besteht aber nur noch um deren nackten Lebens willen. Diese scheinbar gegenläufigen Prozesse, die sich auch in der Unterscheidung zwischen Demokratie und Totalitarismus manifestieren, haben jedoch in ihrem zentralen Interesse an dem nackten Leben der Bevölkerung ein gemeinsames verborgenes Fundament: »Der Niedergang der modernen Demokratie und ihre zunehmende Konvergenz mit den totalitären Staaten in den postdemokratischen Spektakel-Gesellschaften […] finden ihre Wurzel vielleicht in dieser Aporie, die den Beginn der Demokratie markiert und sie zu einer geheimen Komplizenschaft mit ihrem erbittertsten Feind zwingt. Unsere Politik kennt heute keinen anderen Wert (und folglich keinen anderen Unwert) als das Leben, und solange die Widersprüche, die sich daraus ergeben, nicht gelöst sind, werden Nazismus und Faschismus, welche die Entscheidung über das nackte Leben zum höchsten politischen Kriterium erhoben haben, bedrohlich aktuell bleiben. […] In dieser Perspektive wird das Lager, dieser reine, absolute und unübertroffene biopolitische Raum (insofern er einzig im Ausnahmezustand gründet), als verborgenes Paradigma des politischen Raumes der Moderne erscheinen, dessen Metamorphosen und Maskierungen zu erkennen wir lernen müssen.«308

»Das Lager« ist also ein verborgener biopolitischer Raum, der sich zeigt, wenn der Ausnahmezustand zur Regel zu werden beginnt. Diese steile These bildet den provokativen Teil von Agambens politischer Philosophie und hat maßgeblich zur Popularität oder Verwerfung seiner Thesen beigetragen. Unabhängig davon, ob man die politische Einschätzung und die historischen Vergleiche plausibel findet, liegt ein wesentlicher Verdienst dieser These in der neuen analytischen Aufmerksamkeit, die den verborgenen Bedingungen der westlichen Demokratien gilt. Denn deren biopolitische Bestimmung gründet laut Agamben in der Paradoxie, dass jenes Leben, das sich als ein neues souveränes Subjekt, als Volkssouveränität und Träger der Menschenrechte präsentiert, sich nur dadurch konstituieren kann, dass es die Geste der souveränen Ausnahme wiederholt und sich selbst als nacktes Leben von allen qualitativen Bestimmungen isoliert. Solange die Demokratie weiterhin nur in den Kategorien der Souveränität denkbar erscheint, als eine politische Herrschaftsform neben anderen, kann sie diesem Riss zwischen Recht und Gewalt, zwischen Bürger und Mensch, der durch sie hindurchgeht und dem sie ihre Existenz verdankt, nicht entkommen. Auch wenn Agamben eine Antwort auf die Frage nach einem alternativen Denken der Demokratie schuldig bleibt, ist es sein Verdienst auf die

308. G. Agamben: Homo Sacer, S. 20, S. 131 und S. 175-189.

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Logik der einschließenden Ausschließung des Menschen, jene »Achillesferse nationalstaatlicher Demokratie«309, aufmerksam gemacht zu haben. Die Errungenschaften der Demokratie, die möglichst Große Teilhabe aller Menschen an der Produktivität der Gesellschaft, auch »Lebensqualität« genannt, hat laut Agamben also eine dunkle Seite: das offenbare Geheimnis der Menschrechte und die Latenz des Lagers als biopolitisches Paradigma der Moderne: »Derrida hat deshalb vom gut gehüteten ›Geheimnis der europäischen Verantwortung‹ gesprochen: […] Der europäische Ursprung des Politischen birgt eine Urszene, deren verleugnete, nicht verdrängbare, sondern immer neu nachvollzogene Belastung mit eben den Ursprüngen des Rechtsstaats identisch ist, auf die sich das demokratische Bewusstsein viel, wenn nicht alles zugute hält. Deren Latenz ist nicht der demokratische Fortschritt, sondern die untergründig mitgeschleppte Barbarei.«310

Die untergründig mitgeschleppte Barbarei, von der Anselm Haverkamp spricht, hat ihren Ursprung in der Erklärung der Menschenrechte, jener Proklamation, die wie keine andere demokratische Errungenschaft die ethische Superiorität und den Fortschritt der Demokratie gegenüber allen anderen politischen Formen begründen soll. Das demokratische Paradox besteht darin, das bloße Leben an sich zu einem ethischen Wert zu erklären, dessen Rechte jedoch nur als Bürgerrechte innerhalb eines Nationalstaats garantiert werden können. Dieses bloße Leben wird dadurch gleichzeitig aufgewertet und abgewertet, indem es einerseits einen prominenten Platz innerhalb des Gemeinwesens einnimmt, der ihm in der Tradition noch verwehrt wurde, andererseits aber eben auch dem staatlichen Zugriff – der seine Souveränität als Volkssouveränität nicht nur auf dieses Leben gründet, sondern auch unbeschränkt über es ausüben kann – völlig ausgeliefert ist: »Das Geburtsprinzip und das Souveränitätsprinzip, im ancien régime getrennt, vereinigen sich jetzt unwiderruflich, um den Grund des neuen Nationalstaats zu bilden. Die darin implizierte Fiktion besagt: Die Geburt (nascita) wird unmittelbar Nation, einen Bruch zwischen den beiden Momenten kann es nicht geben. Rechte, heißt das, kommen dem Menschen nur in dem Maße zu, indem er die unmittelbar sich verflüchtigende Voraussetzung für den Bürger ist (als die er, mehr noch, niemals in Erscheinung treten darf).«311

Von aller Transzendenz entkleidet, ist jenes bloße Leben, das für das Gemeinwesen belanglos war und als natürliches Leben Gott angehörte, buchstäblich diesseitig und nackt geworden. Dieses nackte Leben besitzt an sich keinen Wert mehr, der ihm nicht gesetzlich zugeschrieben worden ist. In dieser Freisetzung ist gleichzeitig sein Ausgeliefertsein begründet. Agamben verdeutlicht 309. A. Haverkamp: Das Betriebsgeheimnis der europäischen Demokratie, S. 25. 310. Ebd., S. 24. 311. Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik, Freiburg/Berlin

2001, S. 28; siehe auch G. Agamben: Homo Sacer, S. 136-137.

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diese paradoxe Situation – dass die Verrechtlichung des Menschen gleichzeitig zu seiner totalen Rechtlosigkeit führen kann – anhand einer Lektüre der Déclaration des droits de l’homme et du citoyen von 1789, dem Gründungsdokument der Menschrechte in Europa. Schon an dem Titel der Deklaration der Rechte des Menschen und des Bürgers ist die widersprüchliche Konzeption ablesbar. Denn die Menschenrechte sind einerseits deklariert worden, sind aber keine Rechte des Menschen, denn der Kollektivsingular kann weder als Gesetzgeber, noch als Adressat auftreten. Die Nationalversammlung wiederum kann nur die Rechte der französischen Bürger garantieren, die ihnen nicht nur abstrakt, sondern eben auch gesetzlich zugesichert worden sind. Die Menschrechte dagegen sind absolute Rechte und stehen damit zugleich über als auch außerhalb der positiven Rechtsordnung.312 1789 revolutioniert sich der Untertan also zu einem Bürger, der zwar zum unmittelbaren Grund der Souveränität erklärt wird, gleichzeitig aber nicht mehr durch ein qualifiziertes Leben als Subjekt des Politischen bestimmt werden kann, sondern ganz im Gegenteil nur durch die nackte Tatsache seiner Geburt zu einem Objekt der Politik geworden ist. Die republikanische Wende politischer Herrschaft geht einher mit einer Biopolitik der Bevölkerung, die den Menschen der Menschenrechte hinter der Maske des Bürgers als homo sacer sichtbar werden lässt. Die vermeintliche Heiligkeit des menschlichen Lebens, die man in der Moderne als ein Menschenrecht gegenüber jeder Form von Souveränität beschützen oder geltend machen möchte, meint also ursprünglich ganz im Gegenteil erst einmal die Unterwerfung dieses Lebens durch eine politische Gewalt. Denn nicht nur ist die Heiligkeit des homo sacer doppeldeutig, als ein Leben, das nicht geopfert werden kann und dennoch straflos von jedem getötet werden darf, sondern dessen Verfassung ist maßgeblich durch die Figur einer doppelten Einschließung bestimmt. Diese doppelte Einschließung ist die Struktur des Ausnahmezustands, der unter modernen Verhältnissen seinen Status als Ausnahme immer mehr verliert. Und genau hier zeigt sich die Sphäre des Rechts in ihrer Wesensnähe zur Rhetorizität der Sprache und Agambens methodische Nähe zur Dekonstruktion. Der historische Kontext, so wichtig er für die Plausibilität der vorgetragenen Argumentation natürlich ist, wird auch von Anselm Haverkamp nicht als Letztbegründung der politischen Philosophie Agambens anerkannt. Denn die ihr »zugrundeliegende paradoxale Struktur der Ausschließung funktioniert ungeachtet der politisch-theologischen Überbauten. Wie eine Tiefengrammatik reguliert sie den symbolischen Apparat, der die Ambivalenzen der Besetzungen vom christlichen Märtyrer bis zum barocken Tyrannen ausagiert.«313 Wenn die paradoxale Struktur der von Agamben analysierten einschließenden Ausschließung des nackten Lebens als »Tiefengrammatik« einer politischen Form bezeichnet werden kann, dann zeigt sich daran die sprachphilo312. Ausführlich zu dieser paradoxen Anlage der Menschenrechte ist Cornelia Vismann: »Menschenrechte. Instanz des Sprechens – Instrument der Politik«, in: Hauke Brunkhorst (Hg.), Demokratischer Experimentalismus. Politik in der komplexen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 279-304. 313. A. Haverkamp: Das Betriebsgeheimnis der europäischen Demokratie, S. 25.

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sophische und rhetorische Verortung von Agambens Denken. Deutlicher als Agamben kann man nicht darauf bestehen, dass der Ausnahmezustand eine rhetorische Figur ist, deren Wahrheit einen sprachphilosophischen und keinen juridischen Hintergrund hat: »Die Sprache ist der Souverän, der in einem permanenten Ausnahmezustand erklärt, dass es kein Außerhalb der Sprache gibt, dass Sprache stets jenseits ihrer selbst ist. Die eigentümliche Struktur des Rechts hat ihr Fundament in dieser voraussetzenden Struktur der menschlichen Sprache. Sie formuliert das Band der einschließenden Ausschließung, dem ein Ding aufgrund der Tatsache, in der Sprache zu sein, genannt zu werden, unterworfen ist. Sprechen ist in diesem Sinn immer ius dicere.«314

Agamben weist selbst darauf hin, dass es unangemessen erscheinen könnte, die Struktur der souveränen Macht angesichts der Grausamkeit ihrer Faktizität mittels grammatischer und rhetorischer Kategorien zu defi nieren, aber erst unter dem Paradigma der Sprache, so muss man Agambens ausführlich durchgeführten Vergleich verstehen,315 kann man die paradoxale Struktur der ausschließenden Einschließung (des nackten Lebens in den Bann der Souveränität) angemessen beschreiben. Agamben verschiebt also ein politisch-juridisches Problem (die Ununterscheidbarkeit von Recht und Gewalt in der Figur des Ausnahmezustands) aus der Sphäre des Rechts in die Sphäre der Erkenntnistheorie (die Mittelbarkeit als Macht der Unterscheidung): »Ursprünglicher und stärker als das Recht ist nicht (wie bei Schmitt) der nómos als souveränes Prinzip, sondern die Mittelbarkeit, welche die Erkenntnis begründet«.316 Der von Agamben analysierte Ausnahmezustand, jene Achillesferse der Demokratie, »die dem Auge der Gerechtigkeit verborgen bleiben sollte«,317 ist demnach nicht nur eine topologische Figur, in der Ausnahme und Regel, Gewalt und Recht, Innen und Außen ununterscheidbar werden, sondern auch eine tropologische Figur, in der jene souveräne Ausnahme ihr verborgenes Fundament hat. Der Ausnahmezustand ist strukturiert wie eine Sprache, die Sprache selbst aber ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten. Sprechen ist in diesem Sinn immer ius dicere, d.h. in der sprachphilosophischen Tradition von Nietzsche bis Agamben ist eigentlich alles, was man gewöhnlich Recht nennt, als eine rhetorisch manipulierbare Figuration anschreibbar.

314. 315. 316. 317.

G. Agamben: Homo Sacer, S. 31. Ebd., S. 30-35. Ebd., S. 43. Ebd., S. 48.

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2.5 Unsichtbarkeit 2.5.1 C ODE S UND GEHE IME B OT SCHAF TEN (L UHMANN , M C L UHAN , K R ÄMER ) Sichtbarkeit, Bildlichkeit und Repräsentation werden durch Codes generiert. Ein Code ist ein »Sammelbegriff für jede Form tiefenstruktureller Prägung«318 und regelt in seiner allgemeinen Definition Übertragungen zwischen verschiedenen Feldern, Ebenen oder Systemen. Er wirkt gleichermaßen auf Zeichen, Strukturen, Systeme, Medien und kulturelle Praxen. Semiotik, Biologie, Kryptologie, Systemtheorie sowie Medien- und Kommunikationstheorie besetzen den Begriff des Codes zwar jeweils anders und beschreiben auf unterschiedliche Weise den Zugriff des Codes auf das jeweilige Programm. Gemein ist aber allen Ansätzen, dass eine Codierung überhaupt existiert und eine entscheidende Funktion für die Generierung von Sichtbarkeit und Repräsentation ausübt. Keine Disziplin oder Theorie kommt ohne Aspekte aus, die der medialen Repräsentation unsichtbar vorgelagert sind und aus dieser Position der Latenz steuernde und programmierende Ordnungen vorgeben. In semiotischen Theorien bezieht sich der Code beispielsweise primär auf das System der Sprache, das im Sinne Ferdinand de Saussures als Differenzialität von Zeichen aufgebaut ist. Nach Umberto Eco wird ein System, »speziell in der Sprache, aufgebaut, um Designation zu ermöglichen, also im Hinblick auf einen Kode«319. Semiotische Codes sind demnach Unterscheidungen und regeln arbiträre Systeme wie das der Sprache. Jacques Derrida spricht dabei von einem »Zentrum«, das das »Spiel« eröffnet, ihm zugleich aber eine Grenze setzt: »Indem das Zentrum einer Struktur die Kohärenz des Systems orientiert und organisiert, erlaubt es das Spiel der Elemente im Innern der Formtotalität. Und noch heute stellt eine Struktur, der jegliches Zentrum fehlt, das Undenkbare selbst dar.«320 Aus diesem Grund muss das Zentrum, das als strukturalistischer und damit auch semiotischer Code zu denken ist, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Struktur liegen. Als Grenzen errichtende Kraft ist dieser Code notwendig dem sichtbaren Spiel der »Elemente« entzogen. Aber als Spur der vorgängigen Ordnung, oder mit Derrida: als »Supplement«, ragt es aus der Latenz in das System hinein. Systeme, so Eco, sind überdies immer in einer bestimmten Weise aufgebaut, während ein Code willkürlich festgelegt wird. Seine Funktion ist folgende: »Stellen wir also fest, dass ein Kode semantische Äquivalenzen zwischen den Elementen eines Sig-

318. Annegret Horatschek: »Code«, in: Ralf Schnell (Hg.), Metzler Lexikon. Kultur der Gegenwart. Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart/Weimar 2000, S. 82. 319. Umberto Eco: Zeichen. Einführung in einen Begriff und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1977, S. 85. 320. Jacques Derrida: »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen (1966)«, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1994, S. 422-442, hier S. 422.

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nifi kantensystems und denen eines Signifi katsystems herstellt.«321 Der semiotische Code regelt also die Kopplung oder Relation zwischen zwei Systemen und sorgt für Einheit und Struktur. Er verringert dabei durch Entscheidungen, wie z.B. die Wahl einer bestimmten Sprache für einen Schreibakt, den entropischen Grad der Botschaft.322 Man könnte von einer Verknappungslogik sprechen, die der Sicherung der Information dient. Letztlich erfordert die Interpretation oder »Decodierung« einer Botschaft allerdings immer auch die Entscheidung, auf welchen Code man die jeweiligen Signifi kanten beziehen soll. Gerade im »Grenzfall der poetischen Botschaften« kann dabei der »Empfänger«, so Eco, zum »Mit-Sender« gemacht werden, da dieser sich entscheiden kann, »die Botschaft aufgrund von Kodes zu dekodieren, an die der Sender bei der Formulierung der Botschaft gar nicht gedacht hatte«323. Der genetische Code der Biologie ist ein bekanntes Beispiel für einen CodeBegriff, der Sprache und Schrift nicht semantisch, sondern als reines Zeichensystem benutzt.324 Dieser Code bezeichnet die Regeln für die Translation der Ribonukleinsäure (RNS)- oder Desoxyribonukleinsäure (DNS)-Informationen in Aminosäuresequenzen während der Proteinbiosynthese. Die für die Übersetzung verwendeten Basen Adenin, Cytosin, Guanin und Thynin für die DNS (bzw. Uracil statt Thynin für die RNS) stehen mit ihren Initialen »ACGT« inzwischen für die Absolutheit einer Schriftmetapher, deren Permutationsmöglichkeiten an die gematrischen Variationen der ars combinatoria in der Kabbala erinnert. Den genetischen Code zeichnet überdies, so auch Lily Kay, seine Universalität aus, da er unter anderem für alle Lebewesen gleichermaßen gültig ist: »Dass die DNA eine universelle Sprache sei, war inzwischen eine weitverbreitete Vorstellung geworden, nicht nur in der Biologie, sondern in der gesamten Öffentlichkeit. Sie inspirierte Roman Jakobson bei seinem Versuch, eine DNA-Linguistik zu etablieren. Nachdem der linguistische Strukturalismus in den fünfziger Jahren, ähnlich wie die Molekularbiologie, in den Bann der Informationstheorie geraten war, tauchte er in den sechziger Jahren mit bemerkenswerten Ähnlichkeiten wieder auf. Die ebenfalls starken Divergenzen wurden ignoriert. Von Manfred Eigen wurde Information schließlich ins Extrem getrieben und als ontologische Einheit des Lebens, der Evolution und der natürlichen Selektion angesehen, und das ›Wort‹ (die erste DNA-Sequenz) galt ihm als Offenbarung und (Neu-)Schöpfung zugleich. Die 321. U. Eco: Zeichen, S. 86. 322. Umberto Eco: Einführung in die Semiotik (1968), München 1991, S. 57. 323. U. Eco: Zeichen, S. 188. So stellt auch Roland Barthes die »fünf großen

Codes«, die für ihn auf die »Signifikate« von Honoré de Balzacs Novelle Sarrasine zugehen, unter das Signum des Zufalls. Roland Barthes: S/Z (1970), Frankfurt a.M. 1994, S. 23-24. Die ordnende Vorgängigkeit beschreibt Barthes so: »Der Code ist eine Perspektive aus Zitaten, eine Luftspiegelung von Strukturen. Von ihm kennt man nur Weggehen und Rückkehr. […] der Code ist die Pflugspur von diesem Schon.« R. Barthes: S/Z, S. 25. 324. Lily E. Kay: Das Buch des Lebens. Wer schrieb den genetischen Code? Frankfurt a.M. 2005; Ludger Honnefelder/Peter Propping (Hg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen? Köln 2001.

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genomische Textualität war zu einer Tatsache […] geworden; eine Metapher war wortwörtlich genommen, Analogie und Ontologie verschmolzen worden – mit allen demütigenden Einschränkungen, die das für die textuelle und materielle Beherrschung des ›Buchs des Lebens‹ bedeutete.«325

Der weiten Auffassung von Codierung, wie er in der Semiotik und noch allgemeiner in der Genetik gebraucht wird, steht der enge Code-Begriff von Kryptologie und Nachrichtentechnik gegenüber.326 Dort dient der Code sowohl der Transformation von Information in einen anderen physikalischen Zustand, wie beispielsweise die Verwandlung eines Buchstabens in ein elektrisches Signal im Morse-Code, als auch zur Verschlüsselung. Eine entscheidende Station in der Geschichte der Kryptographie ist beispielsweise die Geheimschrift Julius Caesars, die zur Grundlage für viele Verschlüsselungsvarianten wurde. Diese berühmte Codierungsregel bezeichnet eine geheime Verschiebung um drei Buchstaben im Alphabet. Eine kryptographische Codierung besteht dabei mindestens aus zwei operationalen Elementen. Zu einer »Vorschrift« bzw. zu einem »Algorithmus«, in diesem Fall einer monoalphabetischen Transposition, gehört immer ein »Schlüssel«, der in diesem Fall der Faktor »drei« ist. Eine bekannte Handhabung dieses ›Caesaren-Codes‹ ist die Chiffrierscheibe, die nach Leon Battista Alberti auch »Alberti-Scheibe« genannt wird und mit zwei gegeneinander beweglichen Alphabetkränzen funktioniert. Die Operation der Buchstabenverschiebung bleibt dadurch variabel und muss zusätzlich immer wieder abgesprochen bzw. nach einem geheimen Rhythmus verändert werden. Ein anderes Prinzip der Codierung findet sich in den Freimaurer-Codes des 18. Jahrhunderts. Diese beruhen nicht auf einem Transpositionsalgorithmus, sondern auf einer einfachen Substitution. So verteilten die Freimaurer die Buchstaben des Alphabets auf verschiedene Muster, wie z.B. sich mehrfach kreuzende Linien und Gitter, zum Teil mit Punkten im jeweiligen Abschnitt versehen. Die graphischen Teilmuster treten dann in der verschlüsselten Botschaft an die Stelle des Buchstabens, der in dem jeweiligen Abschnitt steht. Diese Codes finden sich noch heute häufig auf Grabsteinen von Freimaurern. Zusammengefasst stehen die Kryptologie und die auf kryptographischen Grundlagen beruhende Nachrichtentechnik am deutlichsten für eine Manifestation von Schrift, deren generierender Code konstitutiv in der Latenz, im Geheimen verharrt. Die Kryptologie als Teilgebiet der Nachrichtenübertragung liegt auch der Informationstheorie von Claude Elwood Shannon zugrunde.327 Um ein digita325. L. E. Kay: Buch, S. 427. 326. Als erste Übersicht siehe beispielsweise Rudolf Kippenhahn: Verschlüssel-

te Botschaften. Geheimschrift, Enigma und Chipkarte, Reinbek bei Hamburg 1997. 327. Wie eine vom Sender codierte Information trotz störenden Rauschens (Nicht-Information oder Noise) im Kommunikationskanal ihren Empfänger erreicht, formuliert Shannon in seiner Arbeit A Mathematical Theory of Communication (1948). Den Signal-Rausch-Abstand weiter zu reduzieren, aber auch die Kryptographie auf formale mathematische Grundlagen zu stellen, gelten weitere Arbeiten. Siehe Claude E. Shannon: »Communication in the Presence of Noise«, in: Proceedings of the IRE.

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les Signal verlustfrei übermitteln zu können, muss es codiert werden, weil im Kommunikationskanal gewöhnlich einige Bits deformiert werden. Da Materialität und Rechenzeit aber einen gänzlich anderen Stellenwert in der Übertragung durch digitale Medien haben als in Sprache und Schrift, wird in elektronischen Kanälen der Informationstransfer nicht von einer Verknappungslogik geregelt, wie von der Semiotik beispielsweise für die Sprache beschrieben, sondern im Gegenteil durch die Addition redundanter Informationen. Denn diese erlauben eine schnellere Fehlererkennung und eine umfassendere Rekonstruktion der Informationsdaten. Die Bedingung der Möglichkeit für jede Art von digitaler bzw. elektronischer Kommunikation ist deshalb, so kann man festhalten, die Notwendigkeit von En- und Decodierung der Nachrichten. In der Systemtheorie Niklas Luhmanns bezeichnen Codes binär standardisierte Leitdifferenzen von Systemen. Deutlich unterschieden wird der Code dabei von den Programmen der Systeme, denn, so Luhmann, »erst diese Unterscheidung […] gibt dem Medium die Form, die diejenigen Operationen anweist, die das Medium im laufenden Betrieb zu wahrheitsfähigen Sätzen koppeln und entkoppeln«328. Die Produktion von Sichtbarkeit ist also ohne Codierung nicht zu haben. Grundlegend ist dabei die konstitutive Kopplung des Sichtbaren zum sichtbar machenden Medium einerseits und zur Unsichtbarkeit andererseits. Gerade weil Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form als relationale Bindung nicht auf eine »Materialität der Kommunikation« zielt, erlaubt sie für die Bestimmung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit die Übertragung eines Medienbegriffs, der Unterscheidungen vornimmt, ohne zu hierarchisieren. So ist das eigenschafts- und formlose Medium als tabula rasa konstitutiv latent, bestimmt aber mittels Codierung die Möglichkeiten seiner Sichtbarkeit. Als Sammlung lose gekoppelter Elemente ist es selbst unsichtbar und unbeobachtbar,329 weist aber immer schon über diesen Zustand hinaus. Neben symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien wie Geld oder Liebe muss deshalb in der Verschiedenheit der aktualisierten Form von Sichtbarkeit vor allem bei technischen Medien wie Bild, Photographie, Film oder digitalem Bild von einer regulierenden oder codierenden Latenz des Mediums ausgegangen werden. Die Sichtbarkeit als Effekt einer spezifischen Formatierung ist deshalb auf das jeweilige Medium zu beziehen. Komplementär zum Luhmannschen Konzept der Medium-Form-Differenz kann das visuell gedachte »Figur-Grund-Modell« Marshall McLuhans 37/1 (Januar 1949), S. 10-21; Ders.: »Communication Theory of Secrecy Systems«, in: Bell System Technical Journal, 28/4 (1949), S. 656-715. 328. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 184-185. 329. »In dieser Fassung der Differenz von Form und Medium kann man die erkenntnistheoretische Paradoxie des unbeobachtbaren Mediums wieder zulassen, weil jetzt deutlich ist, das Medien grundsätzlich nur an Formen – genauer gesagt: an der Kontingenz der Formbildungen – zu erkennen und zu beobachten sind, niemals jedoch direkt.« Dirk Baecker: »Kommunikation im Medium der Information«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt a.M. 1999, S. 174-191, hier S. 175.

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gelten, der ein »resonierendes Intervall«, eine unbestimmbare Zone zwischen einer im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden Figur und ihrem Hintergrund konstatiert. Die beiden Begriffe »Figur« und »Grund« entlehnt er Edgar Rubins gestaltpsychologischen Vorstellungen von den Bedingungen visueller Wahrnehmung und definiert sie folgendermaßen neu: »Alle kulturellen Situationen setzen sich aus einem Bereich der Aufmerksamkeit (der Figur) und einem viel größeren Bereich, der der Aufmerksamkeit entgeht, zusammen (dem Grund). Beide stehen in einem unablässigen Wechselspiel, in dem sie sich gegenseitig abschleifen.«330

Das »resonierende Intervall« bezeichnet in diesem Wechselspiel den Grenzbereich zwischen Figur und Grund. Denn hinsichtlich der Figur wechselt die Aufmerksamkeit des Beobachters ständig, und jede Konfiguration von Figur und Grund entsteht kontinuierlich neu. An jeder Figur-Grund-Konstellation lässt sich – als Variation der »the medium is the message«-Formel – deshalb bereits die Spur ihrer Umkehrung ablesen. Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit als kontinuierlich changierende Felder bedingen dabei einander und können als supplementär und je nach Perspektive als wechselseitig codierend betrachtet werden. In der Schrift ist beispielsweise die Kombination der Absenz konkreter Bildlichkeit mit der Präsenz der Schriftzeichen die latente Grundlage für die optischen Halluzinationen, die ein Text evoziert.331 Die notwendige Oszillation zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit des Textes, seine Lesbarkeit, generiert einen Überschuss an semantischen Möglichkeiten, die sich erst in der vis imaginativa formiert. Abseits von den Konventionen der barocken Emblematik und anderer Text-Bild-Kombinationen (beispielsweise der Hieroglyphe)332 gewinnt deshalb das »resonierende Intervall« zwischen Bild und Schrift als unentschiedene Zone zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in den modernen Techniken der Schriftproduktion und -reproduktion an Brisanz. Denn Linearität, Satz, analytische Druckschrift und der statische Raum der Buchseite, so könnte man vermuten, wirken in der Gutenberg-Galaxis auf die visuelle Wahrnehmung ähnlich steuernd und perspektivierend wie die Paradigmen optischer Konstruktionen in Graphik und Malerei (z.B. die Zentralperspektive) oder optische Geräte als verstärkende und fi xierende Medienprothesen des Sehens. Aufgrund der Plötzlichkeit sichtbarer Information und der Simultaneität von Sendung und Empfang (der so genannte »Schlagartig-

330. Marshall McLuhan: »The Global Village. Das resonierende Intervall«, in: Ders.: Medien verstehen. Der McLuhan-Reader. Hg. von Martin Baltes u.a., Mannheim 1997, S. 223-235, hier S. 225-226. 331. Friedrich Kittler: »Die Laterna magica (im Inhaltsverzeichnis: Camera obscura) der Literatur: Schillers und Hoffmanns Medienstrategien«, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 4 (1994), S. 219-237; Ders.: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 131-154. 332. Siehe dazu die Beiträge in Wilhelm Vosskamp/Brigitte Weingart (Hg.), Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse, Köln 2005.

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alles-auf-einmal Charakter der Informationen«333) im elektrischen Zeitalter fordert McLuhan diesbezüglich auch eine Abkehr vom linearen und damit einen zeitlichen Ablauf erfordernden Sender-Empfänger-Modell: »Da Stimme, gedrucktes Wort, Bild und Sinneseindrücke simultan geschehen, stehen Figur und Grund oftmals eher nebeneinander als in einer Sequenz.«334 Für Sybille Krämer ist die mediale Latenz ein zentrales Moment der Medientheorien Luhmanns und McLuhans, deren Medienbegriff im Verhältnis zur Stiftung und Übertragung von Sinn aber neu bestimmt werden muss: »Wie kann über den sinnstiftenden Beitrag der Medien so aufgeklärt werden, dass dabei zugleich nachvollziehbar wird, warum dieser Beitrag sich latent vollzieht, also geradezu im Verborgenen bleibt?«335

Denn für Krämer bringen die Medien sich ausschließlich als »Rauschen«, »Störung« oder »gar im Zusammenbrechen ihres reibungslosen Dienstes«336 in Erinnerung. Sie sieht im Medium deshalb eine latente Prägekraft jenseits einer konventionellen Semantik am Werk, wie sie in der Semiotik üblicherweise dem Zeichenbegriff zugeschrieben wird. Ob allerdings, so ein weiterer Schluss Krämers, der Sinn-Überschuss des Zeichens ein Effekt ist, der von der »Materialität des Mediums« erzeugt wird, sei dahingestellt.337 Letztlich konstruiert Krämer, mit Verweisen auf die Bestimmung des Unbewussten in der Psychoanalyse und auf das Freudsche Wunderblock-Beispiel, ein eigenes Modell, das die Selbstbezüglichkeit der Medien bei McLuhan mit der Medium-Form-Differenz Luhmanns koppelt: »Das Medium ist nicht einfach die Botschaft; vielmehr bewahrt sich an der Botschaft die Spur des Mediums.«338 Aber: »Wenn das Medium wirkt wie eine unbeabsichtigte Spur, warum wird dann das, was bisher latent war und also verborgen blieb, gegenwärtig so manifest?«339 Warum sind also, so muss man fragen, die Medien überhaupt zum 333. McLuhan: The Global Village, S. 223. 334. Ebd. 335. Sybille Krämer: »Das Medium als Spur und als Apparat«, in: Dies. (Hg.),

Medien – Computer – Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt a.M. 1998, S. 73-95, hier S. 75. 336. Ebd., S. 74. 337. Ebd., S. 79. 338. Ebd., S. 81. In einem späteren Text identifiziert Krämer die Medium-FormDifferenz Luhmanns im Medium der Schrift auch als Unterscheidung zwischen einer semiotischen Ebene, der »Systematizität der Schrift«, die zur »Bühne« wird, und einer unsichtbaren Ebene der Kulturtechnik sowie einer sublimierten Körperlichkeit. Krämer sieht darin letztlich eine Fortsetzung der Figur von der »Fleischwerdung des Geistes« als Verkörperung des einen Mediums in einem anderen, damit es als Form eines Einzelmediums überhaupt erst wahrnehmbar gemacht wird. Vgl. Sybille Krämer: »›Schriftbildlichkeit‹ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift«, in: Dies./Horst Bredekamp (Hg.), Bild, Schrift, Zahl, München 2003, S. 157-176, hier S. 168. 339. S. Krämer: Medium als Spur, S. 83.

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Thema geworden? Antwort meint Krämer zum einen im Reflex auf das Auftauchen des Computers zu finden, der im geisteswissenschaftlichen Diskurs das Leitmedium des Buches abzulösen scheint,340 und zum anderen in der Unterscheidung zwischen Technik als Instrument und Technik als Medium. Das Medium betrachtet Krämer deshalb (und implizit damit McLuhans Thesen folgend) unter dem Begriff des »Apparats« im Gegensatz zum Instrument als eine nicht hintergehbare Größe. Auch Friedrich Kittlers Geschichte der typographischen Schrift, deren Codierungsbegriff, gemessen am jeweiligen Medienstandard, kulturelle und soziale Effekte beinhaltet, ist von McLuhans Zäsur zwischen Gutenberg-Galaxis und elektrischem Zeitalter beeinflusst. So verbindet sich für Kittler seit der Computertechnik die Repräsentationsfunktion des maschinellen Schreibens und Setzens mit der Performanz ihrer – nicht sichtbaren – Operation. Aus Codes formieren sich nicht nur »Programmierschriften«, sondern diese werden als »Befehlslogik« auch instantan umgesetzt: »Mit dem Computer schließlich ist die Codierung universal geworden – Maschinencodes und Softwareprogrammen sieht es niemand mehr an, ob sie einfach Zeichen setzen oder aber Zeichen zu setzen befehlen.«341 Diese Ambivalenz zwischen Setzen und Gesetzt-Werden offenbart eine geheime Macht des Codes, die letztlich auf das Soziale abzielt. Nach Kittlers implizitem Codierungsapriori bleibt die Frage virulent, ob Mitglieder einer Gesellschaft als Programmierer tätig sind oder selbst programmiert werden. Kritisch sieht deshalb Jörn Ahrens die konstitutive Latenz des Codes für die Gesellschaft: »Der Code erweist sich als eine Geheimschrift sozialer Organisation, und indem er sich als solche erweist, widerlegt er Gesellschaft in ihren Kernvoraussetzungen. Zu seinen Ausgangsbedingungen gehört, dass er auf Transparenz, Kommunikation und Interaktion verzichtet. Man kann den Code verstehen und man kann lernen, ihn zu bedienen; in Aktion zu ihm treten kann man nicht.«342

In einem größeren Maßstab fungiert dagegen Vilém Flussers Code-Begriff. Er bestimmt den Code als eine epochalisierende Größe, die die Entwicklung des Menschen im McLuhanschen Sinne eng an jeweils aktuelle Medienstandards knüpft. Diese sind vor allem an die Herstellung von Sichtbarkeit und Sinn gekoppelt. Flusser bezeichnet den evolutionären Wechsel von Codierungen als »Abstraktionsspiel« des Menschen von der Natur.343 Die vierdimensionale 340. Zu einem kritischen Blick auf die medientheoretische Beanspruchung des Computers siehe Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer. Mit einem Interview von Geert Lovink, Regensburg 1997. 341. Friedrich A. Kittler: Daten – Zahlen – Codes, Leipzig 1998, S. 19. 342. Jörn Ahrens: »Code – Anmerkungen zu einer ubiquitären Kategorie«, in: Klaus Neumann-Braun (Hg.), Medienkultur und Kulturkritik, Opladen 2002, S. 164181, hier S. 167. 343. V. Flusser: Lob der Oberfl ächlichkeit; sowie Ders.: Kommunikologie. Oder auch Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik elektronischer Medien, Frankfurt a.M. 1991.

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Wirklichkeit wird dabei von bewegenden Körpern in der Raumzeit formiert. Der Mensch als schöpferisches Kulturwesen tritt aus dieser Wirklichkeit heraus, abstrahiert von dem Raum die Zeit und erschaff t damit die dreidimensionale Skulptur. Es folgen mit dem weiteren Abzug einer Dimension die zweidimensionalen Bilder, die wiederum von der eindimensionalen linearen Schrift abgelöst werden. Nach viertausend Jahren linearer Schriftkultur sind Texte für Flusser zwar immer noch Kultur prägend, aber inzwischen befi ndet sich die Gesellschaft in einer Phase nachalphabetischer Codes, in der »Technobilder« die Funktion der Texte ersetzen. Das Endstadium dieser Evolution ist sinnfällig der nulldimensionale Punkt, das Bit, das keine Dimension und keine Referenz mehr in der Wirklichkeit hat. Stattdessen »kom-putiert« der Computer aus diesen Punkten die Wirklichkeit und setzt sie simulakrisch in Sichtbarkeit um. Diese Realität ist nicht mehr als ein Hologramm. Medienhistorisch erschaff t die Photographie das erste »Technobild«: Der herkömmlichen Betrachtung nach, aus der Perspektive der Gutenberg-Galaxis also, ist die Kamera ein Medium, in dem Licht aufgenommen und mittels eines chemischen Trägermediums aufgefangen wird. Die dort ausgelösten Reaktionen ergeben ein negatives Abbild der Gegenstände, von denen das Licht reflektiert. Diese Darstellung der Kamerafunktion ist also prozessual und linear. Dagegen schlägt Flusser für diesen Ablauf eine andere Lesart vor: Die Kamera sei kein Schreibwerkzeug (Lichtschrift), sondern eine undurchsichtige Vorrichtung, eine black box, die Informationen empfange, sie in Bits kalkuliere, in einem Gedächtnis lagere und so komputiere, dass diese als Bilder abgerufen werden könnten. Diese Darstellung situiert ihren Gegenstand nicht mehr in der Tradition der Schriftmedien, sondern beschreibt ihn als »kalkulatorisch«. Der photographische Vorgang erscheint in dieser Lesart nicht als chemischer Prozess, sondern als ein Prozessieren von Daten.344 Zusammengefasst basieren die Medientheorien Luhmanns, McLuhans, Krämers und Flussers auf zwei Vorstellungen von Latenz, die sich auf die Sichtbarkeit/Unsichtbarkeit der Medien selbst beziehen. Im ersten Fall scheint es so zu sein, dass das Medium, um etwas sichtbar werden zu lassen, selbst in den Hintergrund treten muss. Nur in Ausnahmefällen, zufällig oder künstlich initiiert, tritt das Medium auf die Bühne der Sichtbarkeit, während das Mediatisierte, die »Form«, in den Hintergrund gerät. Ein Beispiel für die Herstellung einer solchen Inversion ist die konkrete oder visuelle Poesie, die das Imaginäre, den »halluzinatorischen« Erzählfluss des Textes, zugunsten der graphischen Darstellung zum Verschwinden bringt. Ein weiteres Beispiel ist die Parekbase im Theater, von der romantischen Ironie beispielsweise bei Ludwig Tieck (Der gestiefelte Kater, Die verkehrte Welt) bis zum »V-« oder »Verfremdungs-Effekt« im epischen Drama Bertolt Brechts. Die zweite und flexiblere Vorstellung von medialer Latenz nimmt auf den Beobachterstandpunkt Bezug und macht am Kriterium der Aufmerksamkeit des Beobachters ein potenziell wechselhaftes Verhältnis von Medium und Form bzw. von Figur 344. Vilém Flusser: Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 1983. Technisch ungenau beschreibt Flusser schon die Funktion von digitalen Photokameras vor ihrer Entwicklung.

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und Grund fest. Gerät etwas in den Blick und wird dadurch sichtbar oder scharf gestellt, so ist es die Figur. Wandert der Blick, verschwindet diese wieder und wird zum Grund. Etwas anderes gerät in den Fokus. An beiden Elementen lässt sich in diesem Modell deshalb nicht nur stets die Spur einer möglichen Umkehrung ausmachen, sondern diese Konfiguration setzt auch einen gültigen Code voraus. Dieser sorgt für die strukturelle Äquivalenz beider Elemente, damit die Möglichkeit der gleitenden Übersetzung von Form zu Medium oder Figur und Grund gewährleistet ist. Eine dritte Vorstellung, die medientheoretisch unbefragt bleibt, ist die Pragmatik oder Funktionalität der jeweiligen Sichtbarkeits-/Unsichtbarkeitsstruktur, die eng an die Codierung der jeweiligen Konstellation von Medium und Form gekoppelt ist. Denn es muss gefragt werden, ob es wirklich so ist, dass die Medien nur aus der Latenz in die Sichtbarkeit treten, wenn eine Störung vorliegt oder wenn sie in künstlerisch-selbstreferenziellen Zusammenhängen eigens zum Thema werden. Kann man denn tatsächlich von einem notwendigen Verschwinden der Medien sprechen, damit die Form, die Botschaft oder der Inhalt von Bildern, Texten, Dramen oder Filmen ohne Verlust das Publikum erreicht? Und ist es immer mit einer Störfunktion verbunden, wenn das Medium manifest wird und dabei seine Mechanismen enthüllt? Denn ganz im Gegenteil kann man in einer Mediengesellschaft nicht nur einen flexibelnormalistischen Umgang mit sichtbar werdenden Medien beobachten, man kann auch davon ausgehen, dass das Publikum um die inszenatorischen und manipulatorischen Möglichkeiten der Medien weiß. Somit stellt sich viel eher die Frage, wie mit der kontinuierlichen Sichtbarkeit von Medien umgegangen wird. Wie verändert sich mit dem Wissen von den perfekten simulatorischen Möglichkeiten der Medien die Sicht auf die Welt? Kann mit der ostentativen Präsenz von Medien und der Zurschaustellung ihrer geheimen Möglichkeiten (Propaganda, Werbung, Öffentlichkeitsarbeit) nicht auch etwas ganz anderes verschleiert, und kann die mediale Selbstreferenzialität nicht als eine moderne Form medialer Rhetorik – mit neuen Untiefen und Zonen der obscuritas – betrachtet werden? Dabei ist auch zu diskutieren, inwiefern die Informations- oder Orientierungsleistung der Medien durch das Hervortreten ihrer Mechanismen geschmälert wird, oder ob das Wissen von der medialen Latenz nicht im Gegenteil auch zu einer verstärkten »Akzeptanz« der Medien führen kann und damit zu einer Einschätzung »als bewundernswerte evolutionäre Errungenschaft zur Bewältigung von Problemen«345.

345. Lutz Ellrich: »Normativität und Normalität«, in: Christina Bartz/Marcus Krause (Hg.), Spektakel der Normalisierung, München 2007, S. 25-52.

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2. Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte

2.5.2 D ER

TECHNI SCHE B L ICK . S ICHTBARMACHUNG UND Ü BERWACHUNG (C R ARY, M E TEL MANN )

Einen wesentlichen Paradigmenwechsel in der Konstellation von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit bzw. einen »epistemischen Bruch« in der Wissenschaftsgeschichte der optischen Medien beobachtet Jonathan Crary zwischen der Camera obscura, dem optischen Leitmedium des 17. und 18. Jahrhunderts, und den neuen optischen Geräten in den 1830er Jahren.346 Denn die Camera obscura isoliert noch die Position des Betrachters vom Medium. Der Akt des Sehens ist vom Körper des Betrachters gelöst. Somit wird dem Betrachter die Möglichkeit versperrt, sich selbst als Teil des Darstellungssystems zu begreifen. Ein Merkmal dieser Anordnung ist seine Monookularität. Diese Betrachtungsweise des Sehens ändert sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts: »Der Niedergang der Camera obscura als Modell für den Status des Betrachters war Teil eines Modernisierungsprozesses, nachdem die Camera obscura zuvor selbst ein wesentlicher Bestandteil der Moderne gewesen war und im 17. Jahrhundert dazu beigetragen hatte, ein ›freies‹, privates und individuelles Subjekt zu definieren. Um 1800 wurden der unbewegliche Aufbau der Camera obscura, ihr lineares optisches System, ihre starren Positionen, ihre Gleichsetzung von Wahrnehmung und wahrgenommenem Objekt endgültig zu unflexibel und statisch für die sich schnell wandelnden kulturellen und politischen Anforderungen.«347

Mit den optischen Medien des 19. Jahrhunderts, so Crary, entstehen neue Konzepte des Betrachters. Statt eines idealistischen Modells von Subjekt und Objekt, von Außen und Innen, etabliert sich eine Physiologie der Wahrnehmung, die den Blick nicht mehr als eine souveräne Form aufgeklärter Erkenntnis über die Welt betrachtet, sondern selbst zum Objekt wissenschaftlicher Betrachtung wird und dabei die Körperlichkeit des Betrachters mit einbezieht. Angefangen mit Goethes Entdeckung des Nachbildes auf der Netzhaut und der Betonung der Zeitlichkeit des Sehens wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Konzept des Betrachters entworfen, das im Wesentlichen schon dem technischen Dispositiv der Photographie entspricht: Der Betrachter wird als eine empfindliche Fläche, ein Medium, auf das physikalische und chemische Effekte formend einwirken, konzipiert. Wahrnehmung wird seitdem nicht mehr als Abbild der Realität außerhalb der Camera obscura gedacht, sondern als Effekt wechselseitig aufeinander einwirkender Einflüsse zwischen dem körperlichen Blick des Betrachters und der Außenwelt. Crary diagnostiziert weiterhin für die Gegenwart eine »entmaterialisierte digitale Bildwelt der Gegenwart« und verschiebt damit den Fluchtpunkt der Sichtbarkeit vom Körper in die unsichtbaren Schaltkreise des Computers: »Sichtbarkeit wird zunehmend in einem kybernetischen und elektromagnetischen Ter346. Jonathan Crary: Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert, Dresden, Basel 1996. 347. Ebd., S. 141.

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rain angesiedelt sein.«348 Neu an dieser jüngsten Entwicklung ist der Simulationscharakter der digitalen Bildschöpfung. Diese ist nicht nur von keiner subjektiven Perspektive oder einem beobachtenden Körper mehr abhängig, sondern stellt die grundsätzliche Frage nach der repräsentativen oder sichtbarmachenden Funktion von Medien überhaupt. Matthias Bickenbach hat am Beispiel der Photographie gezeigt, dass diese Frage den optischen Medien von Anfang an inhärent ist.349 Zunächst gerät die Leistung optischer Medien in den Blick, etwas sichtbar werden zu lassen, das für die menschliche Wahrnehmung ohne apparative Unterstützung unsichtbar ist (das »Optisch-Unbewusste«). Doch die Photographie lässt zugleich auch etwas verschwinden, das dem menschlichen Auge zuvor noch sichtbar war. So zeigen frühe Aufnahmen belebter Orte, wie z.B. Daguerres Zwei Ansichten des Boulevard du Temple, Paris, aufgenommen am gleichen Tage (1838), überraschenderweise einen menschenleeren Raum, denn in der frühen Photographie konnten aufgrund der langen Belichtungszeit alle Körper, die in schneller Bewegung waren, nicht abgebildet werden. Bickenbach gelangt deshalb zu dem Schluss: »Die Leistungen des Mediums Fotografie sind insofern von Beginn an mit einer paradoxen Sichtbarmachung verbunden, die über eine reine Wiederholung oder Verdopplung dessen, was menschliche Augen sehen und als sichtbare Wirklichkeit begreifen, hinausgeht.«350

Damit verdeckt Photographie im Akt der Sichtbarmachung nicht nur etwas zuvor Sichtbares, sondern darüber hinaus bleibt auch unentscheidbar, ob Photographie im Sinne einer Hervorbringung etwas sichtbar macht oder aber etwas sichtbar werden lässt.351 Der Einsatz optischer Medien stellt nicht allein etwas vor Augen, das zuvor der Wahrnehmung entzogen oder verborgen und deshalb nicht sichtbar war, sondern konstruiert auch eine eigene Realität, die jenseits der Medien nicht gegeben ist. Damit schaffen Medien irreversible neue Ordnungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Paradigmatisch für den Verlauf des Wechselspiels zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, an dem sich nicht nur die Wissenschaft, sondern auch Kunst, Literatur und andere Medien spätestens um 1900 entzünden, sind zwei neue Forschungsgegenstände. Zum einen die Erforschung des »Unbewussten«, die sich historisch aus den Feldern der Physiognomie oder Graphologie bis zu Psychoanalyse und Gehirnforschung herleitet,352 und zum 348. Ebd., S. 12. 349. Matthias Bickenbach: »Die Unsichtbarkeit des Medienwandels. Soziokul-

turelle Evolution der Medien am Beispiel der Fotografie«, in: Wilhelm Vosskamp/ Brigitte Weingart (Hg.), Sichtbares und Sagbares. Text-Bild-Verhältnisse, Köln 2005, S. 105-139. 350. Ebd., S. 106. 351. Ebd. 352. Michael Hagner: Homo cerebralis – Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt a.M., Leipzig 2000; Ders.: »Cyber-Phrenologie. Die neue Physiogno-

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anderen eine unsichtbare Strahlung, die das Sichtbare durchdringt und Unsichtbares sichtbar macht. Am 28.12.1895, zeitgleich mit der europäischen Geburt des Kinos, veröffentlicht Wilhelm Conrad Röntgen seine »Vorläufige Mitteilung« über die Entdeckung einer neuen Form von Strahlung, die er »X-Strahlen« nennt. Beim Betrieb einer Kathodenstrahlröhre entdeckt er zufällig während der Beobachtung fluoreszierenden Lichtes die später nach ihm benannte »Röntgen-Strahlung«. 1901 bekommt er dafür den Nobelpreis für Physik. Tal Golan fasst den enormen Erfolg dieser Strahlung so zusammen: »Die Vorstellung einer neuen Art von Strahlen […] brachte die wissenschaftliche Welt durcheinander […]. Die Populärkultur war genauso mesmerisiert. Die Vorstellung von einem dunklen Licht, das Fleisch so leicht wie Glas durchdringen konnte und Bilder des Skeletts produzierte, war berauschend. Über Nacht wurden die mysteriösen Strahlen zu beliebten Ikonen, denen man unaufhörlich in Werbeanzeigen, Prosa, Liedern und Cartoons begegnete. Über tausend Aufsätze und fünfzig Monographien wurden allein 1896 zu diesem Thema publiziert.«353

Röntgen selbst wird zu einer populären Figur. Einige seiner Bilder erhalten einen geradezu ikonischen Status, wie z.B. das Röntgenbild der Hand seiner Frau Bertha. Bereits 1896 werden Röntgenbilder auch als Beweismittel eingesetzt, um vor Gericht unter anderem ärztliche Kunstfehler zu dokumentieren, was einen regelrechten Boom an »Röntgenprozessen« zur Folge hat.354 Abseits der Karriere der neuen Strahlung vor Gericht liegt ihre Faszination aber auch darin begründet, dass sie erstens im Gegensatz zum sichtbaren Licht selbst unsichtbar bleibt und zweitens das Sehen nicht allein verstärkt und damit neue Sichtbarkeiten produziert, wie auch das Teleskop oder das Mikroskop, sondern in ihrer Durchdringungskraft macht sie drittens – zeitgleich zur Sichtbarmachung des Körperinneren, des Skeletts – alle Oberflächen und Zwischenschichten, die Haut und das Fleisch des Körpers, unsichtbar. Das Phantasma, die neuen photographischen Techniken zögen Schichten vom Körper ab,355 radikalisiert sich an der Röntgenphotographie und zeigt sich deshalb nicht allein in wissenschaftlichen Extrapolationen, sondern vor allem mik des Geistes und ihre Ursprünge«, In: Klaus Peter Dencker (Hg.), Die Politik der Maschine, Hamburg 2002, S. 182-197. 353. Tal Golan: »Sichtbarkeit und Macht: Maschinen als Augenzeugen«, in: Peter Geimer (Hg.), Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M. 2002, S. 171-210, hier S. 183. 354. Ebd., S. 192-210. 355. Berühmt geworden ist Honoré de Balzacs »Theorie der fliehenden Häute«, die nach Demokrit davon ausgeht, dass ein Körper kontinuierlich feine Häutchen absondert, die auf den Augen einen Abdruck hinterlassen und dadurch die eigene Sichtbarkeit herstellen. Der Photoapparat fängt, so sieht Balzac diese These durch Daguerre bewiesen, diese in die Luft geworfenen Bilder ein. Die lichtempfindliche Platte des Photoapparats zwingt das gespenstische und flüchtige Abbild des Körpers dabei zu einem ewigen Verweilen. Vgl. Honoré de Balzac: Vetter Pons oder Die beiden Musiker (1919).

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in den literarischen und fi lmischen Fiktionen der Röntgen-Strahlen. In ihnen wird der Körper als Medium auf eine stratifi katorische Weise sichtbar und unsichtbar zugleich reproduziert.356 Die technische Entwicklung dieser vollständigen Sichtbarmachung und Durchleuchtung des Menschen wird inzwischen von gesellschaftlichen Diskursen kommentiert, die sich zu zwei theoretischen Grundmodellen von Gesellschaft verdichtet haben. So wird die Zone zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit vor allem im Dispositiv der Überwachung gegenwärtig. Neben individueller Beschattung und anderen Beobachtungsmaßnahmen ist es die an vielen Orten – paradigmatisch in London und anderen Großstädten sowie weltweit an halböffentlichen Orten wie Shopping Malls, Bürohochhäusern und Vergnügungsparks – omnipräsente Technik des Closed-Circuit-Television (CCTV), die eine neue Dimension der Überwachung nicht mehr einzelner Personen, sondern des gesamten öffentlichen Raums erschließt. Dieser Verbund besteht aus teilweise beweglichen Videokameras zur Überwachung von öffentlich zugänglichen Plätzen oder Gebäuden, die direkt mit Monitoren in einem Kontrollraum verschaltet sind. Diese Form technischer Überwachung ist allerdings nicht ausschließlich als ein repressives Instrument totalitärer Regime zu begreifen, sondern in Kopplung mit einer stets komplexer werdenden biometrischen Individualerfassung vielleicht schon zu dem Signum moderner Staatlichkeit überhaupt geworden. Politische und soziale Regularien der Moderne rekurrieren deshalb zunehmend auf Sichtbarkeitstechnologien. Die Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen ist auch die Basis für politische Entscheidungen, und die Überwachungstechnik gewährleistet überlegenes Wissen und damit mehr als nur visuelle Souveränität über den Beobachteten, sei es ein ausspionierter anderer Staat oder die eigene überwachte Bevölkerung. Michel Foucault erhebt bekanntlich die Überwachungstechnik sogar zum zentralen Mittel der Disziplinargesellschaft: 356. Ein interessantes Beispiel für das Röntgenbild in der Literatur findet sich in Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924). Der Ingenieur und eingebildete Kranke Hans Castorp betätigt sich dort als Fetischist visueller Erfassung. Nicht das Photo seiner angebeteten Mitpatientin Clawdia Chauchat trägt er in seiner Brusttasche, sondern ihre Röntgenaufnahme. Neben ihrer Funktion als memento mori gewährt das Röntgenphoto in jeder Hinsicht auch einen tiefen transitorischen Einblick in das weibliche Objekt der Begierde. Diesem Blick entgeht allerdings alles Fleischliche und wird somit in letzter Konsequenz zur Fortsetzung einer phantastischen Imago, wie sie die optische Verstärkung und Fokussierung in romantischen Erzählungen enthüllt und die letztlich die Doppelfigur von Erotik und Tod perpetuiert. Die Medientechnik um 1900 führt damit weit über das enge Feld der Naturwissenschaft hinaus und (auch in Manns Roman) zum einen zur (Schauer-)Romantik zurück und zum anderen zur benachbarten Praxis des Spiritismus. Castorps eigene Röntgenerfahrung im »Durchleuchtungslaboratorium« ist auch im Grenzbereich zwischen einer sichtbarmachenden »physikalisch-optischen Wissenschaft« und einem schicksalhaften Blick auf den eigenen Tod angesiedelt. Hofrat Behrens kann dem kultisch verklärten Blick des Ingenieurs da nur beipflichten: »Spukhaft, was? Ja, ein Einschlag von Spukhaftigkeit ist nicht zu verkennen.«

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»Der perfekte Disziplinarapparat wäre derjenige, der es in einem einzigen Blick ermöglichte, dauernd alles zu sehen. Ein zentraler Punkt wäre zugleich die Lichtquelle, die alle Dinge erhellt, und der Konvergenzpunkt für alles, was gewußt werden muß: ein vollkommenes Auge der Mitte, dem nichts entginge und auf das alle Blicke gerichtet wären.«357

Die entscheidende Metapher für die Disziplinargesellschaft ist deshalb auch die panoptische Überwachungsarchitektur Jeremy Benthams, die »königliche Menagerie, in der das Tier durch den Menschen ersetzt ist […] und der König durch die Maschinerie einer sich verheimlichenden Macht«358. Während der Betrachter anonym und austauschbar (auch mit einer Maschine) ist, und auch seine Präsenz zweifelhaft bleibt, ist der Beobachtete, beispielsweise der Insasse einer Zelle im Gefängnis, jederzeit aufgrund seiner räumlichen Zuordnung und seiner bühnenhaften Sichtbarkeit, einwandfrei identifizierbar: »Jeder Käfig ist ein kleines Theater […]. Die panoptische Anlage schaff t Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlass zu sehen und zugleich zu erkennen.«359 Den Internalisierungsprozess der Selbstbeobachtung und -steuerung, der durch diese Überwachungsmechanismen der Disziplinargesellschaft initiiert wird, nimmt das Gesellschaftsmodell von Gilles Deleuze in den Blick. In der »Kontrollgesellschaft« sind die Gedanken und Gefühle des einzelnen angesichts einer gesellschaftsweiten Überwachung und Steuerung schon so weit zum Teil des Habitus geworden, dass sie im Modus des vorauseilenden Gehorsams funktionieren.360 Deleuzes Bestimmung schließt dabei direkt an Foucaults Modell der Disziplinargesellschaften an, die dieser dem 18. und 357. Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1994, S. 224. 358. Ebd., S. 261. Vgl. dazu auch die mythische Figur des Argos Panoptes, des hundert- oder tausendäugigen Allessehers. Argos ist ein Monster, das in alle Richtungen schaut. Nie schließen sich seine Augenpaare gleichzeitig zum Schlaf. Von der Göttermutter Hera zur Bewachung der in eine Kuh verwandelten Io abgestellt, kann Hermes ihn nur mit Hilfe seines göttlichen Flötenspiels einschläfern und dann erschlagen, so dass Zeus sich Io in Gestalt eines Stieres nähern kann. Die Figur des Argos bleibt dennoch als Sinnbild äußerster Wachsamkeit erhalten. Für Hegel gibt es beispielsweise am Kunstwerk keine blinden Flecken, keine Stelle, die uns nicht schon zugewandt ist, ehe wir sie ansehen. Hegel zufolge macht »die Kunst jedes ihrer Gebilde zu einem tausendäugigen Argus, damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten gesehen werde«. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. Werke 13, Frankfurt a.M. 1997, S. 203. Jacques Lacan greift diese metaleptische Beschreibung des Verhältnisses zwischen Auge und Blick in dem Kapitel »Vom Blick als Objekt klein a« auf. In: Ders.: Das Seminar. Buch XI (1964). Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Olten/Freiburg 1978, S. 72-126. Vgl. Paul Virilio: »Das öffentliche Bild«, in: Florian Rötzer (Hg.), Digitaler Schein. Ästhetik der elektronischen Medien, Frankfurt a.M. 1991, S. 343-345. 359. M. Foucault: Überwachen und Strafen, S. 257. 360. Gilles Deleuze: »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: Ders.: Unterhandlungen. 1972-1990, Frankfurt a.M. 1993, S. 254-262.

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19. Jahrhundert zuordnet und deren Höhepunkt Deleuze zu Beginn des 20. Jahrhunderts sieht. Organisiert und strukturiert werden diese Gesellschaften von der Abfolge verschiedener »Einschließungs-Milieus« wie Schule, Militär, Fabrik und Klinik, deren tertium comparationis aber immer das Gefängnis ist. Abgelöst wird dieses Modell von den Kontrollgesellschaften. Aus der strengen körperlichen und mentalen Formatierung der Disziplinargesellschaft, die gleichzeitig »vermassend und individuierend«361 das Subjekt modelt, wird die Selbstkontrolle, die Korruption der »Seele« in einem »offenen Milieu«. Das bedeutet Eigenunternehmertum, Selbstmotivation und Selbstausbeutung. Während die festen Institutionen und Disziplinierungsmaßnahmen fallen und dezentralisiert werden, verstreut sich die Macht in der Suche nach Surrogatdisziplinierungen. Im Wesentlichen wird dabei das Gefängnis-Paradigma sozialer Kontrolle durch das Unternehmens-Paradigma ersetzt: »An die Stelle separierter Einrichtungen und Milieus (Schule, Kaserne, Fabrik etc.), die das Subjekt während seines Lebens nacheinander durchläuft, treten hier Regulationsmodi, die sich dynamischer Exklusions- und Inklusionsmechanismen bedienen, eine permanente Rivalität zwischen den einzelnen stiften sowie kontinuierliche und fl ächendeckende Überprüfungen institutionalisieren. Je eindrucksvoller das Arsenal der Begriffe, mit denen man die neuen Kontrolltypen definiert, in Szene gesetzt wird, um so schwieriger gestaltet sich allerdings ihre empirische Absicherung. Dies mag daran liegen, dass die weichen und flexiblen Instrumente der Kontrollgesellschaft, trotz der steigenden medialen Transparenz des sozialen Lebens, weniger sichtbar sind als die Strategien der Disziplinarmacht.«362

Begleitet wird der Übergang von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft von der Überwachungstechnik und seiner möglichen Internalisierung. Nicht geklärt ist, wie die wachsende Präsenz von Überwachungstechnik im öffentlichen Raum bei eventueller Einschränkung der Privatsphäre wahrgenommen wird. Thomas Y. Levin spricht von einer herrschenden »Rhetorik der Überwachung«,363 Ausdruck einer universell gewordenen Angst und ein ständiger Verdacht bezüglich einer unsichtbaren Beobachtung, sei es durch Überwachungskameras oder aber auch durch Datenüberwachung im Internet. Letztlich nimmt die Überwachung für Levin sogar eine »ontologische Verschiebung« vor, d.h. nur das sei real, das von einem technischen Blick aufgezeichnet werde. Jörg Metelmann ergänzt Levins Thesen und stellt dabei die »Latenz der Überwachungsbilder«364 in den Vordergrund. Diese »beob361. Ebd., S. 258. 362. Lutz Ellrich: »Gefangen im Bild? »Big Brother« und die gesellschaftli-

che Wahrnehmung der Überwachung«, in: Leon Hempel/Jörg Metelmann (Hg.), Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M. 2005, S. 35-50, hier S. 39. 363. Thomas Y. Levin: »Die Rhetorik der Überwachung. Angst vor Beobachtung in den zeitgenössischen Medien«, in: Nach dem Film 3/10 (2001), in: www.nachdemfilm.de/no3/lev01dts.html vom 18. Juni 2009. 364. Jörg Metelmann: »Kontroll-Raum. In-der-Medienwelt-Sein und die zwei

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achtbare Unbeobachtetheit« im Sinne Luhmanns definiert ein Handeln, das selbst nicht sichtbar, aber notwendig für die Sichtbarmachung ist und damit auch eine Orientierungsfunktion erfüllt: »Die Latenz der Bilder wäre so, gerechnet auf die sich stetig klarer abzeichnende Leitdifferenz ›Sichtbarkeit/ Unsichtbarkeit‹ der global vernetzten Medien- bzw. ›Kontrollgesellschaften‹ (Deleuze), als blinder Fleck derselben zu bezeichnen.«365 In jedem Fall bleiben die Überwachungsbilder selbst dabei im Hintergrund. Entscheidender für die Wahrnehmung von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sind die mentalen Bilder. Levins Ansatz berücksichtigt, so Metelmann, aber nicht das tatsächliche Subjekt der Überwachung, sondern bleibt in einem Diskurs von Zeichenhaftigkeit stecken. Die Wahrnehmung des kontrollierten Raums laufe letztlich nicht über »innere/erinnerte Bilder eines Überwachungsraums«,366 wie Levin vorschlägt. Denn äußerlich sind nur die Kamera und das Schild mit der Ankündigung der Videoüberwachung sichtbar. Sondern Videoüberwachung ist für Metelmann Teil eines »unausdrücklichen In-der-Medienwelt-Seins, zu dem in einer generell auf Beobachtung und Bildproduktion gerichteten Lebenswelt auch die überwachende Kamera zählt«367. Reality-TV wie Doku-Soaps und Casting-Shows erwähnt Metelmann zwar nicht, aber sie sind die Rückseite dieser ontologisch verstanden Mediengesellschaft, die so lange funktioniert, wie die gespeicherten Überwachungsbilder selbst latent bleiben und damit nicht zum Gegenstand der Kritik werden. Ergänzend dazu, aber in gänzlich gegenteiliger Bewertung der Stellung des Bildes im Dispositiv der Überwachung beobachtet Lutz Ellrich, wie die Überwachungstechnik selbst in den Medien und unter den Bedingungen der Spektakelformate der Erlebnisgesellschaft einem Prozess der Normalisierung unterliegt. Fernsehformate wie Big Brother zeigen vor einem Anstieg der Überwachungs- und Kontrollinstitutionen einen deutlichen Wandel in der Akzeptanz und der Bewertung. Vor allem das in der Mediengesellschaft fetischisierte Medium des Bildes sorgt dafür, dass nicht, wie John Fiske feststellt,368 das »bedrückende Klima einer deutlich spürbaren, aber offiziell verleugneten Unfreiheit«369 herrscht, sondern dass aus dem Dispositiv der Überwachung ein neues Design der Unterhaltung entwickelt worden ist. Die entscheidende Frage, die am Sozialexperiment der Überwachungs-Show gewonnen werden kann, sofern man in ihr tatsächlich einen Erkenntniswert eventuell für die Zukunft der Gesellschaft zuerkennt, ist folgende:

Topologien der Videoüberwachung«, in: Leon Hempel/Ders. (Hg.), Bild – Raum – Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels, Frankfurt a.M. 2005, S. 174-188, hier S. 176. 365. Ebd., S. 177. 366. Ebd., S. 186. 367. Ebd., S. 186. 368. John Fiske: »Die Überwachung der Stadt. Weißsein, der schwarze Mann und demokratischer Totalitarismus«, in: Rainer Winter/Lothar Mikos (Hg.), Die Fabrikation des Populären: John Fiske-Reader, Bielefeld 2001, S. 309-338. 369. L. Ellrich: Gefangen im Bild? S. 36.

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»Bislang ist nämlich ungeklärt, ob man die neuen Überwachungssysteme (ohne sonderlichen Widerstand) hinnimmt, weil der kontrollierende Blick im Zuge der spätmodernen Sozialisation internalisiert worden ist oder weil sie – ganz im Gegenteil – die ›Außenlenkung‹ des Handelns unterstützen und auf diese Weise einen Beitrag zur Etablierung des ›flexiblen Normalismus‹ leisten […]. Mit anderen Worten: Schreiben die Kontrollgesellschaften ihre Programme direkt in die Körper und Seelen der Subjekte ein? Wird Überwachung deshalb zum verinnerlichten Image der Alltagskultur?«370

In seiner Einschätzung schließt Ellrich trotz einer anderen Wertung des Überwachungsbildes implizit an Metelmanns Einwurf gegen Levin für die Berücksichtigung der eigenen emotionalen und intellektuellen Abläufe der Subjekte an. Denn diese stehen dem Überwachungsdispositiv distanziert, cool und ironisch gegenüber. Allein die Produktion von Überwachungs-Shows für das Fernsehen zeigt den »Sicherheitsabstand«, der Menschen dazu befähigt, eine unheimliche Instanz wie die allgegenwärtige Präsenz von Überwachungstechnologie in Amüsiertheit umzumünzen. Der hohe Grad an Aufmerksamkeit für fremde Bereiche des Privaten wird zwar durch Big Brother bestätigt, aber keinesfalls das allgemeine Gefühl einer unerträglichen Unfreiheit. Letztlich erfüllen die Medien damit einen Orientierungsauftrag, der mitunter auch ein Teil der Befreiung von »verinnerlichten Normen« sein kann.

2.5.3 M IND C ONT ROL

UND DIE Ä S THE T IK (H ORN , V IR IL IO )

DE S

V ER SCHW INDENS

Ein Beispiel für Medien als direkte und repressive Instrumente einer Kontrollgesellschaft, in der Elemente der Souveränitäts- und Disziplinargesellschaft fortbestehen und die nicht als indirekte Überwachungs- und damit Raumkontrollinstanzen fungieren, betriff t sicherlich den Verdacht bezüglich einer unsichtbaren Steuerung und Fernlenkung des Menschen. Auf die Verbindung zwischen Hypnose und Medialität im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat schon Stefan Andriopoulos hingewiesen.371 Die Diskussion über eine unsichtbare Beeinflussung menschlicher Gedanken erreicht ihre Hochphase allerdings erst während des Kalten Krieges. Sie ist dabei weniger Repräsentation und Referenz an eine nachzuprüfende wissenschaftliche Hypnose- und Mind Control-Forschung, sondern der Fokus eines paranoischen Dispositivs, dessen Fluchtlinien unterschiedlichen Quellen entspringen.372 Von Bedeutung für das Mind Control-Thema sind aber nicht nur die 370. Ebd., S. 44. 371. Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die

Erfindung des Kinos, München 2000. 372. So lässt sich beispielsweise die Popularität des Diskurses von der Gedankenbeeinflussung zunächst vor allem an ihrer Entwicklung in populärer Literatur und deren Verfilmungen nachvollziehen: über die bekannten Stationen der Dr. Fu ManchuRomane von Sax Rohmer (ab 1913), den Dr. Mabuse-Romanen von Norbert Jacques (ab 1921) bis zu Richard Condons Roman The Manchurian Candidate (1959) – mit einem Seitenschlenker zu Thomas Manns Novelle Mario und der Zauberer (1930). Torsten Hahn

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Zirkulationen, die zwischen den Künsten und Medien stattfinden, sondern auch jene zwischen Medien und Wissenschaft, Militär und Politik. Wie Eva Horn ausführt, ist eine der wesentlichen Kategorien des Politischen die »Intelligence, deutsch: militärisch-politische Auf klärung«373 als Nexus von Wissen und politischer Entscheidung. Die Aufklärung über den Feind und seine Methoden ist unerlässlich, um politische und das heißt immer auch militärische Entscheidungen, zu treffen.374 Geheimdienstarbeit, militärische und wissenschaftliche Forschung sind deshalb vom Politischen nicht zu trennen. So sind für Horn schon die »eigentlichen Helden des Kalten Kriegs […] darum keine Männer in Uniform, sondern Zivilisten: Wissenschaftler und Geheimdienstmitarbeiter«.375 Der Schalter, den sie als »schönstes Emblem«376 des Kalten Krieges definiert, findet deshalb logisch auch seine Entsprechung im kybernetischen Phantasma vom unsichtbaren Schalter im Kopf. Diese Auflösung der Grenze zwischen Wissen und Phantasma definiert auch exakt den Mind Control-Diskurs und führt in den USA gegen Ende des Koreakriegs (1950-1953) zu der systematischen Erforschung von Gedankenkontrolle durch den amerikanischen Nachrichtendienst CIA (Central Intelligence Agency). 1953 entsteht in diesem Kontext das Projekt »MK-ULTRA«,377 und Marcus Krause haben auf die Herkunft des Mind Control-Diskurses aus der populären Literatur des frühen 20. Jahrhunderts und seiner Doppelkarriere in Wissenschaft und Popular Culture hingewiesen. Torsten Hahn/Marcus Krause: »R.H.I.C.E.D.O.M. Unveröffentlichter Vortrag.« Siehe auch Torsten Hahn: »Z wie Zombie oder V wie Verräter«, in: Cornelia Epping-Jäger/Torsten Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.), Freund, Feind und Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln 2004, S. 118-137. 373. Eva Horn: »Secret Intelligence. Zur Epistemologie der Nachrichtendienste«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Raum – Wissen – Macht, Frankfurt a.M. 2002, S. 173-192, hier S. 173. Ausführlicher noch Dies.: »Geheime Dienste. Über Praktiken und Wissensformen der Spionage«, in: Lettre International 53 (2001), S. 56-64. 374. In deutlicher Konsequenz der wohl bekanntesten Sentenz Carl von Clausewitz‹, »daß der Krieg nichts ist als die fortgesetzte Staatspolitik mit anderen Mitteln«. Carl von Clausewitz: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk (1832-34), Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980, S. 8. 375. Eva Horn: »War Games. Der Kalte Krieg als Gedankenexperiment«, in: Thomas Macho/Annette Wunschel (Hg.), Science & Fiction. Über Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur, Frankfurt a.M. 2004, S. 310-328. 376. Ebd., S. 310. 377. MK-ULTRA kombiniert in mehr als einhundert Unterprojekten verschiedenste Methoden der Gedankenkontrolle, traditionelle wie exotische. Neben konventionellen Folter- und Verhörtechniken wie Essens- und Schlafentzug werden verschiedene Hypnoseverfahren und bewusstseinsverändernde Drogen wie Marihuana, LSD, Heroin und Natrium-Thiopental (= Sodium-Pentothal oder Sodium-Amytal), ein Anästhetikum, das auch als »Wahrheitsserum« bekannt geworden ist, eingesetzt. Später werden auch elektronische Techniken, beispielsweise Radiowellen, benutzt. Das Ziel von MK-ULTRA ist die Fernsteuerung des Probanden, genauer: Es soll nicht nur eine Gehirnwäsche während des Verhörs oder der Suggestion stattfinden, sondern nach

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erwachsen aus den Vorläuferprojekten »Bluebird« und »MK ARTICHOKE«, mit dem Ziel der Gedankenkontrolle des Probanden, um ein Gegengewicht zu vermuteten Experimenten Chinas und der Sowjetunion aufzustellen. Diese geheime Forschung der amerikanischen Regierung, die ihre Spuren mehr oder weniger subtil in behavioristischer Psychologie, in Kybernetik, aber auch in Sozialpsychologie, Sektenforschung und kritischer Gesellschaftstheorie hinterlässt, macht dabei Karriere vor allem als Element zahlreicher Verschwörungs- und Paranoia-Diskurse, deren Verdacht sich unter anderem gegen die technischen Medien der Beeinflussung bzw. eines staatlich gesteuerten Medieneinsatzes zur sozialen Kontrolle richtet. Ist der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts sowie der Psychologie und der Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts der menschliche Geist und im Besonderen sein Unbewusstes im besten Fall ein Kryptogramm und im schlimmsten eine black box, so übernehmen diese Leerstellen seit ihrer Erfindung die Medien. Denn unter der Oberfläche ihrer Verkleidung funktionieren Telefon, Radio, Film, Fernsehen, Computer und Internet unsichtbar und unlesbar. Der Verdacht einer fremden Intentionalität wird auf die »magischen Kanäle«378 gelenkt, auf ihre chthonischen Funktionsweisen und subliminalen Beeinflussungsmöglichkeiten.379 Hingewiesen werden muss im historischen Verlauf des Mind Control-Diskurses auf eine entscheidende Verengung im Medium des Verdachts. Denn spätestens in den 1960er Jahren konzentriert sich der Verdacht von Radio und Kino auf das junge Medium Fernsehen, den »schüchternen Riesen«,380 an dem sich die Verdachtsmomente einer televisuellen Gedankenkontrolle dem Verhör soll diese auch vergessen werden. Es geht also sowohl um Wahrheits- und Kontroll- als auch um Vergessenstechniken. Letztlich sollen, als Echo auf die vermuteten Manipulationen der Soldaten aus Korea, ferngesteuerte Spione ohne Wissen und Erinnerung produziert werden, »Sleepers«, die auf einen Auslöser (Trigger) hin willenlos einem zuvor geprägten Befehl gehorchen. 1973 ordnet Richard Helms, CIADirektor und Oberhaupt des Programms, die Zerstörung aller MK-ULTRA-Akten an. Siehe John Marks: The Search for the »Manchurian Candidate«. The CIA and Mind Control. The Secret History of the Behavioral Sciences, New York, London 1979. 378. Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. Understanding Media (1964), Dresden, Basel 1994. 379. Unsichtbare Trägermedien wie Radio- oder Funkwellen sind schon seit dem 19. Jahrhundert Gegenstand von Theorien, die einerseits spiritistischer Natur sind und andererseits Telepathie und Gedankenkontrolle beinhalten. So realisiert sich z.B. das paranoid-psychotische Konstrukt Daniel Paul Schrebers in der Vorstellung von Radiowellen, die in seine Gedanken eindringen, parallel zum modernen Spiritismus. Vgl. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: »Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?« (1903). Mit einem Nachwort von Wolfgang Hagen, Berlin 2003; Wolfgang Hagen: Radio Schreber. Der »moderne Spiritismus« und die Sprache der Medien, Weimar 2001. 380. Marshall McLuhan: »Das Fernsehen. Der schüchterne Riese«, in: Ders.: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden, Basel 1994, S. 466-508. Das Fern-

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zu einer umfassenden Theorie der Gesellschaft verdichten.381 Neu ist auch das Format des Verdachts, der von der technisch-experimentellen Vorstellung einer Gedankenkontrolle abweicht und die Intention der Beeinflussung von einer singulären Person, geheimen Organisation oder Regierung entkoppelt. Denn der televisuelle Transport von Ideologie im »Nullmedium« Fernsehen als »Manipulation« und »Entfremdung« des Zuschauers geht in der neomarxistischen Kritischen Theorie, so heißt die neue Formation des Verdachts, nunmehr von der Instanz einer »Kultur-« oder »Bewusstseinsindustrie« aus.382 Deren Ziel, so der Verdacht, ist es allein, Mehrwert aus ihrem Kapital zu erwirtschaften. Inhalte, Formen und die Ideologievermittlung sind dabei zwar bedenkenswerte Überbauphänomene, die das soziale Unbewusste hypnotisieren, dienen aber letztlich nur der ökonomischen Systemerhaltung. Exemplarisch für die Sicht einer Totalität gesellschaftlicher Beeinflussung ist Theodor W. Adornos Prolog zum Fernsehen (1953): »Das Medium selbst jedoch fällt ins umfassende Schema der Kulturindustrie und treibt deren Tendenz, das Bewusstsein des Publikums von allen Seiten zu umstellen und einzufangen, als Verbindung von Film und Radio weiter. Dem Ziel, die gesamte sinnliche Welt in einem alle Organe erreichenden Abbild noch einmal zu haben, dem traumlosen Traum, nähert man sich durchs Fernsehen und vermag zugleich ins Duplikat der Welt unauffällig einzuschmuggeln, was immer man für der realen zuträglich hält.«383

sehkapitel schließt sinnfällig mit dem Unterkapitel »Mord im Fernsehen« über die Macht des Fernsehens angesichts der Morde an John F. Kennedy und Lee Oswald. 381. Während der Film in den 1960er Jahren zunehmend an sozialkulturellem Prestige gewinnt und »Nouvelle Vague«, der »Neue Deutsche Film« oder auch das »New Hollywood« als Ausdruck von Avantgarde, künstlerischer Freiheit und Authentizität gewertet werden, richtet sich der Verdacht gegen den neuen Feind, das Heimkino. Christina Bartz fasst dies unter dem Stichwort der »Telepathologien« zusammen. Vgl. Christina Bartz: »Telepathologien. Der Fernsehzuschauer unter medizinischer Beobachtung«, in: Irmela Schneider/Peter M. Spangenberg (Hg.), Medienkultur der 50er Jahre. Diskursgeschichte der Medien nach 1945. Bd. 1., Wiesbaden 2002, S. 373-386. 382. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: »Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug«, in: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a.M. 1988, S. 128-176; Theodor W. Adorno: »Résumé über Kulturindustrie«, in: Dieter Prokop (Hg.), Massenkommunikationsforschung. Bd. 1: Produktion, Frankfurt a.M. 1972, S. 347-354; Hans Magnus Enzensberger: »Bewußtseins-Industrie (1962)«, in: Ders.: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a.M. 1971, S. 7-17 sowie Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. 383. Theodor W. Adorno: »Prolog zum Fernsehen (1953)«, in: Ders.: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a.M. 1996 (1963), S. 69-80, hier S. 69. Wenn Adorno auch, muss man anmerken, nicht in die Schlichtheit einfacher Übertragungsvorstellungen verfällt, wie die Medienpädagogik seiner Zeit. Vgl. Theodor W. Adorno: »Fernsehen und Bildung 1963«, in: Ders.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und

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Eine entscheidende medienhistorische Vorstufe zum Verdacht von Manipulation und Fernsteuerung vor allem in den visuellen Medien Film und Fernsehen ist der paradigmatische Wechsel von einer zentralperspektivisch und geometrisch organisierten Raumvorstellung im 17. und 18. Jahrhundert zu einem Projektions- und Reflexionsraum im 19. Jahrhundert, der im Auge des Betrachters selbst liegt.384 Für Charles Wheatstone, den Erfinder des Spiegelstereoskops, ist beispielsweise die größtmögliche Nähe zwischen dem stereoskopischen Bild und seinem Gegenstand von besonderer Bedeutung. So sei die Malerei das geeignete Medium für Bilder von Gegenständen und Figuren in großer Entfernung. Auch die gemalten Dioramen entfalteten ihre Illusionen erst aus größerer Distanz. Aber im Gegensatz dazu ist das Stereoskop »eine Darstellungsform, die um so realistischer wirkt, je näher das Objekt dem Betrachter zu sein schien. Je größer der Winkel der optischen Achsen war, umso größer der dreidimensionale Effekt«385. Am Medienwechsel lassen sich deshalb auch diskursive Schnittpunkte ausmachen, die letztlich den menschlichen Körper in ein physiologisches und messbares Register der Kontrolle einspannen. Zum vorläufigen Endpunkt dieser Entwicklung fällt dabei seit den 1990er Jahren gewöhnlich das Stichwort der »Immersion« im »Cyberspace« oder in der »Virtual Reality«. Einer souveränen Haltung des Zuschauers vor dem Bildschirm, womöglich mit ermächtigender Fernbedienung, wird das paranoische Phantasma eines von seiner realen Umwelt völlig abgekapselten reinen Empfängers von Botschaften gegenübergestellt. Der souveräne »Datendandy«386 steht dabei dem ohnmächtigen ferngesteuerten Cyborg gegenüber, abhängig von der Informationsmaschine. Ein Bedrohungsszenario, das nicht, wie die Kritische Theorie oder der Verdacht des Mind Control, allein von der »Entfremdung« und der »Besessenheit« durch einen fremden Willen einhergeht, sondern auch den Verlust der Herrschaft über den eigenen Körper kennzeichnet, ist Paul Virilios Theorie von der medialen und medikamentösen »Eroberung des Körpers«387. Vor allem seine Betrachtung über das »letzte Vehikel«,388 das zum »rasenden Stillstand« geronnene Gedankenbild vom Zuschauer vor der Leinwand, dem Bildschirm oder der Windschutzscheibe seines Autos, rückt das Immersionsprojekt der Medien ins Zentrum. Virilio entwickelt an der Entwicklung der Medien und der Fahrzeuge eine apokalyptische Vision vom Zuschauer, der unbeweglich im Auto, im Kino- oder im Fernsehsessel verharrt. Darin ist der Körper in einem Inertialraum und einer vollständigen Stase begriffen. Er greift keinen Raum Gespräche mit Hellmuth Becker 1959-1969. Hg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt a.M. 1970, S. 50-69. 384. Vgl. J. Crary: Techniken des Betrachters. 385. Ebd., S. 128. 386. Vgl. Agentur Bilwet (Hg.), Der Datendandy. Medien, New Age und Technokultur, Mannheim 1994. 387. Explizit in Paul Virilio: Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, Frankfurt a.M. 1996. 388. Paul Virilio: »Das letzte Vehikel«, in: Ders.: Rasender Stillstand. Essay, München 1992, S. 36-68.

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mehr, sondern nimmt nur noch die Simulation von Bewegung wahr, die visuell auf ihn einstürzt. Das perfekte Modell für dieses immobile Vehikel ist für Virilio der »Flugsimulator«. Dieser kann als Endpunkt einer experimentellen Entwicklung gelten, die nicht zufällig mit den kinematographischen Kraftfahrsimulationstrainings der Psychotechnik Hugo Münsterbergs 1912 begonnen hat.389 Virilios »dromologische« Perspektive auf die unsichtbare Machtverteilung von Medien und ihre formatierende Wirkung auf den menschlichen Körper verweist auf einen geheimen Konnex von Krieg, Medien, Urbanität und einer zunehmend alle Bereiche des Lebens umfassenden Tendenz der Beschleunigung. Die Geschwindigkeit ist für Virilio dabei der entscheidende und unsichtbare Faktor in der Verteilung von Handlungsmacht. Die industrielle Revolution sei deshalb auch eine »dromokratische« Revolution, und der zentrale Konflikt der Industrialisierung handle allein von dem Wettlauf zwischen immer schneller werdenden Maschinen. Auch staatliche Macht besteht für Virilio vor allem in der Kontrolle von Geschwindigkeiten und zwar zunehmend in der von Information. In Der negative Horizont (1984)390 entwickelt er dazu eine Anthropologie der Geschwindigkeit auf der Basis militärischer Überlegenheit. Herrschaft ist, so formuliert Virilio es als historisches Prinzip, der Effekt einer überlegenen Instrumentalisierung von Transport und Bewegung. Für Virilio besteht die Geschichte zusammengefasst aus dromologischen Revolutionen, wie der Industrialisierung des Transportwesens im 19. Jahrhundert sowie der medialen und universalen »Telepräsenz« durch Medien wie Telegraph oder Telefon, die die Information vom menschlichen Körper trennen. Mit den elektronischen Medien wird eine neue Qualität der Beschleunigung erreicht. In der apokalyptischen Logik Virilios vernichtet die wachsende »Fluchtgeschwindigkeit« der Welt den Raum und führt letztlich zu einer globalen Simultaneität. McLuhans »global village« bedeutet damit eine simultane globale Weltzeit, in der Räume und Körper keinen Platz mehr haben. Das Ziel militärischer Technologie ist analog dazu die Verbesserung der visuellen Wahrnehmung bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit, der »Ästhetik des Verschwindens«391. Beispielhaft dafür ist die Entwicklung der Militäruniform, die von »grellen Farben« zu einem »neutralen Farbton« wechselt: »Das Vermummen, das Verkleiden des gesamten kämpfenden Korps zwecks Erlangung einer 389. »Bei den Harvarder Laboratoriumsversuchen, die in einer verdunkelten Halle stattfanden, nimmt der Prüfling am Steuer eines Autos Platz, das selbst bei arbeitendem Motor und betriebsfähiger Maschine stationär ist. In der Front des Wagens befindet sich eine weiße Wand, auf die lebensgroße kinematographische Bilder geworfen werden. […] Nun gilt es für den Prüfling angesichts der auf der weißen Wand vor ihm auftauchenden Bilder so zu handeln, als wenn die dargestellten Begebenheiten sich in der Wirklichkeit abspielten.« Lichtbild-Bühne vom 21.9.1912, S. 38-39. Zitiert nach: Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino. Hg. v. Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 128. Anmerkungen (10). 390. Paul Virilio: Der negative Horizont. Bewegung – Geschwindigkeit – Beschleunigung, München, Wien 1995. 391. Ebd., S. 91-109.

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Verborgenheit, die die Überraschung ermöglicht, […] entzieht sich der Obszönität des feindlichen Blicks.«392 Dieses militärische Verfahren der Unsichtbarmachung koppelt Virilio an die Entwicklung der elektronischen Bildmedien,393 eine Schlussfolgerung, die Kittler schließlich mit der Formel von Medien als »Missbrauch[…] von Heeresgerät«394 pointiert. Schon die Photographie und dann vor allem die Chronophotographie als Vorläufer des Films revolutionieren die Wahrnehmung und führen auch in McLuhans prothetischer Rhetorik zu einer Fusion des menschlichen Auges mit dem Objektiv. Den technologischen Gipfel dieser Entwicklung sieht Virilio am Beispiel der Golfkriege mit intelligenten Raketen und Drohnen realisiert, die die elektronische Fernsicht und Bildübertragung direkt mit der ferngesteuerten Zerstörung koppeln: »Als erster Tarnkrieg der Geschichte ist es dem Krieg der Echtzeit gelungen, nicht nur die Unauffälligkeit seiner Mittel, seiner Angriffswaffen und ihre Einsatzstrategie auf dem Schlachtfeld im Nahen Osten zu nutzen, sondern auch die totale Kontrolle über ihre öffentliche Darstellung, und das weltweit. Damit ist das militärische Umfeld nicht mehr in erster Linie das geophysikalische Umfeld des realen Raums (Boden-, See- oder Luft-)Schlachten, sondern vielmehr der mikrophysikalische Raum des elektromagnetischen Umfeldes der Echtzeit eingeleiteter Operationen […]«395

Dem dromologischen Aspekt der Militärtechnologie fügt Virilio also das Primat der Unsichtbarkeit hinzu und formuliert das doppelte Ziel aktueller Militär- und Medientechnologie, den Feind »nicht mehr aus dem Auge zu verlieren« und zugleich das eigene »Aus-dem-Blick-Verschwinden« zur erreichen.396

2.5.4 D A S S TAT I S T I SCH U NSICHTBARE (N OELLE -N EUMANN ) Ein wesentlicher Aspekt der Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit im öffentlichen Raum betrifft auch die komplizierten Verbindungen zur Repräsentation staatlicher Politik. Relevant wird dabei die Rolle der Medien Presse und Rundfunk in der Herstellung von Öffentlichkeit als »öffentliche Meinung«, dem latenten »Klima« der Öffentlichkeit. Elisabeth Noelle-Neumann bindet die Geschichte der öffentlichen Meinung in der Bundesrepublik Deutschland beispielsweise eng an die Entwicklung der Kommunikationstheorie und unterscheidet dabei zwei Traditionen:397 Zum einen stellt sie eine Elitestruktur in der Verteilung von Kommunikation fest. Zum anderen konstatiert sie, flankiert von konser392. Ebd., S. 91. 393. Vgl. Paul Virilio: Krieg und Kino. Logistik der Wahrnehmung, Frankfurt

a.M. 1989. 394. F. Kittler: Grammophon, S. 170. 395. Paul Virilio: Krieg und Fernsehen, Frankfurt a.M. 1997, S. 115. 396. Ebd., S. 117. 397. Elisabeth Noelle-Neumann: »Öffentliche Meinung«, in: Elisabeth NoelleNeumann/Winfried Schulz/Jürgen Wilke (Hg.), Das Fischer Lexikon Publizistik Massenkommunikation, Frankfurt a.M. 1994. S. 366-382.

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vativer Soziologie (Helmut Schelsky) und Anthropologie (Arnold Gehlen), eine Vereinnahmung des Rundfunks und damit der öffentlichen Meinung durch die politische Linke. Konzentriert formuliert Noelle-Neumann dies in der Theorie der Schweigespirale.398 Dabei handelt es sich um das Modell eines selbststeuernden oder systemischen Verdeckungsprozesses, der in der Lesart Noelle-Neumanns aber dennoch Schuldige im Sinne von Marionettenspielern hinter einer massenmedialen Bühne vorzuweisen hat. Es geht dabei um die Steuerung der öffentlichen Meinung durch die Medien und ihre Wirkung auf die Entscheidungen von Wählern. Verkürzt dargestellt, beruht das Modell auf einen Öffentlichkeitsbegriff, der auf der wechselseitigen Kenntnisnahme von Meinungen und deren Veränderungen beruht. Diese können direkt oder durch Medien wahrgenommen werden. In impliziter Anerkennung der Existenz von opinion leaders und damit des two-step flow of communication-Modells von Paul F. Lazarsfeld geht Noelle-Neumann davon aus, dass Personen, die annehmen, eine dominante Meinung zu vertreten, stärker damit hervortreten als andere. In der Öffentlichkeit wird die als dominant angenommene Meinung damit verstärkt, so dass als Effekt diese Meinung weiter verstärkt wird. Personen, die einer nicht-dominant angesehenen Meinung anhängen, sind hingegen eingeschüchtert und verstummen. Letztlich wird im Akt einer self-fulfilling prophecy die dominant angenommene Meinung tatsächlich zur dominanten Meinung. Diese zirkuläre Reflexion von öffentlicher Meinung erschließt und stützt Noelle-Neumann durch eine Doppelstruktur von demoskopischer Befragung, die sowohl nach den Chancen beispielsweise einer Partei zur Wahl fragt als auch nach der Meinung zur Meinung anderer zum Wahlsieg. Diese wird als »Klima-Frage« bezeichnet. Diese latente Macht der Annahme über die Annahme bestimmt, so Noelle-Neumann, die öffentliche Meinung. »Die Wirkung der Medien«, so lässt sich mit Klaus Merten dazu ergänzen, »besteht bei diesem Ansatz in der Sichtbarmachung einer Orientierungsgröße (Meinung anderer), die dann als Leitlinie für eigenes Handeln übernommen wird«399. Im Abschlusskapitel ihrer Theorie zur Schweigespirale, »Manifeste und latente Funktion öffentlicher Meinung: Eine Zusammenfassung«, 400 nimmt Noelle-Neumann ihren Ausgang auf die Zusammenfassung der Sammlung von Definitionen öffentlicher Meinung bei Harwood Childs:401

398. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung – unsere soziale Haut, München 2001; Dies.: »Die Schweigespirale. Über die Entstehung der öffentlichen Meinung«, in: E. Forsthoff/R. Hörstel (Hg.), Standorte im Zeitstrom. Festschrift für Arnold Gehlen, Frankfurt a.M. 1974. 399. Klaus Merten: »Wirkungen von Kommunikation«, in: Klaus Merten/Siegfried J. Schmidt/Siegfried Weischenberg (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaft, Opladen 1994, S. 291-328, hier S. 321. 400. E. Noelle-Neumann: Schweigespirale, S. 323-342. 401. Harwood L. Childs: Public Opinion: Nature, Formation, and Role, Princeton 1965.

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»1. Öffentliche Meinung als Rationalität mit Funktionen für Meinungsbildung und Entscheidung in der Demokratie. 2. Öffentliche Meinung als soziale Kontrolle mit der Funktion der Integration der Gesellschaft und Sicherung eines für Handeln und Entscheiden ausreichenden Grades von Konsens.«402

Sie führt diese beiden Theorien auf Robert Mertons Bestimmung von manifesten und latenten Funktionen in Social Theory and Social Structure (1949)403 zurück und weist der ersten Definition die manifeste, der zweiten die latente Funktion öffentlicher Meinung zu. Die erste Fassung, »die sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausgebreitet hat«, 404 ist durch Rationalität charakterisiert und kann – Noelle Neumann fasst hier Habermas zusammen – als »politisches ›Räsonnement‹ in der öffentlichen Sphäre als Korrelat zur Regierung«405 verstanden werden. In diesem Verständnis wird öffentliche Meinung mit einer rationalen Auseinandersetzung im Rahmen einer Diskussion gleichgesetzt. Unterschiedlich wird dabei allerdings der Kreis der Diskutanten in den Begriffsdefinitionen vom 19. bis zum 20. Jahrhundert bestimmt. So verengt Francis G. Wilson beispielsweise 1933 die Partizipierenden auf »den Kreis derjenigen, die das Recht der Mitwirkung an der Regierung haben« 406. Öffentliche Meinung und politisches Räsonnement bleibt in diesem Verständnis also auf das umhegte Feld der staatlichen Politik beschränkt. Das entscheidende Moment bleibt in den meisten Bestimmungen allerdings die Rationalität der öffentlichen Meinung, und ihr wesentlicher Aspekt deshalb die Abfragbarkeit und damit statistische Messbarkeit. 407 Desiderat bleibt für Noelle-Neumann hingegen die Erforschung der latenten Funktion öffentlicher Meinung als soziale Kontrolle. Sie stellt dazu fest, dass die gewaltige Macht der öffentlichen Meinung zwar leicht nachzuvollziehen ist, dass diese der Forschung aufgrund des dominanten Rationalitätskonzepts bislang aber einfach nicht aufgefallen sei. Entscheidend ist für Noelle-Neumann bei der latenten Funktion auch nicht die Qualität der Argumente in einer öffentlichen Diskussion, sondern allein die Stärke eines Lagers, andere zu isolieren, zu ächten und auszuschließen. Auf diese Weise könne beispielsweise Druck auf das Individuum, aber auch auf ganze Staaten ausgeübt werden. Die Theorie der Schweigespirale erklärt für Noelle-Neumann Phänomene, 402. E. Noelle-Neumann: Schweigespirale, S. 323-324. 403. Ausführlicher zu Merton ist das Kapitel 2.2.1 Manifeste und latente Funktio-

nen (Luhmann, Merton) in diesem Band. 404. E. Noelle-Neumann: Schweigespirale, S. 325. 405. Ebd., S. 326. 406. Francis G. Wilson: »Concepts of Public Opinion«, in: The American Political Science Review 27 (1933), S. 371-391, hier S. 382, 390. Zitiert nach: NoelleNeumann: Schweigespirale, S. 327. 407. Noch Paul Lazarsfeld, so zitiert Noelle-Neumann, stellt fest: »Da die Meinungsforschung nun einmal existiert, werden wir zweifellos auch weiterhin die öffentliche Meinung als gut analysierte Einstellungsverteilungen begreifen.« Paul F. Lazarsfeld: »Public Opinion and the Classical Tradition«, in: Public Opinion Quarterly 21/1 (1957), S. 39-53, hier S. 43. Zitiert nach Noelle-Neumann: Schweigespirale, S. 330.

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2. Mediale Latenz und politische Form. Positionen und Konzepte

die auf andere Phänomene reagieren und die z.B. auch einen »last-minute swing« bei Wahlen erläutern kann, ein Verhalten, das durch ein rationales Konzept von öffentlicher Meinung nicht nachvollziehbar wäre. Zusammenfassend trennt sie deshalb das »öffentliche Räsonnement« deutlich von der »öffentlichen Meinung«: »Die – im Sinne von Merton – manifeste Funktion des öffentlichen Räsonnements, mit Argumenten in der Öffentlichkeit eine Entscheidung herbeizuführen, ist bewusst, ist beabsichtigt, ist gebilligt, aber oft vermag sie die Bevölkerung gefühlsmäßig nicht zu überzeugen, nicht mitzureißen, und damit fehlt ihr die Kraft, die sie braucht, um den der Gesellschaft notwendigen Konsensus zu schaffen und zu verteidigen. Erst die von der Bevölkerung auch gefühlsmäßig gebilligte Meinung in kontroversen Fragen kann als öffentliche Meinung die latente Funktion, die Gesellschaft zusammenzuhalten, erfüllen.«408

Noelle-Neumann benennt (darin ganz analog zu Mertons Beispiel der Regentänze der Hopi-Indianer) deshalb das Räsonnement im Sinne einer öffentlichen Entscheidungsbildung als manifeste, aber nur scheinbare Funktion öffentlicher Meinung, während die latente Funktion der sozialen Kontrolle und damit ihrer Macht zu Konsensbildung und Integration von Gesellschaft die »wirkliche Funktion«409 darstellt. An einem Modell wie der Schweigespirale lässt sich abschließend auch die Möglichkeit ideologischer Instrumentalisierbarkeit von Latenztheorien zeigen, die sie in die Nähe der Verschwörungstheorie rückt. So kommt NoelleNeumanns These, dass ein Unsichtbares der öffentlichen Meinung existiert, das zugleich ein konstitutives Geheimnis sozialer Kontrolle darstellt, nicht ohne stark konjekturale und mitunter deterministische Elemente aus. Letztlich erweist sich eine Latenztheorie, die die Aufdeckung mitunter intentional verdeckter bzw. verborgener Mechanismen zum Ziel hat, dabei auch als ein in hohem Maße »gerichteter Denkstil«, 410 dessen Aufklärungsarbeit sich einer verengten Perspektive verdankt. Diese Gerichtetheit, die auf die Offenlegung und Sichtbarmachung eines vermuteten geheimen Kerns unter einer opaken Oberfläche abzielt und dabei einen aktiven Agenten der Verschleierung insinuiert, weist dabei selbst einen Zug zur Ausblendung oder Latentisierung auf bzw. werden offenkundig in der Formulierung des latenztheoretischen Verdachts immer auch die blinden Flecken dieses Denkens offenbar. Denn auf eine generelle theoretische Figur des Verdachts, 411 die im buchstäblich topographischen Sinne immer eine unverstellte Ebene der Wahrheit hinter oder unter einem Schleier in allen psychischen oder sozialen Systemen und allen kulturellen Teilbereichen vermutet, kann letztlich keine Latenztheorie verzichten.

408. E. Noelle-Neumann: Schweigespirale, S. 340. 409. Ebd., S. 341. 410. Vgl. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen

Tatsache (1935), Frankfurt a.M. 1980. 411. Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000.

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3. Die unsichtbare Hand. Zur Latenz einer literar ischen Metapher Harun Maye »Es scheint angemessen zu sein, zumindest auf einer symbolischen Ebene zu behaupten, dass das Eintauchen der Menschheit ins elektronische Meer mit der Hand begann.«1 Derrick de Kerckhove: Touch versus Vision (1993)

Das deutsche Adjektiv latent in der Bedeutung »verborgen, nicht unmittelbar fasslich«2 ist erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum nachgewiesen und eine Entlehnung des lateinischen latere (verborgen sein, versteckt sein), ein nicht fachspezifisch gebundenes Verb, dessen zentrale Bedeutung in der Theologie und Metaphysik des Mittelalters die Wendung von der ›Verborgenheit Gottes‹ in der Schöpfung ist.3 Nicht umsonst ist das Ende des 18. Jahrhunderts auch die Hochzeit eines Diskurses, dessen Zentrum die Metapher der ›unsichtbaren Hand‹ ist, welche die ›Hand Gottes‹ beerben und säkularisieren sollte. Die Hand Gottes (manus dei) ist im Alten Testament das Sinnbild für den allmächtig handelnden Gott und damit das wichtigste christliche Gottessymbol in der Spätantike und dem Mittelalter. Sie veranschaulicht vor allem das Wort oder die Stimme Gottes, seltener auch Christus oder den Heiligen Geist, die aus einem als Licht- oder Wolkensegment dargestellten Himmel herabkommt und in das Leben der Menschen eingreift. 4 Geistesgeschicht1. Derrick de Kerckhove: »Touch versus Vision. Ästhetik neuer Technologien«, in: Wolfgang Welsch (Hg.), Die Aktualität des Ästhetischen, München 1993, S. 137168, hier S. 161. 2. Artikel »Verbergen«, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde, Halle 1732-1754. Nachdruck Bd. 47, Graz 1997, Sp. 135-139. 3. Artikel »Latent, Latenz«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 39-42. 4. Artikel »Hand Gottes«, in: Engelbert Kirschbaum (Hg.), Lexikon der christlichen Ikonographie. Bd. 2, Rom, Freiburg, Basel, Wien 1970, Sp. 211-214.

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licher Hintergrund dieser einflussreichen und ikonographisch weitverbreiteten Vorstellung ist der Gottes- und Weltbegriff der christlichen Ontologie und Metaphysik, wonach eine einheitliche, vernünftige und vorausplanende Macht die Welt durchwaltet und alle Dinge und Lebewesen in ihr teleologisch anleitet. In der mittelalterlichen Lehre vom Seienden besitzen die Naturdinge und alle Tiere, die in ihr leben, eine irdische Erscheinungsform und eine dahinter liegende Bedeutung, die sich erst erschließt, wenn erkannt wird, welchen Platz die Dinge im göttlichen Schöpfungsplan einnehmen. Die Schöpfung ist nur ein von der göttlichen Vollkommenheit abgeleitetes Sein zweiter Ordnung und wird erst wirklich verständlich, wenn man die Verborgenheit der göttlichen Absicht in deren Formen erkennt. Diese Dopplung von äußerer Erscheinung und verborgenem Sinn folgt einer allegorischen Natur- und Schriftauslegung, der Lehre vom vierfachen Schriftsinn. Ganz grundsätzlich wird dabei zwischen einem wörtlichen Sinn (sensus litteralis) und der übertragenen Bedeutung (sensus spiritualis) unterschieden. Der geistige Sinn lässt sich noch einmal differenzieren und auf die Heilsgeschichte (Typologie), auf die Lebensführung des Menschen (Moral) und auf das Weltende (Hoffnung) beziehen. Diese Interpretationsmethode, die auf der Unterscheidung zwischen einem wörtlichen und einem übertragenen Sinn beruht, ist auch nach der Säkularisierung theologischer und providentieller Denkfiguren immer noch zentral für deren Auslegung. Der Zeitpunkt, an dem die Wendung von der ›unsichtbaren Hand‹ etabliert wird, fällt zusammen mit der Krise und Auflösung dieser christlichen Providenzmetaphysik, was sich sehr deutlich z.B. an der Veränderung der Schicksalsthematik und -semantik in der Roman- und Philosophiegeschichte des 18. Jahrhunderts ablesen lässt.5 Aber gerade im Versuch, diese aus der Verabschiedung der Providenz gewonnene Kontingenz sozial und kulturell zu bewältigen, zeigt sich, dass zur Sicherung der neuen Postulate und Welterklärungsmodelle »andere Begründungen als die der überwunden geglaubten Metaphysik der providentiellen Intervention nicht zu Gebote stehen. Das führt zu einer Rückholung des Verdrängten, zu einer mit ›schlechtem Gewissen‹ vollzogenen Reaktualisierung verabschiedeter Paradigmen«, wovon die unsichtbare Hand ein gutes Beispiel gibt.6 Die unsichtbare Hand ist natürlich nicht identisch mit der Hand Gottes, sondern eine Anverwandlung und Umschrift dieser einflussreichen Schicksalssemantik, aber es kann auch keine Rede davon sein, dass im ausgehenden 18. Jahrhundert an die Stelle eines ehemaligen Gottvertrauens ein System-, Prozess- oder Funktionsvertrauen getreten wäre. Ganz im Gegenteil zeigt die Metapher durch ihren »latenten Providentialismus« (Frick) nicht nur die Macht der Tradition an, sondern er5. Vgl. die ausführliche Untersuchung von Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts, Tübingen 1988; für die neuzeitliche Philosophie der Geschichte siehe Heinz-Dieter Kittsteiner: Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1980, bes. 153-221. 6. Ebd.

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weist sich bei genauer Lektüre als ein Widerspruch zwischen dem, was sie sein soll und dem, was sie zu denken gibt. Der Versuch einer Rationalisierung der Metapher offenbart die fortgesetzte Unsicherheit darüber, ob sie ihre Plausibilität überhaupt jenen mechanistischen Prozessen verdankt, die sie veranschaulichen soll, oder nicht vielmehr einer verdrängten Figur aus dem Repertoire der Texte, aus denen sich ihre Popularität speist.

3.1 Gespenstische Selbststeuerung und latente Handlungsmacht bei Adam Smith Adam Smith erwähnt in seiner voluminösen Abhandlung An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) die Phrase von der ›unsichtbaren Hand‹ nur an einer einzigen Stelle. In seinen gesammelten Werken kommt die Metapher insgesamt nur dreimal vor. Nirgends ist im Zusammenhang mit ihr von der Funktion des Kapitalismus oder dem Mechanismus des freien Marktes die Rede – dennoch ist sie eine sehr populäre Redewendungen in Ökonomie und Politik geworden. Wie konnte eine so marginale Erwähnung einen so großen Nachruhm erlangen? Ist der Erfolg tatsächlich der theoretischen Fassung des Gleichgewichtsmechanismus am Konkurrenzmarkt zu verdanken, die Smith zum Begründer und Klassiker der Nationalökonomie hat werden lassen? Die Frage muss verneint werden, denn diesen Mechanismus hat Smith im Kontext der unsichtbaren Hand nie beschrieben. Nachdem er die Grundprinzipien des Merkantilismus abgehandelt hat, erörtert Smith im zweiten Kapitel des vierten Buches von Wealth of Nations die Vor- und Nachteile einer Importbeschränkung für ausländische Güter, die auch im Inland erzeugt werden könnten. Zentrales Argument von Smith ist der Nachweis, dass so genannte Schutzzölle kein gutes Instrument einer Volkswirtschaft sind und der Freihandel keinen verstärkten Abfluss von Kapital ins Ausland erzeugt, sondern das Gewinnstreben des Kaufmanns seinem Sicherheitsbedürfnis entspricht und sich selbst dann auf den heimischen Binnenhandel richtet, wenn die Güter aus dem Ausland bezogen werden: »Da also jeder einzelne danach trachtet, sein Kapital möglichst in der heimischen Erwerbstätigkeit einzusetzen und diese Erwerbstätigkeit so auszurichten, dass die größte Wertschöpfung erfolgt, arbeitet jeder einzelne notwendigerweise darauf hin, das jährliche Volkseinkommen möglichst groß zu machen. In der Regel hat er freilich weder die Absicht, das Gemeinwohl zu fördern, noch weiß er, wie sehr er es fördert. Wenn er die heimische Erwerbstätigkeit der ausländischen vorzieht, denkt er nur an seine eigene Sicherheit; und wenn er diese Erwerbstätigkeit so ausrichtet, dass die größte Wertschöpfung erfolgt, denkt er nur an seinen eigenen Vorteil, und dabei wird er, wie in vielen anderen Fällen auch, von einer unsichtbaren Hand geleitet, einem Zweck zu dienen, der nicht in seiner Absicht lag. Für die Gesellschaft ist es gar nicht immer von Schaden, dass dieser nicht in seiner Absicht lag. Indem er sein eigenes Interesse verfolgt, fördert er häufiger das der Gesellschaft wirksamer, als wenn er sich tatsächlich vornimmt, es zu fördern. Ich habe nie gehört, dass dieje-

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nigen viel Gutes bewirkt hätten, die vorgaben, im Interesse des allgemeinen Besten zu handeln.«7

Hier geht es nicht um den Markt, sondern um den Zusammenhang der Sicherheits- und Profitinteressen des Kaufmanns mit dem Wohlstand des Gemeinwesens. Und dieser Zusammenhang, da dessen konkreter Mechanismus nicht beschrieben werden kann, wird von Smith über die Metapher der unsichtbaren Hand hergestellt. Zölle und Importverbote schränken nicht nur die Freiheiten und den Wohlstand des Einzelnen ein, sondern seien auch schädlich für das allgemeine Wohl, dem gerade durch den Egoismus des Einzelnen viel eher gedient sei, als durch die Regierungskunst von Staatsmännern – so lautet Smith eigentlich innovative These: »Ohne jedes Dazwischentreten des Gesetzes« führen die privaten Interessen und Passionen der Menschen sie natürlicherweise dazu, das Vermögen so zu verteilen, »wie es dem Interesse der ganzen Gesellschaft am besten entspricht.«8 Die unsichtbare Hand des Systems wird der sichtbaren Hand des Gesetzgebers und der Expertengremien entgegengesetzt, die versuchen wollen, »Privatpersonen die Art und Weise der Verwendung ihres Kapitals vorzuschreiben«. Diese Verantwortung, so Smith weiter, wäre nirgends so gefährdet und gefährlich »wie in den Händen eines Mannes, der töricht und vermessen genug wäre, sie sich zuzutrauen«.9 Doch solche Fort- und Umschriften der Metapher sind ebenfalls gefährlich, wie noch zu zeigen sein wird, denn wer von den sichtbaren Hände des Monarchen dazu verführt wird, eine unsichtbare Hand ins Spiel zu bringen, wirft damit zwangsläufig die Frage auf, wem diese Hand gehört.10 Die Antwort, dass es sich um die Hand eines Systems handelt, kann kaum überzeugen. Wessen Hände sind im Spiel der Interessen beteiligt? Soll man sich diese Hände als interessiert oder als interesseloses Wohlgefallen am Spiel der Interessen vorstellen? Sowohl die ›Hand‹ als auch die ›Unsichtbarkeit‹ sind in dem Beispiel also keineswegs unschuldig. Denn unsichtbar ist nicht nur die Hand, sondern vor allem die Komplexität eines Systems, das sich jeder übergeordneten Kontrolle, jeder Übersicht systematisch entzieht. Weder der einzelne Kaufmann noch die 7. Adam Smith: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, hg. v. Erich W. Streissler, Tübingen 2005, S. 467. 8. Ebd., S. 619. 9. Ebd., S. 467. 10. Der zeitgenössische Boom der Verschwörungstheorien findet nicht umsonst 1776 seinen Anfang. Neben dem Hauptwerk von Adam Smith, das in diesem Jahr veröffentlicht wurde, erblickte auch der Illuminatenorden das Licht der aufgeklärten Welt. Die Vorstellung, dass nichts ist, wie es scheint, alles aber auf rätselhafte Weise miteinander verbunden ist, dient im ausgehenden 18. Jahrhundert offenbar zur Orientierung in einer Welt, die ihre tradierten metaphysischen Überzeugungen aufgegeben hatte, ohne diese Leerstelle überzeugend füllen zu können. Einführend dazu ist Jakob Tanner: »The Conspiracy of the Invisible Hand. Anonymous Market Mechanisms and Dark Powers«, in: New German Critique 103, Vol. 35, No. 1 (Spring 2008), S. 51-64.

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Regierung überblickt die wirtschaftlichen Zusammenhänge in einem ausreichenden Maß, um im Interesse des allgemeinen Besten handeln zu können. Daher muss man die Verteilung des Vermögens dem System der Wirtschaft überlassen, an dem jeder teilnehmen, aber in dessen Logik niemand eingreifen soll, weil die Folgen nicht berechenbar sind.11 Adam Smith gibt in seinem moralphilosophischen Werk The Theory of Moral Sentiments (1759) noch ein zweites Beispiel für die Wirkungsweise der unsichtbaren Hand. Dieses Beispiel besagt, dass es gar nicht auf den guten Willen der Wohlhabenden und Gutsbesitzer ankommt, die Bevölkerung an ihren Gütern teilhaben zu lassen, sondern dass deren Bedürfnis nach »Luxus«, »Kram und Tand« automatisch zum Wohlstand der Vielen beiträgt: »Der Ertrag des Bodens erhält zu allen Zeiten ungefähr jene Anzahl von Bewohnern, die er zu erhalten fähig ist. Nur dass die Reichen aus dem ganzen Haufen dasjenige auswählen, was das Kostbarste und ihnen Angenehmste ist. […] Von einer unsichtbaren Hand werden sie dahin geführt, beinahe die gleiche Verteilung der zum Leben notwendigen Güter zu verwirklichen, die zustandegekommen wäre, wenn die Erde zu gleichen Teilen unter alle ihre Bewohner verteilt worden wäre; und so fördern sie ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Gesellschaft und gewähren die Mittel zur Vermehrung der Gattung. Als die Vorsehung die Erde unter eine geringe Zahl von Herren und Besitzern verteilte, da hat sie diejenigen, die sie scheinbar bei ihrer Teilung übergangen hat, doch nicht vergessen und nicht ganz verlassen.«12

Smith gibt hier ein klassisches Beispiel für die Produktivität von Nichtwissen und die latente Funktion von Handlungen: Ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, fördern ›die Reichen‹ das Interesse der Gemeinschaft durch die »maßlose Größe« ihrer »Begierden«.13 Der Wohlstand der Nation ergibt sich buchstäblich hinter dem Rücken der Beteiligten. Natürlich soll vor allem 11. Zu diesem Prinzip einer konstitutiven Unsichtbarkeit bei Adam Smith siehe Michel Foucault: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesung am Collège de France 1978-1979, Frankfurt a.M. 2004, S. 367-393. 12. Adam Smith: Theorie der ethischen Gefühle, hg. v. Walter Eckstein, Hamburg 2004, S. 316f. Smith’ Theorie der Sympathie fungiert als moralphilosophische Einbettung der politischen Ökonomie, deren Kontingenz und Rationalität durch das Prinzip einer ethischen Vernunft ausgeglichen werden sollen: »Wenn die Zirkulation der Einzelinteressen der Steuerung einer ›unsichtbaren Hand‹ folgt und damit soziale Ordnung garantiert, so übernimmt die Sympathie darin die Rolle eines generierenden Prinzips, das die empirische Vielzahl der Perspektiven mit der Instanz ihrer Abklärung zusammenhält«, so Joseph Vogl: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen, München 2002, S. 92. Der Hinweis ist zwar völlig zutreffend, unterbewertet aber die tragende Rolle des Gespenstischen und Übernatürlichen zugunsten einer anthropologischen und poetologischen Fragestellung, deren Zentrum der Sympathiebegriff ist. Hier soll dagegen – im Anschluss an Stefan Andriopoulos – die tragende Rolle des Gespenster-Diskurses betont werden. 13. Ebd.

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ein möglichst positiver Aspekt von unvorhergesehenen und unbeabsichtigten Handlungsfolgen hervorgehoben werden, dennoch ist Smith nicht blind für die Lücken seiner Argumentation. Denn dass der Egoismus der Einzelnen immer im Interesse der Gemeinschaft sein soll, ist wenig plausibel. Es kann keinen Systemautomatismus geben, der Laster in Tugenden verwandelt oder jede Form des Egoismus in Gemeinwohl. Daher wird die Argumentation noch einmal theologisch und teleologisch abgesichert, indem die unsichtbare Hand ganz deutlich als die Hand der Vorsehung identifiziert wird, die jedem dasjenige gibt, was ihm zusteht und dabei niemanden vergisst. In diesem Beispiel wird der latente Providentialismus der Metapher ganz manifest und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Smith hier weder einen Marktmechanismus beschreibt, noch den Begriff der Sympathie oder ethischen Vernunft bemüht, sondern eine übernatürliche Handlungsmacht anruft. Es handelt sich dabei um keine Ausnahme oder gar eine argumentative Schwäche, was schon die dritte und früheste Stelle im Gesamtwerk beweist, an der Smith von einer unsichtbaren Hand spricht: »For it may be observed, that in all Polytheistic religions, among savages, as well as in the early ages of Heathen antiquity, it is the irregular events of nature only that are ascribed to the agency and power of their gods. Fire burns, and water refreshes; heavy bodies descend, and lighter substances fly upwards, by the necessity of their own nature; nor was the invisible hand of Jupiter ever apprehended to be employed in those matters. But thunder and lightning, storms and sunshine, those more irregular events, were ascribed to his favour, or his anger.«14

Das Zitat stammt aus der History of Astronomy (1759/1795) und steht im Kontext einer Abhandlung über den Ursprung der Philosophie. An Stelle von Philosophie, so Smith, haben die ›Wilden‹ ihre Vielgötterei und was immer sie als irreguläre Naturereignisse empfinden, schreiben sie der unsichtbaren Hand und dem Gemütszustand eines Gottes zu. Die unsichtbare Hand, die zum Wohlstand der Nationen beiträgt, wird hier zur unsichtbaren Hand Jupiters und verkehrt damit die Rationalisierung und Säkularisierung der Hand Gottes in ihr Gegenteil. Zweimal wird die unsichtbare Hand demnach als die Hand der Vorsehung adressiert und verweist damit weder auf eine argumentative Lücke im philosophischen System von Adam Smith, noch auf einen ironischen Gebrauch der Phrase, sondern auf den literarischen Ursprung der Metapher. Eine der frühesten Belege stammt aus Shakespeares Macbeth (1605) und besteht in der Anrufung der ›blutigen, unsichtbaren Hand‹ der Nacht, die einen schrecklichen Mord verbergen soll.15 Ebenso schrecklich erscheint der 14. Adam Smith: »The History of Astronomy«, in: Ders.: Essays on Philosophical Subjects (1795), hg. v. W. P. D. Wightman and J. C. Bryce, vol. III of the Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Indianapolis 1982 (Section III: Of the Origin of Philosophy), S. 49f. 15. »The earlier intellectual history of invisible hands turns out to be generally grim. The most famous invisible hand in Anglo-Scottish literature is that of

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»sudden Blow from an almost invisible Hand«, die Moll Flanders keinen Reichtum und auch nicht das allgemeine Beste beschert, sondern das genaue Gegenteil: »[an invisible hand] blasted all my Happiness«.16 Diese unheimliche Verwendung der Metapher setzt sich fort im Geheimbund- und Schauerroman des 18. Jahrhunderts, wo die unsichtbare Hand eine prominente Rolle spielt 17 – von Mary Shelleys’ Frankenstein (1818), wo die heimlichen Dienste und kleinen Arbeiten der Kreatur als »performed by an invisible hand« wahrgenommen werden, über Clara Reeves’ The Old Englisch Baron (1777), wo der Protagonist in seinen Träumen von einer symbolischen Szene zur nächsten geleitet wird, »hurried away by an invisible hand«, bis zur ›Gründungsurkunde‹ des gesamten Genres, The Castle of Otranto (1764) von Horace Walpole, dessen Antagonist Manfred von einem Gespenst (das einem Bilderrahmen in der Ahnengalerie entstiegen ist) an einer versuchten Vergewaltigung gehindert und in ein abgelegenes Zimmer des Schlosses geführt wird: »As he would have entered the chamber, the door was clapped-to with violence by an invisible hand.«18 Im Schauerroman und auch bei Adam Smith werden die ursprünglichen Intentionen und Handlungsfolgen durch die Intervention einer unsichtbaren Hand unterbrochen. Die These, dass es sich dabei um zwei sehr verschiedene Hände handelt, nämlich im Fall der Nationalökonomie um eine natürliche oder gesellschaftliche und im Fall des Schauerromans um eine übernatürliche Handlungsmacht, ist nach einer genauen Lektüre nicht mehr haltbar und durch die Verwendung einer Wendung, die beide Bedeutungen supplementieren kann, auch nicht mehr mit Sicherheit sagbar. In The Castle of Otranto greift die Vorsehung in Form der unsichtbaren Hand mehrmals in das Geschehen ein, um den Schlossherrn Manfred (der das Gebäude von seinem Macbeth’s providence. »And with thy bloody and invisible hand,« Macbeth apostrophizes the night in Act III, in the scene immediately before the banquet and Banquo’s murder; he asks the darkness to cover up the crimes he is about to commit: ›Be innocent of the knowledge, dearest chuck/Till thou applaud the deed. Come, seeling night,/Scarf up the tender eye of pitiful day/And with thy bloody and invisible hand/Cancel and tear to pieces that great bond/Which keeps me pale!‹ (William Shakespeare: Macbeth, Act 3, Scene 2, 45-50). Smith, who lectured on Shakespeare’s use of metaphor, is likely to have known Macbeth well.« Emma Rothschild: Economic Sentiments. Adam Smith, Condorcet, and the Enlightenment, Cambridge/Massachusetts 2001, S. 117f. Die Liste der literarischen Erwähnungen einer unsichtbaren Hand (vor Adam Smith) in der Weltliteratur ist sehr lang und kann zumindest teilweise bei Rothschild eingesehen werden. 16. Daniel Defoe: Moll Flanders (1722), hg. v. Paul A. Scanlon, Broadview Press 2005, S. 201. 17. Siehe hierzu den sehr guten Aufsatz von Stefan Andriopoulos: »The Invisible Hand. Supernatural Agency in Political Economy and the Gothic Novel«, in: ELH 66/3 (1999), S. 739-758. Die folgenden Überlegungen haben nicht in Gesprächen, sondern bei der Lektüre dieses innovativen Artikels Gestalt angenommen. 18. Three Gothic Novels, hg. v. Peter Fairclough, London 1968, S. 60, S. 380; Clara Reeve: The Old English Baron, hg. v. Laura L. Runge, Glen Allen, Virginia 2002, S. 50.

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Großvater geerbt hat, der es wiederum dem Kreuzritter Alfonso abgenommen hatte) um sein unrechtmäßig erworbenes Erbe zu bringen: zunächst wird der Sohn von Manfred unter einem gigantischen Stahlhelm begraben, der vom Himmel fällt (»He beheld his child dashed to pieces, and almost buried under an enormous helmet«), dann er selbst von einer unsichtbaren Hand in einem Turmzimmer eingesperrt, jener Hand, die einem Gespenst aus der Ahnengallerie zugehört und gleichzeitig als »the hand of providence« bezeichnet wird. Dieselbe Hand erscheint noch einmal am Ende des Romans als »hand in armour« des Kreuzritters Alfonso um das Schloss zu zerstören: »The moment Theodore appeared, the walls of the castle behind Manfred were thrown down with a mighty force, and the form of Alfonso, dilated to an immense magnitude, appeared in the centre of the ruins.«19 Die hand of providence verkehrt die Aktionen und Intentionen des Antagonisten in ihr Gegenteil und so fördert er, ohne es zu beabsichtigen, ja ohne es zu wissen, das Interesse der Genealogie, der vorgesehenen Erbfolge, und gewährt dadurch die Mittel zur Vermehrung der Gattung. Der Schauerroman ist aber im Unterschied zur Nationalökonomie ein Genre, in dem eine unsichtbare Hand die richtige Erbfolge und Handlungsfolge der Protagonisten regelt, weil man gerade nicht daran glaubt, dass ökonomisches oder familiäres Selbstinteresse das Gute und den Wohlstand aller befördert. Umgekehrt verlässt sich Adam Smith ebenfalls auf die übernatürliche Kraft der Vorsehung, die innerhalb seiner Theorie immer dann einspringen muss, wenn eine begriffliche Fassung der ökonomischen Zirkulation zwischen privaten Interessen und allgemeiner Wohlfahrt nicht gelingen will. Der Leser von Wealth of Nations braucht daher seine ganze Aufmerksamkeit, so Smith, »damit er versteht, was vielleicht auch nach der ausführlichsten Erklärung, die ich zu geben vermag, immer noch in gewissem Maß unklar scheinen könnte. […] Aber selbst wenn ich mich noch so sehr um Verständlichkeit bemühe, könnte bei einem Gegenstand so außerordentlich abstrakter Natur anscheinend immer noch eine gewissen Unklarheit verbleiben.«20 Diese Unklarheit oder Verborgenheit scheint konstitutiv zu sein für die gesamte Theorie der unsichtbaren Hand, die genau an jener Stelle einspringt, wo die Texte der Nationalökonomie, der Geheimbund- und Schauerliteratur einen Übergang zwischen zwei Ebenen, zwei unterschiedlichen Gesinnungen oder Erklärungsmodellen herstellen müssen, der nicht begründet, sondern nur durch einen metaphorischen Sprung erreicht und gleichzeitig verdeckt werden kann. Das Konzept der ›unsichtbaren Hand‹ hat demnach den Status eines Kollektivsymbols, das sowohl als Metapher für unsichtbare Kräfte oder Mächte einstehen, aber auch als Synekdoche in pragmatischer Weise natürliche oder übernatürliche Agenten vertreten kann.21 Wie eine solche geheime Lenkung durch ein Kol19. Horace Walpole: »The Castle of Otranto«, in: Three Gothic Novels, hg. v. Peter Fairclough, London 1968, S. 39-148, hier S. 52, S. 123, S. 137, S. 145. 20. A. Smith: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, S. 110. 21. Kollektivsymbole sollen hier mit Jürgen Link als komplexe, ikonische, motivierte Zeichen verstanden werden, »deren kollektive Verankerung sich aus ihrer

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3. Die unsichtbare Hand. Zur Latenz einer literar ischen Metapher

lektivsymbol funktioniert, soll im Folgenden andeutungsweise anhand eines Klassikers der Geheimbundliteratur erläutert werden.

3.2 Wilhelm Meisters Hände. Theatralische Sendung oder Manipulation? Durch die Vermittlung von Johann Georg Schlosser und der Lektüre von Johann Georg Büschs Abhandlung von dem Geldumlauf in anhaltender Rücksicht auf die Staatswirtschaft und Handlung (1780) war Goethe auf die Schriften von Adam Smith aufmerksam geworden und gehörte zu dessen frühesten deutschen Rezipienten.22 Das Kollektivsymbol der unsichtbaren Hand nimmt dementsprechend bei Goethe einen prominenten Platz ein und hält zwei sich widersprechende, prominente Denkfiguren des 18. Jahrhunderts paradoxal zusammen: die Theodizee und die Emergenz. Ausgehend von einem Vers in Goethes Epos Hermann und Dorothea (1797) – »Der Glückliche glaubt nicht, daß noch Wunder geschehen; denn nur im Elend erkennt man Gottes Hand und Finger, der gute Menschen zum Guten Leitet.«23 – hat Uwe C. Steiner gezeigt, dass bei Goethe der Kerngedanke der Theodizee (Glück im Unglück, Bonum durch Malum) durch die Theorie der politischen Ökonomie rationalisiert und mit der Metapher einer ›unsichtbaren Hand‹ veranschaulicht wird.24 Es bleibt allerdings eine nicht rationalisierbare Eigenheit der Metapher, so die folgende These, dass deren buchstäblich doppelgesichtiger Charakter intentional nicht beherrscht werden kann. Die unsichtbare Hand bleibt auch nach ihrer Säkularisierung und Umschrift von der Theologie in die Ökonomie unheimlich. Für die Wandlung einer egoistischen oder gar bösen Absicht in eine scheinbar gute Wirkung mag eine unsichtbare Hand verantwortlich zeichnen, nur bleibt unklar, ob es sich dabei um »Gottes Hand« handelt, welche die Menschen gleichsam hinter deren Rücken zum Guten sozialhistorischen, z.B. technohistorischen Relevanz ergibt, und die gleichermaßen metaphorisch wie repräsentativ-synekdochisch und nicht zuletzt pragmatisch verwendbar sind.« Jürgen Link: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«, in: Jürgen Fohrmann/Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 284-307, hier S. 286. 22. Bernd Mahl: Goethes ökonomisches Wissen. Grundlagen zum Verständnis der ökonomischen Passagen im dichterischen Gesamtwerk und in den »Amtlichen Schriften«, Frankfurt a.M., Bern 1982, bes. S. 357ff; J. Vogl: Kalkül und Leidenschaft, S. 250-252, S. 317-333. 23. Johann Wolfgang Goethe: »Hermann und Dorothea«, in: Ders.: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. II, Hamburg 1965, S. 447 (künftig zitiert als HA). 24. Uwe C. Steiner: »Gespenstische Gegenständlichkeit. Fetischismus, die unsichtbare Hand und die Wandlungen der Dinge in Goethes Herrmann und Dorothea und in Stifters Kalkstein«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74/4 (2000), S. 627-653.

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leitet, oder nicht doch um die Hand des Teufels oder eines geheimen Machthabers, der eigene Interessen verfolgt und keineswegs das Gemeinwohl befördert und dabei alles zum Guten leitet. Zwar ist der Teufel laut Selbstaussage »ein Egoist« und damit idealer Teilnehmer am Warenverkehr, aber ob er deswegen tatsächlich ein »Teil von jener Kraft« ist, »die stets das Böse will und stets das Gute schaff t«, kann nach der Lektüre von Goethes Faust durchaus als fragwürdig gelten.25 In dem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) beschäftigt sich Goethe ausführlich mit der Problematik und entwirft ein Bildungsprogramm, das gleichermaßen durch Zufälle und latente Steuerung geprägt ist.26 Hände, unsichtbare und sichtbare, spielen dabei eine entscheidende Rolle. Die »unsichtbare Hand« wird zwar nur ein einziges Mal wörtlich angeführt, aber der ganze Roman ist von dieser Gedankenfigur besessen und strukturiert.27 Das erste Buch handelt von Wilhelms Jugend und früher Bildung durch das Theater sowie der Liebe zu Mariane, einer Schauspielerin. Bereits in diesem ersten Buch versammeln sich fast alle wichtigen Themen und Konflikte, die den Verlauf des Romans prägen werden. Verschiedene ›Hände‹ vermitteln dabei zwischen Wilhelms vorgesehenem Beruf als Kaufmann und seiner Berufung zum Theater. »Durch die Bewegung seiner Hände« belebt Wilhelm die »verworrenen Drähte« eines alten Puppenspiels, das ihm als Kind viel Freude bereitet hatte. Schon als kleiner Junge wünscht er sich, »zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich« seine »Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer die Freude der Illusion zu genießen«. Aber auch im Handel, so belehrt ihn sein Jugendfreund Werner, findet man Vergnügen daran, die Ware durch viele »Hände gehen zu sehen«, so dass selbst die geringste Ware noch im Zusammenhang »mit dem ganzen Handel« steht. Und eben darum dürfe man nichts für gering achten, »weil alles die Zirkulation vermehrt«, von welcher »das Leben seine Nahrung zieht«. Sodann schreitet Wilhelm fort zur Liebe und hoff t, dass Mariane ihm »ihre Hand nicht versagen« wird. Doch Mariane ist sich nicht sicher, da die alte Haushälterin das »arme Mädchen« darauf hinweist, dass sie »leere Hände« bereits genug hätten. Wilhelm dagegen empfindet es ganz so, als ob »unsichtbare Bande« zwischen ihnen befestigt worden seien.28 Höhepunkt und Abschluss des ersten Buchs bildet das Gespräch zwischen Wilhelm und einem Unbekannten, der sich später als ein Emissär der 25. Johann Wolfgang Goethe: »Faust. Eine Tragödie«, in: HA. Bd. III, S. 47 (V. 1335f.), S. 55 (V. 1651). 26. Eine ausführlichste Lektüre dieser Programmierung unternimmt Bernhard J. Dotzler: Papiermaschinen. Versuch über Communication & Control in Literatur und Technik, Berlin 1996, S. 549-645. 27. Die schöne Seele, deren Bekenntnisse im sechsten Buch abgedruckt sind, berichtet von der Gefahr einer moralischen Verfinsterung, deren Anlage sie im Herzen trägt und vor deren Manifestation sie nur durch die Lenkung einer unsichtbaren Hand bewahrt wurde, vgl. Johann Wolfgang Goethe: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in HA. Bd. VII, S. 392. 28. J.W. Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, S. 14, 19, 34, 38, 43, 45, 59, 65.

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Turmgesellschaft erweisen wird. Thema ist der Einfluss von Providenz und Kontingenz auf das Leben und die Frage, welche Macht man der Vernunft zugestehen solle, beide zu beherrschen: »sie behandelt das Notwendige als den Grund ihres Daseins; das Zufällige weiß sie zu lenken, zu leiten und zu nutzen […] Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will.«29 Dieser Haltung des Unbekannten mag Wilhelm sich nicht anschließen, aber sie scheint ihn dennoch beeinflusst zu haben, denn auf dem Heimweg ist es ihm, als liefe »mit schaudernder Hand« die Liebe über alle Saiten seiner Seele. Kurz darauf entdeckt er Norberg, den Geliebten von Mariane, der ihm als »Phantom« und »Gespenst der Mitternacht« erscheint und Wilhelm die Untreue seiner Geliebten in Form einer verlorenen Botschaft, eines Zettels, offenbart. Damit erfüllt Goethe einen zentralen Topos des Schauerromans, nämlich die Unterscheidung zwischen Geistern und Gespenstern: »Geister überbringen dem Helden freundliche und fördernde Schicksalsbestimmungen, Gespenster dagegen feindliche, oder mindestens gefährliche Aufträge und Forderungen. Sie setzen […] einen Inhalt auf, der erst aus den entsprechenden, von ihnen übermittelten Botschaften verständlich wird.«30

Wilhelm wird im ersten Buch von der Hand eines Gespensts geleitet, weil er auf die Handreichung eines vermeintlich guten Geistes nicht hören wollte. Dass es sich bei dieser Hand tatsächlich um eine unsichtbare handelt, lässt sich in der ersten Fassung des Romans (1782) noch buchstäblich lesen: »Abends, da er den Laden zumachte, fasste ihn eine unsichtbare Hand beim Schopf, er fühlte sich fortgeführt und fand sich wie im Traum auf dem Kanapee sitzend, an der Seite seiner Angebeteten.«31 Interessant an diesem Marionettentheater, das man nur bedingt als ›Bildungsroman‹ bezeichnen kann, ist die Ambiguität der Hände, die einmal für den Ablauf eines anonymen Systems einstehen, dann aber wieder auf eine buchstäbliche Manipulation verweisen. Der Ausgriff ist hier immer auch ein Eingriff, d.h. die Vermittlungsleistung (der Medien, des Systems) ist von Interzeption nicht zu trennen. Keine idealen Zirkulationen und herrschaftsfreien Kreisläufe werden in Szene gesetzt, sondern der Wille zum Eingriff selbst und das Begehren nach einem latenten Gesetz, das die Intentionen und Begierden der Individuen im Interesse der Gesellschaft steuert. Paradigma29. Ebd., S. 71-73. 30. Hansjörg Garte: Kunstform Schauerroman. Eine morphologische Begriffsbe-

stimmung des Sensationsromans im 18. Jahrhundert von Walpoles ›Castle of Otranto‹ bis Jean Pauls ›Titan‹, Leipzig 1935, S. 56f. 31. Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung. Mit einem Nachwort von Wilhelm Vosskamp, Frankfurt a.M. 1984, S. 38. Mariane wird hier, im Unterschied zur späteren Romanfassung, noch als »schöne Seele« bezeichnet, die allerdings nicht durch eine unsichtbare Hand vor einer moralischen Verfinsterung bewahrt wird, sondern der die »kalte Hand des Vorwurfs« übers Herz fährt. Ebd., S. 39, S. 45.

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tisch dafür ist die Aussage Wilhelms, der wünscht, »zugleich unter den Bezauberten und Zauberern zu sein, zugleich seine Hände verdeckt im Spiel zu haben und als Zuschauer eben die Freude zu genießen, die er und die übrigen Kinder empfingen«. Als Wilhelm bei einer Auff ührung eine Puppe fallen lässt und er genötigt ist, »mit der Hand hinunter zu greifen«, wird ihm zwar schnell bewusst, dass damit die Illusion zerstört ist, er also nicht Zauberer und Zuschauer zugleich sein kann, aber dieses Doppelleben der Hände wird den Roman dennoch prägen.32 Im Interesse welcher Gesellschaft dieser Roman verfasst wurde, ist spätestens seit der umfangreichen Studie von Ralf Klausnitzer über Poesie und Konspiration klar geworden.33 Denn Wilhelm Meisters Lehrjahre sind in einer nicht zu unterschätzenden Weise von konspirationistischen Projektionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts beeinflusst, genauer von der Theorie und Praxis des Illuminatenordens: »Nahezu alle Attribute der heimlichen Beobachtung und Lenkung der Titelfigur durch Emmissäre und Angehörige der ›Turmgesellschaft‹ lassen sich als subtile und zugleich präzise Anspielungen auf Theorie und Praxis einer Arkangesellschaft deuten, der der Autor selbst angehört hatte. Dass der Leser Schiller diese Zusammenhänge übersah und vom Autor auch nicht eingeweiht wurde, erklärt sich aus den Verpflichtungen, die Goethe bei seiner Aufnahme in den Illuminatenorden am 11. Februar 1783 eingegangen war und die er – anders als im Falle seiner Mitgliedschaft in der Weimarer Freimaurer-Loge ›Anna Amalia‹ – nie brach: In seinem Beitrittsvers verpflichtet sich der Dichter und Minister ›mit Verzicht auf allen geheimen Vorbehalt‹, von den ordensinternen Mitteilungen ›gegen niemanden, auch nicht gegen die vertrautesten Freunde und Verwandte, auf keine irgend mögliche Weise, weder durch Worte, Zeichen noch Blicke, oder sonst niemals nicht das geringste zu offenbaaren‹ sowie zur sicheren Verwahrung aller Ordenszeugnisse.«34

Wenn Goethe also etwas über den Illuminatenorden mitteilen wollte, dann nur in einer verrätselten Weise. Die geheime Regierungskunst der Illuminaten ist das verborgene Thema von Wilhelm Meisters Lehrjahren und die diskursive Verbindung aus Nationalökonomie, den Originalschriften des Ordens, sowie den Gesetzen des zeitgenössischen Schauerromans lässt sich als Subtext einer Narration lesen, die diese Einflussfaktoren aufnahm und gleichzeitig so geschickt verbarg, dass innerhalb der Literaturwissenschaft eine Lektüre von Goethes Roman auch ohne Berücksichtigung dieser Kontexte über lange Zeit möglich war.35 Der Roman setzt die Einsicht des ausgehenden 18. Jahrhunderts in Szene, dass sowohl die Kommunikation der Gesellschaft als auch das Handeln 32. J. W. Goethe: Wilhelm Meisters Theatralische Sendung, S. 15, S. 20. 33. Ralf Klausnitzer: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichen-

ökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750-1850, Berlin, New York 2007. 34. Ebd., S. 382. 35. Ebd., S. 383, S. 402.

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der Individuen nicht direkt aus deren Selbstbeschreibung oder Intentionalität abgeleitet werden kann. Ursache und Wirkung treten auseinander und brauchen Vermittlung. Das Kollektivsymbol der unsichtbaren Hand symbolisiert »problemgenau die dunkle Stelle, an der menschliche Subjektivität und Welt, genauer: Intention und Resultat, Mittel und Zweck, auseinandertreten und durch einen obskuren Agenten wiederum zusammengeschlossen werden.«36 Dieser Zusammenschluss ist allerdings keine einfache Sache, denn es ist eine Vereinfachung zu behaupten, dass »an die Stelle der göttlichen Autorität« die »transsubjektiven und zugleich theomorphen Gesetze des freien Markts«37 treten, wie Steiner schreibt. Die (göttliche oder gespenstische) hand of providence hat in der unheimlichen Metapher ein sehr irdisches Nachleben und bleibt sogar noch in der gegenwärtigen Medientheorie, besonders in der Rede von einer Manipulation der Medien, weiterhin präsent. Aber bereits im 18. Jahrhundert hatte die Manipulation der Medien einen konkreten Ort, der theoretisch reflektiert und mit der berühmten Metapher beschrieben wurde. Heinrich von Kleist, der sich wie kein zweiter deutscher Schriftsteller in seinen Erzählungen mit dem Gegensatz von Providenz und Kontingenz beschäftigt hat, gebraucht die Wendung von der unsichtbaren Hand zwar an keiner Stelle, beschreibt aber deren Mechanismus sehr genau als Hilfe zur Selbsthilfe. In der Novelle Die Marquise von O… (1808) beschreibt Kleist die »Geschichte einer weiblichen Emanzipation« (Jochen Schmidt)38 am Beispiel einer Marquise, die sich aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit und fremdverschuldeten Schwangerschaft dank eines sonderbaren Mittels befreit. Nachdem sie wegen ihrer Schwangerschaft das Haus der Eltern in Schande verlassen und ihre Kinder aus erster Ehe zurücklassen soll, kommt es zu einer abrupten Selbstermächtigung der Marquise, die wie von einer unsichtbaren Hand geleitet ihre Kinder zum Wagen trägt und mit ihnen auf ein einsames Landgut flüchtet. Der Erzähler kommentiert diese Selbstermächtigung mit dem interessanten Satz: »Durch die schöne Anstrengung mit sich selbst bekannt gemacht, hob sie sich plötzlich, wie an ihrer eigenen Hand, aus der ganzen Tiefe, in welche das Schicksal sie herabgestürzt hatte, empor.«39 Die unsichtbare Hand, welche die Marquise zu jener schönen Anstrengung geführt hat, war ihre eigene Hand, die jedoch im Augenblick der Handlung verborgen war und erst in der nachträglichen Reflexion sichtbar wird. Und eben diese Hand wird ihr dann zum sonderbaren Mittel, um ihre Familie von ihrer Unschuld zu überzeugen, »ein Mittel, bei dem sie, als sie es zuerst dachte, das Strickzeug selbst vor Schrecken aus der Hand fallen ließ«: Die Marquise tauscht die Stricknadel mit der Feder und setzt eine Annonce in die Zeitung, um in der Anonymität der Intelligenzblätter von M… den unbekannten Vater ihres Kindes zu finden. Mit ihrer sichtbaren Hand 36. U. C. Steiner: »Gespenstische Gegenständlichkeit«, S. 638. 37. Ebd. 38. Jochen Schmidt: »Die Marquise von O…«, in: Walter Hinderer (Hg.), Kleists

Erzählungen, Stuttgart 1998, S. 67-84, hier S. 75. 39. Heinrich von Kleist: »Die Marquise von O…«, in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Bd. 2., hg. v. Helmut Sembdner, München 1961, S. 126.

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kann sie demnach zum Teilnehmer an der so genannten Öffentlichkeit werden, die hier von Kleist als ein Emanzipationsmedium vorgeführt wird. Aber auch diese Öffentlichkeit wird die prominente Metapher nicht los, denn die Gesetze ihrer Wirkung werden von den Zeitgenossen ebenfalls als Mechanismus einer unsichtbaren Hand beschrieben. Die ganze Doppeldeutigkeit der Handreichung (Sendung oder Manipulation?) wird dadurch in das System wieder eingeführt. Wenn etwas Neues eingeführt wird, ein sonderbares Mittel, ein neues Konzept, ein neuer Begriff oder ein neues Paradigma, geschieht es scheinbar nicht hinter dem Rücken der Subjekte, sondern gleichsam unter der Hand der Öffentlichkeit. Diese Metapher scheint in ihrer Doppeldeutigkeit (entweder geschieht etwas durch die Hand der Öffentlichkeit oder abseits jener Hand) offenbar besser geeignet zu sein, die unheimliche Zirkulation dessen zu beschreiben, was in der Latenz geschieht, als die Metapher vom ›Rücken des Subjekts‹ oder die Rede von einer ›List der Vernunft‹.

3.3 Die unsichtbare Hand der Öf fentlichkeit Dass die Öffentlichkeit eine unsichtbare Macht sei, ist bereits zum Zeitpunkt ihrer Inthronisation bemerkt worden. Schon um 1800 war es bereits »Gewohnheit, die öffentliche Meinung als ein unsichtbares Wesen von großer Wirksamkeit zu betrachten und sie mit unter die verborgenen Mächte zu zählen, welche die Welt regieren«. 40 Dieses unsichtbare Wesen kann sowohl als ein Heiliger Geist (substance spiritueuse) auftreten, der die Geschicke der Republik auf wundersame Weise lenkt, man kann sich diese Instanz aber auch als den unheiligen Geist einer qualitas occulta (Garve) vorstellen, die nicht nur alles erklärt, was sonst nicht erklärt werden kann, sondern die auch alles entschuldigt, was in ihrem Namen geschieht, unabhängig davon ob es wissenschaftlich wahr oder moralisch gut ist. 41 Der Kollektivsingular der öffentlichen Meinung kann laut Lucian Hölscher darüber hinwegtäuschen, dass die opinion publique nur eine kommunikative Formel für politische Konflikte ist und es sich daher keineswegs um eine Substanz oder einen Geist mit guten oder bösen Absichten handelt, wie die metaphorischen Zweitfassungen des Phänomens suggerieren. Vielmehr sei der öffentlichen Meinung ihre verborgene Macht historisch nur zugewachsen, »indem sie mit dem politischen Programm der jeweils herrschenden Fraktion des dritten Standes in eins gesetzt wurde. Die idealistische Betrachtungsweise neigte jedoch dazu, diese nur als Träger einer sich durchhaltenden geistigen Macht zu betrachten.« 42 Aber ganz gleich ob man die Herrschaft der öffentlichen Meinung nun 40. Christian Garve: »Ueber die öffentliche Meinung«, in: Ders.: Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Litteratur und dem gesellschaftlichen Leben. Bd. 5, Breslau 1802, S. 296. 41. Ebd., S. 294f. 42. Lucian Hölscher: »Öffentlichkeit«, in: Otto Brunner/Reinhard Koselleck/Werner Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Bd. IV, Stuttgart 1978, S. 413-467, hier S. 451.

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materialisiert (politische Konflikte) oder idealisiert (geistige Macht), entscheidend bleibt das Prinzip ihrer Unsichtbarkeit, Unheimlichkeit und Ungreifbarkeit. Niklas Luhmann bezeichnet dieses Verhältnis als den Wiedereintritt (re-entry) der Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene: Die öffentliche Meinung wird durch Private gebildet, deren Interaktion und Meinungsbildung aber nicht mehr unter Anwesenden geschieht, sondern durch Medien (Schrift, Buchdruck, Publizität) vermittelt ist und genau deswegen nicht öffentlich beobachtet werden kann. Die Herrschaft der öffentlichen Meinung ist daher eine heimliche Herrschaft, sie ist »die unsichtbare Hand« oder der »Heilige Geist« des politischen Systems: »Nachdem die sichtbare Hand des Monarchen zu zittern beginnt, sucht man eine neue Oberhoheit in einer nun unsichtbaren Hand, eben der öffentlichen Meinung. [.] Erst im späteren 18. Jahrhundert setzt sich die Vorstellung durch, dass die öffentliche Meinung der heimliche Souverän, die unsichtbare Hand des Politischen Systems sei.«43 Aber ist die unsichtbare Hand der Öffentlichkeit wirklich auch der heimliche Souverän des Systems? Luhmann differenziert sein Argument, indem er darauf hinweist, dass die öffentliche Meinung keine vorfindbare Meinung sei, kein Objekt, sondern das, was als öffentliche Meinung beobachtet und beschrieben wird, »ein gleichsam photographisch festgehaltener Zustand eines Systems-in-Bewegung«. 44 Die unsichtbare Hand der öffentlichen Meinung tritt daher nicht an die Stelle der sichtbaren Hand des Souveräns, sondern sie ist ein Medium für die Beobachtung von Kommunikation, so wie in der Wirtschaft der Markt 45 eine Beobachtung zweiter Ordnung liefert, die nicht anders kann, als jeder manifesten Aussage noch ein unsichtbares Motiv und jeder Beobachtung erster Ordnung einen blinden Fleck zu unterstellen: »Die politische Relevanz der öffentlichen Meinung liegt nicht in einer Art Oberherrschaft, die bestimmen könnte, was geschehen soll. Sie ist kein Nachfolgeinstitut für den (sakralen Körper des) depossedierten und dann ermordeten Monarchen. Wie im Demokratiebegriff und im Kreislaufmodell der Macht, so steht auch hier die Se43. Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Hg. v. André Kieserling, Frankfurt a.M. 2000, S. 278f. Luhmann weist darauf hin, dass man die opinion publique bereits während der Französischen Revolution als eine substance spiritueuse begriffen hat, deren unsichtbare Hand die Worte und Taten der Politiker lenkt: »Damit sollte wohl nicht gesagt sein, dass die Politiker unter dem Einfluss der öffentlichen Meinung wirres Zeug reden; aber vielleicht: dass nicht zu verstehen ist, was sie sagen, wenn man nicht in Betracht zieht, dass sie es unter der Einwirkung der öffentlichen Meinung tun.« Ebd., S. 286. 44. N. Luhmann: Politik der Gesellschaft, S. 287. 45. Im Markt beobachtet das Wirtschaftssystem sich selbst, d.h. als Markt beobachtet, wird das Wirtschaftssystem zur systeminternen Umwelt seiner eigenen Aktivitäten. Der Markt ist die beobachtbare Gesamtheit aller Prozesse, die sich in Preisen ausdrücken lassen. Kein Wunder also, dass sowohl der »Markt« als auch die »öffentliche Meinung« mit der Metapher von der »unsichtbaren Hand« beschrieben worden sind, vgl. Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 94; N. Luhmann: Politik der Gesellschaft, S. 285.

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mantik der [heimlichen] ›Herrschaft‹ einem adäquaten Verständnis im Weg. Öffentliche Meinung ist vielmehr ein Medium eigener Art, ein Medium für ein Beobachten zweiter Ordnung.«46

Die unsichtbare Hand tritt nicht an die Stelle der sichtbaren Hand des Monarchen, weil ihre Logik der Logik des Politischen radikal widerspricht, worauf bereits Michel Foucault in seiner Vorlesung am Collège de France 1978/1979 aufmerksam gemacht hatte. Damit die unmerkliche Lenkung der ökonomischen Einzelinteressen zur Wohlfahrt der Gesellschaft gelingen kann, verbietet sich jede Form der Intervention oder eines »übergeordneten Blicks, der es gestatten würde, den Wirtschaftsprozess vollständig zu erfassen. […] In der Wirtschaft gibt es keinen Souverän.«47 Die Unsichtbarkeit der unsichtbaren Hand ist konstitutiv für das Gelingen ihrer Operationen, der gesamte Wirtschaftsprozess gründet sich auf sie. Die Theorie der unsichtbaren Hand wendet sich also spätestens seit Adam Smith gegen jede Form des Merkantilismus, des Polizei- oder Wohlfahrtsstaats, der eine politische Lenkung der Ökonomie propagiert – und zwar mit dem zentralen Argument von der Uneinsehbarkeit des Wirtschaftsprozesses. Im klassischen Zeitalter der neuzeitlichen Souveränität gab es einen bestirnten Himmel über dem Souverän, der uneinsehbar war und sich dessen Regierung entzog. Ganz im Gegenteil war er durch dieses uneinsehbare Schicksal, durch die hand of providence, bestimmt. Seit Adam Smith kann man hingegen davon reden, dass dieser Himmel leer geworden ist und an dessen Stelle die moralischen und ökonomischen Gesetze einer invisible hand unterhalb des Souveräns getreten sind, deren Verlauf und Inhalte ihm aber ebenso uneinsichtig sind wie die göttliche Vorsehung. Der Wirtschaftsprozess in seiner Gesamtheit ist der blinde Fleck des Souveräns. 48 Und dennoch haben die Regierungskunst und auch die politische Philosophie sich der Gedankenfigur der unsichtbaren Hand bedient. Foucault beschreibt, wie die Gouvernementalität am Ende des 18. Jahrhunderts auf dieses Problem reagiert und mit dem Begriff der »bürgerlichen Gesellschaft« einen neuen Bezugrahmen, eine neue Ganzheit schaff t, die Rechtssubjekte und Wirtschaftssubjekte als Bürger einer »Nation« oder »Republik« gleichermaßen umfasst. Die bürgerliche Gesellschaft folgt dabei einer Mechanik, die der Mechanik der Interessen gleicht, nur dass es sich nicht um egoistische Interessen im engeren Sinne, um ökonomische Interessen handelt, sondern um Interessen der Vernunft. Immanuel Kant gibt dafür in seiner Schrift Zum ewigen Frieden (1795) ein gutes Beispiel. Es geht um das Problem, wie die individuellen Freiheiten einer bürgerlichen Gesellschaft, die in den Rahmen einer republikanischen Verfassung eingefasst ist, mit den Zwängen eines Staates koexistieren kann. Denn eine republikanische Verfassung, so Kant, sei zwar den Rechten der Menschen vollkommen angemessen, aber auch »die schwerste zu stiften« und zu erhalten, so dass Zweifler behaupten, »es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Men46. Ebd. 47. M. Foucault: Die Geburt der Biopolitik, S. 385 und S. 389. 48. Ebd., S. 400f.

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schen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären«. 49 Kants Antwort auf dieses Problem bemüht jedoch nicht den Bereich der praktischen Vernunft, sondern einen »Mechanismus der Natur«, der analog zum Mechanismus der unsichtbaren Hand gedacht wird: »Aber nun kommt die Natur dem verehrten, aber zur Praxis ohnmächtigen allgemeinen, in der Vernunft gegründeten Willen, und zwar gerade durch jene selbstsüchtige Neigungen, zu Hülfe, so, dass es nur auf eine gute Organisation des Staates ankommt (die allerdings im Vermögen der Menschen ist), jener ihre Kräfte so gegen einander zu richten, dass eine die anderen in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: so dass der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären, und so der Mensch, wenn gleich nicht ein moralisch-guter Mensch, dennoch ein guter Bürger zu sein gezwungen ist. […] Man kann dieses auch an den wirklich vorhandenen, noch sehr unvollkommen organisierten Staaten sehen, dass sie sich doch im äußeren Verhalten dem, was die Rechtsidee vorschreibt, schon sehr nähern, ob gleich das Innere der Moralität davon sicherlich nicht die Ursache ist […], mithin der Mechanismus der Natur durch selbstsüchtige Neigungen, die natürlicherweise einander auch äußerlich entgegen wirken, von der Vernunft zu einem Mittel gebraucht werden kann, dieser ihrem eigenen Zweck, der rechtlichen Vorschrift, Raum zu machen, und hiemit auch, soviel an dem Staat selbst liegt, den inneren sowohl als äußeren Frieden zu befördern und zu sichern.«50

Der Egoismus der Bürger wird gewissermaßen zur Grundlage des Staates erklärt und von der Vernunft als Mittel zu eigenen Zwecken gebraucht. So dienen die Individuen selbst dort noch der Allgemeinheit, wo sie meinen, nur sich selbst verpflichtet zu sein. Selbst ein »Volk von Teufeln« könnte durch die Mechanik der Natur und die List der Vernunft so regiert werden, »als ob sie keine solche böse Gesinnung hätten«.51 Die Form der politischen Mechanik ist identisch mit der Mechanik der unsichtbaren Hand der Ökonomie, nur die Inhalte sind unterschiedlich. Auch wenn die bürgerliche Gesellschaft in ihrem Ergebnis die Ökonomie und ihre Wirtschaftssubjekte übersteigt, so bedienen sich doch beide Felder einer literarisch-rhetorischen Gedankenfigur, die Adam Smith berühmt gemacht hat. Auch in der Medientheorie des 18. Jahrhunderts ist diese Mechanik präsent. 1789 erscheinen in Kopenhagen die Fragmente über den Ideenumlauf des deutschen Rechtsgelehrten und Jakobiners Josias Ludwig Gosch. Zentraler Gedanke dieser bemerkenswert modernen Abhandlung ist die kollektive Produktion des intellektuellen Kapitals einer Gesellschaft, sowie dessen Akkumulation durch Zirkulation. In Abgrenzung zur Genieästhetik seiner Zeit hebt Gosch immer wieder darauf ab, dass die Ideen nicht das Produkt vereinzelter, großer Denker seien, sondern das Produkt von Verbreitung und

49. Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, in: Ders.: Werkausgabe XI, hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, S. 223 (A 59). 50. Ebd., S. 223-225 (A 59-62). 51. Ebd., S. 224 (A 60/61).

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Weiterverarbeitung durch »Arbeiter an den umlauffenden Ideen«.52 Zentraler Rahmen von Goschs Fragmenten ist die Nationalökonomie, deren Vokabular den Text prägt und deren Frage nach dem Wohlstand der Nation (ganz analog zu Smith) den Horizont der Überlegungen bildet. Gosch ist wohl einer der ersten Denker, der eine Akkumulation geistiger Ressourcen für den Wohlstand und die Kultur eines Gemeinwesens als unabdingbar ansieht und gleichberechtigt mit der Akkumulation materieller Ressourcen beschreibt. Die Zirkulation und sukzessive Akkumulation von Wissen wird beispielhaft am Modell der Sprache entwickelt. Ganz in der zeitgenössischen Manier der Sprachursprungslehre fragt Gosch, wie die Menschen wohl zuerst darauf kamen, ihre Sprachfähigkeit zu entdecken und auszubauen? »Sie wurden nicht durch die Hand einer Gottheit, die vom Himmel herabstieg, dahin geleitet. Sie kamen auf einem natürlichen Weg dahin. Die Sprachen sind auch nicht die Werke der Verträge. Die Natur überließ eine so wichtige Sache nicht dem Zufall.«53 Ganz ähnlich wie bei Smith54 oder Kant55, die ebenfalls einen »Mechanismus« oder »Willen« der Natur für die Evolution der staatlichen Wohlfahrt verantwortlich machen, wird hier die verborgene Hand Gottes zur unsichtbaren Hand der Natur[geschichte] transformiert.56 Die Anwendung der Sprachfähigkeit sei also die notwendige Folge des vernünftigen Zusammenspiels von sozialer Or52. Josias Ludwig Gosch: Fragmente über den Ideenumlauf, hg. v. Georg Stanitzek und Hartmut Winkler, Berlin 2006, S. 143. 53. Ebd., S. 112. 54. »In jedem Teil des Universums beobachten wir, dass die Mittel auf die genaueste und kunstvollste Weise den Zwecken angepasst sind, die sie hervorzubringen bestimmt sind, und wir bewundern es, wie in dem Mechanismus einer Pfl anze oder eines tierischen Körpers alles so ausgedacht ist, dass es die zwei Hauptabsichten der Natur, die Erhaltung des Individuums und die Fortpfl anzung der Gattung, befördert.« A. Smith: Theorie der ethischen Gefühle, S. 129. 55. »Wenn ich von der Natur sage: sie will, dass dieses oder jenes geschehe, so heißt das nicht soviel, als: sie legt uns eine Pflicht auf, es zu tun (denn das kann nur die zwangsfreie praktische Vernunft), sondern sie tut es selbst, wir mögen wollen oder nicht.« I. Kant: Zum ewigen Frieden, S. 223 (A59). 56. Aber im Unterschied zu einem evolutionären Modell, wo vererbbare Abänderungen für ständige Variabilität sorgen, und die am besten angepassten Varianten sich durchsetzen, beschreiben Adam Smith und Immanuel Kant den Willen einer weisen Natur, die kurzsichtige, egoistische Motive der Handelnden und langfristige, uneigennützige Zwecke der Vernunft miteinander abstimmt. Aber vor allem Smith gibt keinen Mechanismus an, wie es zu dieser Abstimmung kommt. Diese Leerstelle wird vielmehr durch das Sinnbild von der unsichtbaren Hand ausgefüllt, die weder dem Prinzip der Kontingenz noch dem der Providenz verpflichtet ist. Weder das Modell einer natürlichen Theologie, noch eine natürliche Abstammungslehre werden hier vorweggenommen, sondern in der Betonung eines selbstständigen zweckgerichteten Strebens, so die These des Wirtschaftswissenschaftlers Elias L. Khalil, gibt es Parallelen zur späteren Theorie biologischen Wandels von Jean-Baptiste Lamarck, bei der die Bedürfnisse der Organismen die treibende Kraft im Evolutionsgeschehen sind, vgl. Elias L. Khalil: Beyond Natural Selection and Divine Intervention. The

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ganisation und natürlicher Entwicklung, die sich einander die Hände bieten. Dieses Zusammenspiel wird von Gosch als »Zirkulazion der Ideen« gedacht, die durch Verbreitungsmedien erfolgt, vor allem durch Briefe, Bücher und Unterredung. Das ausführliche Lob der Buchdruckerkunst lässt dabei das Zweideutige und Unheimliche dieser Ideenzirkulation erkennen: »Am späten Abend in stiller Einsamkeit, wenn alles um uns her schläft, da können wir noch mit vielen grossen Geistern Umgang haben. Seit jener schönen Erfindung dürfen wir niemals alleine sein. […] Ihr grossen Geister, die ihr hier in meiner Kammer beständig neben mir seid, so wie auch jetzt in dieser Stunde der Mitternacht, Homer, Plato, Cartesius, Leibnitz, Newton, Baco, Lock, Hume, Sülly, Montesquieu, Smith […]«57

Das Unheimliche dieser Zirkulation, die »schneller wie der Blitz an dem Stahldrat hingleitet« und sich »durch eine Reihe von tausend menschlichen Seelen« verbreitet, gebiert automatisch Gespenster.58 An die Stelle der sichtbaren Leitungen tritt eine unsichtbare Leitung durch große Geister, die niemanden mehr alleine und ungestört lassen, sondern mit ihren unsichtbaren Händen beständig dafür sorgen, dass seit dem 18. Jahrhundert die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation und Zirkulation in der Medienöffentlichkeit mitunter auch gegen die Intention und Interessen ihrer Teilnehmer funktioniert. Wenn Gosch (und Luhmann, der ihn nicht zitiert) die öffentliche Zirkulation der Ideen und Meinungen dementsprechend als ein ungreifbares Medium beschreibt, d.h. als eine Menge von lose gekoppelten Elementen von möglichen Kommunikationen, dann ist die so genannte Öffentlichkeit seit dem 18. Jahrhundert ein gespenstisches Medium für die Beobachtung und Zirkulation von Kommunikation, deren Organisation und Steuerung wie von einer unsichtbaren Hand geleitet vorgestellt wurde. Diese Vorstellung hat in der Medientheorie seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einen festen Platz und ist auch noch in aktuellen Medientheorien präsent. Das Binden und Lösen von Kommunikationen im Medium der öffentlichen Meinung, also jener Vorgang, den die Metapher von der unsichtbaren Hand veranschaulichen soll, gehört

Lamarckian Implication of Adam Smith’s Invisible Hand, in: Journal of Evolutionary Economics 10 (2000), S. 373-393. 57. J.L. Gosch: Fragmente über den Ideenumlauf, S. 159. 58. Ebd., S. 107. Zum wissenshistorischen Kontext dieser Schrift und zur Bedeutung der Elektrizität an dieser Stelle siehe Bernhard Siegert: »Currents and Currency. Elektrizität, Ökonomie und Ideenumlauf um 1800«, in: Jürgen Barkhoff/Hartmut Böhme/Jeanne Riou (Hg.), Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln, Weimar, Wien 2004, S. 66ff.; über den besonderen Zusammenhang zwischen der Etablierung der Elektrizitätslehre und dem Gespenster-Diskurs im 18. Jahrhundert handelt Mirjam Schaub: »Gespenster als Vorboten des Elektrischen. Wie ein Gelehrtenstreit im 18. Jahrhundert einen Anfangsgrund von Kulturwissenschaft stiftet«, in: Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, hg. v. Lorenz Engell und Bernhard Siegert, Heft 0/2009.

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wesentlich zu einem Medium der Beobachtung zweiter Ordnung59 und führt dabei fast zwangsläufig zur Vorstellung einer »Manipulation des Mediums«. Die Metapher lässt auch diese Vorstellung mehr als plausibel werden. Die allgemein verbreitete Meinung, dass die Medien die öffentliche Meinung manipulieren, erweist sich also als eine notwendige Strukturbedingung, als ein Programmschema der öffentlichen Meinung selbst.60 Wer dagegen eine ›kritische‹ anstelle einer ›manipulierten‹ Öffentlichkeit einfordert, läuft Gefahr, die Metapher von der unsichtbaren Hand als Begriff zu verharmlosen und an eine Naturalisierung der Providenz durch die Mechanik der politischen Ökonomie tatsächlich zu glauben. Aber die Rede von der unsichtbaren Hand wird ihre Gespenster nicht los und hat offensichtlich auch ihre ambige Faszination bei der Veranschaulichung latenter Prozesse und Strukturen nicht verloren, wie ein kurzer Blick in zeitgenössische Medientheorien deutlich macht.

3.4 Die Manipulation der Medien »Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen.«61 Dieses Zitat von Paul Valéry stellt Walter Benjamin an den Anfang seiner Thesen über das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Bei Valéry wie auch bei Benjamin geht es um den Status des Kunstwerks angesichts einer medientechnischen Situation, in der die Techniken der Reproduzierbarkeit selbst den Status eines Kunsthandwerks erlangt haben, wo Kunst und Medien konvergieren. Diese Medialisierung der Kunst hat damit eine soziale Situation geschaffen, in der nicht nur die Gesamtheit der überkommenen Kunstwerke reproduzierbar geworden ist, sondern diese Werke damit auch eine ständige Verfügbarkeit und Allgegenwart gewinnen: »Auf unseren Zuruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen […] – sie alle werden dort sein, wo ein Jemand ist und ein geeigneter 59. Elena Esposito will die unsichtbare Hand gar bei allen Medien am Werk sehen, die für eine Beobachtung zweiter Ordnung innerhalb der Gesellschaft zuständig sind: »Die Profitrate wird nicht zufällig durch den Markt festgelegt, doch etwas ähnliches geschieht auch in den anderen Systemen. Die ›unsichtbare Hand‹ wirkt bei der öffentlichen Meinung, bei der Zirkulation wissenschaftlicher Veröffentlichungen, bei der Beobachtung von Kunstwerken usw.« Elena Esposito: Soziales Vergessen. Formen und Medien des Gedächtnisses der Gesellschaft. Mit einem Nachwort von Jan Assmann, Frankfurt a.M. 2004, Fn. 52. 60. N. Luhmann: Politik der Gesellschaft, S. 288, S. 296, S. 303. 61. Paul Valéry: »Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit« (1928), in: Werke. Frankfurter Ausgabe. Bd. 6, hg. v. Jürgen Schmidt-Radefeld, Frankfurt a.M. 1995, S. 480; hier zit.n. Walter Benjamin: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Gesammelte Schriften. Bd. I/2, Frankfurt a.M. 1974, S. 475.

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3. Die unsichtbare Hand. Zur Latenz einer literar ischen Metapher

Apparat.«62 Wie von einem fast unsichtbaren Handgriff bedient, zirkulieren nicht nur Wasser, Gas und Elektrizität in den Wohnungen und Städten, sondern auch Bilder, Töne und Zeichen. Bereits um Neunzehnhundert, so könnte man Benjamin und Valéry zusammenfassen, ist die Industriegesellschaft zu einer Medien- und Netzwerkgesellschaft geworden. Diese »Ordnung der neuen Zeit«63 (Valéry) ist bestimmt von unmerklichen Handgriffen und Medienverbundsystemen, an die das einzelne Bewusstsein und seine Wohnung lediglich angeschlossen sind, an denen sie teilnehmen, mit denen sie aber nicht kommunizieren können. Solche Systeme sind in ihrer Ganzheit uneinsehbar und unregierbar, was eine latente Grundvoraussetzung für ihr reibungsloses Funktionieren und ihre Autopoiesis ist – so suggerieren es wenigstens die klassischen Medientheorien.64 Unsichtbare Hände bestimmen also immer noch die theoretische Lage im fortgeschrittenen Medienzeitalter. Besonders sichtbares Symbol dieser unsichtbaren Hand ist ihre Funktion als interaktives Navigationsinstrument in der Netzwerkgesellschaft. Dort erscheint sie im Kontext des ikonisch gestalteten Steuerungssystems digitaler Medien, das die Selektion und Manipulation der so genannten Inhalte auf der Bildschirmoberfläche erlaubt. Die indexikalische Hand (Cyberhandschuh, Mauszeiger) im digitalen Medium hat nicht nur eine (auf die Dinge) zeigende, sondern vor allem eine operative Funktion, denn sie steuert den Datentransfer durch Klicken und virtuelle Berührung.65 Die Hand als indexikalisches Zeichen erweist sich dabei als gedoppelt: als eine Hand, die zeigt, sowie auch als eine Hand, die sich als Hand zeigt.66 Die Hand ist latent im Steuerungssystem digitaler Medien enthalten, sie wird manifest und zeigt sich, wenn der Mauszeiger auf ein interaktives Bildschirmelement trifft. Indem die Rückkopplung 62. P. Valéry: Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit, S. 479. 63. Ebd., S. 480. 64. Medien sind nur an der Kontingenz der Formbildungen zu erkennen und zu

beobachten, niemals jedoch direkt, so lautet die mittlerweile kanonisierte Fassung der Systemtheorie für die erkenntnistheoretische Paradoxie des unbeobachtbaren Mediums, vgl. Dirk Baecker: »Kommunikation im Medium der Information«, in: Rudolf Maresch/Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt a.M. 1999, S. 174-191, bes. S. 175. 65. Ausführlich zur Hand als manus loquens (›redende Hand‹) und Kulturtechnik ist Horst Wenzel: »Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Zur Medialität des Begreifens«, in: Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.), Bild, Schrift, Zahl. München 2003, S. 25-56; zum Status der Hand als Medium siehe auch Matthias Bickenbach/ Annina Klappert/Hedwig Pompe (Hg.), Manus Loquens. Medium der Geste – Geste der Medien, Köln 2003. 66. In dieser Stellung der Hand zwischen Symbol und Instrument, zwischen Ikon und Prothese will Stefan Rieger sogar eine latente Medienanthropologie erkannt haben, vgl. Stefan Rieger: »Mediale Schnittstellen. Ausdruckshand und Arbeitshand«, in: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.), Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001, S. 236. Für Walter Seitter ist die Hand gar selbst ein Medium in mehrfacher Hinsicht, vgl. Walter Seitter: Physik der Medien. Materialien, Apparate, Präsentierungen, Weimar 2002, S. 59-68.

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der Hand mit dem, was auf dem Bildschirm geschieht, unmittelbar zu sein scheint, bindet diese Interaktivität von Handgriff und visuellem Effekt die Intensität der Aufmerksamkeit, die Erwartung dessen, was geschehen wird. Der Knopfdruck wird zur Kommunikation mit der Maschine, der Tastsinn zur Taktilität der Rückkopplung.67 Hier zeigt sich eine Paradoxie im Umgang mit Daten und Informationen in der Medien- und Netzwerkgesellschaft: einerseits wird durch die Hand angezeigt, dass wir durch die graphische Benutzeroberfläche hindurch in Kontakt mit dem Medium treten, dass sich Informationen ›berühren‹ und ›mit Händen greifen‹ lassen, andererseits ist die digitalisierte Hand nur noch ein Supplement von Taktilität, die in ihrer Virtualität ständig daran erinnert, dass die Ganzheit und das Wesen der neuen Medien nicht mehr begreif bar ist.68 Aber gerade wenn die Medien angeblich nicht mehr begreif bar sind, muss ihr Funktionieren dennoch veranschaulicht werden, damit die Benutzer sich ein Bild von jener Medientechnik machen können, die sie beherrschen wollen und von der sie beherrscht werden. Die Symbolisierung durch eine virtuelle Hand, die sichtbar und unsichtbar zugleich ist, zeigt die paradoxe Gleichzeitigkeit zweier Handgriffe an: die Suggestion von tatsächlichen Eingriffen in das Medium, die Selektion und scheinbar grenzenlose Manipulation von Daten durch einen menschlichen Benutzer, sowie die seinen Blicken entzogene Arbeit des Systems, die im Verborgenem der Transistoren, Leitungen und Netzwerke geschieht. Diese Macht der Medien wird ebenfalls in der virtuellen Hand veranschaulicht und lässt zumindest metaphorisch an die umfassende Macht der unsichtbaren Hand denken. In der gegenwärtigen Mediendebatte beerbt daher vor allem die Netzwerkmetapher (Globalisierung, Computer und Internetdiskurs, sowie andere soziale und technische ›Netzwerke‹) das Konzept der unsichtbaren Hand, es handelt sich aber gleichzeitig auch um eine Erweiterung dieser Metapher, von einer einzelnen Hand zu einem ganzen Netzwerk von Händen, die in guter oder böser Absicht ineinander greifen. Auch diese Erweiterung ist implizit schon in der Metapher von der unsichtbaren Hand angelegt, denn das beliehene Bildfeld einer unmerklich tätigen Hand erzeugt sofort weitere Bilder und Gegenbilder (vom Marionettentheater bis zum Knüpfen von Netzen), deren Auslegung die Debatten viel stärker bestimmt als deren Rationalisierung.69 Solche Auslegungen finden nicht nur im Umfeld der direkten Benutzer statt, sondern auch in der Wissenschaft. In einem call for papers für eine Tagung mit dem Titel »Unsichtbare Hände. Automatismen in Medien-, Tech67. Zu dieser Geste des unmerklichen Handgriffs, d.h. zur Rückkopplung zwischen Handgriff, Bildschirm und Medium siehe Matthias Bickenbach/Harun Maye: Metapher Internet. Literarische Bildung und Surfen, Berlin 2009, S. 197-223. 68. H. Wenzel: Von der Gotteshand zum Datenhandschuh, S. 46-49. 69. Erhard Schüttpelz hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Idee des Netzwerks von den Globalisierungseliten unmittelbar als unsichtbare Hand (im Sinne von Smith) verstanden wurde, vgl. Erhard Schüttpelz: »Ein absoluter Begriff. Zur Genealogie und Karriere des Netzwerkkonzepts«, in: Stefan Kaufmann (Hg.), Vernetzte Steuerung. Soziale Prozesse im Zeitalter technischer Netzwerke, Zürich 2007, S. 25-46, bes. S. 27.

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nik- und Diskursgeschichte« des Graduiertenkollegs Automatismen an der Universität Paderborn heißt es, dass immer mehr gesellschaftlich relevante Strukturen »außerhalb bewusster Planung« entstehen würden. »Wo man planende Instanzen vermisst«, so heißt es weiter, »erscheinen diese häufig durch Automatismen ersetzt. […] Ist das Modell der ›invisible hand‹ des Marktes geeignet, um die strukturbildende Funktion von Automatismen zu fassen?« 70 Als Beispiele werden hier unter anderem neben den traditionellen Massenmedien das Internet mit seiner unübersehbar verteilten Nutzeraktivität angeführt, oder auch informelle, kooperative Strukturen, die innerhalb von Unternehmen an die Stelle von Hierarchien treten. In fast allen Beispielen aus dem call for papers lässt sich unschwer das Konzept der Netzwerkmetapher erkennen, das den Vergleich mit der unsichtbaren Hand motiviert. Aber ist das Modell der ›invisible hand‹ wirklich geeignet, um die strukturbildende Funktion von Automatismen (von Medien) zu fassen? Offenbar schon, wenn man den Mediensoziologen glauben will, die sich für die unsichtbare Organisation von soziotechnischen oder soziobiologischen Systemen begeistern. Kevin Kelly, Internet-Visionär und Mitbegründer des berühmten Wired Magazine, hatte diese Vorstellung in seinem einflussreichen Buch Out of Control. The New Biology of Machines, Social Systems, and the Economic World (1994) bereits so hinreichend popularisiert, dass die akademische Medientheorie hier mühelos anschließen konnte: »Das Wunder des ›Denkens im Schwarm‹ besteht darin, dass keiner einer Steuerung unterliegt und dennoch eine unsichtbare Hand regiert, eine Hand, die sich aus äußerst dummen Gliedern erhebt. […] Um aus einem Insektenorganismus den Organismus einer Kolonie zu erzeugen, müssen lediglich die Insekten vervielfacht werden, […] und miteinander kommunizieren. […] Somit lässt sich in einem Bienenstock nichts finden, was nicht in einer einzelnen Biene verborgen ist. Und dennoch kann man eine Biene endlos mit dem Zyklotron und dem Fluoroskop untersuchen, ohne jemals den Schwarm zu finden. […] Höhere Komplexitäten lassen sich nicht aus niederen Existenzformen ableiten. Nichts – kein Computer oder Verstand, keine mathematischen, physikalischen oder philosophischen Hilfsmittel – [kann] das neuentstandene Muster entwirren, solange es in seine Einzelteile aufgelöst ist, ohne es tatsächlich ablaufen zu lassen.«71

Über die Metapher der ›unsichtbaren Hand‹, die bei genauerem Hinsehen die Funktion von Kommunikationsmedien im sozialen Modell veranschaulichen soll, gelingt eine Umschrift biologischer Systeme auf soziale Systeme. Dass 70. Graduiertenkolleg Automatismen, Universität Paderborn: Unsichtbare Hände. Automatismen in Medien-, Technik- und Diskursgeschichte, Tagung, 4/5. Februar 2010, unter: www.gtg.tu-berlin.de/mambo/index.php?option=com_content&task= view&id=843&Itemid=267 71. Kevin Kelley: Das Ende der Kontrolle. Die biologische Wende in Wirtschaft, Technik und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 25. Eine eingehende Analyse dieser Verbindung von ›Schwarmintelligenz‹, unsichtbarer Hand und Gesellschaft leistet der Beitrag von Carsten Zorn in diesem Band (Kapitel 6.0).

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diese Umschriften, wie bei Kelly, oftmals selbst ins Schwärmen geraten, gehört zu den Gemeinplätzen der Faszinationsgeschichte biologischer Systeme, die in der politischen Theorie immer schon als ideale Modelle für die Organisation von Gesellschaft gedient haben.72 Diese Umschrift erscheint manchen Autoren offenbar deshalb als reizvoll, weil sie das Modell einer zivilgesellschaftlichen Basisdemokratie mit dem Marktmodell der Demokratie verbindet. Das Marktmodell sieht nur eine geringe direkte Partizipation der Bürger im politischen Prozess vor und setzt dagegen eher auf die gestalterischen Kräfte der unsichtbaren Hand. Der Bürger hat in diesem Modell die Wahl zwischen mindestens zwei konkurrierenden politischen Eliten (Parteien), die sogar korrupt sein oder nur ganz privaten Interessen folgen mögen, aber durch den Modus einer regelmäßigen Wahl dazu gezwungen werden, Handlungsprogramme zu erfüllen, die den Interessen der Mehrheit in der Bevölkerung entgegenkommen: »Wie bei der klassischen Vorstellung vom Markt der Güter und Dienstleistungen als eine Art Harmonieautomat, der dafür sorgt, dass am Ende alle auf ihre Kosten kommen, obgleich ein jeder lediglich seine eigenen Interessen verfolgt, sieht dieses Modell in der bloßen Auswahlchance bereits die demokratische Bedingung der Übereinstimmung von gesellschaftlichen Interessen und politischen Handlungen als vollkommen erfüllt an. […] Die zentrale Bedingung für diese Konvergenz widerstreitender Interessen durch die unsichtbare Hand des Eliten- und Wählermarktes ist Information.«73

Dieser positiven Rolle der unsichtbaren Hand steht das Modell einer zivilgesellschaftlichen Basisdemokratie kritisch gegenüber. Die Basisdemokratie sieht politische Partizipation vor allem im Bereich der Lebenswelt, der Nachbarschaft oder in informellen Arbeitsgruppen vor, und erst aus dieser horizontalen Vernetzung zivilgesellschaftlicher Initiativen soll sich (wie von Geisterhand?) ein demokratisches Gemeinwesen entwickeln oder zumindest ein zivilgesellschaftlicher Druck auf das politische System aufgebaut werden. Diese Form von Subpolitik unterscheidet sich von herkömmlicher Politik vor allem dadurch, dass Akteure außerhalb des politischen Systems politisch tätig werden und dass deren Organisationsform eine Alternative zur Hierarchie im politischen System darstellt. Subpolitik meint also ganz klar Gesellschaftsgestaltung von unten, aus der Ameisen- oder Bienenperspektive sozusagen: »Vor den Übergriffen selbstgerechter Eliten«, so formuliert es Claus Leggewie, »vor dem Versagen der Eingriffe des überforderten Staates, vor der Illusion der unsichtbaren Hand des Marktes, auch vor dem Rückfall in autoritäre und volksgemeinschaftliche Muster ohne Wert bewahrt nur die Bürgergesellschaft, die wir selber bilden – ohne stabiles Zentrum, ohne genaue Kompetenzzumessungen, ohne homogene Überzeugungen, ohne vorausgesetzten 72. Siehe die Beiträge in Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.), Politische Zoologie, Zürich, Berlin 2007. 73. Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch das Mediensystem, Frankfurt a.M. 2001, S. 18.

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Konsens, ohne perfekten Masterplan.«74 Ulrich Beck, der Leggewie tendenziell zustimmend zitiert, greift die populäre Metapher auf, lässt sich geradezu von ihr anstecken, wenn er unmittelbar an die emphatische Feier der Subpolitik anknüpft mit der Hoffnung, dass die subpolitisierte Gesellschaft zu einer Bürgergesellschaft werden könnte, wenn es ihr gelänge, die unsichtbare Hand des Systems abzulösen und »ihre Angelegenheiten in allen Bereichen und Aktionsfeldern der Gesellschaft selbst in die Hand« zu nehmen.75 In der Verbindung beider Alternativen scheinen die Gegensätze aufgehoben, weil in der Vorstellung eines Schwarms die sichtbaren Hände der Einzelnen (Mikroebene) unmerklich mit der unsichtbaren Hand des Systems (Makroebene) an einem Strang ziehen. Aber genau in dieser Vorstellung bleibt die unsichtbare Hand als Geisterhand präsent, weil der logische Übergang zwischen diesen beiden Ebenen nicht kontinuierlich, sondern nur als Bruch denkbar ist. Die Komplexität gesellschaftlicher Organisation lässt sich nicht aus dem Verhalten einzelner Individuen, Gruppen oder Netzwerke ableiten, d.h. die sichtbare Hand von Aktivisten oder Organisationsstrukturen bleibt auch weiterhin auf die Vorstellung einer unsichtbaren Hand (der Kommunikationsmedien) im Gesamtsystem angewiesen, d.h. wer meint die Anonymität der unsichtbaren Hand gegen die sichtbaren Hände der einzelnen Interessen ausspielen zu können, bemerkt nicht, dass er weiterhin im Figurenensemble der Metapher denkt. Denn die Metapher der unsichtbaren Hand erzeugt anstelle einer Auflösung des Problems, wie man Makro- und Mikroebene der Gesellschaft verbinden könnte, nur die Invisibilisierung dieser Ebenendifferenzierung.76 Aber genau deswegen kann sie zur Reduktion von Komplexität ein anschauliches Bild liefern und scheint damit auch für jede Großtheorie (von Adam Smith bis Niklas Luhmann) unverzichtbar zu sein, die Gesellschaft, Medien und das Politische zusammen denken möchte. Aber ganz egal ob man dem ökonomischen Modell der unsichtbaren Hand zustimmend oder kritisch gegenübersteht: man kommt offenbar an der Metapher und ihrem latenten Providentialismus nicht vorbei.

74. So Claus Leggewie, zit.n. Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a.M. 1993, S. 164. 75. U. Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 164. 76. Zu dieser Funktion der ›unsichtbaren Hand‹ siehe auch Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 98-101.

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4. Verschwörungstheor ien. Zum Imaginären des Verdachts Arno Meteling »›Referential mania,‹ Herman Brink had called it. In these very rare cases the patient imagines that everything happening around him is a veiled reference to his personality and existence. […] Everything is a cipher and of everything he is the theme.« Vladimir Nabokov: Signs and Symbols (1946) »Das Leitungswasser! Ja! Kaum hatte ich davon getrunken, da hatten in mir diese Wandlungen eingesetzt! Im Wasser musste etwas drin sein! Was aber?« Stanislaw Lem: Der futurologische Kongreß (1972)

Zu entscheidenden Topoi des modernen politischen Diskurses gehören das »Geheimnis« und die »Verschwörung«. Historisch geraten seit der Aufklärung zum einen die Trennung von privater Moral und Politik (die Staatsräson) und damit die arcana imperii, Staatsgeheimnisse und Geheimpolitik, als Aspekte absolutistischer Herrschaft in die bürgerliche moralisch argumentierende Kritik. Zum anderen richtet sich der staatliche Verdacht einer bürgerlichen Verschwörung, verstärkt seit der Französischen Revolution, auf die neuen aufklärerisch orientierten Arkangesellschaften. Das Imaginäre, das sich sowohl von staatlicher wie von bürgerlicher Seite dabei auf diese neuen Gemeinschaften bezieht, stiftet einen verschwörungstheoretischen Diskurs des Verdachts, der sich in zahlreichen politischen, theoretischen und fi ktionalen Narrativen bis heute manifestiert. Die moderne Latenztheorie, die sich wesentlich auf eine Verbindung von medialer Latenz und politischer Form kapriziert, also auf eine mitunter bedrohliche Krypta des Politischen unter der Oberfläche medialer Inszenierung, kann in vielerlei Hinsicht als Fortsetzung dieses Verdachtprojekts verstanden werden. Sie tradiert dabei Argumente, Figurationen und Narrative, die verschwörungstheoretische Züge tragen. Komplementär zu der Narrativierungstendenz politischer Aussagen in Verschwörungstheorien lassen sich seit dem 18. Jahrhundert »Geheimnis« 179

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und »Verschwörung« auch als populäre Sujets von Fiktionalisierungen beobachten. Beinahe zeitgleich mit dem Aufkommen der Geheimbünde und der Zirkulation eines Imaginären, das sich auf ihre Dunkelmännerqualitäten bezieht, kommen die ersten literarischen Verarbeitungen des Themas auf den Markt. Dazu gehören heute prominent noch Gotthold Ephraim Lessings Ernst und Falk – Gespräche für Freimäurer (1778), Friedrich Schillers Der Geisterseher (1787-88), Karl Philipp Moritz’ Andreas Hartknopf (1786), Jean Pauls Die unsichtbare Loge (1793), Johann Wolfgang Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795-96) oder in romantischer Verarbeitung des Geheimbundthemas Achim von Arnims historischer Roman Die Kronenwächter (1817). Wandern diese beiden Themen in der Moderne als Motiv genauso wie als Strukturelement dann vor allem in die Genreliteratur des Kriminalromans oder des Spionagethrillers und werden damit zu ästhetischem Material des Populären, können sie seit den 1960er Jahren, also vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, als Hauptakkorde der so genannten postmodernen Literatur gelten. Geheimnis und Verschwörung reüssieren beispielsweise in den Romanen Thomas Pynchons (V., The Crying of Lot 49, Gravity’s Rainbow), Don De Lillos (Running Dog, The Names, White Noise, Libra, Mao II, Underworld), Robert Sheas und Robert Anton Wilsons (Illuminatus!) oder auch in Umberto Ecos Roman Il pendolo di Foucault (1988) oder Bret Easton Ellis’ Glamorama (1999) sowie in den Verschwörungs- oder Paranoiafi lmen des New Hollywood der 1960er und 1970er Jahre (The Conversation, The Parallax View, Three Days of the Condor, All the President’s Men).

4.1 The Paranoid St yle. Verschwörungen und Verschwörungstheor ien Die Realgeschichte der Verschwörung ist, abgesehen von einer vielleicht lückenhaften Datenlage, eine unbestreitbare Angelegenheit. Verschwörungen gibt es seit dem Zeitpunkt, als Menschen sich zum ersten Mal zu Gemeinschaften zusammengefunden haben, und sie sind gewöhnlich keine sonderlich komplizierten Gebilde. Modellhaft kann man sie als Bildung einer kleineren Gemeinschaft innerhalb einer größeren betrachten. Entscheidend ist dafür die Innen-/Außen-Grenze zwischen diesen beiden Mengen, die vor allem in der Wahrung eines Geheimnisses besteht, das nicht nach außen dringen, nicht verraten werden darf.1 Dieses Geheimnis bedeutet zum einen die Heimlichkeit des Plans der kleineren Gruppe, der meistens bedeutet, gegen 1. Das Geheimnis impliziert damit auch das Gründungsritual oder Gründungstheater politischer Fiktion der verschworenen Gemeinschaft. Vgl. Albrecht Koschorke: »Macht und Fiktion«, in: Thomas Frank/Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/ Ethel Matala de Mazza: Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte, Bilder, Lektüren, Frankfurt a.M. 2002, S. 73-84 sowie Albrecht Koschorke/Susanne Lüdemann/Thomas Frank/Ethel Matala de Mazza: Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas, Frankfurt a.M. 2007.

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4. Verschwörungstheor ien. Zum Imaginären des Verdachts

die größere vorzugehen und nachhaltig die Konfiguration beider Gruppen zueinander zu ändern, und zum anderen das Schweigen darüber, dass sich die verschworene Gemeinschaft überhaupt gebildet hat. Denn das Vorhaben der Verschwörer verstößt im Regelfall gegen die Ordnung und die Gesetze der sie umgebenden und zumeist staatlich organisierten Gemeinschaft,2 so dass mitunter rituell bestätigt werden muss, dass die Mitglieder der Verschwörung die Gesetze ihrer geheimen Gemeinschaft über die der anderen stellen: »Das Logengeheimnis bricht die Staatsgewalt.«3 Diese Praxis wird häufig durch den Namen gebenden heimlichen und rituell abgehaltenen Schwur (coniuratio) durchgeführt, der den öffentlichen Schwur als gemeinschaftlichen Eid, beispielsweise mit dem Ziel der Vergeltung oder auch, um eine Verfassung in kraft zu setzen, spiegelt. 4 Verschwörungstheorien als systematische und narrative Formulierungen eines Verdachts, dass geheime Dimensionen des Politischen in Form von Verschwörungen existieren und dass die Verschwörer ein gewisses Maß an Lenkungsmacht besitzen, weisen eine zweifelhafte historische Referenzialität auf und gehören zum Bereich des Imaginären oder allenfalls des Konjekturalen.5 Zur Grundformel einer Verschwörungstheorie gehört zunächst der Verdacht, dass hinter bestimmten politischen Handlungen nicht der Wille des Volkes oder des Staates stehen, sondern der einer unsichtbaren Macht, die einen eigenen geheimen Plan verfolgt. Zu den Mechanismen dieser Handlungen gehört 2. Die Illegalität von Plan und Gemeinschaft unterscheidet eine Verschwörung von anderen Arten der Geheimhaltung, z.B. bei Geheimdiensten des Staates. 3. Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a.M. 1973, S. 65. 4. Das bekannteste Beispiel für einen öffentlichen Schwur ist wohl der französische »Ballhausschwur« (20. Juni 1789). Zu den bekannten Verschwörungen in der Geschichte gehören die Catilinarische Verschwörung, der versuchte Staatstreich des römischen Senators Lucius Sergius Catilina 63 v. Chr. gegen die römische Republik, und die erfolgreiche Verschwörung gegen den Diktator Gaius Julius Cäsar wenig später 44 v. Chr. in der Antike, der misslungene katholische gunpowder plot 1605 gegen die Regierung Jakob I. von England in der Frühen Neuzeit oder die moderne Verschwörung von Mitgliedern der republikanischen Regierungspartei 1974 gegen die Demokraten in der Watergate-Affäre, die zum Rücktritt des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon führte. Für einen historischen Überblick der wichtigsten Verschwörungen siehe Uwe Schultz (Hg.), Große Verschwörungen. Staatsstreich und Tyrannensturz von der Antike bis zur Gegenwart, München 1998. 5. Die Verwendung des Begriffs der »Verschwörungstheorie« impliziert immer einen Verdacht gegen diese »Theorie«. Die Konjektur als Denkstil der meisten Verschwörungstheorien ist der Effekt einer mitunter auffälligen Akkumulation von Indizien durch den Theoretiker, die eine möglichst überzeugende und stimmige Darlegung der Theorie stützen soll, die letztlich auf Lückenlosigkeit abzielt. Zu Indizienparadigma und Konjektur siehe Carlo Ginzburg: »Spurensicherung. Der Jäger entziffert die Fährte, Sherlock Holmes nimmt die Lupe, Freud liest Morelli – die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst«, in: Ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 7-57.

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auch ein Akt der Verschleierung. Der Denkstil der Verschwörungstheorie ist überdies mit einem Zug zur Personalisierung verknüpft, der unsichtbare Kräfte in benennbare Figurationen des Feindes verwandelt, gegen den es sich positionieren lässt. Aus dem Nichtsichtbaren und Nichtgeordneten werden dadurch Zeichen und Figuren, die sich zuordnen lassen und über die sich schreiben lässt. Verschwörungstheorien können deshalb grundsätzlich als Signifi kationen eines noch nicht Signifizierten gelten oder, so der jeweilige Verdacht, auch von etwas, das nicht bezeichnet werden will. Diese Semiose erzeugt allerdings immer nur ein typisches und beinahe historisch unveränderbares Imaginäres finsterer Figuren, die im Hinterzimmer der Macht Intrigen spinnen oder Komplotte schmieden, um mit geheimen Mitteln ihre Pläne vom Umsturz oder subtiler Herrschaft zu realisieren. Zur Arbeit der Sichtbarmachung der Verschwörungstheorie gehört immer auch die Thematisierung dieser Unsichtbarkeit der Verschwörer dazu. Während die Verschwörungstheorie deshalb zwar als signifizierende Konkretion eines unsichtbaren Feindes definiert werden kann, bleibt dieser Feind – vor allem mit zunehmender Reichweite der Verschwörung und damit einem wachsenden Komplexitätsgrad der Theorie – in einem rhetorischen Gegenzug zugleich eigentümlich abstrakt, unsichtbar und unangreif bar. Abseits von bestimmten politischen Schlüsselfi guren wird der Verschwörer häufig nur ungenau und typologisch bezeichnet, unscharf adressiert und tritt als Pluraletantum auf. Es geht dann um »die« bzw. um »them«, also um genauso feindliche wie gesichtslose Steuerungsmächte.6 Komplexe systemisch orientierte Erklärungsversuche politischer Macht oder auch Herangehensweisen, die auf Kontingenz oder Emergenz als politikund geschichtsmächtige, aber eben nicht personalisierbare Kräfte abstellen, sind dabei das Anathema der Verschwörungstheorie. Denn diese zeichnet sich bei aller Dunkelheit in Bezug auf präzise Bezeichnungen vor allem durch eine Rhetorik der Transparenz, Stringenz und Stimmigkeit aus, die zu analysierende Phänomene stets als eindeutige Indizien oder Symptome eines Plans konkreter Verschwörer liest. Diese Dynamik der logischen Schließung in der Verschwörungstheorie ist allerdings immer auch exakt das Einfallstor für die Unabschließbarkeit der Argumentation hin zu einer prinzipiell unendlichen Kausalkette. Denn im Zuge der Bemühungen um Kontingenzvermeidung, dem Versuch, alles in geordnete Muster und damit einen Masterplan einzupassen, müssen unbedingt Gründe für nicht rationalisierbare Lücken in der behaupteten Kausalkette gefunden werden. Aufgehoben werden diese deshalb gewöhnlich durch den Verweis darauf, dass ein weiterer geheimer Plan und weitere geheime Verschwörer hinter dem schon aufgedeckten Plan und hinter 6. Gemeint sind damit aber häufig Gruppierungen wie die »Freimaurer«, die »Bayerischen Illuminaten«, die »Jesuiten«, die »Juden« oder geheime Untergruppen und Eliten innerhalb dieser häufig unscharf definierten Gruppen, die Staat und Gesellschaft unterwandert haben sollen. Juden und Geheimgesellschaften sind seit dem 19. Jahrhundert, so Daniel Pipes, die beiden häufigsten Subjekte von Verschwörungstheorien. Vgl. Daniel Pipes: Verschwörung. Faszination und Macht des Geheimen, München 1998, S. 11.

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4. Verschwörungstheor ien. Zum Imaginären des Verdachts

den benannten Verschwörern existieren. Logisch kann die Verschwörungstheorie dabei den Gang eines infiniten Regresses verfolgen. Sie beschreibt die identifizierten Akteure dann mit der rhetorischen Figur der Puppe oder der Maske (prosopopoiia),7 hinter deren sichtbar gemachte Oberfläche in einer potenziell unendlichen Kette von Akteuren immer weitere noch unsichtbare Mächte als Marionettenspieler an den Steuerungsfäden ziehen.8 Verschwörungstheorie neigt dabei häufig auch dazu, dieser vermuteten Komplexität dadurch Herr werden zu wollen, indem sie möglichst viele Indizien und möglichst viele Akteure miteinander in Verbindung bringt. Als enthüllender Kommentar geheimer und komplexer Netzwerke verknüpft sie dazu heterogene Verdachtsmomente und Spuren, unterschiedliche Figuren und Gruppierungen in einer Dynamik, die eine eskalatorische Steigerung der Konnektivität und auch der Reichweite der möglichen Verschwörung formuliert. Noch über das Komplexitätsmodell der Landkarte in Jorge Luis Borges’ Parabel Von der Strenge der Wissenschaft9 hinausgehend, kann das verschwörungstheoretische Modell deshalb Dimensionen annehmen, die jede denkbar praktikable und realistisch vorstellbare Verschwörung übersteigen.10 Abgesehen von den unmöglich zu bewältigenden logistischen und kommunikativen Herausforderungen, die eine überkomplexe globale »Weltverschwörung«, wie sie seit dem frühen 20. Jahrhundert formuliert wird, mit sich brächte,11 ist ein weiteres Problem der Verschwörungstheorie der Grad der 7. Siehe zum Verständnis dieser rhetorischen Figur Paul de Man: »Autobiographie als Maskenspiel«, in: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. v. Christoph Menke, Frankfurt a.M. 1993, S. 131-146. 8. In Sydney Pollacks Verschwörungsfilm Three Days of the Condor (1975) wird dies vom Helden als »CIA within the CIA« quittiert. 9. »In jenem Reich erlangte die Kunst der Kartographie eine solche Vollkommenheit, dass die Karte einer einzigen Provinz den Raum einer Stadt einnahm und die Karte des Reichs den einer Provinz. Mit der Zeit befriedigten diese maßlosen Karten nicht länger, und die Kollegs der Kartographen erstellten einer Karte des Reichs, die die Größe des Reichs besaß und sich mit ihm in jedem Punkt deckte.« Jorge Luis Borges: »Von der Strenge der Wissenschaft«, in: Ders.: Borges und ich. Gesammelte Werke Band VI, München, Wien 1982, S. 121. 10. Historisch lässt sich seit der verschwörungstheoretischen Reaktion auf die Französische Revolution eine Dynamik der Eskalation beobachten, die schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts in dem Modell einer globalen Verschwörung mündet und dabei vor allem die antigeheimgesellschaftliche Verschwörungstheorie mit einer antisemitischen koppelt. Letztlich werden den Verschwörern dabei das Projekt der restlosen Weltbeherrschung bzw. die Schaffung einer new world order unterstellt. 11. Die Reduktion von Komplexität und ihre Entlastungsfunktion werden häufig als sozialpsychologische Hauptmotive für Verschwörungstheorien angegeben. Siehe dazu Dieter Groh: »Der Gewinn eines auf einer Konspirationstheorie basierenden Deutungsmusters oder Weltbildes liegt für diejenigen, die es akzeptieren, in folgendem: Erstens ermöglicht oder zumindest erleichtert es ein solches Muster, dissonante Wahrnehmungen zu reduzieren. Zweitens erlaubt es, Komplexität drastisch zu reduzieren. Oder mit anderen Worten: Anziehungskraft und Verbreitung von Ver-

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Macht der Verschwörer. Lenken diese tatsächlich die Geschicke des Staates oder der Welt? Inwiefern wirkt sich diese Steuerungsmacht aus, und warum verbleiben die Verschwörer dann noch in der Unsichtbarkeit? Oder falls die Verschwörer noch nicht die Herrschaft über den Staat oder die Welt übernommen haben: Warum? Sind sie nicht mächtig genug? Gibt es einen kritischen Punkt in der Zukunft, an dem die Verschwörer genug Macht und Einfluss haben, dass sie offen zutage treten? Dies ist das »konspirationstheoretische Paradox« in der Definition Dieter Grohs: »Verschwörer sind mächtig und schwach zugleich. Verschwörer werden als derart mächtig vorgestellt, dass sie den Lauf der Geschichte beherrschen können. […] Verschwörer sind aber auch gleichzeitig schwach, ja letztlich unfähig, ihre Macht zu ihrem eigenen Nutzen zu verwerten.«12 Wären Verschwörer also tatsächlich die Bedrohung für Staat, Welt oder Geschichtsverlauf, als die das Phantasma der Verschwörungstheorie sie darstellt, so hätten sie bereits die Macht, den Staat, die Welt oder die Geschichte zu steuern und zu beherrschen. Es gäbe keinen Grund mehr für eine Geheimhaltung. Aber gemäß der Verschwörungstheorie agieren Verschwörer ausschließlich im Verborgenen, und der Plan, beispielsweise eine Regierung zu stürzen oder eine zionistische Weltregierung, eine new world order bzw. Neue Weltordnung (NWO), zu errichten, basiert auf seiner Verheimlichung.13 schwörungstheorien verdanken sich ihrer Funktion, Gruppen oder Einzelne, die unter ›Stress‹ geraten, vom Druck der Realität weitgehend zu entlasten.« Dieter Groh: »Verschwörungen und kein Ende«, in: Kursbuch 124. Verschwörungstheorien (Juni 1996), S. 12-34, hier S. 15. Oder siehe Ralf Klausnitzer: »Die Faszination dieser Muster – ob im Modus der Fiktion zur Mobilisierung einer ästhetisch gleichsam auf Probe handelnden Einbildungskraft produziert oder mit faktualem Geltungsanspruch generiert – beruht auf jenen Beobachtungsordnungen und Zuschreibungsverfahren, die im 17. und 18. Jahrhundert als Ergebnis einer folgenreich umgestellter Observation der sozialen Welt entstehen und in der Zeit zwischen 1750 und 1850 zahlreiche divergierende Ausprägungen erfahren: Als Modelle zur Deutung und Erklärung individuenübergreifenden Handelns reduzieren Verschwörungsszenarien die Komplexität politischer, konfessioneller, wissenschaftlicher Verhältnisse durch personalisierende Kausalattributionen, die sichtbare Ereignisse und Vorgänge als Kalkül koordinierter Machinationen heimlich verbundener Akteure und ihrer invisiblen Pläne enthüllen.« Ralf Klausnitzer: Poesie und Konspiration. Beziehungssinn und Zeichenökonomie von Verschwörungsszenarien in Publizistik, Literatur und Wissenschaft 1750-1850, Berlin, New York 2007, S. 601. 12. D. Groh: Verschwörungen und kein Ende, S. 13. 13. Torsten Hahn spricht bezüglich dieser Figur mit Niklas Luhmann von einem strukturell notwendigen »markiertem Nichtwissen«. Torsten Hahn: »Government denies knowledge – Friedrich Krauß‹ Verschwörungstheorie und die Grenzen des Rechts«, in: Ders./Jutta Person/Nicolas Pethes (Hg.), Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. Zur Koevolution von Experiment und Paranoia 1850-1910, Frankfurt a.M., New York 2002, S. 193-214, hier S. 195. Vgl. Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4, Frankfurt a.M. 1999, S. 177.

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Der Hinweis auf das Geheime der Verschwörung ist also das notwendige Supplement jeder Verschwörungstheorie, und es ist deshalb kein Zufall, dass der gesamte Diskurs der Verschwörungstheorie von einer Isotopie des Geheimen, Dunklen und Unterirdischen auf mehr oder weniger schauerromantische Weise durchzogen ist.14 Diese Oszillation der verschwörungstheoretischen Rhetorik zwischen dem Offenbarungsgestus der perspicuitas und der stets etwas im Dunkeln belassenden obscuritas ist wahrscheinlich auch der Grund für den Erfolg einer Literatur, die über »hermeneutische Codes« im Verständnis Roland Barthes’,15 über die sensationsbetonte Implementierung von Geheimnissen und Verschwörungen, funktioniert. Eine abschließende Frage, die sich bezüglich der Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit in der Rhetorik von Verschwörungstheorie aufdrängt, ist dabei allerdings: Warum bleibt die Verschwörung von den anderen unentdeckt, wenn sie so umfassend ist und ihre Existenz auch so zwingend logisch erscheint, wie von der Verschwörungstheorie formuliert? Eine Schlussfolgerung im Additionsmodus der Verschwörungstheorie wäre wohl, dass das gesamte System der Macht bzw. das gesamte Netzwerk der Kommunikation infiltriert und korrumpiert sei. Wenn aber das gesamte System bzw. der Staat unterwandert ist, welcher Instanz und damit welcher Information lässt sich dann noch vertrauen? Ist der Verschwörungstheoretiker dann die einzig vertrauenswürdige Quelle? Aufgrund dieser blinden Flecken in der Argumentation vieler moderner Verschwörungstheorien, die vor allem vor dem Hintergrund einer emphatischen Aufklärungs- und Überzeugungsrhetorik auff ällig ist, wird der Begriff der »Verschwörungstheorie« in der Regel als Kampf begriff benutzt, der Äußerungen und Denkweisen des politischen Gegners buchstäblich als pathologisch diffamiert. Die klinische Schablone der Verschwörungstheorie ist dabei die »Paranoia« in ihrer Spezialbedeutung als Verfolgungswahn. »Paranoid style« lautet auch die bekannte Diagnose Richard Hofstadters zur zeit14. Ein paradigmatischer Fall für den Einsatz dieser Figurationen findet sich beispielsweise in den – von antisemitischen Fälschern erstellten – so genannten Protokollen der Weisen von Zion (1903). Dort besagt der letzte Abschnitt des neunten Protokolls, das die »Juden« die Welt unter anderem mittels des Baus von Untergrundbahnen zu erobern suchen: »Sie werden einwenden, dass man sich gegen uns mit bewaffneter Hand erheben werde, wenn man vorzeitig merkt, um was es sich handelt. Für diesen Fall besitzen wir ein so furchtbares Mittel, dass selbst die tapfersten Herzen erzittern. Bald werden in allen Hauptstädten Untergrundbahnen gebaut sein; von dort aus werden wir alle Städte samt all ihren Einrichtungen und ihren Urkunden in die Luft sprengen.« Eine literarische Verarbeitung des Untergrundgedankens findet sich in prägnanter Kürze auch in Georg Büchners Dramenfragment Woyzeck (1837). Hier fürchtet sich der Titelheld vor den Freimaurern, die wie selbstverständlich unter der Erde zu finden sind: »WOYZECK. Es geht hinter mir, unter mir. Stampft auf den Boden: Hohl, hörst du? alles hohl da unten! Die Freimaurer! ANDRES. Ich fürcht mich.« Georg Büchner: »Woyzeck«, in: Ders.: Werke und Briefe. Mit einem Nachwort von Fritz Bergemann, München 1974, S. 113-132, hier S. 115. 15. Vgl. Roland Barthes: S/Z, Frankfurt a.M. 1994.

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genössischen amerikanischen Politik der 1960er Jahre.16 Sie bezeichnet die pathologische Extremform eines »style of mind […] that has a long and varied history«,17 die als grundlegende Figur des Verdachts bezeichnet werden kann: »I call it the paranoid style simply because no other word adequately evokes the qualities of heated exaggeration, suspiciousness, and conspirational fantasy […].«18 Hofstadters Verwendung des Stilbegriffs betont also die direkte Verbindung von Psyche oder Mentalität zur Rhetorik, »using political rhetoric to get at political pathology«,19 und belegt damit das Sprechen politischer Repräsentanten mit einem klinischen Begriff.20 Verschwörungstheorie, die als eine Rhetorik politischer Pathologie, also als Denkstil genauso wie als Sprachstil verstanden werden muss, kann demnach mit dem klinischen Befund der Paranoia identifiziert werden. Von J. Laplanche und J.-B. Pontalis wird diese als »chronische Psychose« definiert, »die durch einen mehr oder gut systematisierten Wahn, die Prädominanz der Interpretation, das Fehlen einer Intelligenzabnahme charakterisiert ist […]«21. Das paradigmatische wissenshistorische Beispiel für eine Paranoia ist der Fall »Daniel Paul Schreber« bzw. seine Aufzeichnungen Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1900).22 Sigmund Freud differenzierte in seiner Fallgeschichte über Schreber zunächst noch die Zusammenhänge zwischen Paranoia und sublimierter Homosexualität.23 Das Pathologische ist für Freud dabei auch nicht der »Wahn«, sondern der Entzug der Welt, die Isolation des Kranken von den Personen und Dingen, während der Wahn das Projekt darstellt, die

16. Richard Hofstadter: »The Paranoid Style in American Politics«, in: Ders.: The Paranoid Style in American Politics and Other Essays, New York 1965, S. 3-40. 17. Ebd., S. 3. 18. Ebd. 19. Ebd., S. 6. 20. Dieser »Stil« ist allerdings, darauf weist Hostadter hin, nicht exklusiv amerikanisch, sondern ein globales Kennzeichen des Politischen. Oft sei er allerdings »the preferred style only of minority movements«. Ebd., S. 7. 21. J. Laplanche/J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse, Frankfurt a.M. 1973, S. 365-367, hier S. 365. Für Sigmund Freud ist der Verfolgungswahn dabei nur ein Aspekt des psychotischen Systems der Paranoia. Weiterhin gehören dazu die Erotomanie, der Eifersuchtswahn und der Größenwahn. 22. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen und einem Anhang über die Frage: »Unter welchen Voraussetzungen darf eine für geisteskrank erachtete Person gegen ihren erklärten Willen in einer Heilanstalt festgehalten werden?« Mit einem Nachwort von Wolfgang Hagen, Berlin 2003. 23. Sigmund Freud: »Psychoanalytische Bemerkungen über einen autobiographisch beschriebenen Fall von Paranoia (Dementia paranoides) (1911)«, in: Ders.: Zwei Fallberichte, Frankfurt a.M. 1997, S. 95-169. Wie in dem Briefwechsel zwischen Freud und Sandor Ferenczi deutlich wird, war Freud selbst nicht ganz von dem Zusammenhang zwischen Paranoia und Homosexualität überzeugt. Vgl. Wolfgang Hagen: »›Warum sagen Sie’s nicht (laut)?‹ Das Radio und/in Schrebers ›Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken«, in: Schreber: Denkwürdigkeiten, S. 345-362, hier S. 347.

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Welt wieder aufzubauen und sich ihr wieder zuzuwenden, allerdings in seiner narzisstischsten Form, die den Paranoiden zum Zentrum der Welt erhebt.24 Elias Canetti überträgt in dem Schlusskapitel von Masse und Macht (1960) den Fall »Schreber« schon auf die Topologie von Herrschaftsverhältnissen, bei denen es stets um »Positionsverhältnisse« geht, um die Verteidigung einer »exaltierte[n] Stellung«: »Auch beim Machthaber kann es, der Natur der Macht nach, nicht anders sein: Das subjektive Gefühl, das er für seine Position hat, unterscheidet sich in nichts von der des Paranoikers.«25 Canetti hebt dabei auch die »Bedeutung von Komplotten«, also des Imaginären des Verdachts beim Paranoiker hervor: »Konspirationen oder Verschwörungen sind bei ihm an der Tagesordnung […]. Der Paranoiker fühlt sich umstellt. […] Die zur Meute Gehörigen halten sich erst versteckt, sie können überall sein. Sie stellen sich harmlos und unschuldig, als wüssten sie nicht, worauf sie lauern. Aber die durchdringende Geisteskraft des Paranoikers vermag es, sie zu entlarven.«26 Wie bei der Verschwörungstheorie geht es bezüglich der Machtverteilung also um eine paradoxale Situation: Einerseits ist der Paranoiker den Verschwörern an Zahl und damit an Macht weit unterlegen. Auch ist die »Meute« getarnt, also hinsichtlich des Sichtbarkeitsaspekts überlegen und beobachtet ihrerseits, mit »Augen überall«,27 den Umstellten. Andererseits ist der Paranoiker – ganz gemäß der Freudschen Narzissmus-These – in einer hervorgehobenen und heldenhaften Position des in jeder Hinsicht geistig und moralisch Souveränen. Für Canetti ist das paranoische Narrativ des Wahns deshalb letztlich »in Wirklichkeit das genaue Modell der politischen Macht«28. Der Fall »Schreber« kann aber nicht nur psychoanalytisch und politisch gelesen werden, sondern auch hinsichtlich der Rolle zeitgenössischer Medien. Wolfgang Hagen sieht Schrebers Aufzeichnungen beispielsweise als Ausdruck eines spiritistischen Diskurses und offenbart das Wahnsystem damit als buchstäblich semiotischen Effekt des Medialen: »Der Kern dieser Sache des ›modernen Spiritismus‹ aber ist keine ›Entität‹, kein einfacher Gegenstand von Wissenschaft, sondern der verschobene Effekt eines medientechnischen Aprioris, nämlich des [sic!] der Telegrafie. Wir können sagen, dass der durch die Telegrafie in die Welt gesetzte Elektrizitätseffekt ein semiologischer ist […]. Erst mittels der Medien, die durch Elektrizität möglich werden, wird die Möglichkeit einer ›langage‹ vor und in der ›langue‹ freigelegt.«29 24. Mario Erdheim fasst Schreber in Freuds Diagnose bündig so zusammen: »Schreber sah sich als Mittelpunkt der Welt: er kämpfte mit Gott, überlebte den Weltuntergang, verwandelte sich in eine Frau und begründete eine neue Menschheit.« Mario Erdheim: »Einleitung«, in: Sigmund Freud: Zwei Fallberichte, Frankfurt a.M. 1997, S. 7-94, hier S. 16. 25. Elias Canetti: Masse und Macht, Frankfurt a.M. 1980, S. 517. 26. Ebd., S. 520-521. 27. Ebd., S. 542. 28. Ebd., S. 523. 29. Wolfgang Hagen: Radio Schreber. Der »moderne Spiritismus« und die Sprache der Medien, Weimar 2001, S. 112-113. Eine Spur zum Spiritismus bzw. elektri-

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Hagen verweist also darauf, dass erst die Medien das Signifi kante der Sprache hervorheben, eben genau den Anteil, der keine Referenz mehr zur Realität darstellt. Dies sei die Leistung des »modernen Spiritismus«, der durch das »Schreber-Ich« spricht. Der durch technische Medien und den Diskurs der Elektrizität figurierte Spiritismus um 1900 stellt damit ein psychotisches System her, ein System »purer Signifikanten«30. Paranoia, so lässt sich mit Hagen deshalb zusammenfassen, ist ein systematisches und geschlossenes Zeichensystem, das einerseits ein Effekt von Medientechnik und –diskurs ist, also ein konstitutives Supplement außerhalb des Systems besitzt, dass aber andererseits, obwohl gerade Freud diesen Punkt als nicht zwingend erachtet, eine semiotisch geordnete und kohärente Erzählung darstellt, ein Narrativ, dessen Referenz zur Realität auch aus diesem strukturellen Grund konstitutiv zweifelhaft bleiben muss.

4.2 Staatsf iktion und Staatsparanoia Richard Sennett führt in seiner modernekritischen Studie The Fall of Public Man (1977) eine populäre Variante moderner Verschwörungstheorie an. Sie bezieht sich sehr allgemein auf eine kleine Gruppe der ›oberen‹ in der Gesellschaft, die sich gegen die ›unteren‹ verschworen hat, um den status quo, das heißt, ihre Privilegien, zu schützen. Erzeugt wird dabei das Phantasma einer Elite, eines »personalen Establishments« vor allem von Vertretern aus Politik und Wirtschaft, die das Kleinbürgertum um ihren sozialen Aufstieg bringt: »Das Ressentiment beruht auf einer halb-wahren, halb-illusionären Erklärung für die gesellschaftliche Position, die das Kleinbürgertum einnimmt: Weil eine kleine hochmütige Gruppe von Insidern die Fäden der Macht und des Privilegs in den Händen hält, kommt das Kleinbürgertum auf keinen

schen Magnetismus des 18. Jahrhundert legt auch der Sammelband Th. Hahn/J. Person/N. Pethes: Grenzgänge zwischen Wahn und Wissen. 30. W. Hagen: Radio Schreber, S. 113. Hagen fasst den Komplex Spiritismus und Medialität, dem er den pathologischen paranoischen Wahn im Wesentlichen auszutreiben sucht, folgendermaßen zusammen: »Das schrebersche Projekt selbst bleibt […] der Versuch, das halluzinative Sprachmaterial einer langjährigen Intoxikation mit Brom, Chloral und Morphinen, die wiederum auf Thanatophobien und psychotischen Ängsten aufgesetzt war, als spiritistische Trance, als ein spritistischmediales Trancesystem zu rehabilitieren. Es entsteht ein Diskurs, der die metonymische, informationell verrauscht Artikulation des Unbewussten unvermerkt entdeckt und zugleich ihre Unzugänglichkeit, ihren Widerstand im Rahmen eines medialen Diskursfeldes offen legt […]. Diese Offenlegung aber ist selbst schon ein Effekt der Elektrizität und ihres ersten Mediums, der Telegrafie, insofern der moderne Spiritismus mit seiner strukturellen Vorgabe, Sprache als zweiwegig situierte Nervenschwingung anzuschreiben, nichts anderes repräsentiert als eine erste ›Theorie‹ der elektrischen Medien, als welche sie Schreber übernimmt und dekonstruiert.« Ebd., S. 132.

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grünen Zweig.«31 Personalisiert wird diese Gruppe in der Lesart Sennetts als Kompensation eines »unpersönlichen Wirtschaftssystems«, in der Macht unsichtbar wird. Je komplexer also die systemischen Verhältnisse sind und je weniger eindeutig identifizierbare Verantwortliche sichtbar, so lässt sich aus dieser einfachen Form einer Verschwörungstheorie schließen, umso mehr ist die Situation ein Angebot zur Entwicklung einer Verschwörungstheorie. Folgt man diesem Gedanken, sind es deshalb sowohl ungerechte als auch unverständliche Konfigurationen des Politischen, die zu einer Kultur des Verdachts nicht nur im so genannten »Kleinbürgertum« führen. Die paranoische Grundhaltung, die gemäß Hofstadter eine psychische Disposition direkt in politische Rhetorik ummünzt, sieht sich von unsichtbaren Feinden umstellt und erkennt überall Geheimnisse und Verschwörungen. Das Ergebnis dieser Perspektivenverschiebung ist, so Eva Horn, eben die »Verschwörungstheorie«, die »ein weltumspannendes, unsichtbares Netzwerk« entwirft, »geheime Codes und Symbole, Mechanismen und Medien der heimlichen Manipulation« imaginiert und »ihr Misstrauen auf mögliche Umsturz- und Weltherrschaftspläne, aber auch allgegenwärtige staatliche Überwachung und Manipulation« richtet: »Der allgegenwärtige, aber unbestimmte Feind wird zur Projektionsfläche aller nur denkbaren sozialen und kulturellen Ängste.«32 Die beiden herausragenden Beispiele für eine »Staatsparanoia« als staatliche Variante dieser Disposition stammen aus den 1950er Jahren und damit aus dem Kontext des Kalten Krieges. Dies sind zum einen der Diskurs der »Atomspione«, der die Angst vor dem Verrat nuklearer Staatsgeheimnisse betriff t,33 und zum anderen der »mind control«-Diskurs,34 der die Furcht vor der völligen Kontrolle und Fremdsteuerung des eigenen Personals thematisiert, die zu perfekt getarnten, da motivlosen Verrätern werden könnten. 31. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1977), Frankfurt a.M. 2002, S. 351-370, hier S. 351. 32. Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M. 2007, S. 383. 33. Dabei geht es nicht schon um die Atombombe selbst, sondern vor allem um die Wissenschaftler, die das Wissen um die Herstellung besitzen: »Das Wissen und Können eines Wissenschaftlers wie Bohr war die Bombe, noch bevor sie tatsächlich gebaut und getestet war; Kernphysik – als Theorie – und die technologischen Voraussetzungen der Atomspaltung – als deren praktische Ermöglichung – waren die Bombe in Latenz.« Ebd., S. 387. 34. Vgl. Torsten Hahn: »Z wie Zombie oder V wie Verräter«, in: Cornelia Epping-Jäger/Torsten Hahn/Erhard Schüttpelz (Hg.), Freund, Feind und Verrat. Das politische Feld der Medien, Köln 2004, S. 118-137; Marcus Krause: »Kontrollieren. Einleitung«, in: Nicolas Pethes/Birgit Griesecke/Marcus Krause/Katja Sabisch (Hg.), Menschenversuche – Eine Anthologie 1750-2000, Frankfurt a.M. 2008, S. 175-200 sowie zur Fiktionalisierung im Film Arno Meteling: »Mind Control und Montage. The Ipcress File – A Clockwork Orange – The Parallax View«, in: Marcus Krause/Nicolas Pethes (Hg.), Mr. Münsterberg und Dr. Hyde. Zur Kinematographie des Menschenexperiments, Bielefeld 2007, S. 231-252. Siehe dazu das Kapitel 2.5.3 Mind Control und die Ästhetik des Verschwindens (Horn, Virilio) in diesem Band.

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Aber auch die ganz grundsätzliche Theoriesorge um die Herrschaftsstrukturen demokratischer Gesellschaften kommt nicht ohne ein Denken der Latenz und damit ohne verschwörungstheoretische Züge aus, die häufi g mit der jeweiligen Urszene der Gründung des Staates verbunden sind. Claude Lefort geht beispielsweise davon aus, dass politische Philosophie von einer Leerstelle der Macht im Zentrum der Demokratie handelt.35 Das Politische selbst offenbart sich dabei in den Momenten, die Gesellschaft prägen und in Gänze zu repräsentieren suchen, das heißt: als politisches Handeln im Sinne einer »doppelten Bewegung des Erscheinens und Verbergens der Art und Weise, wie sich Gesellschaft instituiert«36. Es ist also zugleich die Verschleierung seiner Konfiguration und als politisches Imaginäres das Ergebnis von Prozessen der Symbolisierung und Mythologisierung. Vorgängig ist für Lefort dabei eine ursprüngliche Teilung der Gesellschaft, die im Mittelalter bis zum Absolutismus des 18. Jahrhunderts beispielsweise in Frankreich noch durch die Macht des göttlich legitimierten Souveräns verdeckt wird. Der Herrscher sorgte durch eine auf seinen transzendenten Körper bezogene Repräsentation von Macht und Gesetz,37 die außerhalb und über der Gesellschaft stand, für ihre politisch-theologische Integrität und Identität. Diese Konstellation wird spätestens mit der Französischen Revolution beseitigt, und die Widersprüche von Bürgertum und Staat treten hernach offen zutage. Der Demokratie fehlt also die zentrale Entscheidungsinstanz auch innerhalb der Zivilgesellschaft, so dass alles dem Prinzip des Konflikts unterliegt:38 »Die Einrichtung einer politischen Bühne, auf der sich jener Wettstreit abspielt, bringt jene allgemeine Teilung zum Vorschein, die sogar konstitutive Bedeutung für die Einheit der Gesellschaft hat. Oder anders ausgedrückt: die Rechtfertigung des rein politischen Konflikts schließt auch das Legitimitätsprinzip des gesellschaftlichen Konflikts in all seinen Spielarten ein. Vergegenwärtigt man sich das monarchische Modell des Ancien Régimes, so lässt sich der Sinngehalt dieser Veränderungen wie folgt zusammenfassen: die demokratische Gesellschaft begründet sich als

35. Claude Lefort: »Die Frage der Demokratie (1983)«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 281-297, hier S. 293. 36. Ebd., S. 284. 37. Vgl. Ernst H. Kantorowicz: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1994. Zum Schauspiel, das vom König, speziell von Louis XIV, gemeinsam mit einem Vertreter der Öffentlichkeitsarbeit (Maler, Historiker oder Dichter) erarbeitet wird und den König seit jeher als Repräsentationseffekt offenbart siehe auch Louis Marin: Das Porträt des Königs, Zürich, Berlin 2005. Das Fundament für diese Vorstellung ist der königliche Doppelkörper, der sich aus der Legitimierung durch das Gottesgnadentum (dei gratia) ergibt. Siehe dazu den Brief des Paulus an die Römer: »Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit außer von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott angeordnet.« Röm 13, 1. 38. C. Lefort: Die Frage der Demokratie, S. 284.

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gleichsam körperlose Gesellschaft […], d.h. als Gesellschaft, die die Vorstellung einer organischen Totalität außer Kraft setzt.«39

Die Repräsentation von Gesellschaft kann, so lässt sich Leforts Gedanke fortführen, nach dem Sturz des Souveräns von keinem singulären Körper mehr übernommen werden. Der ehemals transzendente Ort der Macht bleibt in der Demokratie notwendig leer. Jede Form demokratischer Herrschaft ist selbst ein Teil der Gesellschaft und kann diese deshalb nicht in toto repräsentieren. Abseits von Rationalisierungstheorien, z.B. in funktionalistischen Theorien wie der Systemtheorie, gibt es trotzdem immer wieder Versuche der positiven Besetzung der von Lefort benannten Leerstelle. Jeder Versuch einer Füllung muss aber letztlich symbolisch verstanden werden, als eine Staatsfi ktion, die am politischen Imaginären und damit an den konstitutiven Verfahren von Aufdeckung und Verschleierung mitwirkt, die das ästhetische Regime des demokratischen Staates ebenso bestimmen wie das repräsentative Regime des feudal-absolutistischen Staates. 40 Diese Fiktion ist die Bühne, die erst den Raum für soziale Kommunikation bereitstellt und ein »gesellschaftliches Imaginäres« im Sprachgebrauch Cornelius Castoriadis ermöglicht. 41 Auch Jacques Rancière weist auf diesen Zusammenhang von Politik und Ästhetik hin: »Es hat daher im Zeitalter der Moderne keine ›Ästhetisierung‹ der Politik gegeben, denn diese ist ihrem Prinzip nach ästhetisch.«42 Für ihn führen Fragen nach der Bestimmung politischer Gemeinschaft unweigerlich zu einer Sphäre des Ästhetischen. Das Politische findet als konstitutiver Dissens statt, als Kampf um die Teilhabe an der Gemeinschaft, die sich aus der Sichtbarkeit ihrer Teilnehmer, also der Selbstdarstellung vor Öffentlichkeit und Publikum ergibt. Ein Aspekt des Politischen sind deshalb sichtlich die rhetorischen wie theatralen Elemente, in Gestalt moderner Symbolpolitik, aber auch grundsätzlicher als konstitutive Elemente von Körpermetaphern der Herrschaft. Im Changieren zwischen Techniken der Sichtbarmachung und Repräsentation sowie den Techniken der Simulation und Dissimulation kann das Politische des modernen Staates deshalb – mehr noch als das Repräsentationsregime des Absolutismus – auch als Theatermaschine verstanden werden. Rancière rückt mit den Konzepten von der »Aufteilung des Sinnlichen« und dem »Unvernehmen« über diese Theatralität gesellschaftlicher Repräsentation einerseits sowie über den »Wettstreit« oder »Konfl ikt« als Grundlage von Gesellschaft andererseits auch die Gesellschaft selbst in den Bereich des Imaginären und damit in die Verantwortung von Ästhetik und Narrativität. In der modernen Demokratie erfährt diese Fiktionalisierung als Medialisierung des Politischen dabei endgültig neue Dimensionen der Notwendigkeit. Die 39. Ebd., S. 294-295. 40. Jacques Rancière: Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und

ihre Paradoxien. Hg. v. Maria Muhle, Berlin 2006. 41. Cornelius Castoriadis: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie (1984), Frankfurt a.M. 19974. 42. Jacques Rancière: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a.M. 2002, S. 69.

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politischen Verfahren zwischen Spektakel und Abschattung, die im Absolutismus noch streng an die Repräsentation des Herrscherkörpers gebunden waren, müssen in der gesichts- und körperlosen Demokratie von dem System der Medien übernommen werden. Dabei macht Medialisierung nicht allein transparent oder eskamotiert Aspekte des Politischen, sondern verbirgt und offenbart zugleich, eröff net beispielsweise politische Themen (agenda setting), um andere im gleichen Zug in der Latenz zu belassen. Man könnte von einer kontinuierlichen Doppelbewegung des Manifestwerdens und Latentlassens durch die Medien sprechen. Die Dynamik zur Fiktionalisierung des staatlich Politischen lässt sich allerdings schon im Ursprung moderner Gesellschaften identifizieren. So gehört zum geläufigen Mythos beispielsweise der Gründungsgewalt eines Staates auch so etwas wie die Gründungsparanoia, eine Freund-Feind-Erzählung, die als paraonische Staatsfi ktion eine doppelte Exklusion vornimmt: nämlich nicht nur die der außen stehenden und andersartigen Feinde und Nachbarn, sondern auch eine Markierung der unsichtbaren Feinde im Inneren der Gemeinschaft. Joseph Vogls Bestimmung der modernen nationalen Gemeinschaft gilt deshalb für eine Ebene, die verborgen noch vor gesellschaftlicher Verhandlung und politischer Öffentlichkeit seit Beginn jeder Gemeinschaft existiert: »Denn in strengem Sinn unterliegen Volk und Nation einer paradoxalen Semantik. Sie bezeichnen den Aufstieg zu einem modernen, posttraditionalem und organisierten Gemeinwesen und fallen zugleich in das Dunkel […] verborgener Wurzeln […] zurück. […] Im Zuge einer ökonomischen und medialen Produktion ›großer Kreise‹ […], im Zeichen einer abstrakten Öffentlichkeit und einer gestaltlosen Nivellierung des sozialen Bandes, wuchern die Individuen selber ins Verborgene und suchen dort die Spuren einer echteren Zusammengehörigkeit. Sie verhandeln im Offenen, aber sie finden sich im Geheimen: Die in ›Volk‹ oder ›Nation‹ verklumpte Gemeinschaft ist nicht prämodern, sondern eines Modernisierungseffekt. Stets war das Nationale mit einer Rhetorik des Eingeweihten, des Unsagbaren und einer Politik des Geheimnisses verknüpft, die Urszene der Nation ist die Verschwörung.«43

Staatsfi ktionen als den entscheidenden Narrativen eines politischen Imaginären eignet letztlich exakt aufgrund ihrer Funktion als narrativer Lückenfüller für den abgedankten Herrscherkörper und seinem Bezug zur Transzendenz etwas Paranoisches. Dabei geht es nicht allein darum, dass eine Ursprungsgewalt – wie auch immer wirksam – verschleiert wird, sondern vor allem darum, dass die Gründung einer Gemeinschaft immer auch Exklusion bedeutet. Diese begründet den Verdacht, dass nicht nur Feinde der Gemeinschaft existieren, sondern dass diese verborgen innerhalb der Grenzen der eigenen Gemeinschaft existieren. 44 43. Joseph Vogl: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Gemeinschaften. Positionen einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 7-27, hier S. 27. 44. Man könnte diesen paranoischen Kern von Gemeinschaften mit Fredric Jameson auch das »politische Unbewusste« nennen, ganz im Sinne von Jamesons lite-

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4.3 Sub Rosa. Geheime Kommunikation um 1800 Eine Zäsur in der Geschichte der Verschwörungstheorie, die in weniger komplexen, aber wirkmächtigen Formen als Sündenbockskonfiguration schon im Mittelalter oder als Katholisierungsverdacht gegen die Jesuiten im 17. Jahrhundert formuliert wird, ist im 18. Jahrhundert auszumachen. Das »gesellige Jahrhundert« 45 zeichnet sich zum einen durch die Etablierung und verstärkte Verbreitung schriftlicher Kommunikation aus, brieflicher, literarischer und journalistischer. 46 Zum anderen gibt es eine Explosion Gemeinschaft stiftender Verbindungen. Es bilden sich Akademien, literarische Clubs und Salons, Sprach- und Lesegesellschaften, politische Vereinigungen und aufklärerisch gesinnte diskrete Gemeinschaften heraus, die eine neue und bürgerliche Öffentlichkeit fordern. 47 Ihre erklärten Ziele sind die Bildung, Verbesserung, rarischen Analysen, die eine ökonomisch historische Basis psychoanalytisch zutage zu bringen sucht, oder die Fortsetzung dieser Suchoptik im Modell des »geopolitical unconscious«, das Jameson allegorisch in den Verschwörungsfiktionen der 1970er und 1980er Jahre verortet. Für Jameson sind es im Sinne Jacques Lacans und Karl Marx’ die Literatur und der Film, die als Symbolisierungsakt das Reale der Geschichte, ihre gesellschaftlichen und ökonomischen Widersprüche, sichtbar werden lassen. Literatur und Film übernehmen für die Geschichte also die Rolle der Psychoanalyse, nämlich die Sichtbarmachung und Interpretation ihres »politischen Unbewussten«. Vgl. Fredric Jameson: Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns, Reinbek bei Hamburg 1988. 45. Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. Siehe auch Richard van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986 sowie Wilfried Barner u.a.: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. 6. Aufl ., München 1998, S. 63-77. 46. Vgl. Hans Erich Bödeker/Ulrich Herrmann (Hg.), Über den Prozess der Aufklärung in Deutschland im 18. Jahrhundert. Personen, Institutionen und Medien, Göttingen 1987; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Eine Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1996. Zur Wirkung der neuen Publizität auf das Gelehrtentum siehe Jürgen Fohrmann (Hg.), Gelehrte Kommunikation. Wissenschaft und Medium zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert, Wien, Köln, Weimar 2005. 47. Zum Konnex von Aufklärung und der Gründung arkaner Gesellschaften siehe Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart 1975; Peter Christian Ludz (Hg.), Geheime Gesellschaften, Heidelberg 1979; Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1984; Helmut Reinalter: Der Jakobinismus in Mitteleuropa. Eine Einführung, Stuttgart u.a. 1981; Ders. (Hg.), Aufklärung und Geheimgesellschaften. Zur politischen Funktion und Sozialstruktur der Freimaurerlogen im 18. Jahrhundert, München 1989; Ders. (Hg), Aufklärungsgesellschaften, Frankfurt a.M. u.a. 1993; Stefan-Ludwig Hoffmann: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840-1918, Göttingen 2000; Joachim Berger/Klaus-Jürgen Grün (Hg.), Geheime Gesellschaft. Weimar und die

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Rationalisierung und Vervollkommnung des Staates, der Welt und des Selbst. Das erklärte Feindbild ist der Absolutismus des Ancien Régime, die Herrschaft des Souveräns und der Fürsten mit ihren geheimen consilia, die gemäß der frühneuzeitlichen Klugheitslehren der Kälte auf die strikte Trennung von Politik und Moral setzen. 48 Im 18. Jahrhundert lassen sich mit der Gründung von Geheimbünden die geheimen Dimensionen des Politischen deshalb nicht mehr allein der Sphäre des Staates zuordnen, sondern müssen auch im Rahmen einer neuen bürgerlichen Arkanpolitik betrachtet werden. 49 Adolph Freiherr von Knigge, Aufklärer, Freimaurer und Triebkraft der Bayerischen Illuminaten, konstatiert 1788 in seinem berühmten Über den Umgang mit Menschen: »Unter die mancherlei schädlichen und unschädlichen Spielwerke, mit welchen sich unser philosophisches Jahrhundert beschäftigt, gehört auch die Menge geheimer Verbindungen und Orden verschiedener Art. Man wird heutzutage in allen Ständen wenig Menschen antreffen, die nicht von Wißbegierde, Tätigkeitstrieb, Geselligkeit oder Vorwitz geleitet, wenigstens eine Zeitlang Mitglieder einer solchen geheimen Verbrüderung gewesen wären.«50

Diese bürgerlichen Gemeinschaften begegnen in der Aufklärung dem eingehegten Raum des staatlich Politischen mit einem eigenen verdeckten Raum deutsche Freimaurerei. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Weimarer Klassik im Schiller-Museum Weimar 21. Juni bis 31. Dezember 2002, München/Wien 2002 sowie Monika Neugebauer-Wölk: »Arkanwelten im 18. Jahrhundert. Zur Struktur des Politischen im Kontext von Aufklärung und frühmoderner Staatlichkeit«, in: Aufklärung. Interdisziplinäres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 15 (2003), S. 7-65. 48. Vgl. Niccolo Machiavelli: Der Fürst, Stuttgart 1981; Baltasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1992. Für einen Überblick jenseits der Frühen Neuzeit siehe Helmut Lethen: Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a.M. 1994 sowie Akademie Schloss Solitude (Hg.), Klugheitslehre: milita contra malicia, Berlin 1995. 49. Diese Spiegelung oder Verschiebung des Geheimnisses vom Staat zum Bürgertum als entscheidendes Symptom eines Übergangs vom absolutistischen Ancien Régime zur aufgeklärten Demokratie ist der Ausgangspunk von Reinhart Kosellecks Studie Kritik und Krise. Die kategorischen Dichotomien »öffentlich/privat« und »öffentlich/geheim« werden aber sowohl in Jürgen Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit als auch bei Koselleck nicht immer als exklusiv betrachtet. Siehe dazu Niels Werber: »Technologien der Macht. System- und medientheoretische Überlegungen zu Schillers Dramatik«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 40 (1996), S. 210-243 und allgemein Lucian Hölscher: Öffentlichkeit und Geheimnis. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung zur Entstehung der Öffentlichkeit in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1979. 50. Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen (1788). Mit einem Nachwort, einer Zeittafel zu Knigge und bibliographischen Hinweisen von Kai Buchholz, München 2004, S. 395.

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politischer Gegenöffentlichkeit. Dort ist gleichberechtigte politische Kommunikation vor dem Staat theoretisch geschützt und kann damit im ›Spiel‹ – und damit auch als »Spielwerk« in der Diktion Knigges – erprobt werden. Der Verdacht bezüglich einer gegenstaatlichen Verschwörung dieser Gemeinschaften, sei es von staatlicher, kirchlicher oder bürgerlicher Seite, durchsetzt dann aber schnell den politischen Diskurs gegen Ende des 18. Jahrhunderts51 und sorgt für eine intensive Zirkulation des Verdachts, vor allem bezüglich der Praktik der Geheimhaltung als Schutzmaßnahme vor diesem Verdacht. Hinsichtlich dieser Verschiebung von Geheimnis und Verdacht im 18. Jahrhundert können vier entscheidende Aspekte ausgemacht werden: Das ist erstens der sowohl vom Staat (»Staatsparanoia«)52 als auch vom Bürgertum geäußerte Verdacht auf eine verdeckte staatsfeindliche Aktion. Besonders nach der Französischen Revolution findet dieser in zahlreichen Verschwörungstheorien seinen Ausdruck, der nachhaltige und globale Effekte bis heute zeitigt. Zweitens wird der Prozess der Aufklärung sowohl als Ringen um Aufmerksamkeit und Publizität als auch als geheime Netzwerkarbeit sichtbar. Geheime Kommunikation in Form von verschlüsselten Briefen, Namenskatalogen sowie geheimen Zeichen und esoterischen Ritualen sind dabei genau so wichtig wie die Veröffentlichungen in Zeitungen, Zeitschriften und Literatur.53 Drittens ist auff ällig, dass die Bildung geheimer Gesellschaften, gegründet als Gegenverschwörung zur Verschwörung des absolutistischen Staates gegen den Bürger und die Moral, neben einer Implementierung des Geheimnisses schnell zur Übernahme absolutistischer Maßnahmen politischen Kalküls führt. Mit dem Einzug des Geheimnisses innerhalb der Gesellschaften ist viertens auch eine Hinwendung zur absolutistischen Transzendenzbegründung von Souveränität festzustellen und zwar in der esoterischen Wende, die viele Logen vollziehen, indem sie geheime Obere konstatieren oder geheime Vororganisationen aus Antike und Mittelalter imaginieren.54 51. Und setzen damit zum einen den Verdacht gegen die Geheimpolitik des Staates und zum anderen gegen die Umtriebe der Gesellschaft Jesus, der Jesuiten, fort. Vgl. R. Klausnitzer: Poesie und Konspiration. 52. Vgl. E. Horn: Der geheime Krieg. 53. Vgl. Holger Zaunstöck/Markus Meumann (Hg.), Sozietäten, Netzwerke, Kommunikation. Neue Forschungen zur Vergesellschaftung im Jahrhundert der Aufklärung, Tübingen 2003. Zur Rolle des Pamphlets im Politisierungsschub des 18. Jahrhunderts siehe Olaf Mörke: »Pamphlet und Propaganda. Politische Kommunikation und technische Innovation in Westeuropa in der frühen Neuzeit«, in: Michael North (Hg.), Kommunikationsrevolutionen. Die neuen Medien des 16. und 19. Jahrhunderts, Köln, Weimar, Wien 1995, S. 15-32. 54. Slavoj Žižek sieht diesen Übertrag als internen Widerspruch exakt in der post-politischen Gegenwart wiederkehren: »Die Falschheit des elitistischen multikulturellen Liberalismus liegt in der Spannung zwischen Inhalt und Form begründet, die schon das erste große ideologische Projekt eines toleranten Universalismus – die Freimaurerei – gekennzeichnet hatte: Die Lehre der Freimaurerei (die allgemeine Bruderschaft aller Menschen, basierend auf dem Licht der Vernunft) gerät ganz offensichtlich in Konflikt mit ihrer Ausdrucks- und Organisationsform (eine Geheim-

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Historisch muss die gemeinsame Geschichte von geheimen Gesellschaften und Verschwörungstheorie, die im 18. Jahrhundert den krisenhaften Übergang vom Absolutismus zur Aufklärung markiert, deshalb als wechselseitig supplementäre Entwicklung von bürgerlicher Öffentlichkeit und Geheimnis betrachtet werden. Das Geheimnis ist also, so lässt sich schließen, das entscheidende Kriterium für die Träger der Aufklärung und damit für die Entstehung der bürgerlichen Öffentlichkeit. Was dem Staat oder beispielsweise auch der seit 1773 bis 1814 verbotenen Societas Jesu, dem Jesuitenorden,55 schon im 17. Jahrhundert vorgeworfen wird, wird deshalb schnell zu einem relevanten Bestandteil der bürgerlichen Geheimgesellschaften wie den Freimaurern oder den Bayerischen Illuminaten. Diese zeichnen sich durch strikte Hierarchien und die Herausbildung unsichtbarer Eliten aus, z.B. durch die Einführung von Gradsystemen mit geheimen Oberen oder Praktiken der wechselseitigen Überwachung und Infi ltration: »Das politische Geheimnis der Aufklärung sollte nicht nur nach außen verhüllt werden, sondern verbarg sich – infolge ihres scheinbar unpolitischen Ansatzes – den meisten Aufklärern selbst.«56 Schon Richard van Dülmen verweist gegen Jürgen Habermas auf den Punkt, dass »spezifisch bürgerliche Interessen« trotz der Versuche, herrschaftsfreie Räume zu errichten, bei dieser »Schaff ung einer neuen Elitekultur«57 keine primäre Rolle spielten. Angetrieben werden die Geheimgesellschaften überdies von dem aufklärungsphilosophischen Glauben an eine Teleologie des Fortschritts bzw., wie gesellschaft mit Initiationsritualen); aus diesem Grund ist es die Ausdrucks- und Artikulationsform der Freimaurerei selbst, die ihre eigene positive Lehre betrügt.« Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a.M. 2001, S. 303. Knigges Fazit seiner Geheimbundzeit lautet 1788 schon ganz ähnlich: »Allein diese geheimen Verbindungen sind auch schädlich für die Welt. Schädlich, weil alles, was im Verborgnen geschieht, mit Recht in Verdacht gezogen werden kann; […] weil sonst unter dem Schleier der Verborgenheit ebenso wohl gefährliche Pläne und schädliche Lehren als edle Absichten und weise Kenntnisse versteckt sein können; weil selbst nicht alle Mitglieder von solchen verderblichen Absichten, die man zuweilen hinter der schönsten Außenseite zu verhüllen pflegt […].« A. von Knigge: Über den Umgang mit Menschen, S. 397. 55. Den Forderungen aufgeklärt absolutistischer Herrscher verschiedener europäischer Staaten folgend, verbot Papst Clemens XIV. am 21. Juli 1773 den papsttreuen Orden. Verschwörungstheorien über die Macht der Jesuiten, z.B. als »Staat im Staate« in den südamerikanischen Kolonien oder über ihre Katholisierungsversuche, spielten dabei eine entscheidende Rolle. In Frankreich betrieb vor allem die Glaubensbewegung der Jansenisten eine verschwörungstheoretische Rhetorik, um die Jesuiten zu bekämpfen. So lancierten sie das Gerücht, Robert François Damiens, dessen Hinrichtung durch Michel Foucaults Eingangsszenerie in Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses noch einmal prominent ins Gedächtnis gerufen wird, habe das Attentat auf Louis XV 1751 im Auftrag der Jesuiten verübt. 56. R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 68. 57. R. van Dülmen: Die Gesellschaft der Aufklärer, S. 8.

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Reinhart Koselleck feststellt, von dem Glauben an die unsichtbare Macht von Geschichte und Geschichtsphilosophie: »Die Geschichtsphilosophie lieferte dem elitären Bewußtsein der Aufklärer seine Evidenz. Sie war die Macht, die die Illuminaten gehabt haben, und diese Macht hatten sie gemeinsam mit der ganzen Auf klärung. Sie war die Drohung, in ihr trat der Plan der Eroberung […] für die Angegriffenen deutlich ans Licht.«58 Mit dem spezifischen Imaginären einer Philosophie von der Geschichte und der Notwendigkeit von Kritik treten die Aufklärer also gegen die finsteren Mächte des absolutistischen Staates an. Dieser feste Glaube und vor allem die Verselbstständigung und Totalisierung des »Reich[s] der Kritik«59 als Position gegen den Staat gewinnt dabei eine Dynamik, die verschwörungstheoretisch Freund-Feind-Züge annimmt: »Das Bündnis der Raison mit dem bestehenden Staat war zerfallen. Die Politik der absolutistischen Staatenwelt wurde mehr und mehr zum gemeinsamen Gegenpol aller dualistischen Positionen.«60 Sich der Kritik zuzugesellen, so lässt sich folgern, bedeutet also, dem Staat einen geheimen Innenraum gegenüberzustellen, ein eigenes Politisches zu entwickeln. Dieses Politische ist allerdings mit dem Privaten verschränkt, in dem, gleichsam als theatrales Spiel, »politische Gleichheitsnormen einer künftigen Gesellschaft«61 eingeübt werden. Sind diese Gesellschaften, zum Teil schon im 17. Jahrhundert gegründet, deshalb zunächst noch auf literarische und kunstkritische Inhalte ausgerichtet, so erhalten sie aus dem Raum des Privaten gegen Ende des 18. Jahrhunderts und spätestens mit der Französischen Revolution einen Politisierungsschub, der das Private dabei notwendig zum politisch relevanten Aspekt des Geheimen erhebt. Tagespolitische, ökonomische und geschichtsphilosophische Themen werden zu den entscheidenden Aspekten der neuen geheimen wie öffentlichen Meinung. Literarische und künstlerisch ausgerichtete Zeitschriften werden zunehmend von Zeitschriften mit populären und politischen Inhalten ergänzt: »Während sich in England die öffentliche Meinung bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert durch die Presse etabliert hat und als Supplement zum Parlament funktioniert, übernehmen in Deutschland die Logen der Freimaurer eine ähnliche Funktion.«62 Zu den populärsten Geheimgesellschaften zählen die Freimaurer. 1717 werden in London die ersten Logen gegründet, die sich in den nächsten zwanzig Jahren auch in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Österreich ausbreiten.63 Auff ällig führt die Konstellation aufklärerischer R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 108. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962). Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, Frankfurt a.M. 1990, S. 14. 62. Peter Uwe Hohendahl (Hg.), Öffentlichkeit – Geschichte eines kritischen Berichts. Unter Mitarbeit von Russel A. Berman/Karen Kenkel/Arthur Strum, Stuttgart, Weimar 2000, S. 16. 63. 1723 erscheint mit James Andersons Konstitutionsbuch der Londoner Groß58. 59. 60. 61.

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Bemühungen der Logen zur nachhaltigen Etablierung einer bürgerlichen Öffentlichkeit einerseits und zu einer männerbündischen Struktur des Geheimnisses andererseits. Das Ergebnis dieser Doppelbewegung ist, dass nicht nur der Geheimbund selbst sich als neue »geistige[…] Elite der Aufklärung«64 versteht, sondern dass auch innerhalb der Loge eine Elitenstruktur installiert wird. So werden die Freimaurer beispielsweise schon früh mit einem Hochgradsystem belegt, das von der so genannten »Strikten Observanz« gesteuert wird, die wiederum den Ursprung der masonischen Logen in die Vergangenheit verlegen. Der Ursprung der Freimaurer wird damit in einer deutlich esoterischen Wende – parallel zu den Ursprungsmythen der gänzlich auf mystischen Lehren basierenden Rosen- oder Goldkreuzer65 – über die mittelalterlichen »Hütten« bis zu dem 1312 aufgelösten Orden der Tempelritter und letztlich in eine biblische oder mythische Antike zurückverlegt, um ihnen einen übergeschichtlichen Telos zu verleihen.66 Zeitgleich wird die utopische Vision der Freimaurer, einen herrschaftsfreien Raum und eine bürgerliche Gegenöffentlichkeit zu begründen, durch die wachsende Mitgliedschaft aus allen Schichten der Gesellschaft, inklusive Vertretern des Adels, unterwandert. Sieht Habermas in den geheimen und deswegen der öffentlichen Gewalt entzogenen Räumen noch die Vorbereitungen für eine künftige liberale Gesellschaft und demokratische Staatsform am Werk, so lässt sich aus dem notwendigen Supplement des Geheimnisses allerdings auch die Gegenrechnung aufmachen: nämlich interne Hierarchisierung und Elitebildung, geheime loge The Constitutions of the Free-Masons (1723) die erste von mehreren Programmschriften und ihrer Übersetzungen ins Deutsche. Als in Deutschland die erste Loge durch Jakob Friedrich Freiherr von Fritsch als Nachfolge der Jenaer Loge am 24. Oktober 1764. begründet wird, gibt es schon eine große Anzahl an Publikationen und Übersetzungen freimaurerischer Schriften. 64. R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 68. 65. »Die historische Relevanz des Ordens hat folgende Aspekte: 1. Der Orden trug zum Niedergang der durch eine enge Verbindung mit der Aufklärung charakterisierten Freimaurerei bei. 2. Die Gold- und Rosenkreuzer waren Symptom und Medium einer zunehmenden Verbreitung von Mystizismus, Wunderglauben, Geheimniskrämerei, kurz des Irrationalismus, im Zeitalter der Aufklärung.« Horst Möller: »Die Bruderschaft der Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft«, in: Helmut Reinalter (Hg.), Freimaurer und Geheimbünde im 18. Jahrhundert in Mitteleuropa. 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1993, S. 199-239, hier S. 199. 66. Siehe dazu das Auftauchen des berühmten Baumeisters und Freimaurers Erwin von Steinbach in Achim von Arnims Geheimbundroman Die Kronenwächter (1817), der den Helden von dem überzeitlichen Ziel der »Maurer« zu überzeugen sucht und ihn zum Beitritt bewegen möchte. Die Überzeitlichkeit des Projekts wird besonders dadurch deutlich, dass Steinbach zur Handlungszeit des Romans nicht mehr lebt, also als Gespenst auftritt. Vgl. Arno Meteling: »Lebende Tote und geheime Communitas. Zu Dichtung, Geschichte und Handlungsmacht in Achim von Arnims Roman Die Kronenwächter«, in: Ilka Becker/Michael Cuntz/Astrid Kusser (Hg.), Unmenge – Wie verteilt sich Handlungsmacht?, München 2008, S. 227-249.

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Kommunikation und Hinwendung zur Esoterik in einer Umbruchszeit der Gesellschaft. Neben den Freimaurern sind es vor allem die Bayerischen Illuminaten (1776-1785), die durch die Wahrung des Geheimnisses, hierarchische Strukturen und infi ltrierende Maßnahmen bekannt geworden sind. Die Illuminaten zeigen am deutlichsten eine »Dialektik der Aufklärung«, da sie das vorgeblich despotische System des 1773 verbotenen Jesuitenordens verurteilten, um wenig später selbst »jesuitisch-despotische« Methoden im Wortlaut des Gründers Adam Weishaupt einzusetzen. Koselleck fasst dazu zusammen: »Hinter dem Geheimnis formierte sich nicht nur eine vom Staate unabhängige Gewalt, sondern zugleich plante diese – das war das arcanum der oberen Grade – das moralische Herrschaftssystem, das innerhalb des Ordens bereits verwirklicht wurde, auch nach außen auszudehnen. […] Das politische Aktionsprogramm bestand in der indirekten, stillschweigenden Okkupation des Staates. Man suchte ›die fürstlichen Dikasterien und Räthe nach und nach mit den eifrigen Ordensmitgliedern‹ zu besetzen, d.h. den Staat von innen her zu absorbieren. […] Der Staat wird von dem moralischen Innenraum her gesteuert, und damit ist die Herrschaft der Freiheit gesichert. Der Orden hat dann ›von der Regierung nichts mehr zu fürchten, sondern solche ist vielmehr in seinen Händen‹.«67

Zu den Methoden der Illuminaten gehören die geheime Überwachung und die Infi ltrierung von öffentlichen Ämtern und Institutionen, aber auch die Unterwanderung anderer Geheimgesellschaften wie den Freimaurern. Was Koselleck deshalb am Untergang des absolutistischen Staates vermerkt, nämlich eine »Dialektik von Geheimnis und Aufklärung, von Entlarvung und Mystifi kation«,68 lässt sich an der bürgerlichen Öffentlichkeit selbst in der Tektonik der Geheimgesellschaften beobachten, die durch Dualismen von Politik und Moral sowie von Geheimnis und Aufklärung geprägt sind. Das »Private«, das »Etatistische« und die »Öffentlichkeit« lassen sich seitdem auf keiner gesellschaftlichen Ebene mehr voneinander trennen. Letztlich ist die Gesellschaft spätestens gegen Ende des 18. Jahrhunderts zwar von »Öffentlichkeit« durchsetzt, aber diese wird mit ihrem Entsteigen aus dem »privaten Innenraum« von einer Notwendigkeit des Geheimnisses supplementiert, das unmissverständlich ein Echo des Kalküls staatlicher Arkanpolitik zu sein scheint und damit vor- und gegenaufklärerische Momente des Politischen in die Bewegung der Auf klärung pflanzt und tradiert. Gegründet wurde der Orden der Bayerischen Illuminaten am 1. Mai 1776 von dem aufklärerisch und antijesuitisch gesinnten Adam Weishaupt (17481830), Professor für Kirchenrecht und praktische Philosophie, nachdem er in Ingolstadt einen Lehrstuhl an einer Universität übernommen hat, die zu weiten Teilen von Anhängern des Absolutismus und von Sympathisanten der Jesuiten dominiert wird.69 1780 erfährt der Orden einen take off, als Adolph 67. R. Koselleck: Kritik und Krise, S. 76. 68. Ebd., S. 29. 69. Ausführlich zu den Bayerischen Illuminaten ist Stephan Gregory: Eine so

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Freiherr von Knigge beitritt. Erst Knigge gibt den Illuminaten eine hierarchische Struktur, ein Gradsystem, das den Freimaurern entlehnt ist und führt die Geheimhaltung zwischen den Hierarchien ein sowie einiges an mystischer Ornamentik, wie Geheimnamen für die Mitglieder, Städte oder Regionen. Man könnte dabei von einer Krypto-Ästhetik des Geheimbündischen sprechen. Ziel des Ordens ist es, durch einen eigenen »Despotismus«, also eben durch die Mittel des politischen Gegners Macht und Einfluss zu erringen. Zentrales Instrument ist die Unterwanderung nicht nur bestimmter öffentlicher Institutionen, sondern auch der Logen der deutschen Freimaurer, die ihrerseits – unter anderem durch den Zusammenbruch des Hochgradsystems und damit der »Strikten Observanz« – in die Krise geraten sind. Auf dem Großen Freimaurer-Konvent vom 16. Juli bis zum 1. September 1782 in Wilhelmsbad konnten Knigge und andere Illuminaten viele Mitglieder gewinnen, und der Orden wuchs rasch an. Adlige wie Prinz Carl von Hessen, Ferdinand von Braunschweig und die Herzöge Ernst von Sachsen-Gotha und auch Carl August von Sachsen-Weimar sowie sein Geheimrat Goethe werden in den Orden gebracht.70 Nach einem Streit zwischen Weishaupt und Knigge wird 1784 ein allerdings ein neuer »Areopag«, eine neue Führung, installiert. Kurz darauf verbietet Kurfürst Karl Theodor von Bayern am 22. Juni 1784 alle geheimbündlerischen Aktivitäten, 1787 sogar bei Todesstrafe, und lässt auch Hausdurchsuchungen durchführen. 1785 löst sich der Orden deshalb auf, und Weishaupt flieht zunächst nach Regensburg und dann nach Gotha, wo er eine Stelle als Hofrat bei Herzog Ernst annimmt. Nach der Auflösung des Illuminatenordens beginnt verstärkt die Zirkulation der Verschwörungstheorien, die in der These gipfeln, die Französische Revolution sei das Ergebnis des gemeinsamen Wirkens der Jakobiner mit den Geheimgesellschaften.71 Parallel werden danach einerseits überall geheime künstliche Maschine. Wissen und Welt des Illuminatenordens. Dissertation, Weimar 2006. 70. Die Motive von Carl August und Goethe sind immer noch ein Streitpunkt in der Goethe-Wissenschaft. W. Daniel Wilson vertritt beispielsweise die vieldiskutierte These, »daß Goethe und sein Herzog nicht aus Engagement dem Illuminatenorden beitraten, sondern zum Zweck der Überwachung. Gegenstand der Untersuchung ist die Angst vor konspirativer Verschwörung, die man besonders nach dem Anfang der Französischen Revolution hinter jeder geheimen Organisation der Intelligenz witterte, im weiteren Sinne der Argwohn gegen Intellektuelle überhaupt. Die geheimgehaltene eigene illuminatische Mitgliedschaft war für Goethe nur ein weiterer Aspekt seiner gleichfalls geheimgehaltenen Teilnahme an jener Überwachung und Einschüchterung der Intelligenz. Beide Bereiche seines Lebens verschwieg er«. W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte, Stuttgart 1991, S. 13. Sie auch Ders.: Das GoetheTabu. Protest und Menschenrechte im klassischen Weimar, München 1999; Ders.: Unterirdische Gänge. Goethe, Freimaurerei und Politik, Göttingen 1999 sowie als Entgegnung Walter Müller-Seidel/Wolfgang Riedel (Hg.), Die Weimarer Klassik und ihre Geheimbünde, Würzburg 2003. 71. Einschlägig dazu Johannes Rogalla von Bieberstein: Die These von der Ver-

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Gesellschaften verboten, während andererseits die Faszination an Geheimnis und Verschwörung wächst und sich ein großer Markt für Geheimbundliteratur herausbildet.72 Zu den ersten systematischen und wirkmächtigsten Verschwörungstheorien zählen die Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme (1797/98)73 des Jesuitenpaters Abbé Augustin Barruel und John Robisons Proofs of a Conspiracy (1797),74 die kurz nach der Französischen Revolution besagen, dass diese nur durch eine Verschwörung der »Sekte« der Jakobiner mit den Aufklärungsphilosophen sowie den Freimaurern und Illuminaten ausgebrochen sein kann. Denn Maßstab und Effekt der Französischen Revolution waren so gewaltig, dass die Verschwörungstheoretiker sich nicht vorstellen konnten, dass sie ohne eine Zentrallenkung hatte stattfinden können, so dass dies die Initiation zur Niederschrift der ersten systematischen Verschwörungstheorien mit globaler Reichweite wurde. Unabhängig voneinander synthetisieren Barruel wie Robison schon verschiedene Theorien, die kurz nach der Französischen Revolution zirkulieren. Barruel, der emphatisch von der »Wichtigkeit und Nothwendigkeit der Enthüllung der verborgenen Verschwörungen überzeugt«75 ist, gibt dabei das verschwörungstheoretische Paradigma, das bis heute herrscht, programmatisch schon in der »Vorrede« an: »In der französischen Revolution […] ist Alles, bis auf ihre entsetzlichsten Verbrechen vorhergesehen, überlegt, kombinirt, beschlossen, vorgeschrieben worden; Alles war die Wirkung der tiefsten Verruchtheit, weil alles von Männern vorbereitet und eingeleitet war, die allein den Faden der Verschwörung hielten, der seit langer Zeit in geheimen Gesellschaften gesponnen worden, und welche die günstigsten Augenblicke zu den Komplotten zu wählen und zu beschleunigen gewußt haben. Sollten gleich unter den Begebenheiten des Tages einige Umstände mit vorkommen, die minder das Werk der Verschwörungen zu seyn scheinen, so gab es deswegen doch schwörung 1776-1945. Philosophen, Freimaurer, Juden, Liberale und Sozialisten als Verschwörer gegen die Sozialordnung, Frankfurt a.M. 1976. 72. Zu der Textwerdung des Illuminatenordens nach seiner Auflösung, dessen Macht nunmehr verschwörungstheoretisch in allen möglichen Schriften vermutet wird und dadurch omnipräsent geworden ist siehe S. Gregory: Eine so künstliche Maschine, S. 460-478. 73. Abbé Barruel: Mémoires pour servir á l’histoire du Jacobinisme, London 1797/98. Die vier Bände legen dar, dass nur durch eine Verschwörung der Aufklärungsphilosophen und der Freimaurer mit den Jakobinern und den Illuminaten die Französische Revolution entstanden sein kann. Eine deutschsprachige Fassung erscheint 1800 bis 1804: Abbé Barruel: Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus. Nach der in London 1797 erschienenen französischen Ausgabe ins Teutsche übersetzt von einer Gesellschaft verschiedener Gelehrten, Münster/Leipzig 18001804. Siehe auch Sylva Schaeper-Wimmer: Augustin Barruel, S. J. (1741-1820). Studien zu Biographie und Werk, Frankfurt a.M. 1985. 74. John Robison: Proofs of a Conspiracy against all the Religions and Governments of Europe, Carried on in the Secret Meetings of Free Masons, Illuminati, and Reading Societies (1797), New York 1798. 75. Abbé Barruel: Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Jakobinismus, S. 3.

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eine Ursache, und geheime Agenten, welche diese Begebenheiten herbeiriefen, diese Umstände zu benutzen, oder sie entstehen zu lassen wußten, und sie sämmtlich dem Hauptzweck anpaßten. Diese Umstände haben wohl zum Vorwand und zur Gelegenheit dienen können; aber die große Ursache der Revolution, ihrer großen Greuel, und ihrer großen Schandthaten, war immer unabhängig davon. Diese große Ursache ist einzig in den seit langer Zeit geschmiedeten Komplotten zu suchen.«76

Barruels Werke werden europaweit gelesen, und ausgerechnet die Bayerischen Illuminaten, die Barruel im Gegensatz zu den Freimaurern wohl nie selbst getroffen hat, werden zu einem der Hauptverursacher der Verschwörung bestimmt, eine Entscheidung, die globale Verschwörungstheorien bis heute prägt. Denn dass die Illuminaten heute noch bekannt sind, hat nichts mit der relativ kurzen Existenz des Ordens zu tun, sondern eher mit seiner Auflösung und der spezifischen Dynamik verschwörungstheoretischer Imagination. Denn in den verschwörungstheoretischen Texten ist die Macht der Illuminaten grenzenlos, gerade weil der Geheimbund nicht mehr existiert. Er bietet den verschiedensten Theorien eine Projektionsfläche der Imagination, die keine existente Verschwörung jemals haben könnte. Der Orden, so die konspirationistische Logik, muss in den Untergrund gegangen sein, um überhaupt die Dimensionen der Steuerungsmacht zu erreichen, die ihm in der Moderne dann zugeschrieben werden. Dass die Infi ltration zu den prominenten Methoden der Illuminaten geworden ist, unterstützt diesen Verdacht dabei nicht unerheblich. Während die Verschwörungstheorien zur Französischen Revolution auf dem Stand von Barruel oder Robison allerdings noch ein gemeinsames Wirken der Jakobiner mit den Aufklärungsphilosophen, Freimaurern und Illuminaten inszeniert, breitet sich im 19. und 20. Jahrhundert das Imaginäre eines chthonischen Netzwerks der Illuminaten schon über die ganze Welt aus, mit einem deutlichen Akzent auf den USA, deren Gründung zum Teil der Theorie wird. Das Netzwerk der geheimen Machtgruppen wird dabei kontinuierlich komplexer gezeichnet und legt schon im 19. Jahrhundert die antigeheimgesellschaftliche Verschwörungstheorie mit der antisemitischen zusammen, um im 20. Jahrhundert zu dem heute noch vor allem in arabischen Ländern und rechtsnationalen Gruppierungen wirksamen Phantasma einer »jüdisch-illuminatischen Weltverschwörung« zu werden.

4.4 Kunst und Kabale. Das Fiktionale der Verschwörung Es sind vor allem die Arbeiten von Nesta H. Webster, die das Phantasma einer antigeheimgesellschaftlichen wie antisemitischen Verschwörung für die Moderne zu einem weltumspannenden Generalverdacht entwickeln. Das Frontispiz von Secret Societies and Subversive Movements (1924) zeigt beispielsweise das Porträt von Adam Weishaupt und gibt damit den Hauptverdächtigen einer Zentrallenkung der Welt durch eine »jüdisch-illuminatische Weltverschwö76. Ebd., S. 6-7.

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rung« vor.77 Für die Zusammenführung verschiedenster Verschwörungen erschaff t Webster dabei ein Modell globaler Konnektivität, das keine Verschwörung auslässt: »Lenin«, ist beispielsweise, »then, […] neither a demagogue nor a superman but the agent of the great German-Jewish company that hopes to rule the world«78. Zentrum oder geheime Krypta des Netzwerks sind aber stets die Illuminaten. Sie sind es aus genau dem Grund, weil sie, anders als Sozialisten, Deutsche, Juden oder Freimaurer, nicht mehr existieren. Ihre programmatische Existenz in Unsichtbarkeit ist also, seitdem sie sich aufgelöst haben, perfekt: »Now it will be remembered that the precept most emphasized by Weishaupt was that the Illuminate should not be known as such, and after their suppression in Bavaria every effort was made by the conspirators to persuade the world that their Order had ceased to exist. […] This device has always been exactly carried out; Freemasonry, Carbonarism, Socialism, the Internationale, have all in turn served as covers to the designs of the conspiracy, and the same method is being followed to-day. Every effort is made to persuade the public that no conspiracy exists, for once ist existence is generally recognized ist defeat is certain. Ist whole success depends on secrecy.«79

Ein bekanntes Beispiel für die Wirksamkeit, Geheimbünde als Schuldige mit einem Phantasma vom »internationalen Judentum« zu koppeln, ist die so genannte »Dolchstoßlegende«. Dieser Verdacht besagt, dass die im Krieg unbesiegte deutsche Armee nach dem Ersten Weltkrieg nur durch eine konzertierte Aktion von Juden und Sozialisten in der Heimat hinterrücks entscheidend geschwächt worden sein kann. Die Schuld an der Niederlage des Heeres wird dabei also in einer einfachen Verschiebung Teilen der Zivilbevölkerung überantwortet, während als Seiteneffekt antisemitische Imaginationen von einer internationalen Kooperation von Juden zirkulieren.80 Einer der zentralen Texte für eine antisemitisch ausgerichtete Weltverschwörungstheorie, die sich auf ein »Weltjudentum« bezieht, das die Weltherrschaft anstrebt und zwar, wie sie dann vom Nationalsozialismus aufgenommen wurde, durch das Phantasma von der »jüdischen Zange« von Kapitalismus und Kommunismus, sind die Protokolle der Weisen von Zion.81 Die 77. Vgl. Nesta H. Webster: The French Revolution. A Study in Democracy (1919). 3. Aufl., New York 1922; Dies.: World Revolution. The Plot against Civilization, London 1921 sowie Dies.: Secret Societies and Subversive Movements, London 1924. 78. N. H. Webster: World Revolution, S. 311. 79. Ebd., S. 317-318. Adam Weishaupts Programm wird von Webster nach John Robisons Verschwörungstheorie Proofs of a Conspiracy zitiert: »The great strength of our Order lies in ist concealment; let it never appear in any place in ist own name, but always covered by another name, and another occupation.« Zitiert nach ebd., S. 317. 80. Vgl. Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im ersten Weltkrieg 1914-1933, Düsseldorf 2003. 81. Siehe zur Geschichte der Protokolle Norman Cohn: »Die Protokolle der Wei-

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Protokolle, eine russische Fälschung aus dem Jahr 1903, haben dabei im Wesentlichen literarische Quellen und sind das paradigmatische Beispiel nicht allein für die Geschichte von Fälschungen, sondern auch für die Montage und Zirkulation referenzieller wie literarischer Texte überhaupt, die – historisch veränderlich mehr oder weniger im Untergrund – politische Überzeugungen schaffen. Geformt wurden die Protokolle aus Auszügen des satirischen Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu (1864) von Maurice Joly, einer Kritik an Napoleon III., die wiederum Elemente des populären Romans Le Mystère du Peuple (1856) von Eugène Sue übernommen hat, sowie aus Teilen von Biarritz (1868), eines Romans von Hermann Goedsche (als Sir John Retcliffe), der wiederum Motive von Joly aufgreift und das Kapitel »Auf dem Judenfriedhof in Prag« enthält, das von einem konspirativen Treffen von Vertretern der »zwölf Stämme Israels« berichtet. Dieses Kapitel wird dann in der Folgezeit selbstständig als Die Geheimnisse des Judenfriedhofs in Prag veröffentlicht und, nach Abzug des schauerromantischen Friedhof-Settings, zur direkten Folie einiger Zeitungsartikel sowie der Protokolle. Angeblich enthalten diese Reden, die während eines geheimen Treffens von »zwölf Weisen« als Vertretern der Stämme Israels auf einem Baseler Zionistenkongress 1897 aufgeschrieben wurden. Erläutert werden in den 24 Protokollen dabei praktische Mittel, die Weltherrschaft zu übernehmen. Zu den Maßnahmen gehören beispielsweise die Förderung von Liberalismus, Kapitalismus, Demokratie, die Unterwanderung der Presse, die Anstiftung von Wirtschaftskrisen, Kriegen und Revolutionen oder auch der Bau von U-Bahnen unter London und Paris, um die Städte bei Bedarf sprengen zu können. Bis heute zirkulieren die Protkolle weltweit und wirkmächtig vor allem in neo-nationalsozialistischen Kreisen und bei muslimischen Fundamentalisten.82 sen von Zion«. Der Mythos von der jüdischen Weltverschwörung. Mit einer kommentierten Bibliographie von Michael Hagemeister (1967), Baden-Baden, Zürich 1998; Michael Hagemeister: »Die ›Protokolle der Weisen von Zion‹ und der Basler Zionistenkongress von 1897«, in: Heiko Haumann (Hg.), Der Traum von Israel. Die Ursprünge des modernen Zionismus, Weinheim 1998, S. 250-273; Ders.: »Der Mythos der ›Protokolle der Weisen von Zion‹«, in: Ute Caumanns/Mathias Niendorf (Hg.), Verschwörungstheorien: Anthropologische Konstanten – historische Varianten, Osnabrück 2001, S. 89-101; Hannes Stein: »Hoch die Weisen von Zion!«, in: Kursbuch 124. Verschwörungstheorien (Juni 1996), S. 35-47; Umberto Eco: »Fiktive Protokolle«, in: Ders.: Im Wald der Fiktionen. Sechs Streifzüge durch die Literatur, München 1996, S. 155-184; Ders.: »Die Kraft des Falschen«, in: Ders.: Die Bücher und das Paradies. Über Literatur, München 2003, S. 275-305; Will Eisner: The Plot. The Secret Story of The Protocols of the Elders of Zion, New York, London 2005 sowie allgemein Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: »Elemente des Antisemitismus. Grenzen der Aufklärung«, in: Dies.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1994, S. 177-217. 82. Zum Einfluss dieser Fälschung auf die verschwörungstheoretische Grundlage des Nationalsozialismus siehe Adolf Hitler: »Solange der Jude nicht der Herr der anderen Völker geworden ist, muss er wohl oder übel deren Sprachen sprechen, sobald diese jedoch seine Knechte wären, hätten sie alle eine Universalsprache (z.B.

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Die Entstehungs- und Erfolgsgeschichte der Protokolle zeigt vor allem, dass zu einer komplizierten Dialektik von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit sowie Privatheit, Geheimnis und Öffentlichkeit in der Geschichte der Verschwörungstheorie auch der Entzug einer eindeutigen Differenzierung zwischen dem Referenziellen und dem Imaginären gehört. Zur Figuration der Illuminaten im verschwörungstheoretischen Imaginären gehört es beispielsweise, dass sie global sichtbar und ihre Spuren leicht zu deuten sind. Überall hinterlassen sie geheime Zeichen und verwandeln die Welt in einen codierten Text, der geheime Botschaften an Eingeweihte sendet. Zu den berühmtesten KryptoBotschaften gehört beispielsweise, dass das Konterfei auf der amerikanischen Eindollarnote nicht das von George Washington, sondern von Adam Weishaupt ist, und dass auf der Rückseite der Note nicht nur das angebliche Motto des »jüdisch-illuminatischen« Plans einer new world order zu lesen ist – »novus ordo saec(u)lorum« –, sondern auch das Siegel der Illuminaten, das zum great seal der USA geworden ist. Dies ist das allsehende Auge in einer dreizehnstufigen Pyramide, das sich verschwörungstheoretisch selbstverständlich auf die globale Überwachung der Menschheit durch den Geheimbund bezieht und beispielsweise auf Überwachungstechniken wie Satellitenüberwachung, Closed Circuit-TV an allen öffentlichen Plätzen und das globale E-Mail-Durchforstungssystem Echelon vorausweist. Auch die Jahresangabe 1776 auf dem Fundament der Pyramide bezieht sich in der Suchoptik der Verschwörungstheoretiker nicht auf das Gründungsjahr der Vereinigten Staaten, sondern auf das der Bayerischen Illuminaten. Für den Verschwörungstheoretiker wird die Welt also präzise den Definitionen der Paranoia gemäß zu einem semiotischen Paradigma, dessen geheime, aber sichtbare und leicht zu deutenden Botschaften paradoxerweise von einer Weltherrschaft unsichtbarer Mächte zeugen, die geheim bleiben wollen.83 Esperanto!) zu lernen, so dass auch durch dieses Mittel das Judentum sie leichter beherrschen könnte! Wie sehr das ganze Dasein dieses Volkes auf einer fortlaufenden Lüge beruht, wird in unvergleichlicher Art in den von den Juden so unendlich gehassten ›Protokollen der Weisen von Zion‹ gezeigt. Sie sollen auf einer Fälschung beruhen, stöhnt immer wieder die ›Frankfurter Zeitung‹ in die Welt hinaus; der beste Beweis dafür, dass sie echt sind. Was viele Juden unbewusst tun mögen, ist hier bewusst klargelegt. Darauf aber kommt es an. Es ist ganz gleich, aus wessen Judenkopf diese Enthüllungen stammen, maßgebend aber ist, dass sie mit geradezu grauenerregender Sicherheit das Wesen und die Tätigkeit des Judenvolkes aufdecken und in ihren inneren Zusammenhängen sowie den letzten Schlusszielen darlegen. Die beste Kritik an ihnen jedoch bildet die Wirklichkeit. Wer die geschichtliche Entwicklung der letzten hundert Jahre von den Gesichtspunkten dieses Buches aus überprüft, dem wird auch das Geschrei der jüdischen Presse sofort verständlich werden. Denn wenn dieses Buch erst einmal Gemeingut des Volkes geworden sein wird, darf die jüdische Gefahr auch schon als gebrochen gelten.« Adolf Hitler: Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe. Erster Band: Eine Abrechnung. 172.-173. Aufl ., München 1936, S. 337. 83. Eine bekannte literarische Ausarbeitung einer subtilen Weltherrschaft, die über Zeichen und Schrift, funktioniert, ist Jorge Luis Borges Erzählung Tlön, Uqbar,

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Diese Semiotisierung der Welt in der modernen Verschwörungstheorie führt in der Gegenwart nicht nur zu einer Popularisierung und damit Normalisierung verschwörungstheoretischer Mytheme, sondern auch zu ihrer neuen Kategorisierung als ästhetisches Material für Literatur, Film und Fernsehen. Während im 18. Jahrhundert die Literatur zum einen auf die Referenz existierender Geheimbünde verweist und zum anderen auf das Geheimnis und damit auf die schauerromantischen Konnotationen und das Rätselbegehren des Lesers abstellt,84 werden vor allem in der postmodernen Literatur Verschwörungstheorien selbst zu Topoi und die Netzwerkstrukturen von Verschwörungstheorien zu narrativen Strukturen des Textes. Stephan Gregory spricht hinsichtlich dieser Literatur von »Meta-Paranoia«85. Diese Poetik der Paranoia zweiter Ordnung funktioniert unter anderem deshalb, weil die Texte auf den Blick des Verschwörungstheoretikers umstellen, also überall bedeutsame Zeichen, Spuren und Indizien streuen und den Text semiotisch dadurch aufladen und interessant machen. Die Texte setzen auf Verschwörungstheorie als Effekt der »rasenden Vernunft« einer »falsch dichtenden Einbildungskraft«,86 die paranoisch alle Zeichen miteinander in Verbindung zu bringen sucht. Diese Zeichen sind zum Teil außerliterarische Referenzen, speziell Allusionen auf historische Ereignisse und Figuren aus der Kulturgeschichte der Verschwörungstheorie, führen zum Teil aber auch ins Leere und verweisen selbstreferenziell allein auf die Konstruktivität der zugrunde liegende Verschwörungstheorie und damit auch des literarischen Textes. Letztlich entsteht in dieser Literatur ein synkretistisch zusammengebasteltes Universum der Allkonnektivität und der Allbedeutung, ein Imaginäres des konstanten Verdachts. Alles wird dabei als »Spiel« offenbar, wie Umberto Eco feststellt, und spiegelt gerade deswegen noch das PhanOrbis Tertius (1940), in der sich allegorisch ein ganzes Realitätssystem mit dem Mittel des wachsenden Einflusses von enzyklopädischem Wissen über ein anderes legt. 84. Zur Geheimbundliteratur im 18. und 19. Jahrhundert siehe Michael Voges: Aufklärung und Geheimnis. Untersuchungen zur Vermittlung von Literatur- und Sozialgeschichte am Beispiel der Aneignung des Geheimbundmaterials im Roman des späten 18. Jahrhunderts, Tübingen 1987; Hans-Jürgen Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten, Tübingen 1996; Linda Simonis: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert, Heidelberg 2002; R. Klausnitzer: Poesie und Konspiration sowie Torsten Hahn: Das schwarze Unternehmen. Zur Funktion der Verschwörung bei Friedrich Schiller und Heinrich von Kleist, Heidelberg 2008. Zur Funktion der Turmgesellschaft in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre siehe Rosemarie Haas: Die Turmgesellschaft in »Wilhelm Meisters Lehrjahren«. Zur Geschichte des Geheimbundromans und der Romantheorie im 18. Jahrhundert, Bern, Frankfurt a.M. 1975 sowie Franziska Schößler: Goethes Lehr- und Wanderjahre: Eine Kulturgeschichte der Moderne, Tübingen, Basel 2002, S. 132-185. 85. S. Gregory: Eine so künstliche Maschine, S. 501. 86. Vgl. Immanuel Kant: »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«, in: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik. 2. Werkausgabe XII. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1977, S. 533-536.

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tasma vom herrschaftsfreien Diskurs des Möglichen und der Imagination vom Politischen, den die Geheimgesellschaften des 18. Jahrhunderts einst gesucht haben: »Es ist leicht zu verstehen, warum uns die narrative Fiktion so fasziniert. Sie bietet uns die Möglichkeit, unbegrenzt jene Fähigkeit auszuüben, die wir sowohl zur Wahrnehmung der Außenwelt wie zur Rekonstruktion der Vergangenheit brauchen. Die Fiktion hat die gleiche Funktion wie das Spiel. Durch die narrative Fiktion üben wir Erwachsene unsere Fähigkeit, in die Erfahrung der Gegenwart wie der Vergangenheit eine Ordnung zu bringen. Doch wenn die erzählerische Aktivität so eng mit unserem Alltagsleben verbunden ist, könnte es dann nicht auch vorkommen, daß wir das Leben als Fiktion interpretieren und beim Interpretieren der Realität fiktive Elemente in sie einführen?«87

Gegen Ecos sich eher an den Möglichkeitssinn von Lesern richtende Bemerkung entwirft Eva Horn in ihrer Studie Der geheime Krieg hingegen, vergleichbar der Perspektive Fredric Jamesons auf das »politische Unbewusste« der Literatur, eine starke Position des Literarischen als Mitaufklärer über die Geheimnisse des Politischen, die mitunter exklusiv über nicht verständigte Geheimnisse Klarheit verschaff t: »Fiktionen [werfen, A.M.] Licht auf jene fundamentale Paradoxie des politischen Geheimnisses in der Moderne: der Konflikt zwischen einem politischen Ideal der Transparenz und demokratischen Kontrolle auf der einen Seite, dem notwendigen oder jedenfalls unvermeidlichen Einsatz von Geheimhaltung, geheimen Eingriffen und heimlichen Überwachungsmaßnahmen auf der anderen Seite.«88 Entgegen Horns emphatischer Akzentuierung einer einzigartigen Offenbarungsfunktion von Literatur hinsichtlich geheimer Dimensionen des Politischen lässt sich allerdings ergänzen, dass schon die Geheimbundliteratur der Spätaufklärung vor allem auf die schauerromantischen Effekte von Geheimnissen und Verschwörungen setzt, und in den modernen und postmodernen Verschwörungsfi ktionen zwar das detektivische Indizienparadigma hinzukommt, das den Leser oder Zuschauer zum faszinierten Rätseln und Mitdenken einlädt, aber dass es sich bei den thematisierten Verschwörungstheorien zumeist um allegorisch entleerte Formulare handelt, um ein Gefühl des spielerisch erhabenen, weil harmlosen »umstellt sein« von dunklen Mächten. Rhetorisch wie narrativ kann man allerdings, und hierin lässt sich Horns These von einer Verwischung der Differenz zwischen Verschwörungstheorie und Verschwörungsfiktion89 an Textvergleichen gut überprüfen, eine Poetik 87. U. Eco: Fiktive Protokolle, S. 173-174. 88. E. Horn: Der geheime Krieg, S. 505-506. 89. »Dabei setzt sich der Diskurs der Aufdeckung über die vielbeschworene

Differenz von ›Fiktion‹ und ›wirklichem Geschehen‹ hinweg. Die Unterscheidbarkeit von Erdichtetem und Wirklichem, die in den Gattungstheorien etwas des politischen Thrillers oder des Spionageromans immer wieder beschworen wird, um sie alsdann für überwunden zu erklären, macht in der Logik des secretum keinen Sinn. Der sogenannte investigative Journalismus, nicht minder investigative Agenten-Filme oder

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ausmachen, die in beiden Diskursen an den denselben Motiven, Ikonographien und Isotopien partizipiert. Auch die literarische Kombinatorik, die eine Verschwörung als Szenario simuliert und dabei verschiedene und meist möglichst interessante Möglichkeiten und Varianten durchspielt, kann spätestens mit den allinkludierenden und konnektivistischen Schriften Websters für die Verschwörungstheorie gelten. Das Szenario von Sydney Pollacks Film Three Days of the Condor (1975), in dem der Held hinter der Fassade der American Literary Historical Society für die CIA hauptberuflich Kriminalromane und Spionagethriller liest, um möglichst viele Szenarien des Verbrechens und geopolitischer Machtverschiebungen zu erfassen, mag nicht realistisch für tatsächliche politische Entscheidungsverläufe sein. Dass aber verschiedenste Simulationen von Spionage, Krieg, Intrige und Verschwörung beispielsweise vom Militär oder von Nachrichten- und Geheimdiensten durchgeführt werden, lässt sich wohl nicht bestreiten. Allein der Stellenwert von Fiktion und Spiel in diesen Szenarien bleibt dabei fraglich.90 Der modernen Verschwörungsliteratur geht es aber um die Faszinationsrhetorik eines geheimen Wissens, das sich in der Interpretation von Spuren erschließt. Es ist deshalb nicht zufällig, dass es einerseits vor allem Genreerzählungen, politische Thriller und Spionageromane sind, die von Spionage und Gegenspionage, von unsichtbaren Kriegen und geheimen Netzwerken erzählen91 und andererseits -romane, aber auch Autobiographien von Ex-Agenten oder Verrätern und schließlich historiographische Rekonstruktionen von Geheimdienstaffären oder Verschwörungsszenarien sind gleichermaßen Teil eines gemeinsamen Diskurses, der im Bann des politischen Geheimnisses steht […].« Ebd., S. 122-123. 90. Auf den Spielcharakter der Verschwörung verweist auch der Schlussdialog des Films Three Days of the Condor: »Condor: ›Do we have plans to invade the Middle East?‹ Higgins. ›No, absolutely not. We have games, that’s all. We play games. What if? How many men? What would it take? Is there a cheaper way to destabilize a regime? That’s what we’re paid to do.‹« Zum Film siehe Ute Holl: »Türen, Lektüren und das Wissen des Films. Zur Verschwörung der Medien in Sidney Pollacks THREE DAYS OF THE CONDOR (1975)«, in: Marcus Krause/Arno Meteling/Markus Stauff (Hg.), The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung, München 2009. 91. Parallel zu einer sich vor allem in den USA ausbreitenden Weltverschwörungstheorie in den 1960er und 1970er Jahren wachsen unter den Bedingungen des Kalten Krieges und seiner propagandistischen Effekte auch Misstrauen und Verdacht gegenüber der eigenen Regierung. Wer der Feind ist und wo er lauert, wird weniger und weniger deutlich. Der Vietnamkrieg, die Unruhen um das Civil Rights Movement, der Watergate-Skandal und Attentate auf Martin Luther King, Malcolm X, John F. und Robert Kennedy heizen Verschwörungstheorien gegen den eigenen Staat an. In dieser Zeit verändert sich auf markante Weise beispielsweise auch der Tenor des amerikanischen Spielfilms um Geheimnisse und Spionage. Im Verschwörungsfilm der 1970er Jahre geht es nicht mehr primär um die immer schwieriger zu bewältigende Markierung von Freund und Feind, von Kommunist und Nichtkommunist oder um die Ikonographie von Agenten und Doppelagenten. Die Protagonisten sind keine integren Repräsentanten ihrer Nachrichtenorganisationen oder Staaten mehr, sondern es sind isolierte Figuren, die nicht wissen, von welcher Seite sie bedroht und ausge-

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die so genannte »postmoderne« Literatur,92 die das Verschwörungssujet meta-paranoisch aufgreift und dies nicht inhaltlich im Sinne eines politischen Kommentars oder historischer Analyse, sondern als epistemologischer Anstoß durch die eigene komplexe und häufig labyrinthartige Struktur. Die späht werden und die deswegen alle Seiten verdächtigen und verdächtigen müssen. Der paranoide Vorsprung des Wissens um die entscheidende Information wird dabei zum lebenswichtigen Maßstab für die Protagonisten. Spionage und Verschwörung sind zwar keine neuen Themen, aber in Filmen wie Francis Ford Coppolas The Conversation (1974), Sydney Pollacks Three Days of the Condor (1975) und Alan J. Pakulas The Parallax View (1974) sowie All the President’s Men (1976), die mit ihrem Vorläufer John Frankenheimers The Manchurian Candidate (1962) und mit Nachzüglern wie David Cronenbergs Videodrome (1982) oder Sam Peckinpahs The Osterman Weekend (1983) so etwas wie ein eigenes neues Genre formieren, werden sie erstens zu persönlichen und existenziellen Techniken des Überlebens und zweitens auch zusehends abhängig von den Medien der Beobachtung. Vgl. Arno Meteling: »Das Argus-Prinzip. Beobachtung und mediale Latenz im amerikanischen Verschwörungsfilm«, in: Plurale. Zeitschrift für Denkversionen 6 (2006), S. 97-117. 92. Die bekanntesten Beispiele dafür sind sicherlich Thomas Pynchons Romane V. (1963), The Crying of Lot 49 (1966) und Gravity’s Rainbow (1973) sowie Don De Lillos Romane Running Dog (1978), The Names (1982), White Noise (1985), Libra (1988), Mao II (1991) und Underworld (1997). Umberto Ecos Roman Il pendolo di Foucault (1988) unternimmt eine Analyse der Poetik von Weltverschwörungen und lässt das Konstrukt der Helden des Romans in einer phantastischen Wendung zum Schluss auch Gestalt gewinnen. Ein Sonderfall in der postmodernen und meta-paranoischen Literatur nimmt Robert Sheas und Robert Anton Wilsons Illuminatus!-Trilogie (1975) ein. Die Bände, ihre Fortsetzungen und Spin Offs verweisen einerseits auf die Faszination von Rätselhaftigkeit und dem erhaben Schaurigen von Verschwörungstheorien, um dies im selben Zug mittels einer Poetik der Cut up-Montage, Intertextualität, der konstanten Signifikations- und Sinnverschiebung sowie der Ironisierung parodistisch und relativierend zu rahmen. In den Bänden geht es dabei allein noch um den haltlosen Schwindel einer kontinuierlichen Ironie, die jedes Freund-FeindSchema, ein für Verschwörungstheorien entscheidendes Konzept, durch die völlige Unklarheit der Zugehörigkeit der Figuren unterminiert. Jede Figur kann zu jeder Partei gehören oder zu dieser überwechseln, und was die Figur sagt, kann immer auch das Gegenteil bedeuten. Jede Form von Navigation und Sinnstabilisierung in den Romanen muss deshalb scheitern. Ironisch ist auch die Einbindung einer Karte im ersten Band zu lesen, die zahlreiche Verknüpfungen zwischen den geheimen Gruppierungen graphisch darstellt und sichtlich eine Parodie des Vernetzungswahns der Verschwörungstheoretiker und besonders Nesta H. Websters »Chart of the World Revolution« in ihrem Band World Revolution. The Plot against Civilization (1921) ist. Interessanterweise taucht 2002 dann wieder eine doppelseitige Karte mit geheimgesellschaftlichen Verknüpfungen als Beilage in Mathias Bröckers verschwörungstheoretischem Band Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9. (2002) auf. Obgleich diese Karte im Buch »mit Lachen« präsentiert werden soll, sind ihre Funktion für das Buch sowie ihr Status zwischen ernsten und ironischen Kommentar nicht ganz eindeutig. Vgl. Robert Shea/Robert Anton Wilson: Illu-

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interpretatorische Offenheit und Polysemie postmoderner Literatur, die mitunter auch Elemente der Science Fiction und der Phantastik enthalten kann, weist dabei auf einen Zustand der Komplexität und Unübersichtlichkeit der Gesellschaft oder der Welt hin, das ein Denken der Latenz eher kreativ fortführt, als es in Klarheit aufzulösen.

4.5 Medien des Verdachts Moderne Demokratien, die auf die unsichtbaren Operationen eines bürokratischen Apparates umgestellt haben, sind auf die öffentliche Darstellung ihrer Legitimität sowie ihrer Entscheidungsprozesse angewiesen und deshalb von einem System der Massenmedien abhängig. Nicht mehr der absolutistische Souverän oder sein Hofstaat übernehmen die Repräsentation und Sichtbarmachung des Politischen und setzen sich dabei auch dem Verdacht amoralischen Handelns gegen die Bürger aus, sondern es ist das Imaginäre einer gesichtslosen Bürokratie mit ihrem notwendigen Komplement, den Medien, die zum Ziel moderner Verdachtsszenarien wird. Übernehmen deshalb Geheimdienste, vor allem CIA (Central Intelligence Agency) und NSA (National Security Agency) der USA, in Teilen die Rolle der Geheimgesellschaften im verschwörungstheoretischen Imaginären genauso wie in modernen Fiktionen, sind es vor allem – mit einem Zug der Depersonalisierung – die Medien selbst, die ins Zentrum des Verdachts rücken. Ein Grund dafür mag in der unerlässlichen Vernetzungsfunktion der Medien sowohl auf der Seite des Geheimnisses als auch auf der Seite der Verschwörungstheorie zu finden sein, denn Medien sind notwendig für die geheime Kommunikation der Verschwörer, die sich nicht mehr in Hinterzimmern, sondern inzwischen in den Räumen und Kanälen des Internet treffen, genauso wie für die multimediale Veröffentlichung und Distribution des verschwörungstheoretischen Wissens davon. Dieses Wissen formuliert den Verdacht, dass sich unter der Oberfläche des Politischen, den Masken der Repräsentation und der Symbolisierung, nicht nur jemand oder etwas ganz anderes verbirgt, sondern dass mit Hilfe der Medien die Wahrheit verstellt (dissimulatio) oder falsche Informationen konstruiert (simulatio) werden und dass der Kern der Verschwörung mitunter in den Medien selbst zu finden ist.

minatus! Das Auge in der Pyramide. Bd. 1., Reinbek bei Hamburg 1980, S. 107. Siehe auch Gerhard Seyfried: »The Secret Diagram 1« und »The Secret Diagram 2«, die auf einem zweiseitigen Poster als Beilage sich in Mathias Bröckers: Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9., Frankfurt a.M. 2002, S. 23, befinden. Allgemein zur Verschwörung in der Gegenwartsliteratur siehe Heinz Ickstadt (Hg.), Ordnung und Entropie. Zum Romanwerk von Thomas Pynchon, Reinbek bei Hamburg 1981; Steffen Hantke: Conspiracy and Paranoia in Contemporary American Fiction. The Works of Don DeLillo and Joseph McElroy, Frankfurt a.M. u.a. 1994; Bernhard Siegert/Markus Krajewski (Hg.), Thomas Pynchon. Archiv – Verschwörung – Geschichte, Weimar 2003 sowie E. Horn: Der geheime Krieg.

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Im Anschluss an diese Überlegung nimmt auch Boris Groys eine folgenreiche Umstellung des Verdachts von konkreten Personen auf Medien vor und geht von einem dunklen »submedialen Raum[s]«93 hinter oder unter der Oberfläche der Medien selbst aus: »Der submediale Raum muss für uns deswegen der dunkle Raum des Verdachts, der Vermutungen, der Befürchtungen bleiben – aber auch der plötzlichen Offenbarungen und zwingenden Einsichten. Hinter der Zeichenoberfl äche der öffentlichen Archive und Medien vermuten wir in der Tat unweigerlich Manipulation, Verschwörung und Intrige. […] Es geht nicht um die Wahrheit der Signifikation, sondern um die Wahrheit des Medialen. Jedes Zeichen bezeichnet etwas und weist auf etwas hin. Aber gleichzeitig verbirgt jedes Zeichen auch etwas – und zwar nicht die Abwesenheit des bezeichneten Gegenstands, wie ab und zu behauptet wird, sondern schlicht und einfach ein Stück der medialen Oberfläche, die dieses Zeichen materiell, medial besetzt.«94

Die Logik des unendlichen Verdachts, die Groys formuliert, ist allerdings kein metaphysischer Fluchtpunkt, sondern der Effekt eines rekursiven Verweisungszusammenhangs von Repräsentationen und entspricht damit ziemlich genau der Logik moderner Verschwörungstheorie: »Der Effekt der Unendlichkeit ist ein durch und durch künstlicher Effekt, der durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren erzeugt wird. Weder das Äußere noch das Innere sind als solche unendlich. Allein durch die Repräsentation des Äußeren im Inneren wird der Traum von Unendlichkeit erzeugt – und allein dieser Traum ist wirklich unendlich.«95 Neigt die moderne Verschwörungstheorie zu einer manchmal assoziativen Addition von Indizien und dabei zu einer überkomplexen Konnektivität von Verdachtsmomenten, so ist dies für Groys genauso ein Effekt von Medialität. Die Tiefe des submedialen Raumes, seine unendliche Verschachtelung, ist die Voraussetzung dafür, dass jede Ideologiekritik als Krypto-Analyse der Macht oder jede Kritik an geheim gesteuerten Verhältnissen niemals an ihr Ende kommt. Jede Erhellung einer bisher verborgenen Intentionalität kann sich, sobald sie durch die Signifi kation des Betrachters eine »Zeichenoberfläche« erhält, wieder als neue Oberfläche und damit als neue Maske für etwas noch tiefer Liegendes entpuppen. Die Ökonomie des Verdachts, der laut Groys das Medium aller Medien ist, hört deshalb niemals auf, denn der submediale Raum ist nichts anderes als der Projektionsraum des Verdachts selbst.96 Befördert wird dieser Verdacht letztlich durch die Tatsache, dass nicht nur inzwischen ein Grad an Komplexität medialer Kommunikation in der Welt erreicht ist, dessen Vernetzungsstruktur die der meisten Verschwörungstheorien übersteigt, sondern dass mit der globalen Verbreitung von Überwachungstechniken sich auch ein wichtiger Aspekt des Imaginären geheimer Gesellschaf93. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München, Wien 2000, S. 21. 94. Ebd., S. 21-22. 95. Ebd., S. 13. 96. Ebd., S. 217-227.

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ten als Drahtzieher einer Weltverschwörung erfüllt hat.97 Vergleichbar der Situation in der europäischen Spätaufklärung sind Verschwörungstheorien deshalb auch wieder zu elementaren Bestandteilen einer globalen Kultur des Populären geworden. Abseits von ihrer immer noch realen Wirkmacht sind sie das ästhetische Material von Literatur, Film und Fernsehen. Verschwörungstheorien liefern in jeder Hinsicht das politische Imaginäre für ein Denken des Verdachts, das grundsätzlich in Kategorien der Manifestation und der Latenz bzw. der Oberfläche und eines geheimen Raums dahinter operiert. Fredric Jameson nimmt diese Entwicklung bekanntlich zum Anlass einer Diagnose der geopolitischen Kultur des Spätkapitalismus, die durch Unübersichtlichkeit und die Nichtrepräsentierbarkeit des »Weltsystems« gekennzeichnet ist.98 Eine spezielle Rolle nehmen dabei wiederum die Medien ein, Technologien, die nur noch auf eine unüberschaubare und deswegen unheimlich gewordene Totalität verweisen. Das Imaginäre einer Verschwörung, der »conspirational text«, der sich im 18. und 19. Jahrhundert zumindest nominell noch auf konkrete Geheimbünde und Personen bezog, ist dabei zur Allegorie für das unendliche Netzwerk der Welt geworden und verkörpert auf eine paranoische Weise das »geopolitical unconscious«99. Für Slavoj Žižek, der die Theoreme von Jameson aufgreift, ist der entgrenzend totalitäre Zug in der modernen Verschwörungstheorie dabei vor allem ein Kennzeichen post-politischer Gesellschaften. Umstellt von Zeichenoberflächen, die alle einen geheimen Raum und unsichtbare Mächte anzudeuten scheinen, ist für ihn das Latenzdenken des Verdachts, der Glauben an einen »großen Anderen, der tatsächlich im Realen existiert und nicht einfach nur […] eine symbolische Fiktion«100 ist, paradoxerweise auch das Symptom für eine neue Art des Vertrauens in die Gesellschaft. Die ironisch distanzierte Auffassung von Politik als Spiel funktioniert aus diesem Grund für Žižek, weil sie dem Verdacht der Existenz eines »Anderen des Anderen« entspricht, dem Glauben an eine unsichtbare »MetaGarantie der Konsistenz des großen Anderen«101. Der künstliche Leviathan als Grundmodell einer vertraglich geordneten Gesellschaft wäre also genau deshalb operabel, weil er jeder Wahrnehmung entzogen ist. Nur der Verdacht, immer gäbe es einen verborgenen und feindlich gesinnten Verschwörer hinter der sichtbaren Maske, hielte demnach die Gesellschaft zusammen. Die Verschwörungstheorie ist das Imaginäre dieses Denkens. Sie repräsentiert das gesamte Spektrum unterschiedlicher Diskursivierungen des Verdachts mit Effekten einer Fiktion, die zwischen der Brisanz politischer Aussagen und Forderungen sowie einer normalisierten Haltung zur Verschwörung als ästhetischem Material des Populären und somit des Spiels oszilliert. 97. Siehe dazu das Kapitel 2.5.2 Der technische Blick. Sichtbarmachung und Überwachung (Crary, Metelmann) in diesem Band. 98. Vgl. Fredric Jameson: The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World System, Bloomington, Indianapolis, London 1995. 99. Ebd., S. 3. 100. Slavoj Žižek: Liebe Deinen Nächsten? Nein, Danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, Berlin 1999, S. 159. 101. S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 503.

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5. Metamorphosen und Maskeraden. Spielarten politischer Un-/Sichtbarkeit1 Lutz Ellrich

5.1 Latenzfiguren Die Vorstellung, dass gesellschaftliche Ordnung nur dann möglich ist, wenn ihre letzten Gründe verborgen bleiben, war im abendländischen Denken zumeist mit der Idee verknüpft, dass sich der Bereich, innerhalb dessen die konstitutive Latenz gehegt und verwaltet wird, topologisch genau bestimmen lässt: nämlich die Sphäre des Politischen, letztlich der Apparat des Staates.2 Auf diesen Ort, an dem Befehle gegeben, Gesetze gemacht und Maßnahmen ergriffen werden, richteten sich nicht nur die Blicke all derer, die das Geheimnis bewahren durften, um den Bestand der Ordnung zu sichern, sondern fast immer auch jener Personen, die das Geheimnis lüften wollten, um die bestehende Ordnung umzustürzen und durch eine andere zu ersetzen. Verteidiger und Gegner der herrschenden Verhältnisse bewegten sich – trotz gegensätzlicher Interessen – hier auf gemeinsamem Boden: Die Verteidiger, die sich als Hüter des Geheimnisses verstanden, legitimierten ihr schweres Amt mit dem Argument, dass die allgemeine Kenntnis der Wahrheit verheerende Folgen für das Gemeinwesen habe: Nur wenige auserwählte Personen sollten mit Pflege und Schutz der Wahrheit betraut werden, weil nur wenige sie überhaupt ertragen könnten. Das Wissen um die Notwendigkeit einer latenten Substanz der sozialen Ordnung müsse folglich selbst weitgehend latent gehalten werden und dürfe nur im engen Kreis der Eliten zirkulieren.3 Genau diese 1. Die folgenden Überlegungen haben in Gesprächen mit Sabine Müller, Jessika Jürgens, Aleksander Marcic, Carsten Zorn und Christoph Menke Gestalt angenommen. 2. Auf die Probleme eines nicht-etatistischen Politikbegriffs komme ich noch zu sprechen. 3. Das Latenzschutz-Argument besteht also aus zwei Komponenten: Einerseits bezieht es sich auf eine Ordnung, die zusammenbräche, wenn die Bedingungen ihrer Herstellung allgemein bekannt würden, andererseits auf die kognitiven und affekti-

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Insinuation 4 faszinierte aber auch die Gegner des Bestehenden. Viele, die den Bezirk des Politischen betreten haben, um die gesellschaftlichen Verhältnisse von Grund auf zu ändern, konnten der betörenden Idee eines notwendigen Entzugs kaum widerstehen. Projekte des Umsturzes und der Umwälzung, ja sogar der gelinden Modifi kation sozialer Strukturen wurden als geheime (nur den unmittelbar beteiligten Akteuren bekannte) Operationen geplant und durchgeführt. Dahinter standen nicht nur taktische Erwägungen und die Gebote eines Realitätssinns, der sich am Erfolg des Unternehmens orientierte und daher den Wert hoher Zwecke gegen die Eignung fragwürdiger Mittel abwog. Die Entscheidung für ein konspiratives Vorgehen war oft von der Überlegung getragen, dass auch die neu zu schaffende Ordnung auf den Faktor Latenz angewiesen sein könnte und man daher eine potentiell unverzichtbare Ressource für die Stabilisierung der künftigen Verhältnisse nicht vorab schon durch Öffnung aller Wissensschleusen verbrauchen dürfe.5 Auch und gerade das demokratische Projekt, politisches Handeln prinzipiell für alle Betroffenen durchsichtig zu machen und im Lichte einer engagierten (zumindest interessierten) Öffentlichkeit geschehen zu lassen6, konnte ven Kapazitäten der Bevölkerungsmehrheit, die durch die Wahrheit heillos überfordert wäre und völlig unberechenbar reagieren könnte. 4. Es handelt sich hierbei nur scheinbar um eine paradoxe Kommunikation im Sinne einer Mitteilung über etwas Nichtmitteilbares. Denn das Wissen um das Geheimnis verteilt sich auf eine Reihe von unterschiedlich durchlässigen Sperrkreisen, in denen Halbwissen, Andeutungen und Gerüchte eine wichtige Rolle spielen. So ist weder die Vermutung noch die Gewissheit, dass es ein Geheimnis gibt, welches nur Eingeweihte kennen, per se gefährlich – im Gegenteil: zumeist stabilisiert und stärkt es die bestehende Ordnung. 5. Interessant sind in diesem Zusammenhang die zwiespältigen Diagnosen von Carl Schmitt aus den 1920er und 1930er Jahren: Einerseits verherrlicht er diejenige »politische Form«, welche die Kraft zur »Repräsentation« einer »Idee« besitzt und die Gestalt einer »sichtbaren Institution« gewinnt (Römischer Katholizismus und politische Form (1923), Stuttgart 1984, S. 28, 53), andererseits spricht er 1938 – also in einer Zeit der nationalsozialistischen Arkanpolitik und der ansteigenden Aktivitäten von geheimer Staatspolizei und Sicherheitsdienst – mit Blick auf die politisch subversiven Mächte des Privaten und Individuellen, die sich zu Beginn der Neuzeit Geltung verschaffen, von der prinzipiellen »Überlegenheit des Innerlichen gegenüber dem Äußerlichen, des Unsichtbaren gegenüber dem Sichtbaren, des Stillen gegenüber dem Lauten«, d.h. von der »Überlegenheit des Nichtöffentlichen« gegenüber jeglicher öffentlicher Macht und Gewalt (Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), Köln 1982, S. 95). Als Interpret fahndet man unweigerlich nach den latenten Motiven und Gehalten solcher Bekundungen: Gibt Schmitt 1938 dem eigenen »innerlichen Vorbehalt« (ebd., S. 92) gegenüber dem Nazi-Regime eine verstellte Stimme oder kaschiert er mit seinem buchstäblichen Angriff auf die Zersetzungskräfte des Privaten nur die geheimen Kriegs- und Vernichtungspläne der Nationalsozialisten? 6. Ich muss hier notgedrungen von den historisch variierenden Entstehungsprozessen demokratischer Gesellschaften und von den divergierenden Typen bzw.

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das Gespenst der Latenz nie abschütteln. Bis heute fahnden sowohl kritische als auch konservative ›Geister‹ hinter den Institutionen, die das politische Walten und Wirken als etwas im doppelten Sinne ›Einsehbares‹ präsentieren, nach den verborgenen Funktionsbedingungen oder -mechanismen demokratisch legitimierter Macht. Es kostet wenig Aufwand, Beispiele für diesen Kult des Verdachts zu finden, der die alte Unterscheidung zwischen ›links‹ und ›rechts‹ souverän ignoriert.7 Allenthalben triff t man etwa auf die Meinung, dass die öffentlichen Diskurse in den Massenmedien oder die parlamentarischen Verfahren der Gesetzgebung und Regierungskontrolle einen Schein von Transparenz erzeugen, der die wahren Fundamente der Demokratie überdeckt. Diese alltägliche Konfrontation mit Produkten der Verdachtskultur8 ist eine große Herausforderung für den latenztheoretischen Ansatz und stellt sein konzeptionelles Differenzierungsvermögen auf harte Proben. Dass man

Stadien der Realisierung des demokratischen Projekts absehen. Vgl. hierzu die vorzüglichen Analysen in Charles Tillys letztem Buch Democracy (Cambridge 2007), die eine ganze Reihe nützlicher Kriterien für die Feinanalyse bereit stellen. 7. In seiner Rezension des Weltverschwörungsfilms The International von Tom Tykwer weist Diedrich Diederichsen darauf hin, dass die Gebäude, die der Film zur Veranschaulichung der »zeitgenössischen globalen Macht« als Szenarien bzw. Drehorte nutzt, immer »eine Transparenz zur Schau tragen, die dialektischerweise gerade verhüllt und verbirgt, wie sich Macht strukturiert. Sie [die neue Bauästhetik] schwelgt lediglich narzisstisch in der Verselbstständigung schöner, leerer Struktur. Da diese Architektur aber wiederum latent vertraut ist, kann man solche Gebäude auch direkt als Gestalt der undurchschaubaren Macht casten, ohne sie […] zu analysieren. Damit wächst natürlich die Gefahr, ein Vorurteil gegen die da oben und die dazugehörigen präpolitischen Verschwörungstheorien nur zu reproduzieren, statt zu zeigen, wie Macht sich gerade durch ihre Unsichtbarkeit in Spiegeln und Glasfassaden konfiguriert« (Diedrich Diederichsen: »Altbekannte Typen. Tom Tykwer sucht Bilder für die Weltverschwörung«, in: DIE ZEIT vom 12.2.2009, S. 42). 8. Vgl. Boris Groys: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien, München 2000. Siehe hierzu auch die pointierte Darstellung des Problems durch Manfred Schneider: »Das Politische [lässt sich] nie vollständig transparent machen. Der Verdacht folgt wie ein Schatten der Macht, und erst recht, wenn die Mächtigen Komödie spielen. Es scheint daher genau umgekehrt zu sein: Je weiter, tiefer und heller das politische Theater ausgeleuchtet wird, je näher uns die Politiker auf dem Bildschirm rücken, dass wir die Falten ihrer Stirn und das Rosa ihrer Zunge befragen können, ob sie auch die Wahrheit sagen, je vertrauter und privater die Politik ins Auge der Beobachter fließt, desto nebelhafter, unfassbarer und unerreichbarer scheint der Hintergrund zu werden. Mit der Sichtbarkeit vergrößert sich die Unsichtbarkeit. Die einfache, demoralisierende Rechnung lautet: Je offener die Welt des Politischen, desto größer der Verdacht, dass sie sich der Beobachtung nur darbietet, um die Tatsachen zu verhüllen, um das wahre Spiel vor den Blicken abzuschirmen. Die schlimme Wahrheit spielt im Unsichtbaren. So murmelt das moderne Unbehagen« (»Wie wäre das Fernsehduell zwischen Cäsar und Brutus ausgegangen?«, in: NZZ vom 24.10.2008, S. 25).

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»vergebens nach einer umfassenden Theorie der Latenz«9 sucht, lässt sich durch die semantische Bandbreite des Begriffs und die Vielfalt der tauglichen Forschungsgegenstände erklären. Diskurstheoretische Studien zum Verhältnis von politischer und medialer Latenz bzw. Latenz-Offenbarung in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften sind daher ein geeignetes Feld, um die Leistungsfähigkeit des Latenz-Begriffs wirksam zu testen. Das Latenzkonzept ist streng genommen eine Art diagnostischer Sonde, ein überaus reizvolles heuristisches Instrument. Es besitzt zahlreiche Vorteile, die im Folgenden noch deutlich gemacht werden sollen, hat aber auch erhebliche Nachteile, weil es aus komplexen Zusammenhängen einen speziellen Aspekt (eben unsichtbare Wirkmächte) heraushebt und potenziell überbewertet. Eines der gravierendsten Probleme, das man nicht aus den Augen verlieren darf, sei hier schon – gleichsam vorbeugend – angesprochen: Wer sich des Latenzbegriffs leichtfertig bedient, gelangt rasch zu der Überzeugung, die philosophische Unterscheidung zwischen einer ontischen und einer ontologischen Dimension revitalisieren und so in jene Sphäre ontologischer Bestände vorzudringen zu können, die gewöhnlich verborgen bleibt.10 Um diese Gefahr der ›Ontologisierung‹ zu bannen, hat insbesondere Niklas Luhmann eine gründliche epistemologische ›Abklärung‹ des Latenzbegriffs und die Einnahme gestufter Beobachtungsperspektiven empfohlen.11 Das ist sicher ein beachtenswerter Vorschlag. Allerdings sind konstruktivistische Lektionen über Blindheit und Einsicht, Wissen und Nichtwissen als Immunisierungsstrategien nur dann sinnvoll, wenn sie nicht ihrerseits Sichtblenden gegenüber brisanten politischen Sachverhalten errichten. Luhmanns Texte geben an vielen Stellen zu der Vermutung Anlass, dass epistemologische Neu-Beschreibungen nach konstruktivistischem Muster den politischen Ge-

9. Stefanie Diekmann/Thomas Khurana: »Latenz. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.) Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 9. 10. Vgl. z.B. Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy (Hg.), Le retrait du politique, Paris 1981; Chantal Mouffe: Über das Politische. Wider die kosmopolitische Illusion (2005), Frankfurt a.M. 2007, S. 15. 11. Vgl. dazu oben Kapitel 2.2. Die epistemologische Abklärung arbeitet mit zwei Thesen: 1. man kann nicht sehen, was man nicht sehen kann, aber man kann u.U. erkennen, dass man nicht sehen kann, was man nicht sehen kann; 2. man vermag daher (wenn auch nicht immer) unaufhebbare Latenzen bzw. blinde Flecken zu erkennen und von (prinzipiell) aufhebbaren Latenzen zu unterscheiden, ohne damit freilich schon die Folgen einer solchen Latenzmanifestation vorhersehen bzw. vorhersagen zu können. – Siehe auch Armin Nassehis systemtheoretisch inspirierte Gedanken zur Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft: »Soziale Ordnung entsteht […] aus der selektiven Invisibilisierung ihrer selbstragenden Konstruktion. Soziale Ordnung ist nichts anderes als die Stabilisierung praktischer Aprioris, die als unsichtbare Nicht-Identitäten nicht erfahren werden können und damit erst soziale Erfahrungen ermöglichen. Insofern erweist sich das Problem sozialer Ordnung als epistemologisches Problem« (»Die Paradoxie der Sichtbarkeit«, in: Soziale Welt 50 (1999), S. 349-362, hier: S. 359).

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halt bestimmter sozialer Semantiken eher verdunkeln als aufhellen.12 Eine Diskursanalyse politischer Latenzfiguren muss daher darauf bedacht sein, sich unbeschadet zwischen der Skylla des Konstruktivismus und der Charybdis des ontologischen Denkens hindurch zu lavieren. Im Bereich demokratischer Politik kann die diagnostische Sonde des Latenzbegriffs auf mehreren Ebenen bzw. an mehreren neuralgischen Punkten zum Einsatz gebracht werden. Eine erste Möglichkeit besteht darin, die so genannte ›Gewaltenteilung‹ der Regierungsmacht in Exekutive, Legislative und Judikative zu problematisieren und hinter der Fassade differenzierter, sich wechselseitig beobachtender und kontrollierender Einzelgewalten eine verborgene Grundgewalt freizulegen. Eine zweite Möglichkeit besteht darin, die verschiedenen ›Komponenten‹ der demokratischen Ordnung in Hinblick auf vorhandene Arkanzonen und Verdunkelungsmechanismen zu durchforsten: 1. die Verfahren, mit deren Hilfe demokratische Herrschaft ausgeübt wird (Parteienbildung, freie Wahlen, parlamentarische Debatten, Mehrheitsentscheidungen, verfassungsgerichtliche Überprüfungen etc.); 2. die Art und Weise, in der sich das ›Volk‹ (der ›demos‹) konstituiert und das Problem der Zugehörigkeit bzw. Nicht-Zugehörigkeit gelöst wird; 3. die Mittel (d.h. sowohl die technischen, finanziellen, rechtlichen und organisatorisch-institutionellen Voraussetzungen als auch die kommunizierten konkreten Inhalte, Meinungen und Ideen) mit denen eine funktionierende Öffentlichkeit hergestellt, gesichert oder ggf. auch ruiniert wird. Wo auch immer die Latenz-Analyse bzw. Latenz-Aufdeckung im Kontext der Demokratie-Theorie ansetzt, stets operiert sie explizit oder implizit (also ggf. auch unter Latentisierung der eigenen Methoden13) mit fünf Indikatoren, bei deren Präzisierungen Schemata der Anordnung oder so genannte ›semantische Differentiales‹ hilfreich sein können. Jede gehaltvolle Analyse bestimmt: 1. den Status des latenten Phänomens (d.h. sie nimmt eine ›Klassifi kation‹ der Latenzen vor, indem das untersuchte Verborgene bzw. Unsichtbare auf einer Skala mit den Extremwerten ›tief‹/›tiefenstrukturell‹ und ›flach‹ platziert und gleichzeitig eine Aussage über die ›Reichweite‹ von Kräften, die aus der Latenz heraus wirken oder regulieren, getroffen wird); 2. die Dichte der Latenz bzw. den Schwierigkeitsgrad, das latente Phänomen zu erkennen und aufzuhellen; 3. die gesellschaftliche Relevanz (Funktion) des latenten Phänomens oder Bereichs; 12. Vgl. die kritischen Kommentare bei Peter Wehling: Im Schatten des Wissens, Konstanz 2006, sowie Carsten Zorn: »Funktion«, in: Stefanie Diekmann/Thomas Khurara (Hg.), Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff, Berlin 2007, S. 91-97. 13. Vgl. hierzu auch die folgende Bemerkung: »›Latenz‹ taucht […] fast ausschließlich als operativer Begriff auf, der einen Teil seiner spezifischen Wirksamkeit womöglich gerade seinem unthematisierten, ›latenten‹ Charakter verdankt – der Ovid’schen Devise entsprechend, dass die Kunstfertigkeit darin bestehe, die eigene Technik zu verbergen« (S. Diekmann/T. Khurana: »Latenz. Eine Einleitung«, S. 9).

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4. den genauen Ort, an dem Latenzen vorhanden sind, ggf. auch das soziale System, das eine latente Zone aufweist; 5. die zeitliche/historische Entwicklung latenter Phänomene (d.h. zum einen die Veränderung von Status, Dichte und Relevanz/Funktion von Latenzen, zum anderen die topologische Verschiebung relevanter Latenzzonen oder latenter Kräfte). Lässt man die latenztheoretischen Diagnosen auf dem Felde der demokratischen Politik Revue passieren, so kann man sich des folgenden Eindruckes kaum erwehren: Zentral ist die Frage, ob man es innerhalb demokratischer Verhältnisse (ebenso wie in nicht-demokratischen Gesellschaften14) mit ›tiefen‹ oder ›tiefenstrukturellen‹ Weisen des Verborgenen oder nur noch mit gleichsam ›flachen‹ Schichten subkutaner Latenzen15 zu tun hat. Beschreibungen, die sich ihrer Illusionslosigkeit und Ausgewogenheit rühmen, stehen Analysen gegenüber, die den Anspruch erheben, der demokratischen Sache auf den Grund zu gehen und auch vor den ›dunklen Seiten‹ der Demokratie nicht zurückzuschrecken. Während erstere bei ihren ostentativ ›realistischen‹ Überlegungen zur Demokratie das Transparenzideal als Leitwert verteidigen und dennoch sowohl die Notwendigkeit und Funktionalität gewisser Geheimhaltungspraktiken16 als auch die stete Möglichkeit von Missbrauch, Lüge und Korruption betonen, stoßen letztere entweder auf einen latenten Bodensatz von Gewalt oder auf eine fundamentale Widersprüchlichkeit, der sich auch die demokratische Gesellschaftsform und ihre besondere Auffassung von

14. Gemeint sind natürlich archaische, imperiale, absolutistische und totalitäre Gesellschaften. 15. Vgl. die bewusst ›oberfl ächliche‹ Betrachtung bei Michael Friedman: Die Welt ist fl ach. Eine kurze Geschichte des 21. Jahrhunderts (2005), Frankfurt a.M. 2006. 16. Zur Veranschaulichung solcher mitunter weit gefasster, aber zugleich vorsichtiger Befunde kann folgendes Statement dienen, das eine für Antike, Mittelalter und Neuzeit gültige Diagnose treffen möchte: »Jede Entscheidung, jeder Entscheidungsverzicht, jede Deutung hängt mit Machtkonstellationen zusammen, die nicht bis zum letzen durchschaubar sein dürfen, die gerade in ihrer Invisibilität […] eine ›Ressource‹ der Herrschaft darstellen, die aber zugleich selektiv visualisiert werden können und müssen, um die Wirkung der Macht präsent zu halten« (Gert Melville: »Vorwort«, in: Ders. (Hg.), Das Sichtbare und Unsichtbare der Macht. Institutionelle Prozesse in Antike, Mittelalter und Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2005, S. I-VIII, hier: S. VIII). Exakt auf die demokratischen Verhältnisse zugeschnitten ist hingegen diese Aussage: »… das Versprechen, die ›unsichtbare Macht‹ zu beseitigen [ist] bis heute enttäuscht worden. Zwar sind im demokratischen Rechtsstaat Geheimdienste und Armeen prinzipiell der parlamentarischen Kontrolle unterworfen, und auch die Transparenz staatlichen Handelns ist in Demokratien höher als in anderen politischen Systemen, doch selbst hier bleibt ein Rest von Macht, der sich der liberalen Öffentlichkeit entzieht« (Dirk Jörke: »Auf dem Wege zur Postdemokratie«, in: Leviathan 33/2 (2005), S. 482-491, hier: S. 485).

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Politik nicht entziehen können.17 Beide Figuren einer ›tiefen‹ Latenz werden in unterschiedlich radikalen Varianten vorgetragen: (1) Weit verbreitet ist z.B. die Annahme, dass durch die Dauerpräsenz von Deliberations- und Entscheidungsverfahren (Wahlen, Parlamentsdebatten, Gesetzgebung, demoskopische Rückmeldungen etc.) die unumgängliche Gewaltfundierung der Demokratie nicht zum Vorschein komme oder zumindest bagatellisiert werde.18 Vielfach haben die Versuche, hinter den Fassaden demokratischer Institutionen eine basale Gewalt ausfindig zu machen und bloßzustellen, aber auch schärfere Töne angeschlagen. Man denke nur an Hans Magnus Enzensbergers Essays über Politik und Verbrechen19, an Michel Foucaults Vorlesung Il faut défendre société von 1975/197620, an Ekkehart Krippendorffs Studien zur Pathologie des Politischen21, an Charles Tillys Arbeiten über die erpresserische Logik staatlicher Gewalt22, an Giorgio Agambens Buch Homo sacer23 oder an Michael Manns Untersuchung The Dark Side of Democracy.24 (2) Etwas andere Akzente setzen die diversen Modelle zur Darstellung bzw. Entlarvung einer Grundparadoxie, in die sich das demokratische Projekt unweigerlich verstrickt. (Gewalt kann auch hier eine zentrale Position ein-

17. Mitunter schreibt man die Aufdeckung einer basalen Gewalt in das Modell paradoxer Beziehungen ein. Dazu gebe ich später noch einige Hinweise und Beispiele. 18. So weist Luhmann darauf hin, dass demokratische Verfahren der Regierungsbildung und die Gesetzesbindung der politischen Exekutive »dazu führen, die symbolische Bedeutung der Durchsetzungsfähigkeit bei gewaltsamen Konfrontationen zu unterschätzen« (Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 58). 19. Hans Magnus Enzensberger: Politik und Verbrechen, Frankfurt a.M. 1964. 20. Michel Foucault: Il faut défendre société (1975/6), Paris 1996; dt.: In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999; siehe auch Michel Foucault/Alain Geismas/André Glucksmann: Neuer Faschismus, Neue Demokratie. Über Faschismus im Rechtsstaat (1972), Berlin 1972. 21. Ekkehart Krippendorff: Staat und Krieg, Frankfurt a.M. 1985; vgl. auch Krippendorffs These, »daß Herrschaft auf verborgenen, untergründig präsenten, antagonistischen Einstellungen von gegenseitiger Verachtung, ja Haß beruht und daß in ihr daher gewalttätige Ausbrüche von Revolutionen und Konterrevolutionen jederzeit angelegt sind« (Politik in Shakespeares Dramen, Frankfurt a.M. 1992, S. 459). 22. Charles Tilly: »War Making and State Making as Organized Crime«, in: P. Evans/D. Rueschemeyer/T. Skocpol (Hg.), Bringing the State back in (1985), S. 169191; siehe auch Ders.: Coercion, Capital, and European States: AD 990-1990, Cambridge 1990; sowie Ders.: The Politics of Collective Violence, Cambridge 2003. 23. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben (1995), Frankfurt a.M. 2002. 24. Michael Mann: The Dark Side of Democracy, Cambridge 2005.

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nehmen, ist jedoch nicht zwangsläufig im Spiel).25 Zu den geläufigsten Beispielen für eine solche Form der politischen Selbstunterminierung zählt das Konstrukt der ›Volkssouveränität‹. Paradox ist dieses Konstrukt, weil es im demokratischen Gründungsakt immer schon vorausgesetzt wird, obschon es durch die Operationen, die im Verlauf der Urszene vollzogen werden, überhaupt erst eine gültige Ausprägung erhält.26 Aber auch andere paradoxale Konstellationen sind eingehend erforscht und publik gemacht worden: »Secrecy constitutes a basic paradox of democratic politics«, lautet der spektakuläre Befund von Carl J. Friedrich27; denn einerseits dient das Geheimnis dem Schutz bürgerlicher Freiheiten (Wahlgeheimnis, Privatsphäre) und andererseits ist es ein Medium der Arkanpolitik, auf welche die demokratische Politik offenbar nicht verzichten kann oder will. Eva Horn hat Friedrichs These kommentiert und durch eine breit angelegte Untersuchung von fi ktionaler Literatur über die Rolle der Geheimdienste in Diktaturen und Demokratien zu untermauern versucht: »Fiktionen [werfen] Licht auf jene fundamentale Paradoxie des politischen Geheimnisses in der Moderne: der Konflikt zwischen einem politischen Ideal der Transparenz und demokratischen Kontrolle auf der einen Seite, dem notwendigen oder jedenfalls unvermeidlichen Einsatz von Geheimhaltung, geheimen Eingriffen und heimlichen Überwachungsmaßnahmen auf der anderen Seite. Erst in modernen De25. Vgl. z.B. Helmut Willkes Überlegungen zur »Paradoxie der Gewalt« im »Prozess der Zivilisierung von Politik«: »Es gibt immer mehr Gewalt, weil es weniger Gewalt gibt; und es gibt immer weniger Gewalt, weil es mehr Gewalt gibt.« Diese Paradoxie wird einerseits durch die Verrechtlichung und andererseits durch die Verinnerlichung (Fremdzwänge verwandeln sich in Selbstzwänge) entschärft. Dennoch bleibt als Fazit festzuhalten: »Im Prozeß der Zivilisation verschwindet Gewalt nicht einfach; im Gegenteil, sie wird immens gesteigert, aber besser versteckt in internen Symbolstrukturen mentaler Systeme einerseits, in normativen Symbolstrukturen politischer Systeme andererseits« (Ironie des Staates, Frankfurt a.M. 1992). Siehe ferner Arndt Bauerkämper/Dieter Gosewinkel/Sven Reichardt: »Paradox oder Perversion? Zum historischen Verhältnis von Zivilgesellschaft und Gewalt«, in: Mittelweg 36, 1 (2006), S. 22-32. 26. Einschlägig sind zum einen Hannah Arendts Analysen des politischen Konstitutionsaktes (Über die Revolution (1963), München 1965, insbes. S. 20f., 210ff., 262ff.) und zum anderen Jacques Derridas Beschreibung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung als Vorgang einer bodenlosen Selbstbegründung: »… dieses Volk existiert nicht, nicht vor dieser Erklärung. Anders gesagt, durch jene Unterzeichnung bringt es sich als freies und unabhängiges Subjekt, als möglicher Unterzeichner zur Welt. Unterzeichnend autorisiert es sich zu unterzeichnen« (»Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens«, in: Fugen. Deutsch-französisches Jahrbuch für Textanalytik, Olten/Freiburg 1980, S. 64-98, hier: S. 66. In Abschnitt 5.5 komme ich auf diese Positionen zurück. 27. Carl J. Friedrich: The Pathology of Politics. Violence, Betrayal, Corruption, Secrecy, and Propaganda, New York 1972, S. 178.

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mokratien – und nicht in modernen Diktaturen – stellen die arcana imperii einen inhärenten Selbstwiderspruch des politischen Systems genau dadurch dar, dass sie – im Dienst des Schutzes und der Abwehr von Feinden und Bedrohungen – eine Grauzone der Rechtlosigkeit und Unkontrollierbarkeit eröffnen, in der verschwiegen, gelogen, bespitzelt, gestohlen, desinformiert, erpresst, schlimmstenfalls getötet werden kann.«28

Für Horn besitzt also fi ktionale Literatur die zentrale Aufgabe, etwas bewusst zu machen, das in den gängigen Diskursen und den zugänglichen Wissensbeständen nicht präsent ist, sich jedenfalls nicht direkt bezeichnen und plausibilisieren lässt.29 Als ein weiteres Beispiel für eine tiefenstrukturelle Paradoxie, die in den üblichen politischen Diskursen eher verdrängt oder kaschiert wird, kann die demokratische Grundspannung gelten, auf die Chantal Mouffe aufmerksam machen möchte. Übersehen wird – ihrer Ansicht nach – nämlich fast durchweg der gravierende Widerspruch, welcher zwischen dem Begriff der demokratischen Volkssouveränität und dem liberalen Konzept des Rechtsstaates herrscht: Während ›echte‹ Volkssouveränität in einer affektiv gestifteten kollektiven Identität wurzelt, beruht die liberale Deutung demokratischer Verhältnisse auf Prinzipien, die mit individuellen Freiheits- und Menschenrechten verbunden sind und zwangsläufig die politische Funktion von Wir-Gefühlen zum Schaden der demokratischen Konflikt-Kultur verleugnen müssen.30 Ferner ließe sich auf Shmuel Eisenstadts Überlegungen zu den »Paradoxien der Demokratie«31 hinweisen, mit denen er – in scharfem Kontrast zu Charles Lindbloms Rede von der robusten Demokratie32 – aufzeigen möchte, 28. Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a.M. 2007, S. 505f. 29. Auf diese Annahme und ihre Implikationen werde ich noch zu sprechen kommen. 30. Vgl. Ch. Mouffe: Das demokratische Paradox, Wien 2008. Zur Rolle der Affekte in der Politik siehe Friedrich Balke: Figuren der Souveränität, München 2009, insbes. das Spinoza-Kapitel »Die Immanenz der Menge und die ›Natur‹ des Politischen«, S. 214-237. Zur ›paradoxen‹ Angewiesenheit des Liberalismus auf Bedrohungsszenarien und Feindbilder vgl. Jean-Christophe Rufin: Die Diktatur des Liberalismus (1994), Reinbek 1994. 31. Vgl. Shmuel Eisenstadt: Paradoxes of Democracy, Baltimore/London 1999; dt. Übers. enthalten in: Paradoxien der Demokratie (1999)/Die politische Theorie auf der Suche nach dem Politischen (2004), Frankfurt a.M. 2005; siehe auch Ders.: Theorie und Moderne. Soziologische Essays, Wiesbaden 2006. Ferner Piotr Sztompka: »Trust, Distrust and Two Paradoxes of Democracy«, in: European Journal of Social Theory 1/1998, S. 19-32. 32. Vgl. Charles Lindblom: The Intelligence of Democracy, New York 1965. Lindblom selbst kamen im Laufe der 1970er Jahre Zweifel an der Intelligenz der Demokratie, die seiner Einschätzung nach nicht mehr ausreicht, um die Macht großer Kooperationen einzudämmen. Vgl. dazu sein Buch: Politics and Markets, New York 1977.

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dass demokratische Ordnungen die Kontingenz moderner Sozialität, die mit dem Wegbrechen transzendenter Legitimationsgrundlagen offenbar wird, eben nicht bändigen, sondern vielmehr zu einem Dauerthema machen und die Gefahr des Totalitarismus mit jedem Akt der freien Wahl herauf beschwören, um sie auf diese Weise partiell einzudämmen. Demokratie versteht Eisenstadt als diejenige politische Form, welche der Kontingenz ausgeliefert ist und daher bereits von ihrer Anlage her durch interne Paradoxien (Freiheit vs. Gleichheit, jakobinische vs. pluralistische Tendenzen) bestimmt wird: Brüchigkeit und Instabilität moderner demokratischer Regime »are rooted in tensions among their basic premises and especially between the constitutional and the participatory premises, each with different and often contradictory ideological and institutional implications.«33 Einerseits ist Demokratie ein strukturell konflikthaftes Projekt politischer Selbstbeeinflussung moderner Gesellschaften, andererseits aber auch der Versuch, die mit ihr verbundenen basalen Konflikte durch Entwürfe einer imaginären Einheit beständig zu verdecken und in die Latenz zu drücken.34 Auch Barbara Tuchmans historisch weit gespannte Analysen über die Torheit der Regierenden, in der sich eine paradoxe Beziehung von Wissen und Handeln manifestiert, scheinen auf den ersten Blick in die Kategorie der ›tiefen‹ Latenzen zu gehören. Tuchman fokussiert jedoch keine grundsätzliche oder tiefenstrukturelle politische Torheit, deren Latenz aufgedeckt werden müsste, sondern eine »Form von Missregierung«, die bereits zu ihrer Zeit als kontraproduktiv erkannt und dennoch (wider alle Vernunft) durchgeführt wurde. Es geht Tuchmann also nur um die Aufklärung der teils offenen, teils latenten Gründe und Motive, die dazu führten, dass eine »praktikable Handlungsalternative« nicht ergriffen wurde.35 Tuchman legt damit keine spezifisch politische Torheit frei, sie zeigt vielmehr, dass auf dem Felde der Politik, Torheiten verantwortlicher Entscheidungsträger gravierende Folgen für die ganze Bevölkerung haben.36 Schon diese kurze Charakterisierung des Typen-Arsenals ›tiefer‹ politischer (auch in Demokratien vorhandener) Latenzen, die eine basale Gewalt oder eine fundierende Paradoxie betreffen, lässt erkennen, mit welchen Ambitionen und Erwartungen hier zur Entlarvung verborgener Strukturen und Zonen geschritten wird. Es kann daher nicht verwundern, dass das Interesse an der Manifestation ›tiefer‹ Latenzen beachtlichen historischen Schwankungen unterliegt.37 Zudem sind die Praktiken einer weithin vernehmlichen Of33. S. Eisenstadt: Paradoxes of Democracy, S. 3. 34. Eisenstadt kritisiert daher auch insbes. Theorien der Politik, die »in Bezug

auf Fragen von Macht und Konflikt« mit »Blindheit« geschlagen sind (Die politische Theorie auf der Suche nach dem Politischen, S. 168). 35. Barbara Tuchman: Die Torheit der Regierenden, Frankfurt a.M. 1984, S. 13. 36. Deshalb war z.B. die bekannte preußische Parole: »Der König hat eine Bataille verloren. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht!« selbst in Zeiten der so genannten Kabinettskriege eine falsche Beschreibung der Verhältnisse. 37. Zumeist dominieren im Diskurs über ›tiefe‹ Latenzen der Demokratie die spektakulären Themen ›Gewalt‹ und ›Paradoxie‹. Es gibt aber auch prominente Theo-

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fenbarung des Verborgenen und Unsichtbaren extremen Verschleißprozessen ausgesetzt. Generell ist mit Luhmann zu vermuten, dass in der modernen Gesellschaft Mitte des 18. Jahrhunderts »die Flut der Auf klärung« einsetzt und bald eine »Ebbe der Latenz«38 nach sich zieht. Alle großen Gesten der Entblößung, die nicht unmittelbar reale Umstürze herbeiführen oder zumindest tiefgreifende Reformen initiieren, erstarren nun schnell zu theatralischen Posen oder verlaufen sich in kommunikativen Spielen. Von der machtvollen Welle der ersten Stunde bleibt kaum etwas zurück. Daraus folgt: Jede Propagierung ›tiefer‹ Latenzen besitzt ihre Konjunkturen und wohl auch ihre speziellen Arenen. So ist z.B. zwischen 1964 und 1975 die deutlich vernehmbare Rede von einer basalen Gewalt, die in Demokratien durch Polit-Inszenierungen bloß überdeckt werde, ein wichtiger Bestandteil der Gegenkultur, welche die Veränderung der Verhältnisse anstrebt.39 Wenn Enzensberger 1964 auf Freuds und Canettis Analysen archaischer Stammesgesellschaften zurückgreift, um Aussagen über aktuelle Zustände zu treffen, so ist das Signal unmissverständlich. Er will nicht nur andeuten, sondern dezidiert behaupten, dass es den modernen Demokratien nicht gelungen ist, durch politische Mittel das Band zu den frühen Stadien der Menschheitsentwicklung zu kappen: »Der ursprüngliche politische Akt fällt […], wenn wir Freud Gehör schenken wollen, mit dem ursprünglichen Verbrechen zusammen. Zwischen Mord und Politik besteht retiker, die eine ›soziale Tiefengrammatik‹ der Demokratie freizulegen versuchen, mit deren Hilfe Phänomene wie Emanzipation, kommunikative Rationalität bzw. Verständigung, Gerechtigkeit, Toleranz etc. als strukturdeterminierende Kräfte ausgezeichnet werden können. Man geht hier davon aus, dass die in der Sprache als solcher liegenden Vernunftpotenziale und die basalen Vorstellungen von Gerechtigkeit historische Lernprozesse steuern und letztlich einen entscheidenden Einfluss auf politische Institutionen ausüben; vgl. u.a. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt a.M. 1981; Hans-Otto Apel: Transformation der Philosophie II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft, Frankfurt a.M. 1982; Klaus Günther: Der Sinn für Angemessenheit, Frankfurt a.M. 1988. – Mit dem Habermas-Schüler Bernhard Peters kann man feststellen, dass solche Theorien »latenten Strukturen […] eine gewisse, einzelne Argumentationen unbewußt dirigierende Funktion« zuschreiben und dementsprechend z.B. »die Existenz impliziter« Gerechtigkeitsideen nachzuweisen suchen (Die Integration moderner Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1993, S. 256). 38. Niklas Luhmann: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984, S. 465. 39. Aber nicht nur die »Linke« kultiviert – wie Jürgen Habermas feststellt – »die Aura einer im Kern irrationalen, alles übrige überwältigenden Gewalt«, auch innerhalb der »liberalen Tradition« ist es üblich, die »Staatsgewalt auf einen autochtonen, vom Recht unberührten, ›barbarischen‹ Ursprung: auf die Fähigkeit zur physischen Überwältigung« zurückzuführen (Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a.M. 1996, S. 378). Zur historischen Situierung vgl. auch Gisela Diewald-Kerkmann: »Gewalt als Grenzphänomen von Herrschaftsrepräsentation – exemplarisch dargestellt an Gewalthandlungen der 1960er und 1970er Jahre«, in: Jan Andreas u.a. (Hg.), Die Sinnlichkeit der Macht, Frankfurt/New York 2005, S. 213-230.

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ein alter, enger und dunkler Zusammenhang. Er ist in der Grundstruktur aller bisherigen Herrschaft aufbewahrt. Sie wird von demjenigen ausgeübt, der die Beherrschten töten lassen kann. Der Machthaber ist ›der Überlebende‹ (Canetti).«40

Nach dieser lakonischen Bemerkung bringt Enzensberger – gleichsam beiläufig, aber in Anknüpfung an Adornos berühmt gewordenen Ausdruck »Verblendungszusammenhang«41 – das Latenzproblem ins Spiel: »Im übrigen liegt die Grundstruktur der Herrschaft nicht zutage, sie ist verdeckt.«42 Nicht zufällig wird hier der Begriff »Herrschaft« benutzt, der im Diskurs der deutschen politischen Soziologie seit Max Webers musterhafter Definition (im Unterschied zur umgangssprachlichen Bedeutung) die Ausübung legitimer, also von den Gefolgsleuten freiwillig anerkannter Macht meint. Auch und gerade ein solches, nicht durch Zwangsmittel den Betroffenen abgerungenes Einverständnis, das insinuiert Enzensbergers Text, beruht in letzter Instanz auf der Macht zu töten. 43 Der ›mittlere‹ Foucault (ca. 1973-1976), der als Protokollant der Disziplinarmacht fungiert 44, und neuerdings Agamben, der das Lager zum Paradigma der Moderne erklärt, sagen im Kern nichts anderes und wiederholen, ohne Enzensbergers Essay zu kennen oder zu erwähnen, nur die Behauptung, dass diese gewaltsame Grundstruktur vor den ›gewöhnlichen Sterblichen‹ verborgen wird. Damit schließen sie an die radikalsten Thesen der Dialektik der Auf klärung45 an und sprechen ohne Umschweife aus, was der »Verblendungszusammenhang« all denen, die sich bewusstlos in ihm aufhalten, unkenntlich macht. Horkheimers und Adornos Thesen sind freilich nicht allein wegen ihrer Schärfe, sondern auch wegen der begrifflichen Manöver, die sie verwenden, aufschlussreich. Beide Autoren arbeiten in ihrer Diagnose der »verwalteten Welt« 40. H. M. Enzensberger: Politik und Verbrechen, S. 13. Siehe Elias Canetti: Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 259ff. Vgl. auch die berühmte These von Ernest Renan: »Die Geschichtsforschung bringt […] die gewaltsamen Vorgänge ans Licht, die sich am Ursprung aller [!] politischen Institutionen, selbst jener mit den wohltätigsten Folgen, ereignet haben. Die Vereinigung vollzieht sich immer auf die brutalste Weise« (Was ist eine Nation? Rede am 11. 3. 1882 an der Sorbonne, Hamburg 1996, S. 14). 41. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung (1947), Frankfurt a.M. 1969, S. 48. 42. H. M. Enzensberger: Politik und Verbrechen, S. 14. 43. Die Strategie der Studentenbewegung und vieler linker Gruppierungen bestand deshalb in dem Versuch, die staatlichen Instanzen zur Dauerpräsentation ihrer Gewaltressourcen und bei Gelegenheit auch zur offenen Anwendung von Gewalt zu provozieren. 44. Der ›späte‹ Foucault hat mit seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität (1977-1979) und zur Hermeneutik des Subjekts (1981/1982) diese Position dann stark relativiert. 45. Dieser paradigmatische Text von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno kam 1947 in Amsterdam bei Querido heraus, wurde dann in den 1960er Jahren massenhaft als Raubdruck vertrieben und erschien erst 1969 bei Fischer (also nicht bei Adornos Hausverlag Suhrkamp) in zweiter Aufl age, die mit einem kurzen, um Distanz zum Text bemühten Kommentar der Autoren (»Zur Neuausgabe«) versehen war.

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mit all den Metaphern (das Unterirdische, das Verborgene, die Nachtseite sowie das ›Ans-Licht-Treten‹, das Manifeste, das Offizielle), die für den Latenzdiskurs charakteristisch sind. Eine einschlägige Passage mag dies belegen: »Unter der bekannten Geschichte Europas läuft eine unterirdische. Sie besteht im Schicksal der durch Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften. Von der faschistischen Gegenwart aus, in der das Verborgene ans Licht tritt, erscheint auch die manifeste Geschichte in ihrem Zusammenhang mit jener Nachtseite, die in der offiziellen Legende der Nationalstaaten und nicht weniger in ihrer progressiven Kritik übergangen wird.«46

Ambitionierte Entlarvungsprojekte dieses Kalibers zeigen in den späten siebziger und in den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts deutliche Spuren der Ermattung. Das betrifft in erster Linie die Darstellung, Erklärung und Kritik von Gewalt als Ferment der Demokratie. Aber auch der Paradoxie-Diskurs, der ohnehin fast nur im akademischen Milieu Fuß fassen konnte und dort zuweilen auch eine große Anhängerschaft fand, verlor seine diagnostische Schärfe. Die dekonstruktivistischen und systemtheoretischen Beiträge zum Problem paradoxer Grund-Verhältnisse47, die sich nicht allein im Bereich des Politischen 48, sondern auch auf dem Felde des Erkennens, der sprachlichen Artikulation und des intentionalen Handelns auffinden lassen 49, führten zu einer Überdehnung und Banalisierung des Paradoxiebegriffs. Die Folgen ließen sich an diskursiven Praktiken zahlreicher Texte studieren: Das Paradoxe wurde zum Gemeinplatz. Unter diesen schwierigen Bedingungen konnte es nur auf zweifache Weise neue gesellschaftstheoretische Bedeutung erhalten: Zum einen durch eine kraftvolle Geste der Dramatisierung und Radikalisierung, zum an46. M. Horkheimer/Th. W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, S. 246 (KursivSetzung von mir, L.E.). 47. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie (1967), Frankfurt a.M. 1984; Ders.: Randgänge der Philosophie (1972), Wien 1988; N. Luhmann: Soziale Systeme, S. 399ff.; Ders.: »Tautologie und Paradoxie in der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften«, in: Zeitschrift für Soziologie 16 (1987), S. 161-174; Ders.: »Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfaltung«, in: Ders.: Soziologische Aufklärung 6, Opladen 1995, S. 229-236. 48. Hier ist die Verwendung des Paradoxie-Begriffs förmlich zu einer Mode geworden: Saskia Sassens Buch Territory, Authority, Rights. From Medieval to Global Assemblages (Princeton 2006) wendet sich gegen die notorische Polarisierung von Nationalstaat und Globalisierungsprozess und bringt die Hinwendung zum Globalen mit innerstaatlichen Bedingungen und Kompetenzen in Zusammenhang. Die Übersetzung des Textes lautet paradoxerweise: Das Paradox des Nationalen, Frankfurt a.M. 2008. 49. Vgl. Lutz Ellrich: »Semantik und Paradoxie«, in: Hendrik Birus (Hg.), Germanistik und Komparatistik, Stuttgart 1995, S. 378-398. Ergiebig sind in diesem Zusammenhang auch die breit angelegten Studien zur tragischen Ironie des Wissens und Handelns bei Christoph Menke: Die Tragödie des Spiels, Frankfurt a.M. 2005; siehe ferner Paul Geyer/Roland Hagenbüchle (Hg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992.

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deren durch eine analytisch präzise und empirisch gehaltvolle Bestimmung des Begriffs. Für die erste Strategie sind Agambens Thesen über »das Paradox der Souveränität« als »Problem« einer die gesellschaftliche Ordnung »konstituierenden Gewalt« in »ihrem Verhältnis zur konstituierten Gewalt«50 exemplarisch, für die zweite Strategie eine Reihe von Versuchen im Umkreis von Axel Honneth51, mit denen die Leistungsfähigkeit der Kategorie für Analysen sozialer Umschlagsprozesse (z.B. von errungener Freiheit in kaum merklichen Zwang) getestet wird.52 Vergleichbare Ziele verfolgt Christoph Deutschmann, wenn er einen von semantischen Überdeterminationen entschlackten Paradoxiebegriff auf Akteure bezieht, denen die folgenreiche Selbstwidersprüchlichkeit des eigenen Handelns verborgen bleibt. Und auch die Verwendung des Paradoxiebegriffs in den Arbeiten von Luc Boltanski und Eve Chiapello richtet sich nach den Kriterien terminologischer Prägnanz und baut energisch den metaphorischen Ballast ab, den die Kategorie gewöhnlich mit sich führt.53 Beide Strategien – die konzeptionelle Radikalisierung und die empirische Operationalisierung der Paradoxiefigur – sind Antworten auf den unbestreitbaren Faszinationsverlust von Enthüllungen, die sich auf die ›tiefen‹ Latenzen der Politik erstrecken. Noch stärker kommt die Krise der ›Tiefenoptik‹ politischer Analysen freilich im veränderten Umgang mit dem Gewaltthema zur Geltung. Ein Indiz dafür liefert (zumindest im Rahmen gesellschaftstheoretischer Diskurse) die tendenzielle Ersetzung des Begriffs der unmittelbaren körperlichen Gewalt, mit dem jede souveräne Macht in Gestalt von Todesdrohungen hantiert, durch Konzepte einer unsichtbaren strukturellen Gewalt54

50. G. Agamben: Homo sacer, S. 50; vgl. hierzu die Analyse von William Rasch: Konflikt als Beruf. Die Grenze des Politischen, Berlin 2005, S. 86ff.; auf die Rolle des Paradoxiebegriffs innerhalb von Diskursen, die die Epiphanie des Politischen beschwören, komme ich in Abschnitt 5.5 noch zu sprechen. 51. Axel Honneth (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt/New York 2002; Martin Hartmann: »Paradoxien des ›neuen‹ Kapitalismus«, in: Anna Geis/David Strecker (Hg.), Blockaden staatlicher Politik, Frankfurt/New York 2005, S. 199-212. 52. Das Theorie-Design ist zwar noch nicht völlig ausgereift, aber hinreichend scharf umrissen, um seinen heuristischen Wert beurteilen zu können; vgl. z.B. die Rezension von Frank Adloff, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1/56 (2004), S. 182-184. 53. Auf die wirtschaftssoziologischen Arbeiten von Boltanski/Chiapello und Deutschmann komme ich zurück. 54. Vgl. Johan Galtung: Strukturelle Gewalt. Beiträge zur Friedens- und Konfliktforschung, Reinbek 1975. Auch Steven Lukes’ berühmtes Buch über latente Interessenkonflikte, in denen eine unbewusste und nicht sichtbare Macht zur Geltung gelangt, gehört in diesen Zusammenhang: Power: A Radical View, Basingstoke/ London 1974; siehe ferner die Diskussionen über den so genannten »Bericht der Gewaltkommission« in: Peter-Alexis Albrecht/Otto Backes (Hg.), Verdeckte Gewalt, Frankfurt a.M. 1990.

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oder einer verschleierten symbolischen Gewalt55. Während die Vorstellung von Gewalt auf diese Weise ausgedehnt und damit zugleich verdünnt wurde, erfuhr die Latenz, in deren undurchdringlichen Nebel sich die Gewalt angeblich zurückgezogen hatte, eine enorme Bedeutungssteigerung. Sie galt jetzt nicht mehr allein als Eigenschaft einer prägenden Tiefenschicht des gesellschaftlichen und individuellen Lebens, sondern erschien auch wie ein bewegliches, gespenstisches Medium, das den Menschen fast unmerklich und »förmlich im geheimen immer mehr an den Leib rückt[e].«56 Offenbar verband sich mit dieser Forschungs- und Analysestrategie die Hoffnung, dass jeder Akt der Aufklärung über eine Gewalt, die sich dort verbirgt, wo sie niemand erwarten würde (nämlich in Strukturen und Symbolwelten), schockartige Reaktionen bei den Betroffenen auslösen und so die üblichen Effekte der Aufklärung in den Schatten stellen würde. Genau das aber trat nicht ein. Vielmehr war eine zusätzliche Schwächung des engagierten Gewaltdiskurses die Folge. Man musste sich mit dem Gedanken vertraut machen, dass die Aufklärung über die auch in demokratischen Gesellschaften vorhandene Gewalt – in welcher Form und Verkleidung sie auch immer erscheinen mochte – bereits ganze Arbeit geleistet und dennoch keine handfesten Ergebnisse gebracht hatte. Basale Gewalt ließ sich kaum noch als ein großes Geheimnis deklarieren, über das nur hinter vorgehaltener Hand gesprochen werden konnte. Für Walter Benjamins berühmt-berüchtigte Klage, dass in der parlamentarischen Demokratie »das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit der Gewalt«57 geschwunden sei, bestand kein Anlass mehr. Diesen zweifelhaften Erfolg konnten die Aufklärer der 1960er und 1970er Jahre für sich verbuchen. Und dennoch blieben die erwarteten oder erwünschten Wirkungen der Enthüllungen aus. Eigentlich hätte die Manifestation einer im alltäglichen demokratischen Betrieb ›latententisierten‹ Kerngewalt das Fundament dieser politischen Form erschüttern und zur Umkehr bewegen müssen. Stattdessen war der Umstand, dass auch in Demokratien gewaltbasierte Macht ausgeübt wird, augenscheinlich ein trivialer Tatbestand geworden, der

55. Vgl. Pierre Bourdieu: Entwurf einer Theorie der Praxis (1972), Frankfurt a.M. 1976, S. 335ff.; Ders.: Sozialer Sinn (1980), Frankfurt a.M. 1987, S. 222ff. 56. Franz Kafka: Der Proceß. Roman in der Fassung der Handschrift (1914), Frankfurt a.M. 1990, S. 197. 57. Walter Benjamin: »Zur Kritik der Gewalt« (1920/21), in: Gesammelte Schriften Bd. II/1, Frankfurt a.M. 1980, S. 179-203, hier: S. 190. Benjamin verwendet an dieser missverständlichen Stelle einen undifferenzierten Gewaltbegriff. Gemeint sind freilich die »revolutionären Kräfte«, denen sich die junge Demokratie der Weimarer Republik verdankt. Mit seiner Kritik an der parlamentarischen Debatten- und Kompromisskultur, die eine »vermeintlich gewaltlose Behandlungsweise politischer Angelegenheiten« betreibt, will Benjamin auf Illusionen hinweisen, die letztlich nur jener schon für überwunden gehaltenen Gewalt des alten autoritären Regimes Tor und Tür öffnen. Die von ihm implizit (latent) getroffene Unterscheidung zwischen guter (revolutionärer) und schlechter (konterrevolutionärer) Gewalt vermag er aber in diesem frühen Text durch Rückgriff auf die Kategorie der »göttlichen Gewalt« nicht auszuweisen.

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nicht mehr verheimlicht oder als strenger Dienst an einer höheren Moral verklärt werden musste.58 Das Interesse an Latenzen und deren Enthüllung schwand damit allerdings nicht. Es wurde vielmehr im Kontext der rasanten Medienentwicklung neu formatiert. Und auch die Gewalt blieb als relevantes Thema auf der Agenda. Allerdings verwandelte sie sich in ein ubiquitäres Phänomen, das überall in den unterschiedlichsten Dosierungen und Erscheinungen Einzug hält: Es kann als ungeheures Potenzial aus dem Verborgenen hervorbrechen oder als alltägliche Rohheit im Dasein der normalen Bürger seinen ständigen Nistplatz finden. Es ist immer schon da und vermag sich jederzeit zu zeigen.59 Und genau dies führten die Medien ohne Unterlass vor: in Zeitungsberichten, Nachrichtensendungen, Dokumentationen, fi ktionalen Spielfilmen, Romanen, Internetseiten und Computerspielen. Durch solche medialen Präsentationsweisen wurde die Gewalt vervielfältigt und zerstreut. Jede gesellschaftskritische Beschwörung einer kompakten Ursprungsgewalt, die die soziale Ordnung als ganze stiftet, sich dann in die Latenz zurückzieht, um schließlich von diesem verborgenen Ort aus das Geschehen an der Oberfläche zu dirigieren, verlor ihre imaginative Überzeugungskraft. Aber mit der Figur der ›tiefen‹ politischen Latenz wurde nicht gleichzeitig auch der Akt des Enthüllens depotenziert oder gar verabschiedet. Vielmehr gewann er durch den Einsatz der modernen Massenmedien eine eigene Qualität. Er wurde zu einem Gestus transformiert, der über sakrale Eigenschaften verfügt. Denn es waren und sind die Massenmedien, die es sich unter den Bedingungen der Gegenwart zur Aufgabe gemacht haben, »das Verborgene und Verschlossene ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen«. Unablässig war und ist ihr Bestreben darauf gerichtet, die im Zerfall begriffene religiöse »Offenbarung durch die Enthüllung zu überbieten.«60 Auf diesen merkwürdigen Sachverhalt hat sich auch eine symbol- und systemtheoretisch versierte Soziologie der Politik, wie sie Helmut Willke vertritt, einzustellen versucht. Um auf gleiche Augenhöhe mit der kritischen Theorie der Gesellschaft zu gelangen, macht sie keinen Hehl aus dem politischen 58. Am Beispiel der Publikationen über die CIA-Folterschulungen in Latein- und Mittelamerika kann man sich diese Form der ›Abgeklärtheit‹ vor Augen führen. Vgl. hierzu Susanne Krasmann: »Folter im Ausnahmezustand?«, in: Dies./Jürgen Martschukat (Hg.), Rationalitäten der Gewalt. Staatliche Neuordnungen vom 19. bis zum 21. Jahrhundert, Bielefeld 2007, S. 75-96. 59. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Paradigmenwechsel der Gewalttheorie, der dazu führte, dass die ›traditionelle‹ an Erklärungen und Herleitungen interessierte Analyse von einer phänomenologisch arbeitenden Konzeption abgelöst wurde. Vgl. hierzu insbesondere Wolfgang Sofsky: Traktat über die Gewalt, Frankfurt a.M. 1996, sowie Brigitta Nedelmann: »Gewaltsoziologie am Scheideweg. Die Auseinandersetzung in der gegenwärtigen und die Wege der künftigen Gewaltforschung«, in: Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt, Opladen 1997, S. 59-85. 60. Boris Groys: »Medium Religion«, in: Lettre International 75, Winter 2006, S. 29-30, hier: S. 30.

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Grundproblem, das dort im Zentrum steht: »Die fundierende Willkür lässt sich nicht endgültig aus dem System vertreiben. In irgendeiner Falte des Systems taucht sie auf und pocht darauf, dass Sicherheit und Wahrheit Illusionen einer magischen Welt bleiben.«61 Gleichwohl ist »die politische Klasse«62 und ihr Publikum inzwischen derart aufgeklärt, dass die Funktion dieser magischen Seite heute nicht mehr verborgen werden muss: »Die Symbolik politischer Macht kann und will ihre Herkunft von Mythos und Magie nicht verleugnen. Im Gegenteil: Selbst noch die politischen Systeme der modernsten und rationalsten Gesellschaften inszenieren sich selbst im Stil magischer Feste. An die Stelle des Totems tritt die Riesenprojektionsleinwand, an die Stelle des magischen Zaubers die märchenhafte Transformation von Trivialitäten in medial exaltierte Ereignisse.«63

Auf Seiten der ›politischen Klasse‹ und der Programmmacher rechnet man damit, dass das Publikum die Metamorphosen der Magie erkennt und sich dennoch auf die Spektakel-Welt der Massenmedien einlässt, weil es so vor dem Blick in die ›Tiefe‹ bewahrt wird. »All dies macht dem Publikum eine Politik nachvollziehbar, die ihre vordergründige Symbolik medialer Magie benötigt, um die hintergründige Symbolik des Machtmediums davor zu bewahren, an den harten Grenzen der Verarbeitungsfähigkeit des Bewusstseins zu scheitern.«64 Man kann diese Konstruktion, mit der sich die Theorie in die Lage versetzt, etwas zu erkennen und auszuhalten, was dem Publikum demokratischer Politik nur in Gestalt des notorischen ›Politainments‹ zugemutet werden kann, aber auch in die Sprache einer Geschichtswissenschaft übersetzen, die auf die gedeihliche Verbindung von Realismus und Vernunftmoral setzt. Der Vorteil einer solchen Kombination bestünde darin, das Transparenz-Ideal durch die folgende Maxime zu ersetzen: »Jede Ausübung von Macht«, die durch monopolisierte Gewalt gedeckt ist, »sollte in der Demokratie von einem leichten Gefühl des schlechten Gewissens begleitet sein.«65 61. Helmut Willke: Symbolische Systeme. Grundriss einer soziologischen Theorie, Weilerswist 2005, S. 304. 62. Vgl. Klaus von Beyme: Die politische Klasse im Parteienstaat, Frankfurt a.M. 1993. 63. H. Willke: Symbolische Systeme, S. 312f. 64. Ebd., S. 313. Was aber heißt hier »nachvollziehbar« für das Publikum? Sollte es sich bei diesem ›Nachvollzug‹ um einen Bewusstseinsakt der Rezipienten handeln, so wäre das funktionalistische Argument, das auf die Grenzen der »Verarbeitungsfähigkeit des Bewusstseins« normaler Bürger pocht, hinfällig. Denn die Bürger würden durch den Nachvollzug einer politischen Strategie genau das einsehen und legitimieren, vor dessen Kenntnis sie ja gerade bewahrt werden sollen. 65. Siehe Wolfgang Lepenies: Kultur und Politik, München 2006, S. 363. Hinter dieser Empfehlung steht Reinhold Niebuhrs Einsicht: »Aus überheblicher Tugend wird Laster; Stärke, die sich überschätzt, wird Schwäche, und ein Übermaß an Sicherheitsmaßnahmen verschärft das allgemeine Gefühl der Unsicherheit« (zitiert ebd., S. 362).

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Das wohldosierte Unbehagen, von dem hier die Rede ist, lässt sich als wichtiger Bestandteil einer politischen Kultur auffassen, die aus vielerlei Gründen auf Kritik und Aufklärung nicht verzichten will, aber zugleich auch gegen fundamentale Erschütterungen und Umwälzungen gefeit sein möchte. An Entlarvungsprojekte, die den Sachen unerbittlich auf den Grund gehen, hat sich diese Kultur mit Hilfe der Fiktionalisierungspotenziale ihrer Medien inzwischen gewöhnt66 oder wirksame Strategien entwickelt, den verbliebenen Restposten an unerträglichem Wissen über das Mögliche und Machbare in diskursive Nischen des pathologischen Sektierertums67 oder des hochspezialisierten Wissenschaftsbetriebs68 abzudrängen. Womit sich diese Kultur weiterhin konfrontiert, impft und auf moderate Weise im Zustande eines durchaus unterhaltsamen Daueralarms hält, ist der neugierige Umgang mit Latenzen, die mit Fug und Recht ›flach‹ genannt werden können. Die medialen Praktiken, welche nun das kulturelle Feld beherrschen, lassen sich im Hinblick auf die jeweils freigelegten Latenzen grob in vier Kategorien unterteilen. Das publikumsgefällige Geschäft des Aufdeckens und Entblößens bezieht sich: 1. auf die (nur dem Prinzip nach vor Einblicken geschützte) Sphäre des privaten und intimen Verhaltens von Personen des ›öffentlichen Lebens‹, das entweder den geltenden Vorstellungen über Normalität nicht entspricht oder (und das ist häufiger der Fall) dem zugeschriebenen Vorbildcharakter dieser Personengruppe nicht angemessen ist.69 Für hochrangige Politiker oder religiöse Würdenträger ist es daher weit folgenreicher als für Durchschnittsmenschen, wenn sie ›perverse‹ Sexualpraktiken pflegen oder aufgrund psychischer Probleme Klienten eines Psychoanalytikers oder Psychotherapeuten waren bzw. sind und dies publik wird. 2. auf Verfehlungen wie etwa Vorteilsnahme, Korruption, Lüge, Ämterschacher, Nepotismus, die sich nur zum Teil auf den Charakter einer Person zurückführen lassen, sondern zumeist durch herrschende Strukturen der Rekrutierung von Personal sowie organisationsinterne Logiken des Informationsflusses, der Entscheidungsfindung, der Abwicklung von Geschäftsvorgängen etc. begünstigt werden70 bzw. als normal gelten und

66. Insbesondere das Medium Film pflegt die Kultur der Latenz durch die ausgiebige Beschwörung und Entlarvung politischer Geheimnisse. 67. Hier können sich paranoische und apokalyptische Geister austoben; vgl. oben Kapitel 4.0. 68. Und hier lässt sich unbeschwert von politischem Handlungs- und Entscheidungsdruck Grundlagenforschung betreiben über Klimakatastrophen, Schadstoffe in Lebensmitteln, Rinderwahnsinn, Grippewellen, demographische Krisen, Genmanipulationen, Rohstoffengpässe, Migrationsprobleme und viele andere latente Gefahren. 69. Siehe als ein besonders bizarres Beispiel Ambrose Evans-Pritchard: The Secret Life of Bill Clinton: The Unreported Stories, Washington, DC 1997. 70. Vgl. John Girling: Corruption, Capitalism and Democracy, London/New York 1997; Donatella Della Porta/Yves Mény (Hg.), Democracy and Corruption in Europe,

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besonders leicht innerhalb von Klüngel-Strukturen71 oder so genannten ›Amigo‹-Verhältnissen auftreten können72; 3. auf institutionelle Zwänge (z.B. Vorgaben der ›Realpolitik‹), die verantwortliche Personen oft aus Gewöhnung, Gedankenlosigkeit, Feigheit etc. ignorieren und nur durch aktive Gegenstrategien und erhebliche Aufwendungen an Ressourcen zu neutralisieren vermögen; 4. auf interessengeleitete Formen der selektiven Wahrnehmung und/oder der medialen Repräsentation, die ebenfalls nur durch großes Engagement einzelner Akteure zu durchbrechen sind. Auf der Folie dieser Differenzierung lässt sich der medial präsentierte Skandal als zentrale Form des Umgangs mit ›flachen‹ Latenzen bezeichnen. Die Erzeugung, Darbietung und Beurteilung des Skandalösen unterliegt allerdings einem dauernden historischen Wandel, der durch diverse soziale und technische Ursachen ausgelöst und durch deren komplexe Wechselwirkung bestimmt wird. So hat sich die mediale Kultur der Enthüllung des Verborgenen und Geheimen seit den Tagen des Watergate-Skandals, den bekanntlich unerschrockene und emsige Journalisten ans Licht brachten73, erheblich verändert. Als hauptsächliche Ursachen für diesen Wandel lassen sich zwei Faktoren anführen: erstens die Gewöhnung an die Fähigkeit des Kinos und des Fernsehens, einen Blick hinter die Kulissen bzw. in die Intimsphäre menschlicher Interaktionen zu gewähren74, und zweitens die zunehmende Verknüpfung der medienbasierten Skandalkommunikation mit den neuen Techniken des Aufmerksamkeits- und Eventmanagements. Medien greifen nicht mehr nur skandalöse Ereignisse in den Bereichen Politik, Militär, Wirtschaft, Sport, Schule und Gesundheitssystem75 auf und bringen sie gleichsam nachträglich an die Öffentlichkeit, sondern übernehmen selbst eine aktive Rolle im Prozess der Skandalgenerierung oder -produktion. Schon in der (von soziologischen Fachleuten) so genannten »Latenzphase« des Skandalgeschehens richten die London/Washington 1997; Michael Johnston/Arnold J. Heidenheimer: Political corruption: concepts & contexts, New Brunswick, NJ 2002. 71. Vgl. hierzu Erwin K. Scheuch (zusammen mit Ute Scheuch): Cliquen, Klüngel und Karrieren: Über den Verfall der politischen Parteien, Reinbek 1992. 72. Derartige Enthüllungen können selbstverständlich nicht allein ›hochgestellte‹ Persönlichkeiten aus dem Bereich der Politik treffen, sondern auch Akteure aus Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Showbusiness etc. Berühmte Künstler genießen hingegen oft einen Sonderstatus, der erweiterte Handlungsspielräume und spezielle Denunziationskriterien impliziert. 73. Die Verfilmung des Falles durch Alan J. Pakula (All the President’s Men von 1976) mit den Stars Robert Redford und Dustin Hoffman hat die engagierten Reporter zu unbestechlichen Helden ›hochstilisiert‹. 74. Vgl. hierzu die klassische Studie von Joshua Meyrowitz: No Sense of Place, New York/Oxford 1985. 75. Ein besonders latenz-affines Beispiel liefert Beate Lahotta: »Wie deutsche Ärzte im Verborgenen Sterbehilfe leisten«, in: DER SPIEGEL vom 24. 11. 2008, S. 164-170.

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Medien ihre Suchscheinwerfer auf potenzielle »Schlüsselereignisse«, die sich als ›Trigger‹ für die Inszenierung einer zunächst verborgenen und schließlich für alle sichtbaren Verfehlung eignen.76 »Während sich der klassische Skandal durch einen Skandalisierer, ein Skandalmedium und einen Skandalisierten zusammensetzt, übernimmt beim modernen Skandal das Skandalmedium auch die Rolle des Skandalisierers. Seit den 1980er Jahren hat sich auf der Basis dieses intermedialen Aufmerksamkeitswettbewerbs eine effizientere, empörungsbewirtschaftende Expertenkultur der Skandalisierung ausdifferenziert, die medienexterne Skandalisierer und damit eine zentrale Funktion nicht-etablierter politischer Akteure professionalisiert.«77

Der nicht abreißende Strom der medial inszenierten Skandale, die zumeist folgenlos bleiben oder allenfalls zur Umbesetzung von Funktionsrollen bzw. zum Austausch von Personen in leitenden Stellungen, aber nicht zu strukturellen Veränderungen führen, wird jetzt zum ›eigentlichen‹ Skandal. Aber auch dieser schlägt nur dann hohe Wellen der Erregung, wenn z.B. entfesselte Paparazzi zu Jägern mutieren, die ihre Beute buchstäblich zur Strecke bringen und anschließend daraus auch noch publizistisches Kapital schlagen (wie im Falle von Lady Diana). Mediale Praktiken entpuppen sich unter solchen Extrem-Bedingungen als eben der Skandal, den sie anprangern.78 Ankläger und Angeklagte, Beobachter und Beobachtete werden sich zum Verwechseln ähnlich. Beide Formen der Skandalisierung – die mediale Enthüllung skandalöser Sachverhalte und die skandalöse Vorgehensweise der Medien79 – sind freilich nur mit ›flachen‹ Latenzen befasst und erfüllen letztlich die gleiche (aus soziologischer Warte erkennbare) latente Funktion: Sie geben nämlich 76. Vgl. Steffen Burkhardt: Medienskandale. Zur moralischen Sprengkraft öffentlicher Diskurse, Köln 2006 (zum Begriff der »Latenzphase«, siehe ebd., S. 184ff.); Andreas Ziemann: Soziologie der Medien, Bielefeld 2006 (siehe insbes. den Abschnitt: »Massenmedien und Moral«, ebd., S. 72-85); Alan Bisbort: Media Scandals, Greenwood 2008. 77. Kurt Imhof: Medien und Öffentlichkeit, in: Michael Jäckel (Hg.), Mediensoziologie. Grundfragen und Forschungsfelder, Wiesbaden 2005, S. 273-293, hier: S. 286f. Zur Struktur des ›klassischen‹ Skandals vgl. Rolf Ebbinghaus/Sighard Neckel (Hg.), Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt a.M. 1989; Karl Otto Hondrich: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt a.M. 2002. 78. Dieser Vorgang ist keineswegs ein Effekt spätmoderner Medienpraktiken, sondern lässt sich bereits Anfang des 20. Jahrhunderts beobachten. Karl Kraus diagnostizierte ihn anhand der notorischen Berichterstattung über Prostituierte und Kriminelle. Im Gegenzug unterwarfen seine sprachgewaltigen Fackel-Texte die »schwarze Magie« des Zeitungswesens einem gnadenlosen Exorzismus (vgl. Karl Kraus: Der Untergang der Welt durch schwarze Magie, Wien 1922). 79. Vgl. Günter Wallraff: Der Aufmacher – Der Mann, der bei »Bild« Hans Esser war, Köln 1977; Burkhard Müller-Ulrich: Medienmärchen. Gesinnungstäter im Journalismus, München 1996.

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Anlass zu einer überwiegend unverbindlichen und kurzfristigen Moralisierung bzw. Personalisierung hochkomplexer gesellschaftlicher Fehlentwicklungen.80 In einer historischen Phase der normativen Desorientierung und des Verfalls allgemein gültiger Werte bieten die Medien konkrete Stoffe und Szenarien an, bei denen die Entscheidungen zwischen ›gut‹ und ›böse‹, ›gesund‹ und ›pervers‹, ›seriös‹ und ›verwerflich‹, ›anständig‹ und ›verachtenswert‹ – anders als in der unübersichtlich gewordenen Wirklichkeit – noch einmal leicht fallen und wenigsten kurzfristig den Genuss verschaffen, auf der richtigen Seite zu stehen.81 Zu den wichtigsten Charakteristika ›flacher‹ Latenzen gehört, dass ihre Aufdeckung bei den meisten Rezipienten, die sich für informiert und reflexionsfähig halten, zwar oft Empörung, aber nur gelegentlich Erstaunen auslöst. Man fühlt sich in seiner Einstellung zum Lauf der Dinge eher bestätigt als irritiert. Die Medien präsentieren unbekannte Details und nähere Umstände, und sie gewähren mitunter durch Bild- und Zitatmaterial ungewohnt scharfe Einblicke. Doch die freigelegten Sachverhalte – egal, ob es sich um handfeste Beweise82 oder nur um vage Indizien83 handelt – bergen selten erhebliches Verstörungspotenzial oder gar Anlass, das eigene Leben zu ändern und sich z.B. politisch unmittelbar und vehement zu engagieren. Dies gilt auch für die im Folgenden herangezogenen drei Zeitungsartikel, mit denen ich den Begriff der ›flachen‹ politischen Latenz exemplarisch veranschaulichen und verschiedene Methoden ihrer Aufdeckung erläutern möchte.84 Ziel der Texte ist es 1. die Realpolitik hinter den rhetorischen Fassaden der ›rotgrünen‹ Koalition, 2. die rigorose amerikanische Militärzensur im Kontext des Irak-Krieges und 3. die parteiische Haltung des Internationalen Strafge-

80. Vgl. A. Ziemann: Soziologie der Medien, S. 72ff. Zu Recht spricht Ziemann von einer gleichzeitigen »Infl ationierung« und »Defl ationierung« der medial produzierten Moralkommunikation (ebd., S. 79, 84). 81. Vgl. Lutz Ellrich: »Das Gute, das Böse, der Sex«, in: Friedrich Balke/Urs Stäheli (Hg.), Big Brother Beobachtungen, Bielefeld 2002, S. 378-398; Ders.: »Semantische Fallen. Notizen über gut und böse«, in: Gedankensprünge – Schriftfolgen. Festschrift für Wolfgang Orlich, Freiburg 2006, S. 109-118. 82. Als ein längst vergessenes Beispiel dafür lässt sich Günter Wallraffs Buch Aufdeckung einer Verschwörung. Die Spinola-Aktion (Köln 1976) anführen. Beispiele jüngeren Datums liefern die in den Medien öffentlich gemachten Beweise, dass es für irakische Massenvernichtungswaffen, die den 3. Golfkrieg legitimieren sollten, eben keine Beweise gab. 83. Vgl. die Meldung des amerikanischen Nachrichtenmagazins NEWSWEEK, Präsident Bill Clinton habe erlaubt oder befohlen, dass CIA-Agenten sich in Computer ausländischer Banken hacken, um Konten von Slobodan Milosevic zu löschen (Gregory L. Vistica: »Cyberwar and Sabotage«, in: NEWSWEEK vom 31. 5. 1999, S. 22). 84. Eine von mir anhand der drei Artikel durchgeführte Befragung unter StudentInnen und SchülerInnen führte zu dem Ergebnis, dass kognitive ›Coolness‹ (man weiß es ohnehin, kann es sich vorstellen oder erwartet gar nichts anderes) mit moralischen Bekundungen (»Sauerei«, »ungerecht«, »feige«) einhergehen kann.

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richtshofes für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen: (1) In einem ZEIT-Artikel greift Matthias Nass eine »Enthüllung« auf, mit der die NEW YORK TIMES dem amerikanischen Publikum Einblick in die tatsächliche Politik des Schröder/Fischer-Tandems zu geben suchte. Die deutsche Regierung habe, so heißt es dort, medienöffentlich vor der Invasion in den Irak gewarnt, »insgeheim aber den amerikanischen Streitkräften« geholfen, »den Krieg zu führen.« Nass spricht in seinem Kommentar nicht etwa polemisch von der deutschen Heuchelei, sondern in bewusst ernsthaftem Ton von »dem schmalen Grat«, der »Ideal- und Realpolitik« trennt. Ohne zum Stilmittel der Ironie oder des Sarkasmus zu greifen, klärt er seine Leserschaft darüber auf, wie rasch sich »Eigenständigkeit in Isolation« und »Staatsräson« in »Komplizenschaft« verwandeln können, und gelangt schließlich zu dem (im Untertitel bereits vorweggenommenen) Fazit, dass Schröder und Fischer »zwischen Friedens- und Machtpolitik die Balance verloren« hätten.85 Nass hegt – wie es scheint – in erster Linie gar nicht die Absicht, eine heftige moralische Entrüstung bei seinen Adressaten auszulösen, er begnügt sich damit, deren Sinn für die schwierigen und kaum zu umgehenden Klippen des Regierungsgeschäfts zu schärfen. Der leichte Ekel vor den geheuchelten Bekundungen Schröders und Fischers, auf dessen Stimulation es der Artikel durchaus abgesehen hat, wird so in den Rahmen einer tragischen Weltsicht eingefügt, die der liberalen Stammleserschaft der ZEIT auch weit mehr entspricht als flammende Empörung über das wohlfeile Theater der Politik. (2) In einem NYT-Artikel mit dem Titel »4,000 American Deaths, but Only a Few Images« verdeutlichen Michael Kamber und Tim Arango durch ihren quantitativen Vergleich zwischen realen Ereignissen und medialen Repräsentationen die Effekte der längst bekannten und viel diskutierten amerikanischen Militärzensur während des 3. Golfkriegs und der noch andauernden Besetzung irakischer Gebiete. Zwei mit Erläuterungen versehene Photografien sind dem Artikel zu Illustrationszwecken beigegeben: »An Iraqui girl seen after her parents were killed by American gunfire in Tal Afar in 2005« und »An American soldier shot dead in a house used by insurgents in Falluja in 2004«. Die einprägsamen, nicht zufällig gewählten Bilder bedürfen keiner weiteren Explikation. Nur ein lakonisch formulierter Satz liefert die nötige, wenn auch fast überflüssige Auskunft: »Both photographers were barred from working with their U.S. military units.«86 Um eine Information im strengen Sinne kann es sich dabei nicht handeln; denn die Mitteilung löst keinerlei Überraschung aus. Und dem im Text enthaltenen Zitat eines betroffenen Journalisten: »It is absolutely 85. Matthias Nass: Fluch der guten Tat, in: DIE ZEIT vom 2. 3. 2006, S. 20. Vgl. auch John Goetz/Marcel Rosenbach/Holger Stark: »Geheimdienste: ›Die Deutschen sind Helden‹«, in: DER SPIEGEL vom 15. 12. 2008, S. 22-27. 86. THE NEW YORK TIMES vom 4. 8. 2008 (zitiert nach der Beilage der SZ vom 4. 8. 2008, S. 3).

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censorship. […] I don’t see a clearer definition of censorship«, wird man wohl kaum widersprechen, sondern nur bemerken, dass die Macht der Zensur offenbar nicht ausreicht, um ihre (eben hier publizierte) öffentliche Definition unter Rekurs auf das erforderliche Beweismaterial zu unterbinden. (3) In einem Artikel, den die österreichische Tageszeitung DER STANDARD unter der Rubrik »Kommentar der Anderen« auf der vorletzten Seite des Blattes abdruckte, kommt der Politikwissenschaftler Walter Manoschek zu Wort. Sein Text stellt eine einfache Frage: »Verbrechen, mit zweierlei Maß gemessen?«87 Aus Anlass der Verhaftung von Radovan Karadzic weist der Gastkommentator auf das unterschiedliche Interesse westlicher Medien an den Massakern auf bosnischer und serbischer Seite hin. Der medialen Präferenz für Schuldzuweisungen, die den serbischen Einheiten gelten88, korrespondiert, wie leicht zu belegen ist, die eindeutig parteiische Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofes in Den Haag. Manoschek rollt einen exemplarischen Fall auf: Obschon Naser Oric als Kommandant der berüchtigten 28. bosnisch-muslimischen Division nachweislich für eine Reihe grausamer ›Säuberungsaktionen‹ in der Umgebung von Srebrenica Verantwortung trägt, wurde er bloß wegen »der Folterung und Ermordung von sieben Serben durch seine Untergebenen« angeklagt und nur »zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt«. Offenbar wollte das Gericht, so deutet Manoschek die Vorgänge, mit dieser Strategie vermeiden, dass ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen den Kriegsverbrechen, die Soldaten unter dem Kommando von Oric begangen haben, und den weithin bekannten Massakern von Srebrenica, die auf das Konto der serbischen Truppen unter Karadzic gehen. Manoschek appelliert unverblümt an die Gerechtigkeitsempfindungen seiner Leser: »Die Rehabilitierung von Naser Oric durch den ICTY« ist für ihn »nur ein weiterer Höhepunkt in diesem zynischen Spiel mit der traurigen und komplexen Geschichte Ex-Jugoslawiens.«89 Und auch die Schlüsse, die man bei aufmerksamer Lektüre aus seinen Darlegungen ziehen könnte, spricht er im letztes Satz des Textes offen aus: »Es ist zu befürchten, dass sich auch der Prozess gegen Karadzic in diese politisch tendenziöse Liste einfügen wird.« Damit gibt Manoschek zu erkennen, welch geringe Hoff87. Walter Manoschek: Verbrechen mit zweierlei Maß gemessen?, in: DER STANDARD vom 30. 7. 2008, S. 23. 88. Diese Position der westlichen, speziell österreichischen und deutschen Presse brachte den Schriftsteller Peter Handke derart in Rage, dass er nicht allein durch eine poetische Unschulds-Inszenierung serbischer Landschaften und Lebensformen, sondern auch durch pro-serbische Bekenntnisse und diverse Solidaritätsadressen politisch Stellung bezog. Handkes literarisches und praktisches Engagement (z.B. die Teilnahme am Begräbnis von Milosewic) hat dann weit mehr Interesse ausgelöst als der problematische Sachverhalt, auf den der Schriftsteller mit intellektuell allerdings reichlich bescheidenen Mitteln aufmerksam machen wollte. 89. Vgl. auch den ›halb-dokumentarischen‹ Spielfilm Storm (BRD 2009) von Hans-Christian Schmid.

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nung er in die Aufklärungsarbeit setzt, die er mit seinem Artikel verrichtet. Die rhetorischen und argumentativen Mittel, die zum Einsatz kommen, wollen Zorn über die unverkennbare »Instrumentalisierung des Rechts« erregen. Das ist kaum zu übersehen. Doch der Autor kennt nicht bloß das »zynische Spiel« der politischen Organe, sondern auch das ›moralische Medienspiel‹ mit der Aufdeckung latenter Missstände. Nachhaltigkeit der verkündeten Botschaften bleibt in diesem Spiel ein frommer Wunsch. Der große Zorn flackert nur auf, um rasch zu verrauchen. Diese Beispiele mögen genügen. Sie zeigen einerseits, welche Latenzsorten heute Aufmerksamkeit wecken, und liefern andererseits Indizien für den deutlich veränderten Stil im Umgang mit verborgenen Sachverhalten, die ans Licht der Öffentlichkeit gelangen sollen. Die Beschwörung politischer Tiefenstrukturen und Abgründe, so ließe sich der Befund zur These zuspitzen, hat ihre einstige Bedeutung verloren. Gängig sind nun Sondierungspraktiken, die in seichten Gefi lden ausgeübt werden, um moralische Larmoyanz und kurzatmige Aufgeregtheit zu erzeugen. Enthüllungsjournalismus und politische Theorie geben sich – sei es aus Resignation, sei es aus Kalkül und Quoteninstinkt – zunehmend mit kleinformatigen Aufklärungsprojekten zufrieden.90 90. Als ein Beispiel, das sich dieser Diagnose nicht recht oder nicht sogleich fügen will, könnte man die öffentliche und halböffentliche Reaktion auf die Wiederentdeckung des Falles Kurras deuten: Die ›Enttarnung‹ von Karl-Heinz Kurras, der am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg durch einen Schuss in den Hinterkopf tötete, als Stasi-Mitglied löste eine Welle erregter und fantasievoller Kommentare aus. Auf diese Entdeckung war offenbar niemand ernstlich gefasst. Und daher verstieg sich auch keine prominente Person, die befragt wurde oder aus eigenem Antrieb Stellung bezog, zu der Behauptung, dass man es sich eigentlich hätte denken können. Die Entdeckung fiel derart aus dem Horizont des Erwartbaren und Vorstellbaren heraus, dass manche Autoren sogar dazu aufriefen, die Geschichte der BRD ab 1967 von Grund auf neu zu schreiben. Kurras’ wahre politische Identität erschien nachträglich als ein ›tiefes‹ Geheimnis, dessen Offenbarung nach einer radikalen Umdeutung bisheriger Sichtweisen verlangte. Zeitzeugen, welche dies ostentativ verweigerten (wie etwa Oskar Negt oder Peter Schneider) und Kurras zum Repräsentanten jenes autoritären Charakters erklärten, der für die frühe BRD ebenso typisch gewesen sei wie für die DDR, wurde Verdrängung und Dogmatismus vorgeworfen (vgl. Wolfgang Kraushaar: »Die Schrille nach dem Schuss. Seit der Enttarnung von Kurras tobt ein Kulturkampf um die Deutung des 2. Juni 1967«, in: FAZ vom 27. 5. 2009, S. 31). Andere erinnerten noch einmal an die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der ›skandalösen‹ Gerichtsverfahren, in denen Kurras, trotz der flagranten Vertuschungsaktionen nach der Tat, freigesprochen wurde (vgl. Gerd Koenen: »Keiner verlässt den Saal. Der Fall Kurras: Die Stille nach dem Schuss«, in: SZ vom 27. 5. 2009, S. 11). Versierte Journalisten gruben unbekannte Details über Kurras’ Agententätigkeit und die frappierende Namensgleichheit (Bernd Ohnesorge/Benno Ohnesorg) von zweien seiner Opfer aus (vgl. Sven Röbel/Michael Sontheimer/Peter Wensierski: »Verrat mit Todesfolge«, in: DER SPIEGEL vom 8. 6. 2009, S. 44f.) Michael Buback, der Sohn des ermordeten Bundesanwaltes, stellte (wie einem Bericht der SZ vom 25. 5. 2009 zu entnehmen ist)

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Solche Aussagen erfassen jedoch nicht alle Seiten des Wandels, dem die Latenz-Semantik in den letzten Dekaden unterliegt. Denn die Depotenzierung der politischen Latenz zum medienwirksamen Skandal und die routinierte Präsentation gleichsam ganz ›normaler‹ Übel (Ungerechtigkeit, Ignoranz, Opportunismus, rücksichtslose Verfolgung partikularer Interessen etc.) sind – wie oben bereits vermerkt – nicht die einzigen Faktoren, denen die diagnostizierte ›Verflachung‹ des Politischen angelastet werden kann. Hinzu kommen weitere mediale Verfahren, deren Wirkung nicht zu unterschätzen ist. Parallel zur journalistischen Enthüllungspraxis, die dem Unsichtbaren durch Wort und Bild Eingang in die alltägliche Gegenwart verschaff t, entwickelt sich auf dem Feld fiktionaler Darstellungen seit vielen Jahren ein höchst elaborierter Kult um die ›tiefen‹ Latenzen.91 Während die journalistischen Anstrengungen letztlich auf eine Banalisierung des Phänomens Latenz hinauslaufen, regiert im Bereich fiktiver Präsentationen (die insbesondere Filme und Romane bieten) die schiere Übertreibung. Beide Strömungen ergänzen sich und führen zu kollektiven Einstellungen, in denen fast nur noch das Aufdecken ›flacher‹ Latenzen Ansprüche auf Realitätsgehalt und Ernsthaftigkeit anmelden kann. Die mitunter vorgetragene Meinung, gerade in den verstiegensten fiktionalen Entwürfen komme das unterschwellig herrschende Phantasma der spätoder postmodernen Gesellschaft des Abendlandes zum Vorschein, ist eher eine latenz-theoretische Volte als das Ergebnis seriöser Analysen. Ein simpler Vergleich von empirischen Stichproben zur Ermittlung herrschender LatenzIdeen in der Bevölkerung92 mit theoretischen Konzepten zur Interpretation sogar grundsätzliche Überlegungen zur Logik politischer Latentisierung an: »Da sieht man wieder, dass Dinge, gerade weil sie unvorstellbar sind, verborgen werden können.« Aus dieser Warte ließe sich das ›Verflachen‹ der Latenz als Indikator für einen gravierenden Mangel an Einbildungskraft interpretieren. Die plötzliche Lust an der ›Tiefe‹, welche hier zum Vorschein kam, war kurzzeitig kaum zu bremsen. Denn die unvermutete Erscheinung des Falles in den Medien öffnete der konspirativen Fantasie Tor und Tür. Nicht wenige sahen in Kurras einen ›agent provocateur‹ der Stasi, der durch den tödlichen Schuss auf einen Studenten zur Eskalation der politischen Lage in der BRD beitragen sollte. Noch attraktiver war die Vermutung, dass Kurras von vornherein als Doppelagent im Auftrag westdeutscher Geheimdienste operierte oder aber später – etwa nach der leicht vorstellbaren Enttarnung als Ost-Spion – vom BND dazu genötigt wurde, durch eine extreme Handlung die Situation zu verschärfen und die wesenhafte Gewaltsamkeit der Studentenproteste, welche den Staat zur ›putativen Notwehr‹ zwingt, für alle anständigen Bürger sichtbar zu machen. – Jedenfalls darf man jetzt schon von den bizarren Wendungen im (mehr als wahrscheinlichen) ›Kurras-Roman‹ aus der Feder von Peter Schneider und der (natürlich dann unausweichlichen) Rezension aus der Feder von Eva Horn träumen. 91. Selbst für diejenigen, die grundsätzliche Zweifel an der Differenz von Fakten und Fiktionen hegen, sind Akten und statistische Daten im Hinblick auf ihre Geltung andere Weltbeschreibungen als Romane und Spielfilme. Davon geht auch Eva Horn aus, wenn sie von »Fiktionen« spricht. 92. Entsprechende Befragungen wurden im Winter 2008/9 in Köln, Berlin und Wien durchgeführt.

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einschlägiger (d.h. latenz-affiner) Filme und Romane ist ernüchternd. Die abgründigen Fiktionen des Kinos oder der Polit-Thriller93 üben zwar große Faszination aus und verleiten zu jenem schmutzigen Genießen, das bei Lacan und Žižek ›jouissance‹ heißt, aber es sind dann eben doch die ›flachen‹ Latenzen, denen man Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit attestiert. Vermutlich resultieren die starken Thesen über den aktuellen Status des ›Geheimen‹ in der Politik, die gelegentlich von Interpreten fiktionaler Medien-Produkte geäußert werden, aus methodischen Problemen, die einer allzu radikalen Lösung zugeführt werden: Wenn nämlich die Zugänge zu den sozial relevanten Geheimnissen selbst für mutige und gut vernetzte Wissenschaftler oder Journalisten weitgehend versperrt sind, dann hilft nur noch die entfesselte Fantasie dem Realitätssinn auf die Sprünge. Über den heuristischen Wert dieser Annahme, die auch unter manchen Risikotheoretikern energische Verfechter findet94, geben Eva Horns Kommentare zur abgedunkelten Welt der Geheimdienste Aufschluss. »Fiktionen« – so lautet nämlich ihre zentrale Behauptung – »sind die luzidesten Möglichkeiten, in der Moderne über das politische Geheimnis zu sprechen.«95 Schon Carl Schmitt, auf den sich Horn bezieht, hatte das Staatsgeheimnis als »ein Untergeschoss des Politischen, eine dem Blick entzogene Basis« beschrieben.96 Bei der Erläuterung dieser These lässt sich Horn von der Vorstellung leiten, dass der Verrat »das Politische des 20. Jahrhunderts entscheidend prägt«97, oder anders formuliert: dass der »Blick auf die Formen der modernen Souveränität […] die Frage nach der politischen Form, die den Verrat geradezu unausweichlich werden lässt«, nach sich zieht. Durch eine solche Konzentration auf das Problem des Verrats werden freilich ökonomische, klassenstrukturelle und biopolitische Aspekte der politischen Formanalyse in den Hintergrund gedrängt. Stattdessen bilden die betroffenen Subjekte den Fokus der Analyse. Weil der rasche Wechsel von Herrschaftsformen jeden irgendwann zum Verräter98, also zum potenziellen Opfer staatlicher Säuberungsaktionen macht, werden die Individuen, die nicht als offenherzige Idealisten den eigenen Untergang riskieren wollen, entweder zu Schauspielern, die lernen müssen, ein Geheimnis zu wahren, oder zu Opportunisten, die sich auf politische Umschwünge einstellen und sich darauf verlassen, dass auch das neue Regime nicht nur fanatisierte Anhänger 93. Vgl. die nach filmischer Veranschaulichung geradezu schreienden Bücher von John Le Carré, Robert Ludlum, Colin Forbes, John Grisham, Clive Cussler, JeanChristophe Rufin etc. 94. Vgl. Francois Ewald: »Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf zu einer Philosophie der Vorbeugung«, in: Soziale Welt 49 (1998), S. 5-24, besonders: S. 21; auf Ewalds Thesen komme ich in Abschnitt 5.5 zurück. 95. E. Horn: Der geheime Krieg, S. 11; Soziologen werden in dieser These wahrscheinlich nur eine literatur- und filmwissenschaftliche Nobilitierung der medialen Erzeugnisse, mit denen diese Fächer in erster Linie befasst sind, erkennen können. 96. Ebd., S. 117. 97. Ebd., S. 204. 98. Ebd., S. 92f. Horn bezieht sich hier auf eine Überlegung von H. M. Enzensberger (Politik und Verbrechen, S. 363f.).

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oder Überzeugungstäter, sondern auch unauff ällige Mitläufer benötigt. Hier können Fiktionen Ansatzpunkte für ihre narrativen Entwürfe finden und genre-typische Handlungsmuster (wie z.B. komische oder tragische, groteske oder melodramatische Szenarien) ausbuchstabieren. Nach Horn erzeugen solche politischen Fiktionen einen Wahrheitseffekt, den sie durch ihre eigene Darstellungsweise zugleich dementieren. Und genau darin liege »der Kern dessen, was sie für das Politische in der Moderne leisten. Was sie [die Fiktionen] hervortreiben, denkbar, erzählbar machen, ist jene paradoxe Doppelbödigkeit des Politischen, die sich in der Struktur des modernen Staatsgeheimnisses niederschlägt: seine Angewiesenheit auf das Geheime wie seine Verdrängung, seine Verdopplung von Rechtsförmigkeit und Gewalt, von Transparenz und Täuschung.«99

Der Ausdruck »Fiktion«, den Horn als konzeptionelles Scharnier zwischen den Vollzügen der wirklichen Politik und den ästhetischen Darstellungen in Romanen und Spielfilmen benutzt, verliert aber im Zuge der Analyse seine Konturen. Wenn z.B. aktuelle Filme Terroristen als »aus der Kontrolle geratene frühere Alliierte« zeigen, dann erweist sich der Antiterrorkampf als »die Wiederkehr eines politisch Verdrängten: der arcana imperii«. Fiktionen übernehmen hier buchstäblich eine auf klärerische Funktion, die sich ohne weiteres eben nicht in die etablierte Figur der ästhetischen Selbstdementierung einschreiben lässt: »Die Latenz des Politischen, die das Phantasma zugleich beinhaltet und in Schach hält, ist ein Krieg, der an die geographischen Ränder des ›Westens‹ (›Israel‹) und in die Unterwelt des Militärs und der Geheimdienste verdrängt ist, eine Schattenwelt des unkontrollierbaren Terrors, aber auch der uneingestehbaren Allianzen und schmutzigen Interventionen, der heimlichen Folterungen und gebrochenen Bürgerrechte.«100

Solche Statements unterlaufen der Autorin allerdings gegen ihre eigenen Intentionen. Denn das, was hier behauptet wird, steht unter einem generellen methodischen Vorbehalt. Horn weicht offenbar vor den Konsequenzen ihrer schon zitierten Startthese, dass Fiktionen »die luzidesten Möglichkeiten« sind, um »in der Moderne über das politische Geheimnis zu sprechen«101, zurück. Sie entschärft deshalb sofort die methodische Kühnheit des Ansatzes. Fiktionen lassen sich nicht auf Luzidität verpflichten, sondern sind per se offen für alle Spielarten des Irrwitzigen und Grausigen. Horn will aber die Kontrolle über ihren Vergleich zwischen Kunst und Politik nicht verlieren und macht daher den defensiven Versuch, Möglichkeit und Reichweite der fi ktionalen Literatur bzw. Filmkunst genau zu bestimmen: Die literarischen Erfindungen sollen demnach nur Form und Funktion des Politischen erfas-

99. Ebd., S. 125f. 100. Ebd., S. 464f. 101. Ebd., S. 11.

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sen, nicht aber die »zumeist für immer dem Wissen entzogenen Inhalte«102 darstellen. Mit dieser Definition stellt Horn jedoch die Verhältnisse auf den Kopf. Denn de facto besteht die Leistung der von Beweis- und Begründungspflichten weitgehend freigesetzten Fiktionen doch darin, genau diese »entzogenen Inhalte« zu imaginieren und ihnen bis zu den denkbar extremsten Wendungen zu folgen, während über Form und Funktion des Politischen eher Disziplinen wie Philosophie und Sozialwissenschaft die nötigen abgeklärten Auskünfte erteilen. Mit der Behauptung, dass die Fiktionen der Literatur und des Films bloß die »Fiktionalität des Politischen« und damit das Formproblem der modernen Politik sichtbar machen, indem sie ihre eigene ästhetische Verfasstheit offenbaren, nagelt Horn ihr ganzes Unternehmen gleich zu Beginn auf eine reichlich triviale Einsicht fest: »Fiktionalität des Politischen« bedeutet nach Horn ja nur, dass Politik, sobald sie in den »Raum der Öffentlichkeit, der Repräsentation und der Verhandelbarkeit tritt,« sich selbst vor einem Publikum inszeniert, also »eine präsentable Variante unter mehreren […] Versionen eines Geschehens ist«. Politik erscheint als »eine Fiktion, sofern ihre sichtbare Seite immer mindestens so viel verdeckt, wie sie offen legt.«103 Um zu diesen schlichten Erkenntnissen zu gelangen, bedarf es keiner aufwendigen literarischen oder fi lmischen Szenarien. Die Besonderheit von Literatur und Film besteht wohl kaum darin, die »unausweichliche Fiktionalität der Politik«104 vorzuführen und zu reflektieren. Solche Darstellungs- und Reflexionsleistungen wären in Zeiten, in denen Ministerpräsidenten vom »legitimen Theater«105 der Politik sprechen, eine überflüssige Angelegenheit. Die einmalige Fähigkeit von Literatur und Filmkunst besteht vielmehr längst darin, die Abgründigkeit des Politischen derart ausgiebig und umfassend in Worte und Bilder zu fassen, dass sich durch diese Leistungsschau der Übertreibungsartistik schließlich eine äußerst plastische Vorstellung von medial erzeugter Irrealität 106 bildet, gegen die sich dann Konzepte einer alltagskonformen Realität des Verborgenen profi lieren können. Das permanente Spiel mit den Drohpotenzialen ›tiefer‹ Latenz, die sich nur partiell mit den Erfahrungen der Ebd., S. 36. Ebd., S. 35f. Ebd., S. 36. Vgl. zu dieser Aussage des saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller: Gabriele Klein: »Die Theatralität des Politischen«, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen. München 2003, S. 605-618; Peter W. Marx: »Legitimes Theater? Anmerkungen zu politischen Inszenierungsstrategien der Berliner Republik«, in: Birgit Haas (Hg.), Macht. Performativität, Performanz und Polittheater seit 1990, Würzburg 2005, S. 131-140; Lutz Ellrich: »Die Welt als Theater«, in: Johannes Bilstein (Hg.), Kunst erschließt die Welt, Oberhausen 2009. 106. Für die Befürchtung, dass die düsteren Szenarien der Politthriller von einer Mehrheit der Leser und Zuschauer ernst genommen werden, besteht kein Anlass. Zur allgemein erworbenen Medienkompetenz gehört inzwischen das Gespür für Übertreibungen. Die am weitesten verbreitete Haltung besteht in der Ansicht: ›Es ist etwas dran, aber so schlimm, wie es hier dargestellt wird, steht es auch wieder nicht!‹ 102. 103. 104. 105.

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Subjekte decken, wird dann abgelöst oder zumindest ergänzt durch Szenarien einer ›flachen‹ Latenz, die Erfahrung und Erwartung wieder kompatibel machen und angesichts beliebiger Neuigkeiten das schockfreie Gefühl stiften, dass man es irgendwie immer schon gewusst oder zumindest geahnt hat und dass die Verhältnisse eben so sind, wie sie sind.

5.2 Verflachungstendenzen Wenn die bisher gelieferte Bestandsaufnahme korrekt ist, so haben wir es hier mit einer medial zwar nicht unbedingt ausgelösten, aber entschieden begünstigten Veränderung der Auffassung von Politik zu tun, welche insbesondere die ›Latenztiefe‹ politischer Macht betriff t. Sowohl die bedrohlichen als auch die heilenden Kräfte, die in der Sphäre des Politischen, soweit sie als Feld staatlicher Aktivitäten verstanden wird, beheimatet sind, haben ihre dämonischen107 und wundersamen Aspekte weitgehend eingebüßt. Der Staat erscheint nicht länger als bedrohliches Ungeheuer 108 oder als möglicher Retter in der Not. Er wird jetzt – trotz seiner nach wie vor bestehenden Erzwingungsstäbe und bürokratischen Apparate – auch und gerade in seiner ganzen Ohnmacht und Hilflosigkeit sichtbar.109 Die meisten professionellen Beobachter aus Soziologie und Politikwissenschaft sind sich seit gut und gerne 30 Jahren darin einig, dass die »politische Gestaltungsmacht« nicht ausreicht, »um die massivsten politischen Problemquellen« auch nur teilweise auszutrocknen.110 Angesichts dieser Lage wirkt die »zunehmende Personalisierung der Politik« auf manche Beobachter wie eine klägliche, medial veranstaltete Kompensation eines Prozesses, in dessen Verlauf die Handlungsspielräume bzw. Eingriffsmöglichkeiten »politischer Eliten signifi kant geschrumpft sind.«111 Und auch die Verwandlung der Politiker in Medienstars kann das »anhaltende 107. Zur dämonischen Seite des Sozialen vgl. Berhard Giesen: »Latenz und Ordnung«, in: Rudolf Schlögl u.a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Symbole, Konstanz 2004, S. 73-100. 108. Friedrich Nietzsche bezeichnete einst in Also sprach Zarathustra den Staat als das »kälteste aller kalten Ungeheuer« (Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe 4, München 1988, S. 61). 109. Vgl. hierzu als einschlägigen Text: Martin Jänicke: Staatsversagen. Die Ohnmacht der Politik in der Industriegesellschaft, München/Zürich 1986; siehe auch den ›Klassiker‹ zum Thema: Michel Crozier/Samuel Huntington/Joji Watanuki (Hg.), The Crisis of Democracy. Report on the Governability of Democracies to the Trilateral Commission, New York 1975. 110. Thomas Meyer: Die Transformation des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 9. »Die tatsächlichen Gefahren und Risiken, von der drohenden Klimakatastrophe, über die Entzivilisierung der Aggressionsformen bis zu den unbeherrschbaren Wirtschaftskrisen infolge dramatischer Umbrüche in der weltweiten Arbeitsteilung sind seit gut zwei Jahrzehnten Fokus aller Politikerdebatten« (ebd.). 111. Edgar Grande: »Charisma und Komplexität: Verhandlungsdemokratie und der Funktionswandel der Eliten«, in: Raymund Werle/Uwe Schimank (Hg.), Gesell-

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Schwinden von Vertrauen in […] Parteien und staatliche Führungen« 112 allem Anschein nach nicht verhindern. Schon dieser erste flüchtige Blick auf Experten-Kommentare zur Situation des Politischen in der Spätmoderne macht deutlich, dass die ›Latenz-Verflachung‹ im Politikbereich kein Zufall und auch nicht bloß ein purer Medieneffekt sein kann. Gestalt und Reichweite organisierter politischer Macht haben sich ebenso signifi kant verändert wie der kollektive Glaube an das persönliche Charisma der ›Machthaber‹. Offenbar handelt es sich um eine gravierende Schwächung oder eine Krise dessen, was gemeinhin unter dem Begriff der Politik bzw. des Politischen gefasst wird.113 Ganze Serien von Schlagworten und markigen Metaphern114 haben dem Problem eine weit über alle akademischen Diskursgrenzen hinaus reichende Aufmerksamkeit verschaff t: So sprach man z.B. von der »Aktionsleere der politischen Institutionen«, vom »Versanden der Politik« oder von der »Schrumpfung und Minimierung der Politik.«115 Überdies war vom »Rückzug des Staates«116, von »der Entmachtung der Politik« 117, von der »schleichenden Entwertung politischer Kommunikation«118 oder vom »Leistungsdefizit der politischen Organisationen« 119 die Rede. Solche Formulierungen verdanken sich nicht allein dem Hang zu einer diagnostischen Kompaktsemantik, sie besitzen – wie man unschwer erkennt – auch Appellcharakter. Entweder soll die politische Einbildungskraft angespornt (wie bei Beck), ein letzter Rest etatistischer Illusionen ausgetrieben (wie bei Luhmann und Dirk Meyer) oder auch ein zeitgemäß abgespeckter Staats- und Politikbegriff erarbeitet werden (wie bei Willke). Angesichts derschaftliche Komplexität und kollektive Handlungsfähigkeit, Frankfurt/New York 2000, S. 297-319, hier: S. 297. 112. Jörn Lamla/Sighard Neckel: »Das Praktische und das Symbolische der Politik«, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen, BadenBaden 2003, S. 619-637, hier: S. 619. 113. Zwischen ›dem Politischen‹ und ›der Politik‹ wird weder in den gängigen massenmedialen Verlautbarungen noch in den einschlägigen soziologischen Texten eine markante Unterscheidung getroffen. Es handelt sich zumeist um Nuancen: ›Das Politische‹ bezeichnet eher die Ebene des Grundsätzlichen (im Sinne von Carl Schmitts Der Begriff des Politischen), ›die Politik‹ gewöhnlich eine reale Praxis. – Im Kontext philosophischer Analysen und alternativer Politik-Entwürfe (Ricoeur, Lefort, Nancy, Laclau/Mouffe etc.), wird die Differenz beider Begriffe hingegen zu einer wichtigen methodischen Operation. Vgl. unten Abschnitt 5.5. 114. Ich beschränke mich hier auf die deutsche Diskussion. In den einschlägigen angelsächsischen und französischen Beiträgen zur Krise der Politik sind ähnliche Formulierungen gang und gäbe. 115. U. Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 155 und 166. 116. Helmut Willke: Supervision des Staates, Frankfurt a.M. 1997, S. 165. 117. Dirk Meyer: »Die Entmachtung der Politik. Zur Frage der Überlebensfähigkeit demokratischer Nationalstaaten in einer globalisierten Weltwirtschaft«, in: Leviathan 33/3 (2005), S. 306-324. 118. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 167. 119. Ebd., S. 233 und 370f.

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art unterschiedlicher Intentionen könnte der Eindruck entstehen, dass die exemplarisch genannten Autoren sich zwar über die aktuelle Befindlichkeit staatlicher Politik einig sind, für diesen unbestreitbaren Zustand aber jeweils andere Erklärungen liefern. Das ist jedoch – abgesehen von Details – nicht der Fall. Die Ursachen für die spätmoderne »Entzauberung des Staates« 120 werden übereinstimmend in gesamtgesellschaftlichen Bedingungen gesucht, die keineswegs im Verborgenen liegen und erst durch verblüffende Theoriemanöver ans Tageslicht gelangen. Zur Bezeichnung der neuralgischen Punkte, auf die heute praktisch jede politische Analyse stößt, lassen sich drei ›Stichworte‹ angeben, mit denen die Probleme anvisiert werden: Steuerungsstaat, Nationalstaat und Sozial- oder Wohlfahrtsstaat.121 Bei der Analyse des ersten Komplexes ist es sinnvoll, einen langfristigen historischen Prozess ins Auge zu fassen, dem die Moderne ihre Signatur verdankt, nämlich den Prozess sozialer Differenzierung, in dessen Verlauf eigenständige hochkomplexe Funktionssysteme entstehen, die sich selbst steuern (müssen) und von anderen Systemen nur noch durch indirekte Einflussfaktoren zu erreichen sind.122 Das ausdifferenzierte politische System, das in der Organisationsform des Staates in Erscheinung tritt 123, büßt damit seine Sonderstellung als Instanz der gesellschaftlichen Gesamtplanung und -steuerung ein und muss sich auf die Position eines Moderators und Mahners zurückziehen. Mit Willke lässt sich daher schon seit den 1980er Jahren »ein grundlegender Funktionswandel der Politik vom Regulator zum Mediator« konstatieren.124 Der zweite Komplex – die Schwächung des Nationalstaates125 – steht in Zu-

120. Helmut Willke: Die Entzauberung des Staates. Überlegungen zu einer sozialen Steuerungstheorie, Königstein 1983. 121. Vgl. hierzu pointiert Uwe Schimank: »›Vater Staat‹ – unentzauberbar«, Online-Manuskript, Hagen 2008. 122. Vgl. hierzu die klassischen soziologischen Analysen von Durkheim, Simmel und Weber bis hin zu den explizit systemtheoretisch formulierten Diagnosen von Parsons und Luhmann. Einen guten Überblick gibt Uwe Schimank: Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen 1996. 123. Bei Luhmann heißt es daher lakonisch: »Das autonom gewordene System ist als ›Staat‹ sichtbar« (Die Politik der Gesellschaft, S. 333). 124. Helmut Willke: »Transformation der Demokratie als Steuerungsmodell hochkomplexer Gesellschaften«, in: Soziale Systeme 2 (1995), S. 283-300, hier: S. 292. Vgl. Ders.: Die Ironie des Staates, sowie Supervision des Staates. 125. »Solange die Moderne noch ›organisiert‹ war, konnte Politik durch vergleichsweise scharf konturierte und eindeutig identifizierbare Faktoren eines nationalstaatlichen Interessenkampfes bestimmt werden. Das Machtspiel der Parteien und Verbände, objektive Interessenlagen entlang gesellschaftlicher Konfliktlinien, das institutionelle Gefüge des politischen Systems, die Sedimentierung einer nationalstaatlichen Geschichte oder die sachliche Lösung von reformpolitischen Gestaltungsproblemen schienen das Politische begrifflich hinreichend fundieren und ausfüllen zu können. Doch mit den gesellschaftlichen Umbrüchen, die für die Moderne der Gegenwart kennzeichnend sind, kommt auch dieser Begriff des Politischen unter

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sammenhang mit dem breit diskutierten Phänomen der Globalisierung 126 von Wirtschaft und Kommunikation. Unternehmen wickeln ihre Geschäfte zunehmend auf Märkten ab, die sich nicht mehr innerhalb nationalstaatlicher Grenzen verorten und kontrollieren lassen. Mikroelektronische Innovationen haben zu einer enormen Flexibilisierung sowohl der Produktion als auch des Geldverkehrs geführt und ermöglichen es den weltweit vernetzten Firmen, ihre Produktionsstätten ohne erheblichen Zeitaufwand an kostengünstige Standorte zu verlegen. Die nationalstaatlich eingeschränkte Politik sieht sich – wegen ihrer Abhängigkeit vom inländischen Steueraufkommen – dazu genötigt, infrastrukturelle Vorleistungen zu erbringen und durch geringe Steuersätze sowie weitgehende Abschreibungsmöglichkeiten attraktive Rahmenbedingungen für die Unternehmen zu schaffen. »Die Probleme der Politik reduzieren sich dann auf die Frage, wieviel internationales Kapital und vor allem: wieviel Arbeit man ins eigene Staatsgebiet ziehen und dort binden kann.«127 Der dritte Komplex – der deutliche Abbau 128 des Sozial- und Wohlfahrtsstaats – betriff t die Umcodierung des Konzepts von sozialer Sicherheit der Bürger. Unter Hinweis auf die Unfinanzierbarkeit 129 etablierter Fürsorgeleistungen, die im Verlauf langwieriger Auseinandersetzungen erstritten wurden130, reduziert der Staat Schritt für Schritt Zuwendungen an bedürftige Bürger und konzentriert sich auf das Kerngeschäft der so genannten ›inneren Sicherheit‹, das freilich inzwischen (für eine zahlungsfähige Klientel) auch von privaten Sicherheitsunternehmen mit Erfolg und beträchtlichem Gewinn ausgeübt wird. Jeder dieser drei Problemkomplexe taucht – in unterschiedlicher Präzisierung und Gewichtung – in den einschlägigen Politik-Theorien der Gegenwart auf. Ähnliche Befunde führen freilich noch lange nicht zu einhelligen Prognosen über die weitere Entwicklung der Politik bzw. des Politischen und schon gar nicht zu geteilten Meinungen über das Spektrum an MöglichkeiRevisionsdruck« (J. Lamla/S. Neckel: »Das Praktische und das Symbolische der Politik«, in: A. Nassehi/M. Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen (2003), S. 619). 126. Vgl. Saskia Sassen: Losing Control? Sovereignity in the Age of Globalization, New York 1999; Joseph Stiglitz: Die Chancen der Globalisierung (2006), Berlin 2006. 127. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 365. 128. Jürgen Habermas prägte hierfür die vielfach zitierte Vokabel »Abbaupolitiken« (Die postnationale Konstellation, Frankfurt a.M. 1998, S. 82). 129. Dieses Argument hat freilich angesichts der Beträge, die im Verlaufe der internationalen Finanzkrise zur Stützung von Banken und Unternehmen bereitgestellt wurden, an legitimierender Kraft eingebüßt. Das oft genug beschworene Bild eines unter der angehäuften Schuldenlast schließlich zusammenbrechenden und zur Handlungsunfähigkeit verurteilten Staates weicht plötzlich dem Bild eines besorgten Staates, der für die erforderliche Liquidität ›bedürftiger‹ Geldinstitute und Firmen sorgt. 130. Vgl. Robert Castel: Die Metamorphosen der sozialen Frage (1995), Frankfurt/New York 2000; Ders.: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat (2003), Hamburg 2005.

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ten, um die bestehende Krise zu bewältigen. Christian Lahusen hat den Erkenntnisstand, der sich in der letzten Dekade kaum geändert hat, im Jahre 2003 mit bemerkenswerter Souveränität auf den Begriff gebracht: »Die Meinung, dass die Institutionalisierung der Politik in Form eines politischen Systems mit einer Blockierung oder Verflüchtigung des Politischen einhergeht, ist heute weniger umstritten als die Folgefrage, wohin das Politische nun genau diffundiert. Einerseits wird unterstellt, dass sich das Politische […] zurückzieht, da nun andere Gestaltungs- und Steuerungsformen mehr Gewicht erhalten, insbesondere Märkte, aber zum Teil auch wissenschaftlich-technische Expertendiskurse oder ansatzweise auch ein Dritter Sektor zivilgesellschaftlicher Organisationen. Andererseits wird argumentiert, dass sich das Politische aus den dafür vorgesehenen Institutionen verflüchtigt, und das heißt auch ausweitet, da es nun zu einer Entstaatlichung der Politik und der politischen Gesellschaftsgestaltung oder Steuerung kommt.«131

Unter latenz-theoretischer Perspektive sind innerhalb des hier skizzierten Problemdesigns zunächst zwei Lösungsvorschläge von Interesse: zum einen der Versuch, latente Potenziale transnationaler politischer Institutionen auszuloten, und zum anderen die Annahme, dass nur kollektive Reflexions- und Handlungsformen, die sich in einem gleichsam vor- oder para-institutionellen Feld bewegen, den aktuellen Herausforderungen zur politischen Gestaltung der zukünftigen Gesellschaft gewachsen sein werden. Für die erste Position sind historisch weit ausgreifenden Arbeiten von David Held charakteristisch, für die zweite Position programmatische Texte von Ulrich Beck. Beide Ansätze beruhen auf einer im Kern optimistischen Grundhaltung und zielen auf die Neu-Formierung der Politik bzw. die Neu-Erfi ndung des Politischen, und beide meiden jene verstörenden und emphatischen ›Tiefenanalysen‹, mit denen z.B. die französische Philosophie des Politischen132 seit Jahren Aufsehen erregt. Held geht davon aus, dass sich »im Laufe der letzten hundert Jahre […] die Bedingungen und das Wesen der Politik« 133 gravierend verändert haben. Den »Kern dieser Entwicklung bildet die Neuordnung politischer Macht.« Die Nationalstaaten besitzen zwar noch eine »juristische Oberhoheit« innerhalb ihres Territoriums, aber »immer mehr Zuständigkeiten« gehen »auf Institutionen der globalen und regionalen politischen Steuerung über«. Der Globalisierungsprozess hat nämlich nicht nur dafür gesorgt, dass

131. Christian Lahusen: »Die Kontraktualisierung des Politischen«, in: Nassehi/Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen (2003), S. 101-116, hier: S. 101. 132. Siehe unten den Abschnitt 5.5. 133. David Held: Soziale Demokratie im globalen Zeitalter (2004), Frankfurt a.M. 2007, S. 257.

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»eine Reihe neuer Themen134 zum Gegenstand der Politik geworden ist, [sondern er] hat auch die Zahl der institutionellen Arenen und Netzwerke vervielfacht, in denen politische Mobilisierung, Entscheidungsfindungsprozesse und Kontrolle stattfinden. Diese Arenen decken sich nicht länger mit nationalen Zuständigkeitsbereichen. Damit sind die Kapazitäten politischen Handelns und der Gestaltungsraum der Politik gewachsen.«135

Held kann hierin (anders als die Vertreter der Systemtheorie) keine prinzipielle Überforderung politischer Institutionen erkennen, sondern gelangt zu dem Schluss: »Es ist nicht unmöglich, die Globalisierung zu kontrollieren oder zu steuern.«136 Um dieser Aufgabe gewachsen zu sein, muss sich die Politik allerdings erheblich ändern. Denn die traditionellen Regierungsweisen sind mit Schwächen behaftet, die auch auf die internationalen politischen Institutionen durchschlagen. Held weist explizit auf drei politische Lücken hin, die unbedingt ausgefüllt werden müssen: die »Zuständigkeitslücke«, die »Anreizlücke« und die »moralische Lücke«. Nötig sind daher engagierte Akteure, deren politische Identität von der Globalisierungsidee geprägt ist. Bislang aber gibt es nur: »die Netzwerke von Experten und Spezialisten, leitenden Verwaltungsangestellten und transnationalen Unternehmensmanagern – so wie jene Menschen, die deren Aktivitäten aufmerksam beobachten und bekämpften, also die lose Konstellation von sozialen Bewegungen (einschließlich der Globalisierungskritiker), Gewerkschaftlern und (einigen) Politikern und Intellektuellen.«137

Während David Held die Frage nach den Subjekten der neuen Politik vor dem Hintergrund weitreichender Überlegungen zur institutionellen Genese und Stabilisierung globaler Regeln aufwirft, stehen bei Ulrich Becks Konzept der »Subpolitik« die individuellen und kollektiven Akteure im Zentrum der Analyse. Denn sie sind – wie Beck minutiös nachweist 138 – unmittelbar von den sozialen und ökologischen Risiken der Moderne betroffen. Im Unterschied zur organisierten ›politischen Klasse‹, die offenbar unfähig ist, die anstehenden Probleme wahrzunehmen und (über kurzfristiges Krisenmanagement hinausgehend) zu lösen, können engagierte Individuen gleichsam »von unten«139 neue gesellschaftliche Gestaltungspotenziale entfalten, die »außerhalb des politischen und korporatistischen Systems«140 angesiedelt sind. Um auf latente Wirkmechanismen, die eine sinnvolle Veränderung der Gesellschaft blockieren, 134. Held erwähnt als »globale Probleme«, mit denen sich die transnationale Politik befassen muss u.a.: »soziale Ungleichheit, unberechenbare Märkte, Geldwäsche, Drogenhandel, Erderwärmung und Aids« (ebd., S. 143). 135. Ebd., S. 140. 136. Ebd., S. 142. 137. Ebd., S. 147f. 138. Vgl. Ulrich Beck: Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1986. 139. U. Beck: Die Erfindung des Politischen, S. 164. 140. Ebd., S. 162.

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aufmerksam zu machen und »lange verschwiegene Fragen zu stellen«141, reichen aber Problembewusstsein, Sensibilität und Mut der Akteure alleine nicht aus. Die Träger der »Subpolitik« benötigen zusätzlich relevante Informationen und Argumente, die nur das etablierte Wissenschaftssystem liefern kann, und müssen darüber hinaus auch prinzipiell bereit sein, ihre Initiativen zu gegebener Zeit in die Kanäle einer mit »Sanktionsgewalt« ausgestatteten »großen Politik«142 zu lenken, um erreichte Ziele ggf. auch juristisch zu fixieren.143 Gegen die Begriffe und Methoden, deren sich Held und Beck bedienen, sind – wie nicht anders zu erwarten – latenz-theoretisch belangvolle Einwände möglich: zunächst einmal natürlich der (von Mouffe, Rancière, Žižek u.a. geäußerte) herbe Vorwurf, dass diese Form der Analyse das ›Wesen‹ des Politischen völlig verfehlen muss; sodann der sanft maßregelnde Hinweis, dass die Beurteilung nationalstaatlicher Handlungsmöglichkeiten Kriterien unterliegt, die weit weniger objektiv sind, als es all jene Diagnosen suggerieren, welche die ›Verflüchtigung‹ oder den ›Rückzug‹ der staatlichen Politik zu unbestreitbaren Tatbeständen erklären und darüber das Wechselspiel zwischen etatistischen und anti-etatistischen Einstellungen oder zwischen Regulations- und Deregulations-Moden vergessen144; und schließlich die scharfe Kritik an wissenschaftlichen Beobachtungen, die den herrschenden Diskurs über die Schwächen der politischen Steuerungsinstrumente für ›bare Münze‹ nehmen und ohne weiteres auf Machteinbußen der Politik schließen.145 Dieser dritte Punkt ist besonders schwerwiegend: So behauptete z.B. Stuart Hall schon 1985 im Kontext seiner Analyse des ›Thatcherismus‹, dass der neoliberale Anti-Etatismus nur eine ideologische Semantik sei, die in Wirklichkeit dirigistische Regierungspraktiken kaschiere.146 Was gewöhnlich als ein durch 141. Ulrich Beck: Politik in der Risikogesellschaft, Frankfurt a.M. 1991, S. 27. 142. Ebd., S. 22. 143. Auf die Weiterentwicklung von Becks Theorie der ›Subpolitik‹ zur Analyse

der ›Kosmopolitisierung‹ komme ich im nächsten Abschnitt noch zu sprechen. 144. Vgl. U. Schimank: »Vater Staat«; Kurt Imhof: »Deregulation-Regulation: Das ewige Spiel sozialer Ordnung«, in: Ders./Thomas Eberle (Hg.), Triumph und Elend des Neoliberalismus, Zürich 2005, S. 15-35. 145. Latenztheoretisch ist das nur konsequent: Bestand der Bedeutungskern des Latenzbegriffs einst darin, ein Wirken aus dem Verborgenen zu bezeichnen und die Frage nach der funktionalen Unverzichtbarkeit einer solchen Einflussnahme zu stellen (fl ankiert von der Zusatzfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit, Verborgenes zu erkennen und hinsichtlich seiner kausalen Kräfte zu beurteilen), so bezieht er sich heute auch auf Prozesse, in deren Verlauf eine Institution oder eine bestimmte Praxis (z.B. politisch eindeutig zurechenbares Handeln) aufgrund ihrer zunehmenden Wirkungslosigkeit entschwindet und durch Surrogate ersetzt wird. Bei einer solchen Diagnose kann die Latenztheorie jedoch nicht stehenbleiben, sondern muss Klarheit darüber gewinnen, ob dieses vermeintliche Verschwinden nicht selbst ein (funktionaler) Schein sein könnte und ggf. mit der latenten Ermächtigung anderer sozialer Felder, Kräfte, Institutionen, Akteursgruppen etc. verknüpft ist. 146. Stuart Hall: »Die Bedeutung des autoritären Populismus für den Thatcherismus«, in: Das Argument 152 (1985), S. 533-542.

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sozialstrukturelle Veränderungen erzwungener ›Rückzug‹ des Staates gedeutet wird, erscheint in Halls Beschreibung als besonders perfide Strategie eines starken Staates, der durch gezielte Deregulierungsaktionen die Spielräume der großen Konzerne und Finanzinstitute erweitert. Solche Thesen sind heute aktueller denn je und geben zugleich erste Hinweise auf Verschiebungen der Relevanzgesichtspunkte, zu denen es innerhalb des Latenzdiskurses gekommen ist. Das Gerede von der ›Ausdünnung des Politischen‹ oder der ›Entmachtung der Politik‹ liefert nämlich triftige Anlässe für den Verdacht, dass derartige symbolische Praktiken manch harte Tatsache unsichtbar machen sollen: unter anderem die Tatsache, dass auch und gerade ein neoliberaler Staat, der offiziell auf drastische Mittel der gesellschaftlichen Steuerung verzichtet, immer noch spezifische Interventionen durchführt, um »die Bedingungen für die Freiheit des Marktes herzustellen, der von den Neoliberalen als ein äußerst empfindlicher und zerbrechlicher Mechanismus imaginiert wird.«147 Der vermeintlich schwache Staat entpuppt sich unter dieser Perspektive als energischer Handlanger »der bürgerlichen Klasse«, die den Neoliberalismus148 zum gesamtgesellschaftlichen Optimierungsprogramm erhebt 149, in Wahrheit aber nur das partikulare Interesse verfolgt, die Relation »von bezahlter und unbezahlter Verausgabung von menschlicher Arbeitskraft zu ihren Gunsten zu ändern.«150 Solche Beschreibungen, die den ideologischen Schleier zerreißen wollen, den akademische Diskurse und massenmediale Spektakelkulturen gemeinsam über die Gegenwartsgesellschaft werfen, setzen sich ihrerseits wiederum dem Verdacht aus, in paranoiden Konstruktionen gefangen zu sein. Denn der ›Rückzug der Politik‹ wird bei Hall, Demirowic, Lemke und anderen Autoren als Teil einer großen Intrige aufgedeckt, 147. Alex Demirovic: »Neoliberalismus und Hegemonie«, in: Christoph Butterwege/Bettina Lösch/Ralf Ptak (Hg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Frankfurt a.M. 2008, S. 17-33, hier: S. 25. 148. Differenziertere Analysen unterscheiden zwei Hauptphasen des neoliberalistischen Projekts: eine Phase des »roll-back«, in deren Verlauf das Staatssystem dereguliert wird, und eine Phase des »roll-out«, in der es zum Aufbau neuer Staatsstrukturen kommt (Jamie Peck/Adam Tickell: »Making Global Rules: Globalization or Neoliberalization?«, in: Jamie Peck/Henry Wai-chung Yeung (Hg.), Remaking the Global Economy. Economic-Geographic Perspectives, London 2003, S. 163-181). Diese Feststellung einer Pendelbewegung zwischen anti- und pro-etatistischen Phasen deckt sich teilweise auch mit den erwähnten Analysen von Schimank und Imhof. 149. Vgl. auch Thomas Lemkes Versuch, »das neoliberale Programm des ›Rückzugs des Staates‹ als eine Regierungstechnik zu dechiffrieren«: Denn »es handelt sich weniger um die einfache Verlagerung von Handlungskompetenzen von der staatlichen auf die gesellschaftliche Ebene, im Gegenteil übernimmt der Staat innerhalb des Neoliberalismus über seine traditionellen Funktionen hinaus neue Aufgaben. Die neoliberalen Regierungsformen zeichnen sich nicht nur durch direkte Interventionen durch autorisierte und spezialisierte Staatsapparate aus, sondern auch durch die Entwicklung indirekter Techniken zur Führung und Leitung von Individuen« (Gouvernementalität und Biopolitik, Wiesbaden 2007, S. 55f .). 150. A. Demirovic: »Neoliberalismus und Hegemonie«, S. 25.

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die wirtschaftliche und politische Eliten zur Bemäntelung ihrer Operationen gesponnen haben. Man kann den Verdacht gegenüber einer sich selbst zurücknehmenden Politik allerdings auch ohne pompöse Enthüllungsrhetorik und verschwörungstheoretische Untertöne formulieren. Wolfgang Reinhard z.B. stellt Überlegungen zur gängigen »Privatisierung von Staatsaufgaben« an und geht der Vermutung, dass die »Schlankheitskur« den Staat »heimlich mächtiger gemacht hat«, mit äußerster Behutsamkeit und leiser Ironie nach: »Da man mit guten Gründen unterstellen darf, daß freiwilliger Machtverzicht anthropologisch unwahrscheinlich, wenn nicht gar unmöglich ist, wäre zu fragen, ob wir nicht statt des Machtverzichts eine Metamorphose oder auch nur eine Maskierung politischer Macht vor uns haben. Handelt es sich bei Privatisierungen möglicherweise darum, erhebliche öffentliche Mittel an der parlamentarischen Bewilligung und der Kontrolle der Rechnungshöfe vorbeizumogeln?«151

Wie auch immer man diese Sondierungen in halbdunklen Zonen beurteilen mag, sie machen eines deutlich: Die Sphäre des Politischen ist nicht länger das Feld, auf dem sich die ›tiefen‹ Latenzen freilegen lassen. Tiefe gewinnt der Schürfprozess allein dann, wenn er das Gebiet wechselt und auf das Areal der Ökonomie verlegt wird. Beide genannten Haupt-Befunde – die reale Depotenzierung der Politik einerseits und der fingierte ›Rückzug‹ der Politik andererseits – haben (latenz-theoretisch betrachtet) die gleichen Konsequenzen. Tiefendiagnostische Unternehmungen müssen ihre Position verändern. Handelt es sich bei der Schwäche der Politik um ein tatsächliches Phänomen, dann ergibt sich daraus notwendigerweise eine ›Verflachung‹ der politischen Latenzen; handelt es sich hingegen bei der merklichen Ermattung der Politik um ein Täuschungsmanöver, dann muss an einem anderen Ort nach den eigentlichen Wirkfaktoren oder Drahtziehern gesucht werden. Und genau das geschieht seit einiger Zeit.

5.3 Ökonomische Dunkelzonen Es ist kaum zu übersehen, dass der avancierte, ›tief‹-gehende Latenzdiskurs den ausgezeichneten Gegenstandsbereich zur Ausübung seiner Entlarvungskünste gewechselt hat. Die Politik steht nicht mehr unangefochten im Zentrum der Aufmerksamkeit.152 Wer sich der Maxime verschrieben hat, Licht ins Dunkel der gesellschaftlichen Wirkungsmechanismen zu bringen, wendet sich jetzt vermehrt den neuen ökonomischen Organisationsformen und

151. Wolfgang Reinhard: »Öffentliche und andere Hände«, in: Helga Breuninger/Rolf Peter Sieferle (Hg.), Markt und Macht in der Geschichte, Stuttgart 1995, S. 265-296, hier: S. 294f. 152. Dass zeigt auch eine aktuelle Untersuchung über die Finanzierung von Kriegen: Joseph Stiglitz/Linda Bilmes (2008): Die wahren Kosten des Krieges. Wirtschaftliche und politische Folgen des Irak-Krieges, München 2008.

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deren globalen Effekten zu.153 Hier vollziehen sich nach Auskunft empirisch versierter Soziologen und investigativer Journalisten nicht allein die relevanten Prozesse, sondern hier entstehen auch Formen des Verborgenen, die von den bekannten Figuren latenter Mächte oder Strukturen abweichen. Damit verschwindet die Politik keineswegs völlig aus dem Blickfeld, aber sie wird entweder als Organisation anders situiert oder erhält durch begriffl iche Manöver (z.B. als Sub- oder Meta-Politik) andere Funktionen.154 Mit seiner Theorie der reflexiven Moderne, die den Zusammenbruch der alten Weltordnung und die Genese einer ›Zweiten Moderne‹ beschreibt, versucht Ulrich Beck beide Möglichkeiten zu verbinden. Vordringliches Ziel dieses Konzepts ist es, »die Latenz der Kosmopolitisierung« aufzudecken und »die Machtasymmetrie der Strategiefähigkeit von Kapital, Staat, Zivilgesellschaft« im Hinblick auf ihr neuartiges Politikpotenzial zu untersuchen. Politik nimmt unter dieser Perspektive im Wesentlichen zwei wirkmächtige Formen an: 1. Politik des globalisierten Kapitals und 2. politische Gegenmacht der Zivilgesellschaft. Die »besondere Stärke der Kapitalseite« besteht darin, »daß sie sich nicht als Gesamtkapitalist organisieren muss, um dennoch ihre Macht gegenüber Staaten auszuspielen. ›Das Kapital‹ ist ein Summenausdruck für unkoordinierte Handlungen von Einzelunternehmungen, Finanzströmen, supranationalen Organisationen (WTO, IWF usw.), deren Ergebnisse – im Sinne einer Poli-

153. Man könnte sich zu der kühnen These hinreißen lassen: ›Die Magie einer verborgenen politischen Macht hat ihre Faszination verloren. Nun stehen eher die dunklen Seiten der Wirtschaft im Zentrum des Interesses.‹ – Das aber wäre – wie man noch sehen wird – voreilig; denn mit der Rhetorik des ›Ereignisses‹ kehrt die Magie der Politik zurück. 154. Vgl. hierzu auch Slavoj Žižeks These, dass sich die Frage nach Form, Gehalt und Funktion des Politischen heute nur beantworten lässt, wenn man bereit ist, das Feld des Ökonomischen zu durchqueren. Mit anderen Worten: Die Latenz der Ökonomie muss aufgehoben werden, um einen Blick für die Latenzen, die das Politische bestimmen, (die Blindheit des echten politischen Aktes, das obszöne Double des offiziellen Gesetzes, die verborgene Ebene des anderen politischen Raums; vgl. dazu unten Abschnitt 5.5) gewinnen zu können: »Den ›Spätkapitalismus‹ kennzeichnet die Kluft zwischen der Produktion kultureller Erfahrungen per se und seiner (teilweise unsichtbaren) materiellen Grundlage, zwischen dem Spektakel (einer theatralischen Erfahrung) und seinen geheimen Inszenierungsmechanismen. Weit davon entfernt zu verschwinden, existiert die materielle Produktion auch weiterhin und zwar in ihrer neuen Funktion als Stützmechanismus eines Bühnenspektakels. Aus der Sicht der heutigen ideologischen Wahrnehmung erscheint Arbeit selbst (manuelle Arbeit im Gegensatz zur ›symbolischen‹ Aktivität der Kulturproduktion) und nicht etwa Sex als Schauplatz einer obszönen Unanständigkeit, die es vor den Augen der Öffentlichkeit zu verbergen gilt. Die bis auf Wagners Rheingold und Langs Metropolis zurückreichende Tradition, bei der der Arbeitsprozeß unter Tage, in finsteren Höhlen stattfindet, gipfelt heute in der ›Nichtsichtbarkeit‹ von Millionen anonymer Arbeiter, die in den Fabriken der Dritten Welt […] schuften« (Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt a.M. 2002, S. 123f.).

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tik als Nebenfolge155 – mehr oder weniger ungesehen oder ungewollt Staaten unter Druck setzen und somit die Auflösung des alten Dame-Spiels ›Nationalstaat‹ vorantreiben.« 156 Aber auch die zivilgesellschaftliche Gegenmacht ist von Latenzen ›durchzogen‹; denn sie bewegt sich mit ihren Aktionen »im Zwielicht illegitimer Legalität oder illegaler Legitimität«. »Alle Konflikte, die sich an der Kosmopolitisierung entzünden«, bergen ein »ungeheuerliches Politisierungspotential, das […] die Menschen aufrührt und anstachelt zu existentiellen Entscheidungen und Protestmärschen«. Die Entbindung dieses Potenzials nimmt nach Beck freilich Aktionsformen an, deren Stoßkraft unter Bedingungen transnationaler Handlungsoptionen darauf beruht, dass die auf je unterschiedliche Art erzeugte Spannung zwischen Legitimität und Legalität abgedunkelt wird.157 Das »Zwangserziehungsprogramm zu Weltoffenheit«, welches die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche den Akteuren zu verordnen scheinen, bleibt also ambivalent: Es erzeugt gesteigerte Anpassungsleistungen ebenso wie eine breite Palette von Widerstandsformen, die vom »störrischen Nun-erst-recht-Nationalismus« bis zu einer wendigen kosmopolitischen Subpolitik reichen können.158 Weit stärker noch als Ulrich Beck stellt Colin Crouch in seinem populärwissenschaftlichen Bestseller 159 Postdemokratie einen Zusammenhang zwischen politischen und ökonomischen Latenzaspekten her. Er vertritt unumwunden die These, dass ein kritisches Publikum, welches die Leitwerte der Demokratie ernst nimmt und angesichts des gegenwärtigen ›Politainments‹, »nach einer größeren Transparenz des Regierens und nach Verfassungsreformen« verlangt, in Gefahr ist, etwas Entscheidendes zu übersehen. Die 155. Bereits 1986 hatte Beck die folgende These über den Zusammenhang von Latenz und Manifestation des Latenten vertreten: »Die Gestaltbarkeit der Moderne beginnt sich in die ›latenten Nebenwirkungen‹ zu verkriechen, die sich einerseits zu bestandsgefährdenden Risiken ausdehnen, andererseits die Sichtschleier der Latenz verlieren. Was wir nicht sehen und nicht wollen, verändert immer sichtbarer und bedrohlicher die Welt« (Risikogesellschaft, S. 306). Das Latente manifestiert sich in Gestalt ungewollter (nicht-intendierter) bzw. vorweg nicht erkannter Nebenfolgen von Handlungen. 156. Ulrich Beck: Der kosmopolitische Blick, Frankfurt a.M. 2004, S. 154. 157. Beck diskutiert exemplarisch drei Typen: 1. den translegalen, autorisierten, nichtanerkannten Kosmopolitismus von unten, 2. den hochlegitimen, fragilen, mandatslosen Kosmopolitismus von unten, 3. die illoyale (Trans)Legalität (vgl. ebd., S. 156ff.). 158. Chantal Mouffes These, Beck betrachte die Wirkungen, welche die Gegenmacht ausübt, »nicht als Ergebnisse politischer Kämpfe […], sondern als – unbeabsichtigtes und unpolitisches – Ergebnis von ›Nebenfolgen‹«, verkürzt Becks Position entschieden (vgl. Über das Politische – Wider die kosmopolitische Illusion (2005), Frankfurt a.M. 2007, S. 66). 159. Der Vorwurf, soziologische Theorie in ein populäres Design zu verpacken und komplexe Verhältnisse damit über Gebühr zu vereinfachen, ist gegen Beck immer wieder erhoben worden. Bei angloamerikanischen Autoren legt man gewöhnlich weniger strenge Maßstäbe an.

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Konzentration auf politische Fragen im traditionellen staatsorientierten Sinne führt zu einer eingeschränkten Wahrnehmung. Man bleibt auf die »Regierungen und ihre Geheimnisse« fi xiert und steht beständig vor der Frage, ob bestimmte Indizien auf die »Manipulation der Meinung« durch den Staat hinweisen oder vielmehr verdeutlichen, in welchem Umfang das politische Agenda-Setting von Meinungsumfragen abhängig ist. Bürger, die sich auf die Dialektik des demokratischen Spiels von Öffnen und Verbergen einlassen, setzen auf die Selbstheilungskräfte einer zwar krisengeschüttelten, aber strukturell immer noch funktionstüchtigen Politik. Damit jedoch bekommen sie »das grundlegende Problem der Gegenwart nicht in den Blick: die Macht der Wirtschaftseliten.« 160 Als Beweis für seine These führt Crouch keine empirischen Evidenzen ins Feld, sondern verweist auf eine faszinierende Art der Latenz: Unter der Bedingung deregulierter Finanz- und Arbeitsmärkte gewinnt das erfolgreiche Wirtschaftsunternehmen des frühen 21. Jahrhunderts »Phantom-Charakter«. Es erscheint als »ein elastisches, flexibles, sich konstant veränderndes Irrlicht« und weckt daher den Eindruck, eine im Vergleich zu den klassisch fordistischen Firmen deutlich schwächere Institution zu sein. Dieser Eindruck hat – wie Crouch moniert – hochkarätige Gesellschaftstheoretiker (z.B. Manuel Castells und Anthony Giddens) »zu der Annahme veranlasst, Kapital sei nicht länger eine soziopolitische Kategorie.« 161 Wer zu derartigen Schlussfolgerungen gelangt, nimmt – nach Crouch – die Latenz als Anzeichen einer Realität, die keinen doppelten Boden besitzt. Phänomene des Verschwimmens und Verschwindens provozieren bei Castells und Giddens keine Initiativen der Auf klärung, die hinter die Kulissen schauen will. Sie gelten vielmehr als Belege für eine Macht, die sich auf viele Punkte verteilt und daher neue Möglichkeiten der sub- oder meta-politischen Einflussnahme oder Kontrolle schaff t. Crouch sieht das anders. Gegen diesen Positivismus des Entzugs und der Verdünnung ökonomischer Kräfte verteidigt er energisch das bewährte Latenzmodell. In den neuen globalen Unternehmensformen erkennt er Figuren der Machtkonzentration und der hegemonialen Praxis. Sein Fazit lässt daher an Klarheit nichts zu wünschen übrig: »Unsichtbarkeit wird zur Waffe.«162 Was bei Crouch noch als Metapher für den neu aufflammenden Klassenkampf »im postdemokratischen Zeitalter«163 fungiert, nimmt bei dem italienischen Journalisten Roberto Saviano reale Gestalt an. Waffengewalt und kapitalistische Ökonomie gehen im »Reich der Camorra« 164 enge Verbindungen 160. Colin Crouch: Postdemokratie (2003), Frankfurt a.M. 2008, S. 21f. – Crouch macht sich über die Verdachts-Metaphorik seiner Diagnose keine Gedanken. Er konstatiert das Spektakel der demokratischen Politik und gelangt zu folgendem Schluss: »Im Schatten dieser politischen Inszenierungen wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht« (ebd., S. 10). 161. Ebd., S. 53. 162. Ebd., S. 53f. 163. Ebd., S. 71ff. 164. Roberto Saviano: Gomorrha. Reise ins Reich der Camorra, München 2007. Vgl. hierzu als Kontrast auch die Analysen von Hans Magnus Enzensberger aus dem

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ein, die sichtbare Leichen und unsichtbare Produktionsweisen hervorbringen. Saviano übersetzt seine ebenso kühnen wie minutiösen Recherchen vor Ort in präzise Schilderungen, die die Leser aufwühlen und zu Protestaktionen veranlassen sollen. Für ihn ist die Camorra kein Sonderfall, kein extremes Beispiel für jene theoretisch interessante, aber empirisch seltene »Kausalität im Süden«165, welche die evolutionäre Errungenschaft funktionaler Differenzierung in Frage stellt, sondern das Paradigma für die postfordistischen Zustände. Die Toten, die der archaische Konkurrenzkampf zwischen den einzelnen Firmen-Clans an die Oberfläche medialer Wahrnehmung spült, lenken nur ab von den untergründigen ökonomischen Prozessen. Hier geschieht das Entscheidende und entzieht sich der Sichtbarkeit. Nur der getarnte Beobachter kann die wesentlichen Dinge und Ereignisse an Ort und Stelle erkennen und davon Zeugnis ablegen. Er allein sieht Details, die derart signifi kant sind, dass sie Auskunft über die Struktur des Ganzen geben: »Schuhe und Textilien gelangen im Verborgenen auf den internationalen Markt.«166 Was für diese banalen Konsumgüter gilt, triff t auch auf die ganze Palette der Produkte zu: »Der Ursprung aller Waren ist dunkel. Das ist das Gesetz des Kapitalismus.«167 Freilich will Saviano damit nicht die verschiedenen historischen Phasen der kapitalistischen Entwicklung über einen Kamm scheren. Was er im Auge hat, ist die »postfordistische Restrukturierung«168, die sich als radikale Deregulierung entpuppt. Die Camorra nimmt keine Rücksicht auf die letzten Bastionen des nationalen Arbeitsrechts. Sie vollstreckt nur ohne jede Hemmung die neoliberalen Programme: »Es gibt weder Verträge noch bürokratische Regeln. Von Angesicht zu Angesicht werden Zugeständnisse und Verpflichtungen festgelegt, die vage an Recht und Befugnisse erinnern. […] Daraus entsteht ein Gemeinschaftsleben, es verwirklicht sich der Traum der postfordistischen horizontalen Gesellschaft.«169 Aber diese Gemeinschaft stiftet nicht mehr durchweg die ›warmen‹ Zonen der Loyalität und Fürsorge, wie sie in den Mythen über das organisierte Verbrechen und seine festen familialen Bindungen verherrlicht werden. Die Clans kompensieren nicht etwa den Abbau des Wohlfahrtsstaates durch den forcierten Auf bau eines internen Systems pastoraler Hege und Absicherung. Im Gegenteil: die neuen Verhältnisse führen auch hier dazu, dass die ›Sozial-Leistungen‹ der Camorra gekürzt werden.170

Jahre 1961: »Pupetta oder das Ende der neuen Camorra«, in: Ders.: Politik und Verbrechen, S. 139-175; siehe ferner Henner Hess: Mafia. Zentrale Herrschaft und lokale Gegenmacht Tübingen 1970, sowie Alessandro Silj: Verbrechen, Politik, Demokratie von 1943-1996 (1999), Frankfurt a.M. 2002. 165. Niklas Luhmann: Kausalität im Süden, in: Soziale Systeme 1 (1995), S. 7-28. 166. R. Saviano: Gomorrha, S. 28. 167. Ebd., S. 41. 168. Ebd., S. 59. 169. Ebd., S. 39. 170. Vgl. ebd., S. 59.

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Savianos gesamte Darstellung ist von der Differenz zwischen Oberfläche und Tiefe, zwischen dem Sichtbaren und dem Verborgenen beherrscht. Dies betriff t insbesondere das Verhältnis der Politik zum organisierten Verbrechen, das als wirtschaftliches Unternehmen agiert und seine einzelnen Investitionen nach bestimmten Gesichtspunkten vornimmt. Als besonders markantes Beispiel dienen Saviano die Zustände in Kampanien171: »Nie war die Kriminalität im Wirtschaftsleben eines Gebietes so omnipräsent und erdrückend wie in den letzten zehn Jahren in Kampanien. Anders als die sizilianischen Mafiosi brauchen die Clans der Camorra die Politiker nicht; hier sind es die Politiker, die das System dringend brauchen. Die in Kampanien verfolgte Strategie hat dazu geführt, dass die an der Oberfl äche sichtbaren und den Medien am meisten ausgesetzten Strukturen der Politik scheinbar immun gegen Verquickungen mit dem organisierten Verbrechen sind, aber in der Provinz, in den Orten, wo die Clans bewaffneten Beistand benötigen, im Untergrund nicht entdeckt werden dürfen oder gefährliche ökonomische Manöver wagen wollen, sind die Bündnisse zwischen Politikern und Familien der Camorra dafür um so enger. An die Macht kommen die Clans der Camorra durch das Imperium der Geschäfte. Das reicht aus, um alles Übrige zu beherrschen.«172

Während Saviano also die postfordistische Wende des Kapitalismus als Umstrukturierung beschreibt, deren Logik sich in den verborgenen Machenschaften der Camorra quasi in ›Reinkultur‹ entfaltet und daher auch anhand dieses Falles am besten aufschlüsseln lässt, analysieren Luc Boltanski und Eve Chiapello in ihrem Buch Le nouvel esprit de capitalisme die wirtschaftlichen und sozialen Umbrüche der letzten zwei Jahrzehnte173 mit Blick auf die Unterscheidung von Markt und Netzwerk. Ihre zunächst verblüffende These ist, dass sich im Zuge der jüngsten Entwicklungen eine Lage ergeben hat, die sich nicht mehr mit den neoliberalen Konzepten à la Milton Friedman angemessen beschreiben lässt. Damit verabschieden sie sich explizit von der pauschalen Kritik an einer vermeintlich weltweit zur Herrschaft gelangten Wirtschaftsideologie, der die aktuellen Probleme und Nebenfolgen zugerechnet werden können. Nach Boltanski/Chiapello ist die Hegemonie des ›reinen‹ Neoliberalismus bereits durch eine viel raffiniertere Form der Verknüpfung von ökonomischen Strukturen und individuellen Einstellungsmustern abgelöst worden. Der Neoliberalismus beruht ihrer Meinung nach auf Legitimationsprinzipien, die den Markt und seine Gesetze ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Er unterwirft sich »Regeln, die die Transparenz des Mark171. Vgl. auch die TV-Dokumentation: »Das dunkle Business der ›Ndrangheta‹«, Dokumentation von Agnès Gattegno, Frankreich 2008 (ARTE, 16. 12. 2008). 172. R. Saviano: Gomorrha, S. 61. 173. Siehe Luc Boltanski/Eve Chiapello: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003. Boltansky/Chiapello unterscheiden drei Formen des kapitalistischen »Geistes«: Die erste Form bestimmt Ende des 19. Jahrhunderts die Wirtschaftsaktivitäten, die zweite prägt den Zeitraum zwischen 1940 und 1970 und die dritte Form (der besagte »Le nouvel esprit de capitalisme«) gewinnt seit 1980 Einfl uss.

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tes174 sichern und für eine ausgeglichene Konkurrenz sorgen«, zugleich aber auch »Beschränkungen einer größtmöglichen Profiterzielung sind.« 175 Diese cum grano salis gültigen Regeln werden aber seit ca. 1980 zunächst untergraben und dann rücksichtslos gebrochen. Der Kapitalismus beginnt, »seine Organisationsweise und die Personalführung der Arbeitskräfte grundsätzlich [zu] veränder[n].«176 Durch die Etablierung netzwerkartiger Produktionsformen und einer entsprechenden Unternehmenskultur werden jetzt »undurchschaubare Organisationsstrukturen«177 geschaffen.178 Der neue Kapitalismus folgt also nicht mehr der Marktlogik, welche prinzipiell auf die Transparenz der Austauschprozesse angewiesen ist, sondern etabliert mit den NetzwerkKonzepten eine andere Logik des Verhaltens. Zu vergleichbaren Befunden sind auch andere Forscher gelangt. In einem einschlägigen Aufsatz analysiert Christian Lahusen den Mangel an Transparenz, der nicht nur für die internen ökonomischen Netzwerke, sondern auch für die neuen Beziehungen zwischen Politik und Wirtschaft charakteristisch ist. Lahusen diagnostiziert den Umbau der politischen Steuerungspraktiken, der in wichtigen Bereichen auf eine Ent-Staatlichung und Ent-Mächtigung der Politik hinausläuft. Durch rein negative Bestimmungen lässt sich freilich die Bedeutung des aktuellen Trends nicht adäquat erfassen. Auf der Folie konkreter Untersuchungsergebnisse macht Lahusen daher den interessanten Vorschlag, von einer »Kontraktualisierung der Politik« zu sprechen. Besonders bemerkenswert an diesem Prozess ist nun die Möglichkeit, dass sich die frisch installierten »Verhandlungsnetzwerke und Diskussionsrunden […] mittels der Kooperationsmaßnahmen als autonome Steuerungsarenen gegenüber Staat und Öffentlichkeit konsolidieren und immunisieren«. Darüber hinaus zeichnen sich solche 174. Die Annahme, das Marktgeschehen beruhe auf Regeln, die Transparenz sichern, ist allerdings stark kontextabhängig. Offe/Ronge konnten 1976 noch die Spannung zwischen »der undurchschauten Dynamik von Marktmechanismen« und den »sichtbare(n) politische(n) und administrative(n) Strategien des Staates« diagnostizieren (Claus Offe/Volker Ronge: »Thesen zur Begründung des Konzepts des ›kapitalistischen Staates‹ und zur materialistischen Politikforschung«, in: Claudio Pozzoli (Hg.), Rahmenbedingungen und Schranken staatlichen Handelns, Frankfurt a.M. 1976, S. 54-70, hier: S. 69). 175. Luc Boltanski/Eve Chiapello: »Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel«, in: Berliner Journal für Soziologie 4 (2001), S. 459-477, hier: S. 474. 176. Ebd., S. 470. 177. Ebd., S. 464. Vgl. hierzu auch Alex Demirovic: »Neoliberalismus und Hegemonie«, in: Christoph Butterwege/Bettina Lösch/Ralf Ptak (Hg.), Neoliberalismus. Analysen und Alternativen, Frankfurt a.M. 2008, S. 17-33, hier: S. 30f. 178. Auf eine weniger ›tiefe‹ Form der Latenz im Kontext von netzbasierter Produktion weist Michaela Goll hin: Durch das Arbeiten im Netz entstehe eine bisher nicht gekannte Unsichtbarkeit der konkreten Tätigkeiten. Die geleistete Arbeit werde unkenntlich und müsse durch explizite Kommunikation sichtbar gemacht werden (siehe Michaela Goll: Arbeiten im Netz. Kommunikationsstrukturen, Arbeitsabläufe, Wissensmanagement, Opladen 2002).

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»Verhandlungen und Vereinbarungen […] auch durch ein höheres Maß an Intransparenz aus, weshalb Kooperationsaktivitäten zu einer neuen Form der ›insider‹- und expertenbasierten Arkanpolitik werden können.«179 Damit bestätigt Lahusen die Einschätzung von Boltanski/Chiapello. Im Unterschied zu seinen französischen Kollegen gibt er sich jedoch mit dem Erreichten zufrieden. Boltanski/Chiapello treiben die Analyse noch ein Stück weiter: Sie begreifen die Entstehung neuer Arkanzonen nämlich als Element eines paradoxalen Vorgangs, den sie nicht nur auf die innere Widersprüchlichkeit des Kapitalismus zurückführen, sondern mit dem vehementen Protest gegen die Auswüchse dieser Wirtschaftsform in Verbindung bringen. Die Strategie, welche dem nouvel esprit de capitalisme entspringt, ist unter dieser Perspektive weit mehr als bloß einer der notorischen Versuche, die Profitmargen zu erhöhen. Sie ist in erster Linie eine Antwort auf die zwischen 1965 und 1975 vorgebrachte Kritik, die den Kapitalismus in eine schwere »Krise« stürzte. Boltanski/Chiapello – das unterscheidet ihre Analyse von strikt marxistischen Positionen und auch noch von der so genannten »Regulationstheorie« 180 – interpretieren den Kapitalismus als eine Produktionsform, die nur dann funktioniert, wenn sie sich auf ein breit akzeptiertes Set sozialer Normen berufen kann bzw. sich normativen Mustern anzuschmiegen vermag, die die modernen Subjekte zumindest teilweise als Mittel ihrer Selbstverwirklichung anerkennen können. Der Kapitalismus steht folglich unter einem dauernden Legitimationsdruck, auf den er durch die entsprechende Einrichtung oder Umgestaltung seiner Produktionsformen reagieren muss.181 Boltanski/Chiapello weisen also auf ein Problem hin, das in sozialen Ordnungen, die sich 179. Ch. Lahusen: »Kontraktualismus«, S. 110. 180. Vgl. Michel Aglietta: Régulation et crises du capitalisme, Paris 1976;

Robert Boyer: La théorie de la régulation: Une analyse critique, Paris 1986; Josef Esser/Christoph Görg/Joachim Hirsch (Hg.), Politik, Institution und Staat. Zur Kritik der Regulationstheorie, Hamburg 1994. 181. Boltanski/Chiapello verwenden hier einen quasi ›substantiellen‹ Begriff von Legitimation und normativer Einbettung der Ökonomie in die Gesellschaft. Man darf natürlich nicht außer Betracht lassen, dass ökonomische und politische Entscheidungen jeweils anderen Kriterien der Sichtbarmachung und Rechtfertigung unterliegen. Während demokratische Politik »stets im Horizont möglicher öffentlicher Entscheidungsprozesse« vollzogen wird und wenigstens prinzipiell auf kollektive Verbindlichkeit zielt, können ökonomische Organisationen wesentlich ›unbelasteter‹ handeln: Ihre »Entscheidungen mögen sehr wohl erhebliche kollektive Folgen haben, aber sie erzeugen diese Folgen zumeist ohne Anspruch auf kollektive Verbindlichkeit. Ökonomische Akteure (etwa Konzerne) sind also davon entlastet, sich vor dem politischen Publikum rechtfertigen zu müssen« (A. Nassehi: »Der Begriff des Politischen«, S. 161). Aber auch diese Klarstellung Nassehis bedarf noch einer Einschränkung: »Die Staatslenker können kaum noch kollektiv bindende Entscheidungen treffen, weil es in der globalisierten Welt keine Kollektive mehr gibt, die ›gebunden‹ werden können. Also entscheiden die Unternehmenslenker, vielleicht nicht kollektiv bindend, aber […] zumindest konzern- oder branchenweit bindend und in vielen Fällen mit enormen Auswirkungen« (Felix Heidenreich: »Die Ethik

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durch die »privilegierte Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums« auszeichnen, stets virulent ist. Letztlich spitzt sich alles auf die Frage zu, wie es möglich ist, »das soziale Mehrprodukt ungleich und doch legitim zu verteilen«. Jürgen Habermas, von dem die zitierten Formulierungen stammen, hat hierauf eine Antwort gegeben, die auch noch für Boltanski/Chiapello gültig ist: Die Lösung des Problems liegt in der Anwendung von »strukturelle[r] Gewalt«, die dafür sorgt, dass »die asymmetrische Verteilung von legitimen Chancen der Bedürfnisbefriedigung in einem Normensystem festgeschrieben wird, das Nachachtung [sic!] findet.«182 Dieser pointierten, aber noch reichlich abstrakten Bestimmung geben Boltanski/Chiapello mit ihren Gedanken zur normativen Imprägnierung moderner Gesellschaften ein klares Profi l. Sie schlagen nämlich vor, moderne Gesellschaften als Gebilde aufzufassen, die Menschen überhaupt erst zu Subjekten machen. Durch identitätsstiftende »Bewährungsproben« wird ein Verfahren zur Differenzierung und Auswahl etabliert, das den Personen die Einnahme bestimmter Plätze im Positionsgitter ermöglicht und den Zugang zu anderen Plätzen verwehrt. Solche historisch variablen »Bewährungsproben«183 sind in ein System von Normen und Regeln eingelassen, die offi ziellen Charakter haben und daher ins Wanken geraten, wenn sie latent unterlaufen werden oder durch heimliche Korruption geprägt sind. Unter solchen Bedingungen können Bewährungsproben ihre Subjektivierungsleistung nur noch in beschränktem Umfang erbringen. Denn es bedarf erheblicher Ressourcen, um zu verhindern, dass der verborgene Missbrauch und ggf. auch die mehr oder minder kaschierten Vorselektionen von Personen unter den Gesichtspunkten Klasse, Rasse und Geschlecht zu Themen der öffentlichen Kommunikation und damit zu potenziellen Objekten der Empörung werden. Wie Boltanski/Chiapello zeigen, entwickelte sich zwischen 1965 und 1975 ein breitenwirksamer kritischer Diskurs, der »versteckte Kräfte«, die die offiziellen »Bewährungsproben aushöhlen«, anprangerte und »unverdiente Vorteile bestimmter Protagonisten« offen legte.184 Dieser Manifestation des Latenten konnte nur durch eine Veränderung der »Bewährungsproben« begegnet werden. Die Unternehmen machten sich die Forderungen nach einer Humanisierung der Arbeitswelt zueigen und kamen so der Forderung nach, das System der Bewährungsproben auf die Besonderheit und Authentizität der Subjekte einzustellen. Man des Marktes und der Markt der Ethiken«, in: Philosophische Rundschau 53 (2006), S. 130-153, hier: S. 145). 182. Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a.M. 1973, S. 132. Habermas wählt den Begriff der ›strukturellen Gewalt‹, der auf Johan Galtung zurückgeht, vor dem Hintergrund der These, dass Klassenkonflikte »latent« (ebd., S. 130) geworden sind. Damit verweist er untergründig auf Karl Marx, der einst vom »stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse« sprach (Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. I (1867), Berlin 1966, S. 765). 183. Vgl. Sven Opitz: »Auf der Suche nach Bedeutsamkeit«, in: Volker Weiß/ Sarah Speck (Hg.), Herrschaftsverhältnisse und Herrschaftsdiskurse, Berlin 2007, S. 117-132, hier: S. 126. 184. L. Boltanski/E. Chiapello: »Die Rolle der Kritik«, S. 474.

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schuf Arbeitsplätze, die eine deutlich höhere Flexibilität, Eigenständigkeit und Kreativität der Beschäftigten nicht nur erlaubten, sondern auch verlangten. Aus diesen Konzessionen der Unternehmen resultierte aber eine paradoxe Lage, die den Betroffenen nicht unmittelbar bewusst wurde. Parallel zur Neugestaltung der Arbeitsweisen lief nämlich auch die (oben bereits angesprochene) Umstrukturierung der ökonomischen Organisationsformen. Es entstanden netzwerkartige Verflechtungen der Unternehmen auf globaler Ebene und es kam zur Aufgliederung der Produktion in verschiedene Subunternehmen, die jeweils projektbezogen angekoppelt wurden. So entfaltete sich eine Netzwerklogik, die auf die konkreten Arbeitsbedingungen durchschlug. Einerseits wurde durch die geschaffenen Veränderungen dem »Wunsch nach stärkerer Entfaltung der eigenen Persönlichkeit« entsprochen, andererseits waren die Arbeitsplätze durch eine Netzwerklogik bestimmt, »die ›flache‹ Persönlichkeiten bevorzugt.«185 Der neue Kapitalismus erkannte also zwar »die Authentizitätsforderung als berechtigt an«, schuf aber »gleichzeitig eine Welt, in der sie eigentlich irrelevant sein sollte.« 186 Dieser Umstand wirkte sich maßgeblich auf eben jene Subjektivierungsprozesse aus, in deren Verlauf die einzelnen Menschen lernen, sich selbst und andere anzuerkennen. Identität erhielt eine neue Form: Aus einem normativ aufgeladenen Selbstbezug, der die bestandenen Bewährungsproben zum Fundament einer kompakten und relativ stabilen Einheit des Ichs zusammenfügt, wurde eine Ad-hoc-Konstruktion, die nur für kurze Zeit gültig ist und Selbstsicherheit stiftet: »Immer mehr Menschen auf dem Arbeitsmarkt […] sind sich nicht sicher, was sie eigentlich ›wert‹ sind. Und das trotz der ständigen, betriebsinternen individuellen Leistungsbilanzierungen […]. Es macht sich die Überzeugung breit, dass der Wert jedes Einzelnen in hohem Maße variabel ist und man sich jeden Tag wieder aufs Neue bewähren muss.«187

Angesichts derartiger Verhältnisse gelangen Boltanski/Chiapello zu der Diagnose, dass die mühsam erkämpfte ›Humanisierung‹ der Arbeitswelt unter (gegenwärtig immer noch herrschenden) Rahmenbedingungen realisiert wurde, die sie tendenziell zerstören. Mit diesem paradoxalen Vorgang – und das macht ihn theoretisch so spektakulär – ist die Verschiebung des relevanten Latenzherdes der gegenwärtigen Gesellschaft verbunden. Bis ca. 1980 bestanden relativ transparente und politisch (also durch Instrumente des nationalstaatlichen Krisenmanagements) abgesicherte bzw. kontrollierte Märkte. Gleichzeitig aber wurde im Verborgenen das herrschende System der Bewäh185. Martin Hartmann: »Paradoxien des ›neuen‹ Kapitalismus«, in: Anna Geis/ David Strecker (Hg.), Blockaden staatlicher Politik, Frankfurt/New York 2005, S. 199-212, hier: S. 210. Hartmann arbeitet die bei Boltanski/Chiapello dargestellten Paradoxien präzise heraus, vernachlässigt aber völlig die Latenz-Thematik. 186. L. Boltanski/E. Chiapello: Der neue Geist, S. 489; vgl. dazu auch M. Hartmann: »Paradoxien«, S. 211. 187. Ebd., S. 367.

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rungsproben und Legitimationsprinzipien durch interne Korruption zerstört. Seit ca. 1965 begann sich dieser Sichtschleier unter den Einwirkungen der grassierenden Kapitalismuskritik langsam aufzulösen. Ab 1980 entstanden dann neuartige ökonomische Netzwerke, die sich in Arkanzonen verwandelten, die auch heute noch bestehen und sich immer weiter ausdehnen. Hier gedeihen die latenten Kräfte, die unerkannt ihre Wirkung entfalten und die Betroffenen mit Situationen konfrontieren, die sie nur unter Schwierigkeiten bewältigen können. Während die situativ verstrickten Subjekte ihre Probleme zumeist nur als diff uses Unbehagen oder als Selbstwertkrise zum Ausdruck bringen, ist die Soziologie willens und fähig, die paradoxe Struktur der entstandenen Lage freizulegen. Freilich können Boltanski/Chiapello die veränderte Latenz-Topographie und das Paradoxieproblem in ihrem diagnostischen Entwurf nur verklammern, weil sie beides – die Reproduktion des Kapitals und den Prozess der Subjektivierung einzelner Menschen – als normenbasierte und normenabhängige Vorgänge auffassen. Dass sie so vorgehen, liegt nicht allein an ihrem handlungstheoretisch orientierten Konzept von Gesellschaft, sondern auch an dem empirischen Material, das sie in ihrer Studie in erster Linie auswerten. Ihre Hauptquelle ist die kursierende Managementliteratur, die inzwischen für fast alle sozialen Bereiche Verhaltensmaximen bereitstellt. Eine alternative ›post-normativistische‹ Interpretation der aktuellen Formen der Selbststeuerung bzw. des Selbstmanagements liefern so genannte normalistische Ansätze, die das Verhältnis von subjektiver Freiheit und sozialer Einbettung spätmoderner Individuen neu bestimmen.188 Die Verschiebung der latenztheoretischen oder enthüllungsjournalistischen Aufmerksamkeit von der Politik hin zur Ökonomie impliziert zumeist einen Begriff von Politik, der den Staat als Instanz gesellschaftlicher Gesamtsteuerung stark relativiert. Mit der Manifestation ›tiefer‹ Latenzen auf dem Felde der Ökonomie – seien es die unsichtbaren Machenschaften des Kapitals und der Wirtschaftseliten (Beck, Crouch) oder die Latenzen der zivilgesellschaftlichen Gegenaktionen (Beck), die geheimen Zusammenhänge von Kriminalität und Wirtschaft (Saviano) oder die netzlogisch bedingten Intransparenzen der neuen Ökonomie (Boltanski/Chiapello) – ist nicht der Appell an einen sich unter dem Problemdruck der Verhältnisse aufraffenden und Stärke zeigenden Staat verbunden, sondern mehr oder minder explizit ein Plädoyer für nicht-staatliche Politikformen. »Bringing the State back in« 189 ist daher nicht das Losungswort dieser ökonomischen Aufklärungsarbeit. Die Anrufung des Staates als letzten Helfer in der Not ist eher mit der Diagnose flacher ökonomischer Latenzen verknüpft. Dies kann man an den Debatten über die Finanzkrise im Herbst 2008 studieren. Zeitungen und TV-Berichte setzen ihre alarmierten Leser und Zuschauer (nachträglich) davon in Kenntnis, dass

188. Vgl. dazu unten in Abschnitt 5.4 die Ausführungen zum Verhältnis von Neoliberalismus, Gouvernementalismus und flexiblem Normalismus. 189. So lautet der programmatische Titel des berühmten Aufsatzbandes von Peter B. Evans/Dietrich Rueschemeyer/Theda Skocpol (Hg.), Bringing the State back in, Cambridge 1985.

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»faule Kredite durch Verbriefung unkenntlich gemacht wurden.«190 Der weltweite Handel mit intransparenten Finanzprodukten und der Geleitschutz dieser Geschäftspraktiken durch korrupte Rating-Agenturen führen nun selbst in neoliberalen Kreisen zum Ruf nach staatlichen Eingriffen und Kontrollen. Die Interventionen sollen aber nicht ›tief‹ reichen, sondern nur die erforderlichen oberflächlichen Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Erholung bereitstellen. Nach Beendigung oder Entschärfung der Krise – so ist zu erwarten – weichen die Kontrollansprüche an den Staat erneut den notorischen Lockerungswünschen. Vermutlich sollen dann wieder die vorherigen »Regeln zur Aussetzung aller Regeln«, deren »Prinzipien […] am eindeutigsten […] in dem berüchtigten ›Multilateralen Abkommen über internationale Investitionsbedingungen‹ (MAI) zum Ausdruck« kommen, in Geltung gesetzt und die Fundamente einer »politische[n] Ökonomie der Ungewissheit« neu gegossen werden.191 Träfe diese schon vor Jahren vertretene These von Zygmunt Bauman den Kern der Sache, so ginge es letztlich nur darum, auch und gerade ökonomische Krisen zu nutzen, um »die konkreten und potentiellen Hindernisse einer freien Kapitalbewegung abzubauen.«192 Obschon Baumans Diagnose ein illusionsloses Bild der Kapitallogik und der sie mehr oder minder bewusstlos vollstreckenden postmodernen Subjekte entwerfen möchte, muss er (unfreiwillig?) eingestehen, dass es immer noch äußerst wirksame sozialstrukturelle Hindernisse für eine völlig ungehemmte Entfaltung des Kapitals gibt.193 Ansonsten wären die von ihm bloßgestellten ›konzertierten Aktionen‹ von Kapital und Politik völlig überflüssig. Baumans Beschreibung bedient sich einer Prima-facie-Rhetorik der Aussichtslosigkeit und macht zugleich auf Kräfte und Strukturen aufmerksam, die den skizzierten Prozess der gesteigerten Ungewissheitsproduktion stören und bremsen. In den Staat als Gestalt des Katechon kann und will freilich auch Bauman – ebenso wie Beck – kein Vertrauen mehr setzen. Subpolitisch inspirierte Akteure, welche die Operationslogiken herkömmlicher Institutionen unterlaufen, erscheinen als die einzig denkbaren Potenziale, auf deren Gegeninitiativen Verlass sein dürfte. Akteurszentriert argumentieren zuweilen auch Theorien, die sich mit den ›tiefen‹ Latenzen der de-regulierten Finanzmärkte bzw. der bestehenden Kreditsysteme befassen und diejenigen Probleme herausarbeiten, welche mit der Ansammlung hoher Geld-Vermögen verbunden sind.194 Staatliche Rah190. So eine Formulierung in der Bundestagsrede des deutschen Finanzministers Peer Steinbrück am 25. 9. 2008. 191. Zygmunt Bauman: Die Krise der Politik (1999), Hamburg 2000, S. 246. 192. Ebd., S. 48; vgl. Pierre Bourdieu: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion, Konstanz 1998, S. 109ff. 193. Als instruktive Auflistung und Kritik solcher (primär durch den demokratischen Staat geschaffenen) Bremsfaktoren, deren Beseitigung dringend erforderlich sei, vgl. Dirk Meyer: »Die Entmachtung der Politik«, in: Leviathan 3 (2005), S. 306324; siehe auch: Jean-Marie Guéhenno: Das Ende der Demokratie, München 1994. 194. Christoph Deutschmann: »Finanzmarkt-Kapitalismus und Wachstumskrise«, in: Paul Windolf (Hg.), Finanzmarkt-Kapitalismus. Analysen zum Wandel von

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mensetzungen werden hier zwar als unverzichtbar betrachtet, weil das »kapitalistische System gar nicht in der Lage ist, ein dynamisches Gleichgewicht aus sich selbst heraus dauerhaft sicherzustellen«195, aber zugleich schüren die Analysen den Verdacht, dass staatliche Nothilfeprogramme und Blitzkampagnen nur die Bedingungen für die nächste Krise schaffen196: »Selbst die mächtigsten und finanzkräftigsten Nationalstaaten werden auf die Dauer nicht in der Lage sein, ihre Rolle als Reparaturbetrieb des Kapitalismus zu erfüllen und eine allgemeine Schuldenkrise abzuwenden.« 197 Langfristig effektive Abhilfe verspricht allenfalls die Enthüllung einer latenten Disposition, die zu einem »selbstwidersprüchlichen Handeln der Vermögenseigentümer« führt: Einerseits wollen die Vermögenseigentümer keine unternehmerischen Risiken eingehen, andererseits aber auf hohe Renditen nicht verzichten. Statt die Rolle engagierter Unternehmer zu spielen, gerieren sie sich als »Vermögensrentner, die nicht nur keine Leistungsfunktionen mehr wahrnehmen, sondern auch die Investorenfunktion an Fonds delegiert haben«198, deren vordergründige Aufgabe darin besteht, grotesk überzogene Gewinnerwartungen zu wecken und wenigstens kurzfristig zu befriedigen. Auf diese Weise entsteht jene »typische Konstellation, die spekulative Blasen der Vermögenswerte und nachfolgende Zusammenbrüche zu erzeugen pflegt.«199 Latenzdiskurse, in denen derartige Zusammenhänge aufgedeckt werden, bieten ihrem Publikum ein handfestes Lernprogramm an: Die Akteure sollen endlich »die Paradoxien ihres eigenen Handelns […] durchschauen und die ungeplanten Handlungsfolgen« nicht länger »ignorieren«.200 Alle hier aufgeführten Beispiele aus den Diskursen der letzten 10 Jahre können als Versuche zur Auslotung ›tiefer‹ ökonomischer Latenzen betrachtet werden. Mit dieser Auswahl ist jedoch nicht die These verknüpft, dass die kritischen Diskurse über Wirtschaft, Arbeit und Finanzen sich in erster Linie für jene Dimension der ›Tiefe‹ interessieren, die im Bereich der Politik (mit wenigen spektakulären Ausnahmen) ab Mitte der 1970er Jahre so sehr an Bedeutung verloren hat. Es existiert vielmehr eine breit rezipierte Literatur zu Problemen, die sich als ›flache‹ ökonomische Latenzen interpretieren lassen. Produktionsregimen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 45 (2005), S. 58-84. Vgl. auch den ›klassischen‹ Text zum Thema: Charles P. Kindleberger/Robert Z. Aliber: Manias, Panics, and Crashes. A History of Financial Crises, New York 2000 (es handelt sich hierbei um die von Aliber bearbeitete Version des erstmals 1978 erschienenen Buches). 195. Christoph Deutschmann: »Ist globaler Kapitalismus mit politischer Demokratie vereinbar?«, in: Leviathan 3 (2005), S. 325-336, hier: S. 333. 196. Zu ähnlichen Diagnosen gelangen auch die bereits erwähnten Vertreter der Regulationstheorie. 197. Ch. Deutschmann: »Ist globaler Kapitalismus mit politischer Demokratie vereinbar?«, S. 335. 198. Ebd., S. 331. 199. Ebd., S. 332. Vgl. auch C. P. Kindleberger/R. Z. Aliber: Manias, Panics, and Crashes. 200. Ebd., S. 336.

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Man denke nur an Günter Wallraffs Industriereportagen201, an Barbara Ehrenreichs Studie Arbeit poor202, an Naomi Kleins Beschreibung der Standortpolitik der Marken-Firmen203, an die Bücher und Filme über den Oil-for-Food-Skandal204, an Geraint Andersons Berichte über die Praktiken des Investment-Banking205 oder an Erwin Wagenknechts Film Let’s make money.206

5.4 Der ›Rückzug‹ der Politik und die ›Normalisierung‹ des Verhaltens Wie die bisherige Rekonstruktion der spätmodernen Latenz-Diskurse zeigt, lassen sich zahlreiche Belege für die Verflachung der politischen Latenz und die Verschiebung der sozial relevanten Latenz-Zone von der Politik in die Ökonomie anführen. Beide Prozesse können als Indikatoren für eine Umstrukturierung der gesellschaftlichen Steuerungsmechanismen gedeutet werden: Mit dem Abbau paternalistischer und fürsorglicher Interventionen des Staates entfallen nicht nur Zuwendungen diverser Art, sondern auch Orientierungsprogramme und Handlungsvorgaben. Der Staat lockert seine Haltetaue und zugleich vermindern sich auch die inneren und äußeren Zwänge, denen die Subjekte – je nach Schichtenzugehörigkeit in unterschiedlichem Maße – ausgesetzt sind. Hinzu kommt eine deutlich gesteigerte Ökonomisierung oder Kommerzialisierung der Kriterien, nach denen private und berufliche Entscheidungen getroffen werden. Zwischen diesen Vorgängen besteht ein enger Zusammenhang, der jedoch nicht auf einfache und direkte kausale Effekte reduziert werden darf. Zu beachten ist, dass der so genannte ›Rückzug‹ der Politik kein isolierbares Grundphänomen der Spätmoderne darstellt, sondern nicht zuletzt eine Reaktion auf veränderte soziale Rahmenbedingungen bildet, zu denen in erster Linie die Auswirkungen der neuen Kommunikationsund Informationstechnologien zu rechnen sind. Denn die Innovationsschübe im Bereich der Mikroelektronik verwandeln – weit stärker als jemals erwartet – die herrschenden Arbeits- bzw. Produktionsverhältnisse und führen insgesamt zu einer dramatischen Beschleunigung207 aller wichtigen Lebensvoll201. Günter Wallraff: Industriereportagen. Als Arbeiter in deutschen Großbetrieben, Reinbek 1970; siehe ferner Ders.: Ganz unten. Beschreibung des Schicksals von illegal eingeschleusten Arbeitern, Köln 1985, sowie Ders.: Enthüllungen. Recherchen, Reportagen und Reden vor Gericht, Frankfurt a.M. 1985. 202. Barbara Ehrenreich: Arbeit poor. Unterwegs in der Dienstleistungsgesellschaft, München 2001. 203. Naomi Klein: No Logo! (2000), München 2001. 204. Jeffrey A. Meyer/Mark G. Califano/Paul A. Volcker: Good Intentions Corrupted: The Oil-for-Food Scandal and the Threat to the U.N., New York 2006; Denis Poncet/Rémy Burkel: Erdöl, Brot und Korruption, Dokumentarfilm, Frankreich 2008. 205. Geraint Anderson: Cityboy: Beer and Loathing in the Square Mile, London 2008; vgl. auch die Fernsehdokumentation »Der große Rausch« (ARD, 8. 1. 2009). 206. Österreich 2008. 207. Mit Hartmut Rosa könnte man sogar von einer »stummen [also latenten],

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züge. Diese Entwicklung spart kaum einen Sektor aus und bringt dennoch keine nivellierte Mittelstandsgesellschaft hervor. Sie verschärft vielmehr die Differenzen zwischen den verschiedenen Schichten oder Klassen. Eine beträchtliche, permanent steigende Anzahl von Menschen wird – oft gleichzeitig oder in rascher Folge – aus mehreren sozialen Bezugssystemen exkludiert und in eine Abwärtsspirale der Depravation getrieben, die nur in seltenen Fällen eine Chance zur Rückkehr gewährt.208 Auf solche Lebenslagen ist der Begriff ›Prekariat‹ zugeschnitten. Individualistische Anspruchskommunikationen jener besonderen Art, wie sie sich in der Hochphase des Wohlfahrtsstaats ausbilden konnte und bewährt hat, verlieren unter Bedingungen der Exklusion ihre Adressaten. Nur oberhalb der Zone, in der krasse Armut und Benachteiligung herrscht, lässt sich die in den langen Prosperitätsphasen entstandene subjektive »Identitätsform« des »Anspruchsindividualismus«209 an die neuen Verhältnisse anpassen und überdies jener Modus von Wunschproduktion und Auswahlverhalten, der für die »Multioptionsgesellschaft«210 charakteristisch ist, durchhalten oder gar steigern. Nur die hier platzierten Subjekte sind in der Lage, ihre Verhaltenspotenziale auch dann noch auszuschöpfen, wenn sich die soziale Situation drastisch verändert und eine Entwicklung abzeichnet, in der es zur Verknappung von Zugriffschancen und Ressourcen kommt. Denn nun muss unter Druck ausgewählt und die Vielfalt der Optionen nach eigenen Kriterien reduziert werden. Staatliche Vorgaben oder gesellschaftlich sanktionierte bzw. gratifizierte Normen reichen nicht länger aus, um den Individuen die komplizierte und strapaziöse Arbeit der Handlungssteuerung abzunehmen. Ohne vorangegangene Prozesse der ›Subjektbildung‹ wären freilich die einzelnen Menschen, die nun in deutlich vermehrtem Umfang Selbstverantwortung tragen müssen, zur Übernahme der neuen Aufgaben, welche Staat und Gesellschaft an die zur Freiheit erzogenen Einzelnen gleichsam delegieren, gar nicht im Stande. Dies bedeutet aber auch, dass die derart belasteten (vielleicht sogar überlasteten) Individuen sich in Orte der Latenz verwandeln, Orte mithin, an denen die eigenen Beweggründe als etwas zutiefst Verborgenes in Erscheinung treten. Erst vor dem Hintergrund einer solchen Erfahrung kann die Suche nach dem wahren Kern des Ichs211 beginnen und einen Weg nehmen, der zunächst einmal eine Station passiert, an der sich das Begehren, das als fi xe Größe im eigenen normativen Gewalt« der Beschleunigung sprechen (Soziale Beschleunigung, Frankfurt a.M. 2005). 208. Vgl. Heinz Bude: Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, München 2008; Heinz Steinert/Arno Pilgram (Hg.), Welfare Policy from Below: Struggles against Social Exclusion in Europe, Aldershot 2003. 209. Uwe Schimank/Stefan Lange: »Politik und gesellschaftliche Integration«, in: A. Nassehi/M. Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen (2003), S. 171-186, hier: S. 179. 210. Vgl. Peter Gross: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M. 1994. 211. Zu den irreführenden Elementen dieser Semantik vgl. Christoph Menke: »Innere Natur und soziale Normativität«, in: Hans Joas/Klaus Wiegandt (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. 2005, S. 304-352.

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Inneren vorgestellt wird, in seiner totalen Leere zeigt. Subjektbildung ist ein Prozess, in dessen Verlauf diese Station zurückgelassen und die Bestimmung der eigenen Motive und Ziele in ihrer unumgänglichen Äußerlichkeit und Kontingenz akzeptiert wird. Über das eigene Begehren kann das Subjekt sich aufklären, indem es dessen Leere in das Verhältnis von Freiheit und Unfreiheit zu übersetzen lernt. Freiheit erscheint dann als Moment des Wahlakts und die Unfreiheit als Eigenschaft des je Wählbaren, über das man sich – da es zugleich vielfältig und endlich ist – informieren muss. Lacan hat für diesen Tatbestand eine berühmte, aber keineswegs sofort einleuchtende Formulierung gefunden: »Das Begehren des Menschen [ist] das Begehren des Anderen.«212 Damit entzieht Lacan die letzen Beweggründe, die das Subjekt lenken, dem Eigensinn und der unmittelbaren wissentlichen Verfügung eben dieses Subjekts. Sobald das Subjekt nicht mehr mit direkten Vorschriften konfrontiert ist, sich also in einer Situation befindet, die die gegenwärtige Gesellschaftstheorie als Effekt des staatlichen Rückzugs und des unverkennbaren Normenverfalls213 beschreibt, ist es auf sich selbst zurückgeworfen, ohne dort festen Grund zu finden. Dieser Zustand kann zur Erschöpfung führen und zur Flucht in die Depression verleiten214, er kann aber auch als Stimulus genutzt werden, sich ein genaues Bild von den vorhandenen Möglichkeiten und den eigenen Zugriffschancen zu machen. Jenes ›Andere‹, das dem Subjekt eine brauchbare Auskunft über das eigene Begehren liefert, die das eigene Innere ihm – trotz gründlicher Introspektion – augenscheinlich verweigert, ist nicht nur leicht zugänglich, sondern es drängt sich dem Subjekt in Gestalt des medialen Informationsangebots auch förmlich auf. Anhand dieser Offerte kann sich das Subjekt nämlich problemlos über die Bandbreite und die gegenwärtigen Verteilungsmuster des Begehrlichen in Kenntnis setzen. Hier findet sich ein ›Anderes‹, das nicht mehr (normativ) fordert, insinuiert oder erzwingt (mithin gerade nicht als Befehlshaber, guter Hirte oder Über-Ich auftritt), sondern bloß die Profi le der kollektiven Bedürfnisse und Realisierungschancen präsentiert. Die Behauptung, dass es solch eine gleichsam ›wertneutrale‹ Materialpräsentation zur Ausübung der Beurteilungs- und Wahlfreiheit des Subjekts in 212. Jacques Lacan: Schriften II (1966), Olten 1975, S. 190. 213. Die meisten Soziologen sind sich darüber einig, dass »soziale Institutionen

wie Familie, Kirche und soziale Gruppen […] ihre normvermittelnde und -prägende Kraft für große Teile der Gesellschaft eingebüßt haben« (Tobias Singelnstein/Peer Stolle: »Soziale Kontrolle in High Control Societies«, in: Kriminologisches Journal, 9. Beiheft (2007), S. 105-118, hier: S. 109). Sozialisationsprozesse führen – dieser Einschätzung nach – also nicht mehr unweigerlich zu einer Verinnerlichung von Normen und machen daher neue Orientierungsweisen erforderlich. Wer sein Handeln nach wie vor an Normen ausrichten möchte, muss nun die Pluralität und Kontingenz von Normen akzeptieren und sich bewusst (ggf. rational) für bestimmte situativ oder generell geeignete Normen entscheiden oder (z.B. mit Hilfe der Medien) nach Alternativen zu Normen Ausschau halten. 214. Vgl. Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft (1999), Frankfurt/New York 2004.

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der spätmodernen Mediengesellschaft tatsächlich gibt, gehört zu den intellektuellen Provokationen, die die Theorie des ›flexiblen Normalismus‹ enthält.215 Es bereitet vielen Beobachtern erhebliche Schwierigkeiten, ihre Hypothesen wirklich ernst zu nehmen216, und es kann daher auch nicht verwundern, dass sie in der Medientheorie bzw. in der medien-affinen Theorie politischer Latenz zumeist für unwahrscheinlich gehalten oder mit neoliberalen Positionen in einen Topf geworfen wird. Autoren, die den Rückzug des Staates als Inszenierung und die allgemeine Normenkrise als bloßen Schein deuten, sehen im ›flexiblen Normalismus‹ und im Neoliberalismus nur eine Strategie, die es darauf anlegt, dass »historisch konkrete subjektive – also individuell verschiedenartige – Leistungen bzw. Handlungen gesellschaftlich zunehmend funktional werden.«217 Letztlich geht es – so wird argumentiert – nur darum, »die Verantwortung für gesellschaftliche Risiken […] in den Zuständigkeitsbereich« der Subjekte zu verlagern und in ein »Problem der Selbstsorge« zu transformieren. Die Einzelnen werden, ohne dass sie dies bemerken, dazu angehalten oder aufgefordert, »mögliche Handlungsalternativen rational zu kalkulieren.«218 Auf welche geheimnisvolle Weise eine solche Aufforderung ergeht und warum ihr so widerstandslos Folge geleistet wird, bleibt aber in dieser Kritik völlig ungeklärt. Sicher ist nur, dass »staatliche Apparate und gesellschaftliche Institutionen« durch Einsatz der Medien reichhaltige »Informationen« über bestehende Risiken zur Verfügung stellen, die die Rezipienten dazu bringen, sich adäquat zu verhalten und eintretende Schäden sich selbst zuzurechnen.219 Die Rücknahme staatlicher Direkt-Lenkung des individuellen Verhaltens und die Ermöglichung eines Freiraumes subjektiver Selbststeuerung soll nur dem verborgenen Zweck dienen, »Harmonie zwischen politischen Staatszielen und einem persönlichen ›state of esteem‹ herzustellen.‹«220 Wenn diese These tatsächlich zutriff t, so folgt daraus, dass »es ein unreduzierbares Zwangsverhältnis im Inneren der liberalen Beziehung gibt.«221 Individuelle Freiheit entpuppt sich hier nicht allein als purer Schein, sondern als ein äußerst subtiles 215. Vgl. Jürgen Link: Versuch über den Normalismus, Opladen 1996; Lutz Ellrich: »Normalität und Normativität«, in: Christina Bartz/Marcus Krause (Hg.), Spektakel des Normalismus, München 2007, S. 25-52. 216. Zum empirischen Gehalt der Normalismus-Theorie vgl. Lutz Ellrich: »Medialer Normalismus«, in: Jutta Almendinger (Hg.), Gute Gesellschaft?, Opladen 2001, S. 372-398; sowie Ders.: »Die ›digitale Elite‹ als Impulsgeber für sozialen Wandel«, in: Andreas Ziemann (Hg.), Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz 2006, S. 141-160. 217. Frank Kleemann/Ingo Matuschek/G. Günter Voß: »Subjektivierung von Arbeit. Ein Überblick zum Stand der soziologischen Diskussion«, in: Manfred Moldaschl/G. Günter Voß (Hg.), Subjektivierung von Arbeit, München 2002, S. 53100, hier: S. 57. 218. T. Lemke: Gouvernementalität und Biopolitik, S. 55. 219. Ebd., S. 55f. 220. Ebd., S. 57. 221. Ebd., S. 60.

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und latent gehaltenes Täuschungsmanöver, welches die Subjekte am Prozess ihrer eigenen Manipulation aktiv beteiligt.222 Die Gegenstrategie einer Theorie, die den latenten Mechanismus der Selbstmanipulation und die Illusionen der spätmodernen Freiheitsfiguren entdeckt hat, liegt ersichtlich darin, »das Fremdbestimmte in den Appellen zur Selbstbestimmung und das Unverantwortliche [des neoliberalen] Verantwortungsimperativs aufzuzeigen.«223 Aus welchen Quellen eben diese Entlarvungsoperation allerdings ihre Urteilskräfte und Kompetenzen schöpft, vermag Lemkes Theorie nicht bündig zu sagen. Die eigene Freiheit zur Kritik, die der Beobachter mit seinem Einspruch beweist, bleibt ein Geheimnis.224 Es kommt aber noch etwas Weiteres hinzu: Dem methodischen Defizit der vorgetragenen Invektiven korrespondiert eine merkwürdig diff use Vorstellung von individueller Mediennutzung. Was die subjektiven Freiheitsspielräume, die mit dem Rückzug des Staates und der Schwächung kollektiver Normensysteme entstehen, letztlich wert sind, lässt sich erst dann sinnvoll beurteilen, wenn der konkrete Umgang der Subjekte mit den Medien, die sie angeblich mit den verkappten Appellen und Imperativen der Kontrollgesellschaft versorgen, erforscht wird. Foucaults immer wieder zitierte Auskunft – »Macht wird nur auf ›freie Subjekte‹ ausgeübt und nur insofern diese ›frei‹ sind«225 – führt nur dann zu Erkenntnisgewinnen, wenn man Form und Eigensinn dieser Freiheit in Handlungskontexten bestimmt, die für die gegenwärtige Gesellschaft charakteristisch sind.226 Zwei Forschungsansätze haben versucht, in dieser Hinsicht Klarheit zu schaffen: Zunächst einmal die Untersuchungen zur »Gouvernementalität der Medien«, wie sie exemplarisch von Markus Stauff durchgeführt wurden, und sodann die Analysen des medialen flexiblen Normalismus, die Jürgen Link initiiert hat. Beide Ansätze widmen sich dem Beitrag der Massenmedien zur subjektiven Selbststeuerung bzw. zur Handlungsorientierung. Indem sie das Augenmerk auf jene latenten Prozesse medialer Regulierung richten, die sich kraft individueller Reflexions- und Wahlakte vollziehen, liefern sie nicht nur Aufschlüsse über das Ineinandergreifen von Freiheit und Abhängigkeit, sie verabschieden auch ein weithin akzeptiertes Dogma der Medientheorie, das die Verortung von Latenz betriff t. Gängige Vorstellungen über das Mediale beruhen nämlich auf der Annahme, dass Medien ihre beachtlichen Wirkun-

222. Vgl. hierzu auch die Überlegungen in Abschnitt 5.7. 223. Ebd., S. 186. 224. Vgl. hierzu auch die Versuche von Jürgen Habermas, Axel Honneth und

Nancy Frazer, die latenten (emanzipatorischen) Quellen der Foucaultschen ›Kritik‹ an Disziplinargesellschaft und Biomacht zu ermitteln. 225. Michel Foucault: »Das Subjekt und die Macht«, in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow: Michel Foucault, Frankfurt a.M. 1987, S. 243-261, hier: S. 255. 226. Foucaults letzte Arbeiten über antike Formen der Selbstsorge und Hygiene sind kaum geeignet, um das aktuelle Zusammenwirken von Selbst- und Fremdsteuerung zu erschließen. Die in den Gouvernementalitäts-Studien behauptete Korrespondenz von individueller und staatlicher Regulierung muss als (latentes) Element der Mediengesellschaft analysiert werden.

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gen erzielen, weil sie sich der Wahrnehmung entziehen.227 Allein den besonderen ›inkongruenten‹ Beobachtungsstrategien, die innerhalb des Kunst- und Wissenschaftssystems gepflegt werden, schreibt man die Fähigkeit zu, das Mediale als Mediales anschaulich zu machen (Kunst) oder begriffl ich zu erfassen (Wissenschaft).228 Mit dieser Position, die so unterschiedliche Autoren wie McLuhan und Luhmann vertreten, bricht das »Modell einer Gouvernementalität der Medien«: Nur dann, wenn man die »gängige These vom Unsichtbarwerden des Mediums im Zuge seiner Habitualisierung« fallen lässt, ist nämlich zu erkennen, in welchem Umfang das jeweils genutzte Medium »als zu bearbeitendes ›Problem‹ in den Alltag eingepflanzt wird«229 und erst dadurch eine effektive Selbstregulation der Subjekte in Gang bringt. Dies geschieht z.B. durch permanentes Thematisieren bzw. Hinterfragen des Mediums Fernsehen im Fernsehen230, das die Zuschauer deutlich wahrnehmen, befürworten und zur Deckung ihres Orientierungsbedarfs nutzen. Latenz lässt sich auf Grundlage einer derartigen Beschreibung nicht mehr dem Medium selbst zurechnen, sondern muss als ein Effekt bestimmt werden, der (wenn überhaupt, dann nur) in den genannten Prozeduren der Reflexion entsteht. Genau hier kann sich die neue Gestalt der Medientheorie in die Kritik des Neoliberalismus einklinken. Die geläufige Kategorie der Medienlatenz weicht einem Begriff von ›Meta-Latenz‹, der sich auf Sichtblenden bezieht, die von den Akteuren selbst (unbewusst) hervorbracht werden. Indem sie sich als Subjekte begreifen, die die medieninterne Problematisierung gleichsam aus der Distanz beurteilen dürfen und ihr weiteres Verhalten frei bestimmen können, geraten sie in eine souveräne, aber auch äußerst anspruchsvolle Position. Der 227. »Im alltäglichen Umgang bleiben die Medien unterhalb der Schwelle unseres (bewussten) Wahrnehmens: In ihrem reibungslosen Funktionieren scheint das Medium hinter die Botschaft zurückzutreten. Der Vollzug von Medien realisiert sich als ihr Entzug« (Sybille Krämer: »Kulturanthropologie der Medien: Thesen zur Einführung«, in: Erika Fischer-Lichte/Christoph Wulf (Hg.), Praktiken des Performativen, Berlin 2004, S. 130-133, hier: S. 131). Die wohl tiefschürfendste Analyse medialer Verborgenheit hat Dieter Mersch (Medientheorien, Hamburg 2006) vorgelegt. 228. Siehe dazu ausführlich Lutz Ellrich: »Mediologische Latenz und die Rekursion der Daten«, in: Birgit Mersmann/Thomas Weber (Hg.), Mediologie als Methode, Berlin 2008, S. 61-78, sowie Ders.: »Latenz und Medialität – einige programmatische Überlegungen«, in: transkriptionen 9 (2008), S. 2-5. 229. Markus Stauff: »Zur Gouvernementalität der Medien. Fernsehen als ›Problem‹ und ›Instrument‹«, in: Daniel Gethmann/Ders. (Hg.), Politiken der Medien, Berlin 2005, S. 89-110, hier: S. 97. Vgl. auch Ders.: ›Das neue Fernsehen‹. Machtanalyse, Gouvernementalität und digitale Medien, Münster 2005. Siehe auch den folgenden Exkurs von Carsten Zorn. 230. »… dadurch, dass [Medien] problematisiert und somit zum Objekt von Sorge und Anleitung werden, [tragen sie] zur Anleitung von Verhaltensweisen sowie zur Verschränkung von Fremdführung und Selbstführung bei. [… Die] Heterogenität der Medien und ihre Verwobenheit mit (anderen) Praktiken und Institutionen [begründen] ihre gouvernementale Wirksamkeit« (ebd., S. 93f.).

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gesellschaftliche Integrationsbedarf wird nur noch als abstrakte oder diff use Größe spürbar und muss durch eigenverantwortliche Kontrollaktivitäten konkretisiert werden. Ein solches Verhalten kann Formen der Überlastung erzeugen, deren Ursachen den Betroffenen, die sich an das Bewusstsein ihrer Freiheit klammern, verborgen bleiben. Mit Stauffs Analyseprogramm, das die »Gouvernementalität der Medien« aufzudecken sucht, lässt sich zwar nicht im Detail nachweisen, aber zumindest plausibel machen, dass innermediale Reflexivität bei den Mediennutzern immer auch die Bildung eines Scheins von Transparenz und Freiheit zu begünstigen vermag, nämlich immer dann, wenn die Depotenzierung der sozialen Normenwelt mit der Produktion einer Art neuer ›Supernorm‹ – dem latenten normativen Zwang zur Selbstkontrolle – verbunden ist.231 Die Gouvernementalität der Medien. Exkurs von Carsten Zorn232 Der im Hinblick auf die Gegenwart grundlegende Befund der Gouvernementalitätsstudien verweist nicht auf einen ›Entzug‹, sondern auf eine latente Verwandlung des Politischen: Der Übergang zur neoliberalen Gouvernementalität wird gedeutet als schleichender Übergang zu ökonomischen Regierungstechniken (nicht zuletzt insoweit die technischen Lösungen zur (Selbst-)Regulierung des Fernsehkonsums etwa nun vor allem das Ergebnis wirtschaftlicher Konkurrenz sind und von Unternehmen entwickelt und zur Verfügung gestellt werden), die allmählich überall an die Stelle bevormundender, disziplinierender Regierungstechniken treten: »Eine zunehmende Ökonomisierung (oder auch Kommerzialisierung) ist demnach kein Verlust von Politik, sondern ihre Veränderung – eine Veränderung der Rationalität von Regierung.«233 Die (Clausewitzsche) Fortsetzung der Politik mit noch einmal anderen Mitteln sozusagen. Außerdem scheint dieser Prozess vordergründig zu einer erheblich gesteigerten Anerkennung von Individualität und Differenz zu führen sowie zu einer erheblichen Erweiterung individueller Handlungsspielräume (und so wird er dann auch subjektiv zunächst, und vor allem, erlebt und – stellenweise – regelrecht gefeiert). Dass damit zugleich auch die Verantwortung für individuelle Schicksale zunehmend auf die Einzelnen abgewälzt, ja ihnen ganz allein zugemutet wird – dies wird dagegen nun gewissermaßen nur im Falle des Scheiterns noch unmittelbar fühlbar: Die neoliberale Gouvernementalität versteht es, sich für ihre Erfolge feiern zu lassen, sich der Verantwortung für ihr Versagen aber zugleich zu entziehen. Das Politische hat sich demnach also auch nicht etwa vollständig verflüchtigt. Was sich heute (der Sichtbarkeit) entzieht, ist nicht etwa ›das Politische‹ selbst, bzw. das Politische ›als Ganzes‹ – sondern nur (und nur partiell) seine Adressierbarkeit: Die Regierungskünste entziehen sich zusehends geschickter der Verantwortung für alles von 231. Auf das Problem des Scheins von Freiheit komme ich unten in Abschnitt 5.7 zurück. 232. Die folgende Passage ist einer längeren Diskussionsvorlage (Juli 2008) von Casten Zorn entnommen. 233. M. Stauff: Das neue Fernsehen, S. 255.

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ihnen zu verantwortende Unglück. Die inzwischen ›spezifisch moderne Form des Politischen‹ versteht noch einmal ungleich besser, die in der Moderne ohnehin stets unübersichtlich verteilten Sichtbarkeiten und Unsichtbarkeiten des Politischen zu organisieren und zu handhaben, Sichtbares und Unsichtbares noch einmal mehr in ihrem Interesse und zu ihrem Vorteil neu anzuordnen: Die neoliberalen Regierungstechniken machen die Potenziale der Individuen so weit wie möglich produktiv, müssen sich mit den Risiken einer allen Einzelnen direkt aufgebürdeten Komplexität aber nicht weiter befassen. So erlauben sie es, die produktive Vielfalt individueller Auseinandersetzungen mit Komplexität abzuschöpfen ohne deren Kosten tragen zu müssen. In diesem Zusammenhang zeigen die Untersuchungen von Markus Stauff dann, am Beispiel des digitalen Fernsehens, welch zentralen Anteil die latenten (weil gar nicht als solche erscheinenden) Regulierungen des Mediengebrauchs am Gelingen und an der allgemeinen Durchsetzung dieser neuesten Form der Gouvernementalität haben. Denn auch deren Rückseite zeigt sich nun nur noch im Enttäuschungsfall. Nur dann wird es fühlbar: »Mit dem vielfältigen Angebot und den zahlreichen Technologien, dieses anzuordnen und zu bearbeiten, geht die Verantwortung für die Realisierung des ›besseren Fernsehens‹ an die Individuen über. In aller Deutlichkeit wird ihnen vor Augen geführt, dass sie nicht mehr das schauen, was gerade läuft. Sondern das, was sie sich ausgewählt haben.«234 Und so wird dann auch nur, wenn das Programm enttäuscht, sichtbar, dass hinter den neuen Freiheiten der Programmgestaltung auch ein neuer Imperativ steht – und der Zuschauer sich die Verantwortung für jede Enttäuschung darum selbst zuschreiben muss: »Wenn sie [die Zuschauer] nun […] ihre eigenen Programmdirektoren sind, dann müssen sie sich auch als Manager und/ oder Unternehmer ›ihres‹ Fernsehens verstehen.«235 Außerdem vermag das Beispiel des digitalen Fernsehens am neoliberalen Imperativ zur ›Selbstverantwortlichkeit‹ dann auch noch die ihm eingebaute zirkuläre Tendenz zur Selbststeigerung exemplarisch zu verdeutlichen: Wenn immer er fühlbar wird, stachelt dies erst recht an. Gerade dann erscheint weitere ›Selbstoptimierung‹ als einziger Ausweg. Stauff kann dies vor allem anhand der typischen Selektionshilfen zeigen, anhand all jener groben Kategorisierungen genauer gesagt, die heute eine individuelle Führung durch (nicht nur) das Fernseh-Angebot ermöglichen und anleiten sollen – wie das ›memo‹-Programm im digitalen Fernsehangebot des ZDF: »In der Rubrik ›mein profil‹ legen Sie fest, welche Lieblingssendung Ihr maßgeschneidertes Programm enthalten soll: z.B. Krimi oder politische Magazine, Neues aus Naturwissenschaft oder Technik vielleicht, ganz bestimmt aber Nachrichten.«236 Die Folgen sind nur allzu erwartbar: »Gerade die Tatsache, dass durch die pauschalen Kategorisierungen systematisch Enttäuschungen mitproduziert werden […], macht die Arbeit an der ›eigenen‹ Kopplung an Apparat und Programm zu einem anhaltenden Projekt.«237 Zu etwas, mit dem man ›nie fertig wird‹. So kann Stauff dann abschließend bilanzieren: »Mit Programmführern, Spartenkanälen und anderen Strukturierungsformen des Programms geht es also nicht nur um eine schlichte Ordnung 234. 235. 236. 237.

Ebd., S. 258. Ebd., S. 250. Zit. nach ebd., S. 239. Ebd., S. 240.

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des vielfältigen Angebots […]; es geht […] immer auch darum, den Subjekten die Verfahren (und das Interesse) zur Erkenntnis und Optimierung ihrer ›eigenen‹ Individualität an die Hand zu geben.«238

Noch weit entschiedener als das Konzept von Markus Stauff thematisiert Jürgen Links Normalismus-Theorie239 die Problematik subjektiver Freiheit im Hinblick auf den gesamtgesellschaftlichen Integrationsbedarf. Link teilt zentrale Einsichten der so genannten Individualisierungstheorie, die Subjektivierung nicht bloß als Konstitution unverwechselbarer Einzelpersonen, sondern auch als Vorgang begreift, der die Individuen zugleich vereinzelt und standardisiert.240 Die Normalismus-Theorie deutet Standardisierung241 aber nicht als Effekt einer normativen Prägung, eines latenten oder manifesten gesellschaftlichen Konformitätsdrucks, dem sich die Menschen aus Angst vor sozialer Isolation beugen242, sondern als Ergebnis eines zirkulären Prozesses von Selektion, Ist-Stand-Verdatung, datenbezogener Orientierung und erneuter Selektion. Dabei spielen Massenmedien eine unverzichtbare Rolle; denn sie vermitteln durch die ununterbrochene Veröffentlichung von Informationen, die den jeweiligen Ist-Stand des statistisch erfassten Verhaltensspektrums präsentieren, zwischen dem gesamtgesellschaftlichen Ordnungs- bzw. Regelungsbedarf und den individuellen Orientierungswünschen.243 Die Medien sorgen auf diese Weise dafür, dass die Beiträge der Individuen zur gesellschaftlichen Gesamtsteuerung keine dysfunktionalen Makroeffekte zeitigen. Sie erschließen den Subjekten (zumeist unbekannte) Freiheitsspielräume und versehen diese Räume gleichzeitig mit einer Struktur, die nicht durch die Zusammenstellung von Vor-Schriften oder Verhaltensnormen entsteht, sondern durch ständig revidierte Nach-Schriften des empirisch Vorhandenen: Die Welt wird buchstäblich in eine ›Datenlandschaft‹ übersetzt. Mediennutzer, die solche ›Datenlandschaften‹ zur Kenntnis nehmen und sich an ihnen orientieren, bedienen sich ihrer individuellen Freiheit, indem sie Selektionen aus einem extrem reichhaltigen und dennoch übersichtlichen VerhaltensfunEbd., S. 243f. Vgl. J. Link: Versuch über den Normalismus. Vgl. u.a. U. Beck: Risikogesellschaft, S. 213. Dass die empirisch erhobenen Daten in fast allen sozialen Bereichen die Charakteristika der Gauß’schen Normalverteilung aufweisen (also eine ›Glockenkurve‹ mit Verdichtungen im Mittelbereich und Ausdünnungen in den Randzonen ergeben), wird in der Normalismustheorie nicht durch Rekurs auf eine vorgängige Ideologie der ›Mittelmäßigkeit‹ oder einen Willen zum ›Normalsein‹ erklärt, sondern zur Forschungsfrage erhoben, die unterschiedlich beantwortet werden kann. Statistische Häufungen erscheinen demnach zunächst als kontingente Phänomene. 242. Diese Interpretation favorisiert Elisabeth Noelle-Neumann in ihrer Theorie der Schweigespirale (siehe oben Kapitel 2.5.4). 243. Vgl. ausführlich L. Ellrich: »Normalität und Normativität«, sowie Ders.; »Medialer Normalismus«, ferner Ders./Christiane Funken: »Liebeskommunikation in Datenlandschaften«, in: Marc Ries u.a. (Hg.), dating 21. Liebesorganisation und Verabredungskultur, Bielefeld 2007, S. 67-97. 238. 239. 240. 241.

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dus vornehmen. Freiheit erscheint im Kontext medialer Nutzungsangebote jetzt primär als Freiheit der Wahl. Damit werden zwar die kreativen Momente von Freiheit in den Hintergrund gedrängt, aber auch Gefahren vermindert, die das neue Freiheitsbewusstsein der Subjekte im Hinblick auf die enorm gestiegenen Handlungsoptionen impliziert. Gesellschaften können den erreichten Pegelstand individueller Freiheit ja nur halten, wenn der Umgang mit ihren Chancen und Risiken keine gravierenden Integrationsprobleme aufwirft. Freiheit wäre nur das Vorspiel zur Einsetzung autoritärer Systeme, wenn sie chaotische Zustände herauf beschwören oder eine große Anzahl von Individuen überfordern und in depressive Zustände treiben würde. Medien erzeugen potenzielles Orientierungswissen, das ein weites, aber nicht unübersichtliches Feld öffnet, auf dem subjektive Freiheit ausgereizt werden kann, ohne die notwendigen Bedingungen der Freiheit zu verspielen. Eine optimale Nutzung der Medien im erläuterten Sinne setzt allerdings bestimmte subjektive Einstellungen voraus. Dabei handelt es sich um Einstellungen, deren Erwerb durch die Rezeption medialer Produkte zwar begünstigt wird, aber keineswegs durch extensiven Medienkonsum gleichsam automatisch entsteht. Nur Personen, denen es (aus welchen Gründen auch immer) gegeben ist, die spätmoderne Krise der Normen nicht durch rigide Wertsetzungen und Leitkultur-Euphorien auszugleichen, sind in der Lage, Medien als Areale eines Wissens zu betrachten, das in lebensweltlichen Interaktionen nicht mehr problemlos abgerufen werden kann. Nur solche Personen (überwiegend sind es Angehörige der Mittelschichten244) ziehen Gewinn aus Angaben, die 244. Dass es Mitgliedern der unteren Schichten schwerfallen dürfte, sich als flexible Normalisten zu verstehen, liegt auf der Hand. Insofern ist Ulrich Bröckling zuzustimmen, wenn er behauptet: »Jeder könnte, aber nicht alle können« (in: Mittelweg 36, 4 (2002), S. 6-25). Auch Niklas Luhmann wusste schon: »Alles könnte anders sein – und fast nichts kann ich ändern« (Politische Planung, Opladen 1971, S. 44). Doch die Effekte der neuen, medial unterfütterten Orientierungsangebote werden verfehlt, wenn man sie einfach nur als normative Ansprüche einer anonym gewordenen neoliberalen Gesellschaft deutet: »Der Appell, zum Unternehmer bzw. zur Unternehmerin des eigenen Lebens zu werden, ergeht nicht im Namen einer zentralen Autorität, sondern ist eingelassen in vielfältige Programme des Regierens und Sich-Selbst-Regierens« (U. Bröckling: »Jeder könnte«, S. 7). Bei der detaillierten Beweisführung wagt man ohnehin bloß noch von einem »zumindest impliziten Appell« zu sprechen. Anscheinend fehlt hier der intellektuelle Mut, das normative Paradigma – wenigstens probeweise – zu verlassen. Auch Tobias Singelnstein/Peer Stolle können nur den Form-Wechsel des Normativen erkennen: »Neue Techniken sozialer Kontrolle arbeiten […] immer mehr mit dem empirisch Normalen, der vorgefundenen Realität, und suchen diese möglichst effektiv zu regulieren. Normal ist demnach nicht, was normativ festgelegt wurde, sondern was die Allgemeinheit, der gesellschaftliche Durchschnitt macht. Dies bedeutet kein Verschwinden der Norm an sich, sondern das empirisch Normale in Form der statistischen Verteilung von Häufigkeiten wird selbst zur Norm und damit zur Grundlage der Arbeit der Techniken der sozialen Kontrolle« (Die Sicherheitsgesellschaft. Soziale Kontrolle im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2008, 2. Aufl age, S. 59).

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die genaue Verteilung (Häufung, Verdichtung, Ausdünnung) sozial relevanter Verhaltensweisen, Meinungen, Wünsche etc. und deren permanente starke oder schwache Änderung betreffen. Denn hier finden sie eine Weltbeschreibung, die es ihnen erlaubt, sich selbst – bzgl. der aktuellen oder der angestrebten Zustände – zu positionieren und auf der Basis vorhandener Daten auch über die Chancen zu reflektieren, das Gewünschte tatsächlich kurzoder langfristig zu erreichen. ›Flexibel-normalistisch‹ darf (mit Jürgen Link) eine solche Einstellung genannt werden, wenn die Akteure die eigenen Ambitionen und Selbsteinschätzungen im Kontext der medial erworbenen Kenntnisse laufend korrigieren und auf scharfe Differenzen zwischen bestimmten Verhaltensweisen oder Personengruppen verzichten können, weil sie auf derartige künstliche und zwanghafte Garanten der sozialen Sicherheit nicht angewiesen sind.245 Es versteht sich fast von selbst, dass Subjekte, die ›flexibel-normalistische‹ Einstellungen haben, ein besonderes Vertrauensverhältnis zu den Medien entwickeln. Sie betrachten Medien nicht als unmerkliche Manipulationsinstrumente, sondern als Techniken, die ihren Beitrag zur subjektiven Orientierung nur leisten können, insofern sie qua Medien in Erscheinung treten.246 Diese Form der funktionalen Sichtbarmachung des Medialen demonstriert ein neues Verständnis von Medien, das von der Medientheorie – wie oben bereits vermerkt – noch nicht angemessen registriert worden ist.247 Nichtsdestotrotz ist das Verhältnis der ›flexibel-normalistisch‹ gesonnenen Individuen zu ihren wertgeschätzten Medien nicht frei von Problemen und Irritationen. Der praktische ›Optionalismus‹, den sie pflegen, funktioniert nur, solange der Eindruck vorherrscht, dass alle faktischen Handlungsweisen oder Lebenslagen (randständige und extreme ebenso wie gewöhnliche und notorische) auf dem ›Bildschirm‹ der Medien repräsentiert sind. Das »›Urvertrauen‹ der Subjekte in die ›flexibel-normalistischen‹ Medien, dem zufolge zwar einzelne Manipulationen vorausgesetzt werden, nicht aber die Tilgung erheblicher Anormalitäten bzw. Denormalisierungen auf längere Zeit«, gerät deshalb in eine Krise, wenn es Anzeichen für »die hermetische Abschottung

245. Einstellungen, die auf scharfen (z.B. ethnischen) Differenzen beruhen, bezeichnet Link als »proto-normalistisch«, vgl. J. Link: Versuch über den Normalismus, S. 75ff. 246. Man hat es hier mit einer quasi ›a-moralischen‹ Verwendung der Medien zur Abstimmung individuellen Verhaltens zu tun. Niklas Luhmanns Bemerkungen über die vermeintlich latente Koordinationsfunktion des Fernsehens verlieren daher ihre Relevanz: »Wenn heute überall […] nach ›Ethik‹ verlangt wird, vermißt man die Durchpräzisierung der Frage im Hinblick auf die sozialen Mechanismen, die eine solche dann unmoralische Koordination der Moral bewirken könnten. Und eben deshalb müssen Einrichtungen, die dies zu leisten scheinen, etwa das Fernsehen, ihre Funktion latent halten« (Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 248f.). 247. Damit soll nicht bestritten werden, dass Theorien, welche Störungen als Ereignisse betrachten, durch die das Mediale zum Vorschein kommt, auch zu beachtlichen Ergebnissen gelangen. Vgl. nur Erhard Schüttpelz (Hg.), Signale der Störung, München 2003.

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von Sonder-Zonen und die Tilgung ihrer medialen Sichtbarkeit«248 gibt. Solche Anzeichen lassen sich jedoch nicht unter Ausschluss der Medien identifizieren; denn ihre diversen Angebote liefern zumeist die kaum merklichen Spuren, welche dann gedeutet, verknüpft und hochgerechnet werden, um in ihnen Signale für jene Kräfte zu entziffern, die im Verborgenen wirken oder unterschwellig ihre Potenziale entfalten. Aus diesem Grunde verweist die von Fall zu Fall auftretende Medienskepsis die flexibel-normalistischen Subjekte erneut an die Medien zurück und macht sie zu Hermeneuten halb-verwischter Spuren, deren Sinn sie nur durch Inanspruchnahme der eigenen Urteilskraft und Denk-Freiheit entziffern können. Insgesamt lässt sich der flexible Normalismus als die aktuell bedeutsamste Strömung einer sozialen Semantik bestimmen, die Nichtwissen, Unsicherheit, Irritation etc. nur mehr als ›flache‹ Latenzen aufzufassen bereit ist.249 Während der Rückzug des Staates einhergeht mit der Verflachung politischer Latenzen, führt der flexible Normalismus, dessen Weltbeschreibung starre Grenzen in gleitende Übergänge transformiert, zur Verflachung sozialer Latenzen im Bereich des abweichenden Verhaltens und der personellen Exklusion.250 Man darf den flexiblen Normalismus daher als ›Parallelaktion‹ zum Rückzug der Politik interpretieren. Ohne seine Verankerung in der Mentalität der Mittelschichten wäre das ›Fading‹ staatlicher Politik kaum möglich gewesen. Man könnte sogar die These wagen, dass zwischen dem grassierenden flexiblen Normalismus und dem sich selbst zurücknehmenden Staat eine Beziehung besteht, die funktionale Formen des wechselseitigen Lastenausgleichs erlaubt.

248. Jürgen Link: »Grenzen des flexiblen Normalismus?«, in: Ernst Schulte-Holtey (Hg.), Grenzmarkierungen, Duisburg 1995, S. 24-39, hier: S. 36f. Bemerkenswert ist Links Annahme, dass die Subjekte ihre flexibel-normalistische Einstellung auf die Medien projizieren (so dass von den »flexibel-normalistischen Medien« die Rede sein kann) und dann spezifische Erwartungen an die Medien ausbilden. 249. Dies betrifft auch den Umgang mit Angst: Man ist informiert über alle möglichen Quellen der Gefahr und kennt die statistischen Angaben über »normal accidents« (Charles Perrow) und wahrscheinliche Katastrophen. Unter diesen Bedingungen des Wissens wird das Subjekt von der Angst nicht mehr angefallen oder überwältigt, sondern darf die Ängste, denen es sich hingibt, aus der Vielfalt der denkbaren Ängste regelrecht wählen (vgl. Mike Davis: Ecology of Fear, New York 1998; Cass R. Sunstein: Laws of Fear. Beyond the Precautionary Principle, Cambridge 2005). 250. Man hat es nicht mehr nötig wegzusehen, wenn extreme (statistisch ›dünne‹) Phänomene, Verhaltensformen und Meinungen (z.B. Armut, Depression, Rassismus, Rechtsradikalimus, Misogynie, Kindesmissbrauch, Drogenabhängigkeit etc.) auftreten; im Gegenteil: man ist ungehalten, wenn solche sozialen ›Randphänomene‹ medial unterschlagen werden. Denn nur durch die ständige Repräsentation und Wahrnehmung des gesamten Feldes lässt sich ggf. auch erkennen, ob die ›dünnen‹ Randbereiche zunehmen und die mittlere Zone zu überwuchern beginnen.

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5.5 Epiphanie des Politischen? Der Latenzdiskurs – soviel dürfte nach den vorangegangenen Bestandsaufnahmen deutlich geworden sein – hat in der spätmodernen Medien- und Informationsgesellschaft seit etwa zwei Jahrzehnten einen starken Wandel vollzogen. Dies gilt insbesondere für den Bereich des Politischen. So sind etwa die Paradoxie der Selbstbegründung sozialer Ordnung und das Problem des Gewaltcharakters demokratischer Politik keine düsteren Geheimnisse mehr, welche die Gemüter erregen und Aufklärer zu ambitionierten Kampagnen veranlassen können. Beide Phänomene besitzen heute den Status offener Geheimnisse. Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass die Manifestation des Latenten keineswegs zur Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung führt. Entsprechende Befürchtungen haben sich als haltlos erwiesen. Der einst im Hinblick auf bestimmte Aspekte der Politik empfohlene Latenzschutz kann deshalb künftig unterbleiben.251 Wo er dennoch geübt oder halb-öffentlich propagiert wird, weckt er bloß einen medial stimulierten Verdacht. Geheimhaltung lässt sich nicht mehr ohne weiteres als Element einer politischen Macht legitimieren, die es mit ihren Untertanen nur gut meint und sie vor schwer erträglichen Tatsachen bewahren möchte. Unter dem Eindruck ständig anwachsender Informationsmengen wechselt der Anspruch auf Schonung und Nichtwissen gegenwärtig seinen Platz und seine Form. Er zieht sich aus den Bezirken der pastoralen oder autoritären Macht zurück und verwandelt sich in ein subjektives Recht auf gezielte Wissensabwehr und dosierten ›Oblivionismus‹. Dieser Prozess bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die politische Kultur des Umgangs mit dem Verborgenen und dessen Enthüllung. Wer sich auf das Feld des Politischen verlegt und glaubt, dass dort immer noch (und heute erst recht) die wirklich ›tiefen‹ Latenzen ihrer Entdeckung harren, der kann diskursive Erfolge nur verbuchen, wenn er eine Reihe von Bedingungen erfüllt. Um beispielsweise die paradoxe Verfassung oder den Gewaltcharakter der Demokratie neuerlich zu Reizthemen mit hohem Irritationswert zu machen, sind dramatische Neuinterpretationen nötig. Ohne erheblichen begrifflichen und rhetorischen Aufwand ist das nicht zu bewerkstelligen: Die Reformulierung der Gründungsparadoxie muss geradezu in den Abgrund von Denken und Sein führen und die basale Gewalt eine totale und deshalb kaum noch spürbare Form erhalten. In den Beiträgen zur Philosophie des Politischen, die Nancy, Badiou, Rancière, Laclau, Mouffe, Žižek u.a. in den letzten 20 Jahren geleistet haben, lassen sich Ansätze zu einer derartig radikalen Sicht auf die politischen Verhältnisse finden. Übertroffen werden die genannten Autoren freilich noch 251. Heute kann man z.B. offen darüber diskutieren, ob das Beschweigen der NS-Vergangenheit »das sozialpsychologisch und politisch nötige Medium der Verwandlung unserer Nachkriegsbevölkerung in die Bürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland« war (wie Lübbe behauptet hat) oder bloß die Privilegien und Machtambitionen der alten Eliten sicherte (Vgl. Hermann Lübbe: »Der Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewußtsein«, in: Historische Zeitschrift 236 (1983), S. 579-599, hier S. 585).

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durch Giorgio Agamben, dessen Homo-Sacer-Theorie sogar jene ›schwarzen‹ Passagen der Dialektik der Auf klärung in den Schatten stellt, die ungemildert vom Verhängnis der Moderne künden. All diese Versuche, eine ›tiefe‹ Latenz des Politischen als Kernproblem der Gegenwart freizulegen und Konzepte zur Revitalisierung authentischer Politik zu entwerfen, bilden eine energische Antwort auf die Veränderung der politischen Verhältnisse im globalen Maßstab und die weit verbreiteten (oben diskutierten) Theorien über das ›Fading‹ staatlicher Politik. Um Aufmerksamkeit für derartige Tiefen-Analysen zu gewinnen, genügt aber weder der Verweis auf faktische Missstände, die als Folgen verdeckter Machtmechanismen oder bislang unenträtselter Betriebsgeheimnisse gedeutet werden, noch eine rhetorisch beeindruckende Darstellung politischer Gewalt oder die virtuose Rekonstruktion der paradoxen Ausgangslage bzw. Grundstruktur des demokratischen Projekts. Erforderlich ist zudem der Entwurf eines substanziellen Politik-Begriffs, der nicht nur entscheidend über Bestimmungen des Politischen hinausgeht, die bei den gängigen Konzepten einer nicht- oder trans-staatlichen Politik (z.B. von Ulrich Beck oder David Held) verwandt werden, sondern auch die kategorialen Differenzierungen der akademischen Politikwissenschaft (polity, politics, policy252) souverän bei Seite schiebt. Konturen gewinnt ein solcher Begriff durch einen Vorschlag, den Paul Ricoeur bereits 1957 unterbreitet hat. Ricoeur unterscheidet nämlich zwischen »le politique« (dem Politischen) und »la politique« (der Politik). Seine präzise Definition lautet: »Le politique est organisation raisonnable, la politique est décision: analyse probable de situations, pari probable sur l’avenir. Le politique ne va pas sans la politique. Le politique prend son sens après coup, dans la réflexion, dans la ›rétrospection‹, la politique se joue à mesure, dans la ›prospection‹, dans le projet, c’est-à-dire à la fois dans un déchiffrement incertains des événements contemporains et dans la fermeté des résolutions. C’est pourquoi si la fonction politique, si le politique et sans intermittence, on peut dire en un sens que la politique n’existe que dans les grands moments, dans le ›crises‹, dans les ›tournants‹, dans les nœuds de l’histoire.«253

Diese Unterscheidung wird Anfang der 1980er Jahre von Claude Lefort und Jean-Luc Nancy aufgegriffen, aber semantisch leicht modifiziert und anders zugeordnet. Ernesto Laclau, Chantal Mouffe und Slavoj Žižek haben sich dieser Verwendung cum grano salis angeschlossen. Le politique (das Politi252. Vgl. u.a. Adrienne Windhoff-Héritier: Policy-Analyse. Eine Einführung, Frankfurt/New York 1987. 253. Paul Ricoeur: Histoire et vérité (1955), Paris 1964², S. 268; dt. Übers.: Wahrheit und Geschichte, München 1974, S. 257; Erstdruck der zitierten Passage: »Le paradoxe politique«, in: Esprit 25 (1957), S. 721-745, hier S. 729; siehe ferner Julien Freund: L’essence du politique, Paris 1965, S. 21 und Jacques Ellul: L’illusion politique (1965), Paris 1977, S. 13. Vgl. zudem die Interpretationen bei Kari Palonen: Die Thematisierung der Politik als Phänomen, Helsinki 1989, S. 86ff. sowie Ernst Vollrath: Was ist das Politische?, Würzburg 2003, S. 32ff.

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sche) bezieht sich nun auf das »Prinzip der Institution des Sozialen« bzw. auf das »In-Form-Setzen« der Gesellschaft, während la politique (die Politik) Typen der Differenzierung, Steuerung und Koordination sozialer Subsysteme meint.254 Nancy legt besonderen Wert auf die Unterscheidung le politique/la politique, weil er mit ihrer Hilfe auf eine sich verbergende Dimension des menschlichen Zusammenlebens aufmerksam machen und zugleich die Ursachen dieses Entzugs freilegen möchte. Im Einklang mit Heideggers Satz: »Das Seyn verbirgt sich in der Offenbarkeit des Seienden«255, spricht Nancy davon, dass sich die eigentliche Frage des Politischen zurückgezogen und einer medial geprägten Öffentlichkeit der Politik Platz gemacht habe, in deren Rahmen alles und jedes als ›politisch‹ qualifiziert werden könne.256 Gerade durch diese blendende Offensichtlichkeit des Politischen werde das Nachdenken über einen gemeinschaftlichen Raum und dessen eigentümliche Unrepräsentierbarkeit unterdrückt. Die genuine Stimme des Politischen verhalle in einer entfesselten, auf Dar- und Vorstellbares fi xierten Spektakelkultur, welche Politik nur als Problemlösungsstrategie und als Umsetzung administrativer Kompetenzen zur Geltung kommen lasse. Das Politische könne daher nur in Gestalt einer ereignishaften Unterbrechung des routinemäßigen Sozialmanagements aus der Latenz hervortreten und müsse sich, sobald die aufgerufene und angesprochene Gemeinschaft 257 zu einem ›Werk‹ gerinne, wieder entziehen. Denn die menschliche Gemeinschaft soll »die Ordnung des Gemeinsamen regel[n], ohne eine gemeinsame Substanz oder Subjektivität anzunehmen«. Die Schwierigkeit dieses Programms – das sieht Nancy deutlich – besteht allerdings darin, »die Politik ohne Subjekt zu denken: nicht ohne Autorität oder Entscheidungsmacht – sondern ohne SichSein.«258 Vermutlich waren es derartige – mit der Unterscheidung von le politique und la politique verbundenen – Schwierigkeiten und Ansprüche, die Niklas Luhmann schon früh veranlassten, auf Distanz zu gehen: »Die Unterscheidung zwischen ›Dem Politschen‹ und ›Der Politik‹ halte ich für gekünstelt. Sie ist ein Symptom der Versuche, Altlasten der politischen Philosophie Europas in einer Zeit zu retten, die mit radikal veränderten Gesellschaftsstrukturen tägliche Erfahrungen hat.«259 Während man also in Frankreich an einem neuen Verständnis des Politischen arbeitete, ließ sich in Deutschland Niklas Luh254. Vgl. Claude Lefort: Fortdauer des Theologisch-Politischen? (1981), Wien 1999, S. 37ff.; ferner u.a. Ch. Mouffe: Über das Politische, S. 15ff. 255. Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie, Frankfurt a.M. 1989, S. 111. 256. Vgl. Philippe Lacoue-Labarthe/Jean-Luc Nancy (Hg.), Le retrait du politique, Paris 1983. 257. Vgl. Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988; Ders.: Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin 2007. 258. Jean-Luc Nancy: Die Erschaffung der Welt oder die Globalisierung, Berlin 2003, S. 140f. 259. Niklas Luhmann: »Das Ende der alteuropäischen Politik«, in: La fin du politique. Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting en van het vrije Denken 16 (1988), S. 249-257, hier: S. 249.

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mann nicht davon abbringen, mit genau »dem Begriff von Politik« zu arbeiten, der »heute faktisch institutionalisiert ist« und sich »auf den Staat und seine Entscheidungspraxis« bezieht. Andere Positionen hat Luhmann zwar zugelassen, aber mit einer unüberhörbaren Suffisance kommentiert: »Wenn Intellektuelle einen eigenen Begriff von Politik bevorzugen, dann mögen sie das tun; sie verzichten damit auf einen Zugang zu den Operationen, die in der heutigen Gesellschaft als politisches System ausdifferenziert sind.«260 Trotz dieser Geste theoretischer Toleranz ist Luhmanns kritischer Einwand nicht zu verkennen: Autoren, die das Ereignis zur Vollzugsform des Politischen erklären (wie Rancière, Badiou, Žižek), oder die Zivilgesellschaft als »Reflexionsform eines sittlichen Lebenszusammenhangs«261 beschwören (wie Habermas), lehnen »implizit« alles ab, »was durch Organisation bewirkt wird: also durch die harte Differenz von Mitgliedern und Nichtmitgliedern, durch hierarchisch geordnete Abhängigkeiten, durch verteilte, nur im Rahmen von Zuständigkeiten abstimmungsbedürftige Entscheidungsbefugnisse, deren Produkte von anderen hinzunehmen sind.«262 Kombiniert man dieses Plädoyer für organisatorische Leistungen mit den differenzierungstheoretischen Prämissen des funktional-strukturellen Ansatzes, den Luhmann vertritt, so gelangt man unweigerlich zu der (bereits zitierten) These: »Das autonom gewordene politische System ist als ›Staat‹ sichtbar.«263 Man könnte hier allerdings einwenden, dass Luhmanns kategoriale Mittel die Chance bieten, neben den staatlichen Organisationsformen und Institutionen auch eine andere, weniger sichtbare Seite der Politik zu thematisieren und so einer etatistischen Verengung des Politik-Begriffs zu entgehen. Auf diese Lesart hat Armin Nassehi hingewiesen: Luhmann selbst betont ja ausdrücklich, dass man als Politik »jede Kommunikation bezeichnen [kann], die dazu dient, kollektiv bindende Entscheidungen durch Testen und Verdichten ihrer Konsenschancen vorzubereiten.«264 Damit öffnet er ein Feld der Kontingenz von Beobachterperspektiven jenseits etablierter Institutionen. »Dass die Funktion des Politischen an Entscheidungen gebunden wird«, hat nämlich – so argumentiert Nassehi – »zweierlei Implikationen«265: zum einen natürlich die Bildung von Organisationen, welche die Entscheidungen fällen und durchsetzen (bei kollektiv gültigen Entscheidungen liegt hier der Rekurs auf den Staat nahe), zum anderen aber auch die Herstellung von »Bindungen«, die letztlich nur als Selbstbindungsoperationen funktionieren können, welche einen Zeitindex aufweisen: »Politische Kommunikation […] bezieht sich stets auf die (je gegenwärtig konstruierte) Geschichte politischer Entscheidungen, die als Zurechnungen jenes ›Bild‹ der Politik entwerfen, die der politische

N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 14. J. Habermas: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992, S. 327. N. Luhmann: Politik der Gesellschaft, S. 13. Ebd., S. 333. Ebd., S. 254. Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006, S. 340. 260. 261. 262. 263. 264. 265.

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Beobachter adressieren kann.«266 Triff t dies zu, so reicht es zur Definition von Politik völlig aus, dass die Betroffenen und Beteiligten im Zuge einer an Kollektive adressierten Kommunikation immer mit »der Möglichkeit bindender Entscheidungen und ihrer machtgestützten Durchsetzungsfähigkeit rechne[n]«. Aber nicht allein der Staat kann (für alle) entscheiden und diese Entscheidungen dann der kollektiven Bindungsprobe aussetzen. Mit der systemtheoretischen Akzentuierung von Kommunikation und deren potenziellen Bindungseffekten ergibt sich also neben dem etatistischen Konzept, das auf der Differenzierungsidee beruht, eine Vorstellung »des Politischen«, die sich »ohne einen Begriff des Staatlichen«267 entwickeln lässt. Nassehis Bemühungen um einen breiten systemtheoretischen PolitikBegriff, der auch noch Phänomene wie etwa die so genannte ›Subpolitik‹ umfasst, sind gewiss verdienstvoll, sie setzen sich aber allzu unbekümmert über Luhmanns Diagnose einer »schleichenden Entwertung politischer Kommunikation«268 hinweg. Um diese These zu entkräften, reichen Nassehis Vorschläge ersichtlich nicht aus. Abhilfe verspricht hingegen ein anderes konzeptionelles Manöver, das den Politikbegriff eben nicht kommunikationstheoretisch auszuweiten versucht, sondern radikal verengt und auf das Kernproblem moderner Gesellschaften zuschneidet. Dazu bietet die Unterscheidung le politique/la politique eine erste Handhabe; dennoch ist das theoretische Unbehagen, dass diese Differenz erzeugt, kein Zufall. Auch Jacques Rancière kann sich – wenngleich aus anderen Gründen als Luhmann – mit der Unterscheidung le politique/la politique nicht anfreunden. Allerdings lässt er sich nicht durch die kategorialen Angebote der Systemtheorie verlocken. Vielmehr favorisiert er die Differenz von »Politik« (la politique) und »Polizei« (la police), mit der »zwei Logiken des menschlichen Zusammenseins«269 erfasst werden können: Alle Operationen, die man gewöhnlich als politische definiert, also »Vorgänge, durch welche sich die Vereinigung und Ebd., S. 344. Ebd. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 167. Jacques Rancière: Das Unvernehmen (1995), Frankfurt a.M. 2002, S. 39. Rancière lehnt die in der französischen Philosophie geläufige Differenz offenbar aus zwei Gründen ab: einerseits wegen ihrer mangelnden Trennschärfe, andererseits wegen ihrer potenziellen Substanzialisierung oder Verdinglichung. Denn »die Politik hat keine Gegenstände oder Fragen, die ihr eigen wären. Ihr einziger Grundsatz, die Gleichheit, ist ihr nicht eigen und hat nichts an sich Politisches« (ebd., S. 43). Ähnlich argumentiert Badiou: »Der Ausdruck ›das Politische‹ [ist] zurückzuweisen. Es gibt nur Politiken, und sie sind nicht aufeinander reduzierbar und bilden keine homogene Einheit« (Über Metapolitik, S. 38). – Ob Rancières Unterscheidung von Polizei und Politik freilich mehr ist als eine bloß analytische Trennung, mag man bezweifeln: So vermutet Žižek, dass »die Trennlinie zwischen Polizei und Politik immer eine verschwommene und umstrittene ist« (Die Tücke des Subjekts, S. 257), und auch Thomas Bedorf behauptet, dass die »Polizei« und »das Politische (oder die ›Politik‹)« durch »vielfältige Verzahnungen und Überlagerungen« gekennzeichnet sind und sich daher einander »nicht einfach entgegensetzen« lassen (»Antinomien 266. 267. 268. 269.

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die Übereinstimmung der Gemeinschaften, die Organisation der Mächte, die Verteilung der Plätze und Funktionen und das System der Legitimierung dieser Verteilung vollziehen«270, subsumiert Rancière unter den Begriff »Polizei«.271 »Politik« bezeichnet hingegen eine »Tätigkeit«, die mit der etablierten Verteilungsordnung bricht und jenen Menschen eine Stimme verleiht, die keinen gebührenden Anteil an der Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse und der Distribution hergestellter Produkte erhalten. Politik verhilft mithin durch ihre radikalen Aktionen »dem Unsichtbaren […] zur Sichtbarkeit.«272 Politik zeichnet sich aber nicht durch den Einsatz physischer Gewalt aus. Sie setzt vielmehr der fatalen historischen Dialektik von herrschender Gewalt und gewaltsamer Revolte eine »dritte Möglichkeit«273 entgegen: nämlich »symbolische Gewalt.«274 Diese eigentümliche Form der Gewalt betriff t ebenso wie die beiden anderen Formen – Beherrschung und Revolte – eine soziale Praxis, die das Sagbare und Sichtbare festlegt und damit die konkrete »Aufteilung des sinnlich Wahrnehmbaren« vornimmt. gesellschaftlicher Ordnung – Philosophie der Politik nach dem Poststrukturalismus«, in: Philosophische Rundschau 52 (2005), S. 95-123, hier: S. 119). 270. J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 39. 271. Damit rekurriert er – wie Foucault – auf eine Kategorie, die bereits in der frühmodernen deutschen Staats- und Verwaltungstheorie benutzt wurde, um schließlich in der so genannten »Policey-Wissenschaft« des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt zu finden. Vgl. Thomas Simon: ›Gute Policey‹. Ordnungsbilder und Zielvorstellungen politischen Handelns in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2004. 272. Mit dieser pointierten Formulierung gibt Alain Badiou die Position von Rancière wieder (Über Metapolitik (1998), Zürich/Berlin 2003, S. 128). Sichtbarmachung ist für Rancière freilich auch das Programm der Geschichtswissenschaft, die sich in einem »Raum der Homonymie von Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft« bewegt und daher genötigt ist, mit ihrem Publikum drei Verträge zu schließen: »einen wissenschaftlichen Vertrag, der dazu zwingt, die unter der scheinbaren Ordnung verborgene Ordnung aufzudecken, indem man den Maßstab der Gewichte und der sichtbaren Größen der Politik durch das Wechselspiel und die exakte Berechnung eines komplexen Prozesses ersetzt; einen narrativen Vertrag, der vorschreibt, die Strukturen dieses verborgenen Raums oder die Gesetze dieses komplexen Prozesses in die lesbare Form einer Geschichte zu übertragen, die einen Anfang und ein Ende, Personen und Ereignisse hat; einen politischen Vertrag, der das Unsichtbare der Wissenschaft und das Lesbare der Erzählung mit den widersprüchlichen Zwängen des Zeitalters der Massen verbindet: große Regelmäßigkeiten des gemeinsamen Gesetzes und große Tumulte der Demokratie, Revolutionen und Konterrevolutionen, das verborgene Geheimnis der Menschenmengen und die für alle lesbare und allen lehrbare Erzählung einer gemeinsamen Geschichte« (Jacques Rancière: Die Namen der Geschichte (1992), Frankfurt a.M. 1994, S. 19). 273. Jacques Rancière: »Konsens, Dissens, Gewalt«, in: Mihran Dabag u.a. (Hg.), Gewalt. Strukturen, Formen, Repräsentationen, München 2000, S. 97-112, hier: S. 99. 274. Ebd., S. 112. Rancière verwendet diesen Begriff hier ersichtlich nicht im Sinne von Pierre Bourdieu.

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Allerdings verfolgt die symbolische Gewalt der Politik ein gänzlich anderes Ziel: »Ihr Prinzip ist das Aufzeigen von Zeichen der Gleichheit in einer Welt, in der die Gleichheit nicht sichtbar ist, wo mehr noch, die symbolische Fähigkeit derer, die diese Zeichen zeigen, nicht anerkannt wird.«275 Politik setzt »genau das in Szene, was es nicht gibt«: Gleichheit und Anerkennung des Anspruchs, die eigene, bislang unvernommene Stimme zu erheben.276 Durch die symbolische Gewalt, mit der die Anteilslosen sich Gehör verschaffen und ihre Forderungen stellen, erzeugen sie einen fundamentalen Dissens über die gerechte Ordnung der sozialen Welt und rücken den Streit über Sinn und Realisierbarkeit von Gleichheit schlagartig ins Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit. Gegen diese konfliktorientierte Auffassung vom »menschlichen Zusammensein« wehrt sich das jeweilige Regime der »Polizei« mit allen erdenklichen Mitteln. Dazu zählen nicht allein Techniken der Unterdrückung und Exklusion, sondern eben auch symbolische Praktiken, die den Dissens als das ›eigentliche‹ Medium der Politik unsichtbar machen oder entschärfen. Dabei kann sich die ›Polizei‹ auf die verlässliche Zuarbeit der abendländischen politischen Philosophie stützen. Hier wurden – laut Rancière – im Laufe der Jahrhunderte drei paradigmatische Strategien zur Verleugnung von Politik ausgearbeitet: Eine »Archi-Politik«, welche die Erschaff ung einer Gemeinschaft nach Grundsätzen ermöglichen soll, die den Konflikt um gerechte Teilhaberschaft eliminiert (Platon); eine »Para-Politik«, die sich dem Streit nur öffnet, um ihn sogleich in den Wettbewerb zwischen besonders qualifizierten (z.B. tugendhaften) Personen und der gestaltlosen Menge, deren Glieder sich nur durch ihre Gleichheit auszeichnen, zu verwandeln (Aristoteles, Hobbes); und schließlich eine »Meta-Politik«, die den politischen Streit nur als etwas Vorläufiges anerkennt und letztlich durch den utopischen Entwurf einer klassenlosen Gesellschaft aufhebt (Marx).277 Der aktuelle gesellschaftliche Zustand, in dem gleichzeitig die Losung vom »Ende der Politik« und von der »Rückkehr der Politik« ausgegeben wird, lässt sich vor diesem begriffsgeschichtlichen Hintergrund als »post-demokratisch« bestimmen, weil der echte Streit um die Gleichheit zugunsten ›legitimer‹ Verfahren der Konsensbildung abgeschaff t worden ist.278 Alle diese Positionen sind in Rancières Augen freilich nicht nur falsch, sondern auch naiv; denn sie verdunkeln den Umstand, dass die historischen »Formen des politischen Konfl ikts« und die in ihnen entbundene symbolische Gewalt »zivilisatorisch und integrativ gewirkt« haben.279 Politik – als 275. Ebd., S. 100. 276. Ebd., S. 106. 277. J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 77ff.; vgl. hierzu auch die Kommentare

bei Slavoj Žižek: Die Tücke des Subjekts (1999), Frankfurt a.M. 2001, S. 259ff. Žižek ergänzt diese Serie von Modellen der Politik-Verleugnung noch um das Konzept der »Ultra-Politik«, die als Entfesselung der puren kriegerischen Gewalt gefasst wird (ebd., S. 260). 278. J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 105ff.; Žižek spricht in diesem Zusammenhang von »Post-Politik« (Die Tücke des Subjekts, S. 272ff.). 279. J. Rancière: »Konsens, Dissens, Gewalt«, S. 112.

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dritte Form der Gewalt – besitzt demnach die Funktion, unmittelbare physische Gewalt zu bändigen, ohne sie unter dem Deckmantel eines angeblichen Konsenses verbergen zu müssen. Demokratische Gesellschaften, die bei der Lösung ihrer Probleme in erster Linie konfl ikt-averse Methoden zum Einsatz bringen, verzichten nicht allein auf die heilsamen Effekte der symbolischen Gewalt, sie schaffen auch die Voraussetzungen für unkalkulierbare Ausbrüche der Gewalt. Ähnlich wie Chantal Mouffe und Slavoj Žižek 280 geht Rancière davon aus, dass »neue Formen der Gewalt und der Irrationalität« durch eine Strategie herauf beschworen werden, die das politische Geschäft in einen rationalen Aushandlungsprozess zu verwandeln und den Streit aus der Politik zu entfernen sucht: »Wenn man das politische Austragen von Streithandel ersetzen will durch verwaltendes Verhandeln der Probleme, sieht man den Konfl ikt in einer sehr viel radikaleren Form wiedererstehen als Unmöglichkeit zu koexistieren, als reiner Haß auf den anderen.«281 Wie aber muss die »symbolische Gewalt« beschaffen sein, damit sie jene dunklen Mächte zivilisieren kann, die in »Manifestationen von Angst, Haß- und Todestrieben«282 zum Ausdruck gelangen? Rancières Antwort auf diese Frage zeigt, dass sein Versuch, Politik als Offenbarung einer verborgenen Gleichheit zu bestimmen, scheitert, weil es ihm nicht gelingt, Form und Funktion der Politik miteinander in Beziehung zu setzen. Er bringt nämlich die Tiefenstruktur, die er aufdeckt, durch den Akt, in dem er sie hervortreten lässt, sogleich wieder zum Verschwinden. Der Politik (qua symbolische Gewalt) schreibt er zivilisierende Leistungen zu, ohne zu erklären, worauf diese anspruchsvollen Leistungen beruhen.283 Zunächst einmal bestreitet er die Möglichkeit, dass die symbolische Gewalt der Politik in Form vernünftiger Argumente auftritt, deren Überzeugungskraft in einem Diskurs, der alle Betroffenen zu Beteiligten macht, getestet werden kann. Denn die Effekte der symbolischen Gewalt beruhen seiner Ansicht nach gerade nicht auf dem kommunikativen Potenzial, das Jürgen Habermas bekanntlich als »zwanglosen Zwang des besseren Arguments«284 beschrieben hat: »Wer zu Gesicht bringt, dass er einer gemeinsamen Welt angehört, die der andere nicht sieht, kann sich nicht auf die implizite Logik irgendeiner Pragmatik der Kommunikation berufen.«285 Wer auf diese Weise in Erscheinung tritt, kann – so insinuiert Rancière – einzig und allein eine ephemere Handlung vollziehen, eine seltene Geste ausführen, den Lauf der Dinge durch einen exzentrischen

280. Vgl. Ch. Mouffe: Über das Politische, S. 91ff.; S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 276ff. 281. J. Rancière: »Konsens, Dissens, Gewalt«, S. 110. 282. Ebd., S. 112. 283. Es ist daher auch nicht erstaunlich, dass Badiou Rancières Theorie einen fl agranten Mangel an Konsequenz und Radikalität vorwirft (vgl. Über Metapolitik, S. 132f.). 284. Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1981, S. 161. 285. Jacques Rancière: Zehn Thesen zur Politik (2000), Berlin 2008, S. 36.

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Akt für wenige Augenblicke unterbrechen.286 Wenn Politik aber ein unvorhersagbares kurzfristiges Ereignis ist, das sogar die ausführenden Subjekte überrascht,287 dann vermag sie die ihr zugemutete Aufgabe der Zivilisierung und Integration schwerlich zu erfüllen.288 Diese Funktion könnte nur eine komplexe Streitkultur übernehmen, in die robuste Institutionen der Konfl iktpflege eingebettet sind. Die Einsicht, dass Konfl ikte Gesellschaften integrieren können, gehört inzwischen zum weithin anerkannten Fundus soziologischen Wissens.289 Helmut Dubiel, ein Schüler von Jürgen Habermas, hat bereits 1994 im Anschluss an Claude Lefort und Marcel Grauchet ein konfl ikttheoretisch fundiertes Demokratiekonzept entwickelt: »Demokratie [bezeichnet] das Projekt einer Gesellschaft, die sich einzig in der institutionalisierten Anerkennung ihrer normativen Desintegration integrieren kann.«290 Die Formen der Politik werden hier nicht mehr als Unterbrechungen gedeutet, sondern als verstetigte Interaktionsmuster, an denen sich Individuen und Gruppen orientieren, um ihre je besonderen Akzente zu setzen und Gegenpositionen zu beziehen. Rancière selbst relativiert sein Ereignismodell, wenn er »Formen des politischen Umgangs mit dem Streithandeln«291 als unverzichtbar bezeichnet. Würde es sich bei diesen Formen nur um seltene Ereignisse handeln, dann dürfte er nicht darüber klagen, dass sie »verschwinden«292, sondern müsste den Vorgang des Entzugs als wesentlichen Teil ihrer Bestimmung begrüßen. Genau dies tut Alain Badiou. Er verknüpft das Ereignis nicht mit einer Politik, die Zivilisierungs- und Integrationsfunktionen zu erfüllen hat. Derartige Versuche, radikale Politik in gängigen Modellen der Demokratie 286. »Die Politik ist in ihrer Besonderheit selten. Sie ist immer lokal und zufällig« (J. Rancière: Das Unvernehmen, S. 149). 287. Vgl. Jacques Derridas These: »Es gibt das Ereignis nur, insofern das, was geschieht, nicht vorhersagbar ist.« Das Ereignis tritt im Modus der »Zustellung« auf, »die niemand beherrscht, die kein Bewusstsein, kein bewusstes Subjekt sich aneignen oder bemeistern kann« (Eine gewisse unmögliche Möglichkeit vom Ereignis zu sprechen (2001), Berlin 2003, S. 47, 49). 288. Friedrich Balke hat in einer kuriosen semantischen Volte Badious und Rancières Ereigniskonzept, das etwas höchst Seltenes und Markantes bezeichnen soll, mit Luhmanns Beschreibung des Ereignisses als Dauerirritation inclusive Anschlussofferte konfrontiert und auf die »Normalisierbarkeit des Ereignisses« hingewiesen: »Politik und Leidenschaft in der französischen Philosophie«, in: Merkur 592/7 (1998), S. 987-994, hier: S. 994. 289. Vgl. Bernhard Giesen: Die Entdinglichung des Sozialen, Frankfurt a.M. 1991; Thorsten Bonacker: »Der Kampf der Interpretationen – Zur Konflikthaftigkeit der politischen Moderne«, in: Ders./Andreas Reckwitz (Hg.), Kulturen der Moderne, Frankfurt/New York 2007, S. 199-218. 290. Helmut Dubiel: Ungewißheit und Politik, Frankfurt a.M. 1994, S. 113; vgl. auch Ders.: »Integration durch Konflikte«, in: Jürgen Friedrichs/Wolfgang Jagodzinski (Hg.), Soziale Integration, Opladen 1999, S. 132-143. 291. J. Rancière: »Konsens, Dissens, Gewalt«, S. 110. 292. Ebd.

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unterzubringen, führen seiner Ansicht nach zwangsläufi g zu einer ›Verflachung‹ der politischen Praxis. »Das Wesen der Politik ist […] die Präskription einer Möglichkeit, die mit dem, was ist, bricht.«293 Sobald die strikte Ablehnung des konsensuellen Bildes von Politik aber bloß zu einer institutionalisierten Konfl iktkultur bzw. zu einem sozialintegrativen ›Umgang mit dem Streithandeln‹ führt, wird das »Wesen der Politik« verfehlt. Aus Badious Warte vermeidet Rancière die Entscheidung zwischen dem wirklichen Ereignis und einer symbolischen Gewalt, die darauf aus ist, sich durch ihre zivilisierende Leistung zu legitimieren. Daran ändere weder Rancières Festhalten am politischen Akt als »singuläre Allgemeinheit« noch seine energische Kritik am Gerede über »das Ende der Politik« oder »die Rückkehr zu einer reinen Politik«294 , die nur die »Reduktion des Politischen auf das Staatliche«295 ratifi ziere, das Geringste. Demgegenüber stellt Badiou unmissverständlich und dennoch auf zweideutige Weise klar: »Politik ist eine höchst gewagte, militante und stets partiell nicht geteilte Treue zur ereignishaften Singularität, und sie folgt einer Präskription, die sich nur durch sich selbst autorisiert. […] Ein Ereignis wird, auch wenn die Wahrheit, die aus ihm zu schließen ist, universal ist, niemals geteilt, denn seine Anerkennung als Ereignis fällt mit der politischen Entscheidung zusammen.« 296 Der Ort dieser Entscheidung ist freilich selbst unentscheidbar: Denn der Begriff der Entscheidung lässt sich mit etatistischen und anti-etatistischen Einstellungen gleichermaßen vereinbaren.297 Wie schwierig die theoretische Lage inzwischen ist, zeigt Francois Ewalds Analyse des Risiko- und VersicherungsDiskurses seit Anfang der 1980er Jahre: Angesichts der aktuellen Probleme entsteht – wie Ewald nachweist – ein neues Paradigma der Problemwahrnehmung und -verarbeitung. Das Konzept der Vorbeugung wird von der 293. A. Badiou: Über Metapolitik, S. 39. 294. »Das soziologische Thema vom Ende der Politik in der postmodernen Ge-

sellschaft, und das ›Polit‹-Thema der Rückkehr der Politik […] tragen beide zum gleichen Vergessen der Politik bei« (J. Rancière: Zehn Thesen zur Politik, S. 43). Friedrich Balke versucht, mit Rücksicht auf Rancière eine pointierte Diagnose zu geben: »Unter [spätmodernen] Bedingungen wird das Politische monströs: Vom Ganzen auf die Teile abgedrängt, gibt es sogar diese Teile preis und wird nur noch im Modus des politischen Entzugs, der fortgesetzten ›Entpolitisierung‹ und ›Neutralisierung‹ erfahrbar, formiert sich nicht länger staatlich, sondern super- und substaatlich, zieht sich in schwindelerregende Höhen oder – auf der anderen Seite, die es immer noch gibt – in die Höhle zurück, aus der heraus Bin Laden und seine Gefolgsleute ihre Statements abgeben« (»Nietzsche und die Topographie des neuesten Terrors«, in: Thomas Oberender (Hg.), Gott gegen Geld – Zur Zukunft des Politischen I, Berlin 2002, S. 34-55, hier: S. 45). 295. J. Rancière: Zehn Thesen zur Politik, S. 8; vgl. auch Ders.: »Konsens, Dissens, Gewalt«, S. 105. 296. A. Badiou: Über Metapolitik, S. 38. 297. Zur allmählichen Modifikation der anti-etatistischen Einstellung Badious vgl. das Nachwort von Peter Hallward: »Gleichheit und Gerechtigkeit. Badiou und die Politik«, in: A. Badiou: Über Metapolitik, S. 163-193, hier: S. 185ff.

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Strategie der Voraussicht und Prävention abgelöst. Mit dem Interpretationsschema der Vorbeugung tritt die »Entscheidung der Politik« in den Blick, nämlich »die wahre, das heißt die souveräne Entscheidung«. Sobald Problemlösungen »in einen Kontext der Ungewißheit zurückversetzt« werden, ist man mit der »Logik der reinen Entscheidung« konfrontiert.298 Es geht jetzt darum, »drohende Schäden und irreparable Folgen zu verhindern.« Prävention wird zur politischen Aufgabe und man installiert einen »Mechanismus der Gesamtschuldnerschaft«, der »nötigenfalls die Garantie des Staates vorsieht.«299 Die bislang präsentierten Versuche, einen ›tiefen‹ Begriff des Politischen zu entwickeln und dabei einerseits Unterscheidungen wie le politique/la politique oder la politique/la police und andererseits Kernbegriffe wie »Ereignis« und »Entscheidung« ins Spiel zu bringen, besitzen Schwächen, die nur durch eine genauere Bestimmung des Unsichtbaren, auf das sich Politik bezieht, kompensiert werden können. Die theoretische Epiphanie von ›entwerkter‹ Gemeinschaft (Nancy), Gleichheit (Rancière) und Wahrheit (Badiou) erzeugt eine merkwürdig bedeutungsvolle Leere, die jene »schwärmerischen Züge«300 aufweist, welche Luhmann an Jürgen Habermas’ Anstrengungen, im modernen Recht eine universal-moralische Tiefenstruktur zu entdecken, bemerkte. Mit diesen Konzepten kann der Verflachung politischer Latenzen und der Verschiebung relevanter Latenzzonen in die Ökonomie offensichtlich kein Einhalt geboten werden. Sicher scheint nur zu sein, dass Politik allein dann neue Tiefe gewinnt, wenn es zu einer »Wiederherstellung der politischen Philosophie«301 kommt. Claude Lefort hat diese teils kühne, teils banale Forderung 1983 gestellt und programmatische Texte verfasst, die auch das Problem der Latenz ansprechen.302 Ziel seiner Überlegungen ist es, den entschwundenen Sinn für die Eigenständigkeit des Politischen zu revitalisieren. In einem ersten Denkschritt – so lautet seine These – muss man sich zunächst einmal bewusst machen, dass »die Rückbiegung des Politischen auf das Ökonomische […] jene eigene Grundlage (verschleiert), die die Institution eines Systems der Macht im Gesellschaftlichen findet.«303 Die vertraute Vorstellung, man könne das Politische nur »im Lichte der vorgängig enthüllten, geheimen Architektur des ka-

298. Francois Ewald: »Die Rückkehr des genius malignus: Entwurf zu einer Philosophie der Vorbeugung«, in: Soziale Welt 49 (1998), S. 5-24, hier: S. 21. 299. Ebd., S. 22. 300. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 12. 301. Claude Lefort: »Die Frage der Demokratie« (1983), in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 281-297, hier: S. 281. 302. Zu Leforts Theorie des »leeren Ortes« demokratischer Macht vgl. oben Kapitel 2.2. 303. Claude Lefort/Marcel Gauchet: »Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen« (1966-67), in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 89-122, hier: S. 90.

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pitalistischen Systems«304 verstehen, ist daher als hinderliche Denksperre zu betrachten und zu verabschieden. In einem zweiten Schritt gilt es sodann, die für Demokratien typische »Erscheinungsweise des Politischen« – nämlich die Ausdifferenzierung der Politik als »einer bestimmten Sphäre von Institutionen, Beziehungen und Tätigkeiten« – als Schein von Autonomie zu durchschauen, der vom Wesentlichen ablenkt. Gerade im Prozess dieser Abtrennung des Politischen und ihrer spezifischen gesellschaftlichen Wahrnehmung bzw. Verleugnung erkennt Lefort das zentrale Strukturmerkmal der Moderne: »Das Politische (enthüllt sich) nicht in dem, was gemeinhin politisches Handeln genannt wird, sondern in der doppelten Bewegung des Erscheinens und Verbergens der Art und Weise, wie sich Gesellschaft instituiert. Ein Erscheinen in dem Sinne, daß der Prozeß, durch den sich die Gesellschaft ordnet und durch ihre Teilung hindurch vereinigt, sichtbar wird, Verbergung aber in dem Sinne, daß das generische Prinzip der Konfiguration der Gesamtgesellschaft verschleiert wird, sobald sich ein Ort der Politik als partikular bezeichnet (jener Ort, an dem sich der Wettstreit der Parteien vollzieht, an dem sich die allgemeine Machtinstanz ausbildet und erneuert).«305

Die Demokratie entsteht unter historischen Bedingungen, die durch den offenen Klassenkonflikt geprägt sind, und »begründet sich in dem anfänglichen Gestus, die Legitimität des Konfliktes anzuerkennen.«306 Zugleich aber überführt sie den Kampf zwischen den Klassen in einen Wettbewerb um die Macht, »der durch die Stimmzählung entschieden wird«307, und verschaff t dem Konflikt, der die Gesellschaft zu zerreißen droht, auf diese Weise »einen symbolischen Ausgang.«308 Demokratie erweist sich also letztlich als eine Inszenierung, die einerseits alle Wünsche nach symbiotischer sozialer Einheit abwehren und das Bewusstsein der »ursprüngliche Teilung« wach halten muss, andererseits aber auch »die Funktion des Verdunkelns zu erfüllen«309 hat, weil das einmal Offenbarte und Anerkannte beständig danach »verlangt, wieder verdeckt zu werden.«310 Mit dieser Beschreibung liefert Lefort zwar ein eindrucksvolles Bild dessen, was er das »Paradox der Demokratie« nennt, aber der Anspruch, einen Begriff von Politik zu entwickeln, der sowohl die mediale Verflachung der Politik als auch ihre reduktionistische Simplifizierung durch Altmarxisten und Neoliberale widerlegen kann, wird nur in Ansätzen erfüllt. Einzelne Motive und Figuren des Entwurfs haben sich als heuristisch wertvoll erwiesen. So ist Leforts Rede vom ›leeren Ort der Macht‹ vielfach aufgegriffen worden, 304. 305. 306. 307. 308. 309. 310.

Ebd. C. Lefort: »Die Frage der Demokratie«, S. 284. C. Lefort/M. Gauchet: »Über die Demokratie«, S. 91. Ebd., S. 108. Ebd., S. 91. Ebd., S. 90. Ebd., S. 93.

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und auch seine Argumente für die unaufhebbare Konflikthaftigkeit der Demokratie haben Anklang gefunden.311 Doch die meisten Texte wirkten schon zum Zeitpunkt ihrer Publikation wie rhetorisch überspannte Versuche, triviale Tatbestände durch einen phänomenologischen Zugriff zu dramatisieren und auf diese Weise eine eher moderate politische Haltung zu kaschieren. Die ›verborgene Tiefe‹ und die ›eigensinnige Logik‹ des Politischen, deren Offenbarung die neue philosophische Besinnung leisten wollte, blieben theoretische Desiderate. Es ist daher nicht erstaunlich, dass der ambitionierte Diskurs über die Latenz des Politischen entweder andere Wege gegangen ist (wie etwa bei Rancière und Badiou) oder aber Leforts Essays nur als eine Art Startrampe für eine radikalere Bestimmung des Politischen genutzt hat (wie bei Laclau, Mouffe und Žižek). So kappen Laclau/Mouffe die bei Lefort noch bestehende enge Verbindung zwischen der so genannten »ursprünglichen Teilung« und dem Klassenkampf, der unter demokratischen Verhältnissen zumindest in latenter Form zwischen den Eignern von Produktionsmitteln und den Lohnabhängigen ausgetragen wird. An die Stelle des realen Klassenkampfes, der immer noch ökonomisch situierte Subjekte mit definierten Interessen voraussetzt, tritt bei Laclau/Mouffe die Diskurs-Figur »Antagonismus«. Erst mit diesem semantischen Manöver ist der von Lefort nur angekündigte, aber nicht wirklich vollzogene Schritt zu einer genuin politischen Analyse getan. Die Politik als eine eigenständige, von ökonomischen Determinationen nicht erfasste Sphäre zu denken, heißt für Laclau/Mouffe soziale Prozesse im Lichte der Kontingenz zu betrachten.312 Welche antagonistische Beziehung jeweils vorliegt, lässt sich nicht durch den Rückgang auf eine verborgene basale Ebene klären, sondern hängt von den aktuellen Kämpfen um die Hegemonie bestimmter Sinnentwürfe ab, mit denen (obschon dies niemals vollständig gelingen kann) gesellschaftliche Einheit erzeugt und repräsentiert werden soll.313 Politische Interventionen in die Gesellschaft dürfen – wie Laclau/Mouffe zeigen – daher nicht als Vorgänge betrachtet werden, die »auf der Ebene des Grundes des Sozialen stattfinden« und sich ggf. »als ein gründender revolutionärer Akt« in Szene setzen.314 Theorie und Praxis der Politik haben vielmehr die Aufgabe, den latenten Riss sichtbar zu machen, der jedes hegemoniale Projekt durchzieht, nämlich den Riss »zwischen der allgemeinen Form […] und dem konkreten Inhalt, der diese Form inkar-

311. Vgl. Ulrich Rödel/Günter Frankenberg/Helmut Dubiel: Die demokratische Frage, Frankfurt a.M. 1989, und die bereits erwähnten Arbeiten von Dubiel. Es ist kaum zu übersehen, wie Leforts Thesen in der wohlwollenden Rekonstruktion der Frankfurter Soziologen rhetorischen Ballast abwerfen. 312. Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie (1985), Wien 1991. 313. »The moment of antagonism where the undecidable nature of the alternatives and their resolution through power relations becomes fully visible constitutes the field of the ›political‹« (Ernesto Laclau: New Reflections on the Revolution of Our Time, London 1990, S. 35). 314. Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz (1996), Wien 2002, S. 125.

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niert.«315 Um das eigentümliche Verhältnis zwischen allgemeiner Form und konkretem Inhalt zu bestimmen, führen Laclau/Mouffe den Begriff des »leeren Signifi kanten«316 ein, der verdeutlichen soll, dass das kollektive Begehren, unbedingt eine gemeinschaftliche Ordnung herzustellen, mit der sich alle Mitglieder identifizieren können, stets an der konstitutiven Abwesenheit einer solchen Gemeinschaft aufläuft. Jede hegemoniale Strategie verfolgt – kraft ihrer imaginären Entwürfe der Einheit – das Ziel, diese Tatsache zu verschleiern. Demokratie ist – aus der Warte von Laclau/Mouffe – folglich nichts anderes als diejenige ausgezeichnete politische Form, welche die hegemonialen Strategien der kollektiven Identitätsstiftung als unvermeidliche soziale Praktiken zwar akzeptiert, aber zugleich auch die grundsätzliche Beliebigkeit der einzelnen Einheits-Projekte ins allgemeine Bewusstsein hebt. Demokratie wird so zu einem normativ gehaltvollen Begriff. Denn die Zumutung, Kontingenz wahrzunehmen und auszuhalten, führt keineswegs zu einer nihilistischen Position, sondern zur Einnahme einer moralischen Haltung, die allein durch feststehende Normen oder Werte nicht erworben werden könnte: »Nur wenn ich das Absolute als einen ausgesprochen leeren Platz erfahre, kann ich in kontingente Handlungsweisen eine moralische Tiefe projizieren, die sie – auf sich allein gestellt – nicht haben. Wie wir sehen können, ist die ›postmoderne‹ Erfahrung der radikalen Kontingenz jedes partikularen Inhalts, der moralisch gültig zu sein behauptet, die eigentliche Voraussetzung jener ethischen Überinvestition, die ein höheres moralisches Bewusstsein ermöglicht.«317

Laclau/Mouffe legen also durch die Beschreibung des unüberwindbaren Antagonismus nicht allein den verborgenen Grund des Politischen frei, sie entdecken auch eine unsichtbare Logik des Scheiterns all derjenigen Projekte, mit denen die Gesellschaft durch Phantasmen der kollektiven Identität geschlossen werden soll. Unter Rekurs auf Derrida gehen sie davon aus, dass die Struktur der Gesellschaft immer schon disloziert ist und daher auch keine absolute, determinierende Kraft auf das Subjekt ausüben kann: »I am condemned to be free, not because I have no structural identity as the 315. Ebd., S. 136. 316. Vgl. insbes. ebd., S. 65ff. Der ›leere Signifikant‹ »ist die symbolische Ver-

körperung eines imaginär Allgemeinen, das sich als ›tatsächliches‹ Allgemeines nie realisieren lässt« (Martin Nonhoff: »Politische Diskursanalyse als Hegemonieanalyse«, in: Ders. (Hg.), Diskurs – radikale Demokratie – Hegemonie, Bielefeld 2007, S. 173-193, hier: S. 180. 317. Ebd., S. 216. Freilich lässt sich die Forderung, eine unhintergehbare soziale Differenz auszuhalten und die Demokratie als politische Form zu verteidigen, die durch ihre agonale Verfasstheit die Differenz bestätigt und entpathologisiert, auch als wirklichkeitsferner Appell, der das ›Normalpublikum‹ überfordert, interpretieren: Vgl. dazu Dirk Jörke: »Wie demokratisch sind radikale Demokratietheorien?«, in: Reinhard Heil/Andreas Hetzel, (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld 2006, S. 253-266, hier: S. 264.

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existentialists assert, but because I have a failed structural identity. This means that the subject is partially self-determined.«318 Bloß ›partiell‹ ist diese Freiheit des Subjekts aus zwei Gründen: zum einen, weil das Subjekt den strukturellen Einschränkungen nicht gänzlich entgehen kann, und zum anderen, weil es Kollektiven angehört, die durch »affektive Kräfte« und Identifi kationswünsche dazu getrieben werden, sich auf politische Kämpfe um die Vorherrschaft einer bestimmten Idee von Gemeinschaft einzulassen. Für solche Kämpfe gibt es – anders als Demokratie-Theoretiker wie Rawls und Habermas annehmen – eben keine »rationale Lösung«.319 Die einzige Milderung der antagonistischen Konfl ikte liegt in der institutionellen Überführung des Antagonismus in eine Vielzahl moderater (nur mehr »agonaler«) Auseinandersetzungen, deren derzeit erfolgreichste und robusteste Form die demokratischen Konkurrenzkämpfe zwischen unterschiedlichen politischen Parteien darstellen. Rätselhaft bleibt bei dieser Bestandsaufnahme, die sich gegen ein ›postpolitisches‹, leidenschaftsloses, konsensorientiertes Demokratie-Verständnis320 richtet, allerdings die Quelle der wohldosierten affektiven Investitionen, mit denen die Hüter der rein ›agonalen‹ Demokratie ihre engagierte Politik betreiben. Müssen sie sich am Ende nicht doch aus den Ressourcen der Vernunft bedienen? Slavoj Žižek hat Ernesto Laclau (und Chantal Mouffe) daher mit einem gewissen Recht mangelnde Kühnheit vorgeworfen.321 Dieser Vorwurf bezieht sich nicht allein auf den fehlenden Mut, politische Entscheidungen ohne jede Deckung zu treffen und auf demokratische Verfahren als »opportunistische Versicherung gegen einen möglichen Fehlschlag«322 heroisch zu verzichten, sondern auch auf den Umstand, dass Laclau (durch Žižek inspiriert 323) zwar zunehmend Elemente der Theorie von Lacan in seine Analysen eingebaut hat, jedoch nicht konsequent genug mit den Instrumenten der revidierten Psychoanalyse hinter die Kulissen des demokratischen Getriebes blickt. Daher gehen Laclau/Mouffe – ähnlich wie Lefort und Rancière – unweigerlich in die

318. E. Laclau: New Reflections, S. 44. 319. Ch. Mouffe: Über das Politische, S. 17, 34f.; siehe auch Ernesto Laclau: On

Populist Reason, London 2005. 320. Vgl. ebd., S. 41. 321. Vgl. Slavoj Žižek: »Holding the Place«, in: Judith Butler/Ernesto Laclau/ Ders. (Hg.), Contingency, Hegemony, Universality. Contemporary Dialogues on the Left, London/New York 2000, S. 308-329; siehe auch: Slavoj Žižek: Die Revolution steht bevor. Dreizehn Versuche über Lenin, Frankfurt a.M. 2002. Laclau wiederum hat Žižeks Vorwürfe als leeres Gerede (»empty talk«) abgetan, weil Žižek nichts über die Strategie verlauten lasse, mit der er seine extremen Ziele erreichen möchte. (Ernesto Laclau: »Structure, History and the Political«, in: J. Butler/Ders./S. Žižek (Hg.), Contingency, S. 182-212, hier: S. 206). 322. Slavoj Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, Frankfurt a.M. 2005, S. 167. 323. Vgl. Slavoj Žižek: The Sublime Object of Ideology, London 1989.

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»demokratische Falle.«324 Zunächst freilich hatte Žižek das »Konzept sozialer Antagonismen« von Laclau/Mouffe als »den vielleicht radikalsten Durchbruch für die moderne Gesellschaftstheorie« gepriesen und im Lichte von Lacan rekonstruiert: »Weit davon entfernt, alle Realität auf eine Art Sprachspiel zu reduzieren, verstehen sie das sozio-symbolische Feld so, dass es um eine bestimmte traumatische Unmöglichkeit herum strukturiert ist, um einen bestimmten Riß, der nicht symbolisiert werden kann.«325 Seine ganze Erklärungskraft kann das »Konzept des Antagonismus« – laut Žižek – freilich erst dann entbinden, wenn es durch die Figur des Phantasmas, die den marxistischen Ideologie-Begriff ablöst, ergänzt wird. Denn das »Phantasma« maskiert den »konstitutiven Antagonismus mit der Fülle des Genießens.«326 Als »Genießen« (jouissance) bezeichnet Lacan eine »paradoxe Befriedigung«, die Lust und Unlust amalgamiert und »durch eine schmerzhafte Begegnung mit einem Ding zustande kommt, das das Gleichgewicht des ›Lustprinzips‹ durcheinanderbringt.«327 Mit der Begriffskonstellation »traumatischer Kern«, »Phantasma«, »Genießen« und »Ding« glaubt Žižek über das nötige Instrumentarium zu verfügen, um Laclaus und Mouffes gesellschaftstheoretischen ›Durchbruch‹ zu vollenden und das Risiko einer voreiligen Huldigung an die Demokratie als politische Form, die um jeden Preis verteidigt werden muss, zu umgehen. Žižeks Versuch, die verborgenen Mechanismen sozialer Ordnungsbildung einerseits und die notwendigen Bedingungen für deren Destruktion oder Überwindung anderseits aufzudecken, beruht im Wesentlichen auf zwei Argumentationsschritten: In einem ersten Schritt bestimmt er die Funktionsweise sozialer Integration: »Das Element, das ein gegebenes Gemeinwesen zusammenhält, kann nicht auf den Aspekt symbolischer Identifizierung reduziert werden: Das Band, das seine Glieder zusammenhält, impliziert immer eine gemeinsame Beziehung zu einem Ding, in dem sich das Genießen verkörpert.«328 In einem zweiten Schritt legt Žižek die »obszöne Unterseite«329 der sozialen Ordnung frei: Neben dem offiziellen Gesetz existiert nämlich stets ein »ungeschriebene[s] Gesetz«, das insgeheim (innerhalb bestimmter Areale und für bestimmte Zeiten) die Übertretung der expliziten Regeln der Gemeinschaft erlaubt, wenn nicht sogar gebietet. 324. S. Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, S. 167. Zur »demokratischen Illusion« vgl. auch ders.: Die Revolution steht bevor, S. 42, 101, 136, 168. 325. Slavoj Žižek: »Jenseits der Diskursanalyse«, in: Judith Bulter/Simon Critchley/Ernesto Laclau u.a.(Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998, S. 123-131, hier: S. 123. Der soziale Antagonismus geht nach Žižek letztlich auf den basalen »Mangel des Subjekts« (Lacan) zurück. 326. Ebd., S. 129. 327. Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaft. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 133-164, hier: S. 162. 328. Ebd., S. 134f. 329. S. Žižek: Die politische Suspension des Ethischen, S. 117.

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Aus genau diesem Grunde stellt das »ungeschriebene Gesetz«, das »uneingestanden« und »unaussprechlich«330 ist, den »Geist der Gemeinschaft in seiner Reinform dar und übt auf die Individuen den größten Druck zur Gruppenidentität aus.«331 Indem Žižek davon ausgeht, dass sich eine tiefgreifende Gesellschaftsanalyse nur unter Einsatz der »Unterscheidung zwischen dem öffentlichen symbolischen Gesetz und seiner obszönen Kehrseite«332 betreiben lässt, kann er sowohl die Funktion der Gewalt bei der Produktion sozialer Ordnung durch Macht bestimmen (und so Hanna Arendts berühmte Differenzierung von Macht und Gewalt überwinden) als auch das Verhältnis einer kritischen Theorie zu ihrem Gegenstand offen legen: 330. Diese Formulierung wird durch Mladen Dolar – einen Mitarbeiter von Žižek – in seiner Analyse der »Ethik der Stimme« relativiert: »Wir können hier an geheime Regeln und Rituale denken, die gewisse Gemeinschaften zusammenhalten. […] Diese Regeln dürfen niemals niedergeschrieben werden, sie müssen geflüstert, angedeutet und auf die Stimme beschränkt werden. Die Stimme ist letztlich das, was das Über-Ich vom Gesetz unterscheidet: Das Gesetz muß durch den Buchstaben, etwas öffentlich Zugängliches, prinzipiell immer Verfügbares untermauert werden, während es das Gesetz verletzende oder ergänzende Regeln gibt, die der Stimme anvertraut sind, überichhafte Regeln, die meistens die Form einer Überschreitung des Gesetzes annehmen, in Wahrheit aber Gemeinschaften wirksam zusammenschweißen und ihr unsichtbares Bindemittel bilden« (Mladen Dolar: His Master’s Voice. Eine Theorie der Stimme (2003), Frankfurt a.M. 2007, S. 137f.). 331. Slavoj Žižek: Lacan: Eine Einführung (2006), Frankfurt a.M. 2008, S. 118. Vgl. auch Žižeks Auskünfte in einem Interview: »Ohne die obszöne Unterstützung der jouissance kann Ideologie nicht funktionieren. Dieses Thema interessiert mich immer mehr; ich verbinde es mit einem anderen Thema, das den Kern meiner Arbeit bildet […]: das obszöne Supplement zum Gesetz. Es interessiert mich, warum eine nicht im geringsten totalitäre soziale Ordnung trotzdem explizite Gesetze des sozialen Lebens mit einer Reihe von ungeschriebenen und obszönen Gesetzen unterfüttern muß. […] Die Existenz der ungeschriebenen wird öffentlich niemals zugegeben werden.« (Michael Ryklin: Dekonstruktion und Destruktion. Gespräche (2003), Berlin 2006, S. 181). Freilich ist Žižeks Unterscheidung von offiziellem und inoffiziellem Gesetz weit weniger originell als es den Anschein hat. Die gängige soziologische Theorie der Institutionen stellt nicht allein die Differenz zwischen Vorder- und Hinterbühne, sondern auch einen »institutionsinternen Untergrund« in Rechnung und behauptet, dass Institutionen, die »in konflikthafte Auseinandersetzungen mit ihrer Umwelt verstrickt sind, […] ihren informellen Prozeß« benutzen, »um zu tarnen, was im offiziellen Prozeß, der für die Umwelt sichtbar ist, nicht in Erscheinung treten darf« (Johannes August Schülein: Theorie der Institution, Opladen 1987, S. 162). 332. S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 262. Vgl. hierzu auch Žižeks Hinweis auf eine Arbeit von Bulent Diken und Carsten Bagge Laustsen, die er zitiert: »Das normalisierte, gesetzestreue Subjekt wird von einem gespenstischen Double verfolgt, von einem Subjekt, in dem sich der Wille materialisiert, das Gesetz im perversen Genießen zu überschreiten« (Die Revolution steht bevor, S. 85).

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»Die Idee des obszönen Über-Ich-Doubles/Supplements der Macht impliziert, dass es keine Macht ohne Gewalt gibt. Die Macht muss immer auf einem obszönen Makel der Gewalt beruhen; der Raum des Politischen ist niemals ›rein‹, sondern unterhält immer irgendwie eine Verbindung zur ›vorpolitischen‹ Gewalt [im Sinne Arendts, L.E.]. Natürlich ist dabei das Verhältnis von politischer Macht und vorpolitischer Gewalt eines der wechselseitigen Implikation: Nicht allein die Gewalt ist das notwendige Gegenstück der Macht, sondern die (politische) Macht ist ihrerseits immer schon an der Wurzel jeder scheinbar ›unpolitischen‹ Gewaltbeziehung am Werk. […] Eine kritische Analyse sollte den verborgenen politischen Prozess, der alle diese ›un‹- oder ›vorpolitischen‹ Beziehungen aufrechterhält, erkennen können. In der menschlichen Gesellschaft ist das Politische das umfassende Strukturprinzip, so dass jegliche Neutralisierung eines Teilinhalts als ›unpolitisch‹ eine politische Geste par excellence darstellt.«333

Von dieser sozial konstitutiven, gleichsam »obszönen Gewalt, die als implizite Unterstützung einer gewöhnlichen ideologisch-allgemeinen Auffassung dient«334, hebt Žižek Formen »einer exzessiven, nicht-funktionalen Grausamkeit«, d.h. einer »Gewalt« ohne jeglichen »Nutzen«335, ab. Ähnlich wie Rancière und Mouffe diagnostiziert er einen internen Zusammenhang zwischen den so genannten »post-politischen« Zuständen der gegenwärtigen konsensfi xierten Demokratie des »Dritten Weges«, die sich auf Expertenwissen und Meinungsumfragen stützt, und den irrationalen Ausbrüchen von Gewalt, die heute an der Tagesordnung sind. Post-Politik wird zur verheerenden Illusion erklärt, die aufgrund ihrer verblendeten Orientierung an Dialog und Rationalität, letztlich die Voraussetzungen schaff t für die »durch und durch kontingenten Gewaltausbrüche«336, die sie anschließend als Menschenrechtsverletzungen beklagt und mit welt-polizeilichen Maßnahmen bekämpft. »Ethnische Konflikte« an der Peripherie der demokratischen Welt erscheinen daher auch nur als »verdrängte Wahrheit [des westlichen] demokratischen Begehrens«, dessen Objekte auf einer Skala der Wünsche angesiedelt sind, die »vom politischen Pluralismus bis zur blühenden Marktwirtschaft« reichen.337 Die hier benutzte Unterscheidung zwischen einer funktionalen und einer kontingenten Gewalt lässt sich aber kaum aus den theoretischen Prämissen herleiten, auf denen Žižeks Analyse beruht. Angesichts des Stellenwerts, den der ›Kontingenz‹-Begriff im gesamten Theoriedesign annimmt, dürfte er kaum geeignet sein, um eine vermeidbare von einer unvermeidbaren Gewalt abzugrenzen. Auch Žižeks Kritik an der »Ultra-Politik«, die durch eine unmittelbare »Militarisierung« der Probleme »den eigentlichen politischen Akt«338 verleugne, ist schwerlich dadurch zu begründen, dass Politik als »gemeinsame Grundlage für den symbolischen Konflikt« bestimmt 333. 334. 335. 336. 337. 338.

S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 262f. Ebd., S. 279. Ebd., S. 276, siehe dort auch: S. 279 und 281. Ebd., S. 278. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, S. 142f. S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 273.

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wird.339 Denn im Gegenzug weist Žižek energisch auf die »traumatische Dimension« und das »destabilisierende Potential des Politischen« hin.340 Dass es sich bei diesen konstitutiven Eigenschaften des Politischen nicht bloß um Grundelemente einer symbolischen Streitkultur handelt, stellt Žižek selbst mit hinreichender Deutlichkeit klar: Der eigentliche politische Akt zerstört als radikale Intervention den »Rahmen der existierenden Verhältnisse«, um neue »sozio-politische Relationen« an seine Stelle zu setzen.341 Echte Politik ist die »Kunst des Unmöglichen«342, die in der Artistik der puren Entscheidung wurzelt. Ihr Eingriff in die Gesellschaft ist revolutionär und zugleich gänzlich blind für potenzielle Auswirkungen. Die Kunst des Unmöglichen verfügt über kein Kriterium, das es den Akteuren »ermöglicht, den ›falschen‹ gewaltsamen Ausbruch gegen das ›Wunder‹ des authentischen revolutionären Durchbruchs abzugrenzen. Die Ambiguität ist in diesem Fall irreduzibel, da sich das ›Wunder‹ nur durch die Wiederholung eines früheren Scheiterns ereignen kann. Und dies ist auch der Grund, warum Gewalt ein notwendiger Bestandteil eines revolutionären politischen Aktes ist.«343 Žižek zieht aus der fatalen Unbestimmtheit des politischen Aktes344, welche für die Motive, die Mittel und die Folgen gleichermaßen gilt, freilich nicht (wie etwa Antonin Artaud) den Schluss, dass ein wahrhaft politischer Akt, der die Post-Politik herausfordert, nur als gewaltlose »virtuelle Revolte«345 sein Ziel erreichen kann. Warum Žižek diese Lösung des Problems vermeidet, bleibt unklar. Denn sie bietet sich ja nicht nur deshalb an, weil sie die ›unmögliche‹ Differenzierung der verschiedenen Gewaltformen346 unterläuft, sondern auch mit dem Eingeständnis verbunden ist, dass die Veränderung des sozialen Rahmens ohnehin nur eine Korrektur auf der Ebene phantasmatischer Entwürfe sein kann. Kein politischer Akt – so will es wenigstens die Anlage von Žižeks Theorie – vermag nämlich die Kraft des ungeschriebenen Gesetzes, das sich hinter allen offiziellen Regeln verbirgt Ebd., S. 260f. Ebd., S. 260. Ebd., S. 273. Ebd., S. 274. S. Žižek: Die Revolution steht bevor, S. 87. Žižeks Versuche, den »Akt« durch Rekurs auf literarische Gestalten (wie Antigone und Medea) oder exemplarische Film-Figuren (Keyser Soze aus The usual Suspects, USA 1994, Regie: Bryan Singer) zu veranschaulichen, verwickeln sich in Aporien und sind eher dazu geeignet, den Begriff vollends zu diskreditieren. Nicht einmal als ›leerer Signifikant‹ lässt er sich verteidigen. Vgl. hierzu Marc de Kesel: »Zu Slavoj Žižeks Interpretation von Antigone«, in: Eric M. Vogt/Hugh J. Silverman (Hg.), Über Žižek, Wien 2004, S. 74-94; sowie Mary Anne Franks: »Von Sex und anderen Akten«, ebd., S. 95-117. 345. Antonin Artaud: Das Theater und sein Double (1938), Frankfurt a.M. 1969, S. 30. 346. Žižek scheint das Problem zu bemerken und beschreibt die idealtypische (gleichsam ›unbefleckte‹) Gewalt des ›Aktes‹ zuweilen als autoaggressive Handlung. 339. 340. 341. 342. 343. 344.

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und aus der Latenz heraus seine Wirkung entfaltet, zu brechen. Nur ästhetische oder theoretische Imaginationen können überhaupt in die Zone des obszönen Doubles der geltenden juristischen und moralischen Normensysteme vordringen und diese Zweitwelt strenger Gebote ans Licht heben. Entmachten oder zumindest schwächen können derartige Anstrengungen die ungeschriebenen Gesetze jedoch nur unter der Bedingung, dass gleichzeitig die Potenz der offi ziell geltenden Normen im Schwinden begriffen ist. Ganz anders als Žižek, der nach wie vor an die ebenso lustvolle wie schmerzhafte Effektivität der bewussten oder unbewussten Vor-Schriften glaubt, hat die Theorie des Normalismus auf Modifi kationen der sozialen Orientierungsmuster – nämlich die tendenzielle Ablösung der Vor-Schriften durch mediale Mit- und Nach-Schriften347 – hingewiesen, die das schiere Ereignis des ›politischen Aktes‹ zu einem archaischen Relikt der psychoanalytischen Subjekthermeneutik depotenzieren. Alle bislang diskutierten Bemühungen, das Verflachen der politischen Latenz und das Fading der Politik zu korrigieren bzw. als Fehldiagnosen der öffentlichen Meinung oder des akademischen Mainstreams zu entlarven, müssen hohe theoretische Kosten entrichten.348 Sie führen entweder zu rhetorisch überspannten und (wie fälschlich behauptet wird) weithin ignorierten Modellen einer wehrhaften, konfl ikt-affi nen Demokratie oder aber zu diff usen und ambivalenten Konzepten einer anderen, nicht schon durch institutionelle Rahmungen vorweg eingegrenzten politischen Aktivität. Das Konfl iktmodell z.B. ist wesentlich banaler und akzeptierter als es die kritischen Invektiven gegen die ›Post-Politik‹ vermuten lassen. Und die Beschreibungen der Alternativen zu den vorhandenen Spielarten der sog. ›Subpolitik‹ liefern nicht die geringsten Kriterien, um zwischen gedeihlichen und verderblichen Ausprägungen der neuen Politik zu unterscheiden. Offenbar ist es weit schwieriger als angenommen, die aktuellen Probleme der Politik durch starke Figuren des Verborgenen oder Verdrängten (das Anteilslose, das Unvernehmen, der basale Antagonismus, das ungeschriebene Gesetz) bzw. durch Modelle des Entzugs (der leere Ort der Macht, der leere Signifi kant) genauer zu bestimmen und dann durch einen emphatischen Begriff echter Politik (das Erscheinen des singulär Allgemeinen, das Wahrheits-Ereignis, der Akt) zu beheben. Jedenfalls vermag die Begriffsakrobatik ›radikaler‹ Theoretiker wie Nancy, Rancière, Badiou und Žižek nur ein diskursives Strohfeuer zu entfachen; während Lefort und Gauchet, sofern man deren blumige Essays auf ihren sachlichen Kern reduziert, problemlos in die konfl ikttheoretischen Entwürfe angelsächsischer und deutscher Autoren349 einzufügen sind. 347. Vgl. L. Ellrich: »Medialer Normalismus« sowie » Normalität und Normati-

vität«. 348. Vgl. auch D. Jörke: »Wie demokratisch sind radikale Demokratietheori-

en?«. 349. Vgl. William E. Connolly: Identity/Difference. Democratic Negotiations of Political Paradox, London 1991; Benjamin Barber: Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, Hamburg 1994; Rainer Schmalz-Bruns: Reflexive Demo-

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Unter diesen ernüchternden Umständen kann es nicht erstaunen, dass Giorgio Agamben mit einer Theorie, die den Anspruch erhebt, das ›Betriebsgeheimnis‹ der Demokratie350 zu lüften und das Paradox der politischen Souveränität ohne Rücksicht auf verschiedene historische Kontexte ein für alle mal aufzuklären, Furore gemacht hat.351 Agambens Antwort auf die Frage nach dem verborgenen Wesen des Politischen ist – trotz der komplexen Lektüren, die seine Schriften darbieten – erstaunlich einfach: Wer die entscheidenden Texte der antiken Philosophen richtig liest und mit den Analysen der Höhenkammtheoretiker der Moderne (Carl Schmitt, Walter Benjamin, Martin Heidegger, Hanna Arendt und Guy Debord) in Verbindung bringt, der erkennt, dass sich alles um eine souveräne Gewalt dreht, welche sich in die Form des Rechts kleidet und so den Blicken der Menschen, die sie zugleich ausüben und erleiden, entzieht. Nur ein privilegierter Beobachter der Spätmoderne, der die politischen und juristischen Ideen der Griechen bzw. Römer rekonstruiert, das einschlägige Schrifttum zur Krise der Weimarer Republik kennt, die Filme und Bücher über die Konzentrationslager des 20. Jahrhunderts (z.B. Auschwitz und den Archipel Gulag) rezipiert hat und – angeleitet durch Guy Debord – die Spektakelkultur der Gegenwart352 hautnah erlebt, ist dazu imstande, die »anonyme und alltägliche« Gewalt, welche durch ihre Unsichtbarkeit »um so wirksamer« ist, zu erkennen und endlich beim Namen zu nennen.353 Nach Agamben beginnt das welthistorische Verhängnis der Gattung mit einem Akt, der als Geburt der Politik aus dem Geiste biopolitischer Differenz betrachtet werden kann, nämlich der strikten Unterscheidung zwischen zoé und bíos, d.h. zwischen dem nackten oder bloßen354 Leben (la nuda vita) und einem Leben, das durch rechtliche Institutionen als die sozial kratie. Die demokratische Transformation moderner Politik, Baden-Baden 1995; Michael Walzer: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Frankfurt a.M. 1996; Günther Frankenberg: Die Verfassung der Republik. Autorität und Solidarität in der Zivilgesellschaft, Baden-Baden 1996; Jon Elster: Deliberative Democracy, Cambridge 1998; Philipp Pettit: Republicanism: A Theory of Freedom and Government, Oxford 1999; Frank Nullmeier: Politische Theorie des Sozialstaates, Frankfurt a.M. 2000. 350. Vgl. Anselm Haverkamps Rezension, die allerdings eher einer Werbekampagne als einer Besprechung gleicht (»Das Betriebsgeheimnis der europäischen Demokratie«, in: Literaturen 1 (2001), S. 23-25). Im Kontext der Agamben-Mode wurden dann Bücher angepriesen, die einen Blick »ins Innere jenes schwarzen Knotens [werfen], der die Gesellschaft zusammenhält.« So lautet ein Statement von Kerstin Holm, das sich auf dem Umschlag der deutschen Ausgabe von Vladimir Sorokins Der Tag des Opritschniks (Köln 2008) befindet. 351. Giorgio Agamben: Homo sacer (1995), Frankfurt a.M. 2002. 352. Vgl. Giorgio Agamben: Mittel ohne Zweck (1996), Berlin 2001, S. 73ff. 353. Ebd., S. 108. 354. Walter Benjamin, auf den sich Agamben bezieht, spricht in einem seiner fragwürdigsten und dunkelsten Texte davon, dass nach »dem alten mythischen Denken […] der gezeichnete Träger der Verschuldung […] das bloße Leben« ist.

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wertvolle Existenzform des Menschen bestimmt wird. Mit dieser Trennung entsteht die Möglichkeit, innerhalb des sozialen Feldes spezielle Lebewesen durch eine vollständige Reduktion auf ihr natürliches Substrat zu stigmatisieren und der potenziellen Vernichtung preiszugeben. Im homo sacer, einer berühmt berüchtigten Figur des Römischen Rechts, sieht Agamben die paradoxe politische Grundoperation der einschließenden Ausschließung semantisch realisiert. Denn eine zum homo sacer erklärte, dem »Bann« unterworfene Person darf zwar jederzeit straflos getötet, nicht jedoch geopfert, also offi ziell in ein sinnstiftendes Element der gesellschaftlichen Integration transformiert werden. Mit diesem Verbot der Opferung des Verbannten lenkt das Römische Recht von der sozialen Funktion ab, welche die absolute Entrechtung ausgewählter Einzelner für den Auf bau eines konsistenten Systems von Verhaltensrichtlinien besitzt, und verdunkelt so von vorn herein das Wesen der politischen Souveränität, die bis heute die ganze abendländische Geschichte prägt.355 Wer wissen will, was Souveränität im tiefsten Sinne bedeutet, muss sich – laut Agamben – deshalb als erstes klar machen, dass die Produktion des nackten, rechtlich nicht geschützten, sondern förmlich freigegebenen Lebens »die ursprüngliche [ordnungsstiftende, L.E.] Leistung der Souveränität« ist.356 Und dies soll gleichermaßen für antike Stadtstaaten wie für spätmoderne Demokratien gelten. Der eigentümliche Status des homo sacer, den das römische Recht als etwas Besonderes, quasi als eine Ausnahme markiert und innerhalb des öffentlich bekannt gemachten Regelsystems kodifi ziert, liefert somit das generelle, aber unsichtbare Muster für jede politische Ordnung. Daher gehört es für Agamben zu den vordringlichen Pfl ichten der heutigen politischen Philosophie, diese Grundstruktur ans Licht zu bringen und die bio-politisch entscheidende Wende einzuleiten, deren oberstes Ziel darin besteht, eine andere Lebens-Form (forma di vita) zu kreieren:357 An einer früheren Stelle des Aufsatzes redet er von der »Verschuldung des bloßen natürlichen Lebens« (Zur Kritik der Gewalt, S. 199ff.). 355. Obschon Agamben nur die abendländische Metaphysik und ihre politischen Folgen behandelt, hat seine Theorie einen universellen Anspruch. Es müssten sich demnach in allen Kulturen, bei deren Integration Politik eine zentrale Rolle spielt, vergleichbare Grundstrukturen auffinden lassen. Den Nachweis hat Agamben freilich nicht geführt. Ebenso fehlen Überlegungen zur sozialen Integration in Gesellschaften ohne Staat. Vgl. z.B. Georges Balandier: Politische Anthropologie (1967), München 1972; Pierre Clastres: Staatsfeinde (1969), Frankfurt a.M. 1976. 356. G. Agamben: Homo sacer, S. 16. 357. Auf die Frage, warum die Philosophie dazu befähigt ist, das Unsichtbare überhaupt und gerade heute zu erkennen, gibt Agamben keine befriedigende Antwort. Es finden sich allenfalls Bemerkungen über eine sonderbare historische Steigerung souveräner Machtpolitik – Bemerkungen, welche eigentlich mit dem ahistorischen Design der Theorie nicht kompatibel sind: »Entscheidend ist […], daß das nackte Leben, ursprünglich am Rande der Ordnung angesiedelt, im Gleichschritt mit dem Prozeß, durch den die Ausnahme überall [!] zur Regel wird, immer mehr [!] mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Wege zoé und

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»Nur eine Reflexion, die […] die Beziehung zwischen nacktem Leben und Politik thematisch befragt – eine Beziehung, die im geheimen auch die scheinbar am weitesten entfernten Ideologien regiert –, wird das Politische aus seiner Verborgenheit heraus- und das Denken zu seiner praktischen Aufgabe zurückführen.«358

Erforderlich ist dazu in erster Linie die revolutionäre Verwandlung der Sprache. Denn die symbolische und gestische Kommunikation – das »Gemeinsame« der Menschen – wurde in einem jahrhundertelangen Prozess, der »nicht allein auf die Enteignung der produktiven Tätigkeit […], sondern auch und vor allem auf die Entfremdung der Sprache […] ausgerichtet war«, fast völlig zerstört und durch das »Spektakel«, eben genau die »Politik, in der wir leben«, ersetzt.359 Dass ein derartiges Projekt nur dann plausibel erscheint, wenn es sich als Reaktion auf ungeheuerliche und verborgene Fehlstellungen oder Irrgänge der Gattung präsentiert, ist offensichtlich. Agamben zeigt daher auch wenig Scheu, seine Leser mit Thesen zu konfrontieren, die in extreme Tiefenschichten des Latenten führen und schockierende Wahrheiten freilegen sollen. So deutet er die soziale Normalität, die heute in aller Munde ist und gemeinhin als handlungsorientierte Ansammlung statistisch ermittelter Verteilungskurven oder Datenlandschaften gilt, zur unsichtbaren Herrschaft des Ausnahmezustandes um. Normalität verwandelt sich durch diese Interpretation in einen puren Schein, hinter dem sich nur die zur Regel gewordene Ausnahme verbirgt. Folglich erscheint auch eine Institution, die offiziell nur der begrenzten Herstellung des Ausnahmezustandes dienen und exkludierte Personen an einem mehr oder minder geheimen Ort konzentrieren soll – nämlich

bíos, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten. Der Ausnahmezustand, in dem das nackte Leben zugleich von der Ordnung ausgeschlossen und von ihr erfasst wurde, schuf gerade in seiner Abgetrenntheit das verborgene [!] Fundament, auf dem das ganze politische System ruhte« (Homo sacer, S. 19). Einen ähnlichen Tenor besitzt die These, dass »der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit immer mehr [!] in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht« (ebd., S. 30; vgl. auch die Rede von »vorwarnenden Ereignissen« und »Tendenzen«, ebd., S. 49). – Man sieht hier sehr deutlich, dass Agamben die Einführung historischer Veränderungen (»immer mehr«) sofort mit einer topologischen Verallgemeinerung (»überall«, »letztlich zur Regel«) ausgleicht. Die zentrale methodische Frage der Latenztheorie, warum der Beobachter etwas sieht, was andere nicht sehen können, bleibt bei Agamben unbeantwortet. Luhmann hatte das Problem bekanntlich auf simple Weise erledigt: Jede weitere (andere, neue) Unterscheidung qua Beobachtung macht etwas kenntlich, was die frühere Unterscheidung nicht zu bezeichnen vermochte. Zu Luhmanns ›ausweichender‹ Position vgl. ausführlicher Lutz Ellrich: »Latenz«, in: Ludwig Jäger u.a. (Hg.), Kulturwissenschaftliche Medientheorie. Ein Forschungshandbuch, München 2009. 358. G. Agamben: Homo sacer, S. 14. 359. G. Agamben: Mittel ohne Zweck, S. 81.

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das »Lager«360 – als »originäre Struktur des Nomos«361, dem jeder Mensch – auch und gerade der so genannte ›Gesetzlose‹ – untersteht. Agamben bezieht sich mit dem Begriff des »Lagers« zwar auf historisch reale Institutionen wie z.B. die Konzentrationslager im Dritten Reich, die US-amerikanischen Einrichtungen für feindliche Kämpfer auf Guantánamo oder die italienischen Auffanglager für afrikanische Flüchtlinge, aber er verwendet den Ausdruck »Lager« überwiegend als Metapher für eine Totalinklusion, die jeden Menschen, soweit er Träges des bloßen Lebens ist, umfasst: »Wenn in unserer Zeit in einem besonderen, aber sehr realen Sinn alle Bürger362 als homines sacri erscheinen, dann ist das nur deshalb möglich, weil die Bannbeziehung von Anfang an die der souveränen Macht eigene Struktur bildete.«363 Agambens Rede vom Lager als originärer Struktur des Nomos ähnelt in mancher Hinsicht den Aussagen von Autoren wie Adorno364 und Bauman365, die Auschwitz zur Signatur der Moderne erklärt haben. Beide interpretieren die Vernichtungslager der Nationalsozialisten als Ausgeburten einer instrumentellen Rationalität, die sich im Zuge der Aufklärung aus dem Ensemble der Vernunft herausgelöst und verselbstständigt haben. Auschwitz beweist, so formuliert es Adorno, »unwiderleglich […] das Mißlingen von Kultur.«366 Dennoch gibt es für Adorno ein Leben nach Auschwitz, das von Individuen geführt wird, welche durch ihr Wissen um die irreversible Faktizität des Holocaust moralisch herausgefordert sind: »Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten, daß Auschwitz sich nicht wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.«367 Diese Maxime wäre völlig sinnlos, wenn die Menschen immer schon unter Bedingungen existiert hätten, die sich allenfalls graduell, aber nicht strukturell von den Herrschafts- und Gewaltverhält-

360. Im Unterschied zu Agambens thanatologischem Konzept von Biopolitik hatte Foucault die moderne Biopolitik als gouvernementale Strategie beschrieben, deren Ziel die Optimierung und Vervielfältigung des Lebens ist. Aus der Warte von Foucault wäre daher nicht das »Lager«, sondern das »Labor« die paradigmatische Einrichtung der spätmodernen Welt; vgl. Philipp Sarasin: »Agamben oder doch Foucault?«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51 (2003), S. 348-353, hier: S. 351. 361. G. Agamben: Homo sacer, S. 30. 362. Man muss wohl (der Logik zuliebe) präzisieren: alle Bürger – mit Ausnahme des Souveräns. Denn »Souverän ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen potentiell homines sacri sind, und homo sacer ist derjenige, dem gegenüber alle Menschen als Souveräne handeln« (Homo sacer, S. 94). 363. G. Agamben: Homo sacer, S. 121; vgl. auch die Bemerkung zur virtuellen Präsenz des Lagers, ebd., S. 183. 364. Theodor W. Adorno: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, S. 352ff. 365. Zygmunt Bauman: Modernity and the Holocaust, London 1989. 366. T. W. Adorno: Negative Dialektik, S. 357. 367. Ebd., S. 356.

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nissen im Lager unterscheiden würden. Noch weit deutlicher als Adorno beharrt Bauman auf der Differenz, die Agamben368 zu verwischen sucht: »In Demokratien gibt es keine Zwangsgewalt, die entschlossen politischen Dissens in Schach hält. Im heutigen liberal-demokratischen Staat gibt es weder Konzentrationslager noch Zensurbehörden, und die Gefängnisse, so viele auch neu hinzukommen, haben keine allein politischen Gegnern oder Häretikern vorbehaltenen Zellen. Die Gedanken-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit hat ein beispielloses Ausmaß und inzwischen nahezu Uneingeschränktheit erreicht. Paradoxerweise herrscht diese beispiellose Freiheit jedoch zu einer Zeit, in der es kaum noch eine sinnvolle Verwendung für sie gibt und die Chancen schlecht stehen, die Freiheit von Zwang in eine Handlungsfreiheit umzuwandeln.«369

Solche Analysen können Agamben freilich nicht davon abhalten, Pauschalurteile und Generalisierungen für geeignete Sprechakte zu halten, die die Dringlichkeit einer radikalen politischen Kehre zum Ausdruck bringen. Die Behauptung, alle Menschen seien potenzielle homines sacri und daher Mitglieder einer Gesellschaft, die sich als Ganzes in ein Lager verwandelt habe, imitiert genau diejenige Geste, welche von Rancière und Žižek als politische Geste par excellence definiert worden ist: nämlich die expressive, öffentliche Verallgemeinerung des Singulären. Dass diese kühne Geste aber nicht per se akzeptabel ist, macht Žižek unmissverständlich klar: »Die pathetische Behauptung: ›Wir alle sind (Juden, Schwarze, Schwule, Einwohner von Sarajewo …)‹ kann […] auf zwei Weisen funktionieren: Sie kann auch den übereilten Schluss nahe legen, dass unser eigenes Leiden faktisch dasselbe ist wie das der Opfer, das heißt eine falsche metaphorische Verallgemeinerung des Schicksals der Ausgeschlossenen.«370

Žižeks Bemerkung ist stichhaltig und diskreditiert auch Agambens rhetorisches Vorgehen; denn die Qualen der wirklichen Lagerinsassen lassen sich weder mit dem Stress der Wachmannschaften noch mit den Pathologien etlicher Mitglieder spätmoderner Spektakelgesellschaften über einen Kamm scheren. Dass all diese Formen des Leidens dem – wie Adorno sagen würde – allgemeinen ›Verblendungszusammenhang‹ zugehören, ist kein Argument für mangelnde Unterscheidungsbereitschaft. Aber damit nicht genug: Agambens Begriff des Lagers hat wenig mit den konkreten Berichten zu tun, die das Leben und Sterben in den KZs beschreiben. Aus den Büchern von Robert 368. Agamben möchte zwar die »Errungenschaften und Anstrengungen der Demokratie« nicht »entwerten«, konstatiert aber »in den post-demokratischen Spektakel-Gesellschaften« eine »zunehmende Konvergenz mit den totalitären Staaten« und sieht in der »Aporie, die den Beginn der Demokratie markiert«, die Ursache dafür, dass die Demokratie eine »geheime Komplizenschaft mit ihrem erbittertsten Feind« unterhält (Homo sacer, S. 20). 369. Z. Bauman: Die Krise der Politik, S. 243. 370. S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 319.

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Antelme und Primo Levi sowie den phänomenologisch ansetzenden Analysen von Wolfgang Sofsky371 ist ersichtlich, dass die Produktion von Unterschieden zu den charakteristischen und grausamen Praktiken im Lager gehörte: »Der Mensch im Lager ist nicht die Aufhebung dieser Unterschiede. Im Gegenteil, er ist ihre tatsächliche Verwirklichung.«372 Agamben unterschlägt jedoch die Hack- und Rangordnungen innerhalb der Lager und reduziert die zahlreichen Facetten von Terror und Entmenschlichung auf einen Grundtypus: die Erzeugung des so genannten »Muselmanns«. Dass er sich dabei auf Primo Levi beruft, ist naheliegend, aber nicht legitim. Denn Levis Aussage, der »Muselmann« sei der »Kern«373 des Lagers, lässt sich keineswegs in die These übersetzen, er offenbare die »geheime Chiffre«374 der Biomacht. Und auch die Tatsache, dass das Lager eine »Grauzone« schaff t, »in der Opfer Henker werden und die Henker Opfer«375, berechtigt kaum zu Pauschalurteilen im Stile Agambens. Die Wachmannschaften und die Häftlinge trennten Welten. Auf Seiten der SS-Schergen gab es neben sadistischer Grausamkeit gewiss auch emotionale Stumpfheit und bürokratische Kälte, aber keine dieser Eigenschaften gleicht annähernd Merkmalen, die Levi an der von vorn herein zum Untergang bestimmten Gruppe von »Muselmännern« ausmacht: »sie, die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen.«376 Man gewinnt den Eindruck, dass Agamben mit aller begrifflichen Gewalt, die ihm zu Gebote steht, danach strebt, Heideggers berüchtigten Vergleich zwischen der »Vernutzung« von »Menschenmaterial« in totalitären und demokratischen Gesellschaften fortzusetzen.377 Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Lager dient Agamben dabei als Leitfaden, mit dessen Hilfe er darlegen will, dass Demokratien nicht wesentlich anders auf das bloße Leben der Menschen zugreifen als totalitäre Systeme, die über den Archipel Gulag oder ein Generalgouvernement mit zahlreichen KZs verfügen:

371. Robert Antelme: Das Menschengeschlecht (1947/1957), München 1987; Primo Levi: Ist das ein Mensch? (1958), München 1991; Wolfgang Sofsky: Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager, Frankfurt a.M. 1993. 372. R. Antelme: Das Menschengeschlecht, S. 122. 373. P. Levi: Ist das ein Mensch?, S. 87 (in einer früheren Übersetzung von 1971 heißt es »Nerv« statt »Kern«). 374. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt (1998), Frankfurt a.M. 2003, S. 136. 375. Ebd., S. 15. 376. P. Levi: Ist das ein Mensch?, S. 87. 377. Siehe Martin Heidegger: Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 17, 84. Vgl. ferner die Rede von der »metaphysische[n] Selbigkeit« autoritärer und parlamentarischer Staaten, in: Ders.: Die Geschichte des Seyns, Gesamtausgabe Bd. 69, Frankfurt a.M. 1998, S. 189; sowie die Gleichsetzung von Gaskammern und Wasserstoffbomben, in: Ders.: Bremer und Freiburger Vorträge, Gesamtausgabe Bd. 79, Frankfurt a.M. 1994, S. 27.

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»Vor den in den Lagern begangenen Greueltaten ist die Frage, wie es möglich gewesen ist, solche entsetzlichen Verbrechen an menschlichen Wesen zu begehen, heuchlerisch; ehrlicher und vor allem nützlicher wäre es378, gewissenhaft zu untersuchen, durch welche juristischen Prozeduren und welche politischen Dispositive menschliche Wesen so vollständig ihrer Rechte und Eigenschaften haben beraubt werden können.«379

Agamben sucht mithin nach der basalen juristischen Operation des demokratischen Rechtsstaats, die den höchsten und umfassendsten Rechtsanspruch zugleich gewährt und entzieht.380 Allein unter der Bedingung, dass eine solche Konstruktion des Gebens und Nehmens existiert, kann die gemeinsame Wurzel eines ganz unterschiedliche Herrschafts- oder Ordnungsformen übergreifenden juristischen Dispositivs überhaupt ausfindig gemacht werden. Als geeignete Kandidaten für dieses experimentum crucis bieten sich bei näherer Betrachtung aller möglichen kulturellen Vorschriften, Gebote, Regeln und Ansprüche schon auf den ersten Blick die so genannten »Menschenrechte« an. Und dies aus zwei leicht ersichtlichen Gründen: erstens ist der »innere Zusammenhang von Demokratie und Menschenrechten«381 kaum zu übersehen, und zweitens »tragen« die Menschenrechte »ein Janusgesicht«; denn es »besteht eine eigenartige Spannung zwischen dem universalen Sinn der Menschenrechte und den lokalen Bedingungen ihrer Verwirklichung.«382 Diese Spannung ist ein altbekanntes und vieldiskutiertes Thema. Bereits Hanna Arendt, auf deren Analysen Agamben sich stützt, hat sie in ihren Studien über die Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft analysiert. Die Demokratie greift – ebenso wie das Lager – auf das bloße Leben zu, bzw. erzeugt es. Sie macht nämlich das bloße Leben zum Träger von Rechten und verstrickt sich damit in eine Paradoxie: Die Demokratie nimmt Bezug auf eine Form des Lebens, die es de facto überhaupt nicht gibt; denn die sog. Menschenrechte können nur in konkreten staatlich verfassten Gemeinschaften als Bürger-Rechte garantiert werden.383 378. Die hier gewählte grammatische Form des Komparativs verrät eine gewisse Unsicherheit. Verbirgt sich in der Heuchelei tatsächlich nur ein geringes Quantum an Ehrlichkeit und Nützlichkeit? 379. G. Agamben: Homo sacer, S. 180. 380. Es geht also letztlich um die Frage, ob »die Polizeigewalt bereits in den Prozess der Konstitution des demokratischen Subjekts und die Theorien seiner philosophischen Fürsprecher eingeschrieben ist« (Friedrich Balke: »Archive der Macht. Über Polis, Politik und Polizei«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18/2 (2007), S. 57-81, hier: S. 77). 381. J. Habermas: Die postnationale Konstellation, S. 170. 382. Ebd., S. 177. Vgl. hierzu auch Habermas’ Kritik des »Menschenrechtsfundamentalismus« (Die Einbeziehung des Anderen, S. 378). 383. Vgl. H. Arendt: Elemente und Ursprünge, S. 452ff. (siehe insbes. in Kapitel 9 den Abschnitt: »Aporien der Menschenrechte«). Dieses Kernargument findet sich in fast allen Debatten zum Thema. Vgl. die einschlägigen Schriften von Claude Lefort: »Menschenrechte und Politik«, in: Ulrich Rödel (Hg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a.M. 1990, S. 239-280; Etienne Balibar: Die

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»Menschenrechte« sind, wie Arendt unter Hinweis auf Edmund Burkes klassischen Kommentar zur Französischen Revolution bemerkt, »nichts […] als eine sinnlose Abstraktion«384 – schlimmer noch, ihre Formulierung, die sich kompensatorisch auf bestimmte heimatlose Personen bezieht, ist ein äußerst riskantes Unternehmen: »Die Existenz solch einer Kategorie von Menschen birgt für die zivilisierte Welt eine zweifache Gefahr. Ihre Unbezogenheit zur Welt, ihre Weltlosigkeit ist wie eine Aufforderung zum Mord, insofern der Tod von Menschen, die außerhalb aller weltlichen Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stehen, ohne jede Konsequenz für die Überlebenden bleibt.«385 Diese keineswegs abwegige Kritik nimmt allerdings rechtliche Intuitionen und Reflexionspotenziale in Anspruch, die sich kulturellen Kontexten verdanken, welche eben auch die Menschrechte hervorgebracht haben. Die von Arendt entdeckte Zweideutigkeit spricht nicht allein gegen, sondern auch für den mehrdimensionalen Menschenrechtsdiskurs: »Menschenrechte, die die Einbeziehung des Anderen fordern, funktionieren [nämlich] zugleich als Sensoren für die in ihrem Namen praktizierten Ausgrenzungen.«386 Das aber will Agamben nicht wahrhaben. Für ihn stellt »die Erklärung der Menschenrechte« nur »die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juridisch-politische Ordnung des Nationalstaates dar.«387 Wo Habermas u.a. einen internen Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie konstatieren, sieht Agamben einzig die »Verbindung zwischen den Menschenrechten und der neuen biopolitischen Bestimmung der Grenzen der Demokratie (1992), Hamburg 1993; J. Habermas: Faktizität und Geltung, S. 112ff.; Christoph Menke/Arnd Pollman: Philosophie und Menschenrechte, Hamburg 2007, S. 170ff. 384. Ebd., S. 466. 385. Ebd., S. 470. 386. J. Habermas: Die postnationale Konstellation, S. 180. Naive Typen der Affirmation der Menschenrechte finden daher ihr Pendant in trivialen Formen der Kritik. Für die erste Version liefert Richard Münch ein gutes Beispiel: »Allein schon auf dem Wege der konsequenteren Anerkennung der Menschenrechte durch Gerichte, die unabhängig sind und sich auf eine den Menschen- und Bürgerrechten verpflichtete Verfassung stützen können, [erhalten] in zunehmendem Maße auch Zuwanderer […] den Zugang zu den staatsbürgerlichen Rechten« (»Politik in der globalisierten Moderne«, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen, Baden-Baden 2003, S. 117-131, hier: S. 119). Für die zweite Version ist folgende Bemerkung exemplarisch: »Hinter der Maske universaler Werte [verbergen] sich oft nur partikulare Interessen. So liefern die Menschenrechte heute den Vorwand für militärische Interventionen, die in Wirklichkeit der Sicherung von Rohstoffreserven und der Erschließung neuer Märkte dienen« (Reinhardt Heil/Andreas Hetzel: »Die unendliche Aufgabe«, in: Dies. (Hg.), Die unendliche Aufgabe. Kritik und Perspektiven der Demokratietheorie, Bielefeld 2006, S. 7-24, hier: S. 14). 387. G. Agamben: Homo sacer, S. 136; siehe auch Ders.: Mittel ohne Zweck, S. 27f. – Agambens ebenso groteske wie diffuse These, »daß sich jeder [!] Versuch, die politischen Freiheiten auf Bürgerrechte zu gründen, als nichtig [!] erweist« (Homo sacer, S. 190) passt daher ins Bild.

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Souveränität.«388 Ziel der Kritik werden auf diese Weise nicht primär neue Formen des Krieges, ethnische Massaker, Völkermorde, Stammesfehden etc., sondern jene »humanitären Organisationen, die heute mehr und mehr zu den übernationalen Organen aufrücken, das menschliche Leben jedoch nur in der Figur des nackten Lebens oder des heiligen Lebens erfassen« können und »deshalb gegen ihre Absicht eine geheime Solidarität mit den Kräften [unterhalten], die sie bekämpfen sollten.«389 Agamben ist offenbar davon überzeugt, er müsse seine naiven Leser nicht nur über die Absurditäten und Desaster der ›Entwicklungshilfe‹ in Kenntnis setzen, sondern auch über die tiefgründigen Probleme jener Interventionspolitik aufklären, die die Supermacht USA – mit oder ohne Absegnung durch UNO-Resolutionen – in den letzten Jahrzehnten betrieben hat. Allerdings sind Romane wie John Updikes The Coup (1978) oder Noam Chomskys Abhandlung Year 501. The Conquest Continues (1993), die beide eher in die Kategorie des investigativen Umgangs mit ›flachen Latenzen‹ fallen, weit aufschluss- und detailreicher als Agambens morbides Lamento über die dunklen Seiten der allgegenwärtigen ›guten Weltpolizei‹, die sich um Opfer zu kümmern vorgibt und dabei die Objekte ihrer paternalistischen Fürsorge überhaupt erst erzeugt.390 Erstaunlicherweise interessiert sich Agamben bei seiner Entlarvung der Demokratie als sorgsam verheimlichter Biopolitik nur geringfügig für Hannah Arendts Einsicht, dass Demokratien ein »verhängnisvoll[es]« Interesse »an ethnischer Gleichförmigkeit«391 zeigen. Eine derartige Form der gemeinsamen Identität hat zwar ebenfalls eine biopolitische Fundierung, aber diese bezieht sich nicht primär auf das bloße Leben, sondern auf die signifikante Kombination rassischer, kultureller und religiöser Indikatoren, die markant genug sein müssen, um Unterschiede in anderen Bereichen (Klassenzugehörigkeit, Prestige, Bildung, Einkommen) zu überdecken. In seinem Buch The Dark Side of Democracy (2005) hat Michael Mann das von Hannah Arendt bemerkte Phänomen in einer Reihe von historischen Einzelstudien untersucht und ist zu folgenden Schlüssen gekommen: 1. sind Demokratien weit stärker als autoritäre Herrschaftssysteme für die Entwicklung kollektiver Identitäten auf ethnischer Grundlage anfällig, und 2. sind sie auch wesentlich enthemmter als andere Regierungsformen, wenn es darum geht, die Vernichtung ›artfremder‹ Gruppen zu propagieren bzw. in die Tat umzusetzen. Demokratien beruhen, wie Mann zu zeigen versucht, auf zwei Grundelementen, welche sie als Exemplare einer spezifischen Form der Herrschaft, die ein Volk über sich 388. Ebd., S. 139. 389. Ebd., S. 142. Vgl. Rancières Bemerkungen zur »Umwandlung der demokra-

tischen Bühne in die humanitäre Bühne« (Das Unvernehmen, S. 135). 390. Vgl. hierzu auch Friedrich Balkes um Neutralität bemühten und äußerst angestrengt wirkenden Kommentar zu ähnlichen Überlegungen bei Badiou und Rancière: »Politik und Leidenschaft in der neueren französischen Philosophie«, S. 993. Unterschlagen wird hier allerdings die Tatsache, dass die ›gute‹ Welt-Polizei (z.B. in Gestalt von Blauhelm-Truppen) immer wieder auch durch Ignoranz und fehlende Interventions-Befugnisse oder -Kompetenzen von sich Reden macht. 391. H. Arendt: Elemente und Ursprünge, S. 469.

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selbst ausübt, charakterisieren: 1. Verfahren zur Selektion des politischen Führungspersonals und der Erzeugung von verbindlichen Entscheidungen, das heißt Regeln, die festlegen, wie und von wem und mit Hilfe welcher Gesetze oder Zwangsmittel die Herrschaft jeweils ausgeübt wird, 2. Vorstellungen über die Eigenschaften des ›demos‹, das heißt Bestimmungen darüber, was die Einheit des ›demos‹ garantiert und wer dieser Einheit zugehört bzw. ausgeschlossen ist.392 Auf der Grundlage eines reichhaltigen empirischen Materials liefert Mann starke Indizien für die These, dass zügige und umfassende Prozesse der Modernisierung und Demokratisierung das gesellschaftsweite Auftreten ethnischer ›Säuberungen‹ extrem begünstigen. Die Wahrscheinlichkeit von Genoziden steigt immer dann dramatisch an, wenn autoritäre Systeme durch demokratische abgelöst werden und Klassendifferenzen durch die Konstitution eines einheitlichen Volksganzen in den Hintergrund treten. Damit dämpft Mann nicht nur die Hoff nungen, die mit den Konzepten der Zivilgesellschaft einhergehen.393 Er präsentiert mit seiner historisch-dynamischen Vorgehensweise auch eine erklärungskräftige Alternative zu den (im Hinblick auf empirische Belege eher nachlässigen) Diskursanalysen von Agamben. Beide Theorien – so könnte man mit Anselm Haverkamp sagen – lassen sich von dem Ehrgeiz leiten, das »Betriebsgeheimnis der Demokratie« zu lüften, und beide zeigen sich völlig unbeeindruckt von dem funktional-strukturellen Hinweis, dass solch ein Geheimnis – wenn es denn überhaupt existiert – einzig und allein in der »Umgründung der Politik auf Fluktuationen«394 liegen könnte.395 Die Zeichen der Latenz sind auch dieser Umgründung ins Gesicht geschrieben; denn die übliche »Semantik« der repräsentativen Demokratie 392. Vgl. hierzu auch Christoph Menkes Überlegungen zur demokratischen »Durchsetzung kultureller Hegemonie« (»Fremdenfeindlichkeit in der liberalen Demokratie«, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 5 (2001), S. 761-767, hier: S. 765). 393. »In der Theorie der Zivilgesellschaft heißt es, Demokratie, Frieden und Toleranz entwickeln sich, wenn sich die Individuen in lebendigen und dichten sozialen Beziehungen bewegten, die durch auf Freiwilligkeit beruhende, unabhängige Institutionen ermöglicht würden, wobei diese Institutionen die Menschen zugleich vor der Manipulation durch staatliche Eliten schützen würden [vgl. Robert Putnam: Making Democracy work, Princeton 1993]. Diese Sichtweise ist naiv: Radikale Ethnonationalisten sind häufig genau deshalb erfolgreich, weil ihre eigenen zivilgesellschaftlichen Netzwerke dichter sind und einen höheren Mobilisierungseffekt erzielen als die Organisationen ihrer gemäßigten Widersacher« (Michael Mann: Die dunkle Seite der Demokratie (2005), Hamburg 2007, S. 39). 394. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 429. 395. Hinzuzufügen wäre, dass auch Habermas’ Annahme, die verborgenen Wurzeln der Demokratie könnten durch eine Rekonstruktion der modernen prozeduralen Moral, die ihrerseits auf quasi-transzendentalen Grundelementen der sprachlichen Kommunikation beruht, freigelegt werden, weder für Agamben noch für Mann diskussionswürdig ist. Zur Beurteilung der Theorie von Mann ist das unerheblich. Bei Agamben liegt die Sache anders; denn verglichen mit seiner Utopie einer heilen oder letztlich heilbaren Sprachwelt strahlt der kommunikative Idealismus von Habermas

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»verdeckt« – nach Niklas Luhmann – gerade das, »was die politische Evolution tatsächlich herbeigeführt hat«. An die Stelle eines »herrschenden Willen[s]«, der »Einheit und Zusammenhänge des politischen Systems« garantiert, sind in der Demokratie Techniken zur Erzeugung von »Variationen« getreten.396 Auf diese Weise wird gleichsam nebenher auch die klassische demokratische »Paradoxie« – »die Identität von Herrscher und Beherrschten«397 – durch die »institutionelle Realisierung« eines Systems, dessen »Selbststeuerung« auf Fluktuationen beruht398, definitiv aufgelöst. Hinsichtlich Erklärungskraft und begrifflicher Konsistenz kann Agambens Theorie weder mit den historischen Studien von Michael Mann noch mit den systematischen Entwürfen von Niklas Luhmann konkurrieren. Dennoch besitzen seine Texte innerhalb des Latenz-Diskurses der Gegenwart eine Sonderstellung. Der extrem häufige Gebrauch der Vokabeln »geheim«, »verborgen« und »unsichtbar« etc. und der Verweis auf die intrikate Dialektik von Exponiertheit und Unsichtbarkeit399 wecken gezielt Erwartungen, denen eine ambitionierte Theorie selbstverständlich nicht mit der Offenlegung von Trivialitäten gerecht werden kann. Agamben steht daher unter dem rhetorisch erzeugten Zwang, mit seinen Thesen alle bisherigen tiefenstrukturell angelegten Gesellschaftsanalysen zu überbieten. Die Folge ist ein regelrechter ›Latenz-Mystizismus‹. An seinem Umgang mit dem Paradoxiebegriff wird dies besonders deutlich. So interpretiert Agamben die Paradoxie der Souveränität als ontologisches Skandalon, dem sich die Gattung nur durch eine seinsgeschichtliche Kehre entwinden kann. Anders als in der Systemtheorie und in den dekonstruktivistischen Lektüren geht es weder um die operative Entparadoxierung paradoxer Beobachtungen 400 noch um die illusionslose Akzeptanz mit seinem Vertrauen in die latenten Wirkkräfte von Vernunft und Gerechtigkeit eine geradezu mönchische Nüchternheit aus. 396. N. Luhmann: Die Politik der Gesellschaft, S. 430. 397. Ebd., S. 429. 398. Ebd., S. 430. 399. Ein drastisches Beispiel liefert die bereits erwähnte Analyse des »Muselmanns«: »Der höchste Ehrgeiz der Bio-Macht besteht darin, in einem menschlichen Körper die absolute Trennung von Lebewesen und sprechendem Wesen […] zu erzeugen: das Überleben. Deswegen manifestiert der Muselmann im Lager – so wie heute der Körper des Ultrakomatösen oder des neomort in den Reanimationsräumen – nicht nur die Wirksamkeit der Bio-Macht, sondern offenbart sozusagen die geheime Chiffre, ihr arcanum. In seinem Werk De arcanis rerum publicarum (1605) unterschied Clapmar innerhalb der Struktur der Macht eine sichtbare Seite […] und eine verborgene Seite […]. Bei der heutigen Bio-Macht ist das Überleben der Punkt, an dem die beiden Seiten zusammenfallen und das arcanum imperii als solches zutage tritt. Deswegen bleibt es gerade in seiner Exponiertheit unsichtbar, verbirgt sich, je mehr es dem Blick ausgesetzt ist. Im Muselmann wollte die Bio-Macht ihr letztes arcanum schaffen, ein von jeder Möglichkeit des Zeugnisses getrenntes Überleben, eine Art absoluter biopolitischer Substanz« (Was von Auschwitz bleibt, S. 136). 400. Vgl. Niklas Luhmanns Unterscheidung von »Operation« und »Beobachtung« (Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 77ff.).

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von Unbestimmtheit und Unentscheidbarkeit, sondern um einen Akt völliger Verwerfung und Absage. 401 Die Paradoxie der Souveränität ist für Agamben ein überdeutliches Zeichen für die verhängnisvolle Struktur der abendländischen Politik, die seit »vierundzwanzig Jahrhunderte[n]« außer Stande ist, dem »metaphysischen Auftrag« zu entsagen und eine »Verbindung herzustellen, die den Bruch zwischen zoé und bíos, zwischen Stimme und Sprache […] überwinde[t].« 402 Agamben wendet sich damit einerseits gegen jede Verharmlosung derjenigen Paradoxie, die bei der politischen Konstitution sozialer Ordnung unweigerlich erzeugt wird, und andererseits gegen den inflationären und leichtfertigen Gebrauch des Paradoxie-Begriffs, weil derartige semantische Praktiken nur vom Ursprung der abendländischen Katastrophe ablenken. Die Souveränität und ihre paradoxale Verfasstheit sind für ihn Probleme von höchster theoretischer Priorität: Denn es handelt sich hier um »die originäre Struktur, in der sich das Gesetz auf das Leben bezieht und es durch die eigene Aufhebung in sich einschließt.«403 Mit solchen Formulierungen versucht Agamben, die längst bekannten Analysen gesellschaftlicher Konstitutionsprozesse an Tiefenschärfe zu übertreffen. Dass Identität durch Grenzziehung und Ausschluss produziert wird, ist spätestens seit Lévi-Strauss ein sozialwissenschaftlicher Gemeinplatz. Und auch der gleichzeitige Vollzug von Setzung und Voraus-Setzung in jedem Akt der Gründung eines Gemeinwesens wurde oft genug in einschlägigen Studien dargestellt und als irritierende, ja vielleicht sogar tragische, aber keineswegs total verborgene oder absolut unerträgliche Startbedingung für soziale Verhältnisse eingeschätzt. Für Agamben verliert die Paradoxie der Souveränität durch diese Befunde aber nicht ihre aktuelle Brisanz. Und auch die Depotenzierung der Souveränität bei Foucault 404 und Luhmann 405 hat für 401. William Rasch bringt Agambens Haltung pointiert zum Ausdruck: »Wenn wir das Politische und die Metaphysik, auf der sich das Politische gründet, nicht ablehnen, und wenn wir das Paradox der Souveränität nicht zurückweisen, dann belasten wir uns selbst mit der Schuld […], die Erlösung abzulehnen« (Konflikt als Beruf, S. 106). 402. G. Agamben: Homo sacer, S. 21. 403. Ebd., S. 39. 404. Nach Foucault wird die Souveränität als Typus einer juristisch geprägten Macht, deren charakteristische Merkmale Abschöpfung und Todesdrohung sind, durch die moderne Bio-Macht überformt bzw. abgelöst, deren primäres Ziel die Vermehrung und Optimierung des Lebens ist (vgl. M. Foucault: Der Wille zum Wissen, S. 162, 165). Agamben kritisiert diese Position und fordert eine Korrektur der »Foucaultschen These« (Homo sacer, S. 19). Eine überzeugende Gegenkritik liefert – wie schon gesagt – P. Sarasin: »Agamben oder doch Foucault?« 405. Unter der Paradoxie der Souveränität versteht Luhmann »die Paradoxie der Beschränktheit einer Willkür, die keine Beschränkungen akzeptieren kann« (Die Politik der Gesellschaft, S. 324). »Das eigentliche Paradox der Souveränität liegt jedoch im Konzept der Einheit selbst«; denn »Einheit erfordert, wenn es denn Einheit von Herrschaft sein soll, ein letztes, nicht eliminierbares Moment von Willkür« (ebd., S. 340). Das Problem führt allerdings zu keiner Handlungsblockade: »Das

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ihn keine theoretische Relevanz, sondern bietet aufgrund der Irrtümer und Fehlurteile beider Autoren nur einen weiteren Anlass, die latenten Strukturen der Bio-Macht endlich zu offenbaren. Wie ehrgeizig Agambens Vorgehen ist, lässt sich wohl nur ermessen, wenn man einen kurzen und notgedrungen selektiven Blick auf die wichtigsten Paradoxie-Diagnosen wirft, die die Philosophie und Soziologie des Politischen nach 1945 gestellt hat. In ihrem Buch Über die Revolution von 1963 analysiert Hannah Arendt das Problem des Anfangs und Ursprungs sozialer Ordnung am signifi kanten Beispiel der revolutionären »Neugründung«. Zur Diskussion stehen eine Reihe historischer Lösungen, mit deren Hilfe jene »Aporien«, die mit der »Stiftung eines neuen politischen Körpers« 406 grundsätzlich verbunden sind, aufgelöst werden sollen. Arendt erwähnt 407 zunächst die »biblische Lösung«, die einen göttlichen »Schöpfer« präsentiert, sodann den Römischen Vorschlag, der die »Gründung der Stadt« auf eine »Ein-Mann-Herrschaft« zurückführt, ferner das archaische Modell, das »Gewalt und Verbrechen« als Initiatoren in Anschlag bringt, und entwirft schließlich ein alternatives Konzept. Die amerikanische Revolution und die berühmte Unabhängigkeitserklärung von 1776 liefern dazu das denkbar aufschlussreichste Material; denn »hier ereignet sich ein Gründungsakt zum erstenmal in der Gegenwart, unter den Augen der Zeitgenossen, bar aller Geheimnisse und außerhalb aller Gründungslegenden, mit denen die menschliche Einbildungskraft in die Vergangenheit leuchtet.« 408 Aufschlussreich ist diese Form der Konstitution aber nur, weil sie unter den speziellen Bedingungen der Moderne und im Bewusstsein der veränderten historischen Verhältnisse vollzogen wird: Die ›Gründungsväter‹ sind sich zumindest in Ansätzen darüber im Klaren, dass sie etwas erschaffen müssen, das gegen den Zerfall traditioneller Bindungen immun ist und auch den »Verlust religiöser Sanktion für den politischen Bereich« 409 verschmerzen kann. Indem sie sich auf den »Gott der Natur« und den »Evidenzcharakter bestimmter Wahrheiten« berufen, bedienen sie sich zwar noch zweier fragwürdiger Formeln, deren gedankliche Blässe kaum zu übersehen ist. Aber was ihnen Kraft und Halt gibt, ist die performative Qualität, die sich im »Gründungsakt« 410 bekundet. Warum solch ein letztlich grundloser Akt Souveränitätsparadox […] läßt sich beherrschen, läßt sich durch Unterscheidungen ersetzen, mit denen man (zumindest juristisch) arbeiten kann« (ebd., S. 349). Für Luhmann sind politische Leitformeln wie »Repräsentation« und »Souveränität« daher überalterte Begriffe (ebd., S. 319), die mit der Etablierung der »Leitidee der Demokratie« (ebd., S. 370) ihren deskriptiven Wert einbüßen. Er stellt aber immerhin die Frage: »Kann das Paradox der Einheit des Verschiedenen […] so einfach verschwinden? Oder hat es nur seine Position geändert, um aus einem anderen Versteck heraus irritieren zu können?« (ebd., S. 349). 406. Hannah Arendt: Über die Revolution (1963), München 1965 (veränderte und erweiterte dt. Fassung), S. 212. 407. Ebd., S. 265ff. 408. Ebd., S. 263. 409. Ebd., S. 252. 410. Ebd., S. 253.

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überhaupt gelingen kann, erklärt Arendt mit ihrer anthropologischen Theorie der Natalität: »Der Mensch [ist] für die logisch unlösbare Aufgabe, einen neuen Anfang zu setzen, gleichsam existentiell vorbestimmt […], insofern er ja selbst einen Anfang darstellt: Insofern der Mensch in die Welt hineingeboren ist, in ihr als ein ›Neuer‹ durch die Geburt erscheint, ist er mit der Fähigkeit des Beginnens begabt. Weil er ein Neuer ist, kann er etwas Neues anfangen.«411

Obschon Arendts optimistischer Entwurf auch für Agambens utopisches Konzept einer künftigen Lebens-Form nicht ohne Belang sein dürfte, wirkt er im Lichte der düsteren Homo-sacer-Studie reichlich naiv. Dies gilt sicher nicht für Leforts Versuch, das Kernproblem der Demokratie auf den Begriff zu bringen, dennoch hat sich Agamben auch mit den folgenden Bestimmungen, die auf ein vordergründiges Lösungsangebot verzichten, nicht zufrieden geben können: »Nichts stellt das Paradox der Demokratie prägnanter vor Augen als die Institution des allgemeinen Wahlrechts. Denn genau in dem Moment, wo die Souveränität des Volkes sich manifestieren und das Volk seinen Willen zum Ausdruck bringen soll, werden die gesellschaftlichen Solidaritätsbeziehungen aufgelöst, der politisch aktive Bürger aus allen Handlungszusammenhängen freigesetzt, in denen sich das gesellschaftliche Leben entfaltete, um gewissermaßen in eine Recheneinheit verwandelt zu werden.«412

Dieses Paradox ist – wie oben erläutert – für Claude Lefort allerdings kein hinreichender Grund, das demokratische Projekt aufzugeben und nach einer entdifferenzierten ›Lebens-Form‹ jenseits der demokratischen Streitkultur zu suchen. Und auch Ernesto Laclau verteidigt das Paradox als notwendige Bedingung einer eingespielten politischen Praxis, die man nicht durch gewagte Experimente mit dem ›Ereignis‹ des Politischen aufs Spiel setzen sollte: »Das Universelle ist inkommensurabel mit dem Partikularen und kann ohne dieses nicht existieren: wie ist dieses möglich? Meine Antwort ist, dass dieses Paradoxon nicht gelöst werden kann, aber seine Nicht-Lösung die eigentliche Voraussetzung der Demokratie ist. Die Lösung dieses Paradoxons würde implizieren, dass ein par411. Ebd., S. 272. 412. C. Lefort: »Die Frage der Demokratie«, S. 295. Vgl. hierzu auch Susanne

Lüdemanns These: »Es ist das Paradox der Demokratie, daß die höchste Instanz oder ›Grundlage‹ der Entscheidungen, die die Gemeinschaft betreffen, durch eine Entscheidung der Gemeinschaft ersetzt wird. Und somit bleibt die Transzendenz oder Andersheit, die mit der Idee des Gesetzes und eines höchsten Gerichts verbunden ist, der Identität der Gemeinschaft immanent« (»Vom politischen Symbol zum Totemismus der kleinen Gruppen«, in: Michael Müller/Thilo Raufer/Darius Zifonun (Hg.), Der Sinn der Politik. Kulturwissenschaftliche Politikanalysen, Konstanz 2002, S. 67-76, hier: S. 71).

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tikularer Körper gefunden worden wäre, der der wahre Köper des Universellen wäre. Aber in diesem Falle hätte das Universelle seinen notwendigen Ort gefunden und Demokratie wäre unmöglich. Wenn Demokratie möglich ist, dann weil das Universelle keinen notwendigen Köper und keinen notwendigen Inhalt besitzt; stattdessen wetteifern verschiedene Gruppen miteinander, um ihren Partikularismen eine Funktion universeller Repräsentation zu geben.«413

Auch Jacques Derrida plädiert nicht für die Verwerfung oder Überwindung der Paradoxie, die das Politische auszeichnet. Aber er beschreibt sie – noch weit deutlicher als Lefort und Laclau – als ein geheimnisumwittertes Phänomen, das erhebliche Gefahren in sich birgt. Derrida zieht sofort alle Register, die der Latenzdiskurs zur Verfügung stellt: In einem Text, der ein Jahr vor Agambens Homo sacer erscheint, wendet er sich einem »jener Geheimnisse« zu, »die den Überbringern selbst ein Geheimnis bleiben – als wollte es sich für einige wenige aufsparen und bewahren.«414 Die dekonstruktive Lektüre aber kann sich diesem Geheimnis nähern, weil sie keine Berührungsängste vor Paradoxien besitzt: Um die Grundlagen der Demokratie zu verstehen, muss man bereit sein, sich ihrer paradoxalen und letztlich tragischen Struktur zu stellen: »Keine Demokratie ohne Achtung vor der irreduziblen Singularität und Alterität. Aber auch keine Demokratie ohne ›Gemeinschaft der Freunde‹ (koina ta philon), ohne Berechnung und Errechnung der Mehrheiten, ohne identifizierbare, feststellbare, stabilisierbare, vorstellbare, repräsentierbare und untereinander gleiche Subjekte. Diese beiden Gesetze lassen sich nicht aufeinander reduzieren; sie sind in tragischer und auf immer verletzender Weise unversöhnbar. […] Schwerwiegender als ein Widerspruch, hält die Kluft zwischen diesen beiden Gesetzen auf immer das politische Begehren wach.«415

Derridas neohegelianische Forderung, die unversöhnbaren Elemente der Demokratie heroisch zu ertragen und zu affirmieren, lässt sich auch in die nüchterne Sprache der Soziologie übersetzen und dann als eine bereits etablierte und keineswegs unreflektierte Praxis bestimmen: »Politische Demokratie [stellt] die paradoxe Anforderung, einerseits […] eine kollektiv verbindliche Entscheidungsgewalt und insofern in der Tat eine Monopolisierung der Kontrolle legitimer physischer Gewalt einzurichten, andererseits diese Gewalt an die Zustimmung und Kooperation der Bürger zu knüpfen. Dies ist bekanntes Terrain und für die Politik moderner Gesellschaften nicht mehr grundsätzlich problematisch.«416 413. E. Laclau: Emanzipation und Differenz, S. 63f. 414. Jacques Derrida: Politik der Freundschaft (1994), Frankfurt a.M. 2000,

S. 47. 415. Ebd. 416. H. Willke: Ironie des Staates, S. 238f.; zu dieser Paradoxie der Gewalt-

funktion in der Demokratie, die auch als Problem der Gründungsgewalt bezeichnet

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Auch Jürgen Habermas vertritt die These, dass die im Zuge historischer Kämpfe einmal hergestellte Normalität demokratischer Verfahren nicht durch den Verweis auf turbulente und paradoxe Prozesse ihrer Gründung oder Einrichtung erschüttert werden kann. Überdies kontert Habermas die seiner Ansicht nach ›jungkonservativen‹ Vorstellungen von einer strukturellen Prägung der Demokratie durch Figuren des ›Banns‹ oder des ›eingeschlossenen Ausschlusses‹ mit der emanzipatorischen Leitidee, dass in der demokratischen Politik anthropologisch tiefsitzende Geltungsansprüche der Alltagskommunikation, mithin auch das sprachliche Telos der Verständigung, zur realen Wirkung gelangen. Das »Fremde, Abgründige, Unheimliche, das sich der Assimilation ans Vorverstandene verweigert«, soll durch diese Position freilich nicht geleugnet oder verdrängt, sondern als unaufhebbare »Negativität«, der die moderne Kunst durch ihre Werke und Aktionen vehement zum Ausdruck verhilft, in Betracht gezogen werden. Festzuhalten ist bei dieser Konzession allerdings, dass sich hinter dem Abgründigen und Negativen in der nachmetaphysischen Welt der Moderne »kein Privileg mehr verschanzt«417, welches den Besitz einer ›tieferen‹ Wahrheit garantiert, dass also auch kein triftiger Grund mehr besteht, eine tragische oder seinsgeschichtlich verdüsterte Deutung abendländischer Politik zu favorisieren. Gesellschaftliche Konflikte, Spannungen oder Krisen als Paradoxien oder Folgen paradoxer Verhältnisse zu beschreiben, erweist sich unter dieser Perspektive als rhetorisches Manöver, mit dem hohe Aufmerksamkeit gewonnen und zugleich mangelnde Problemlösungskompetenz durch die Überdimensionierung des geschilderten Streitpunkts verdeckt werden soll. Keine Theorie ist daher für die Vertreter emphatischer Paradoxie-Modelle unbehaglicher als eine griffige historische Darstellung, die paradoxe Konstellationen mit Gesellschaftsformen oder Machttypen in Verbindung bringt, die durch evolutionäre Errungenschaften zwar nicht aufgelöst, aber schlicht und einfach entkräftet werden. Michel Foucaults Diskussion des Verhältnisses von souveräner Macht und Pastoralmacht liefert hierfür ein schlagendes Beispiel. Während die souveräne Macht vor die Aufgabe gestellt ist, soziale Ordnung überhaupt erst zu ermöglichen, geht die Pastoralmacht davon aus, dass die »soziale Bindung« bereits (latent) existiert oder aus den vorhandenen Elementen spontan werden kann, gesellt sich – laut Willke – zudem noch das »zentrale Paradox der Steuerung moderner Gesellschaften«: »Als Steuerungsmodell der Gesellschaft insgesamt ist ›politische‹ Demokratie ausgeschlossen, will man nicht gegen die Logik funktionaler Differenzierung, also gegen die Logik der Modernität selbst, einen Primat der Politik gegenüber allen anderen Funktionssystemen erzwingen. Zugleich ist aber jede ›undemokratische‹ Form der Gesellschaftssteuerung ausgeschlossen, will man nicht entgegen der Logik der Moderne hinter die Errungenschaften der Menschenrechte und, darauf beruhend, die Errungenschaften der Nutzung individueller Varietät und Vielfalt zurückfallen. So bleibt als Entfaltung der Paradoxie wohl nur eine Revision der Idee der Demokratie als gesellschaftliche Steuerung« (»Transformation der Demokratie«, S. 286). Gefordert wäre demnach eine demokratisch ›abgesegnete‹ Selbstbeschränkung der Demokratie. 417. Jürgen Habermas: Faktizität und Geltung, S. 631.

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entsteht: »Es gibt keine besonderen Operationen, die sie konstituieren oder begründen können. Die Gesellschaft muß nicht begründet werden oder sich selbst begründen. Man ist so oder so in der Gesellschaft. Die soziale Bindung hat keine Vorgeschichte.« 418 Agamben kann eine solche Beschreibung nicht akzeptieren. Die Relativierung der Souveränität durch die Pastoralmacht oder die Biomacht erscheint ihm als theoretischer Irrweg Foucaults, der vom Wesentlichen ablenkt. Agamben insistiert deshalb darauf, dass das Verhältnis »der konstituierenden […] zur konstituierten Gewalt« als »Paradox der Souveränität« 419 in der bisherigen Geschichte eine ungebrochene Gültigkeit besitzt und erst durch ein künftiges Ereignis, von dem die Theorie einstweilen nur in prophetischem Ton zu künden vermag, außer Kraft gesetzt wird. Dass die Zeit der Wende nicht allzu fern ist, zeigt sich für Agamben daran, dass »heute […] alle Gesellschaften und alle Kulturen in eine Krise der Legitimität geraten [sind], in der das Gesetz […] als reines ›Nichts der Offenbarung‹ gilt«. Nun endlich kommt »die ursprüngliche Struktur der souveränen Beziehung« – also ihre verborgene paradoxale Gestalt – an den Tag. Und wer bereit ist, genau hinzusehen, kann erkennen, dass der herrschende »Nihilismus«, der sich in den allgegenwärtigen medialen Spektakeln in Szene setzt, nichts anderes ist als »das Auftauchen dieser [souveränen] Beziehung als solcher.«420 Mit der Manifestation der ungeschminkten Souveränität ist für Agamben ein Ereignis, ja das Ereignis eingetreten, welches die ›Offenbarkeit‹ des politischen Seins herbeiführt und damit auch »Mittel und Wege einer neuen Politik« 421 bereitstellt. Jetzt erst ergibt sich für das wahrhafte volle Sprechen die ersehnte Möglichkeit, alle konstitutiven Trennungen, mit denen die abendländische Kultur seit ihren Anfängen operiert hat: Körper vs. Seele, lebend vs. sprachlich, natürlich vs. sozial/übernatürlich/göttlich usw., zu überwinden. Damit wäre auch die Macht des Latenten qua Determinierung des menschlichen Handelns und Sprechens durch verborgene Mächte oder Strukturen gebrochen. Die ursprüngliche Entzweiung wäre aufgehoben und ein Zustand erreicht, der sich unter kritischer Perspektive vielleicht als »phantasmagorische Einheit« 422 beschreiben ließe. Agamben ergänzt seine extrem undifferenzierte Analyse der ursprünglichen Gewalt also durch eine völlig differenzlose Beschreibung der sozialen Utopie. Die Logik des Umschlags von Gewalt in die ungetrennte Lebens-Form bleibt völlig unsichtbar und rätselhaft. Am Ende wird die Theorie von genau der Paradoxie eingeholt, die sie austreiben möchte. Agambens ambitionierter Versuch, den Begriffen »Souveränität«, »Gewalt«, »Paradoxie«, »arcanum« durch die Rekonstruktion des 418. M. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, S. 410; vgl. dazu auch Friedrich Balke: »Regierungsmacht bei Foucault«, in: Philosophische Rundschau 53 (2006), S. 267-288, hier: S. 270. 419. G. Agamben: Homo sacer, S. 50. 420. Ebd., S. 62. 421. Ebd., S. 196; vgl. auch Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft (1990), Berlin 2003. 422. Susanne Lüdemann: »Biopolitik und die Logik der Ausnahme«, in: Uwe Hebekus (Hg.), Das Politische, München 2003, 230-248, hier: S. 238f.

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angeblich wahren Ursprungs aller politischen Fehlentwicklungen wiederum jene Tiefe zurückzuerstatten, die sie im Zuge der spät- oder postmodernen Kultur eingebüßt haben, demonstriert weniger eine anthropologische Katastrophe als vielmehr ein theoretisches Desaster. 423 Dennoch liefert er einerseits wichtige Aufschlüsse über aktuell vorhandene Faszinationspotenziale bzw. Erklärungsbedürfnisse und bestätigt andererseits die oben bereits geäußerten Vermutungen über den heiklen Status des Paradoxie-Begriffs. Der Verweis auf eine basale Widersinnigkeit und logische Unmöglichkeit, den die Verwendung des Paradoxiebegriffs impliziert, ist nur dann erhellend, wenn damit faktische Blockaden, Zusammenbrüche und Katastrophen entweder hinreichend genau prognostiziert oder nachträglich gehaltvoll erklärt werden können. Angesichts funktionierender Prozesse bleibt die Rede von verborgenen Paradoxien eine metaphorische Beschwörung potenzieller Gefahren, die (noch) nicht groß genug sind, um den Lauf der Dinge zu unterbinden. Gewöhnlich sind Paradoxie-Diagnosen daher mit Aussagen über Mechanismen oder Strategien der Entparadoxierung verknüpft. Luhmann und Derrida dürfen als Meister dieses Sprachspiels gelten, dessen Erklärungskraft sich aber in engen Grenzen hält. Analytische Tauglichkeit gewinnt der Paradoxiebegriff wohl nur unter der Bedingung, dass er entweder handlungstheoretisch operationalisiert oder semantisch erheblich ausgedünnt wird und nur noch ›Spannung‹, ›Gegensätzlichkeit‹, ›Ambivalenz‹ etc. meint. 424 Lässt man die Beiträge zur Revitalisierung des Politischen, die auf den vorangegangenen Seiten diskutiert wurden, Revue passieren, so kann man sich des Eindruckes kaum erwehren, dass der begriffliche Aufwand, den Autoren wie Nancy, Rancière, Badiou, Žižek, Laclau, Mouffe und Agamben betreiben, in keinem sonderlich günstigen Verhältnis zum Ertrag steht. 425 423. Nicht weniger desolat ist das biopolitische Kontrastprogramm, das Michael Hardt und Antonio Negri mit ihren Büchern Empire (Cambridge 2000) und Multitude. War and Democracy in the Age of Empire (New York 2004) aufgelegt haben. Der optimistischen Verzweiflung Agambens können sie kaum mehr als den verzweifelten Optimismus einer global operierenden heterogenen Widerstandsbewegung entgegensetzen. Siehe hierzu auch Christoph Menkes Kommentar: »Das neue ABC des Kommunismus«, in: Literaturen 2 (2002), S. 70-72; ferner Dietmar Dath: »Schwerer Fenstersturz«, in FAZ vom 22. 11. 2004; sowie Carsten Zorn: »Einen neuen David erschaffen«, in: Frankfurter Rundschau vom 23. 11. 2004. – Auch Michael Hardts Interview-Auskünfte in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt a.M. 2007, S. 347-360, liefern keine Klarheit. 424. Siehe z.B. Cornelia Hahn: Soziale Kontrolle und Individualisierung. Zur Theorie moderner Ordnungsbildung, Opladen 1995; insbes. das Kapitel: »Ambivalenzen der Ordnungsbildung« (S. 96-152) sowie den Abschnitt »Konstitutive ›Paradoxien‹ moderner Sozialstruktur: Autonomie und Anomie, Abweichung und Anpassung« (S. 159-165). Vgl. auch Günther Ortmann: Regel und Ausnahme. Paradoxien sozialer Ordnung, Frankfurt a.M. 2003. 425. Wer Aufklärung über die ›dunkle Seite der Demokratie‹ erlangen möchte und neben den Texten der genannten Autoren auch die Bücher von Michael Mann oder Charles Tilly zur Rate zieht, wird durch vergleichende Lektüre gewahr, wie

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Jedenfalls liefern ihre Texte keine überzeugenden Argumente, um eine Wende des Latenz-Diskurses, der sich im letzten Jahrzehnt durch die zunehmende ›Verflachung‹ auf dem Felde des Politischen und durch die Verlagerung der Aufmerksamkeit in den ökonomischen Bereich auszeichnet, einzuleiten. Anlass zur Umorientierung der Latenzforschung und zur erneuten Auseinandersetzung mit dem problematisch gewordenen Konzept politischer Souveränität geben vielmehr aktuelle Praktiken der Sicherheitspolitik, die nicht mehr durchweg geheim gehalten werden, sondern vor aller Augen ausgeübt und durch ebenso prekäre wie dreiste Pilotdebatten und Rechtfertigungsmanöver begleitet werden. 426

5.6 Of fensiven der Sicherheitspolitik »Sicherheit ist zu einem Schlüsselbegriff aktueller politischer und sozialer Transformationsprozesse geworden« – mit dieser Feststellung beginnt ein 2008 erschienenes Buch über »Gouvernementalität und Sicherheit«. 427 Das Spektrum der hier versammelten »zeitdiagnostischen Beiträge« reicht vom vorverlegten Staatsschutz über neue Formen einer neoliberalistischen Biopolitik bis hin zur ›outsourcing torture‹. Andere Sicherheitsprobleme, z.B. diejenigen, welche im Kontext der so genannten IuK-(Informations- und Kommunikations-)Technologien auftreten, spielen nur eine Nebenrolle. Damit gerät die angestrebte »Zeitdiagnostik« in eine merkwürdige Schieflage. Noch vor einigen Jahren wurde z.B. von kritischen Informatikern die These vertreten, dass die Sicherheitsprobleme, die sich im Zuge einer umfassenden Implementierung der Computertechnik ergeben, mit großer Wahrscheinlichkeit zur Regeneration autoritärer Gesellschaftsstrukturen führen werden. 428 leicht die prätentiöse Offenbarung des Latenten intellektuelle Nebelschwaden erzeugen kann. 426. Man könnte geradezu von einem »Durchbruch in die Unverhohlenheit« (Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, Frankfurt a.M. 2009, S. 682) sprechen. Grundsätzliche Klarstellungen zu einer neuen offensiven Politik liefert das Manifest von Robert D. Kaplan: Warrior Politics. Why Leadership Demands a Pagan Ethos, New York 2002. 427. Patricia Purtschert/Katrin Meyer/Yves Winter: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Gouvernementalität und Sicherheit. Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault, Bielefeld 2008, S. 7-18, hier: S. 7. Zur These, dass Sicherheit (und nicht Freiheit, Gleichheit oder Solidarität) die Leitidee heutiger Politik ist, vgl. umfassend und anthropologisch tiefschürfend Wolfgang Sofsky: Das Prinzip Sicherheit, Frankfurt a.M. 2005; als Beispiel für eine investigative Zugangsweise zum Thema siehe Thomas Darnstädt: Der globale Polizeistaat. Terrorangst, Sicherheitswahn und das Ende unserer Freiheit, München 2009. 428. »Je sicherer die ›Informationsgesellschaft‹ […] wird, desto weniger wird sie dem Bild entsprechen, das sich heute viele von ihr machen: Ihre Verletzlichkeit fordert eine hohe gesellschaftliche Stabilität und erlaubt keine gesellschaftlichen Experimente. Die sichere ›Informationsgesellschaft‹ ist rigide, geschlossen, un-

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Technikzentrierte Analysen stehen heute aber nicht mehr im Zentrum jener Diskurse, die die gegenwärtig relevanten Bedrohungen der Demokratie ins Visier zu nehmen versuchen. Die Rückkehr der politischen ›Souveränität‹ wird nun eher mit dem Problem des fundamentalistischen Terrors, mit zukünftigen Migrationsbewegungen und mit einer schleichenden Verelendung großer Teile der Bevölkerung innerhalb der westlichen Gesellschaften in Verbindung gebracht als etwa mit den unvermeidlichen Folgen der computerbasierten Kommunikations- und Steuerungstechniken oder mit der unheilvollen Verbindung politischer und technischer »Wirkursachen«. 429 Das ist kein Zufall und lässt sich auch nicht allein auf die Aktualität und Dramatik bestimmter Themen zurückführen, sondern hat primär mit der De-Latentisierung des Krisenpotenzials der IuK-Medien zu tun. Denn die speziellen ›Nebenwirkungen‹ des technischen Fortschritts und weitere Gefährdungen der modernen Wissensgesellschaft sind längst nicht mehr verborgen oder unbekannt. 430 Umfangreiche Debatten haben die zahllosen Zusammenhänge und Effekte manifest gemacht und weitreichenden Vermutungen über zukünftige Entwicklungsprozesse Nahrung gegeben. Panik hat diese Kommunikation ebenso wenig ausgelöst wie Berührungsängste gegenüber den innovativen ›Geräten‹, die den Markt überfluten. In der Dauerthematisierung der negativen Begleiterscheinungen aller noch so sinn- und reizvollen informationstechnischen frei und autoritär« (Alexander Roßnagel/Peter Wedde/Volker Hammer/Ulrich Pordesch: Die Verletzlichkeit der Informationsgesellschaft, Opladen 1989, S. 212f.). Vergleichsweise vage, aber kaum strittig fallen hingegen die Prognosen von Francis Fukuyama und Caroline S. Wagner aus: »The technologies emerging from the information and biotechnology revolutions will present unprecedented governance challenges to national and international political systems« (Information and Biological Revolutions. Global Governance Challenges, Santa Monica, CA 2000, S. 1). 429. »Die tendenzielle Invisibilisierung, welche politische mit technischen Wirkursachen verbindet, ruft nach symbolstarker Vergegenständlichung der Politik« (Bernd Guggenberger: Politische Aktualität des Ästhetischen, Eggingen 1992, S. 29; Kursiv-Setzung von mir, L.E.). 430. 1986 vertrat Ulrich Beck (siehe oben Abschnitt 5.3) noch die aufrüttelnde These von den latenten Nebenwirkungen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die von kritischen Beobachtern aufgedeckt werden sollten. Im Jahre 2000 sprachen Soziologen bereits von den gängigen Diskursen, die die Gefährdung der Gesellschaft explizit thematisieren: nämlich Risiken der Hochtechnologie, der Genforschung und der ökologischen Veränderungen, die sich aus der Aggregation alltäglicher Handlungen (Autofahren, CO2-Produktion etc.) ergeben. Siehe exemplarisch Nico Stehr: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften. Die Stagnation der Macht und die Chancen des Individuums, Weilerswist 2000, S. 300f.; auffällig ist, dass Stehrs virtuose Bestandsaufnahme der Wissensgesellschaft weder die Risiken der »high crime societies« (Garland) noch die ökonomischen Krisenpotenziale anführt. Auch die riskanten Effekte der Informationstechnik werden nur am Rande berührt (vgl. ebd., S. 123ff.), und die Harmlosigkeit des kurzen Abschnitts über »Die Entwicklung gesellschaftlicher Kontrollmechanismen« (ebd., S. 259ff.) ist nachgerade erstaunlich.

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Errungenschaften liegt wahrscheinlich die Ursache für das merklich gesunkene Interesse, gerade dort die Auslöser für eine Verdüsterung der politischen Verhältnisse zu imaginieren. Jedenfalls richtet sich nach dem 11. September 2001 der Fokus der Aufmerksamkeit (sowohl der medial sich präsentierenden Politik als auch der journalistischen Berichterstattung und sozialwissenschaftlichen Analyse) in den westlichen Demokratien auf ein Phänomen, das in seinem Hervorbrechen aus der Latenz weit vorstellbarer und fassbarer ist als etwa die Folgen des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Leitformel für die Suche nach dem wahrhaft Bedrohlichen, nach dem letzten Grund des Übels und (das heißt im Kern) nach dem eigentlichen Bewährungsfeld einer erstarkten und offensiven Politik lautet jetzt (erneut): »Die Gefahr geht von den Menschen aus!«431 – also nicht von anonymen Makrostrukturen oder systemischen Eigenlogiken. Damit nimmt die aktuelle Politik – zumindest dem Anschein nach – Abschied von Formen der defensiven Selbstdarstellung und verminderten Einflussnahme, die ihr (insbesondere auf Seiten der ›Linken‹) den verächtlichen Titel der »Post-Politik« 432 eingetragen haben. Von staatlich induzierter Sozialarbeitermentalität und genereller Kompromissbereitschaft kann nun keine Rede mehr sein; ebenso wenig von einer schwermütig und schwerfällig gewordenen Demokratie, in der sich »das Gift der Müdigkeit« 433 ausbreitet. Die Identifi kation gefährlicher Akteure und die Durchführung energischer Maßnahmen, welche die Sicherheit der Bevölkerung (wieder-) herstellen und vorsorglich bewahren sollen, wird jetzt als zentrale Aufgabe der Politik ausgegeben und medial in Szene gesetzt. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass insbesondere zwei Vorgänge die Aufmerksamkeit kritischer Beobachter auf sich gezogen haben: nämlich zum einen die Veränderung der sozialen Kontrollkultur, wie sie exemplarisch an der Deutung und Bekämpfung von Kriminalität ablesbar ist, und zum anderen jene mit dem Stichwort ›Rückkehr der Folter‹ versehenen manifesten Praktiken des Einsatzes und Rechtfertigens inquisitorischer Gewalt. 434 Charakteristisch für 431. Ich zitiere den Titel eines inzwischen vergriffenen Buches: Sebastian Cobler: Die Gefahr geht von den Menschen aus. Der vorverlegte Staatsschutz, Berlin 1976. Vgl. auch eine Sammlung früher Studien zur Präventionspolitik und zur Sicherheitsproblematik: Manfred M. Wambach (Hg.), Der Mensch als Risiko, Frankfurt a.M. 1983; insbes. die metaphernreichen »Vorbemerkungen« über »Oberfl äche und Dunkelfeld« (S. 7-10). 432. Vgl. u.a. die oben bereits erwähnten Polemiken bei S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 272ff. und Ch. Mouffe: Über das Politische. 433. Pascal Bruckner: Die demokratische Melancholie (1990), Hamburg 1991, S. 139. Auch Bruckners Beitrag bedient mit seiner leidenschaftlichen Anklage der neuen politischen Leidenschaftslosigkeit im Kapitel »Die unsichtbare Politik« (ebd., S. 47-67) explizit den um 1990 laufenden Latenzdiskurs. 434. Vgl. auch die plausible These, dass die politischen Machtverhältnisse gegenwärtig durch »zwei rezente Entwicklungen« bestimmt werden: »Die erste betrifft die Akteure der legitimen staatlichen Gewalt. […] In jüngerer Zeit […] ist in vielen Staaten eine Privatisierung der ›Sicherheit‹, und damit auch der gewalttätigen Sicherung der staatlichen Ordnung, zu verzeichnen. Dies gilt wiederum für

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diese beiden Phänomene ist ihre Einbettung in mediale Präsentationen und Veröffentlichungen aller Art. Politische Verlautbarungen, wissenschaftliche Diskurse, journalistische Berichte, Spielfi lme, Gerichtsshows, Internetdebatten und die medienübergreifende Darbietung teils beweiskräftiger, teils fragwürdiger Dokumente prägen nicht allein die Auseinandersetzung mit bereits geschehenen sicherheitsrelevanten Ereignissen, sondern eröffnen auch die Felder des Sichtbaren und Sagbaren, in denen ›wirkliche‹ Gefährdungen überhaupt erst als solche wahrgenommen und dann mit geeignet erscheinenden Mitteln ›behandelt‹ werden können. Faktisches Handeln und reine Symbolpolitik greifen hier ineinander und bilden eine Gemengelage, die jeden interessierten und engagierten Beobachter, der nicht primär erregt oder unterhalten werden möchte, zu extremen Differenzierungsanstrengungen zwingt. Dies hat auch zur Folge, dass 1. eine ambitionierte Untersuchung der herrschenden Kontrollmechanismen ihrem Gegenstand nur gerecht werden kann, wenn sie »die Kultur der Kontrolle« 435 als komplexen Zusammenhang von Diskursen, Institutionen und Einzelhandlungen in den Blick nimmt, und 2. jede Analyse verschärfter Verhörpraktiken und gewaltsamer Informationsbeschaff ungen nicht allein das Geschehen hinter verschlossenen Türen thematisiert, sondern eben auch das vielstimmige Reden und bildreiche Präsentieren von Folteraktivitäten, ohne sich damit freilich schon aller tauglichen Kriterien zur Unterscheidung von Realität und Fiktion, Sein und Schein, Funktion und Dysfunktion zu entledigen. Latenzforschung hat unter solchen Bedingungen zwei Ziele: Sie sollte zwar der Beschwörung unsichtbarer Mächte dort ihr Faszinationspotenzial nehmen, wo die Suche nach verborgenen Determinanten in die Irre führt, und das heißt konkret: von den wichtigen Vorgängen, die mit Händen zu greifen sind, nur ablenkt; sie sollte es sich aber nicht nehmen lassen, nach neuen Verhüllungsstrategien zu fahnden, die z.B. in jenen Manifestationen von Stärke und Souveränität zur Geltung kommen, mit denen sich der Staat als ein agiler politischer Unternehmer zu profi lieren sucht, der sich rasch darauf

die Sicherung nach innen und nach außen. Innerhalb von Staaten werden etwa Teile des Strafvollzugs privatisiert und ganze Wohnanlagen stellen sich unter den Schutz von Sicherheitsfirmen. Nach außen agieren Staaten nicht mehr nur mit regulärem Militär, sondern verbinden es mit nichtstaatlichen Akteuren. […] Die zweite Entwicklung ist die ›Rückkehr der Folter‹, das zunehmend diskutierte Einbeziehen grausamer Verhörmethoden und Strafen in die Machtstrategie von Staaten, auch von westlichen Demokratien« (Katharina Inhetveen: »Macht«, in: Nina Baur u.a. (Hg.), Handbuch Soziologie, Opladen 2008, S. 253-272, hier: S. 269). 435. David Garland: The Culture of Control. Crime and Social Order in Contemporary Society, Oxford 2001 (dt. Kultur der Kontrolle, Frankfurt/New York 2008, mit einem Vorwort von Klaus Günther und Axel Honneth, ebd., S. 7-16); siehe auch den Diskussionsband: Henner Hess u.a. (Hg.), Kontrollkulturen. Texte zur Kriminalpolitik im Anschluss an David Garland, Kriminologisches Journal, 9. Beiheft, Weinheim 2007.

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eingestellt hat, seine Aufgaben und Gewinne mit kompetenten privaten Subunternehmern zu teilen. 436 Die symbolischen und rhetorischen Aspekte der neuen Sicherheitspolitik stellen zweifellos eine enorme Herausforderung für politische Theoretiker dar, die die Rückkehr einer höchst wirksamen und radikalen Machtpolitik konstatieren und gleichzeitig den inszenatorischen Charakter437 dieses Vorgangs erkennen. Man spricht daher zwar unumwunden von einer »renaissance of sovereign power« 438, gesteht jedoch sogleich ein, dass damit nicht die einfache Reproduktion traditioneller Herrschaftsverhältnisse gemeint ist: »Speaking about a renaissance, does not mean […] that an anachronistic type of power has come back; one should say rather […] that sovereign power is once again becoming visible, albeit in a new shape.«439 Diese neue Form zeichnet sich nicht allein durch das »Überhandnehmen einer rigorosen, überhitzten und passionierten Rhetorik der Securitization« 440 aus, sondern stützt sich zugleich auf eine Art Pakt mit der Mehrheit der Bürger, d.h. auf einen »Sicherheitsvertrag« 441 zwischen Regierung und Bevölkerung, der nicht mehr als ›still436. So erklärt z.B. Alex Demirovic unter Rekurs auf eine These von Loïc Wacquant »die politische Inszenierung von Sicherheit damit, dass Politiker zu einem Zeitpunkt Handlungsfähigkeit des Staates demonstrieren wollen, zu dem sie die Dogmen des Neoliberalismus übernommen haben, und seine Ohnmacht in ökonomischer Hinsicht und sozialer Hinsicht predigen. Während die Unsicherheit auf den Straßen skandalisiert werde, um mit neuen Strategien Sicherheit zu schaffen, werde gleichzeitig soziale Unsicherheit normalisiert – bei prekären Arbeitsverhältnissen, Ausbildungsplätzen, Arbeitslosenhilfe oder Altersvorsorge« (»Liberale Freiheit und das Sicherheitsdispositiv«, in: P. Purtschert/K. Meyer/Y. Winter (Hg.), Gouvernementalität und Sicherheit, S. 229-250, hier: S. 231). 437. Michael Lindenberg/Henning Schmidt-Semisch sprechen vom »Schauspielcharakter« der neuen Sicherheitspolitik: »Komplementäre Konkurrenz in der Sicherheitsgesellschaft. Überlegungen zum Zusammenwirken staatlicher und kommerzieller Sozialer Kontrolle«, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (2000), S. 306-319, hier: S. 310. 438. Susanne Krasmann: »The enemy on the border. Critique of a programme in favour of a preventive state«, in: Punishment and Society 9/3 (2007), S. 301-318, hier: S. 308. 439. Ebd., S. 313 [Kursiv-Setzung von mir, L.E.]. 440. Sven Opitz: »Zur Analytik illiberaler Gouvernementalität«, in: P. Purschert/K. Meyer/Y. Winter (Hg.), Gouvernementalität und Sicherheit, S. 201-228, hier: S. 217. Opitz spricht auch treffsicher von der »aktuelle[n] Ausrufung der Sicherheit« (ebd., S. 220). Zum Begriff der Securitization vgl. Ole Waever: »Securitization and Desecuritization«, in: Ronnie D. Lipschutz (Hg.), On Security, New York 1995, S. 46-86. 441. Susanne Krasmann: »›Outsourcing Torture‹. Zur Performanz von Rechtsstaatlichkeit«, in: P. Purtschert/K. Meyer/Y. Winter (Hg.), Gouvernementalität und Sicherheit, S. 19-48, hier: S. 35. Krasmann übernimmt den Begriff von Foucault. Zum berühmten ›lettre de cachet‹ als Form des Sicherheitspaktes zwischen Obrigkeit und Untertanen vgl. Friedrich Balke »Archive der Macht. Über Polis, Politik und Polizei«, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 18/2 (2007), S. 57-81.

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schweigende‹ Vereinbarung bezeichnet werden kann. Wie weit dieser Pakt im Einzelnen reicht und welche (staatlichen, korporativen, privaten, kommerziellen etc.) Aktivitäten und Kampagnen er jeweils einschließt bzw. abdeckt, ist situativ bedingt und unterliegt Aushandlungsprozessen, die coram publico in den Medien geführt werden und dort – nicht selten als Spektakel der ›flachen Latenz‹ – höchst flexible, aber sichere Programmplätze einnehmen. Die Veränderungen der Kontrollkultur und die mediale Sichtbarkeit der Folter liefern zweifellos aufschlussreiche Beispiele für den strukturellen Wandel, der das politische Handeln erfasst hat. Dass der Faktor »Sicherheit« in diesem Zusammenhang eine Schlüsselstellung inne hat, ist ebenfalls kaum zu bestreiten. Ob er aber als »exakt jener Punkt« betrachtet werden kann, »an dem die freiheitliche Regulation in ihrem eigenen Namen umschlägt«, bzw. als »die Schwelle, an dem eine gouvernementale Reartikulation des klassischen Programms der souveränen Macht ansetzt«442, ist eine offene Frage. Denn die geforderte Bestimmung der neuen spezifischen Form souveräner Macht, welche sich gegenwärtig herausbildet, ist nicht zu leisten, wenn die »renaissance of sovereign power«, von der Krasmann, Opitz und andere so offen sprechen, als bloße Wiederauflage des »klassischen Programms« verstanden wird. 443 Um hier Klarheit zu schaffen, ist es forschungsstrategisch sinnvoll, zunächst die diskursiven Kampagnen zu beobachten und mit den praktischen Operationen im Sicherheitsbereich zu vergleichen. David Garlands fulminante Studie zur »Kultur der Kontrolle« in den USA und Großbritannien, die den abschließenden Teil einer Trilogie über die Strafpraktiken moderner westlicher Gesellschaften bildet, widmet sich dieser Aufgabe. Der Text zeigt auf, wie sehr sich der »offizielle Diskurs« über Kontrolle und Verbrechensbekämpfung in den letzten Jahren geändert hat: »Das gängige wohlfahrtsstaatliche Bild vom Delinquenten als benachteiligtem, bedürftigen, aus der Not heraus handelnden Menschen ist fast völlig verschwunden. Stattdessen wird die neue Gesetzgebung begleitet von stereotypen Darstellungen disziplinloser Jugendlicher, gefährlicher Räuber und unverbesserlicher Berufsverbrecher. Zusätzlich zu diesen projizierten Bildern und als rhetorische Reaktion auf sie beruft sich der neue Diskurs der Kriminalpolitik ständig auf eine empörte Öffentlichkeit, die es leid sei, in Angst zu leben, und radikalere Bestrafung sowie bessere Schutzmaßnahmen verlange. Der Hintergrundaffekt der Politik ist nunmehr häufig eine kollektive Empörung und eine unverblümte Forderung nach Vergeltung, nicht mehr das Bestreben, eine gerechte, sozialstaatliche Lösung zu finden.«444 Eine Extremform des Sicherheitspaktes stellen Denunziationspraktiken dar; siehe dazu Gisela Diewald-Kerkmann: Politische Denunziation im NS-Regime oder Die kleine Macht der ›Volksgenossen‹, Bonn 1995. 442. S. Opitz: »Zur Analytik illiberaler Gouvernementalität«, S. 216. 443. Die Tatsache, dass Krasmann und Opitz, die bereits durch gemeinsam verfasste Arbeiten hervorgetreten sind, hier abweichende Positionen vertreten, ist ein Indiz für die Schwierigkeiten, mit denen die Theorie heute zu kämpfen hat. 444. D. Garland: Kultur der Kontrolle, S. 54f. (Kursiv-Setzungen von mir, L.E.).

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In welchem Umfang dieser Diskurs, für dessen hegemoniale Präsenz (zumindest in Nordamerika und England) Garland überzeugende Belege vorweisen kann, bereits die polizeiliche Arbeit, die Gerichtspraxis und den Strafvollzug aller demokratischen Gesellschaften prägt oder ob hier sogar ein längst eingespieltes (bislang nur als Ausnahme geltendes) Tun und Lassen nachträglich offengelegt, angepriesen und legitimiert wird, ist unter den Experten (verschiedener Länder) umstritten. Aber selbst in Fachkreisen, die sich aus Mitgliedern unterschiedlichster theoretischer und parteipolitischer Provenienz zusammensetzen, herrscht Einmütigkeit darüber, dass semantische Feldzüge zur Verteidigung der Gesellschaft gegen innere und äußere Feinde im Gange sind, deren Elan und Freimütigkeit schwerlich ignoriert werden können. 445 Beachtlich ist nicht allein der hohe mediale Verbreitungsgrad der Mobilisierungskampagnen, sondern auch der Umstand, dass es zu einer ungeplanten Kooperation zwischen völlig unterschiedlichen Strategien des Umgangs mit den besonderen Sicherheitsproblemen kommt, welche durch eine tatsächlich oder vermeintlich ansteigende Kriminalität erzeugt werden. Liberale und Konservative bilden in der »high crime society« 446 eine gemeinsame Front und erschaffen ein Kontrollmilieu, in dem sich private und staatliche Techniken – trotz differenter Ausgangspunkte und Weltbilder – funktional ergänzen: Wer verbrecherische Handlungen als das Ergebnis einer zweckrationalen Kosten-Nutzen-Abwägung betrachtet, die prinzipiell jede Person (unabhängig von Klassenlage, Rasse und Geschlecht) vollziehen und zur Entscheidung für oder gegen den Gesetzesbruch zuspitzen kann, bevorzugt adaptive Strategien der individuellen Vorsorge und Absicherung, deren Kosten sich wiederum mit den möglichen Risiken verrechnen lassen. Wer hingegen Täterschaft auf schwer modifizierbare psychische und soziale Dispositionen zurückführt, neigt dazu, übergeordnete mächtige Instanzen anzurufen und Garlands Besteben ist es, »unsere heutigen Praktiken von Verbrechen und Bestrafung in ihrem Verhältnis zu den Strukturen von Wohlfahrt und (Un-)Sicherheit zu begreifen sowie in Relation zu den sich verändernden Klassen-, Rassen- und Geschlechterverhältnissen, auf denen diese Arrangements beruhen« (ebd., S. 80). 445. Vgl. z.B. Joseph Vogls Bemerkung: »Wie kaum zuvor ist die deutsche Innenpolitik mit Maßnahmen gegen innere, verborgene, unkenntliche Feinde beschäftigt, gegen Bedrohungen, die innen wie außen gleichermaßen lauern. Feindschaftsadressen haben sich jedenfalls eher vervielfältigt als reduziert« (»Krieg und Frieden. Amokläufer erklären ›die anderen‹, ›das System‹, ›die Gesellschaft‹ zum Feind. Warum? – Ein Gespräch zwischen Joseph Vogl und Thomas Assheuer«, in: DIE ZEIT vom 19. 3. 2009, S. 46). 446. Dieser Begriff trifft die gegenwärtige Lage, obschon offen bleibt, in welchem Maße er sich auf aussagekräftige Kriminalstatistiken oder auf imaginierte Bedrohungen bezieht. Zu Garlands Interpretation der Statistik vgl. Fritz Sack: »Die deutsche Kriminologie – von ›draußen‹ betrachtet«, in: H. Hess u.a. (Hg.), Kontrollkulturen, S. 205-230, hier: S. 225; siehe ferner die alternative Interpretation sozialer Kontrollstrategien und Strafpraktiken in Amerika und Europa bei James Withman: Harsh Justice. Criminal Punishment and the Widening Divide between America and Europe, Oxford 2003.

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von ihnen (z.B. durch drastische Sanktionen bzw. vorbeugende Ausschlussmaßnahmen) einen wirksamen Schutz möglicher Opfer zu verlangen. 447 Diese – von Garland herausgearbeitete – funktionale Allianz zweier Strategien bildet ein dichtes Netz aus rhetorischen und operativ-institutionellen Maschen, das sich nicht durch die Offenbarung latenter Motive oder Tiefenstrukturen zerreißen lässt. Das Defizit der ersten Strategie (Kurzsichtigkeit und fehlende Reichweite) wird nämlich durch die holistische Perspektive der zweiten kompensiert; und deren phantasmatische Komponente (Überschätzung von Großorganisationen) lässt sich durch die pragmatische Alltagsrationalität und Nüchternheit der liberalen Position auffangen. Beide Strategien betreiben eine offene Propaganda sowohl für ihre Diagnosen, die kein Blatt vor den Mund nehmen, als auch für die drastischen Therapievorschläge, deren buchstäbliche Deutlichkeit keiner entlarvenden Hinweise auf unterschwellige und abgründige Kräfte bedarf. An die Stelle von Latenzanalysen kann daher das bereits von Karl Kraus virtuos betriebene Geschäft des bloßen Zitierens treten. Allerdings behält die Suche nach latenten Wirkmächten – auch angesichts dieser Kultur der ›Direktheit‹ – die Aufgabe, operative Verbindungen und »komplementäre Konkurrenzen«448 ausfindig zu machen, die auf den ersten Blick eben nicht ersichtlich sind. 449 Auf eine ähnliche Dialektik der Herrschaft (im Sinne einer funktionalen Ergänzung gegensätzlicher Positionen) stößt man auch bei der Analyse des aktuellen Folterdiskurses, der etwas Verborgenes, aber längst für normal Erachtetes zum öffentlichen Ereignis mit enormer politischer, rechtlicher, moralischer und nicht zuletzt medien-ästhetischer Bedeutung macht. Dass Folter nicht nur in totalitären Staaten, sondern auch in Demokratien zum Einsatz kommt, ist durch die Dokumentationen von Amnesty International, die seit vielen Jahren publiziert werden, hinreichend bewiesen. Markante 447. Vgl. neben den Arbeiten Garlands auch M. Lindenberg/H. Schmidt-Semisch: »Komplementäre Konkurrenz in der Sicherheitsgesellschaft; ferner Ralf Hansen: »Eine Wiederkehr des ›Leviathan‹? Starker Staat und neue Sicherheitsgesellschaft – ›Zero Tolerance‹ als Paradigma ›innerer Sicherheit‹?«, in: Kritische Justiz 3 (1999), S. 231-253; ferner Tobias Singelnstein/Peer Stolle: Die Sicherheitsgesellschaft, sowie Dies.: »Von sozialer Integration zur Sicherheit durch Kontrolle und Ausschluss«, in: Nils Zurawski (Hg.), Surveillance Studies, Opladen 2007, S. 47-66; sowie Dietmar Kammerer: Bilder der Überwachung, Frankfurt a.M. 2008. 448. So die (bereits erwähnte) griffige Formel bei M. Lindenberg/H. SchmidtSemisch. 449. Vor dem Hintergrund von Garlands präziser Beschreibung der Wende innerhalb der aktuellen Kontrollkultur erhält die eigentümlich abstrakte These, dass mit Beginn des 19. Jahrhunderts eine »diskursgeschichtliche Verschiebung« einsetzt, […] in deren Verlauf sich eine dominant ethische Normativität in eine biopolitische Normativität transformiert«, scharfe Konturen. Vgl. hierzu Friedrich Balkes Versuch, auch an Heideggers Philosophie die Folgen des »tiefen Einschnitts in der Geschichte der Verantwortlichkeit« nachzuweisen (Figuren der Souveränität, S. 433). Zum modernen Versicherungsparadigma siehe auch Lutz Ellrich: »Die (Un-)Berechenbarkeit des Schlimmsten«, in: transkriptionen 6 (2006), S. 12-15.

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Einzelfälle, die dem Phänomen ein konkretes Gesicht verleihen, und heikle Äußerungen prominenter Politiker oder Wissenschaftler, die die Technik des Schmerzes zur unverzichtbaren ultima ratio erklären, haben immer wieder für heftige Diskussionen über diverse Aspekte der Folter gesorgt. Dabei ist ihre Unmenschlichkeit und Pathologie ebenso zum Gegenstand der Erörterungen geworden wie ihre Zweckmäßigkeit und Normalität. 450 Aber nach dem 11. September 2001 scheint der Umgang mit der Folter (genauer: ihre Anwendung, Darstellung und Beurteilung) in demokratischen Gesellschaften eine »neue Dimension« 451 erreicht zu haben. Die Bilder von Abu Ghraib und Guantánamo, die publizierten Berichte über das so genannte ›extraordinary rendition program‹ und dessen ministerielle Apologien, die Forderungen nach einer rechtlich kodifizierten Zulassung der Folter, die exzessiven Entwürfe von Ticking-Bomb-Szenarien, die detailfreudigen Debatten über geeignete Mittel zur Informationsgewinnung, die Erfi ndung juristisch korrekter und zugleich peinlich entgleisender Begriffe (wie etwa »selbstverschuldete Rettungsbefragung«), die Vorstöße zur Entwicklung eines zeitgemäßen »Feindstrafrechts« etc. – all diese Indizien und Aktivitäten erwecken den Eindruck, dass die Sicherheitsstandards der Gesellschaft nur gewahrt werden können, wenn man neue Instrumente der Gefahrenabwehr verwendet und zudem unübliche Legitimationsmuster für außerordentliche Maßnahmen akzeptiert. Der Diskurs über die Folter zeichnet sich aber nicht allein durch eine ungewöhnliche Offenheit aus, er ist auch von umständlichen und grotesken Begründungsfiguren durchzogen. 452 Dies hat zu Irritationen gerade bei denjenigen kritischen Beobachtern geführt, die darauf eingestellt sind, hinter den Fassaden von Lüge und Heuchelei, von moralischer Honorigkeit und juristischer Seriosität nach der schockierenden Wahrheit zu suchen. Slavoj Žižek, der (wie oben erläutert) die Welt mit Hilfe der paulinischen Differenz zwischen geschriebenem und ungeschriebenem Gesetz betrachtet, 450. Vgl. ausführlich Lutz Ellrich: »Was spricht für die Folter?«, in: Thomas Weitin (Hg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter, Bielefeld 2009, sowie Ders.: »Folter als Modell. Diskurse und Differenzen«, in: Peter Burschel/Götz Distelrath/Sven Lembke (Hg.), Das Quälen des Körpers. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Folter, Köln 2000, S. 27-66. Siehe ferner Alfred McCoy: Foltern und Foltern lassen. 50 Jahre Folterforschung und -praxis von CIA und US-Militär, Frankfurt a.M. 2005; Susanne Krasmann: »Folter im Ausnahmezustand?«, in: Dies./ Jürgen Martschukat (Hg.), Rationalitäten der Gewalt, Bielefeld 2007, S. 75-96; Egmont R. Koch: Die CIA Lüge. Folter im Namen der Demokratie, Berlin 2008. 451. S. Krasmann: »›Outsourcing Torture‹. Zur Performanz von Rechtsstaatlichkeit«, S. 20. 452. Ein schlagendes Beispiel liefert das Statement des Bundesanwaltes Rainer Griesbaum zur »Abwägungsdoktrin«: Öffentlich plädiert er dafür, dass »ausländische Erkenntnisquellen – je nach Herkunftsland – nicht gleichsam in Bausch und Bogen als ›unrettbar‹ bemakelt [sic!] verworfen werden dürfen.« Zitiert nach Christian Denso: »Vom verbotenen Baum. Damit islamische Terroristen verurteilt werden, arbeitet die Bundesanwaltschaft immer öfter mit Unrechtssystemen zusammen«, in: DIE ZEIT vom 8. 4. 2009, S. 8.

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wundert sich über die Direktheit, mit der verschärfte Verhörpraktiken von den Verantwortlichen und ihren enthemmten Anhängern propagiert werden. »Warum führen sie nicht einfach das im Verborgenen weiter, was sie schon vorher gemacht haben?« 453 – lautet seine durchaus berechtigte Frage. Vergleichbare Probleme plagen Susanne Krasmann in ihrem Kommentar zur »Outsourcing Torture«, d.h. zur Praxis der Überstellung terrorverdächtiger Personen in Länder der Dritten Welt, wo sie mit großer Wahrscheinlichkeit gefoltert werden: »Outsourcing dient dazu, Folter unsichtbar zu machen, um auf diese Weise Recht zu umgehen und die Geltung des Rechts gleichwohl aufrechtzuerhalten. Es ist der klandestine Versuch, Folter mit dem Anspruch der Rechtstaatlichkeit in Einklang zu bringen und gleichsam den Anschein der Normgeltung zu wahren. Doch wie erklärt es sich, dass diese Praktiken und Vorkommnisse keineswegs ein Geheimnis, sondern der Öffentlichkeit durchaus zugänglich sind?«454

Und Lars Denicke macht sich Gedanken über die mangelnde Selbstkontrolle der Kontroll- und Sicherheitssysteme: »Wenn Folterungen durch CIA und Sondereinheiten des Militärs keine Ausnahme, sondern systematisch entwickelt worden sind, wenn die Operationen jedoch im Geheimen stattfinden, wie kommt es dann zu den allseits bekannten Bildern? Wie ist es möglich, dass eine Institution der Disziplin und Überwachung ihre eigenen Elemente nicht dahingehend überwacht, dass solche ›Schnappschüsse‹ gar nicht erst entstehen und zirkulieren können?«455

Denicke versucht auch eine erste vorsichtige Antwort auf diese Frage zu geben. Im Anschluss an neuere Beiträge zur Grundlegung einer zeitgerechten Bildtheorie zieht er den verborgenen performativen Charakter der photografischen Repräsentationen von Folterungen ans Licht. Denn die Aufnahmen aus Abu Ghraib und ihre mediale Verbreitung sind, so lautet sein Interpretationsvorschlag, keine versehentlichen Ereignisse, die bloß eine schreckliche, zur öffentlichen Wahrnehmung nicht geeignete Realität abbilden. Sie lassen sich vielmehr als Akte deuten, die explizit eine auf Publikation zielende Realität der Schmähungen und Drohungen erzeugen, deren mediale Vergegenwärtigung den Gegner ins Mark treffen soll. Was Denicke andeutet, ohne es bereits als Klartext auszusprechen, ist die doppelte Adressierung der Bilder, die im Internet kursierten, ehe sie den Weg in die Massenpresse und ins Fernsehen fanden. Sie richten sich nämlich mit ihrer spezifischen Ikonographie, die ge453. S. Žižek: Lacan, S. 30f. 454. S. Krasmann: »›Outsourcing Torture‹. Zur Performanz von Rechtsstaatlich-

keit«, S. 27f. 455. Lars Denicke: »Kommentar – Eine engagierte Genealogie«, in: K. Harrasser/T. Macho/B. Wolf (Hg.), Folter. Politik und Technik des Schmerzes, S. 353356, hier: S. 355; siehe auch Denickes Referenztext: Alfred W. McCoy: »Eine kurze Geschichte der Psychofolter durch die CIA«, ebd., S. 323-351.

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läufige kulturelle Codes benutzt, ja ostentativ zitiert, auch an das Publikum in Amerika und der übrigen westlichen Welt. 456 Wer die religiös-artifizielle Rahmung der Bilder bemerkt, kann ihren Signal- und Appellcharakter kaum noch übersehen: Denn sie zeigen Akteure, welche kühn und schamlos genug sind, um die heimtückischen und feigen Angriffe auf Amerika mit gleicher Münze heimzuzahlen. Durch ihre planvollen Arrangements kommentieren die Bilder damit im vorhinein jene berechenbaren defensiven Reaktionen in den eigenen Reihen als ebenfalls künstlich und inszeniert: Die öffentliche moralische Entrüstung, die Gesten der Schockiertheit und der Scham – so lautet die un-heimliche Botschaft der ikonischen Choreographie – sind doch bloß ein doppeltes Spiel, welches anschaulich den Beweis führt, dass wir nicht nur hemmungslos handeln, sondern uns ebenso rigoros über die niedrige Welt der Rache erheben können, um je nach Bedarf moralische oder rechtliche Sanktionen gegen angebliche Einzeltäter zu verhängen. Diese Interpretation liefert unter Rekurs auf ein extremes Beispiel – den Umgang mit Folter – Ansätze zu einer Erklärung der offensiven Politik, über deren Struktur nur geringer Aufschluss gewonnen wird, wenn man sie bloß als »renaissance of sovereign power« tituliert. Die gegenwärtig zu beobachtende Revitalisierung souveräner Handlungsmacht ist ja keineswegs die triumphale Demonstration eines überlegenen Willens, der sich auch gegen einen breiten und heftigen Widerstand durchzusetzen vermag. Alle Kampagnen erscheinen vielmehr im Gewand einer erzwungenen, also unvermeidlichen Reaktion auf dramatische Probleme, für deren Auftreten die Wortführer der politischen Offensive zumeist externe Ursachen (z.B. feindliche Akteure) verantwortlich machen. Einschneidende Maßnahmen werden als eine Art Bürde, als drückende Last für die Entscheidungsträger, dargestellt. Bei ihren Auftritten in den Medien geben Politiker ihrem Publikum aus ebenso schutzbefohlenen wie schutzbedürftigen Individuen zu verstehen, dass sie zum Handeln bereit sind, dass aber nur solche Initiativen erfolgversprechend sind, die erwartbaren moralischen Zwickmühlen nicht ausweichen, sondern auch unter schwierigsten Bedingungen das jeweilige politische Geschäft unbeirrt erledigen. Stets wirbt man um Verständnis und Vertrauen, aber zugleich auch um eine vorauseilende Absolution. 457 Es geht um deren bereitwillige 456. Vgl. Wolfgang Beilenhoff: »Bild-Ereignisse: Abu Ghraib«, in: Christina Bartz/Irmela Schneider (Hg.), Formationen der Mediennutzung I: Medienereignisse, Bielefeld 2007, S. 79-96; zum historisch-politischen Hintergrund siehe auch Philip Gourevitch/Errol Morris: Die Geschichte von Abu Ghraib (2008), München 2009. 457. Dies gilt auch für ›polit-hygienische‹ Maßnahmen wie z.B. Barack Obamas Verfügung vom 13. Mai 2009, 44 neu aufgetauchte Folterfotos nicht zur Veröffentlichung frei zu geben, ohne wiederum diese Entscheidung selbst geheim halten zu können oder zu wollen. Über die unpublizierten Bilder kursieren daher ›wilde‹ Gerüchte, die die Kunst der Ekphrasis anstacheln: »Offenbar sind die Fotos schrecklich, noch schlimmer als die Fotos aus dem Foltergefängnis in Abu Ghureib [sic!]. Sie zeigen z.B. US-Soldaten, die in einem Panzer auf gefesselte Gefangene zurollen, das soll ihnen Todesangst einjagen. Sie zeigen Soldaten, die breitbeinig über den Leichnamen afghanischer Männer stehen. Oder sie zeigen einen einzelnen Soldaten,

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Vergabe, nicht etwa um obligatorische Dienste oder Gehorsam. Diesem Ziel und Zweck dienen all die inständigen Beteuerungen, es werde nur das absolut Nötige getan und die Freiheit der Bürger bloß in dem Maße eingeschränkt, wie es zur dringlichen Kompensation eingetretener Verluste und zur umfassenden Gefahreneindämmung erforderlich sei. So begegnet man präventiv dem aufkeimenden Argwohn, dass eine strukturelle Hypertrophie der Sicherheitsapparate drohe, die leicht zu Situationen führen könne, in denen die Mittel, welche zur Bekämpfung oder zur Unterbindung des Übels eingesetzt werden, ein weit größeres Übel herauf beschwören. 458 Insgesamt lassen sich die neuen Sicherheitspolitiken und die mit ihnen verknüpften Formen des gesellschaftlichen ›Sicherheitsvertrages‹ (der das Zusammenwirken von öffentlichen und privaten Schutzarten, von Leistungen und Erwartungen, von Initiativen und deren Legitimationen regelt) als ein Gesamtdispositiv beschreiben, das eine Reihe von Funktionen erfüllen soll: 1. Mit der Demonstration von Stärke, die auch vor dem zweckmäßigen Einsatz von Gewalt nicht zurückschreckt, versucht das politische System seine ungebrochene Handlungskapazität zu beweisen und den medial erzeugten Eindruck von Ohnmacht und Versagen zu widerlegen. 2. Neben seiner agency will das politische System aber auch seiner sachbezogenen Kompetenz, Verlässlichkeit und Nicht-Irritierbarkeit Gestalt verleihen. Dies geschieht durch die Darstellung seiner Fähigkeit, keine unnötigen oder dysfunktionalen Rücksichten zu üben. Man bekennt offen, dass selbst Würdeprämien und Schutzgarantien, die im Prinzip allen Subjekten gewährt werden, unter bestimmten (Ausnahme-)Bedingungen zur Disposition stehen und von Gegenleistungen abhängig gemacht werden können. Zudem wird vorgeführt, dass der Staat entschlossen ist, das gegebene Schutzversprechen – also seinen Teil des Sicherheitspaktes – zu erfüllen, ohne sich im entscheidenden Augenblick durch moralische Bedenken oder rechtliche Regeln einengen oder blockieren zu lassen. Mit der souveränen Außerkraftsetzung oder Nicht-Beachtung geltenden Rechts gibt der politische Akteur zu erkennen, dass die Lösung akuter Probleme der einem gefesselten Gefangenen, der eine Kapuze aufgesetzt bekommen hat, eine Pistole an den Kopf hält« (Hans Hoyng/Britta Sandberg/Gabor Steingart: »Schlimmer als Abu Ghureib«, in: DER SPIEGEL vom 18. 5. 2009, S. 96-98, hier S. 96). Der gleiche Artikel verweist auf zwei unterschiedliche Strategien, die Politiker im Kontext der Folterdebatte einsetzen: Agitation und Verleugnung. Während »Cheney […] derart leidenschaftlich für die ›erstaunlich erfolgreichen Verhörmethoden‹ [wirbt], als gehörten Schlafentzug und Waterboarding zum unverzichtbaren Kernbestand des Konservatismus in Amerika«, will Nancy Pelosi (»nun mächtige Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus«) bei der Sitzung im September 2002, in der »CIA-Mitarbeiter über die Verhörmethoden berichteten, […] vom Waterboarding […] nichts mitbekommen haben« (ebd., S. 98). 458. Vgl. zu dieser Figur der Immunreaktion Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens (2002), Berlin 2004.

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eine höhere Dignität besitzt als die formal korrekte Einhaltung legaler Bestimmungen. Juristische Buchstabentreue – so lautet die unüberhörbare Botschaft – verletzt das Gesetz des Lebens, das immer wieder den Vollzug konkreter Maßnahmen verlangt, um Schäden rechtzeitig abzuwenden und die Würde wirklicher oder möglicher Opfer zu wahren. 3. Zugleich macht man keinen Hehl daraus, dass das politische Kerngeschäft der Sicherheitsproduktion immer auch die Wahrung der Rechtssicherheit umfassen muss. Daher beherrscht das Bestreben nach Verrechtlichung aller situationsbezogenen Vorstöße und Eingriffe den offiziellen Diskurs über staatliche Aktionen. Notwendige Maßnahmen werden nachträglich legalisiert oder durch die vorsorgliche Erweiterung rechtlicher Spielräume in den Rahmen einer kalkulierbaren und gültigen Ordnung eingefügt. Die Projekte zur Folterlegalisierung legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab. Rechtsbegriffe und bewährte Konditionalprogramme signalisieren dem Publikum, dass staatliche Übergriffe und Gewalteinsätze von Fall zu Fall nötig und sinnvoll sind, dass solche Offensiven aber unter der strengen Beobachtung des Rechts niemals zu Gewaltexzessen ausarten werden. Sicherheitspolitik zielt demnach nicht nur auf die Beschwichtigung der Ängste vor äußeren und inneren Feinden ab, sondern auch auf die Eindämmung der Furcht vor einer totalitären Selbstermächtigung demokratischer Sicherheitspolitik. 459 Der öffentlich deklarierte Rechtsschutz errichtet eine letzte symbolische Barriere gegen die latente Möglichkeit einer allmählichen Aushöhlung der Legalität. Wie schwierig es ist, aus dieser Lage politik-theoretische Konsequenzen zu ziehen und eine angemessene Beschreibung der ebenso offenen wie verkappten Gewalt in den westlichen Demokratien zu liefern, zeigen programmatische Formulierungen, die der aktuellen Gewaltanalyse Richtung und Durchschlagskraft geben sollen. Die Empfehlung lautet nun, explizit darauf zu verzichten, »letzte Ursachen auszumachen oder eine gleichsam notwendige Logik aufzuzeigen«. Die Aufgabe bestehe jetzt vielmehr darin, »das prekäre Verhältnis zwischen Gewalt und staatlichen Ordnungsformen als eines sichtbar zu machen, das sich nicht nur in großen Umbrüchen oder Ausnahmezuständen zeigt, sondern vor allem in den alltäglichen Praktiken und Mechanismen der Herstellung von Staatlichkeit.« 460 Solche Formen der Gewalt verdienen – wie es heißt – besondere Aufmerksamkeit; denn sie müssen »nicht 459. Der häufig konstatierte Widerspruch – einerseits benutze der Saat den internationalen Terrorismus als Vorwand, um rechtliche Grundsätze moderner Demokratien zu unterminieren, und andererseits versuche er, Maßnahmen post festum rechtlich absegnen zu lassen oder durch pauschale Bestimmungen über NotstandsBefugnisse mit einer Art ›Vorab-Legalisierung‹ zu versehen – löst sich folglich durch die funktionale Erklärung der vermeintlich ›paradoxen‹ Verrechtlichungsintentionen auf. 460. Susanne Krasmann/Jürgen Martschukat: Rationalitäten der Gewalt – eine Einführung, in: Dies. (Hg.), Rationalitäten der Gewalt, Bielefeld 2008, S. 7-18, hier: S. 11.

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immer offenkundig sein, sie können aber gerade aufgrund ihrer Institutionalisierung jederzeit virulent werden.« 461 Die Gefahr gehe nämlich heute nicht primär von gewaltsamen Maßnahmen aus, die rechtliche Schranken direkt und unverstellt ignorieren, sondern von jenen Gewaltformen, »die institutionell verankert und reguliert sind und als berechenbar und legitim gelten.« 462 Diese Konzepte und Leitgedanken belegen, dass die Beobachter und Kritiker herrschender Gewaltverhältnisse sozialontologische Aussagen und die mit ihnen verbundenen Entscheidungsfiguren vermeiden möchten. Zugleich hält man an der Vorstellung fest, die Gewalt müsse auch und gerade in der entfesselten Medien- und Informationsgesellschaft aus ihrer ›tiefen‹ Latenz hervorgezerrt werden, die sich hinter dem öffentlichen ›Gerede‹ über die Unabdingbarkeit punktgenau eingesetzter Gewaltmittel und dem turnusmäßig aufgeführten Spiel der juristischen Legalisierung des Illegitimen verbirgt. Man will bei aller ›Tiefenorientierung‹ aber weder an Merleau-Pontys berühmte Aussage aus Humanismus und Terror463 anschließen, noch Sartres These der Universalität des Kampfes zwischen Gewalt und Gegengewalt 464 wiederholen und auch nicht Wolfgang Sofskys generellen Befund – »Gewalt ist unser Schicksal« 465 – ratifizieren. Man will hingegen in den gewaltaffinen Sprechakten, die ihre eigene Offenheit ausstellen, und den ubiquitären Bildern, die geschundene Leiber und nackte Tatsachen zeigen, das verdeckt gebliebene Sediment einer funktionsspezifisch eingesetzten Kerngewalt herauspräparieren. Ein exemplarischer Argumentations-Cluster, der sich aus Thesen von Krasmann und Opitz zusammensetzt, mag dieses Verfahren der Kritik verdeutlichen: Gerade die Strategie, ›Feinde‹ zu identifi zieren und die Mittel des Rechts so zuzurichten, dass sich die Gesellschaft ihrer ›Feinde‹ effektiv erwehren kann, ohne sich durch die eigenen liberalen Prinzipien zu hemmen, führt nicht dazu, die Selbstverteidigungsanstrengungen der Demokratie und die hierzu eingesetzten Mittel für alle Beteiligten transparent zu machen, sondern bewirkt de facto die »Desubjektivierung und Unsichtbarmachung« 466 der als ›Feinde‹ identifizierten Personen. Mit der neuen offensiven Politik, die sich ganz in den Dienst des Bevölkerungsschutzes stellt, wird die Ausübung von Gewalt weitgehend »unsichtbar« gemacht: »übrig bleiben lediglich mehr oder weniger emblematische Signaturen der Gewalt, die ihrer461. Ebd. 462. Ebd., S. 10. 463. »Es gibt nichts als Gewalt, und der revolutionären Gewalt gebührt der

Vorzug, weil sie eine Zukunft des Humanismus hat. […] Die Gewalt ist die allen Regimen gemeinsame Ausgangssituation. Leben, Diskussion und politische Entscheidung vollziehen sich einzig auf diesem Hintergrund« (Maurice Merleau-Ponty: Humanismus und Terror (1947), Bd. 2, Frankfurt a.M. 1966, S. 13, 15). 464. Vgl. Jean-Paul Sartre: Kritik der dialektischen Vernunft (1960), Reinbek 1980, S. 141. 465. Wolfgang Sofsky: Traktat über Gewalt, Frankfurt a.M. 1996, S. 224. 466. Susanne Krasmann/Sven Opitz: »Regierung und Exklusion«, in: Susanne Krasmann/Michael Volkmer (Hg.), Michel Foucaults ›Geschichte der Gouvernementalität‹ in den Sozialwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 127-155, hier: S. 142f.

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seits eine Botschaft vermitteln und unter Umständen ein Element des Regierens bilden.« 467 Der rhetorische Aufwand, den die offizielle Politik betreibt, dient einem verborgenen Zweck, nämlich »dem liberalen Regierungskalkül die unverhohlene Chance der Illiberalität zu eröffnen.« 468 Solche Argumente zielen auf Sichtblenden und Latenzen, die auch noch unter Bedingungen größtmöglicher Offenbarkeit politischer Aktivitäten ihre Wirkung entfalten. Es handelt sich – wie es scheint – um aufklärungsresistente Bestände, die sich überhaupt nur von den Abstraktionshöhen der Kritischen Theorie aus erkennen lassen. Überzeugungskraft gewinnen diese energischen Behauptungen aber nicht durch das empirische Material, auf das sie verweisen. Denn die gewählten Referenzpunkte lassen auch andere (auf den ersten Blick sogar plausiblere) Deutungen zu. 469 Ihr Reiz liegt vielmehr in dem Bezug auf eine grundsätzliche Frage, deren überzeugende und methodisch stringent hergeleitete Beantwortung noch aussteht: Wie ist es möglich, dass ein so drastisches Kontroll- und Regulationsmittel wie Gewalt verkannt, verdrängt oder gar als Element individueller Freiheit verstanden werden kann? Bekanntlich liefern Foucaults Analysen der antiken und modernen Formen der Selbst-Technologien entscheidende Impulse für Theorien, die das immanente Kontrollpotenzial der modernen Freiheitskonzepte vor den Blick bringen wollen. 470 Schon in Hegels Philosophie des Rechts von 1821 kann man einiges über die intrikate Dialektik der modernen bürgerlichen Freiheit erfahren, doch erst Foucault erteilt seinen Lesern die unmissverständliche Auskunft: »Technologien des Selbst [haben] ein trickreiches Doppelgesicht: Auf der einen Seite erscheinen sie als Techniken der Freiheit, auf der anderen als subtile Techniken der sozialen Unterwerfung.« 471 Ohne die nähere Bestim467. Ebd., S. 143. Ähnliche Thesen vertreten Michael Dillon/Julien Reid: »Global Liberal Governance: Biopolitics, Security and War«, in: Millenium Journal of International Studies 30 (2001), S. 41-66, sowie Saul Newman: »Terror, Sovereignty and Law: On the Politics of Violence«, in: German Law Journal 5 (2004), S. 569584. 468. S. Opitz: »Zur Analytik illiberaler Gouvernementalität«, S. 217. 469. Mitunter wirken die Versuche, Souveränität und Gewalt hinter den liberalen Fassaden der formalen Demokratie aufzudecken, merkwürdig hilflos und inadäquat; die kritische Semantik gerät gegenüber dem strukturell bereits etablierten Niveau der Gouvernementalität in einen Rückstand, den sie nur durch das ›Tieferlegen‹ der Analyse wettmachen kann. Ansonsten müsste man sich damit begnügen, eine Reihe von Einzelfällen als Indikatoren für die untergründige Gewaltsamkeit des biopolitischen Zeitalters anzuführen. 470. Zu den problematischen Aspekten der modernen Selbsttechnologien vgl. Petra Gehring: Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt/New York 2006. 471. So die pointierte Reformulierung bei Sabine Maasen: »Bio-Ästhetische Gouvernementalität«, in: Paula Irene Villa (Hg.), schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst, Bielefeld 2008, S. 99-118, hier: S. 113. Vgl. auch Susanne Krasmann: »Regieren über Freiheit. Zur Analyse der Kontrollgesellschaft in foucaultscher Perspektive«, in: Kriminologisches Journal 31 (1999), S. 107-121.

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mung, wie diese subtilen Unterwerfungstechniken gerade dann funktionieren, wenn die Handhabung von Freiheit ein umfassendes medial präsentiertes Wissen über individuelle und soziale Druckmittel einschließt, bleibt diese These freilich bloß ein brillantes rhetorisches Manöver, das öffentliche Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit durch die Beschwörung monströser Latenzen herstellt. Was hier ins Auge gefasst werden soll, reicht ja weit hinaus über jene »vertiefte Unterwerfung«, wie sie für Disziplinargesellschaften, die das Souveränitätsmodell des Absolutismus durch effektivere Regierungstechniken ersetzt haben, charakteristisch ist. 472 Denn es geht um eine völlig unkenntliche Unterwerfung, deren schemenhafte Gestalt möglicherweise Rousseau vorschwebte, als er Mitte des 18. Jahrhunderts die verheerendste Form der Manipulation zu definieren versuchte: »Es gibt keine vollkommenere Unterwerfung als die, die den Schein der Freiheit wahrt.« 473 Theoretiker, die heute diese Denkfigur aufgreifen, beweisen damit, dass sie an der Idee von echter Freiheit als ›Substanz‹ einer demokratischen Gesellschaftsordnung festhalten und sich deshalb berechtigt fühlen, die »im Bereich liberaler Gouvernementalität« angepriesene und verfügbare Freiheit zu verwerfen, weil deren Nutzung in Wirklichkeit zur »Ausschaltung der Freiheit« 474 führt. Zugleich wenden sie sich gegen die hegemoniale Ideologie des Neoliberalismus und ziehen auch das Konzept der freien Wahl, das der so genannte ›flexible Normalismus‹ impliziert, in Zweifel. 475 Entscheidend ist jedoch, dass sie mit ihrer vehementen Kritik auf eine in den gegenwärtigen Medien- und Wissensgesellschaften weit verbreitete Mentalität reagieren. Die Mehrzahl der spätmodernen Individuen interpretiert nämlich die vorhandenen Optionsräume und die eigenen Wahlmöglichkeiten, trotz der mit ihnen verknüpften Entscheidungszwänge, keineswegs als schwer erträgliche Belastung und erfährt sie auch nicht als potenzielle Ursache für depressive Handlungsblockaden. 476 Vielmehr herrscht die Meinung vor, man habe sich die 472. Michel Foucault: Überwachen und Strafen (1975), Frankfurt a.M. 1976,

S. 177. 473. Jean-Jacques Rousseau: Émile oder Über die Erziehung (1762), Stuttgart 1998, S. 105. 474. Sven Opitz: »Zur Analytik illiberaler Gouvernementalität«, S. 225. 475. Vgl. die bereits im Abschnitt 5.4 diskutierten Einsprüche gegen diese beiden nicht auf einander reduzierbaren Positionen. 476. Dass viele Individuen durch den Umgang mit Freiheit unter Druck geraten, ist unbestreitbar. Es handelt sich zur Zeit aber noch um eine deutliche Minderheit. Daher besteht kein Anlass, die Bestandsaufnahme von Alain Ehrenberg (Das erschöpfte Selbst) zu dramatisieren bzw. zu generalisieren und die Sehnsucht nach einem neuen Paternalismus oder starken normativen Orientierungen zu schüren. Auch die bereits erwähnte These von Ulrich Bröckling (»Jeder könnte, aber nicht alle können«) ist selbstverständlich zutreffend – wenn nicht trivial. Bröckling beleuchtet die trügerischen Seiten der neoliberalistischen Euphorie und Propaganda (soweit sie nicht längst allgemein bekannt sind), versucht aber erst gar nicht zu erklären, warum selbst zahlreiche benachteiligte Individuen den bestehenden Verhältnissen ihre Zustimmung nicht verweigern und auch keinen merklichen Widerstand leisten.

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neuen Freiheiten, die ausgiebig genutzt werden, durch eigene Anstrengungen oder zumindest durch deutliche Signale der eigenen Kampf bereitschaft regelrecht erworben. Kaum jemand betrachtet das Feld der Möglichkeiten, auf dem man sich heute positionieren und bewähren kann, als einen total kontrollierten Bereich, der sich nur mit Vorsicht betreten lässt, weil die Freiheiten, die hier bestehen, Teil einer unsichtbaren und hinterhältigen Regulationsweise sind. Und dieses affirmative Verhältnis zur Freiheit wird nicht etwa durch ein schwach entwickeltes Problembewusstsein ermöglicht. Im Gegenteil. Das Wissen um die Krisenhaftigkeit und »Zerbrechlichkeit der Gesellschaft« bewegt sich auf hohem Niveau. Es weckt aber nicht den Verdacht, dass die Individuen sich in der Gewalt dunkler Mächte befinden, sondern verstärkt den Eindruck, dass die »Chancen des Individuums« durch solche erschwerten Bedingungen eher steigen als sinken. 477 Angesichts dieser gesellschaftlichen Situation kann eine Theorie, die die Denkfigur der ›tiefen‹ Latenz nicht preisgeben will, der folgenden Frage nicht ausweichen: Wie ist es möglich, dass die überwiegende Zahl der spätmodernen Subjekte den Schein der Freiheit als Spielraum echter Freiheit verkennt? – Sieht man genauer hin, so wird deutlich, dass es sich hier um »die grundlegende Frage der politischen Philosophie« handelt. Sie lautet im Klartext: »Warum kämpfen Menschen für ihre Knechtschaft, als ginge es um ihr Heil?«478

5.7 ›Tiefe‹ Latenz und Subjektkonstitution Wer die Bemühungen der politischen Philosophie Revue passieren lässt, um eine erklärungskräftige Antwort auf diese bohrende Frage zu finden, muss allerdings manche Enttäuschung erleben. Zu den wenigen interessanten Texten, welche Aufschluss über die (freiwillige) Transformation von Freiheit in Knechtschaft geben, zählen neben Spinozas Überlegungen zur unlustvollen Lust der »Tristitia«, Hegels Bemerkungen über das unglückliche Bewusstsein in der Phänomenologie des Geistes479, Nietzsches Aphorismen über Willensfreiheit, Willensschwäche und Selbstpeinigung auch noch Freuds Thesen über die Identifi kation mit dem Aggressor und die Verwandlung von Objekt-Libido in Ich-Libido sowie schließlich Wilhelm Reichs Beiträge zur Psychologie faschistischer Massen.

477. Zur Relation von individuellen Chancen und kollektiven Gefahren in der Wissensgesellschaft vgl. Nico Stehr: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, S. 143ff. 478. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972), Frankfurt a.M. 1974, S. 39. 479. Diesem Abschnitt, der den Übergang vom Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft zum Kapitel über die Freiheit des Selbstbewusstseins bildet und die Auflösung von Freiheit in Selbstversklavung behandelt, hat Judith Butler einen eingehenden Kommentar gewidmet. Siehe: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (1997), Frankfurt a.M. 2001, S. 35ff.

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Robert Pfaller hat im Anschluss an Gilles Deleuze, der Spinozas seinerzeit ebenso ungewöhnliche wie ungebührliche Fragen, Definitionsvorschläge und Analysen im pointierten Begriff der »trübsinnigen Leidenschaften« 480 zu bündeln versuchte, ein Konzept entworfen, das die Ideen von Freud und Reich so reformuliert, dass sie eine erklärungskräftige Hypothese ergeben. 481 Pfaller will die erstaunliche Bereitschaft der Menschen, auf Handlungsmöglichkeiten und Genüsse freiwillig zu verzichten, durch den Hinweis auf jene eminenten Kompensationsleistungen plausibel machen, die den Subjekten als Lohn für ihre Entsagungen gewährt werden. Politische Freiheit, gerechte Arbeitsvergütung, angemessene Partizipation an sozial relevanten Entscheidungsprozessen – all dies lässt sich zurückstellen, wenn spezifische libidinöse Entschädigungen locken, die die Selbstachtung der Akteure derart steigern, dass die Aneignung reizvoller Objekte das Nachsehen hat. Unterwerfungslust und passionierter Verzicht auf die Nutzung der eigenen Freiheit resultieren – so betrachtet – letztlich aus der Konvertierbarkeit unterschiedlicher Libidoformen. Daher kann jede Schmälerung und Verknappung subjektiver Seinsweisen durch Einsatz geschickter Symbolpolitik von den Subjekten immer auch als Selbst-Erweiterung wahrgenommen bzw. gedeutet werden. Aus der Warte eines externen Beobachters, der diese Transformationen libidinöser Energie im Kontext politischer Interessendurchsetzung rekonstruiert, erweisen sich die Vorgänge der Affekt-Ökonomie aber nicht als Tauschprozesse, die gleichsam ›neutral‹ ablaufen und keinen Mehrwert produzieren. Vielmehr kann der theoretisch geschulte Blick, den Pfaller in Szene setzt, eine latente Schicht im seelischen Haushalt des Einzelnen sichtbar machen und die libidinöse Kraft der Selbstachtung als Medium der Verblendung entziffern: »Die Erkenntnis der Psychoanalyse, daß zwischen Glück und Selbstachtung ein und dieselbe libidinöse Subtanz zirkuliert, daß beide also aus demselben Stoff gemacht sind, muß die Selbstachtung prinzipiell vor sich selbst wie vor anderen verheimlichen. Aus dieser Verheimlichung ergibt sich dann gleichermaßen die Stärke wie die Glücksunfähigkeit der Selbstachtung.«482

Originell und attraktiv ist dieses Erklärungskonzept, das im übrigen den Latenzdiskurs durch die Figur einer in Selbsttäuschung befangenen Selbstachtung bereichert 483, weil es sich ostentativ den gängigen Problembeschreibungen und Krisendiagnosen verweigert: Hier wird nämlich gerade nicht davon ausgegangen, dass echte Freiheit inzwischen durch (neoliberalen) Optionalismus ersetzt worden ist und die vorhandene Verzichtsbereitschaft 480. Gilles Deleuze: Spinoza. Praktische Philosophie (1981), Berlin 1988,

S. 36. 481. Robert Pfaller: Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Frankfurt a.M. 2002, S. 222ff. 482. Ebd., S. 235. 483. Pfaller demonstriert die Leistungskraft seines Modells noch einmal in der Auseinandersetzung mit Peter Sloterdijks Zorn und Zeit, siehe Robert Pfaller: Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft, Frankfurt a.M. 2009, S. 137ff.

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oder Askesepraxis nur belanglose Begleiterscheinungen der notorischen Anspruchsinflation sind, die zur herrschenden »Kultur der Nachforderung« gehört und in der »Spirale des Begehrens« 484 ihren deutlichsten Ausdruck findet. Tiefe Unterwerfung, die den Verzicht auf Freiheit impliziert, erscheint bei Pfaller vielmehr als höhere Form des Wertbewusstseins, das die Stufe einer gleichsam post-normalistischen Moral erklimmt. Sie kann folglich als eine für die gegenwärtigen Verhältnisse besonders charakteristische Version biopolitischer Ich-Steigerung gelten, die die Subjekte dazu veranlasst, dem dubiosen Eros von Pflichtgefühl und Selbstdisziplin seinen Tribut zu entrichten. Verschleierte Unfreiheit und Unterwerfung befriedigen – so lautet die These – am nachhaltigsten genau dasjenige libidinöse Verlangen, welches den Menschen an sich selbst bindet. Ich-Libido triumphiert in fataler Weise über Objekt-Libido. 485 Zu dieser tiefenpsychologischen Erklärung der menschlichen Verfehlung von Freiheit hat der französische Soziologe Pierre Bourdieu eine gesellschaftstheoretische Alternative entwickelt. Mit Nachdruck lenkt Bourdieu den Blick auf die konkrete Lern- und Unterrichtssituation in Familien und Schulen. 486 Denn hier liegt für ihn der Ort, an dem eine prägende »symbolische Gewalt« ausgeübt wird, deren »geheimnisvolle Wirksamkeit« noch nicht wirklich begriffen und daher auch noch nicht energisch genug hinterfragt, geschweige denn gebrochen worden ist. Im Unterschied zu Foucault, der die moderne Gouvernementalität als Regulationsweise beschreibt, die nicht länger auf den Körper der Individuen, sondern (durch umfassende Hygienemaßnahmen und ethnische Auslesepraktiken) auf den ›Bevölkerungskörper‹ im Ganzen zugreift, konzentriert sich Bourdieu auf den empfänglichen, formbaren Körper der Einzelnen und versucht aufzuzeigen, wie es möglich ist, Menschen – ohne dass sie es bemerken – auf ein bestimmtes, extrem begrenztes Verhaltensrepertoire festzulegen. Mit dem Begriff »Habitus« bezeichnet Bourdieu das Ensemble der Effekte, die die jeweiligen (klassen- und schichtenspezifisch variierenden) Sozialisationspraktiken erzielen, indem sie sich der Körper von Kindern und Jugendlichen bemächtigen: Der »Habitus«, an den ein Mensch zumeist auch dann ein Leben lang gefesselt bleibt, wenn er später im sozialen »Feld« wechselnde Plätze besetzt und neue Erfahrungen macht, ist 484. Vgl. P. Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern, S. 669. 485. Man könnte Peter Sloterdijks Buch Zorn und Zeit als Versuch lesen, das

Problem, welches die Idee der Freiheit birgt, einer radikalen Lösung zuzuführen: Da alle historisch bekannten Formen individueller Freiheit (insbesondere die liberalistischen und neoliberalistischen Konzepte) den Verdacht wecken, latente Strukturen der Unfreiheit zu etablieren, liegt ein Perspektivenwechsel nahe. Bei Sloterdijk werden Freiheitswille oder emanzipatorisches Interesse nicht länger als zentrale Bezugsgrößen einer politischen Anthropologie betrachtet. Er revitalisiert hingegen die antike Welt thymotischer Kräfte: Stolz, Zorn, Ehrgeiz. Sie gelten als Antriebskräfte, die durch die diskursive Dominanz des Eros verdrängt wurden, unter den Bedingungen der Gegenwart aber wieder hervortreten und ihre Stärke erweisen können. 486. Pierre Bourdieu: Meditationen (1997), Frankfurt a.M. 2001, S. 215.

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»das Produkt der Einverleibung einer sozialen Struktur in Form einer quasi natürlichen, oft ganz und gar angeboren wirkenden Disposition.« 487 Welchen »Habitus« ein Mensch besitzt, ohne über ihn frei verfügen zu können, zeigt sich weit mehr an seinen Haltungen und Gesten als an den Meinungen, die er bei Gelegenheit und situationsbezogen vertritt. Denn sein Körper ist der Grundstoff, das Medium, mit dem die sozialen Lern- und Übungsszenarien arbeiten. Am physischen Substrat des Menschen vollziehen sich die entscheidenden Ein- und Zugriffe. Durch die besondere Art, mit der der Körper traktiert und dressiert, gehegt und gepflegt wird und so das Hören und Fühlen, Sagen und Schreiben erlernt, entstehen die stabilen Motivationsbündel und Reaktionsmuster, die den Einzelnen unterhalb der bewussten Denkakte und Entscheidungen fortwährend steuern. So und nicht anders bildet sich – laut Bourdieu – der »innere«, allzu leicht als psychische oder seelische Anlage gedeutete »Zwang«, den der »Habitus« als ein Ensemble von Dispositionen auf das Subjekt ausübt. Deswegen sind die habituellen Dispositionen eben auch »die wahre Grundlage für das vom Zauber der symbolischen Macht lediglich ausgelöste praktische Erkennen und Anerkennen der magischen Grenze zwischen Herrschenden und Beherrschten. Diese praktische Anerkennung, durch die die Beherrschten oft unwissentlich und manchmal unwillentlich zu ihrer eigenen Beherrschung beitragen, indem sie stillschweigend […] die ihnen gesteckten Grenzen akzeptieren, nimmt häufig die Form einer körperlichen Empfindung an (Scham, Schüchternheit, Ängstlichkeit, Schuldgefühl).«488

Durch diese sichtbaren Symptome solidarisiert sich der »Körper, der sich den Anweisungen des Bewusstseins und des Willens entzieht, mit der Gewalt der den Gesellschaftsstrukturen inhärenten Zensuren.« 489 Es handelt sich – wie es scheint – um eine fatale Konstellation. Bourdieu entwirft jedoch eine Lösung des Problems, die zugleich deutlich machen soll, warum Menschen sich mithilfe symbolischer Operationen überhaupt einen Zugang zu den »verborgenen Mechanismen der Macht« 490 verschaffen und diese dann durch gezielte Eingriffe verändern können. Die gattungstypische Fähigkeit, methodisch streng kontrolliertes, am Begriff der Wahrheit ausgerichtetes Wissen zu gewinnen, versetzt Subjekte, die sich bewusst und willentlich der Logik des wissenschaftlichen Handelns unterwerfen, in die vorteilhafte Lage, die eigene verborgene Genese zu rekonstruieren und damit als einen beeinflussbaren Prozess zu erkennen. Unbewusste Regulationsweisen können durch die

487. Ebd., S. 216. Vgl. Friedrich Balke: »Der Zwang des ›Habitus‹. Bourdieus Festschreibung des ›subjektiven Faktors‹«, in: Jürgen Link/Thomas Loer/Hartmut Neuendorff (Hg.), ›Normalität‹ im Diskursnetz soziologischer Begriffe, Heidelberg 2003, S. 135-149. 488. Ebd., S. 217. 489. Ebd. 490. Vgl. Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Hamburg 1992.

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Forschung manifest gemacht und die ›nicht-gedachten‹ Kategorien 491, denen die Menschen gehorchen, aufgedeckt werden. Allein aus dem Wissen um die Kontingenz und Korrigierbarkeit von Verhaltensdispositionen ergeben sich freilich unmittelbar noch keine Änderungen der prägenden Strukturen. Erst durch die langwierige und unermüdliche Ausübung von Praktiken, die Befolgung von Lernschritten und ausgeklügelten Programmen stellen sich Effekte ein, die zum Umbau der tiefsitzenden Dispositionen führen. Die latenten 492 Mechanismen der Macht, denen die Subjekte sich zunächst unterwerfen müssen, um zu dem zu werden, was sie sind, verlieren erst im Zuge einer radikalen »Gegendressur« 493 ihre prägende Kraft und lassen sich dann durch neue, alternative Skripts des Erlebens und Handelns ersetzen. Aber ist diese Emanzipationskur, die Bourdieu emphatisch beschreibt und zur Anwendung empfiehlt, wirklich eine tiefgreifende Lösung des Problems, das sich durch die reflexartige Akzeptanz einer undurchschauten Herrschaft ergibt? Wiederholen die Akte der freiwillig vollzogenen »Gegendressur« nicht bloß die herkömmlichen Strategien der Subjektivierung, die unter dem (philosophisch und soziologisch, also aus der Warte einer Beobachtung zweiter Ordnung, geschürten) Verdacht stehen, den Unterschied zwischen echter und scheinhafter Freiheit zu tilgen? Dass dieser Generalverdacht unbegründet ist, weil ›Wiederholungsakte‹ mehr und anderes leisten als pure Re-Produktionen, ist die zentrale These, die Judith Butler im Kontext ihrer Analysen jenes leidenschaftlichen Verhaftetseins (»passionate attachment«)494 formuliert, dessen fundamentale Rolle nicht allein im Sozialisationsprozess, sondern auch im Leben der Erwachsenen schwer zu übersehen ist. Ebenso wie Deleuze/Guattari will Butler die Gründe in Erfahrung bringen, warum »ein Subjekt mit Leidenschaft an seiner Unterordnung hängt« 495, und gleichzeitig herausfinden, ob die Wahrnehmung dieses Zustandes ein Indiz dafür ist, dass Menschen ihn durch eigene Kraft verlassen können. Empirische Beobachtungen zeigen, dass Individuen sich im Zuge ihrer Ich-Bildung bzw. Subjektwerdung mit enormer affektiver Energie an einen Anderen heften, der durch seine überwältigende Macht charakterisiert ist. Diese Macht besitzt allerdings nicht den Status einer absoluten, unveränderbaren Größe. Zwar lassen sich – wie Butler feststellt – aus der »ursprünglichen Komplizenschaft mit der Unterordnung keine notwendigen historischen oder logischen Folgerungen ableiten«, aber es ergeben sich »zumindest einige verhaltene Möglichkeiten.«496 Zum Spektrum der Möglich491. Vgl. Pierre Bourdieu/Loïc D. Wacquant: Reflexive Anthropologie (1992), Frankfurt a.M. 1996, S. 287. 492. Bourdieu benutzt u.a. die Metapher der Larve, ebd., S. 244. Zur Latenz der sozialen Machtmechanismen vgl. auch Ders.: Sozialer Sinn (1980), Frankfurt a.M. 1987, S. 230f. 493. P. Bourdieu: Meditationen, S. 220. 494. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung (1997), Frankfurt a.M. 2001, S. 11f., 35ff. 495. Ebd., S. 11. 496. Ebd., S. 21. Gegen Lacan gewandt ergänzt Butler: »Das Einbegriffensein

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keiten, die im Schoße der Subjektwerdung schlummern, welche ohne den bewusstlosen Akt einer ursprünglichen Unterwerfung gar nicht in Gang und zur Vollendung gekommen wäre, gehört auch das Ereignis der Subversion. Denn die Macht kann im und durch das Subjekt gegen sich selbst gewandt werden. Weil das Subjekt letztlich aus einer reflexiven Bewegung der Macht hervorgeht, nämlich aus »der auf sich selbst zurückgewendeten Macht« 497, kann es sich in einer zusätzlichen Wendung eben auch dieser Reflexion bemächtigen. Butler folgt mit dieser terminologisch an Hegel orientierten Rekonstruktion der Subjektbildung allerdings nicht dessen Konzept, das (in der Wissenschaft der Logik) den zwingenden Übergang von reflexionslogischen zu begriffslogischen Verhältnissen vor-schreibt 498, sondern schwenkt auf die Pfade der Sprechakttheorie von Austin und Searle ein. Sie liest folglich die Reflexionsbewegung als Akt der Wiederholung, der unvorhersehbare Verschiebungen impliziert und damit eine Art ›produktiver Latenz‹ entbindet. 499 Jede performative Reproduktion der Ursprungsszene, in der das prä-subjektive Individuum die Unterwerfung alternativlos vollzogen hat, eröffnet die Chance, sich der Unterwerfung zu entwinden. Denn die Wiederholung ist »mehr […] als die Wiederholung der Unterordnungsbedingungen«500; sie verschiebt die Ausgangslage, die sie imitierend noch einmal erschaff t und im Nachspiel Schritt für Schritt so modifiziert, dass die Ursprungsszene allmählich ihre bestimmende Kraft verliert bzw. die in ihr entbundene Kraft an das nunmehr zum Subjekt gewordene Ich übergibt. Butlers Modell der Befreiung durch darstellerische Rekonstruktion von basaler Unfreiheit ist kühn. Es wirkt auf den ersten Blick wie eine theoretische Huldigung an die aktuelle ›Performationskunst‹ und provoziert natürlich den Einwand, dass hier nur eine illusorische Form der Emanzipation in Szene gesetzt, also der selbsterzeugte (Wider-)Schein von Freiheit fälschlich mit ›echter‹ Freiheit identifiziert wird. So hat z.B. Slavoj Žižek erhebliche Zweifel an Butlers Argumentationsweise geäußert und die performative Befreiung als Verleugnung einer nur zum Schein aufgehobenen Unterwerfung gedeutet.501 Dem lässt sich entgegenhalten, dass Butler keinen Entwurf eines der Handlungsfähigkeit in die Unterordnung ist kein Zeichen eines fatalen Selbstwiderspruches im Kern des Subjekts und damit auch kein weiterer Beweis für dessen schädlichen oder überholten Charakter« (ebd., S. 21f.). 497. Ebd., S. 12. 498. Vgl. hierzu die Deutung der Reflexionslogik als Analyse der Macht und der Begriffslogik als Analyse der Liebe bei Hinrich Fink-Eitel: Dialektik und Sozialethik, Meisenheim 1978 sowie bei Michael Theunissen: Sein und Schein, Frankfurt a.M. 1978. 499. Ich greife hier eine Formulierung auf, die Aleksander Marcic in einem anregenden Gespräch über Butlers Theorie benutzt hat. 500. J. Butler: Psyche der Macht, S. 33. 501. Vgl. S. Žižek: Die Tücke des Subjekts, S. 337ff.; siehe auch die pointierte Zusammenfassung von Žižeks Butler-Lektüre durch Erik M. Vogt: »Die leidenschaftliche Anbindung ist erstens eine Unterwerfung unter einen Anderen, und dann erfolgt die Verleugnung jener leidenschaftlichen Anbindung, so dass das Subjekt glaubt, es

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Emanzipations-Automatismus präsentiert, sondern das Modell einer psychischen Entwicklung, in deren Verlauf man sich vom überwältigenden Anderen lösen und eine paritätische Beziehung herstellen kann. Die Möglichkeit des Scheiterns gehört von vorn herein zu den konstitutiven Bedingungen dieser Entwicklung; das wird von Butler eigens herausgestellt. Entscheidend ist vielmehr, in welchem Maße sich die Konstellation von Gelingen und Scheitern verändert, wenn performative Akte explizit und intendiert mit der Ursprungsszene individueller Unterwerfung arbeiten und ein unmittelbares Theater der Nachträglichkeit zur Auff ührung bringen. Um das zu leisten, muss man jedoch von den traditionellen Konzepten der Sozialisation Abschied nehmen und die Vorstellung einer ›einfachen‹ Internalisierung sozialer Orientierungsmuster im Enkulturationsprozess preisgeben: »… social norms that work on the subject to produce its desires and restrict its operations […] are not simply imposed and internalized in a given form. Indeed, no norm can operate on a subject without the activation of fantasy and, more specifically, the phantasmatic attachment to ideals that are at once social and psychic. […] Norms are not only embodied, as Bourdieu has argued, but embodiment is itself a mode of interpretation, not always conscious, which subjects normativity itself to an iterable temporality. Norms are not static entities, but incorporated and interpreted features of existence that are sustained by the idealizations furnished by fantasy.«502

Damit vertritt Butler einen Standpunkt, der auch von der Theorie des ›flexiblen Normalismus‹ eingenommen wird. Die leidenschaftlichen Bindungen der Subjekte an Machkonstellationen, die ihnen Freiheiten gewähren, um ihnen die Freiheit zu entziehen, können im Zeitalter der Medien nicht länger auf die unmerkliche Verinnerlichung von Machtinstanzen und Normen zurückgeführt werden. Deshalb lässt sich die Befreiung von derartigen Prägekräften auch nicht als Kampf gegen verborgene Besatzungsmächte führen, die das eigene Innenleben im Griff haben. Erst nach dieser Abkehr vom Verinnerlichungsmodell werden Latenzen als performativ erzeugte Phänomene sichtbar, d.h. als mediale Figuren, die in Handlungszusammenhängen hergestellt und wieder dekonstruiert werden können. Substanzielle Freiheit erweist sich für Butler demnach nur im fantasievollen Umgang mit dem, was als Verborgenes vorgestellt und als Manifestes nachgestellt wird. Ganz unabhängig davon, ob diese Annahmen und Schlussfolgerungen wurde nicht unterworfen« (»Einleitung: Žižek – Denkeinsätze«, in: Ders./Hugh J. Silverman (Hg.), Über Žižek, Wien 2004, S. 7-26, hier: S. 19). 502. Judith Butler: »Competing Universalities«, in: Dies./E. Laclau/S. Žižek: Contingency, S. 136-181, hier: S. 151f. Vgl. auch Butlers Bemerkung: »Man ist zwar versucht zu sagen, die soziale Reglementierung werde schlicht verinnerlicht, von außen aufgenommen und in die Psyche hineingetragen, aber das Problem ist doch komplexer, und es ist in der Tat tückischer. Denn die Grenze zwischen Außen und Innen entsteht ja erst durch die Reglementierung des Subjekts« (Psyche der Macht, S. 66).

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als gehaltvoll oder gar überzeugend eingeschätzt werden, liefert Butlers Theorie wichtige Aufschlüsse über die Verlaufslogik von Latenzdiskursen, welche das Denkmodell der Tiefenanalyse dezidiert nicht preisgeben wollen und die schwerlich zu übersehenden Verflachungstendenzen im Kontext medialer Enthüllungspraktiken durch eine forcierte Suche nach verborgenen Wirkkräften beantworten. Solche Strategien der Radikalisierung des Forschens und Fahndens scheinen allerdings ins Unergründliche hinabzulenken und bloß Hegels abfälliges Diktum von der ›schlechten Unendlichkeit‹ zu ratifizieren. Denn wo sich verdächtige Spuren zeigen, wird unermüdlich Schicht um Schicht abgetragen und jeder leidlich signifi kante Befund gilt als Ansporn, noch weiter und energischer zu schürfen, um schließlich doch noch die eigentlichen Ursachen freizulegen und die wahren Verantwortlichen zu bestimmen. Unbeteiligte Beobachter müssen den Eindruck gewinnen, dass hier die Mitglieder einer Eliteschule des Verdachts503 ihren permanenten Unterricht erhalten, ohne je das vorgeschriebene Pensum abschließen und das Zeugnis der Reife erlangen zu können. Die herangezogenen Theorien einer tiefen Unterwerfung, die sich der Maske der Freiheit bedient, korrigieren jedoch diesen Eindruck. Sie demonstrieren nämlich, auf welche Weise die radikale Nachforschung an einen Wendepunkt gelangt und zwangsläufig ihre Richtung ändert. Judith Butlers Vorgehen ist dabei musterhaft. In noch weit stärkerem Maße als die zuvor diskutierten Modelle von Freud (nach Pfaller) und Bourdieu macht Butlers Text über die Psyche der Macht deutlich, dass die Erkundung ›tiefer‹ Latenzen dort zu einem quasi natürlichen Ende kommt, wo sie auf ›Kraftquellen‹ stößt, aus denen zugleich Übel und Heil, Gefahr und Rettung hervorgehen. Die Offenbarung einer verborgenen Dialektik – sei es der Libido (Freud), der körperlichen Dressur (Bourdieu) oder der leidenschaftlichen Verhaftung (Butler) – markiert daher einen Wendepunkt, an dem der ›Spaten sich zurückbiegt‹.504 Eine noch ›tiefere‹ Einsicht als diejenige, dass Unterwerfung und Befreiung sich letztlich der gleichen Grundenergie verdanken, ist kaum vorstellbar. Wer aber nicht nur den Schauer einer Grunderfahrung kennen lernen, sondern aus dieser Einsicht Nutzen ziehen will, muss sich ins Flachland des Nachdenkens und -forschens begeben. Und hier beginnt erneut das ernste Spiel des Abwägens kleiner Vorteile, welche diese oder jene kausale ggf. auch funktionale Erklärung bringt. Man wird daher zögern, auf jede unverdeckte Demonstration der Macht mit einer Ergründung der menschlichen Unterwerfungsbereitschaft zu antworten oder gar in der souveränen Direktheit nur den Hinweis auf eine bislang unerkannte ›ultratiefe‹ Verstellung zu sehen. Für die Relativierung der Leistungen radikaler Latenzkonzepte gibt es freilich noch weitere Anlässe. Neben den kritischen Reflexionen auf die immanente Sogwirkung der Idee, dass Bedeutung und Wert einer jeglichen Ent-

503. Vgl. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches (1886), Kritische Studienausgabe Bd. 2, München 1988, S. 13. 504. Vgl. zu dieser Metapher Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen (1953), Frankfurt a.M. 1967, S. 110 (§ 217).

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deckung verborgener Ursachen von der erreichten ›Tiefe‹ abhängen, erhalten auch aktuelle Berichte in den Medien eine gewisse Relevanz: So verliert die Aufdeckung ›tiefer‹ ökonomischer Latenzen ihren Informationswert, wenn die neoliberale Bewegung und die mit ihr verknüpften Prozesse forcierter Deregulierung der Finanzmärkte durch interne Krisen deutlich sichtbar ins Stocken geraten und zunehmend auf sozialen Widerstand stoßen. Überdies treten die politischen Latenzen geringer und mittlerer Tiefengrade wieder vermehrt in den Blick, sobald die rhetorische Offensive der souveränen Macht im Sicherheitsbereich merklich zurückgefahren wird oder in ein läppisches Geplänkel von Vorwürfen und Beteuerungen einmündet, das die notorischen Symptome bilateraler Heuchelei aufweist. Man betrachte z.B. nur jenes kleine demokratische Medienspektakel, das der Nachrichtensender CNN Anfang Juni 2009 seinen Zuschauern vorführte.505 Die Szene ist ebenso kurz wie sinnfällig: Wolf Blitzer konfrontiert im ›Situation Room‹ den White-House-Speaker mit einem Videoausschnitt, in dem Dick Cheney die Position des Präsidenten zur Folter als schlichtweg erlogen brandmarkt, weil so genannte ›special treatments‹ nach wie vor zu den Umgangsformen mit potenziellen Terroristen zählen würden, und Barack Obamas Sprecher bestreitet im Gegenzug den Wahrheitsgehalt dieser Aussage mit dem einfachen Hinweis, dass der Präsident doch die strikte Anweisung gegeben habe, solche Methoden künftig zu unterlassen. Der lakonische Satz »There are no more special treatments« aus dem Munde eines Mannes, zu dessen speziellen dienstlichen Obliegenheiten derartige Äußerungen gehören, verweist die Folter, die praktisch jeder abgehärtete Medienkonsument inzwischen für ein normales Vorkommnis auf dem Felde der Politik ansieht, noch einmal zurück in jene Arkanzonen, in denen sie seit ihrer offiziellen Abschaff ung angesiedelt war und nur gelegentlich wie ein Schreckgespenst zum Vorschein kam.506 Damit ist – wie es scheint – der status quo ante erreicht. Und der ambitionierte Latenzdiskurs, den die provozierende Offensichtlichkeit souveräner Staatsmacht in erhebliche Verlegenheit brachte, kann seine Entlarvungsgeschäfte wieder aufnehmen. Dennoch hat sich etwas geändert: nämlich die Wahrnehmung und Interpretation der erneut eingerichteten Arkanzonen. Die berüchtigten dunklen Orte, die einst zur Auf bewahrung der wohl gehüteten Geheimnisse dienten, sind mittlerweile ins mediale Zwielicht von Fakten und Fiktionen geraten. Das altbewährte Dunkel ist nicht mehr dunkel genug. Was wir über die Quellen der Macht nicht zu wissen meinen, das können wir uns mit Hilfe der Massenmedien umso fantasievoller und drastischer ausmalen, ohne den fatalen Anspruch auf Gewissheit erheben zu müssen. Wer gegen diesen flexiblen, vielleicht auch pragmatischen Umgang mit Latenz Einspruch erheben möchte, muss schon Poeten wie etwa Isaac Bas505. Den Hinweis und eine erste Einschätzung des Sachverhaltes verdanke ich Carsten Zorn. 506. Vgl. Edward Peters: Geschichte der Peinlichen Befragung (1985), Hamburg 1991; Gerhard Beestermöller/Hauke Brunkhorst (Hg.), Rückkehr der Folter, München 2006; L. Ellrich: »Folter als Modell« sowie »Was spricht für die Folter?«

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hevis Singer bemühen und sich durch ihre hermetische Hermeneutik des Gewöhnlichen eines Besseren belehren lassen: »Verborgene Mächte, die niemand erklären kann, gibt es überall.«507 Eine abgeklärte Latenz-Analyse hält hingegen energisch am Projekt des Erklärens fest und lässt sich auch durch Erklärungsnotstände nicht dazu verführen, bedenkenlos auf ›Tief‹-Gang zu setzen und die Wahrheit stets hinter Schleiern und Kulissen zu suchen.

507. Die Fundstelle des Zitats wird selbstverständlich geheim gehalten.

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6. Schwärme. Die latenten Autologiken der Selbst-Regierung 1 Carsten Zorn »Die Schwärme […] treten staatlichen Ordnungsprinzipien nicht mehr als politisch Unheimliches gegenüber. Sie scheinen diese zu transzendieren, indem sie in einer hochgradig vernetzten […] Gesellschaft schwarmhafte Prozesse der Selbstorganisation – oder mit Foucault: der Selbstregierung – als neue Möglichkeitsbedingungen installieren.«2 »Eine Einsicht, der seit Hertz ein […] interner Metaphern-shift in der Selbstbeschreibung der Mechanik entspricht […] von der Masse zur Welle: ein ›neu entstandenes Bild der elementaren Bewegungsvorgänge‹, sagt Hertz.«3 Auch wer das Feld nicht so genau beobachtet wie der Wiener Philosoph Sebastian Vehlken wird rasch den Eindruck bestätigt finden, dass es seit etwa fünfzehn Jahren zu einem wahren »Wildwuchs an Übertragungen des SchwarmBegriffs auf menschliche ›Kollektive‹« 4 gekommen ist. Das bedeutet offenbar, dass man seither meint, an den verschiedensten Stellen etwas Vergleichbares zu entdecken – und zwar etwas, das dann offensichtlich zuvor verborgen war, und das man nun sichtbar zu machen vermag; oder etwas ganz Neuartiges, 1. Ich danke Olga Lewicka und Lutz Ellrich für viele Gespräche und Anregun-

gen. 2. Sebastian Vehlken: »Schwärme. Zootechnologien«, in: Anne von der Heiden/ Joseph Vogl (Hg.), Politische Zoologie, Zürich, Berlin 2007, S. 235-257, hier S. 253. 3. Anselm Haverkamp: »Masse mal Beschleunigung. Rhetorik als Meta-Physik der Ästhetik«, in: Inge Münz-Koenen/Wolfgang Schäffner (Hg.), Masse und Medium. Verschiebungen in der Ordnung des Wissens und der Ort der Literatur 1800/2000, Berlin 2002, S. 65-77, hier S. 73. 4. S. Vehlken: Schwärme, S. 255.

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das ohne diesen Begriff gar nicht verständlich und beschreibbar wäre, und also unsichtbar bliebe. Bemerkenswert ist zudem die große Spannbreite der Felder, in denen der Schwarm-Begriff inzwischen zur Bezeichnung, Beobachtung und Untersuchung von ›menschlicher Kollektivität‹ dient. Sie legt nahe, dass das Entdeckte von geradezu universeller Bedeutung ist. So gehören zu diesen Feldern etwa neue globale politische Bewegungen ebenso wie globale Migrationsströme, und ›asymmetrische Konflikte‹ und neue ›Feindkollektive‹ genau so gut wie neue Protestformen, Internet-Communities, soziale Netzwerke oder die Strukturen des heutigen Medienpublikums und ganzer Bevölkerungsmehrheiten.5 Tatsächlich ist der Fall freilich nicht so klar und eindeutig. So dient die Verwendung des Schwarm-Begriffs natürlich nicht immer, und nicht allein der Identifizierung und Deskription von neuartigen Formen von ›Kollektivität‹ und sozialer Kooperation – sowie der Sichtbarmachung der aktuellen und der zu erwartenden Folgen für die gesellschaftlichen Strukturen und die politische Ordnung moderner Gesellschaft. Die Übertragung des SchwarmBegriffs auf ›menschliche Kollektive‹ erfüllt heute vielmehr eine Vielzahl manifester, und vielleicht noch mehr latenter Funktionen – auch und gerade innerhalb heutiger Prozesse des Verbergens und Sichtbarmachens von politischen und medialen Latenzen. Entsprechend wird es hier vor allem darauf ankommen, diese Funktionen zu entwirren – und zugleich ihre vielfältigen Überschneidungen und Überlagerungen, ihr ›Ineinandergreifen‹ sichtbar zu machen. Als aktuelle Hauptfunktionen werden sich im Laufe der Untersuchung dann auch Funktionen erweisen, die aus solchen ›Kopplung‹ heraus erst möglich werden: die latenten Funktionen, die Schwärme heute im Kontext eines neuen Machtdispositivs erfüllen – indem sie hier nun in all ihren ›Eigenschaften‹ zugleich produktiv werden: als Gegenstand sehr verschiedener Diskurse ebenso wie der naturwissenschaftlichen Forschung, und als Begriff ebenso wie als ›Modell‹, Figur, Symbol und Sinnbild (für ›kollektive Intelligenz‹, für Effizienz, für Kreativität und vieles mehr) (vgl. dazu die Abschnitte 6.6-6.9). Damit ist nun auch schon eine zentrale manifeste Funktion des SchwarmBegriffs angedeutet. Im Laufe von hundert Jahren natur- und lebenswissenschaftlicher Schwarm-Forschung6 hat das Bild der Schwärme vor allem auch 5. Alle genannten Beispiele werden hier im Weiteren noch näher zur Sprache kommen. 6. Für die Anfänge in Ethologie und Myrmekologie sowie die bis heute einflussreichen Arbeiten von William Morton Wheeler vgl. etwa Niels Werber: »Schwärme, soziale Insekten, Selbstbeschreibungen der Gesellschaft. Eine Ameisenfabel«, erscheint in: Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg.), Schwärme. Kollektive ohne Zentrum: Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, im Weiteren zit.n. Ms.; zu den Experimentalanordnungen der Schwarm-Forschung sehr instruktiv Sebastian Vehlken: »Angsthasen. Schwärme als Transformationsungestalten zwischen Tierpsychologie und Bewegungsphysik«, in: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung (ZMK), hg. v. Lorenz Engell u. Bernhard Siegert, Heft 0/2009; zur zentralen Bedeutung von Computersimulationen in der Schwarm-Forschung

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Konturen gewonnen, die es nun möglich machen, sie als ein »attraktives Modell für die Gesellschaft der Zukunft« 7 zu verstehen: In vielen Forschungsund Diskurskontexten werden Schwärme heute vor allem, wie auch Niels Werber an vielen Beispielen zeigt, als »Muster einer besseren Gesellschaft«8 verstanden. Und dies ist zudem auch den heute unmittelbar manifesten und gebräuchlichsten Bedeutungsgehalten des Schwarm-Begriffs im Grunde bereits eingeschrieben: Er bezeichnet demnach (und zunehmend selbstverständlich auch außerhalb der Wissenschaften) de-zentral und nicht-hierarchisch strukturierte, und insofern auch nicht geplant, sondern spontan – aber gerade darin und darum besonders ›kreativ‹ und ›intelligent‹ – agierende und sich koordinierende bzw. selbst-steuernde und selbst-synchronisierende Formen von Kollektivität und Kooperation.9 Im Hinblick auf viele zentrale Oppositionen des politischen Diskurses erscheinen Schwärme so dann also offensichtlich auch stets auf der als progressiv markierten Seite: Sie stehen für das unmittelbare Gegenteil von zentral gesteuerten, starren, autoritären und machtbewehrten Ordnungssystemen, von schwerfälliger Bürokratie und sozialer Ungleichheit. Ebenso offensichtlich vorbildlich erscheinen Schwärme zudem auch im Hinblick auf Effizienz (im Sinne eines günstigen Aufwand/Ertrag-Verhältnisses) – denn ihre vielfältigen komplexen Leistungen beruhen dem heutigen Forschungsverständnis nach »auf wenigen psychomechanisch implementierten lokalen Bewegungsverhaltensparametern.«10 So haben Computersimulationen für den Fall der Vogelschwärme etwa gezeigt, dass sich deren komplexe Flugfiguren und -manöver bereits ›naturgetreu‹ simulieren lassen, wenn die einzelnen ›Schwarmaktanten‹ nur sehr wenigen sehr einfachen Regeln folgen – wobei für den breiten Einfluss des Schwarm-Diskurses dann außerdem auch noch einmal vereinfachte populärwissenschaftliche Versionen des Ders.: Schwärme sowie die entsprechenden Beiträge in E. Horn/L. M. Gisi (Hg.), Schwärme. 7. So findet man sie bezeichnet im Ankündigungstext einer viertägigen Veranstaltung der Bundeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »Schwärme. Die Stadt ist mehr als die Summe ihrer Einwohner« im Essener Schauspielhaus. Dort erörterten im November 2007 Fachjournalisten, Künstler und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen (wie Stadtsoziologen, Migrationsforscher, Philosophen, Ethnologen und Wirtschaftswissenschaftler) Schwärme als ein ›Modell‹ für zukünftige klassen-, grenzen- und altersübergreifende Gemeinschaften; vgl. www.planb-kulturprojekte.de/Programme/Schwaerme_Programm.pdf vom 20. Juni 2009. 8. N. Werber: Schwärme, soziale Insekten (Ms. ohne Paginierung). 9. Verantwortlich für die Verbreitung dieses Verständnisses sind vor allem einige um das Jahr 2000 erschienene Publikationen, die die Ergebnisse der ethologischen, soziobiologischen und kybernetischen Schwarm-Forschung unter dem inzwischen populär gewordenen Begriff der ›Schwarm-Intelligenz‹ zusammen fassten, vgl. insbesondere Eric Bonabeau/Marco Dorigo/Guy Theraulaz: Swarm Intelligence: From Natural to Artificial Systems, New York, Oxford 1999 sowie James Kennedy/ Russel Eberhart: Swarm Intelligence, San Francisco 2001. 10. S. Vehlken: Angsthasen (Ms. ohne Paginierung).

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entsprechenden Regelkatalogs maßgeblich verantwortlich sind.11 Vor diesem Hintergrund wurden Schwärme im letzten Jahrzehnt allerdings auch, im Kontext neuerer Paradigmen und Gegenstände theoretischer Kultur- und Technikforschung (wie ›verteilte Systeme‹, ›verteilte Handlungsmacht‹, Netzwerke, Vielheiten, ›Multiagentensysteme‹ oder ›Selbst-Steuerung‹), zu einem immer häufiger gebrauchten heuristischen Modell.12 In der Konsequenz geht es vielen gesellschaftlichen ›Anwendungen‹ des Begriffs und Modells der Schwärme darum dann heute auch häufig weit weniger darum, an den ausgewählten Gegenstandsfeldern tatsächliche Entwicklungen als vielmehr Entwicklungspotentiale, also noch verborgene, noch unausgeschöpfte Möglichkeiten sichtbar zu machen: Es sollen vor allem Orte und Stellen in der ›gesellschaftlichen Realität‹ markiert und sichtbar gemacht werden, an denen eine Verwirklichung entsprechender Formen von ›Kollektivität‹ denkbar wäre bzw. an denen sie sich zumindest annähernd verwirklicht findet. An solchen Stellen wird im Weiteren nun aber zugleich auch deutlich werden, dass der aktuelle Diskurs über Schwärme im Kontext der Geschichte politischer und medialer Latenz nicht nur als die vielleicht jüngste Ausprägung moderner politischer Latenzbeobachtung von Interesse ist. Sein Verhältnis zu dieser Geschichte ist vor allem auch durch eine Mischung aus ebenso bemerkenswerten Kontinuitäten wie Diskontinuitäten gekennzeichnet. Zum einen also kehrt hier manches aus dieser Geschichte nun in veränderter, nicht unmittelbar wieder erkennbarer Weise wieder – wie die Figur der ›unsichtbaren Hand‹ (vgl. Abschnitt 6.9), das ›revolutionäre Subjekt‹ (vgl. Abschnitte 6.2 und 6.3) und die ›Masse‹ (vgl. Abschnitte 6.5 und 6.8). Und vor allem kehren latent immer wieder Architekturen des marxistischen Latenzdenkens wieder – Vorstellungen davon, wie das Latente aus dem Verborgenen heraus wirkt, und wie das politisch zunächst noch Latente allmählich zu offenen Manifestationen seiner Macht gelangen kann (vgl. die Abschnitte 6.1 und 6.2.). Zum Anderen unterscheidet der Schwarm-Diskurs sich aber auch sehr deutlich von seinen Vorläufern, und vor allem von seinen unmittelbaren Vorläufern im modernen Diskurs über verschiedene Vergemeinschaftungsformen der Bevölkerung (Volk, Klasse, Masse) und die verborgene Abhängigkeit aller modernen Politik von diesen. In der eben genannten Funktion und Eigenschaft – als neues ›Leitbild‹13 und ›Zukunftsmodell‹ – nähern sie sich 11. Wie diese etwa: »1. Schere aus, bevor eine Kollision mit einem anderen Vogel oder Objekt erfolgt. 2. Fliege ebenso schnell wie deine Nachbarn. 3. Versuche in das wahrgenommene Zentrum zu fliegen.« Birgit Niesing: »Gemeinsam schlau«, in: Fraunhofer Magazin, 2004, 3, S. 54-55, hier S. 54. 12. Die entsprechenden Verwendungen im wissenschaftlichen Kontext behandelt näher Ralf Adelmann: »Schwarm oder Masse? Selbststrukturierung der Medienrezeption«, in: Ders./Jan-Otmar Hesse/Judith Keilbach/Markus Stauff/Matthias Thiele (Hg.), Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medienund Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006, S. 283-303. 13. Vgl. Andreas Neef: »Leben im Schwarm. Ein neues Leitbild transformiert Gesellschaft und Märkte«, in: changeX. Das unabhängige Online-Magazin für Wan-

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zwar einigen dieser Vorgängerbegriffe (wie der ›Nation‹ und der ›revolutionären Klasse‹ etwa) offenbar wieder sehr nahe. In anderen Hinsichten aber unterscheiden sie sich vor allem von den Konzepten ›Volk‹, ›Nation‹ und ›Klasse‹ sehr deutlich. Mit den Schwärmen nämlich scheint es nun vor allem möglich, begrifflich adäquat auf die schwindende Bedeutung von gemeinsamen ›sozialen Lagen‹ oder kulturellen Gemeinsamkeiten für viele heutige Formen von Vergemeinschaftung zu reagieren – und also auch globale Bewegungen etwa in die begriffliche Reflexion einzubeziehen. Denn vor allem verspricht die Figur der Schwärme nun, die Konzentration auf personelle Eigenschaften zu überwinden, die ›feste Zugehörigkeiten‹ begründen können – und die Aufmerksamkeit stattdessen auf Mechanismen zu lenken, die ›Kollektivität‹ heute auch jenseits solcher traditionellen Voraussetzungen möglich erscheinen lassen.14 Womit Schwärme dann schließlich auch konkrete konzeptuelle Antworten auf eine prominente Frage der aktuellen politischen Philosophie versprechen – die Giorgio Agamben griffig in die Frage nach der ›kommenden Gemeinschaft‹ gefasst hat: »Wie muss man sich die Politik der beliebigen Singularität vorstellen, d.h. die Politik eines Seins, dessen Gemeinschaft weder durch Bedingungen der Zugehörigkeit (Roter, Italiener, Kommunist sein), noch durch die bloße Abwesenheit von Bedingungen […] vermittelt wird, sondern durch die Zugehörigkeit selber?« 15 Auch im Hinblick auf dieses Versprechen des Schwarmbegriffs – eine noch verborgene neue Politik sichtbar zu machen – wird hier allerdings zu fragen sein, ob es heute nicht auch latent noch ganz andere politische Funktionen erfüllt.

6.1 Tiefste Latenz : Die gesellschaf tlichen Rahmenbedingungen demokratischer Politik als ihre eigentlichen Grundlagen »Die moderne Staatsgewalt«, heißt es im Kommunistischen Manifest, »ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet.« 16 Will man sich die besondere Stellung der SchwarmFigur in der Geschichte medialer und politischer Latenz erschließen, so hat man damit zu beginnen, dass mit ihr nun auch jene moderne Architektur politischer Latenzbeobachtung wieder virulent wird, die sich hier zum ersten del in Wirtschaft und Gesellschaft, erschienen am 23.1.2003; vgl. www.changex. de/d_a00924.html vom 20. Juni 2009. 14. Dem Selbstverständnis der Protagonisten des Schwarm-Diskurses zu Folge geht es vor allem um eine Verlagerung des Untersuchungsfokus: »away from the inner mechanisms of the individual […] – and out into the connection between people.« J. Kennedy/R. Eberhart: Swarm Intelligence, S. 419. 15. Giorgio Agamben: Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, S. 78. 16. Karl Marx/Friedrich Engels: »Manifest der Kommunistischen Partei«, in: Dies., Werke, Bd. 4, Berlin 1972, S. 459-493, hier S. 464 [Im Folgenden zitiert als MEW].

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Mal idealtypisch ausgeprägt findet. Die mit dem Klassenbegriff begonnene Form moderner politischer Analyse findet im Diskurs über Schwärme nun also eine aktuelle Fortführung: Er ist zunächst einmal die Fortsetzung der Klassenanalyse mit anderen Mitteln, unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen – und unter Beimischung von ein wenig anarchistischer Revolutionstheorie17. Um dies verdeutlichen zu können, sind zunächst zwei moderne Ansatzpunkte für die Beobachtung von Latenzen des Politischen zu unterscheiden. Im Anschluss an das klassisch-alteuropäische Verständnis von Politik – es gibt hier eine ›Spitze‹, ein ›Zentrum‹, die Stadt, die Agora, den Staat oder das ›politische System‹; und jedenfalls genügt es, diese »Spitze zu beobachten bzw. zu beeinflussen, weil man […] davon ausgehen kann, dass sie sich durchzusetzen vermag« 18 – lag und liegt auch in der Moderne noch die Ausprägung einer Reihe von Formen der Latenzbeobachtung nahe, die sich weiterhin auf die Politik selbst kaprizieren: Es kommt zur Fortführung eines Verdachts, der die verborgenen Grundlagen politischer Macht und gesellschaftlicher Ordnung weiterhin unmittelbar hinter den Kulissen dieses vermeintlichen gesellschaftlichen Zentrums selbst vermutet (vgl. dazu im Einzelnen Kap. 5). Eine deutlich anders gelagerte Traditionslinie moderner Latenzbeobachtung des Politischen kommt in den Blick, wenn man die Geschichte moderner Disziplinen wie der Soziologie, der Kulturwissenschaften und der Medienwissenschaften fokussiert, für sich betrachtet, und hier nach Gemeinsamkeiten fragt. Denn hier war und wurde stattdessen – sozusagen von vorn herein – eine deutliche »Herabsetzung des politischen Souveräns«19 in der Moderne vorausgesetzt. Die später breit konstatierte Entwertung und Entmachtung aller klassischen Agenturen und Institutionen politischer Macht in der modernen Gesellschaft (vgl. auch dazu noch einmal Kap. 5., insbesondere Abschnitt 5.2) bildet hier also schon früh eine weithin selbstverständliche Denkvoraussetzung. Mehr noch: Staat und Gesellschaft haben hier gewissermaßen unmittelbar die Plätze getauscht – was die Rolle des ›weicheren‹ und des ›härteren‹ Faktors, der abhängigen und der unabhängigen Variable, und damit letztlich auch: was die Zuschreibung von ›Souveränität‹ angeht. Im Anschluss an Niklas Luhmanns Theorie gesagt, in der diese Perspektive auf Staat und Politik schließlich gipfelte: Selbst wenn Staat und demokratische 17. Vgl. dazu: »Das Ziel der anarchistischen Zerstörungsarbeit scheint in dem rätselhaften Wort ›Anamorphismus‹ auf: Nur wenn die alte Ordnung ganz in formlose Elementarteilchen aufgelöst ist, wäre die destruktive Beginnphase der Revolution vorüber.« Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt a.M. 2006, S. 192. Dann kann »die Bildung vollkommen neuer Formen aus diesem Anamorphismus« beginnen, wie es bei Bakunin heißt; Michail Bakunin: »Die Prinzipien der Revolution«, in: Ders. Staatlichkeit und Anarchie, übers. v. Alexandra Petrow, Frankfurt a.M., Berlin, Wien 1972, S. 100-105, hier S. 101-102. 18. Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 312. 19. Michel Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II. Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. 2004, S. 389.

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Politik auch noch weiterhin, und gelegentlich entscheidend, an der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse mitwirken mögen, darin wie sie dies tun können, werden sie unter modernen Bedingungen zusehends abhängig von komplexen Entwicklungen und Umweltbedingungen, die ihrem Einfluss entzogen sind – oder sich von ihnen doch jedenfalls unmöglich alle umfassend ›steuern‹ lassen: von den Resultaten des autonomen Prozessierens der modernen Funktionssysteme und zahlloser sich damit nun unablässig ändernder sozialer, kultureller, ökonomischer und medialer Voraussetzungen. Vor und jenseits von Luhmann hat sich in diesem Zusammenhang nun aber vor allem auch eine bestimmte kontinuierliche Form politischer Latenzbeobachtung herausgebildet. Vor allem nämlich konzentrierte man sich hier nun immer wieder auf die Beobachtung solcher Hintergrundstrukturen und -faktoren, die den ›eigentlichen Souverän‹ moderner Demokratie zu prägen, zu strukturieren und umzuformen vermögen: den ›Demos‹, das ›politische Publikum‹, die ›Bevölkerung‹. Denn hiervon schienen in modernen Demokratien nun schließlich alle entscheidenden politischen Konfliktlinien und das gesamte politische Geschehen abzuhängen: von den veränderlichen Strukturen, Formen und Gestalten des neuen Souveräns, von dem die Politik nun ihre ›Macht auf Zeit‹ erhält. Und die alle moderne Politik eigentlich bestimmenden und beherrschenden Voraussetzungen schien man darum nun auch in jenen Umständen und (ökonomischen, kulturellen, medialen) Faktoren suchen zu müssen, die diese ›Form‹ im Hintergrund je aktuell definieren oder entscheidend zu verändern vermögen: indem sie große Teile der Bevölkerung in die selbe ›soziale Lage‹ zwingen, indem sie neuen ›Interessengruppen‹ zum Aufstieg verhelfen oder die Struktur und ›Zusammensetzung‹ der Bevölkerung in anderer Weise maßgeblich prägen oder verändern – und so zur Politisierung oder Entpolitisierung, zur Solidarisierung oder Fragmentierung des politischen Publikums beitragen. Es genügt, an die klassischen bzw. die einschlägigen neueren Positionen und Theorieentwicklungen in diesem Kontext zu erinnern, um dies zu verdeutlichen. Außerdem wird sich im Anschluss dann auch die Position des Schwarm-Diskurses innerhalb der Geschichte dieser Form politischer Latenzbeobachtung genauer bestimmen lassen – in dem es nun jedenfalls auch wieder genau darum geht: Neuere kulturelle und ökonomische, vor allem aber mediale Voraussetzungen sollen eine Neustrukturierung und -konstituierung der Bevölkerung nach dem Vorbild der Schwärme wahrscheinlich oder sogar zwingend erscheinen lassen – und auf diesem Umweg dann auch für die Politik und das Politische folgenreich werden. (1) Klassisch sind hier natürlich zunächst alle Versuche der Soziologie, die moderne Bevölkerung als eine zu verstehen und beschreiben, die weiterhin vor allem in hierarchisch geordnete (nur eben nun in neuartige, und auf neuartige Weise produzierte und reproduzierte) Schichten oder Klassen unterteilt ist. Wobei sich die spezifisch moderne Schichtungs- und Klassenstruktur dann in der Regel als Neben- oder Haupteffekt der Funktionsweise moderner Ökonomie ergeben soll; und daraus wiederum dann sogleich auch die Abhängigkeit aller modernen Politik von der Ökonomie: 345

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In Wahrheit sind Staat und Politik – wie idealtypisch in der bei Marx ausgeprägten Position – bloße ›Werkzeuge‹ und ›Handlanger‹ der nun herrschenden Klasse, der ›Kapitaleigner‹, und damit der Ökonomie. Alternativ kann die Produktion und Reproduktion von modernen Klassenstrukturen aber dann beispielsweise auch noch als ›Transmissionsriemen‹ verstanden werden, der ganz anderen sozialen und kulturellen Feldern im Verborgenen einen unmittelbaren Einfluss auf die moderne Politik sichert: der familiären Sozialisation und dem Bildungssystem etwa – wie bei Pierre Bourdieu20. (2) Ein zweites zentrales Beispiel in diesem Kontext bildet der ebenfalls noch bis heute einflussreiche Begriff der ›Masse‹: Ein ganzes Bündel ganz heterogener (kultureller, ökonomischer und medialer) Faktoren soll demnach darin gipfeln, und die Voraussetzungen moderner Politik dadurch entscheidend verändern, dass das moderne Publikum nun – wie vor allem seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts inflationär diagnostiziert – vornehmlich in Gestalt von ›Massen‹ auftritt. Und also auch der Politik nun vor allem in dieser Form gegenüber tritt. Wobei einen Kernbestand dieser Diagnose die Vorstellung bildet, dass das Verhalten von ›Massen‹ zwar kaum noch an die Schichtzugehörigkeit der Beteiligten gebunden ist und es sich insofern auch rasch ändern kann – es aber gleichwohl höchst uniform und berechenbar ist. Denn letztlich folgt es demnach ganz den vom Spektakulären bestimmten Rhythmen und wechselnden Aufmerksamkeiten der ›Massenmedien‹. Weshalb dann am Ende auch die Politik im Verborgenen ganz von diesen abhängig zu werden scheint.21 (3) Trotz der Fortwirkung dieser beiden Varianten werden die Diskussionen und Theorie-Revisionen in diesem Feld aber inzwischen (und schon seit Mitte der 1980er Jahren zusehends) von der geradezu entgegen gesetzten Tendenz beherrscht: von der Beobachtung eines Trends zu fortgesetzter – ökonomisch ebenso wie kulturell und medial bedingter – ›Individualisierung‹ und ›Diversifizierung‹ der Bevölkerung, der auf eine vollständige ›Fragmentierung‹ und ›Atomisierung‹ des politischen Publikums hinaus zu laufen scheint.22 Entsprechend scheint dann auch nur noch die Suche nach neuartigen ›kleinteiligeren‹ Formen der Strukturbildung übrig 20. Vgl. etwa Pierre Bourdieu: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M. 1982. 21. Vgl. dazu näher auch die Abschnitte 2.3 und 5.2 in diesem Band, für eine

detaillierte Darstellung des Massendiskurses etwa Stephan Günzel: »Der Begriff der ›Masse‹ in Philosophie und Kulturtheorie (I-III)«, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2004, 1, S. 117-135 sowie 2005, 1, S. 123-140 und 2005, 2, S. 113130. 22. Einflussreich war hier zunächst die ›Individualisierungsthese‹ bei Ulrich Beck: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. 1986, S. 121-248. Vgl. für eine entsprechende empirische Studie etwa Christina Holtz-Bacha/Wolfram Peiser: »Verlieren die Massenmedien ihre Integrationsfunktion? Eine empirische Analyse zu den Folgen der Fragmentierung des Medienpublikums«, in: Uwe Hasebrink/Patrick Rössler (Hg.), Publikumsbindungen. Medienrezeption zwischen Individualisierung und Integration. München 1999, S. 41-53. Zu einem aktu-

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zu bleiben, die vielleicht dennoch weiterhin möglich sind bzw. nun erst möglich werden (wie die Ausdifferenzierung vielfach gestufter und kontingenter, aber zumindest zeitweise relativ homogener ›Milieus‹ etwa 23). Und ein nahe liegender Schluss im Hinblick auf heutige demokratische Politik wäre dann offenbar, dass sie zusehends zur Wahl zwischen zwei Alternativen gezwungen wird: Entweder reagiert sie bloß vordergründig auf das ungekannt vielstimmige und veränderliche Publikum, und ringt zugleich kontinuierlich, aber nun eher im Verborgenen um ›die richtigen Lösungen‹ – in der Hoff nung, dass ihr die gelegentliche Präsentation von ›echten Erfolgen‹ dann die nötige Zustimmung sichern wird. Oder sie macht sich unmittelbar abhängig von ständig neuen Umfragen etwa, passt fortlaufend ihren ›Kurs‹ an, und reformiert unablässig ihre Programmatiken. Der Schwarm-Diskurs aber setzt dem nun einen ganz anderen Verdacht entgegen – der unmittelbar an marxistisches (vermengt mit anarchistischem) Gedankengut erinnert: Mindestens ebenso wahrscheinlich sei, dass die neuen Medien in der ›atomisierten‹ Bevölkerung Fähigkeiten zur Selbststeuerung sozusagen freisetzen und ihr ganz neuartige Formen der Selbst-Regierung einprägen, die letztlich alle staatliche Planung und Organisation, alle herkömmliche Politik unnötig, und ein ›Absterben des Staates‹ wieder denkbar machen: »Der Ameisenhaufen löst den Leviathan als ›starkes Bild‹ der Selbstbeschreibung der Gesellschaft ab.«24 Der Verweis auf ›gesellschaftliche Selbstbeschreibung‹ ist hier auch tatsächlich nicht verfehlt: Die drei genannten Beispiele moderner Latenzbeobachtung erinnern nicht zuletzt auch daran, dass all diese ursprünglich einmal ausschließlich theoretisch-wissenschaftlichen Perspektiven längst zu einem selbstverständlichen Wissensbestand und integralen Bestandteil der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaft geworden sind.25 Und dies wird im Weiteren noch von besonderer Bedeutung sein, weil man deshalb offenbar erwarten muss, dass (so wie zuvor auch schon die Begriffe der ›Klasse‹ und der ›Masse‹) auch die Figur und das Modell der Schwärme sowie entsprechende Latenzbeobachtungen weit über den wissenschaftlichen Diskurs hinaus einflussreich sind. Vor allem aber zeigt die chronologische Anordnung der Beispiele, dass alle entsprechend angeleiteten Latenzbeobachtungen und gesellschaftlichen ellen Überblick über die Diskussion Michael Jäckel/Manfred Mai (Hg.), Medienmacht und Gesellschaft. Zum Wandel öffentlicher Kommunikation. Frankfurt a.M. 2008. 23. Einschlägig hier Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart (1992), Frankfurt a.M., New York 2005. 24. N. Werber: Schwärme, soziale Insekten (Ms. ohne Paginierung). 25. Weshalb dann auch spätestens seit den 1970er Jahren gilt: »Die Soziologie wurde zu einer Wissenschaft der Gesellschaft, auf die die Gesellschaft vorbereitet war. […] Seither haben wir es mit einer veralltäglichten Soziologie zu tun, die aus keiner Gesellschaft dieses reflexiven Typs mehr wegzudenken ist«, Dirk Baecker: Wozu Soziologie? Berlin 2004, S. 9-10.

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Selbstverständigungsprozesse heute zusehends auf eine Problem- und Fragestellung zulaufen, die die Schwarm-Figur in eine zentrale Position rückt – denn sie scheint hier nun neuartige Antworten zu versprechen. Im Anschluss an die von Lutz Ellrich (in Kapitel 5.1.) eingeführte Unterscheidung von ›tiefen‹ und ›flachen‹ Latenzen formuliert: Verweisen die jüngsten Entwicklungen nur auf eine weitere, relativ oberflächliche und unbedeutende Verschiebung der Rahmenbedingungen demokratischer Politik? Oder verbirgt sich hier eine grundlegende Änderung der ›elementaren Bewegungsvorgänge‹ des Politischen? Und wie wäre diese dann zu bewerten und einzuschätzen? Was hätte man dann von diesen neuen elementaren Bewegungsgesetzen zu erwarten? Die zugrunde liegende Diagnose selbst jedenfalls steht heute ja beispielsweise auch im Zentrum vieler Analysen, die sich auf die Veränderung ökonomischer Rahmenbedingungen konzentrieren – in Theorien zum »späten« oder »neuen« Kapitalismus also.26 Dass neuere »tiefgreifende Veränderungen des Systems der ökonomischen Produktion auch die traditionellen Sozialstrukturen«27 erodieren lassen, ist – wie dieses Zitat aus einem eher ökonomiefernen Zusammenhang zeigt – mindestens so weithin anerkannt wie die Gründung aller heutigen Individualisierungs-, Fragmentierungs- und Atomisierungsthesen auf die Beobachtung medialer Entwicklungen. Entsprechend ist die besondere Bedeutung der Schwarm-Figur zunächst darin zu sehen, dass sie den skizzierten Verdacht ›tiefer Latenz‹ heute in besonderer Weise nährt, und dass sie sich zugleich als ein Instrument anbietet, das auch die politischen Folgen dann zuverlässig zu beschreiben, einzuschätzen und zu bewerten verspricht – genau so also wie ›zu ihren Zeiten‹ auch schon die Begriffe der ›Klasse‹ und der ›Masse‹. Und den Erfahrungen mit der Geschichte dieser Begriffe entsprechend wird darum im Weiteren nun auch vor allem kritisch nachzufragen sein: (1) Welches ›neue Bild des Politischen‹ zeichnet sich unter dem Einfluss der Schwärme genau ab? (2) Auf welche Einschätzungen und Bewertungen der neuen ›elementaren Bewegungsvorgänge‹ drängt diese Figur, dieses Beschreibungsmodell heute bereits deutlich sichtbar hin? (3) Ist es nicht vielleicht vielmehr der zunehmend breite Gebrauch der Schwarm-Figur selbst, der inzwischen latent zu einer ›Neubegründung des Politischen‹ beiträgt?28 (4) Wird also auch diese Figur

26. Vgl. etwa Richard Sennett: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, München 2000. 27. Rosi Braidotti: Nomadic Subjects: Embodiment and Sexual Difference in Contemporary Feminist Theory, Columbia 1994, S. 5. 28. Im Sinne einer self-fulfilling prophecy also: in dem Sinne, dass Schwarm-Modell und -Figur für einen bestimmten Eindruck der weiteren Entwicklung sorgen, auf den sich immer mehr Systemstrukturen einstellen. Schließlich lässt sich, wie schon angedeutet, in der Moderne zunehmend beobachten, dass »sozialwissenschaftliche Konzepte in sozialen Feldern aufgenommen und dort in die Wissensordnung und die Diskursordnung strategisch eingebracht werden«, Rainer Diaz-Bone: »Gibt es eine qualitative Netzwerkanalyse? (Review Essay)«, in: Forum Qualitative Sozial-

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vielleicht überhaupt erst produktiv und instruktiv, wenn man mit ihr und ihrer Vieldeutigkeit sowie deren Wirkungsgeschichte kritisch umgeht? Im Anschluss an die Untersuchung der beiden ersten Fragen (Abschnitte 6.2 und 6.3) wird es also, zum Einen, darum gehen, den Schwarm-Diskurs mit der Metaphorizität seiner Zentral-Figur zu konfrontieren – und mit den latenten Folgen dieser Metaphorizität. Und zum Anderen sollen die Beobachtungen medialer und politischer Latenz mit Hilfe der Schwärme mit der diskurstheoretischen Gegenthese sozusagen konfrontiert werden – wonach Medien stets erst durch medienbezogene Diskurse zu gesellschaftlichen und politischen Ereignissen werden, und sie auch erst durch solche Diskurse dann ihr letztlich maßgebliches Gepräge und ihre letztlich maßgebliche Position und Funktion in Politik und Gesellschaft erhalten. Vor allem nämlich hat sich auch immer wieder gezeigt, dass diese performativen Effekte von Mediendiskursen weit entfernt liegen können vom eigentlich Erwarteten, Erhoff ten und Beabsichtigten.29

6.2 Mediale Latenz und die kommende ›Mehrheitsform‹ Zu Beginn soll ein Ausschnitt des aktuellen Schwarm-Diskurses näher behandelt werden, der bereits andeutet, wie die ›lokalen Relationen‹, auf deren Basis das Schwarm-Modell ›intelligente Selbst-Steuerung‹ verspricht, sich bei seiner Übertragung auf ›menschliche Kollektive‹ nun umstandslos umgeschrieben finden in die ›lokalen Relationen‹ medialer Interaktion, und so letztlich: in eine Theorie des Internet und neuer Medialität als Basis quasi automatischer Selbst-Organisation der Bevölkerung und Ausgangpunkt revolutionärer Formen der Selbst-Regierung. Zentral ist hier aber zunächst noch ein anderer Aspekt. Denn es handelt sich zugleich um denjenigen Ausschnitt des Schwarm-Diskurses, an dem sich am besten sichtbar machen lässt, wie sehr dieser latent von Figuren und Architekturen des marxistischen Latenzdenkens geprägt und gesteuert ist. So wie es der fortschreitenden Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft nach Marx bestimmt war, nicht nur eine neue Klasse hervor zu bringen, sondern auch immer sicherer – gemeinsam mit dieser – eine neue Form des Gesellschaftlichen und Politischen ›aus sich hervor zu treiben‹ (die also in ihr noch verborgen, aber bereits angelegt war), so soll es der aktuell rasch fortschreitenden medialen Entwicklung demnach nun nämlich bestimmt sein, nicht nur ganz neue Formen von Sozialität und ›Kollektivität‹ hervorforschung, 8 (1), 2007, Art. 28; vgl. www.qualitative-research.net vom 1. Juli 2009 (ohne Paginierung). 29. Vgl. zur Bewährung des skizzierten mediendiskurstheoretischen Ansatzes etwa die Studien zur Geschichte medienbezogener Diskurse (unter anderem zum Buchdruck, zum Telefon, zu Film, Radio und Fernsehen) in Albert Kümmel/Leander Scholz/Eckhard Schumacher (Hg.), Einführung in die Geschichte der Medien, München 2004.

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zubringen, sondern vor allem auch eine neue ›Mehrheitsform‹, oder sogar: dem ›Demos‹ insgesamt eine neue Form ein- und aufzuprägen – um auf diese Weise dann schließlich auch die Rahmen- und Hintergrundbedingungen aller Politik und alles Politischen grundlegend zu verändern. Außerdem wird in diesem ›Diskurs-Ausschnitt‹ davon ausgegangen, dass der unaufhaltsame Aufstieg dieser ›kommenden Sozialität‹ sich – wie bei Marx der des Proletariats – unmittelbar aus der Analyse bestimmter ›basaler Entwicklungen‹ ableiten lässt.30 Nur nun eben aus einer entsprechenden Analyse der neuen Medien und ihrer verschiedenen ›Entwicklungsstufen‹, und nicht mehr aus denen kapitalistischer Ökonomie.31 In diesem Sinne diagnostizierte etwa der ›Trendforscher‹ Andreas Neef im Jahr 2003: »Das Netzwerk als Leitbild, aber auch als reale sozio-technische Infrastruktur hat unsere Denkweisen und gesellschaftlichen Organisationsformen in den vergangenen beiden Jahrzehnten radikal verändert. […] Mit der Ablösung des PCs als zentrale Access-Technologie durch mobile Breitband-Netze, Wearables und ubiquitäres Computing in der kommenden Dekade wandelt sich auch der Charakter der Netzwerke – und setzt eine neue Innovationsdynamik in Gang. Im Zentrum dieser neu aufkommenden Bewegung steht das Bild des Schwarms als Metapher, technisches Paradigma und soziales Organisationsprinzip. […] Die Besonderheit des Schwarms liegt in seiner Fähigkeit, sich sehr schnell zu formieren und ohne vorherige Planung flexibel und koordiniert zu handeln. […] Das Geheimnis hinter der Schwarm-Intelligenz heißt kollektive Selbstorganisation. […] Mittels neuer, mobiler und ubiquitärer Technologie wird es möglich, selbst mit einer großen Gruppe von Unbekannten gemeinsam und koordiniert zu handeln. […] Evident ist ein sich langfristig vollziehender Transformationsprozess in der gesellschaftlichen Tiefenstruktur durch die zunehmende Allgegenwart mobiler Netzwerktechnologien. […] Social Swarming […] verschiebt die Machtverhältnisse hin zu den Bürgern. Viele der heute noch zentralistisch organisierten gesellschaftlichen Funktionen werden […] obsolet.«32

30. »Das Proletariat macht verschiedene Entwicklungsstufen durch.« F. Engels/ K. Marx: Manifest, S. 470. Und diese werden von den Autoren dann unmittelbar aus den ›Stufen der kapitalistischen Entwicklung‹ abgeleitet. 31. Wobei allerdings auch der Aufstieg des Proletariats schon nicht zuletzt auch durch Medien befördert werden sollte, und diese auch das Proletariat zudem im Grunde schon zum ›intelligenten Schwärmen‹ befähigen sollten: »[Die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter] wird befördert durch die wachsenden Kommunikationsmittel, die von der großen Industrie erzeugt werden und die Arbeiter der verschiedenen Lokalitäten miteinander in Verbindung setzen. Es bedarf […] bloß der Verbindung, um die vielen Lokalkämpfe von überall gleichem Charakter zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf zu zentralisieren. […] Und die Vereinigung, zu der die Bürger des Mittelalters mit ihren Vizinalwegen Jahrhunderte bedurften, bringen die modernen Proletarier mit den Eisenbahnen in wenigen Jahren zustande.« Ebd., S. 471. 32. A. Neef: Leben im Schwarm (ohne Paginierung).

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Die im Kontext dieses wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Diskurses allgemein geteilte Unterstellung, dass die beschriebenen Entwicklungen mindestens die Mehrheit der Bevölkerung involvieren werden, fi ndet sich unter anderem auch noch einmal ausdrücklich ausgesprochen im Titel des zehnten ›Deutschen Trendtags‹ (2005): »Schwarm-Intelligenz. Die Macht der smarten Mehrheit«.33 Der Einfluss und der Grad der Verbreitung dieser Position wird aber vor allem auch daran deutlich, dass man beide für sie wesentlichen Punkte auch in einem der zentralen Referenztexte des Diskurses zu ›Netzwerken‹ wieder findet: in Manuel Castells Netzwerkgesellschaft. Auch hier wird die Tendenz zu einer neuen ›Mehrheitssozialität‹, ja einer neuen ubiquitären Sozialitätsform als das zentrale, in den neuen Medien verborgene politische Potential verstanden: »Es lässt sich als historische Tendenz festhalten, dass die herrschenden Funktionen und Prozesse im Informationszeitalter zunehmend in Netzwerken organisiert sind. Netzwerke bilden die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaften, und die Verbreitung der Vernetzungslogik verändert die Funktionsweise und die Ergebnisse von Prozessen der Produktion, Erfahrung, Macht und Kultur wesentlich. Zwar hat es Netzwerke als Form sozialer Organisation auch zu anderen Zeiten […] gegeben, aber das neue informationstechnologische Paradigma schafft die materielle Basis dafür, dass diese Form auf die gesamte gesellschaftliche Struktur ausgreift und sie durchdringt.«34

Offenbar könnte man auch sagen, wie beide längeren Zitate zeigen: ›Schwärme‹ und ›Netzwerke‹ »verbinden […] in einer einzigen Figur die Deformation klassischer politischer Ordnungen und die Formation anderer Ordnungen«35 – genau so also wiederum, wie es in Marx’ Theorieanlage die Figur des ›Proletariats‹ leisten sollte. Und genau so wie Marx dessen Aufstieg als die eigentliche, in ihr verborgene historische Tendenz der kapitalistischen Gesellschaft zu erweisen versuchte,36 verstehen sich nun eben auch Netzwerk-Forschung und Schwarm-Diskurs in weiten Teilen als Ansätze, die die eigentliche, in der neuesten Medialität verborgene historische Tendenz aufzudecken vermögen. Ein dem heutigen Schwarm-Diskurs noch näher kommendes Vorbild, gewissermaßen die unmittelbare Blaupause für diese Form der Beobachtung von politischen Latenzen des Medialen findet man nun allerdings in der Geschichte des Mediendiskurses selbst. Hans Magnus Enzensberger schrieb schon 1970 in seinem Baukasten zu einer Theorie der Medien:

33. Vgl. näher dazu die Website des Veranstalters: www.trendbuero.de vom 20.06.2009. 34. Manuel Castells: Das Informationszeitalter I. Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft, Opladen 2001, S. 527. 35. S. Vehlken: Schwärme, S. 236. 36. »Die Kollisionen der alten Gesellschaft […] fördern mannigfach den Entwicklungsgang des Proletariats.« F. Engels/K. Marx: Manifest, S. 471.

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»Das offenbare Geheimnis der elektronischen Medien, das entscheidende politische Moment, das bis heute unterdrückt oder verstümmelt auf seine Stunde wartet, ist ihre mobilisierende Kraft.//Wenn ich mobilisieren sage, so meine ich mobilisieren. In einem Land, das den Faschismus (und den Stalinismus) am eigenen Leib erfahren hat, ist es vielleicht […] nötig zu erklären, was das heißt, nämlich, die Menschen beweglicher machen als sie sind. Frei wie Tänzer, geistesgegenwärtig wie Fußballspieler, überraschend wie Guerilleros. Wer die Massen nur als Objekt der Politik betrachtet, kann sie nicht mobilisieren. Er will sie herumschicken. Ein Paket ist nicht beweglich, es wird nur hin- und hergestoßen.«37

Vor dem Hintergrund dieses Vorläufers lassen sich die Konturen der Politikund Gesellschaftsdiagnostik im Schwarm-Diskurs nun noch genauer herausarbeiten. So fallen an Enzensbergers Text sogleich drei Dinge ins Auge: (1) Geistesgegenwart, Reaktionsschnelligkeit, Wendigkeit (wie Tänzer, Fußballer, Guerrilleros) – mit ebenso überraschenden wie unberechenbaren Effekten für ihre Umwelt; und insofern nicht zuletzt auch für Staat und Politik – bilden nun auch wieder die zentralen Versprechen der ›SchwarmIntelligenz‹: das, was auch dieser Begriff am heutigen Medienpublikum nun wieder sichtbar machen soll. (2) Anders als im Schwarm-Diskurs gibt es hier noch eine unmittelbare Referenz auf die Marxsche Theorieanlage, ja es handelt sich um einen geradezu Punkt für Punkt in Medientheorie übersetzten Marx: Enzensberger setzt zunächst ›Medien‹ an die Stelle, die bei Marx die gesellschaftlichen ›Produktionsmittel‹ einnahmen – und dann ›die Massen‹ an die Stelle des ›Proletariats‹. Und so wie nach Marx eines Tages die Produktionsmittel, so sollen nach Enzensberger nun, 1970, die Medien ›reif‹ sein für ihre Übernahme – durch (in diesem Fall) ›die Massen‹. Das eigentliche politisch-historische Potential der Medien also sollte nun bald auch nicht mehr länger ›in die Fesseln‹ überlebter ›Produktionsverhältnisse‹ gelegt sein – und auf diese Weise der Nutzung durch diejenigen vorenthalten werden, die es erst wahrhaft auszuschöpfen und zu nutzen verstehen. ›Die Massen‹ sollten sich die medialen Produktivkräfte nun vielmehr endlich selbst aneignen, und in einen ›nicht mehr entfremdeten‹ Gebrauch nehmen können – einen politischen und gesellschaftlichen Gebrauch im unmittelbaren Interesse ihrer Bedürfnisse: »Zum ersten Mal in der Geschichte machen die Medien die massenhafte Teilnahme an einem gesellschaftlichen und vergesellschafteten produktiven Prozess möglich, dessen praktische Mittel sich in der Hand der Massen selbst befinden. Ein solcher Gebrauch brächte die Kommunikationsmedien, die diesen Namen bisher zu Unrecht tragen, zu sich selbst. In ihrer heutigen Gestalt dienen Apparate 37. Hans Magnus Enzensberger: »Baukasten zu einer Theorie der Medien«, in: Claus Pias/Joseph Vogl/Lorenz Engell/Oliver Fahle/Britta Neitzel (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 264-278, hier S. 265.

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wie das Fernsehen oder der Film nämlich nicht der Kommunikation, sondern ihrer Verhinderung. Sie lassen keine Wechselwirkung zwischen Sender und Empfänger zu: technisch gesprochen, reduzieren sie den feedback auf das systemtheoretisch mögliche Minimum.«38

(3) Die Vorstellung von einer alle traditionellen Begriffe des Politischen unterlaufenden ›Unkontrollierbarkeit‹ der ›kommenden Massen‹ (die sich die Medien zu ihren Bedingungen ›interaktiv‹ angeeignet haben werden) ist auch bei Enzensberger schon mit ›Netzwerken‹ konnotiert sowie von kybernetisch-systemtheoretischem Wissen unterfüttert: »Es lässt sich mit Hilfe der Systemtheorie […] beweisen, dass ein Kommunikationszusammenhang, oder technologisch ausgedrückt, ein Schaltnetz, sofern es eine gewisse kritische Größe überschreitet, nicht mehr zentral kontrollierbar […] ist […]; eine lückenlose Überprüfung würde […] einen Monitor erfordern, der größer wäre als das System selbst.«39 Enzensbergers Text hat nun außerdem auch selbst noch einmal einen Vorgänger in der Geschichte der Medientheorie: den als ›Radiotheorie‹ bekannt gewordenen Vortrag von Bertolt Brecht aus dem Jahr 1932. Er bildet sozusagen den Urtext für alle Beobachtungen des latenten politisch-revolutionären Potentials von medialer Interaktion – oder in der heute üblichen Terminologie: von ›Interaktivität‹ und ›interaktiven Medien‹. So lautet Brechts »Vorschlag zur Umfunktionierung des Rundfunks: Der Rundfunk ist aus einem Distributionsapparat in einen Kommunikationsapparat zu verwandeln. Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, das heißt, er wäre es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren.«40

Unmittelbar auf die ›Schwärme‹ voraus weisen dabei offenbar vor allem Brechts Überlegungen zu einer möglichen ›Selbstorganisation‹ des Publikums auf der Grundlage von ›Interaktivität‹. Oder umgekehrt: Die Schwärme erscheinen nun wie die verspätete Antwort der (Medien-)Geschichte auf Brechts Forderung nach einer solchen Selbstorganisation des Medienpublikums: 38. Ebd. Vgl. zu einer Parallelstelle bei Marx und Engels etwa: »Die Produktivkräfte, die […] zur Verfügung stehen, […] sind zu gewaltig für diese Verhältnisse geworden, sie werden von ihnen gehemmt. […] Die bürgerlichen Verhältnisse sind zu eng geworden, um den von ihnen erzeugten Reichtum zu fassen.« K. Marx/F. Engels: Manifest, S. 468. 39. H.M. Enzensberger: Baukasten, S. 266. 40. Bertolt Brecht: »Der Rundfunk als Kommunikationsapparat. Rede über die Funktion des Rundfunks«, in: C. Pias/J. Vogl/L. Engell/O. Fahle/B. Neitzel (Hg.), Kursbuch Medienkultur, S. 259-263, hier S. 260.

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»[W]enn eine technische Erfindung [wie das Radio, C.Z.] von so natürlicher Eignung zu entscheidenden gesellschaftlichen Funktionen bei so ängstlicher Bemühung angetroffen wird, in möglichst harmlosen Unterhaltungen folgenlos zu bleiben, dann erhebt sich doch ununterdrückbar die Frage, ob es denn gar keine Möglichkeit gibt, den Mächten der Ausschaltung durch eine Organisation der Ausgeschalteten zu begegnen. Jeder kleinste Vorstoß auf dieser Linie müsste sofort einen natürlichen Erfolg haben, der weit über den Erfolg aller Veranstaltung kulinarischen Charakters hinausgeht.«41

Die ›Natürlichkeit‹ der medialen Eignung wie der möglichen Erfolge interaktionsbasierter Publikumsorganisation muss man sich, wenn es nach dem Modell der Schwärme geht, nun allerdings – und in gleich doppeltem Sinne – als buchstäbliche ›Natürlichkeit‹ vorstellen. Es legt nicht nur nahe, dass sich mit der ›Entbergung‹ des interaktiven Potentials elektronischen Medien im Internet-Zeitalter nun ganz ›natürlich‹ eine allgemeine Selbstorganisation des Publikums einstellen und durchsetzen wird 42 – denn im Fall der Schwärme fällt beides unmittelbar in eins: »In den medialen Prozessen von Schwärmen liegt ihr Organisationsprinzip.« 43 Das Schwarm-Modell verspricht auch hinsichtlich der Frage, wohin dies dann führen wird, dass sich die Antwort buchstäblich ›in der Natur‹ findet. Und so wird aus Brechts Erwartung ›natürlicher Erfolge‹ dann unvermittelt ein Versprechen auf wahre Wunder: »In Vogel- und Fischschwärmen sind es die Kommunikations- und (Inter)-Aktionsbedingungen in lokalen Nachbarschaften, aus denen die globalen Verhaltensweisen des Kollektivs resultieren. Diese distribuierende Relationalität […], in der es keine andere Führungsinstanz gibt als die spezifische Verschaltung der Relationen selbst, […] verweist auf […] eine Form der Selbstorganisation […], die lange Zeit als ›wundersam‹ galt und heute noch immer als besonders angesehen wird. Die Fähigkeiten dieser heterogenen Gesamtheit übersteigen das Spektrum der einzelnen Individuen in signifikanter Weise. So ändert etwa ein Vogelschwarm schneller seine Richtung als ein einzelner Vogel, und im Falle sozialer Insekten resultieren komplexe Koordinationsleistungen aus der Interaktion relativ einfach ›aufgebauter‹ Individuen des Schwarms.«44 41. Ebd., S. 261. 42. Anders als auch Enzensberger noch: »[J]ede sozialistische Strategie der

Medien [muss] die Isolation der einzelnen Teilnehmer am gesellschaftlichen Lernund Produktionsprozess aufzuheben trachten. Das ist ohne Selbstorganisation der Beteiligten nicht möglich.« H. M. Enzensberger: Baukasten, S. 275. Vgl. außerdem auch diese Bemerkung von Deleuze aus den 1970er Jahren: »Unsere Aufgabe ist, Basisgruppen zu bilden und zwischen ihnen ein ganzes System von Querverbindungen herzustellen. Und das ist sehr schwierig.« Gilles Deleuze/Michel Foucault: »Die Intellektuellen und die Macht. Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze«, in: Dies.: Der Faden ist gerissen, Berlin 1977, S. 86-100, hier S. 94. 43. S. Vehlken: Schwärme, S. 235. 44. Ebd., S. 236-237. Und wie ›natürlich‹ die Vorstellung inzwischen geworden ist, dass der Einzelne und seine Handlungsmacht im Schwarm über sich hinaus wach-

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6.3 Eine Verkörperung ›undarstellbarer Gemeinschaf t‹ Das neue Bild des Politischen, das alle ›Anwendungen‹ des Schwarm-Modells auf die gegenwärtigen medialen, kulturellen und politisch-sozialen Verhältnisse implizieren, wird allerdings erst wirklich deutlich, wenn man noch einen weiteren Hintergrund sowie einen weiteren Diskurs hinzu nimmt: den Umstand, dass heute theoretisch und philosophisch im Grunde alle Begriffe von ›Gemeinschaft‹ als problematisch gelten – und die vor allem von französischen Autoren beherrschte neuere Debatte zur Frage, wie dann heute dennoch weiterhin und wieder ein Nachdenken über ›Gemeinschaft‹ möglich sein könnte. Auch und gerade die hier einschlägigen Autoren also gehen zunächst eigentlich davon aus, dass es Gemeinschaft heute nur noch als »entlegene, heimliche, verlorene oder versprochene Gemeinschaft« 45 gibt und geben kann. Andererseits müsse man davon ausgehen, dass sich das Politische gerade darum heute vor allem hier, also vor allem »im Kampf um die Besetzung (oder Nicht-Besetzung), um die Darstellung (oder Nicht-Darstellung) dieses entrückten Orts [manifestiert]«, und dass sich darum an dieser Stelle auch noch immer viele »konkurrierende Terme wie Volk oder Klasse, Nation oder Menschheit, organisches Ganzes oder revolutionäres Subjekt drängen« – am Ende allerdings drohe dabei heute stets nur »die machtgestützte Produktion kollektiver Identitäten kaschiert« 46 zu werden. Politischer Philosophie und Theorie (und kritischer soziologischer und kulturwissenschaftlicher Theoriebildung) bleibe darum nur, sich hier auf andere Weise einzumischen: Heute entscheide »sich das Schicksal politischer Rationalität an ihrer Fähigkeit, Prozesse der Vergemeinschaftung zu konzeptualisieren.« Es bleibe, genauer gesagt, nur die Hoffnung, dass der »Rekurs auf gegebene Vollzugsweisen politischer Vernunft« deren »dogmatische Verhärtung erschüttern« kann und die »Rückprojektion unitärer Konzepte unterbricht.« 47 Gerade das aber verweist nun auch und ausgerechnet derart kritisch verstandene Theoriebildung zu ›politischer Vergemeinschaftung‹ auf die Schwärme als ein nahe liegendes Denk-Bild und -Modell. Das Vorbild der Schwärme nämlich erlaubt solche ›Prozesse‹ und empirisch-praktische ›Vollzugweisen politischer Vernunft‹ offenkundig besonders anschaulich zu konzeptualisiesen, zeigt sich dann etwa in einer der im deutschen Kontext wichtigsten populärwissenschaftlichen Fibeln der Netzgemeinde: »Das Web 2.0 bedeutet vor allem, dass die soziale Reichweite des Einzelnen größer ist als die Reichweite der eigenen Stimme. Web 2.0 bedeutet, dass es ein Instrument gibt, mit dem ein einzelner Mensch […] viel mehr erreichen kann als vor wenigen Jahren.« Holm Friebe/Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Bohème oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung (2006), München 2008 [aktualisierte Taschenbuchausgabe], S. 185. 45. Joseph Vogl: »Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 7-27, hier S. 18. 46. Alle Zitate Ebd. 47. Alle Zitate Ebd., S. 19.

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ren. Ausgerechnet also, wenn Gemeinschaft im emphatischen Sinne eigentlich gegen ihre »Okkupation durch mythologische, d.h. nationale, völkische, totalitäre oder naturwüchsige Überformungen« gestärkt und verteidigt werden soll, und man letztlich in ihrer »Undarstellbarkeit ihre einzig mögliche Form« postuliert, und den »Kampf um den Erhalt jener Leerstelle« als den »Zweck einer radikal diesseitigen Politik« 48 – gerade dann scheinen Schwärme sich als eine ausgezeichnete ›Waffe‹ in diesem Kampf, bzw. als ein hervorragendes Mittel zu diesem Zweck anzubieten. In diesem Sinne ordneten Gilles Deleuze und Félix Guattari etwa Schwarmtiere dann auch einmal – lange vor der aktuellen Konjunktur der Schwärme – den ›dämonischen Tieren‹ zu: Tieren, deren ›Gemeinschaften‹ sich nicht als abgeschlossene, abzählbare Einheiten, sondern als undurchsichtiges Gewimmel präsentieren, und die so alle traditionellen Ordnungsbegriffe des Politischen unterlaufen. 49 Aber auch noch weit darüber hinaus weist das Modell der Schwärme große Affinitäten zu den Inhalten und Intentionen des kritischen Diskurses der Gemeinschaft auf. Wenn es in diesem Kontext etwa heißt, eine wahrhaft wünschbare Gemeinschaft zeichne sich in ihrem Vollzug dadurch aus, dass sie keine definitive Zugehörigkeit fordere, sondern Individuen ein »In-derSchwebe-Sein« 50 erlaube, dass sie »über keinerlei Beständigkeit verfügt« 51, und dass sie »statt [findet], ohne eine Stätte zu finden« 52 – so vermag dem stets eigentlich erst das Schwarm-Modell einen konzeptuell brauchbaren und anschaulich vorstellbaren Sinn zu verleihen. So sind Schwärme offenbar überhaupt nur Gemeinschaften, nur »dort und dann Schwärme, wenn sie in Bewegung sind« 53 – ihre Form der Gemeinschaft kennt also buchstäblich keinen festen Ort und keine Beständigkeit. Sie stellen unmittelbar sinnlich vor Augen, worauf der kritische Gemeinschaftsdiskurs begrifflich hinaus will: Sie verkörpern »auf mehreren Ebenen Verunsicherungen von Ordnungs-, Verzeitlichungs-, Orientierungs- und Wahrnehmungsstrukturen […], die […] die Ordnungs- und Repräsentationsweisen der klassischen politischen Theorie herausfordern.«54

48. Alle Zitate Ebd., S. 22. 49. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schi-

zophrenie, Berlin 1992, S. 326-332. Und Derrida hat zudem auch einmal den Ameisenschwarm als Inbegriff aller Schwärme in diesem Sinne bestimmt: »Fourmi, this is […] the microscopic figure of innumerable multiciply, of the incalculable of what teems and swarms whithout counting, without letting itself be counted, without letting itself be taken in.« Jacques Derrida: »›Fourmis‹. Lectures de la différence sexuelle«, in: Hélène Cixous/Mireille Calle-Gruber (Hg.), Footprints. Memory and Life Writing, London, New York 1997, S. 119-127, hier S. 119. 50. Jean-Luc Nancy: Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988, S. 70. 51. Jacques Rancière: »Die Gemeinschaft der Gleichen«, in: J. Vogl (Hg.), Positionen, S. 101-131, hier S. 121. 52. Ebd. 53. S. Vehlken: Schwärme, S. 238. 54. Ebd.

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Auch dieses Postulat des kritischen Gemeinschaftsdiskurses etwa fi ndet man so dann in und durch Schwärme offenbar unübertroffen verkörpert: »Die Gemeinschaft der Gleichen ist immer aktualisierbar.«55 Denn die Anlässe, zu denen Schwarm-Tiere sich zu Schwärmen zusammen finden (wie Flucht; Futtersuche; Suche von Brutstätten; Täuschung, Verwirrung, Abwehr und Überwältigung von Feinden56) realisieren offenbar sehr genau, was Rancière dann als Voraussetzung für sein Postulat nennt: »eine Zufallsverteilung von […] Fällen, von Lagen und Situationen […], die gerade in ihrer Verstreutheit zahlreiche Gelegenheiten für ein Wiederaufkommen des egalitären Signifikanten, für einen neuen Plan zur Verifizierung der Gemeinschaft der Gleichen sind.«57

Und schließlich kehrt genau diese Konzeptualisierung von Prozessen der Vergemeinschaftung dann auch in den aktuell populären Deutungen des Internet als eines politischen Mediums wieder. Genau dieser Gedanke leitet also auch alle heutigen Beobachtungen maßgeblich an, die beanspruchen das verborgene politische Potential dieses Mediums sichtbar zu machen. So heißt es in der bereits erwähnten populären Fibel der ›digitalen Bohème‹ etwa: »[D]as Netzwerk […] hat […] jederzeit die Macht, Millionen von Menschen zu mobilisieren – wenn die richtige Idee zur richtigen Zeit eingespeist wird.«58 Die kritisch gemeinten Versuche, Prozesse der Vergemeinschaftung neu zu konzeptualisieren, kaschieren mit anderen Worten auch längst selbst schon wieder die Bildung neuer ›kollektiver Identitäten‹ und neuer Linien von Inklusion und Exklusion (hier die ›digitale Bohème‹, dort die ›Festangestellten‹ – hier die ›Internet-Schwärmenden‹, dort die ›Nicht-Schwärmenden‹ – hier die, die bereits an einer ›neuen politischen Form‹ arbeiten, dort jene, die noch in der alten verharren). Vor allem aber haben sie – gemeinsam mit dem Schwarm-Modell, und in kaum noch entwirrbarem Zusammenspiel mit ihm – maßgeblich dazu beigetragen, auch in den aktuellen Nachfolgediskurs der Klassenanalyse nun wieder die mit dieser aufgekommene Idee einzupflanzen, dass sich mit den rechten Latenzanalyse-Instrumenten ›revolutionäre Subjekte‹ sichtbar machen lassen. Der prominenteste und einflussreichste Versuch der letzten Jahre, die Kritik klassischer Vorstellungen von Gemeinschaft aufzugreifen, führte seine Autoren jedenfalls dazu, mit ihrer ›Multitude‹ genau ein solches ›revolutionäres Subjekt‹ zu diagnostizieren – und dessen revolutionäres Potential zugleich in einer Art Hyper-Schwarmintelligenz zu suchen: »Das Schwarmmodell, wie es die Insekten nahe legen und die Forscher entwickeln, unterstellt, dass jedes handelnde Individuum oder jedes Partikel des Schwarms tat55. J. Rancière: Die Gemeinschaft, S. 123. 56. Im Einzelnen näher behandelt diese ›Konstitutionsanlässe‹ etwa S. Vehl-

ken: Schwärme, S. 238. 57. J. Rancière: Die Gemeinschaft, S. 130. 58. H. Friebe/S. Lobo: Wir nennen es Arbeit, S. 171.

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sächlich gleich und für sich genommen nicht sehr kreativ ist. Die Schwärme hingegen, die wir in den neuen netzwerkförmigen Organisationen entstehen sehen, setzen sich aus einer Multitude unterschiedlicher kreativ Handelnder zusammen. Dies macht das Modell um einiges komplexer. Die Teile der Multitude müssen weder alle gleich werden noch ihre Kreativität verleugnen, um miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Sie bleiben verschieden, was Ethnie, Geschlecht, Sexualität und so weiter angeht. Es geht darum zu verstehen, welche kollektive Intelligenz aus der Kommunikation und Kooperation einer solchen bunten Vielfalt entstehen kann […], das enorme Potenzial dieser Intelligenz im Schwarm […], eine neue Art der Intelligenz, […] eine Schwarmintelligenz, die […] die [Pariser] Kommunarden antizipierten.«59

Und das revolutionäre politische Potential dieser Super-Schwärme bestimmen die Autoren dann als eines zur Herstellung ›unmittelbarer Demokratie‹: »Die Autonomie der Multitude und ihre Fähigkeit zur ökonomischen, politischen und sozialen Selbstorganisation nehmen der Souveränität jegliche Funktion. […] [D]ie Multitude verbannt die Souveränität sogar aus der Politik. Wenn die Multitude endlich in der Lage sein wird, sich selbst zu regieren, dann wird Demokratie möglich.«60 Dieses Beispiel macht offenbar besonders deutlich, dass die vorliegende Untersuchung im Weiteren vor allem auch angelegt werden muss als eine Fallstudie zur latenten politischen Produktivität von Bildern, Allegorien und Metaphoriken. Und der Weg zu möglichen Alternativen: zu anderen, neuen Beobachtungen aktueller Latenzen des Politischen, für die das Bild der Schwärme auch noch, und womöglich weitaus trefflicher von Nutzen sein könnte – auch er führt darum offenbar notwendig zunächst über den Umweg der Frage nach womöglich noch tieferen Gründen für jene Anziehungskraft, die die Schwarm-Figur auf das aktuelle ›politische Imaginäre‹ ausübt, für ihre heutige Produktivität im Medien- und im Politikdiskurs (und bei der unmittelbaren Verschaltung von beiden), und zunächst einmal: für ihre heute offenkundig allgemeine, interdiskursive Attraktivität.

6.4 Das ver teilte System der Schwarm-Interessier ten Im Hinblick auf die heutige Attraktivität des Schwarm-Modells liegt es nahe, hier selbst vom ›schöpferischen Effekt‹ eines ›verteilten Systems‹ auszugehen61 – des ›spontanen Zusammenwirkens‹ genauer gesagt eines weit gespannten Netzwerks von voneinander im Übrigen eigentlich ganz unabhängigen aktuellen Interessen, von einer ›spontanen Selbst-Synchronisierung‹ 59. Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a.M., New York 2004, S. 110-111. 60. Ebd., S. 375. 61. An dieser Stelle also beginnt das Schwarm-Modell dann zugleich auch schon in anderer Weise und für andere Möglichkeiten der Beobachtung politischer und medialer Latenzen produktiv zu werden.

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einander zum Teil sogar unmittelbar entgegen gesetzter aktueller diskursiver Positionen. Und auch ein erster latenter medialer Mechanismus, der diese Synchronisierung als eine sich-selbst-organisierende ermöglicht, lässt sich dann sogleich ausmachen: die ›Fabelhaftigkeit‹ der Schwärme. Der Umstand genauer gesagt, dass sie sich nicht zuletzt auch in der klassischen medialen Funktion von (Tier-)Fabeln verwenden lassen: dass sich hier ›allgemeine Wahrheiten‹ – die heute nur noch die ›Wahrheiten‹ verschiedener Diskurse und diskursiver Positionen sein können – an einem konkreten Fall anschaulich zur Darstellung bringen lassen. 62 Vor allem aber gehört eine solche Anschaulichkeit zu suchen – um ihrer allgemeinen Verständlichkeit, Evidenz und Akzeptanz willen – heute zum latenten Erfordernis letztlich jeden wissenschaftlichen Diskurses und jeder diskursiven Position. Dass sich die Schwärme so zuverlässig im aktuellen ›politischen Imaginären‹ haben einnisten können, geht mit anderen Worten ganz wesentlich auf ein latentes Erfordernis des heutigen ›interdiskursiven Verkehrs‹ zurück, auf eine mit ›funktionaler Differenzierung‹ und ›diskursiver Spezialisierung‹ latent aber notwendig einher gehende allgemeine Nötigung: Anschlussfähigkeit für den eigenen Diskurs auch und gerade durch den Gebrauch von allgemein bekannten und verständlichen Bildern und Symbolen herzustellen (›Kollektivsymbolen‹ im Sinne Jürgen Links; vgl. dazu genauer Abschnitt 6.6), die seine Relevanz über alle System- und Diskursgrenzen hinweg zu veranschaulichen und zu beglaubigen vermögen. 63 Weshalb dann auch insbesondere »die Vorreden und Einleitungen zu Lehrbüchern über Spezialdiskurse von Kollektivsymbolen nur so wimmeln. Solche Vorreden sind typisch für den interdiskursiven Rahmen, in dem alle Spezialdiskurse funktionieren und ohne den sie keine kulturelle Akzeptabilität hätten.«64 ›Bilderpolitik‹ also ist letztlich ein höchst profanes Geschäft, die ›Bewirtschaftung des Imaginären‹ eine Sache geradezu betriebswirtschaftlicher Berechnung. Oder mit einem Klassiker der Ideologiekritik gesagt: »Die Produktion 62. Vgl. zu dieser klassischen Definition von Fabeln Gotthold Ephraim Lessing: »Abhandlungen (über die Fabel)« (1759), in: Herbert G. Göpfert (Hg.), Werke in 8 Bänden, Bd. 5, München 1970, S. 355-419; zur Kontinuierung dieses Verständnisses bis heute außerdem Hans Georg Coenen: Die Gattung Fabel. Infrastrukturen einer Kommunikationsform, Göttingen, München 2000; und für zahlreiche aktuelle Beispiele ›fabelhafter‹ Verwendungen des Schwarm-Modells N. Werber: Schwärme, soziale Insekten. 63. Vgl. dazu auch die Untersuchungen zum ›Populären‹ verschiedener moderner Funktionssysteme in Christan Huck/Carsten Zorn (Hg.), Das Populäre der Gesellschaft. Systemtheorie und Populärkultur, Wiesbaden 2007; zur fortdauernden Bedeutung des Exemplarischen im modernen wissenschaftlichen Diskurs allgemein auch Jens Ruchatz/Stefan Willer/Nicolas Pethes: Das Beispiel: Epistemologie des Exemplarischen, Berlin 2007. 64. Jürgen Link: »Literaturanalyse als Interdiskursanalyse. Am Beispiel des Ursprungs literarischer Symbolik in der Kollektivsymbolik«, in: Jürgen Fohrmann/ Harro Müller (Hg.), Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 284-310, hier S. 293.

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der Ideen, Vorstellungen, des Bewusstseins ist […] unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen« – aber der »wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch […] denselben entsprechenden Verkehr.« 65 Neben den bereits genannten Positionen (wie die Theorie der ›Multitude‹ und ›neuer Gemeinschaften‹, oder das Selbstverständnis von Netzaktivisten und der ›digitalen Bohème‹) seien darum auch wenigstens noch vier weitere diskursive Positionen genannt, für die das Schwarm-Bild heute als Evidenzspender von zentraler Bedeutung ist: (1) Im Kontext des neoliberalen Reformdiskurses soll das Beispiel der Schwärme anschaulich vor Augen stellen, dass die Erledigung letztlich jeder gesellschaftlichen Aufgabe sicher noch weitaus unbürokratischer und effizienter möglich wäre, als wir uns das bislang vorstellen können. 66 (2) Im Dienste fortschreitender Demokratisierung sollen Schwärme die Leistungsfähigkeit von ›verteilter Handlungsmacht‹ verdeutlichen: Sie sollen beglaubigen, dass sogar größte kollektive Herausforderungen bewältigt, und selbst einschneidendste gesellschaftliche Veränderungen herbeigeführt werden könnten »by distributing the task across the population.« 67 (3) Das Schwarm-Modell unterstützt auch ein zentrales Darstellungsziel der Cultural Studies nun noch einmal auf neue Weise: dass Konsum selbst eine produktiv-politische Tätigkeit sein kann, und die massenhaft-individuelle Aneignung der Massen- und Populärkultur auch auf diese zurück sowie auf politisch-gesellschaftliche Veränderung hin wirken kann.68 (4) Das Beispiel der Schwarm-Forschung bestätigt und beglaubigt besonders eindrücklich und anschaulich das programmatische Selbstverständnis aller modernen Lebenswissenschaften – der Genetik also ebenso wie der Hirnforschung oder der so genannten ›Bionik‹ etwa: Es scheint vorbildlich zu belegen, dass eine Entschlüsselung der »geheimen Baupläne der Natur«69 stets zu ganz neuen wissenschaftlichen ›Konzeptualisierungmöglichkeiten‹ führt; und zugleich auch zu ganz unmittelbar hilfreichen individuellen und gesellschaftlichen ›Optimierungsanregungen‹. 65. Karl Marx/Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 26. 66. In dieser Hoffnung verweisen Reform-Entwürfe zu Unternehmen und gesell-

schaftlichen Institutionen in den letzten Jahren immer häufiger auf das SchwarmModell, vgl. etwa die Hinweise dazu bei S. Vehlken: Schwärme, S. 255-256. 67. James Kennedy: »Review of Engelbrecht’s Fundamentals of Computational Swarm Intelligence«, in: Genet Program Evolvable Mach, Nr. 8 (2007), S. 107-109, hier S. 108. 68. Entsprechend tauchen dann auch immer wieder prominente Vertreter der Cultural Studies im Kontext des Schwarm-Interdiskurses auf; wie Mark Terkessidis etwa als Referent auf der schon eingangs genannten Veranstaltung unter dem Titel »Schwärme. Die Stadt ist mehr als die Summe ihrer Einwohner«; vgl. nochmals www. planb-kulturprojekte.de/Programme/Schwaerme_Programm.pdf vom 20. Juni 2009. 69. Vgl. den Untertitel bei Kurt Blüchel: Bionik. Wie wir die geheimen Baupläne der Natur nutzen können, München 2006.

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6.5 Schwarm-Intelligenz oder ansteckende Schwärmerey? Ironischerweise stellt damit aber ausgerechnet seine eigene Rezeptions- und Wirkungsgeschichte nun offenbar unmittelbar in Frage, was das SchwarmModell vor allem verheißt: Wie schon bei Marx und Engels (und Nietzsche70) lässt auch in diesem Fall das Ergebnis solcher ›verteilten Prozesse‹ der Selektion von Denkbildern und Denkmodellen, von Ideologemen, Master-Tropen und Zentralfiguren des ›politischen Imaginären‹ offenbar erhebliche Zweifel an der ›Intelligenz‹ solcher Prozesse aufkommen. Statt zu ›Flexibilität‹ und ›Kreativität‹ verführt die Karriere des Schwarm-Modells offenbar vielmehr zu Bequemlichkeit und Uniformität: die verschiedenartigsten Diskurse und Positionen beginnen sich (für die verschiedenartigsten Probleme) zusehends auf dasselbe Lösungsangebot zu verlassen. Mit Niklas Luhmann gesagt: Der Selektionserfolg wird immer mehr zu einem ›obstacle épistémologique‹, zu einer allzu leicht zu habenden Gewissheit, die die Suche nach Alternativen blockiert.71 Am augenfälligsten wird die Uniformität des aktuellen Schwarm-Interdiskurses an der nun fast durchgängig positiven Aufladung von Schwarm-Modell und -Symbolik, ihrem fast durchgängig positiv konnotierten Gebrauch also. Dieser kennt nur eine eindeutige Ausnahme. Bei der ›Anwendung‹ auf Feinde – wie das Terrornetzwerk ›Al Quaeda‹ etwa72 – finden die ›kollektive Intelligenz‹, die ›Kreativität‹ und die ›Spontaneität‹ der Schwärme sich regelmäßig unmittelbar invers bewertet und gedeutet: Hier erscheint dies alles nun plötzlich als Ausdruck buchstäblich unmenschlicher Heimtücke.73 Selbst diese Ausnahme allerdings verweist hinterrücks noch auf uniforme Züge im aktuellen Schwarm-Interdiskurs. Dass Schwarm-Modell und -Symbolik zu einer Mystifizierung aller Gegenstände und (in der Regel: neueren) 70. Vgl. etwa Friedrich Nietzsche: »Unzeitgemässe Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller«, in: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1, München 1988, S. 157-242 [Im Folgenden zitiert als KSA]. 71. Vgl. etwa Niklas Luhmann: »Europäische Rationalität«, in: Ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 51-91, hier S. 66. Den Begriff des ›obstacle épistémologique‹ entlehnt Luhmann Gaston Bachelard: La formation scientifique. Contribution à une Psychoanalyse de la connaissance objective, Paris 1947. 72. Vgl. zu dessen Analyse mit Hilfe des Schwarm-Modells durch Militär und Geheimdienste Niels Werber: »Schwärmen und siegen. Der Netzwerk-Terrorismus lässt den Nationalstaat alt aussehen: Eine strategische Analyse der Al Qaeda«, in: Frankfurter Rundschau vom 18. März 2002 sowie Stefan Krempl: »Terrorabwehr in der Netzwerkgesellschaft. Schwärme, Staubsauger, Tarnkappen und das neue Krieger-Ethos«, in: Telepolis, erschienen am 4.4.2006; vgl. www.heise.de/tp/r4/artikel/22/22381/1. html vom 20. Juni 2009. 73. Vgl. – auch zu der weit zurück reichenden Tradition dieses ›negativen‹ Schwarm-Verständnisses im ›Feinddiskurs‹ – Eva Horn: »Die Ungestalt des Feindes: Nomaden, Schwärme«, in: Modern Language Notes 123 (2008), S. 656-675.

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gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen einladen und verführen, auf die sie sich heute ›angewendet‹ finden, wird an dieser Stelle nur besonders offenkundig – ist aber tatsächlich ein weiteres uniformes Merkmal ihrer gesamten neueren Rezeptions- und Wirkungsgeschichte. Tatsächlich wird jeder aktuelle Diskurs, jede aktuelle politische Position und Einschätzung unter dem Einfluss des Schwarm-Modells sogleich – im traditionellen Sinne des Wortes – ›schwärmerisch‹: Worauf seine ›Anwendungen‹ sich auch immer richten, sie tendieren unter seinem Eindruck stets (in der einen oder der anderen, und mitunter auch in unmittelbar entgegen gesetzte Richtungen) zu Ereiferung und deutlichem Überschwang. Immer liegt sogleich die Rede von der Next Social Revolution in der Luft.74 Oder sogar von noch mehr. So lässt Bernhard Siegert etwa eine kombinierte Untersuchung zur Geschichte der Staats- und der Seekriegsmetaphorik in dem abschließenden Satz gipfeln: »Der Leviathan hat ausgespielt, an seine Stelle tritt der Hornissenschwarm«.75 Mit dem Bild des Hornissenschwarms76 also soll offenkundig auch nicht etwa nur die eindeutig barbarische Rück- und Kehrseite der auf biopolitische Produktivität gerichteten modernen Gouvernementalität kenntlich werden (die im Text zuvor untersuchte moderne Kriegstechnik und Kriegsführung nämlich sowie deren Eigenarten) – sondern ihre Vorderseite selbst, das also, was sie im Kern ausmacht, und was sie nun alternativlos an die Stelle setzt, an der einmal der Staat, die Politik und das Politische standen; und dass dies dann eigentlich auch nur bedeuten kann, dass uns (im Sinne Giorgio Agambens) der ›eigentliche Zivilisationsbruch‹ erst noch bevor steht.77 74. Vgl. den Titel des populären Bandes, der aus der Deutung des Phänomens der Flashmobs mit Hilfe des Schwarm-Modells auf eine solche schloss: Howard Rheingold: Smart Mobs. The Next Social Revolution, New York 2002. 75. Bernhard Siegert: »Der Nomos des Meeres. Zur Imagination des Politischen und ihren Grenzen«, in: Daniel Gethmann/Markus Stauff (Hg.), Politiken der Medien, Zürich, Berlin 2005, S. 39-56, hier S. 54. 76. Einem Bild, das schon im alten Testament auf moderne Genozide und Massenvernichtungswaffen voraus zu weisen scheint: »Wenn du aber bei dir denken solltest: ›Diese Völkerschaften sind mir zu stark, wie sollte ich sie vertreiben können?‹ –: fürchte dich nicht!« – heißt es im zweiten Buch Mose: »Denke vielmehr an das zurück, was der Herr, dein Gott, am Pharao und allen Ägyptern getan hat […]: ebenso wird der Herr, dein Gott, mit allen Völkern verfahren, vor denen du dich jetzt fürchtest. Auch die Hornissen wird der Herr, dein Gott, gegen sie loslassen, bis die Übriggebliebenen und die sich vor dir Versteckenden umgekommen sind.« 77. Siegert bezieht sich nicht nur gleich auf den ersten Seiten seines Textes auf den Kern von Agambens Philosophie: dass Auschwitz Ausgeburt einer untergründigen historischen Aushöhlung, Zersetzung und Verkehrung aller ursprünglichen politischen Begriffe war, die seither aber nun nur noch einmal rascher fortgeschritten sei – und dass darum eigentlich auch erst jetzt das ›nackte Leben‹ allmählich tatsächlich als letzter verbleibender Gegenstand post-politischen Regierens zurück bleibe (vgl. B. Siegert: Der Nomos, S. 40). Es handelt sich bei dem Text zudem auch um eine unmittelbare ›Parallelaktion‹ zu Agamben: Siegert vollzieht nach, wie alle

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Diese ansteckende Wirkung auf all seine aktuellen Anwendungen und Anwender, hat nicht unwesentlich damit zu tun, dass auch das heutige Schwarm-Modell selbst mit dem traditionellen Sinn der deutschsprachigen Schwarm-Symbolik noch latent sehr weitgehend übereinstimmt – und viele ihrer Bedeutungsgehalte nun im Grunde nur auf den Kopf stellt, und (abgesehen von Ausnahmen wie dem gerade skizzierten Gebrauch bei Siegert) mit umgekehrten, also positiven Vorzeichen versieht. So impliziert es im Hinblick auf die einzelnen Aktanten eines Schwarms offenbar das Gleiche, das auch den Schwärmer schon (vor allem nach den Vorstellungen des Massendiskurses) auszeichnen sollte: ein auf äußere Signale und mediale Reize spontan reagierendes, aber insgesamt vorhersehbares, und sich ganz davon leiten und ›treiben‹ lassendes Verhalten.78 Und auch der einmal negativ konnotierte ›Wankelmut‹ etwa, die traditionell als problematisch bis pathologisch geltende notorische politische und moralische Unzuverlässigkeit der ›Schwärmenden‹ also: ihre Begeisterungsfähigkeit für rasch wechselnde und letztlich beliebige Ideen und Personen kehrt nun wieder – nur erscheint dies hier nun als Ausdruck besonders hoher ›Flexibilität‹.79 Und plötzlich auftretende massenhaftgleichsinnige ›Schwärmerey‹ (und damit wiederum zugleich auch ein zentraler Negativ-Topos des Massendiskurses: die Uniformität der Massen) kehrt hier nun unvermittelt als Ausdruck eines staunenswerten Vermögens wieder: als Befähigung zur außergewöhnlich raschen ›Selbst-Synchronisation‹ größerer und kleinerer Gruppen.80 Die Wirkungsgeschichte der Schwärme ist mit anderen Worten offenbar nicht zuletzt auch Teil einer eigentümlichen aktuellen ›Umwertung der Werte‹. Und eigentümlich sind diese Umwertungen – die mitunter ganze traditiotraditionellen Bilder, Symboliken, Metaphoriken des Politischen (wie Schiff, Stadt, Leviathan) allmählich ihre Überzeugungskraft verloren – bis der Hornissenschwarm sich schließlich anbot, zunächst im Kontext dezentrierter moderner Kriegsführung (mittels zahlreicher ›kleinteiliger‹, selbstständiger und besonders wendiger technischer Einheiten, die zugleich aber dennoch höchst koordiniert agieren: Flugzeuge, U-Boote, Raketen), die klaffende Lücke, das entstandene Vakuum auszufüllen. 78. Recht deutlich heraus gearbeitet wird dies – freilich ohne die Parallele zur Schwärmerey-Metaphorik zu sehen – bei S. Vehlken: Schwärme, insbes. S. 235-236. 79. Womit das Schwarm-Modell zugleich an einer breiten diskursiven Tendenz mitarbeitet: Unter dem Namen der ›Flexibilität‹ finden sich heute auf breiter Front Verhaltensdispositionen aufgewertet, die noch vor wenigen Jahrzehnten als Ausweis ›moralischer Unzuverlässigkeit‹ galten (wie besonders hohe Risikobereitschaft etwa); vgl. dazu etwa Thomas Lemke: »Flexibilität«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 8288 sowie Carsten Zorn: »Der Fall ›Flexibilität‹. Über eine aktuelle Herausforderung für die Theorie moderner Werte«, in: Marie Luisa Allemeyer/Katharina Behrens/ Katharina Mersch (Hg.), Eule oder Nachtigall? Perspektiven und Tendenzen kulturwissenschaftlicher Werteforschung, Göttingen 2007, S. 240-267. 80. Vgl. außerdem zur ebenso positiven Konnotation von ›Selbst-Synchronisation‹ auch innerhalb aktueller Netzwerk-Theorien Stefan Kaufmann: »Netzwerk«, in: U. Bröckling/S. Krasmann/Th. Lemke (Hg.), Glossar, S. 182-189, hier S. 187.

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nelle Wissens- und Bedeutungsbestände implizit mit unmittelbar umgekehrten Wertungen versehen81 – insbesondere darin, dass sie offenbar immer nur im Kontext der gerade ins Auge gefassten Gegenstände folgenreich werden. Dies zeigt sich besonders deutlich im populären Internet-Diskurs. Im Hinblick auf das Publikum ›alter Medien‹ nämlich wird der Massen-Begriff hier regelmäßig ganz in seinen klassischen Bedeutungen verwendet – und werden die gleichen Vorurteile wiederholt und wieder belebt, die er immer schon nahe legte. Worauf es offenbar alleine ankommt, ist die Aufwertung des neuen Mediums: »[I]m Internet ist die Masse nicht mehr die amorphe, leicht stupide Ansammlung von Menschen, als die sie im Zeitalter der Massenmedien galt, sondern [kann] durchaus ihre eigene Intelligenz entwickeln.«82 Wieder aber enthält auch das Schwarm-Modell selbst einen wichtigen Hinweis darauf, welche Art ›Netzwerk-Macht‹ hier am Werk ist. Denn zu einem seiner Züge gehört auch, wie bereits erwähnt, dass es »in einer einzigen Figur die Deformation klassischer politischer Ordnungen und die Formation anderer Ordnungen [verbindet].«83 Vor allem aber verweist natürlich die jüngste Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der Schwärme mit und in all dem bisher Dargelegten sehr deutlich auf ein ganz bestimmtes anderes ›Modell‹ als das der Schwärme – zur Erklärung der Wirkungsweise und der ›schöpferischen‹ (bzw. der höchst wirkmächtigen) Effekte von Netzwerken und ›verteilten Systemen‹: auf Michel Foucaults ›Machtdispositive‹.84 Der politische ›Doppel-Charakter‹ der Schwarm-Figur aber fügt dem dann doch noch einen wichtigen Hinweis hinzu: Offenbar wirken und arbeiten das Modell, die Figur, die Symbolik der Schwärme (und fast alle Diskurse, die sich ihrer bedienen) heute – und weben und stricken gleichsam an verschiedenen, aber stets entscheidenden Stellen – mit an der Vervollständigung eines neuen Machtdispositivs, das ältere Regierungskünste und Ordnungsgefüge von Macht und Herrschaft, ältere Ausformungen moderner Gouvernementalität allmählich überlagert, verdrängt, ersetzt und überflüssig macht. – Und darum eben kommt es dann zugleich auch zu einer Aufwertung aller weite-

81. So betont auch Ralf Adelmann, dass nicht etwa nur die »negative Wertung des Massenbegriffs« nun im Schwarmdiskurs »verschwindet«, sondern sich der »negativ aufgeladene Massenbegriff« vollständig »in die ausschließlich positive Wertung des Schwarms umschreibt«; alle Zitate in R. Adelmann: Schwarm oder Masse?, S. 292. 82. H. Friebe/S. Lobo: Wir nennen es Arbeit, S. 167. 83. S. Vehlken, Schwärme, S. 236. 84. Vgl. dazu vor allem Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit I. Der Wille zum Wissen (1976), Frankfurt a.M. 1983 sowie Ders.: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978. Man kann allerdings auch Machtdispositive durchaus geradezu schwarmhaft beschreiben: als den »Gesamtzusammenhang ereignis- und augenblickshafter Konfrontationen von Körper zu Körper, das komplexe Netzwerk einzelner, lokaler, antagonistischer Kraftverhältnisse«, aus dem Macht dann »von unten nach oben auf[steigt], bis hinauf zu globalen […] Gesamtdispositiven.« Hinrich Fink-Eitel: Foucault zur Einführung, Hamburg 1989, S. 88.

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ren Diskurse, Praktiken und Selbst-Techniken, die Subjekte und ganze ›Bevölkerungen‹ im Sinne dieses Machtdispositivs produktiv machen.

6.6 Im Machtdispositiv der ›Netzwerk-Sozialität‹ Zur Plausibilisierung beider Hypothesen (1. ›Machtdispositive‹ bilden das hier einschlägige Erklärungsmodell, 2. das Schwarm-Modell komplettiert entscheidend ein bestimmtes neues Dispositiv) hält man sich am Besten an Jürgen Links Theorie zu ›Interdiskursen‹ – deren Ziel es ist, die theoretisch-methodischen Grundlagen von Foucaults Konzept der ›Machtdispositive‹ noch einmal genauer zu operationalisieren, zu spezifizieren und weiter zu entwickeln.85 So verdeutlicht Links Ansatz zunächst, dass Foucaults Machtdispositive »eben interdiskursive Netzwerke (bzw. Montagen oder Rhizome) sind«86, in denen und durch die höchst verschiedenartiges und breit verstreutes diskursives und anderes gesellschaftliche ›Material‹ so verknüpft, angeordnet, montiert und kombiniert wird, dass es dann gemeinsam, also »gekoppelt und gebündelt zum Einsatz gebracht werden [kann].«87 Außerdem sind zu diesem verschiedenartigen ›Material‹ demnach vor allem zu zählen, setzen sich Machtdispositive vor allem zusammen aus: (i) wissenschaftlichen Spezialdiskursen, (ii) alltäglichen Praktiken, Ritualen und Kulturtechniken und (iii) allgemein verständlichen und bekannten, besonders einprägsamen und populären Sinnbildern, Symbolen und Metaphoriken – die Link unter dem Begriff der ›Kollektivsymbole‹ zusammenfasst (nicht allerdings weil sie notwendig Kollektive symbolisieren, das Schwarm-Symbol bildet hier vielmehr eine Ausnahme, sondern weil sie eben ›kollektiv‹ gebraucht werden und verständlich sind88). Das zuletzt genannte Element, die Kollektivsymbole und deren Analyse, stellt dabei nun auch schon die entscheidende Erweiterung und Präzisierung gegenüber Foucault dar. Außerdem findet man durch sie eine der zentralen Funktionen des aktuellen Schwarm-Bilds und -Symbols in und für das neue Dispositiv bereits recht genaue umschrieben: Wie Links Ansatz und zahlreiche daran anschließende Untersuchungen gezeigt haben, ist die für die Entstehung und Durchsetzung von Machtdispositiven unverzichtbare Proliferation spezialdiskursiven Wissens – sein ›Einsickern‹ und möglichst breites Diffundieren ›in die Gesellschaft hinein‹ – ganz wesentlich auf die Vermittlung durch Kollektivsymbole angewiesen. Sie erst sorgen dafür, dass dieses Wissen auch – in mehr oder weniger komplexitätsreduzierter Weise (und außer in Gestalt von Sinnbildern auch noch in der von Anekdoten, Gleichnissen, Klischees und Stereotypen etwa) – in der alltäglichen Konversation, in politischen Debatten, 85. Ein prägnante Zusammenfassung dazu bietet J. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 284-307. 86. Ebd., S. 286. 87. Ebd. 88. Vgl. auch zum Begriff des ›Kollektivsymbols‹ nochmals prägnant J. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse.

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in den Massenmedien und in der Populärkultur (aber auch in der zeitgenössischen Literatur etwa) fest verankert wird und auf Dauer präsent bleibt.89 Und zugleich damit stellen dann letztlich auch erst sie sicher, worauf es im Zusammenhang von Machtdispositiven eigentlich ankommt, und wodurch sie sich auszeichnen – denn dieser zentrale Sinn des Konzepts der ›Machtdispositive‹ bleibt natürlich auch bei Link erhalten: Die Kopplung von ›verteilten‹ Diskursen, Praktiken und Symbolen interessiert hier nur, wenn und insoweit ihnen dadurch zugleich auch die (zugleich gebündelte und ›verteilte‹) Macht dazu zuwächst, Subjekte auf breiter Front zu gleichsinniger Produktivität anzuregen – und auch dazu, das dafür nötige ›Selbstverhältnis‹ und Selbstverständnis auszubilden, eine bestimmte Form des ›Subjekt-Seins‹ also.90 In den vorausgehenden Abschnitten sind bereits zahlreiche Spezialdiskurse, diskursive Positionen und Formen von ›Spezialwissen‹ genannt und näher behandelt worden, die in den letzten Jahren mit Hilfe des SchwarmSymbols Bekanntheit, Einfluss und Attraktivität weit über ihre jeweiligen disziplinären und diskursiven Grenzen hinaus erlangt haben; und die es dabei zugleich, auch umgekehrt, immer wieder mit attraktiven Sinngehalten aufgeladen haben. Insofern wird hier im Weiteren vor allem auch noch näher nach Praktiken und medialen Techniken zu fragen sein, die sich heute dem selben Dispositiv zurechnen lassen – und auch danach, wie das Schwarm-Modell auf deren ›Einwebung‹ sozusagen in das Netzwerk des Dispositivs hinwirkt (darauf also, dass sie dann auch tatsächlich in seinem Sinne produktiv werden). Zunächst einmal ist nun aber offenbar zu fragen, wie das gesuchte Machtdispositiv sich eigentlich näher hin charakterisieren ließe, und in welche Richtung die Produktivität moderner Subjekte hier eigentlich gelenkt wird.

6.7 Der unangetastete Staat : Das Schwarm-Subjekt und seine (Selbst-)Techniken Auch an dieser Stelle gibt zunächst das Modell und Symbol der Schwärme selbst wieder wichtige Hinweise. Denn seine besondere Rolle im gesuchten Dispositiv ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass es dieses gewissermaßen als Ganzes verkörpert, und all seine Elemente und verästelten Wirkungsweisen mit Attraktivität ausstattet. Ihre vielleicht wichtigste Funktion wächst der Symbolik des ›intelligenten Schwärmens‹ hier mit anderen Worten dadurch 89. Vgl. für entsprechende Untersuchungen etwa Jürgen Link: »Über ein Modell synchroner Systeme von Kollektivsymbolen sowie seine Rolle bei der Diskurs-Konstitution«, in: Jürgen Link/Wulf Wülfing (Hg.), Bewegung und Stillstand in Metaphern und Mythen, Stuttgart 1984, S. 63-92; für einen Überblick zur weitläufigen entsprechenden Forschung etwa Frank Becker/Ute Gerhard/Jürgen Link (1997): »Moderne Kollektivsymbolik. Ein diskurstheoretisch orientierter Forschungsbericht mit Auswahlbibliographie (Teil II)«, in:. Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 22 (1), 1997, S. 70-154. 90. Vgl. auch dazu vor allem M. Foucault: Sexualität.

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zu, dass sie diesem Dispositiv eine umfassende diskursive Rahmung (kurz: eine vorzügliche Ideologie) zur Verfügung stellt – und so vor allem dazu beiträgt, dass alle individuelle Produktivität im Sinne dieses Dispositivs auch dann noch als vorteilhaft imaginiert werden kann, wenn und wo dies subjektiv gerade gar nicht fühlbar wird; sondern vielmehr das gerade Gegenteil. Eine nähere Charakterisierung dieses Machtdispositivs und seiner spezifischen Einwirkungen auf die Produktivität von Subjekten lässt sich darum nun jedenfalls auch unmittelbar aus dem Schwarm-Modell selbst heraus entwickeln. Wie gezeigt (vgl. Abschnitt 6.3) eröffnet es nicht zuletzt die Möglichkeit, sich sehr anschaulich rastlose, ortlose, restlos nomadische Formen der Vergemeinschaftung vorzustellen91 – und diese zugleich mit einer langen Reihe von Vorteilen und Vorzügen zu konnotieren (inklusive der einschlägigen natürlich: intelligent, kreativ, produktiv, effizient). Im Anschluss daran lässt sich auch das gesuchte Dispositiv zunächst dadurch näher charakterisieren, dass es eine bestimmte Form von nomadischer und rastloser Sozialität zusehends, zugleich, erleichtert, nahe legt und erzwingt – nicht zuletzt durch ein wachsendes Angebot von Medienanwendungen und anderen Praktiken, die es erleichtern ›so zu leben‹; und die es so zugleich auch immer attraktiver und unausweichlicher machen. Und als Rückseite und Voraussetzung dieser neuen Lebensform bringt es auch ein entsprechendes Selbstverhältnis: eine neue Form rastloser Subjektivität hervor. Man könnte diese neue Lebensform, diese neue Form von Sozialität und Vergemeinschaftung vorläufig als ›Netzwerk-Sozialität‹92 bezeichnen – oder eben auch als ›Schwarm-Sozialität‹. Und sie ließe sich dann zunächst so näher bestimmen: »Netzwerk-Sozialität besteht aus flüchtigen und vergänglichen, aber dennoch wiederholten sozialen Beziehungen; aus kurzlebigen, aber intensiven Begegnungen.«93 Denn soziale Beziehungen basieren hier nun nicht mehr »auf wechselseitiger Erfahrung oder gemeinsam erlebter Geschichte, sondern vorwiegend auf Datenaustausch.«94 Begegnungen dienen nun vor allem »dem Bestreben ›auf den neuesten Stand zu kommen‹.«95 Dies aber beschreibt offenbar zunächst nur die unmittelbar sichtbaren Resultate sozusagen jenes Verhaltens, das das ›Netzwerk-Dispositiv‹ produziert. Die Frage ist also immer noch, welche spezifische subjektive Produktivität vom ihm angeregt, erleichtert und befördert wird.

91. Vgl. dazu außerdem auch E. Horn: Die Ungestalt. 92. Zumal das hier Gemeinte sich unter diesem Namen auch bereits sehr prä-

zise – wenn auch nicht als Produkt eines Machtdispositivs – in einer qualitativen soziologischen Studie beschrieben findet, vgl. Andreas Wittel: »Auf dem Weg zu einer Netzwerk-Sozialität«, in: Andreas Hepp/Friedrich Krotz/Shaun Moores/Carsten Winter (Hg.), Konnektivität, Netzwerk und Fluss. Konzepte gegenwärtiger Medien-, Kommunikations- und Kulturtheorie, Wiesbaden 2006, S. 163-188. 93. Ebd., S. 163. 94. Ebd. 95. Ebd.

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Das Schwarm-Modell legt als Voraussetzung für Schwarm-Intelligenz »lose verbundene Individuen«96 nahe. Im Anschluss daran kann man sagen, dass es hier für den Einzelnen nun vor allem darum geht, statt weniger intensiver möglichst viele lose Verbindungen gleichzeitig zu gestalten und zu organisieren (seien es private, berufliche oder politische Kontakte und Verbindungen, Beziehungen zu Freunden, Bekannten oder Kollegen). Denn Netzwerk- und Schwarmsozialität beruht zwar »auf ständiger Interaktion zwischen Individuen«97 – aber mit beständig anderen, beständig wechselnden Kontaktpersonen. Denn nur so verspricht diese ›entbettete‹ Lebensform dann auch tatsächlich persönliche Zugewinne an ›Informiertheit‹, Effi zienz und ›Kreativität‹. Und nur so lässt sich außerdem auch der Verlust kompensieren – dass nun keine einzelne Beziehung mehr Dauerhaftigkeit verspricht: »Die Menschen werden sozusagen aus ihren Kontexten ›herausgehoben‹ und in weitgehend entbettete soziale Beziehungsgefüge wieder eingesetzt, die sie gleichzeitig kontinuierlich gestalten müssen.«98 Wobei das zentrale Problem der Freisetzung aus kontinuierlichen Kontexten und deren vertrauten Selbstverständlichkeiten dann aber natürlich auch längst nicht etwa mehr darin besteht, wie es in den 1980er Jahren noch besonders hervor gehoben wurde, dass alle Regeln, Ziele und Zwecke des persönlichen Umgangs darum nun immer wieder neu ausgehandelt werden müssten.99 Dazu bleibt nun sozusagen gar keine Zeit mehr – und auch dies bleibt nun vielmehr Prozessen der ›Selbst-Emergenz‹ sozusagen überlassen. Die Hauptsorge jedenfalls gilt nun vielmehr dem Risiko, den Anschluss zu verlieren, den Moment zu verpassen, in dem eine wichtige Information kursiert, in dem sich ein neues Netzwerk konstituiert, in dem der eigene Schwarm wieder einmal ›auf bricht‹ – zu einer neuen Aktion, einem neuen ›Event‹, einem neuen Flashmob. Damit ist nun im Grunde auch schon gesagt, wo man die Angebote, die Technik und die Medien zu suchen hat, die solchen Ängsten heute vor allem entgegen wirken – und zugleich den individuellen Einfallsreichtum bei der Gestaltung der eigenen Schwarmsozialität immer neu befeuern. Die Hoffnung, wirklich nichts mehr zu verpassen, mit Leichtigkeit viele lose Beziehungen ›managen‹ und die eigene Position in der Welt der Schwärme und Netzwerke bewusst und gezielt gestalten zu können, stützt sich zur Zeit natürlich vor allem auf twitter und das ›Twittern‹, auf Facebook und studiVZ – »und sie basiert auf Telefonen, Faxgeräten, Anruf beantwortern, Mailboxen, Videokonferenzen, Emails, Chatrooms, Diskussionsforen, Mailinglisten und Webseiten.«100 Verlässt man die mediatisierten Welten und den Bereich medial vermittelter Interaktion (der ›Interaktion unter Abwesenden‹ sozusagen), so findet man inzwischen aber auch hier dann noch genug Gelegenheiten, um rasch und effizient noch mehr lose Verbindungen zu knüpfen: Auch im 96. A. Neef: Leben im Schwarm (ohne Paginierung). 97. Ebd. 98. A. Wittel: Auf dem Weg zu einer Netzwerk-Sozialität, S. 178. 99. So etwa noch U. Beck: Risikogesellschaft, S. 161-204. 100. A. Wittel: Auf dem Weg zu einer Netzwerk-Sozialität, S. 182-183.

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Feld der ›Interaktion unter körperlich Anwesenden‹ findet man inzwischen immer mehr Praktiken, die es – wie das so genannten Speed-Dating – erleichtern, sich dem Dispositiv der Netzwerksozialität zu unterwerfen und es zugleich als selbstverständliche Lebensform anzunehmen.101 Dennoch müsste man im Anschluss an eine Mediengeschichte der Subjektivität wohl sagen: Das Internet ist derjenige Ort, an dem Netzwerk-Sozialität ebenso wie Netzwerk-Subjektivität heute vor allem anderen ›praxeologisch‹ eingeübt werden.102 Und dies ist für unseren Kontext hier natürlich auch insofern bedeutsam, als es noch einmal verdeutlicht, dass die heutige Bedeutung der Schwarm-Figur weniger darin liegt, dass sie am Internet bestimmte Potentiale sichtbar zu machen vermag, als darin, dass sie latent dazu beiträgt, es in einer bestimmten Weise und mit sehr spezifischen Funktionen in die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen einzufügen und einzubauen (vgl. dazu genauer Abschnitt 6.8). Es bleibt offenbar noch die Frage nach der spezifischen ›Schwarm-Subjektivität‹. Wie gezeigt zählt zu den zentralen Kennzeichen von Schwarm- und Netzwerk-Sozialität zwar nicht unbedingt ›Unverbindlichkeit‹: sie beinhaltet durchaus auch die Möglichkeit zu ›punktueller Intensität‹ und höchster Verbindlichkeit – aber doch jede fehlende Verbindlichkeit zu Kontinuität sowie zu durchgängiger Verbundenheit. Genau das Gleiche gilt darum nun offenbar auch für ihre ›subjektive Rückseite‹: Man muss dasselbe lose Verhältnis dann offenbar auch zu den eigenen Handlungs- und Verhaltensoptionen erlernen, zum eigenen Begehren, den eigenen Wünschen und Interessen: die Fähigkeit zur jederzeitigen, jähen, unvermittelten Kappung jedes ›inneren Kontakts‹ zu eben noch zentralen Begierden und Interessen, ebenso wie die umgekehrte Fähigkeit zur ebenso unvermittelten Wiederaufnahme des Kontakts. Man muss beständig für alle möglichen Kontaktaufnahmen und Kontaktabbrüche bereit und offen sein. Das mehr oder weniger geheime Telos von Schwarmsozialität ist mit anderen Worten absolute Flexibilität – ›nach innen‹ wie ›nach außen‹. Deutlich ist nach all dem nun auch, inwiefern das Schwarm- und Netzwerk-Dispositiv offenkundig auch ›im Sinne der Macht‹ produktiv (oder einfach gesagt: für Politik, Staat und Ökonomie von Vorteil) ist: Es wirkt auf systematisch fragmentierte, zerstreute und entsolidarisierte, aber gleichwohl 101. Das Beispiel des Speed-Dating hat Wittel zwar nicht ausführlich untersucht, dafür aber genau so straff durchorganisierte ›Networking-Veranstaltungen‹. Exemplarisch etwa ist dieses Organisationsprinzip einer regelmäßigen Veranstaltung in London: »Internetunternehmer tragen grüne Abzeichen, Investoren haben rote Abzeichen und Dienstleistungsanbieter bekommen gelbe. Auf diese Weise verliert niemand Zeit, indem er versehentlich mit der falschen Person spricht.« Ebd., S. 168. 102. Vgl. für einen entsprechenden Ansatz – zur Frage, wie ›Subjektivitäten‹ sich im Gebrauch der je vorrangigen Medien ›praxeologisch‹ und historisch kontingent konstituieren – die Arbeiten von Andreas Reckwitz; mit Verweis auf weitere Arbeiten etwa Andreas Reckwitz, »Die historische Transformation der Medien und die Geschichte des Subjekts«, in: Andreas Ziemann (Hg.), Medien der Gesellschaft – Gesellschaft der Medien, Konstanz 2006, S. 89-107.

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›selbst-organisierte‹ und qua Selbst-Organisation vor allem auch hoch produktive Bevölkerungen (und nicht zuletzt: ›Belegschaften‹) hin. Auf einen Demos, der darum dann auch kaum noch zusätzliche Ansprüche an ›externe‹ politisch-ökonomische Unterstützung stellt – aufgrund nicht zuletzt eines subjektiv als sehr hoch empfundenen und imaginierten Maßes an scheinbar jederzeit spontan realisierbarer selbst-organisierter Solidarität, Kooperation und Vergemeinschaftung. Es ist darum auch naiv anzunehmen, dass sich auch Staat und Politik am Ende grundlegend ändern oder gar ›auflösen‹ müssen, wenn ›die Bevölkerung‹ und immer mehr Bereiche zusehends zu Selbst-Steuerung übergehen: dass auch ihnen dann schließlich nichts übrig bleibt, als sich in die Mechanismen der Selbst-Steuerung verwickeln und von ihnen zersetzen zu lassen – weil »[d]ie einzige Möglichkeit, sie zu steuern oder auch zu bekämpfen, bedeutet, ihre interne Logik zu nutzen.«103 Tatsächlich gibt es gar keinen Grund für (demokratische) Staaten, in schwarmartig selbst-gesteuerte Bereiche einzugreifen – und sich so in deren Logiken verwickeln zu lassen. Wahrscheinlich und bereits absehbar ist nur, dass etwa das Parteiensystem sich ändern muss, wenn es keine kontinuierlich-homogene Klientel mehr gibt, auf deren Unterstützung etwa ›Volksparteien‹ sich noch verlassen könnten – wie gerade auch wieder die Wahlerfolge der neuen Partei der Internetgemeinde, der PiratenPartei zeigen. Das parlamentarisch-repräsentative demokratische System, das Instrument der Wahlen, die staatliche Verwaltung aber werden dadurch offenbar in keiner Weise in Frage gestellt.104 Die Aussicht darauf erfüllt zur Zeit offenbar vielmehr eine ganz andere Funktion. Wie vieles andere sorgt auch sie dafür, dass die zunehmende Ausbreitung von Netzwerken und schwarmartigen Prozessen heute nach allem Möglichen aussieht, nur nicht nach dem, was sie vor allem ist: Ausdruck der Durchsetzung eines neuen Machtdispositivs, des Erfolgs einer neuen Regierungskunst. Es geht hier also auch um genau jene Art von Vorgängen und Zusammenhängen, zu deren Beobachtung Foucault seine Instrumente der Machtanalyse entwickelt hat: »[N]ur unter der Bedingung, dass sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verschleiert, ist die Macht erträglich. Ihr Durchsetzungserfolg entspricht ihrem Vermögen, ihre Mechanismen zu verbergen. Würde die Macht akzeptiert, wenn sie gänzlich zynisch wäre? Das Geheimnis […] ist unerlässlich für ihr Funktionieren.« 105 Und da dem Kollektivsymbol der Schwärme höchst vielfältige Funktionen dabei zukommen, die Macht des NetzwerkDispositivs zu verschleiern, ›erträglich zu machen‹ und ganz und gar ›unzy-

103. E. Horn: Die Ungestalt, S. 671. 104. Und das Beispiel der Piraten-Partei weist weit mehr als auf Diskontinui-

täten ja eigentlich auf Kontinuitäten hin: Wie im Beitrag von internet-basierten Unterstützer-Netzwerken zur Wahl Obamas, so werden auch in Gestalt dieser Partei offenbar vor allem deutliche Tendenzen zu ›umgekehrter Re-Adaption‹ sozusagen sichtbar (der ›Schwarmkultur‹ an traditionelle politische Ordnungssysteme, und nicht umgekehrt) – wie man sie auch von ›Gegenkulturen‹ her schon lange kennt. 105. M. Foucault: Sexualität, S. 107.

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nisch‹ aussehen zu lassen, widmen sich die letzten Abschnitte nun auch noch einmal einer genaueren ›Kollektivsymbol-Analyse‹ in diesem Sinne.

6.8 Die Schwärme im Bildermeer des Internetzeitalters Die Schwarm-Symbolik fügt sich zunächst einmal geradezu kongenial in den für das ›Internetzeitalter‹ bereits etablierten Bilderhaushalt ein – gemeinsam mit dem strukturell an sie gekoppelten und ebenso wichtigen System von symbolischen Topiken und Topoi (wie Heringsschwärme – Ozean/Vogelschwärme – Zugvögel – globales Nomadentum).106 Mehr noch: Vor dem Hintergrund des zur Beschreibung und Versinnbildlichung der neuen ›Medienepoche‹ bereits etablierten Universums von Symbolen und Metaphern, Katachresen und Neologismen (wie Datenmeer, ungekannt rascher Datenfluss, global village, Netzwerk) verheißt das Symbolsystem des Schwarms nun vor allem auch eine ganz neuartige, selbstverständliche und unproblematische Beherrschbarkeit der so vorgestellten Welt. Steht einem in Sinnbildern wie Datenmeer und Docuverse107 bereits eine »Kopplung von Erhabenheitstopoi (Meer und Universum) und traditionellen Versinnbildlichungen von Forscherdrang und Zukunftsdenken (Meer und 106. Zur Verdeutlichung der Relevanz solcher ›Verkettungen‹ in der Symbolik sei eine kurze Erläuterung Links zu seiner strukturalistischen Symboltheorie zitiert – die das einmal sehr einfl ussreichen Kollektivsymbols des ›Ballons‹ (im Sinne von ›Montgolfiere‹) behandelt: »Ich vertrete die Auffassung, dass kein Symbol und keine Metapher ausreichend analysiert wird, wenn sie bloß isoliert in ihrem jeweiligen Kontext […] analysiert wird. Zum Ballon-Symbol gehört die symbolische Topik der […] Bewegung, ferner die Topik von oben und unten, von Himmel und plattem, festem Erdboden. […] [D]er Ballon steht in der Symbolserie […] aller Vehikel ([…] z.B. in engem Anschluss an das Schiff sowie in Opposition gegen die langsam auf der Erde kriechende Postkutsche). […] [I]m Laufe der Aufklärung und der Revolution […] wurde der Ballonaufstieg symbolisch äquivalent mit dem Sonnenaufgang, dem Vulkanausbruch, dem Gewitter.« J. Link: Literaturanalyse als Interdiskursanalyse, S. 290291. In diesem Sinne geht es auch hier nun zum Teil um Aspekte des ›topischen Symbolsystems‹ der Schwärme, die im Kontext des ›Schwarm-Modells‹ zunächst vermeintlich keine Rolle zu spielen scheinen, für dessen symbolische Kopplung mit dem Imaginären des Internetzeitalters und der ›Wunschmaschine Computer‹ (vgl. Sherry Turkle: Die Wunsch-Maschine. Der Computer als zweites Ich, Reinbek 1984) aber von zentraler Bedeutung sind. 107. Vgl. speziell hierzu – aber instruktiv auch noch zu vielen weiteren Metaphern des Internet – Harald Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, Wien 1997, insbes. S. 9-13 und S. 54-80; zu wichtigen strukturellen Kennzeichen der Internet-Metaphorik außerdem Matthias Bickenbach/Harun Maye: »Zwischen fest und flüssig – Das Medium Internet und die Entdeckung seiner Metaphern«, in: Lorenz Gräf/Markus Krajewski (Hg.), Soziologie des Internet. Handeln im elektronischen Web-Werk, Frankfurt a.M., New York 1997, S. 80-98.

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Universum) vor Augen«108 sowie von »Unüberschaubarkeit und Unkontrollierbarkeit«109 – so bieten erst die Schwärme nun offenbar auch noch eine überzeugende Versinnbildlichung der Möglichkeit, sich in einer solchen Welt (dennoch) absolut souverän zu bewegen, und sich darin buchstäblich so sehr zu Hause zu fühlen ›wie ein Fisch im Wasser‹ (worin und womit sie ganz offenkundig auch weit über die alte Surf-Metapher hinaus gehen – und natürlich vor allem über das höchst schiefe Bild des ›Surfens auf der Datenautobahn‹). Und ›im Schwarm‹ sollte uns allen auch nicht nur das Datenmeer rasch zur ›zweiten Haut‹ werden. Als Mitglieder von Vogelschwärmen imaginiert sollten wir uns auch im global village und im docuverse – bzw. im Luftraum über ihnen – nun noch einmal ungleich rascher und geschmeidiger, sorgloser und sicherer fortbewegen können.110 Und nach dem starren und unbelebten Bild vom globalen Netzwerk schließlich erhält das Internet mit den Schwärmen nun schließlich auch noch eines für seinen in Wahrheit höchst dynamischen und ›belebten‹ Zustand. Das Netzwerk-Bild wird hier sozusagen ergänzt (und partiell überblendet und verdrängt) durch eines für Netzwerke ›in Betrieb‹ bzw. ›in Benutzung‹. Und zugleich damit werden aus dem Internet und allen neuen Medien unter dem Einfluss des Schwarm-Modells nun auch politische Wunschmaschinen, die politische Effekte ›wie von selbst‹ möglich zu machen scheinen.111 Vor allem nämlich erlaubt es dieses Bild nun auch sich anschaulich vorzustellen, dass 108. Eckhard Schumacher: »Revolution, Rekursion, Remediation: Hypertext und World Wide Web«, in: A. Kümmel/L. Scholz/Ders. (Hg.), Einführung, S. 255-276, hier S. 261. 109. Ebd. 110. Das wichtigste Argument der Schwarmintelligenz-Forschung in dieser Hinsicht ist durch populärwissenschaftliche Publikationen inzwischen weithin bekannt: dass Vogelschwärme in der Lage seien Gefahrenquellen schneller auszuweichen als ein einzelner Vogel es je könnte. Aber das ist nicht alles: »Da im offenen Ozean oder am Himmel keinerlei Deckungsmöglichkeit besteht, dient hier die Kongregation selbst als Schutz.« – »In verhaltens- und evolutionsbiologischer Perspektive können Schwärme« also auch »als flexible und dynamische Schutzräume angesehen werden, die sich in Bezug auf unbestimmte und bestimmte Bedrohungen bilden.« S. Vehlken: Angsthasen (Ms., ohne Paginierung). Bemerkenswert ist darum auch eine vergleichbare Verwendung des Schwarm-Symbols in Wir nennen es Arbeit: »Die beiden Autoren halten nicht viel von der bürgerlichen Kleinfamilie. Ihre liebste Kategorie für das kleine soziale Zusammensein ist ›der Schwarm‹. Das klingt nach Frank Schätzing, meint aber eine Art freier Kommune (serielle Monogamie und Patchworkstrukturen, sagten die beiden in einem Interview) mit ernstgenommenen elterlichen Verpflichtungen.« Eberhard Rathgeb: »Sie nennen es Arbeit«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.12.2006, Literaturbeilage, S. L1. 111. Vgl. etwa diese Beschreibung neuer-Medien-basierter ›Schwarm-Protestkultur‹: »They don’t have to spend all day protesting. They just get a message telling them when it’s starting, and then take the elevator down the street. They can be seen, scream a little and then go back to work.« Joel Garreau: »Cell Biology«, in: Washington Post vom 30. Juli 2002, S. C01.

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letztlich durch jeden Mausklick eine durch das ganze Netz sich fortpflanzende ›Welle‹ ausgelöst werden kann, die am Ende das gesamte globale ›User-Kollektiv‹ zu kollektiven Handlungen (etwa politischem Protest) oder zu ›Kurskorrekturen‹ sozusagen (kleinere oder größere gleichsinnige Verhaltensänderungen) veranlasst 112 – das populäre Bild vom Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Taifun auszulösen vermag, gewissermaßen endgültig in eine restlos positive politische Real-Utopie umschreibend.113 Massentheoretisch formuliert: Jede noch so minimale Bewegung jedes Einzelnen, »meint man, teilt sich den anderen mit.«114 Dies vor allem scheint man sich nun anschaulich, und im globalen Maßstab vorstellen zu können: die Welle als das neue elementare politische Bewegungsgesetz der Gegenwart – mit stets gutem, wunschgemäßem Ausgang, mit stets erfreulichen, für alle vorteilhaften Folgen.115

112. Oder direkt mit dem Schwarm-Modell gesagt: »Schwärme sind in der Lage, in Echtzeit auf Stimuli und Situationen zu reagieren, zu denen die meisten der Schwarm-Individuen keinen direkten Zugang besitzen – sie werden zu einem ›multianimal processing system‹, und mehr noch: zu einem ›social medium‹.« S. Vehlken: Angsthasen (Ms. ohne Paginierung). Und mit Elias Canettis Kommentar zur ›(Meeres-) Welle‹ als Massensymbol gesagt: »Der dichte Zusammenhang der Wellen drückt etwas aus, das auch die Menschen in einer Masse sehr wohl fühlen: eine Nachgiebigkeit gegen die anderen, als wäre man sie, als wäre man nicht mehr abgegrenzt für sich, […] und ein Kraftgefühl, einen Schwung, den sie einem dadurch alle gemeinsam geben.« Elias Canetti: Masse und Macht (1960), Frankfurt a.M. 1980, S. 87-88. 113. Als dieses Bild in den Jahren 2005/06 von einer politischen Werbekampagne (»Du bist Deutschland«) in diesem Sinne ausgelegt wurde, fiel noch auf, dass Theorien komplexer Systeme solch euphorische Hoffnungen eigentlich gar nicht zulassen: »In den Internet-Blogs, die die Kampagne diskutieren, wird die unfreiwillige Komik des Arguments markiert: Wenn schon ein Schmetterling einen Taifun auslösen könne, solle man dann nicht besser gar nichts tun? In der Tat besagt die Chaostheorie ja, dass die Folgen eines jeden Ereignisses – im guten wie im schlechten – tendenziell unkalkulierbar sind.« Jens Ruchatz: »Du bist Deutschland und die Popularität des Stars. Muster für Inklusion und Individualisierung«, in: C. Huck/C. Zorn (Hg.), Das Populäre, S. 168-194, hier S. 169. 114. E. Canetti: Masse, S. 11. Die Beschreibung bezieht sich auf einen Typus von Massen, die Canetti unter dem Oberbegriff der »offenen Masse« (ebd.) behandelt – und in deren Bestimmung er auch noch in vielem anderen heutige Schwarm-Theorien und ›Internet-Schwärme‹ vorweg zu nehmen scheint. So sei eine ›offene Masse‹ stets durch ihre »spontane Form« gekennzeichnet, dadurch dass sie »so plötzlich, wie sie entstanden ist, zerfällt« – und dass sie trotz und gerade aufgrund loser Bindungen und hoher Flüchtigkeit »ins Unendliche wachsen« kann; alle Zitate Ebd. 115. Es wird eben nur allzu gern vergessen, dass auch Schwärmen nicht immer alles gelingt: Trotz aller blitzschnellen Manöver entkommen auch Fischschwärme etwa natürlich nicht immer ihren Fressfeinden. Und mitunter zeigen sie sogar »ein Verhaltensprogramm der Furcht […], das im Gegenteil dazu führt, zur leichten Beute zu werden.« S. Vehlken: Angsthasen.

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6.9 Die unsichtbare Hand der Selbst-Regierung Es ist richtig, dass gewisse Lebewesen wie Bienen und Ameisen gesellig zusammenleben, weshalb sie von Aristoteles zu den politischen Lebewesen gerechnet werden, und dass sie doch keine Führung haben als ihre eigenen […] Neigungen, und auch keine Sprache, wodurch der eine dem anderen zu erkennen geben könnte, was seiner Meinung nach dem Gemeinwohl zuträglich ist. Thomas Hobbes Betrachte die Heerde, die an dir vorüberweidet: sie […] springt umher, frisst, ruht, verdaut, springt wieder, […] kurz angebunden […] an den Pflock des Augenblickes und deshalb weder schwermüthig noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, weil er seines Menschenthums sich vor dem Thiere brüstet und doch nach seinem Glücke eifersüchtig hinblickt. Friedrich Nietzsche Das Schwarm-Modell also gipfelt in gewisser Weise in der Vorstellung, dass das ›freie Spiel der Schwarm-Kräfte‹ im Bereich des Medialen sich am Ende (wenn es möglichst vollkommen verwirklicht ist) – wie das ›freie Spiel der Kräfte‹ auf dem kapitalistischen Markt – stets zum Besten aller auswirke. In zentralen Hinsichten handelt es sich beim Schwarm-Modell, mit anderen Worten, schlicht um ein auf den Kopf gestelltes – und von ›Konkurrenz‹ auf ›Kooperation‹ umgestelltes und umgearbeitetes – Markt-Modell. Und nicht nur deshalb erscheint es dann auch geradezu wie die Speerspitze einer heute bis ins Herz des Politischen vordringenden ökonomischen Rationalität. Denn vor allem beerbt das Schwarm-Modell nun auch noch unmittelbar die für alle moderne ökonomische Rationalität bis heute zentrale Figur. Vor allem ist es ein (wenn auch nicht sogleich wieder erkennbarer) Wiedergänger von deren Inbild und Inbegriff: die als post-kommunistisches und post-klassengesellschaftliches Gespenst von revolutionären Gemeinschaften116 wieder gekehrte Idee von der göttlich lenkenden ›unsichtbaren Hand‹ – an der Michel Foucault in seinen Kommentaren zu Adam Smith zu Recht den Aspekt der Unsichtbarkeit als das Entscheidende hervorhob. Denn es handelt sich hier offenbar nicht einfach nur um konventionelle Unsichtbarkeit sozusagen (die bewirkt, dass man etwas nicht sehen kann). Es geht vielmehr »um eine Unsichtbarkeit, die bewirkt, dass kein […] Akteur das Kollektivwohl suchen soll.«117 Die »unsichtbare Hand, die die Interessen spontan kombiniert, verbietet zugleich […] jede Form eines übergeordneten Blicks, der es gestatten würde, den […] [P]rozess vollständig zu erfassen.«118 Die ›unsichtbare Hand‹ also fordert gleichsam eine freiwillige Selbstverstümmelung der politischen Vernunft, ein freiwilliges Nicht-Sehen-, Nicht-Wissen- und Nicht-mehr-poli116. Vgl. nochmals M. Hardt/A.Negri: Multitude, S. 109-111. 117. M. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, S. 384. 118. Ebd. S. 385.

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tisch-Denken-Wollen. Das Entscheidende ist zunächst, dass sie eine selbst gewollte und selbst herbei geführte sowie klaglos hingenommene und ertragene Blindheit fordert. Noch wichtiger aber ist, welchen Ausweg sie dann weist. Wenn gilt: »Das kollektive Wohl darf selbst nicht anvisiert werden«119 – dann muss man, wie Foucault hervorhebt, im Umkehrschluss offenbar auch sagen: »Gott sei Dank kümmern sich die Leute nur um ihre Interessen, […] denn wenn sie anfangen, sich um dieses Wohl zu sorgen, würden die Dinge beginnen nicht mehr zu funktionieren.« 120 Die Figur der ›unsichtbaren Hand‹ nimmt der Blindheit, die sie fordert, im Gegenzug also nicht nur jeden Schrecken und jeden Makel, und sie erklärt sie nicht nur zu einer problemlosen Selbstverständlichkeit – sie lässt sie vielmehr geradezu als Hellsichtigkeit erscheinen: Es erweist sich am Ende als hellsichtig, wenn man sich für das große Ganze blind zeigt. Denn das Unsichtbare, das darin verborgen Wirkende ist gutartig, an Effizienz nicht zu überbieten, und arbeitet am zuverlässigsten, wenn man es nicht stört. Und Gleiches gilt im Falle des Schwarm-Modells nun offenbar auch für die »Kommunikations- und (Inter)-Aktionsbedingungen in lokalen Nachbarschaften.«121 Am Ende ist es am klügsten, stets einfach spontan auf das zu reagieren, was gerade in den eigenen Netzwerken passiert, und das heißt in Zeiten des ›Web 2.0‹ vor allem: spontan und kurz zu ›posten‹ – und den Rest gestrost der »Verschaltung der Relationen« 122 im Schwarm zu überlassen. »›Wir haben das Glück erfunden!‹ – sagen die letzten Menschen und blinzeln.«123 – »Wir befinden uns hier«, schließt Foucault, »im Zentrum des Prinzips der Unsichtbarkeit.«124

119. Ebd. 120. Ebd., S. 383. 121. S. Vehlken: Schwärme, S. 236. Entscheidend jedenfalls ist: »Schwärme

bewegen sich […] in drei Raumdimensionen, jedoch auf der Basis von lokalen Relationen.« Ders.: Angsthasen. Alles also geschieht hier »allein aus der rapiden Weiterleitung lokaler Information über die Bewegung der nächsten Nachbarn.« Ebd. 122. S. Vehlken: Schwärme, S. 383. 123. Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen, KSA 4, S. 19. Vgl. dazu auch: »Welches ist die Art des Vorstellens, worin sich die letzten Menschen aufhalten? […] Blinzeln – das heißt: ein Scheinen und einen Anschein zuspielen und zustellen, auf welchen Anschein man sich als etwas Gültiges verabredet und zwar mit dem wechselseitigen, gar nicht ausdrücklich abgesprochenen Einverständnis, all dem so Zugestellten nicht weiter nachzugehen.« Martin Heidegger: Was heißt Denken?, Tübingen 1984, S. 31. 124. M. Foucault: Geschichte der Gouvernementalität II, S. 384.

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Sebastian Gießmann, Ulrike Brunotte, Franz Mauelshagen, Hartmut Böhme, Christoph Wulf (Hg.)

Politische Ökologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2009 Oktober 2009, 158 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1190-8 ISSN 9783-9331

ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008), Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) und Politische Ökologie (2/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien März 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

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