Laientheater: Theorie und Praxis einer populären Kunstform [1. Aufl.] 9783839417805

Laientheater boomt in den unterschiedlichsten Formen - als zunächst unbestimmtes und damit freies Komplementärphänomen z

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Laientheater: Theorie und Praxis einer populären Kunstform [1. Aufl.]
 9783839417805

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Laientheater – ein diffuses Phänomen als theoretisches Problem und praktische Chance
Regie im Laientheater, oder: Der Umgang it unerfüllbaren Anforderungen
Die Struktur des semiprofessionellen Theaterbereichs
Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum
Sprache als Musik. Ein Technikprogramm
Das (nicht) perfekte Bühnenbild
Schminken als Vollendung des ‚natürlichen Gesichtsgemäldes‘
Lampenfieber: Entstehen und Vergehen einer Kulturkrankheit
Vom Nutzen des narrativen Reality-TV
Literatur
Autorinnen und Autoren

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Silvan Wagner (Hg.) Laientheater

Theater | Band 32

Silvan Wagner (Hg.)

Laientheater Theorie und Praxis einer populären Kunstform

Die Publikation wurde gefördert vom Universitätsverein Bayreuth, der Friedrich-Baur-Stiftung, der Raiffeisenbank Obermain-Nord, der Stadt Lichtenfels und der Kulturgemeinde Burgkunstadt

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Guido Apel, Bamberg Umschlagabbildung: Guido Apel, Bamberg Lektorat & Satz: Silvan Wagner Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1780-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 7 Einleitung: Laientheater – ein diffuses Phänomen als theoretisches Problem und praktische Chance

Silvan Wagner / Susanne Knaeble | 9 Regie im Laientheater, oder: Der Umgang mit unerfüllbaren Anforderungen

Silvan Wagner / Britta Ender | 27 Die Struktur des semiprofessionellen Theaterbereichs

Britta Ender | 47 Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum

Susanne Knaeble | 67 Sprache als Musik. Ein Technikprogramm

Silvan Wagner | 87 Das (nicht) perfekte Bühnenbild

Guido Apel / Susanne Knaeble | 105 Schminken als Vollendung des ‚natürlichen Gesichtsgemäldes‘

Eva Wagner | 119 Lampenfieber: Entstehen und Vergehen einer Kulturkrankheit

Silvan Wagner | 135 Vom Nutzen des narrativen Reality-TV

Eva Wagner | 161

Literatur | 183 Autorinnen und Autoren | 191

Vorwort

Theater spielen und über Theaterspielen nachdenken sind im professionellen Bereich zwei institutionell getrennte Betätigungen, die von Schauspielern einerseits und Theaterwissenschaftlern andererseits ausgeübt werden. Vielleicht kann es sich gerade das nicht institutionalisierte Laientheater leisten, beide Bereiche miteinander in engen Kontakt zu bringen. Dies soll in diesem Buch geschehen: Auf der Basis langjähriger aktiver Laientheatererfahrung und Zusammenarbeit in der Theatergruppe Bumerang versuchen die Autoren ihre eigene Praxis in verschiedenen grundlegenden Arbeitsbereichen der Laienbühne theoretisch zu diskutieren. In diesem Zuge ist ein Buch entstanden, das nicht nur praktische Anregungen gibt, sondern auch theoretische Begründungsmodelle entwirft, die speziell für das Laientheater zugeschnitten sind. Gerade in diese theoretische Diskussion einzusteigen dürfte sich im Einzelfall als sinnvoller für die je eigene Laientheaterpraxis erweisen als eine bloße Umsetzung praktischer Handreichungen. Zu großem Dank sind wir den Institutionen verpflichtet, die die Drucklegung dieses Buches finanziell und ideell unterstützt haben, dem Universitätsverein Bayreuth, der Friedrich-Baur-Stiftung, der Raiffeisenbank Obermain-Nord, der Stadt Lichtenfels und der Kulturgemeinde Burgkunstadt. Ein Großteil der Druckkosten wurde durch die Einnahmen aus unseren Theaterproduktionen abgedeckt, weshalb dieses Buch seine Existenz auch auf dieser Ebene nicht zuletzt dem Laienschauspiel selbst verdankt.

Einleitung: Laientheater – ein diffuses Phänomen als theoretisches Problem und praktische Chance S ILVAN W AGNER / S USANNE K NAEBLE

Laientheater ist sowohl grundsätzliches als auch boomendes Kulturphänomen einer künstlerisch-praktischen Interpretation von dramatischen Texten und Stoffen. Die anwachsende gesellschaftliche Bedeutung des deutschsprachigen Laientheaters lässt sich auch an der jüngeren Entwicklung des Dachverbandes Bund Deutscher Amateurtheater (BDAT) ablesen, der keineswegs alle Laientheatergruppen erfasst.1 Schon wegen dieser zentralen, kulturellen Bedeutung kann das Phänomen Laientheater von einer wissenschaftlichen Untersuchung von Seiten der Theater- und Literaturwissenschaften nicht ausgeschlossen werden; gleichwohl wurde das Laientheater als eigenstän-

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„Gehörten dem BDAT 1980 über die Mitgliedsverbände 612 Amateurbühnen an, so waren es im Jahr 2000 bereits 1800. Heute sind in den mehr als 2300 Mitgliedsbühnen ca. 100.000 Menschen ehrenamtlich aktiv. Die Bühnen erreichen mit ihren 6000 bis 8000 Inszenierungen pro Jahr bis zu sechs Millionen Zuschauer“ (http://bdat.wklv.de/cms/upload/Geschichte _des_BDAT_1892_2009.pdf, eingesehen am 06.08.2010). Zu den unterschiedlichen Geschichten des neueren deutschen Amateurtheaters der alten und neuen Bundesländer vgl. ausführlich Hametner 1993.

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dige Kunstform von der Forschung bislang äußerst stiefmütterlich behandelt.2

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Die Veröffentlichungen zum Laientheater sind absolut dominiert von praktischen Handreichungen ohne tiefere theoretische Reflexion (vgl. exemplarisch Drenkow/Hoerning [Hg.] 1968, Eichenseer [Hg.] 1991, Eckstein u.a. 2004); dies führt teilweise zu fragwürdigen Selbstverständlichkeiten, etwa der Dominanz von Jahrmarktsmaske und aufwändiger Bühnengestaltung im Kindertheater zuungunsten qualitativer Arbeit im darstellerischen Bereich (vgl. auch Kittel 1997, S. 96). Die eigentliche Forschung zum deutschsprachigen Laienspiel ist äußerst schmal und divergent. Ein Großteil der Forschung betrachtet schmale Ausschnitte der Geschichte des Laienspiels unter historischen Fragestellungen, ohne dabei die gewonnenen Ergebnisse auf ein rezentes Laientheater anzuwenden und in eine ästhetische Diskussion zu bringen (vgl. Scharrer 1960, Kaufmann 1991, Ko 2002). Viele Veröffentlichungen sind dezidiert dem Schultheater als Sonderform des Laientheaters unter pädagogischen Zielsetzungen gewidmet (eine kommentierte Auswahlbibliographie liegt bei Schwarzwald 1992 vor; mit wissenschaftlichem Anspruch untersuchen Neuhaus 1985, weite Teile von Belgrad [Hg.] 1997 und Liebau u.a. [Hg.] 2005 das Schultheater); eine Verallgemeinerung schulischer Theatermodelle auf das gesamte Laientheater erscheint jedoch nicht als sinnvoll, da die Institution Schule sehr spezifische Rahmenbedingungen setzt, die nicht ohne weiteres auf andere Theaterformationen übertragbar sind. Das Laientheater in der Breite seiner Erscheinungsformen und unter ästhetischen Fragestellungen nimmt nur ein sehr schmaler Bereich der Forschung in den Blick: Von in erster Linie historischer Bedeutung sind die Veröffentlichungen Das Laienspiel von Martin Luserke und Laienspiel und Laientheater von Rudolf Mirbt; beide Wegbereiter der Laienspielszene des 20. Jahrhunderts betten ihre Überlegungen zum Laientheater in ein pädagogisches Gesamtkonzept ein (vgl. dazu Godde 1990), wobei vor allem Mirbt durch die Etablierung eines eigenen Literaturmarktes für Laienspielstücke eine komplette Loslösung vom Profitheater forciert. Gemeinsam ist in der Laienspielphase vor dem Zweiten Weltkrieg die Zentralstellung eines diffusen Volksbegriffes (vgl. Kaufmann 1991, S. 93-96), eine kompromittierte Ausrichtung, die in der Dissertation Das volksdeutsche Laienspiel von Karl Ziegler 1937 ihren peinlichen Höhepunkt erfährt und in keiner Weise

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Die vorliegende Aufsatzsammlung versucht weder deskriptiv das diffuse Phänomen Laientheater als Ganzes zu beschreiben, noch normativ bestimmte Arbeits-, Interpretations- und Denkformen für das gesamte Laientheater zu fordern (dafür wären jeweils umfassende Einzeluntersuchungen notwendig, die zum Großteil noch ausstehen); vielmehr ist der Ansatz des vorliegenden Bandes induktiv in dem Sinne, dass eine bestimmte Erscheinungsform des Laientheaters zum Ausgangspunkt sowohl theoretischer wie auch praktischer Überlegungen herangezogen wird, ohne damit einen grundsätzlichen Vorrang dieser Erscheinungsform zu behaupten. Sie realisiert sich in der Theatergruppe Bumerang / Lichtenfels, der alle Autoren des vorliegenden Bandes als langjährige, aktive Mitglieder angehören; es handelt sich dabei um eine Formation, die sich 1995 aus einer ehemaligen Schultheatergruppe entwickelt hat und seitdem jährlich eine Dramenproduktion3 in eigener Trägerschaft erarbeitet. Mitglieder sind Studie-

anschlussfähig erscheint. Der vom Deutschen Amateurtheaterverband unter der Schriftleitung von Michael Hametner herausgegebene Sammelband Deutsches Amateurtheater – Woher? von 1993 stellt dahingehend eine besonders wichtige Veröffentlichung dar, da hier der Versuch unternommen wird, unmittelbar nach dem Zusammenschluss des ost- und des westdeutschen Laientheaterverbandes die jeweilige Geschichte der Laientheaterästhetik aufzuarbeiten und dabei auch vor die Zeit von 1945 zurückzugehen. Hier liegt eine Textsammlung vor, die einen kritischen Überblick über die Ausdifferenzierung des Laientheaters im 20. Jahrhundert bietet, deren Schwerpunktsetzung aber auf der historischen Perspektive vor allem des Vereinswesens liegt. Laientheaterästhetik im Spannungsfeld zwischen Theorie und rezenter Praxis wird – trotz der Schwerpunktsetzung auf das Schultheater (s.o.) – in einigen Aufsätzen des Sammelbandes TheaterSpiel von Jürgen Belgrad von 1997 diskutiert. Notwendigerweise bleiben diese ersten Ansätze einer Laientheaterästhetik aber divergent und momenthaft. Der Versuch einer geschlossenen, theoretischen Annäherung von den spezifischen Bedingungen des Laientheaters aus an seine Praxis, wie ihn die vorliegende Aufsatzsammlung darstellt, ist bislang Desiderat. 3

Die Konzentration auf das textbasierte Drama mag als rückschrittlich erscheinen hinsichtlich der performativen Wende des Theaters und auch der Theaterwissenschaften; es handelt sich dabei jedoch nicht um die For-

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rende und Akademiker, Schüler, Lehrer und anderweitig Berufstätige. Nach einer intensiven Probenphase (einen Monat täglich vier Stunden Probe) erfolgen vier Aufführungen des erarbeiteten Dramas, wobei sich Produktions- und Aufführungskosten ausschließlich aus Eintrittsgeldern und Werbeeinnahmen bestreiten.4 Prinzipielles Anliegen dieses Bandes ist es vor diesem Hintergrund, das Phänomen Laientheater jenseits einer pejorativen Wertung als künstlerisch eigenständige Schaffensform vorzustellen und deren weitgehend brachliegendes Potential – wenn auch nur in Ansätzen – zu erschließen. Zu diesem Zweck wird eine identifikatorische und historische Annäherung versucht. Das Phänomen Laientheater ist nicht zufällig bislang ein Stiefkind der Forschung:5 Laientheater ist der markierte Gegensatz zum jeweiligen unmarkierten (und breit erforschten) „normalen“ Theater; da sich dieses durch die Epochen hindurch bekanntlich fundamental verän-

derung, zurück zum dramenorientierten Werktheater des 19. Jahrhunderts zu kehren, die Präferenz des Textes als Ausgangspunkt ist bei der Theatergruppe Bumerang vielmehr schlicht der Tatsache geschuldet, dass unter den Verantwortlichen viele Text- und Literaturwissenschaftler zu finden sind. Ein dramenorientierter Theaterbegriff wäre als allgemeiner Theaterbegriff freilich zu eng gefasst, eine Herangehensweise an eine Theaterproduktion über den Dramentext bleibt ungeachtet dessen aber nach wie vor eine legitime Möglichkeit, welche darüber hinaus einen überaus produktiven Zugang aus textwissenschaftlicher Beobachtung und künstlerischer Interpretation offeriert. 4

Vgl. http://www.theatergruppe-bumerang.de, eingesehen am 15.09.2010.

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„Über das professionelle Theater wird viel geredet und noch mehr geschrieben – meist lamentiert, geklagt, geseufzt: über Kosten, Publikumsferne, Langeweile im Theater. Hier geben wir Ratschläge, hier wissen wir alles besser, hier fühlen wir uns als Profis, die natürlich immer schon wissen, warum diese Inszenierung nichts und jene eben noch tragbar ist. [...] Über das Schul- und Amateurtheater wird weniger geredet und noch weniger geschrieben – zuwenig geredet und geschrieben. Hier zu reflektieren, zu kritisieren, hier Ratschläge zu geben: da betreten wir unsicheren Boden, hier wird das Gelände äußerst uneben“ (Belgrad 1997, S. 5, Hervorhebung durch Belgrad).

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dert, bestimmt sich auch die Identität seines jeweiligen Komplements, des Laientheaters, beständig neu. Dies erschwert seine Begriffsbestimmung und damit auch seine wissenschaftliche Fassbarkeit erheblich. Laientheater hat damit gewissermaßen keine eigene Natur, das Phänomen ist in seiner Existenz und Erscheinungsform abhängig von seinem Überbegriff Theater. Für dieses existiert bereits eine breit akzeptierte Formel, die allerdings nur heuristisch als brauchbar erscheint und gleichwohl weitere Identifikationsprobleme schafft, wie jüngst Hubert Habig ausführte: „Der Schauspieler bringt [...] durch sein Agieren die Bühnenfigur hervor, während Zuschauer dem beiwohnen: A spielt B und C schaut dabei zu. Diese schlüssige Formel erweist sich bei näherem Hinsehen aber als tückisch. Zielt sie doch allzu leicht auf ein mechanisches Modell, in dem Ursache, A spielt B, und Wirkung, C nimmt das wahr, einen kausalen Zusammenhang bilden und sich gegenseitig versichern. Der Akt des Hervorbringens speise seinen Bestand nur aus Letzterem, dem Akt seiner Aufnahme.“

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Im Folgenden arbeitet sich Habig an der Identität des Schauspielers A ab, die er auch in der jüngsten theaterwissenschaftlichen Diskussion als „keineswegs gesichert“7 deklariert; er formuliert schließlich einen umfangreichen Fragenkatalog, den er im Laufe seiner Monographie für das professionelle Theater abarbeitet: „Was bringt A hervor? Was ist also B? Der Schauspieler spielt die ihm übertragene Figur, der Zuschauer schaut ihm dabei zu. Spielt er demnach nur, oder ist es ihm ernst mit seinem Spiel? Ist ihm das Als ob der Spielsituation immer präsent, oder verliert es sich für ihn im Lauf der Handlung? Anders gefragt: Was muss einer dramatischen Figur zukommen, dass sie für ihren Träger wirklich spürbar und für ihren Zuschauer sinnlich fassbar wird? Was verbirgt sich hinter dem Prädikat spielt, das die Ursache erst konstituiert? Was ist zuletzt Schauspielen, und welchen Vorgängen schaut der Zuschauer C zu?“

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Habig 2010, S. 9.

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Habig 2010, S. 10.

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Habig 2010, S. 10, Hervorhebungen durch Habig.

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Diese Fragen stellen sich für das heutige Laientheater in gleicher Weise wie für das professionelle Theater – vielleicht sogar umso dringender und wahrscheinlich andere Antworten erfordernd: Die Identität des Laiendarstellers ist heute (anders als bei einem Profi) in der Regel eng in ein soziales Netz eingebunden, das mehr oder weniger dominant die Zuschauer C stellt. Im Schultheater etwa betrachten fast ausschließlich Mitschüler, Lehrer, Eltern und Verwandte in ihrer Rolle als C den Schüler A, der B darstellt und der damit in seiner privaten Identität in Auseinandersetzung mit der Rolle gebracht wird; beim Krippenspiel sieht die Kirchengemeinde als C ihrem Glaubensnachwuchs A zu, der heilige Personen B darstellt, über deren Identität in dieser Konstellation C weitaus genauere Vorstellungen als A haben kann; und bei freien, institutionell nicht gebundenen Laientheaterbühnen stellt sich das Publikum C nicht unwesentlich aus Freunden und Bekannten zusammen, die in der dargestellten Person B auch oft genug Eigenheiten des Darstellers A wiedererkennen oder diese gerne auch projizieren. Diese Interferenz zwischen privater Identität und Rollenidentität schlägt sich im heutigen Laientheater weitaus intensiver nieder als im professionellen Theater, so dass sich gerade Laientheater als Modellfall für fundamentale Fragen der Theaterwissenschaften anbieten dürfte, wie sie etwa Habig formuliert. Doch zurück zur gesuchten Identität des Laientheaters, die nicht nur in der skizzierten Durchmischung von privater Identität und Rollenidentität des Darstellers heute eine grundsätzliche Besonderheit des Laientheaters darstellt, über die es vom „normalen“ Theater abgrenzbar ist: Ausgehend von der Theaterformel A stellt B dar, während C zusieht kann Laientheater grundsätzlich über die Identität von A bestimmt werden, oder anders ausgedrückt: Die historische Bestimmbarkeit des Laientheaters funktioniert über eine Nachzeichnung der Begriffsgeschichte des Laien. Eine solche erschöpfend anzufertigen, kann nicht Aufgabe dieses Einleitungsaufsatzes sein, wenige Aspekte müssen hier genügen, um sich dem Phänomen Laientheater historisch anzunähern und dabei auch bleibende Problemfelder zu skizzieren. Dafür seien zwei Stationen der diffusen Geschichte des Laientheaters herausgegriffen, seine Ausformung im Mittelalter und im 17. Jahrhundert, um als Vergleichsfolie für die heutige Erscheinung des Lai-

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entheaters herangezogen werden zu können und das Phänomen auch in seiner historischen Dynamik fassbar zu machen. Die historischen Ursprünge des Theaters werden meist (in Nachzeichnung der kulturellen Orientierung der Renaissance) in der griechischen Antike gesucht, die Ursprünge des Laientheaters aber finden sich wohl eher im europäischen Mittelalter. Um dies begreifbar zu machen, sei dennoch zunächst kurz auf das antike Theater eingegangen, das etwa Ekkehard Jürgens in seinem Aufsatz mit dem programmatischen Titel Am Anfang war das Laienspiel entgegen der hier postulierten These als Ursprung des Laientheaters ansieht: „Das Theater begann [im antiken Athen] als Staats- und Volks-Theater gleichermaßen. Fast alle Darsteller waren erst einmal einfache Bürger, d.h. Handwerker, Händler, vielleicht sogar Bauern, in jedem Fall: ohne künstlerische Profession. Auch die Kritiker als solche gab es damals noch nicht; Laien bildeten das Massenpublikum, und Laien waren dazu auserkoren, die Inszenierung zu beurteilen bis hin zur Preisentscheidung. Künstlerisch vom Fach waren eigentlich nur die Dichterregisseure und ein paar Solodarsteller, pro Inszenierung nicht einmal eine Handvoll.“

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Den Begriff des Laien leitet Jürgens hier von griechisch laos = das Volk bzw. die Bürgerschaft ab, und in der Tat stellt sich das antike Theater dar als gänzlich von den Bürgern getragene Einrichtung. Gerade deswegen aber ist hier nicht sinnvollerweise von Laientheater zu sprechen: Es existiert in der Antike kein Komplementärphänomen, Theater geht auf im Theater der antiken Bürgerschaft und wird zumindest in seinen Hauptteilen von Laien getragen; Personen, die ihren Lebensunterhalt damit verdienen, sind unter den Laien als laos subsummiert und bilden kein eigenes Theater aus. Laientheater in diesem Sinne, als Synonym für Theater, verliert seine Trennschärfe und damit seine Notwendigkeit. Hinzu kommt, dass es zumindest in Mitteleuropa keine direkte, kontinuierliche Verbindung zwischen dem heutigen Theater und dem antiken Theater gibt, denn im christlichen Mittelalter setzt das Theater

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Jürgens 1997, S. 13.

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neu an am gottesdienstlichen Kultus, vor allem an der Liturgie der Osterfeier: „Das geistliche Spiel des Mittelalters ist aus der Liturgie entwachsen. [...] Die Diskussion um die Entstehung der liturgischen Osterfeier (dem Ausgangspunkt des mittelalterlichen Theaters) [...] hat immer wieder die Bedeutung Amalars von Metz (gest. 850) hervorgehoben, des berühmtesten mittelalterlichen Theoretikers der Liturgie. Amalar legt die Messe allegorisch aus: ‚Es wird alles und jedes gedeutet, Personen, Paramente, kirchliche Geräte, Zeitangaben, Handlungen‘, und zwar vor allem – und deshalb ist er für die Frage nach dem Ursprung des geistlichen Spiels so wichtig – rememorativ: Den Ablauf der Messe versteht er als eine Darstellung des Lebens Christi.“

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Im Folgenden begreift Steinbach die kirchenräumliche Trennung zwischen Klerikern und Laien, zwischen Priester und Gemeinde als grundlegend für das (Neu-) Entstehen des Phänomens Theater.11 Im geistlichen Spiel, das zunächst als Osterfeier und – später – als Osterspiel eine klerikale Trägerschaft und gottesdienstliche Rahmung hat12, führen Kleriker (A) Laien (C) die Heilsgeschichte (B) vor. Dieser Laienbegriff ist gänzlich zu unterscheiden von seiner heutigen Füllung und bezeichnet den Nicht-Kleriker, der in der frühen Phase des mittelalterlichen Dramas lediglich das Publikum stellt. Wichtig für den diachronen Vergleich ist jedoch, dass sich im Laufe des Mittelalters Formen von Laientheater herausbilden, bei denen Laien Träger und Ausführer dramatischer Darstellungen sind. Die Identität von (A) als Nicht-Kleriker ist zwar nicht identisch mit der Identität von (A) im modernen Laientheater als Nicht-Profi, doch vergleichbar ist die Ausformung eines Komplementärphänomens zum „normalen“ Theater. Das mittelalterliche Laientheater hat im Wesentlichen drei Ausprägungen: das Passionsspiel, das weltliche Spiel13 und die höfische

10 Steinbach 1970, S. 3. 11 Vgl. Steinbach 1970, S. 4, aufbauend auf Trier. 12 Vgl. Knaeble/Wagner 2010, S. 116f. 13 Früher oftmals unter dem Begriff des Fastnachtsspiels irreführend zusammengefasst, vgl. Simon 2003, S. 1-4. Das Fastnachtsspiel ist sicherlich eine der wichtigsten Ausformungen des weltlichen Spiels, wird aber seiner

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Literaturaufführung. Gemeinsam ist allen drei – sehr disparaten – Formen die deutsche Volkssprache, die sie vom lateinischen Theater des Klerus grundsätzlich absetzen, so dass die Unterscheidung von Klerustheater und Laientheater über Sprache und Aufführungsraum vielleicht sogar trennschärfer zu ziehen ist als die Unterscheidung von professionellem Theater und Laientheater in der Gegenwart.14 Das aus dem Osterspiel entwachsende Passionsspiel emanzipierte sich zunehmend von kirchlicher Trägerschaft, so dass mehr und mehr die politische Gemeinde eines Ortes Darsteller (A) und Publikum (C) stellte.15 Das weltliche Spiel war (wie auch das volkssprachliche geistliche Drama) in der städtischen Festkultur fest verankert und stellte seine Darsteller (A) aus der Bürgerschaft, oftmals (jedoch nicht ausschließlich) aus dem Bereich den zünftischen Handwerks.16 Das historisch schwer fassbare Phänomen der höfischen Literaturaufführung geriet bislang kaum in den Blick, wenn es um die Darstellung mittelalterlicher Theaterkultur ging; doch genügt die rekonstruierbare Aufführungssituation der höfischen Literatur des Mittelalters der Theaterformel völlig: Ein Erzähler (A) erzählt einem höfischen Publikum (C) Geschichten, die in ihrer überlieferten Textgestalt oft genug eine ausdifferenzierte Erzählerrolle (B) bereit stellen, die dramatisch darzustellen die Aufgabe eines höfischen Erzählers war.17 Allen drei Ausprägungen eines mittelalterlichen Laientheaters ist gemeinsam, dass Darsteller (A) in erster Linie Laien im Sinne von Nicht-Klerikern sind. Die Erzähler der höfischen Literatur allerdings

umfassenden und weit über den Zeitraum der Fastnacht hinausreichenden Bedeutung in der städtischen Festkultur nicht gerecht. 14 Vgl. Fischer-Lichte 1999, S. 23: „Während die lateinischen Spiele – ebenso wie die lateinischen Feiern – in der Kirche aufgeführt wurden, errichtete man die Bühne für die volkssprachlichen Spiele auf dem Marktplatz“. 15 Vgl. dazu ausführlicher Knaeble/Wagner 2010. 16 Vgl. Fischer-Lichte 1999, S. 15-17. 17 Um nur die offensichtlichste und unumgängliche Rolle zu nennen, die der höfische Erzähler zu verkörpern hat. Darüber hinaus liegt es sicherlich nahe, dass er auch die Redeanteile der Figuren der Geschichte dramatisch ausgestaltete, worüber es freilich keinerlei Aufführungsberichte gibt.

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können in ihrer Identität als fahrende Sänger oder auch Ministeriale des Hofes durchaus als Theaterprofis im neuzeitlichen Sinne verstanden werden, da sie mit der künstlerischen Beschäftigung des Vortrags in der Tat ihren Lebensunterhalt verdienten. Während die höfische Literaturaufführung historisch an den mittelalterlichen Adelshof gebunden ist und keine weiterreichende Tradition ausbilden konnte, haben sich das derbe weltliche Spiel und das laikale Passionsspiel als Formen des Laientheaters bis heute – sicherlich mutatis mutandis – halten können. Diese beiden diachronen Linien stehen damit quer zu einem synchronen Verständnis des heutigen Laientheaters, dessen Laienbegriff sich vom professionellen Darsteller (und nicht mehr vom Kleriker) abgrenzt. Dennoch lassen sich keine allgemeinen, ungebrochenen Linien vom mittelalterlichen Laientheater zum heutigen Laientheater ziehen, etwa aufgrund einer geringen Institutionalisierung und fehlender künstlerische Ausbildung der Darsteller, Aspekte, die (mit Ausnahme der höfischen Literaturaufführung) hier wie dort am Laientheater festzumachen sind. Beleg dafür ist die Theaterpraxis des 16. und 17. Jahrhunderts, die vor allem im konfessionellen Schultheater eine bedeutsame Ausprägung des Laientheaters erfahren hat. Das neuzeitliche „normale“ Theater setzt sich nach Eduard Neuhaus vor allem in drei Punkten vom mittelalterlichen Theater ab: Guckkastenbühne, aristotelische Dramatik und Berufsschauspielertum. Das konfessionelle Schultheater in Deutschland erachtet er dabei als gewichtige Ausnahme: „Im deutschsprachigen Raum ging die Entwicklung des neu-aristotelischen Sprechtheaters zunächst nicht mit der Professionalisierung des Schauspielertums einher. Im Bereich des Schauspiels war das Berufstheater in Deutschland bis weit ins 18. Jahrhundert hinein eine Domäne der Wanderbühnen von oft zweifelhaftem Ruf und einem Repertoire, das eher auf die Bedürfnisse von Jahrmarktsbelustigungen zugeschnitten war als auf die Interessen eines literarisch gebildeten Publikums. Die Berufsschauspieler der Wanderbühnen fanden weder zur Gründung fester Theaterbetriebe, noch konnten sie in der Qualität

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der Stücke und der Aufführungen mit dem konkurrieren, was für nicht professionelle Schultheater erreichbar war.“

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Das konfessionelle Schultheater stellt in historischer Hinsicht einen (verwirrenden) Mittler zwischen einer mittelalterlichen Identität des Laienbegriffs und seiner heutigen dar: Einerseits steht ihm mit der Wanderbühne ein dahingehend professionelles Theater gegenüber, dass die Darsteller der Wanderbühne ihren Lebensunterhalt mit dem Schauspiel verdienen; andererseits aber ist das konfessionelle Schultheater stärker institutionalisiert als das professionelle Wandertheater und erscheint auch vom Standpunkt der künstlerischen Qualität auf der Basis einer gezielten Ausbildung als höherstehend als das synchrone professionelle Theater. Auch im Blick auf das Mittelalter erscheint das Schultheater als Mittler, da es zunächst die kirchliche Trägerschaft formal und inhaltlich transportiert (und damit im mittelalterlichen Sinne zunächst nicht laikal ist), in seiner Geschichte sich aber von der Institution Kirche zunehmend löst: „Die Schultheater des 16. und 17. Jahrhunderts waren konfessionell gebunden und wurden insofern auch als Instrumente des Glaubenskampfes genutzt. Aber weder das ältere protestantische Schultheater noch das in der Gegenreformation konzipierte Jesuitentheater waren ihrer Zielsetzung nach ausschließlich auf konfessionelle Agitation fixiert. Beiderseits verlor denn auch die konfessionelle Komponente im weiteren Verlauf des 17. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung.“

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Anstatt der klerikalen Füllung setzte sich das Schultheater zunehmend allgemein pädagogische Ziele wie Sprachbeherrschung und Einübung von Verhaltensmodellen.20 Das Laientheater des 17. Jahrhunderts erweist sich damit als Komplement einerseits zu einem streng kirchlich orientierten Klerikertheater mittelalterlichen Zuschnitts als auch andererseits zu einem an wirtschaftlichem Gewinn orientierten Profitheater modernen Zuschnitts. Besonders wichtig für einen diachro-

18 Haueis 1997, S. 23f. 19 Haueis 1997, S. 24. 20 Vgl. Haueis 1997, S. 24.

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nen Vergleich unterschiedlicher Ausprägungen des Laientheaters ist, dass diese beiderseitige Abkoppelung nicht notwendigerweise einhergeht mit fehlender künstlerischer Ausbildung und schon gar nicht zwangsweise mit fehlender künstlerischer Qualität: Die Institution Schule organisiert dies selbst und ohne hierarchische Orientierung an Kirche oder Profitheater. Das heutige Laientheater ist als Gegenstück zum professionellen, berufsmäßigen Theater geprägt von fehlender professioneller Ausbildung, grundsätzlich schwacher Institutionalisierung und fehlender wirtschaftlicher Zielsetzung: Der Laiendarsteller (A) ist kein ausgebildeter Berufskünstler, der mit seiner Kunst seinen Lebensunterhalt verdient. Institutionell ist das Laientheater nicht fest gebunden, es kann mannigfaltigen Institutionen zugeordnet sein: Schule, Universität, Kirche, Heilanstalt, Vereinswesen, Partei etc. Das heutige Laientheater ist als Ganzes demnach nicht positiv bestimmbar, es ist zunächst das Negativ des institutionalisierten „normalen“ Theaters. Wie die historische Skizze allerdings gezeigt hat, gehört die Tendenz zur Negativbestimmung des Laientheaters zu seiner Natur, lediglich die abzugrenzenden Gegenbilder wechseln; während sich in der Vormoderne jedoch einigermaßen feste Identitäten von Laientheater herausbilden konnten, ist das Laientheater heute vielmehr ein diffuser Bereich, der sich in umfassenderem Sinne als in Mittelalter und Barock durch Freiheit auszeichnet. Der Umgang mit Freiheit ist allerdings eine äußerst schwierige Aufgabe, die die Darsteller des Laientheaters (A) bewältigen müssen; Herta-Elisabeth Renk begreift diese Freiheit etwas vorschnell als positiven Wert: „Grundsätzlich hat das Amateurtheater hierzulande keinen festen Spielraum, keinen Kostümfundus, keine installierte oder auch nur ausreichende Beleuchtung – also ist es ihm auch freigestellt, überallhin zu gehen, wo es einen interessanten Raum, einen guten sozialen oder ästhetischen Grund für das Spiel findet.“

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21 Renk 1997, S. 52.

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Hier ist eine Paradoxie der Freiheit impliziert, die darauf aufbaut, dass Freiheit eine Disposition, jedoch keine konkrete Arbeitsgrundlage des Laientheaters ist: Um Theater welcher Form auch immer machen zu können, zwingt die Freiheit das Laientheater dazu, sich selbst eine Form zu geben, sprich: sich selbst Grenzen zu setzen. Die Freiheit des Laientheaters erzwingt also paradoxerweise zugleich eine selbstverwaltete Beschneidung dieser Freiheit. Dies kann in einem Schritt und relativ umfassend geschehen, indem Laientheater sich einer festen Institution unterordnet (etwa Schule, Kirche, Partei), womit oft genug aber jedwede Freiheit des Laientheaters verloren geht; dies kann in Eigenregie und Schritt für Schritt geschehen, was vor allem in der Anfangsphase einen Organisationsaufwand erfordert, der einer vollberuflichen Belastung in nichts nachsteht. Wie auch immer: Freiheit bleibt die Ausgangsdisposition des Laientheaters, sie kann aus praktischen Gründen nicht sein Ziel sein. Jede Form des Laientheaters muss Setzungen in Bezug auf alle Aspekte machen bzw. als vorgegeben hinnehmen, die die grundsätzliche Freiheit des Laientheaters bestimmen: Ausbildung der Akteure, Finanzierung der Aufführung, Institutionalisierung der Theaterformation. Freilich kann sich eine Laientheatergruppe dafür entscheiden, die fehlende künstlerische Ausbildung ihrer Akteure zu akzeptieren ohne weitere Fortbildungsmaßnahmen – sie setzt sich dann aber gegebenenfalls Grenzen in Hinsicht der künstlerischen Qualität; freilich kann sie sich dafür entscheiden, sich keine Gedanken um Finanzierung der Aufführung zu machen – sie setzt sich damit aber Grenzen in Bezug auf Bühnengestaltung, Maske, Kostüm, Werbung; freilich kann sie versuchen, jedwede Institutionalisierung zu meiden – sie setzt sich damit aber Grenzen hinsichtlich der Dauer und Intensität ihrer sozialen Existenz. Es bleibt sicherlich dabei, dass hinsichtlich Finanzkraft, Ausbildung und Institutionalisierung das Laientheater hinter den Möglichkeiten des sich über diese Größen definierenden Profitheaters zurückbleibt, doch muss sich jede Theaterformation im Raum zwischen absoluter Freiheit und Professionalisierung einnischen. Wenn das Laientheater nicht nur blind auf seine Freiheit insistiert, sondern die notwendige Arbeit, sich selbst Grenzen und Ziele zu setzen, konsequent angeht, dann besteht tatsächlich die Chance, auch längerfristig ein auch in künstlerischer Hinsicht wertvolles Gegenstück zum Profitheater zu werden.

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Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beschäftigen sich mit diesem notwendigen Akt der Einnischung, einerseits ausgehend von einem konkreten Modell des Laientheaters und damit praxisorientiert, andererseits operierend mit theoretischen Modellen, um auch eine Abstrahierung und Anwendung auf andere Ausprägungen des Laientheaters zu ermöglichen. Mit dem Aspekt der fehlenden professionellen Schauspielausbildung beschäftigen sich grundsätzlich die Aufsätze Regie im Laientheater (Silvan Wagner / Britta Ender) und Arbeitsstrukturen des Laientheaters (Britta Ender). Regie im Laientheater Das rezente Laientheater ist dadurch bestimmt, dass seine Darsteller keine schauspielerische Ausbildung durchlaufen haben; damit kann auch die Regie bei der Probe nicht einfach auf in dieser Hinsicht professionelle Grundlagen der Darstellungsweise, Sprechtechnik, Übeformen etc. zurückgreifen. Dies stellt jedoch nur auf den ersten Blick eine eindeutige Beschränkung dar: Auch Laiendarsteller können bei ihrem Spiel auf Grundlagen zurückgreifen, die nicht nur fundamentale Bestandteile ihrer conditio humana sind, sondern die sie darüber hinaus auch in der Regel in einem bestimmten Bereich gezielt und gesteuert einzusetzen wissen – sei es als Schüler, Handwerker, Studenten, Lehrer, Dienstleister o.ä. Vornehmliche Aufgabe einer Regie im Laientheater ist es daher, die bereits vorliegenden und teilweise professionellen Erfahrungen der Darsteller aus den unterschiedlichsten Gebieten anschlussfähig für die Bühnenarbeit zu machen. Dies erhebt weitaus höhere Anforderungen an die Regie des Laientheaters, die damit den Einzelnen schnell überfordern kann. Dieses Dilemma kann durch eine dynamische Arbeitsteilung gelöst werden. Arbeitsstrukturen des Laientheaters Der Begriff Laie bezieht sich allenfalls darauf, dass die Darsteller des Laientheaters keine professionelle Bühnenausbildung durchlaufen haben, nicht aber darauf, dass nicht auch im Laientheater mit professionellen Strukturen gearbeitet werden kann. Der Artikel stellt dar, welche organisatorischen Strukturen des professionellen Theaters auf das Laientheater übertragen werden können (Arbeitsteilung nach Gewerken, Probenpläne, Sperrzeiten etc.) und untersucht ebenfalls, welche (ggf. auch vom Profibereich abweichenden) Strukturen speziell das Laientheater erfordert.

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Die fehlende schauspielerische Ausbildung der Darsteller des Laientheaters impliziert nicht, dass sie nicht musisch begabt sind oder in künstlerischen Nachbarbereichen des Schauspiels eine entsprechende professionelle Ausbildung durchlaufen haben. Die Aufsätze Sprache als Musik. Ein Technikprogramm (Silvan Wagner) und Schminken als Vollendung des ‚natürlichen Gesichtsgemäldes‘ (Eva Wagner) skizzieren Möglichkeiten, künstlerische Begabungen der Laiendarsteller in Musik bzw. bildender Kunst für die dramatische Arbeit zu nutzen. Sprache als Musik. Ein Technikprogramm Genauso wie Musik ist auch Sprache in ihrer Klanglichkeit hochkomplex, baut aber ebenso wie jene auf wenige grundlegende physikalische Parameter auf (Lautstärke, Tempo, Rhythmus, Tonhöhe etc.). Im Unterschied zu Musik erfolgt das Erlernen zumindest der Muttersprache nicht im Rahmen eines reflektierenden Unterrichtsgeschehens, so dass Form und Struktur des Einsatzes physikalischer Mittel zur Sinnerzeugung mittels Sprache oftmals – und vor allem im Laienbereich – nicht bewusst eingesetzt werden können; damit liegt bei den Darstellern zwar eine differenzierte Sprachklanglichkeit vor, auf deren einzelne Bestimmungsgrößen jedoch im Rahmen der Texterarbeitung nicht aktiv und willkürlich zugegriffen werden kann. Abhilfe kann hier ein am musikalischen Instrumentalunterricht orientiertes Technikprogramm Sprache schaffen, das in komplexitätsreduzierten Übungen den aktiven Zugriff auf einzelne technische Parameter der Sprache einübt und damit das Umsetzen klanglicher Anweisungen in der Probe vorbereitet. Schminken als Vollendung des ‚natürlichen Gesichtsgemäldes‘ Das Gesicht eines Schauspielers kann man als bemalte Leinwand begreifen, auf die bestimmte Vertiefungen und Erhebungen eingezeichnet sind. Diese können durch das Zusammenspiel von hellen und dunklen Farben optisch nach vorne, hinten und zur Seite verschoben werden, womit man beispielsweise einen Verjüngungseffekt erzielen kann oder eine charakterphysiognomische Veränderung. Was genau und in welchem Maß ein Gesicht verwandelt werden kann, wird stets durch das „natürliche Gesichtsgemälde“ bestimmt und beschränkt. Schminkanleitungen in Ratgeberliteratur zur Veränderungen eines Gesichtes sind meist normativ organisiert. Oft erbringen sie aber nicht das erwünschte Ergebnis. Scheinbar versagt bei einem derartigen Misserfolg der laikale Mas-

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kenbildner. Tatsächlich geht der Misserfolg auf das „natürliche Gesichtsgemälde“ zurück, das unvorhergesehene, paradoxe „Effekte“ in sich birgt. Um ein Maskenziel zu erreichen, brauchen Laienmaskenbildner daher praktikable Theorien, die es ihnen erlauben, außerplanmäßig und probierend vorzugehen und ein zufriedenstellendes Ergebnis zu erreichen.

Bei allem ehrenamtlichen Organisationsgeschick und bei allen institutionalisierten Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung des Laientheaters bleibt dessen Finanzlage im Vergleich zum Profitheater prekär. Dies hat vor allem Auswirkungen auf die Möglichkeiten der Bühnengestaltung. Der Aufsatz Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum (Susanne Knaeble) beleuchtet Möglichkeiten, auf darstellerischer Ebene mit diesem Problem umzugehen; der Aufsatz Das (nicht) perfekte Bühnenbild (Guido Apel / Susanne Knaeble) zieht analog Konsequenzen für die Bühnengestaltung. Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum Der Handlungsraum Bühne ist grundsätzlich durch Abstraktion und symbolische Repräsentation gekennzeichnet. Insbesondere im Vergleich zum Medium Film erscheint es als evident, dass es im Theater allgemein und speziell im Laientheater – nur sehr selten kann ein opulentes Bühnenbild verwendet werden – primär das Agieren des Schauspielers ist, das einen imaginativen ‚Raum‘ für die Beobachter erzeugt: Seine beobachtbar gemachten Sinneswahrnehmungen installieren den ‚Raum‘ und die Szene, die für den Zuschauer nur so als ‚Welt‘ erfahrbar sind. Sein Blick markiert z.B. die Enge oder Weite des Raumes, oder an seiner Mimik und Gestik wird die unerträgliche Lautstärke des Radios sichtbar. Der Beitrag versucht in erster Linie theoretisch zu beschreiben, warum die Größe ‚Raum‘ auf der Bühne grundsätzlich als etwas Produziertes zu begreifen ist und weshalb sie nie unabhängig von ihrer Wirkung, nie unabhängig vom performativen Handeln gesehen werden kann. Das (nicht) perfekte Bühnenbild Gerade im Laientheater stellt sich häufig das Problem, dass eine naturalistische Umsetzung des Bühnenbildes mit zu großem Aufwand und zu hohen Kosten verbunden wäre. Von der Vorstellung einer „perfekten“ Kulisse im Sinne von Panoramagemälden oder echten Bäumen auf der Bühne hin zur starken Ver-

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einfachung derselben sind einige Gedankenschritte notwendig. Durch die Abstrahierung der Kulisse und die Reduzierung auf das Wesentliche lässt sich auch mit einfachen Mitteln ein wirkungsvolles Bühnenbild erzeugen, das mitunter einem Stück eine ganz neue Dimension verleihen kann – und perfekt ist, weil es eben nicht perfekt ist.

Zwar ist Laientheater nicht per se institutionalisiert, doch hat es komplementär Teil am institutionalisierten, „normalen“ Theater und auch an den Institutionen Film und Fernsehen, deren Bedeutung in den letzten Jahrzehnten immens gewachsen ist. Die Aufsätze Lampenfieber: Entstehen und Vergehen einer Kulturkrankheit (Silvan Wagner) und Vom Nutzen des narrativen Reality TV (Eva Wagner) beschäftigen sich mit den Interferenzen, die sich zwischen den unterschiedlichen Formen künstlerischer dramatischer Darstellung gerade für das Laientheater ergeben und zeigen Probleme und Chancen auf. Lampenfieber: Entstehen und Vergehen einer Kulturkrankheit Gewöhnlicherweise wird das Phänomen Lampenfieber im Rahmen der Psychologie abgehandelt; hier liegen auch mittlerweile zahlreiche (populär-)wissenschaftliche Abhandlungen vor, die Lampenfieber in erster Linie als anthropologische Konstante begreifen und die darin freigesetzten Energien für den Auftritt nutzbar machen wollen. Im Gegensatz dazu kann eine kulturwissenschaftliche Betrachtung die Geschichte des Lampenfiebers und damit seinen Konstruktcharakter aufzeigen: Lampenfieber entsteht erst in einer relativ späten Phase der Theatergeschichte als Folge spezifischer Auftrittsmodalitäten, die den Darsteller von einem abgeschotteten Publikum gleichsam voyeuristisch beobachten lassen, wobei gerade dieser Aspekt gewöhnlicherweise nicht in der Performanz des Darstellers beleuchtet werden darf. An der Auftrittssituation selbst kann auch eine Arbeit am eigenen Lampenfieber gerade des Laienschauspielers ansetzen, da in diesem Bereich die Auftrittsmodalitäten weitaus leichter eingeübt oder aber auch verändert werden können als im institutionalisierten, professionellen Theater. Vom Nutzen des narrativen Reality TV Austins Sprechakttheorie und Goffmans Theorie des Alltagtheaters bieten eine Grundlage, um alltägliches Acting zu analysieren: Im Privatfernsehen, das spätestens seit den 90er Jahren als Leitmedium unserer Gesellschaft wahrge-

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nommen werden kann, werden tagtäglich mehrere Reality-TV-Formate gesendet. Eine Spielart ist das narrative Reality TV, in dem Laiendarsteller reale oder realitätsnahe Ereignisse zeigen oder nachstellen wie beispielsweise in der Gerichtshow Richter Alexander Hold oder der Psychoshow Zwei bei Kallwass. In ihnen agieren Menschen „wie du und ich“ als Schauspieler bzw. Darsteller. Die Art darzustellen zeichnet sich durch intensives Overacting aus, dem Doppeln von Gesagtem durch Körperhandeln beziehungsweise umgekehrt dem Doppeln einer Körperhandlung durch Verbalisierung. Ergebnis dieser Darstellungsweise ist, dass nicht nur eine Rolle dargestellt wird, sondern immer auch dargestellt wird, dass dargestellt wird. Die Beschäftigung mit dem narrativen Reality TV bietet gerade Laienschauspielern, die nicht in das institutionalisierte Theater eingebunden sind, die Gelegenheit, Darstellungsmöglichkeiten und deren (ggf. übertriebene) Wirkung kritisch zu analysieren und die dabei gewonnenen Erfahrungen in das eigene Spiel einzubauen.

Regie im Laientheater, oder: Der Umgang mit unerfüllbaren Anforderungen S ILVAN W AGNER / B RITTA E NDER

Das Schreiben über Regie im Laientheater steht vor einem letztlich nicht lösbaren Problem: der Diffusität des Phänomens, das in seinen jetzigen Erscheinungsformen unübersichtlich ausdifferenziert ist; 1 einen übergreifenden Regieentwurf aber für Schultheater, Kindertheater, Krippenspiel, Bauern- und Mundarttheater, Improtheater, therapeutisches Theater etc. zu formulieren erscheint als unmöglich. Schon die Bezeichnungen der unterschiedlichen Laientheaterausprägungen finden auf völlig verschiedenen Ebenen statt (sie bezeichnen etwa Inhalte, Methoden, institutionelle Einbindung, sozialen Träger etc.). Deshalb muss vor einer Reflexion der Möglichkeiten von und Anforderungen an Regie im Laientheater eine Analyse der spezifischen Bedingungen und Zielsetzungen einer bestimmten Form des Laientheaters erfolgen. Dieses Vorgehen ist angelehnt an die lehr-lerntheoretische Didaktik nach dem sogenannten Berliner Modell, das für einen verantworteten Unterricht eine genaue Analyse des Bedingungsfeldes (Rahmen der Veranstaltung und persönliche Faktoren aller Beteiligten) fordert, auf der erst eine sinnvolle Ausarbeitung des Entscheidungsfeldes (Ziele, Inhalte, Methoden und Medien) des Unterrichts

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Vgl. dazu den Artikel Einleitung in diesem Buch.

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erfolgen kann.2 Zunächst ist die Übertragung des Modells aus der Schuldidaktik auch für das Laientheater sinnvoll: Das Bedingungsfeld einer laientheatralen Formation stellt sich zusammen aus den äußeren Bedingungen des Rahmens (die institutionelle Einbindung der Theatergruppe3, regionale Bestimmungen4, Zeit und Ort von Proben und Aufführungen5) und den inneren Bedingungen der persönlichen Faktoren (Alter6, Ausbildung7, darstellerische Erfahrung, Art und

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Vgl. Schulz 1979, v.a. S. 22-43. Die meisten Laientheaterformationen sind institutionell eingebunden, sei es in Schule, Erwachsenenbildung, Verein, Kirche, Therapie etc. Hierbei sind die Rahmenbedingungen oftmals rigide gesetzt und bestimmen auch Zeit und Ort der Produktion.

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Unter regionalen Bestimmungen wird in erster Linie die Unterscheidung Stadt und Land diskutiert; freilich bestehen hier große Unterschiede (etwa die in der Regel höhere Dichte künstlerischer Konkurrenzveranstaltungen in der Stadt, differente Werbe- und Auftrittsmöglichkeiten etc.), doch vor allem hinsichtlich des Publikums ist vor einer kategorischen Differenzierung zu warnen: Weder ist bei städtischem Publikum mit mehr Theatererfahrung zu rechnen, noch etwa mit einer größeren Aufgeschlossenheit gegenüber avantgardistischen Inszenierungen. Hier muss im Einzelfall die regionale Theaterkultur analysiert werden.

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Der konkrete Proben- und Aufführungsort und die Zeiten wirken sich weitaus intensiver auf das Laientheater aus als auf den Schulunterricht, da Zeit und Ort Bestandteile des performativen Zieles von Theater (die Aufführung) sind, nicht aber Bestandteil des Zieles von Schulunterricht (Bildung). Freilich sind beide Größen auch im Rahmen der schauspielerischen Darstellung veränderbar (vgl. hierzu den Artikel Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum in diesem Buch), dennoch ist gerade für die illusionistische Veränderung die Analyse des Ausgangspunktes notwendige Grundlage.

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Heuristisch können mit Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter drei Altersbereiche unterschieden werden, die jeweils Eigenheiten in Bezug auf die didaktische und künstlerische Kommunikation aufweisen. Idealtypisch lassen sich pragmatisch-spielerische Erarbeitungsmodelle der Kindheit, kognitiv-analytische Erarbeitungsmodelle dem Erwachsenenalter zuordnen, freilich ohne jede Ausschließlichkeit. Bei Theaterproduktionen mit

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Intensität der Verpflichtung, politische Überzeugung etc.), und dabei stellen sich beispielsweise für eine Schultheatergruppe im Wahlpflichtbereich grundsätzlich andere Bedingungen auf allen Ebenen als für eine vereinsmäßig organisierte Theatergruppe. Angewendet auf das Laientheater ergibt sich freilich auch ein fundamentaler Unterschied zum Gebrauch des Berliner Modells für den Unterricht: Das Entscheidungsfeld (also Ziele, Inhalte, Methoden und Medien) ist nicht Bestandteil der Vorplanung eines Lehrers, sondern wird als Teil einer künstlerischen Produktion von allen Beteiligten getragen; zudem sind viele „Entscheidungen“ zusammen mit den spezifischen Bedingungen einer Theaterproduktion bereits vorgegeben, allen voran die jeweilige Zielsetzung, die zunächst oftmals an den institutionellen Rahmen gebunden ist: Das kirchliche Krippenspiel zielt auf religiöse Erbauung, das therapeutische Theater auf Selbsterfahrung und Gesundung, das Bauerntheater auf Unterhaltung; für das Schultheater formuliert Leopold Klepacki die normative Zielsetzung in Abgrenzung zum professionellen Theater:

Kindern und Jugendlichen sind zudem rechtliche Rahmenbestimmungen des Jugendschutzes zu berücksichtigen.

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Schulische Ausbildung bestimmt großteilig die Vorerwartung der Laiendarsteller in Bezug auf den Umgang mit Texten. Oftmals ist diesbezüglich trotz aller Bemühungen der Literaturwissenschaften eine Autorzentrierung und eine Fixierung auf Wiederspiegelung realhistorischer Gegebenheiten in Dramen dominant gesetzt, was ggf. mit andersartigen Möglichkeiten einer theoretischen und praktischen Interpretation eines Dramas kollidiert. Neben dieser naheliegenden Korrelation von Laientheater und Ausbildung ist aber gerade im Erwachsenenbildungsbereich damit zu rechnen, dass die Darsteller zwar in Bezug auf die Theaterarbeit Laien sind, dagegen aber in jeweils anderen Berufen professionelle Erfahrungen gesammelt haben. Können diese für die Laientheaterproduktion anschlussfähig gemacht werden (etwa die differenzierten Einblicke eines Büroangestellten in institutionelle Machkommunikation für eine Rolle in Urs Widmers Top Dogs), dann liegt hierin ein großer Vorteil gegenüber dem professionellen Theater, dessen Darsteller in der Regel über keine professionellen Erfahrungen in anderen Bereichen verfügen.

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„Theater in der Schule kann [...] keine Imitation des großen, des beruflichen Regietheaters sein, da es als Kommunikations- und Kunstform zunächst einmal darauf ausgelegt ist, seine Wirkungsmöglichkeiten auf die Spielenden, nicht auf die Zuschauer auszuüben. Schultheater ist ein Medium der Bildung für diejenigen, die es machen, also für die Schülerinnen und Schüler.“8

An dieser normativen Füllung kann jedoch auch exemplarisch gezeigt werden, dass die institutionelle Zielsetzung einer Theaterproduktion keineswegs identisch sein muss mit den tatsächlich angestrebten Zielen (von den erreichten Zielen ganz zu schweigen): Gerade das Ziel der Bildung der Darsteller dürfte für diese selbst kaum jemals zentral gesetzt sein, stattdessen können auch hier eine möglichst überzeugende schauspielerische Darstellung, die künstlerische Interpretation eines Dramas, Selbstbestätigung oder schlicht der Erwerb einer guten Note die eigentlich angestrebten Ziele sein. Analoges gilt für die anderen aufgeführten institutionalisierten Zielsetzungen: Das kirchliche Krippenspiel kann eigentlich dem Konkurrenzkampf der Eltern um die Begabung ihrer Sprösslinge dienen, das therapeutische Theater der Partnersuche, das Bauerntheater der lokalpolitischen Profilierung. Diese willkürlichen Beispiele verdeutlichen, dass die Zielsetzung im Laientheater zum einen institutionell vordefiniert ist, zum anderen aber aus einer unvorhersehbaren Gemengelage einzelner Interessen gebildet wird – jedenfalls sich aber der willkürlichen Vorausplanung einzelner Leiter entzieht, wie es der Begriff „Entscheidungsfeld“ impliziert; im Laientheater wird auch dieses von den Rahmenbedingungen und den persönlichen Faktoren der Beteiligten bestimmt, das Entscheidungsfeld geht tendenziell im Bedingungsfeld auf. Da das Laientheater nur in seinen näher bestimmten Formen fassbar ist, soll im Folgenden genauer eine laikale Theaterformation in den Blick genommen werden, die auf freiwilliger Basis der Beteiligten aufbaut und deren vornehmliche Zielsetzung die künstlerische Qualität der Theaterproduktion ist. Der institutionelle Rahmen hierfür wäre etwa in einer vereinsmäßig organisierten Theatergruppe zu finden,

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Klepacki 2004, S. 10f. Klepacki formuliert ebd. S. 10-27 und S. 72-84 eine teilweise ausführliche Bedingungsfeldanalyse des Schultheaters.

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aber auch – bei entsprechender persönlicher Zielsetzung der Beteiligten – im größeren Rahmen anderer Institutionen.9 Möchte man für den professionellen Bereich des Theaters die Grundlagen für eine hohe künstlerische Qualität formulieren, so liegt es wohl am nächsten, künstlerische Qualifikation und darstellerische Erfahrung der einzelnen Darsteller in den Blick zu nehmen; qualitative Ansprüche an die Darsteller zu stellen ist dagegen für den Laienbereich kaum sinnvoll – man könnte dies im Namen der künstlerischen Qualität der Produktion freilich tun, würde dann aber konsequenterweise schnell im Profibereich anlangen. Stattdessen verlangt die Suche nach Qualitätsgrundlagen im Laientheater einen grundsätzlichen Blickwinkelwechsel weg von den Darstellern und hin zur Regie, von der in der Tat viele Qualitäten zu fordern sind. Herta-Elisabeth Renk formuliert dies paradoxal: „Wer mit Amateuren arbeitet, sollte kein Laie sein; den können sich Berufsschauspieler eher leisten. Deswegen müssen Spielleiter nicht vom Theater kommen – es genügt, daß sie die entsprechenden Fähigkeiten besitzen.“10

Paradox ist diese Forderung für das Laientheater deswegen, weil in ihr der Laienbereich verlassen wird11; und in der Tat scheint dies die

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Gerade weil die persönlichen Zielsetzungen in einer Theatergruppe stark differieren können, ist künstlerische Qualität eine gute Möglichkeit eines gemeinsamen Nenners, der freilich im Einzelnen von weiteren Zielsetzungen flankiert bleibt. Auch diese differierenden Zielsetzungen müssen der künstlerischen Qualität nicht unverbunden gegenüberstehen, sondern können damit verbunden werden; dies wäre Teil der Arbeit einer Laienregie, wie sie im Folgenden skizziert wird.

10 Renk 1997, S. 50. 11 Renk nimmt diese Grenzüberschreitung gewissermaßen zurück, indem sie formuliert, dass der Spielleiter nicht vom Theater kommen müsse; freilich füllt sie damit den Laienbegriff damit in problematischer Weise qualitativ negativ, denn auch der nicht vom Theater kommende Spielleiter, der jedoch „die entsprechenden Fähigkeiten“ besitzt, ist nach ihrer Begriffsverwendung kein Laie; Laien können demnach nicht die entsprechenden Fähigkeiten besitzen. Ähnlich argumentiert Kittel 1997.

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einzige Konsequenz, möchte man an einem qualitativ hochwertigen Laientheater einerseits und dem einen Spielleiter andererseits festhalten. Die Setzung eines Spielleiters ist jedoch gerade für das Laientheater, das zumindest keiner einheitlichen institutionellen Struktur unterliegt, keineswegs selbstverständlich; bevor jedoch die personelle Füllung der Spielleitung weiter diskutiert werden soll, muss zunächst untersucht werden, welche Anforderungen sich ihr stellen. Dazu soll zunächst die praktische Laientheaterarbeit in zwei funktionale Bereiche unterteilt werden, in Darstellung und Regie; während vorerst für den Bereich der Darstellung kaum Anforderungen an das Laientheater zu stellen sind, sind konsequenterweise die Anforderungen an den Regiebereich im Laientheater tendenziell umfassend, soll künstlerische Qualität das Ziel sein.

ANFORDERUNGEN AN DIE R EGIE IM L AIENTHEATER I: R EGIEFÜHRUNG IM ENGEREN S INN Dies gilt bereits für den eigentlichen Arbeitsbereich der Regie, der Theaterprobe, bei der die Regie im Laientheater über künstlerische Interpretationsfähigkeiten hinaus (die grundsätzlich dieselben Fertigkeiten verlangt wie im Profibereich) auch didaktisch analysieren und praktisch darstellen können muss. Vor allem letzteres ist im Profibereich zu Recht verpönt: Schauspieler verbitten es sich, dass der Regisseur ihnen seine Vorstellungen zur Umsetzung einer Rolle praktisch vorspielt und sie zur Nachahmung auffordert. Seinen Grund hat diese Ablehnung in der Schauspielausbildung der professionellen Darsteller, die von der Dramenproduktion getrennt ist und in der Regel als abgeschlossen zurückliegt. Ein Regisseur, der Schauspielern etwas vorspielt, vermengt aber Beruf und Ausbildung bzw. macht die Probe zu einer Unterrichtssituation. Im Laienbereich gilt das radikale Gegenteil: Die Probe ist per definitionem auch Ausbildung, da Laien nicht auf eine solche zurückgreifen können. Hier gilt es, parallel zur Einstudierung einer bestimmten Rolle auch Grundlagen der Theaterarbeit zu erlernen, exemplarisch etwa eine adäquate Bühnensprache oder aber bühnenwirksame Mimik und Bewegungstechnik. Erlernung von

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Grundlagen aber verlangt auch die Möglichkeit der Nachahmung, weshalb die Regie im Laientheater auch exemplarisch darstellen können muss, also über bewegungsästhetische Fähigkeiten, Fähigkeiten der Stimmgestaltung, körperliche Ausdauer und Konzentration verfügen muss.12 Diese Fähigkeiten allein wären jedoch nutzlos, wenn die Regie nicht zugleich didaktisch-analytische Fähigkeiten besitzt; schließlich gilt es in der Probe, innerhalb kürzester Zeit die komplexe Darstellung eines Laienschauspielers analytisch in Einzelaspekte zu zergliedern, sie mit der Gesamtinszenierung kritisch in Zusammenhang zu bringen, positive Tendenzen zu betonen und für negative Aspekte Alternativen zu finden, adäquat zu kommunizieren und erfolgsversprechende Übemöglichkeiten anzubieten. Der didaktische Teilaspekt der adäquaten Kommunikation zwischen Regie und Darstellern verdient eine gesonderte Betrachtung, da gerade hier im Laienbereich besondere Fähigkeiten der Kritikfähigkeit von der Regie gefordert sind, die sich grundsätzlich vom Profibereich unterscheiden: Freilich erfordert auch die Regiearbeit im professionellen Rahmen Kritikfähigkeit, doch sind im Laienbereich aufgrund der Durchmischung von Produktion und Ausbildung die Anforderun-

12 An dieser Stelle soll auf Albert Banduras Lernens am Modell, auch Beobachtungslernen genannt, verwiesen werden. Seine Theorie besagt, dass die Erfahrung anderer Menschen zum Abkürzen des eigenen Lernprozesses genutzt werden kann. Das zu beobachtenden Modell muss eine gewisse Attraktivität in Form von Kompetenz aufweisen und sich deutlich artikulieren können. Der Komplexitätsgrad des zu Vermittelnden darf den Beobachter nicht überfordern. Der Beobachter hingegen muss motorische Fähigkeiten und eine gezielte Aufmerksamkeit mitbringen. Ein mittleres Erregungsniveau sichert die beste Wahrnehmung. Durch Wiederholung können Inhalte gesichert werden. Ein produktives Feedback durch das Modell ist dabei unerlässlich. Es fördert die motivationalen Prozesse und kann verstärkend wirken. Das Modell-Lernen kann auch gezielt zum Angstabbau genutzt werden, was im Theaterbereich von großer Bedeutung ist (vgl. hierzu den Artikel Lampenfieber in diesem Buch). Das Lernen am Modell fördert letztlich die Selbstbeobachtung, Selbstbewertung und Selbstreaktion des Beobachters (vgl. Bandura 1963, S. 47ff.; Bandura 1976, S. 9ff.).

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gen an die Regie potenziert. Die an den Darstellern geübte Kritik ist zugleich künstlerischer und didaktischer Natur, sie kann in der Regel nicht auf ein breites Darstellungsrepertoire und eine in der Ausbildung geschulte Kritikfähigkeit des Darstellers zurückgreifen, sondern muss behutsam Handlungsalternativen zusammen mit der Kritik anbieten, ohne das Selbstvertrauen der Darsteller in Frage zu stellen. Hinzu kommt, dass Laiendarsteller zunächst kaum Erfahrung in der Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung haben, so dass oftmals Probleme daraus entstehen, dass die Meinung, bestimmte Aspekte bereits adäquat umgesetzt zu haben, mit der kritischen Rückmeldung der Regie kollidiert. Hier gilt es, einerseits die Differenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung zu akzeptieren und zu diskutieren (immerhin handelt es sich um einen für das Theaterspiel absolut zentralen Aspekt13), andererseits aber auf eine für das Publikum aussagekräftige Darstellungsweise hinzuarbeiten. Kritikfähigkeit ist aber im Laienbereich auch in Bezug auf sich selbst von der Regie gefordert, insbesondere wenn auch sie sich nicht aus dem Profibereich stellt: Führen Laien Regie, so oszillieren sie in der Probe genauso wie die Darsteller zwischen künstlerischer Ausbildung und Kunstproduktion, so dass sie wie auch die Darsteller auf eine kritische Rückmeldung und deren Verarbeitung angewiesen sind. Kritikfähigkeit heißt dabei für die Regie freilich weder blindes Annehmen von Kritik noch blindes Bestehen auf eine Umsetzung der eigenen Kritik seitens der Darsteller; das Verhandeln der eigenen Konfliktmöglichkeiten mit dem Ziel einer künstlerisch hochwertigen Aufführung ist eine der größten Herausforderung an die laikale Regie, die dazu vor allem über ein ausgeprägtes und stabiles Selbstbewusstsein verfügen muss.

E XKURS : G EFÜHRTE R EGIE Die bisherigen Ausführungen haben einen Regiestil skizziert, der als geführte Regie bezeichnet werden kann: Die aktive Arbeit der Regie in der Probe an der Inszenierung in kritischer Auseinandersetzung mit Darstellern und Regiekonzeption.

13 Vgl. hierzu den Artikel Lampenfieber in diesem Buch.

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Es ist freilich auch ein anderer Regiestil denkbar: Vor allem die neuere Theaterpädagogik des Schultheaters spricht lieber davon, Freiräume in der Institution Schule zu schaffen, in denen sich die jugendlichen Darsteller tendenziell selbständig bilden können14, befreit vom Druck der Institution, die aber nach wie vor den Rahmen abgibt. Für das Schultheater ist eine solchermaßen zurückhaltende Regie aus den skizzierten Gründen auch sinnvoll (wenngleich schwer in die Praxis umzusetzen), ebenso sicherlich für das therapeutische Theater und – auch wenn die Realität oft anders aussieht – für das Krippenspiel; überhaupt für jede Form des Laientheaters, bei der eine institutionell definierte, außenstehende Person die Spielleitung übernimmt, bei der ein vordefiniertes Machtgefälle Regie und Darsteller trennt, kann eine zurückhaltende Regie sinnvoll sein und zu hervorragenden Ergebnissen führen – dies gilt insbesondere auch für die Zusammenarbeit von Laiendarstellern mit professionellen Regisseuren. Stellt sich die Regie aber ebenfalls aus Laien, so sind diese Teil der Laientheatergruppe und stehen ihr nicht als institutionell abgesondert gegenüber. Eine Zurückhaltung, ein Wirken im Geheimen, ein eher wohlwollendes Beobachten, ein Schaffen von Erfahrungsräumen für die Darsteller wäre auf dieser Grundlage eine grenzenlose Arroganz, die künstliche Erzeugung eines Machtgefälles zwischen Regie und Darstellern. Diese haben in einer Regie von Laien gegenüber Laien grundsätzlich das Recht auf eine detaillierte, kritische Rückmeldung, genauso wie die Regie das Recht hat, alle ihre künstlerischen Wünsche und Ideen zur Diskussion zu stellen. Der Begriff der Führung impliziert freilich ein Machtgefälle, geführt werden etwa Kinder oder Blinde, erstere von Erwachsenen aufgrund deren Verantwortungs- und Erfahrungsvorsprungs, letztere von Sehenden aufgrund von deren Wahrnehmungsvorsprung. Das Modell „Erwachsener führt Kind“ greift insbesondere im Schultheater, und in Rückbezug auf das eben Dargestellte dürfte das Bild verdeutlichen, dass sowohl eine Zurückhaltung dieser Art der Führung in der Schule wohltuend sein kann als auch eine Übertragung des Modells auf das Laientheater mit Laienregie völlig unangemessen wäre. Das Modell „Sehender führt Blinden“ dagegen veranschaulicht ein angemessenes

14 Vgl. im Grundton etwa Klepacki 2004.

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Bild einer geführten Regie in diesem Rahmen – auch wenn das Bild zunächst als ebenso arrogant erscheint, wie dies für die Haltung einer zurückhaltenden Laienregie behauptet wurde; dennoch ist gerade im Laientheaterbereich, der Vergnügen am Theaterspielen zentral setzt, eine spezifische Blindheit auf Seiten der Darsteller zu diagnostizieren, wie Dieter Neuhaus anschaulich beschreibt: „Voraussetzung für jede künstlerische Arbeit ist: das Vergnügen. [...] Doch mit dem Vergnügen allein ist es natürlich nicht getan. – Oftmals geschieht folgendes: Eine Gruppe von Theaterspielern hat bei den Proben viel Freude und Spaß gehabt. Bei der späteren Vorstellung müssen die Spieler jedoch enttäuscht feststellen, daß sich das eigene Vergnügen nicht auf die Zuschauer übertragen hat, daß die Resonanz bei den Zuschauern den eigenen Erfahrungen und damit verknüpften Erwartungen nicht entsprach. Meiner These vom Vergnügen als Voraussetzung für künstlerische Arbeit widerspricht dies nicht. Es hat bei den alle Mitspieler begeisternden Proben nur einen kleinen, aber schwerwiegenden Fehler gegeben: Man hat ganz einfach nicht daran gedacht, für andere spielen zu wollen.“15

Die Ursache hierfür ist so einfach wie notwendig: Die Darsteller können sich selbst bei der Darstellung nicht beobachten, so dass ein Hineinversetzen in die Beobachterposition des Publikums für sie im Akt der Darstellung unmöglich ist. Dies gilt für jede Darstellung, sei es im laikalen oder professionellen Bereich. Letzterer hat ersterem lediglich voraus, dass die Darsteller an diese unüberbrückbare Diskrepanz gewohnt sind und in ihrer Ausbildung Aktionen und Handlungsmuster auf ihre Publikumswirksamkeit trainiert haben – mit Hilfe der Regie. Deren Aufgabe ist es nämlich, vornehmlich das zu tun, was das spätere Vergnügen des Zuschauers werden soll: Zu beobachten. Blind sind Darsteller im Allgemeinen und Laiendarsteller im Besonderen bezüglich ihrer eigenen Darstellung, die buchstäbliche Rolle des Sehenden muss von der Regie übernommen werden. Grundlage des Machtgefälles ist in diesem Modell weniger Erfahrung oder Verantwortung, sondern vielmehr schlicht ein Beobachterstandpunkt, den einzunehmen für die Darsteller unmöglich, paradoxerweise aber zu-

15 Neuhaus 1985, S. 41, Hervorhebung nach Neuhaus.

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gleich notwendig ist. Die Regie kann diese Paradoxie lösen, indem sie es sich zu ihrer vornehmlichen Aufgabe macht, ihre Beobachtungen mitzuteilen, Einzelbeobachtungen in das Gesamtbild einzubauen, Kritik zu üben, Verbesserungsvorschläge zu formulieren und die veränderten Wahrnehmungseindrücke – den Fortschritt der Inszenierung – wiederum mitzuteilen. Eine umfassende Dienstleistung also an dem Darstellungsbereich, der unter dem Begriff der geführten Regie zusammengefasst werden kann.

ANFORDERUNGEN AN DIE R EGIE L AIENTHEATER II: U MFELD

IM

Die Regie im professionellen Theater kann sich genau abgrenzen gegenüber Aufgabenbereichen wie Choreographie, Gesang, Tanz, Fechten, Dramaturgie, Intendanz etc., da die ausdifferenzierte Arbeitsteilung am professionellen Theater fest institutionalisiert ist: Es gibt vordefinierte, feste Stellen, die lediglich personell ausgefüllt werden müssen; fällt während einer Theaterproduktion zu Shakespeares Hamlet etwa der Fechtmeister krankheitsbedingt aus, so übernimmt ein anderer professioneller Fechtmeister die vakante Stelle. Im Laienbereich können freilich ebenfalls Funktionsstellen geschaffen werden, die die Strukturen des institutionalisierten Profitheaters imitieren.16 Dennoch kann letztlich eine statische Ausdifferenzierung von Funktionsstellen im Laientheater nicht funktionieren17, da 1.) kein Geld als allgemeinstes Motivations- und Druckmittel im Spiel ist, 2.) ein mit einer Funktion Beauftragter überfordert sein kann, da 3.) keine professionelle Ausbildung mit ihrem Abschluss eine bestimmte Qualifikation in vordefinierten Fertigkeiten garantiert und 4.) kein professioneller Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Grundsätzlich ist also eine

16 Vgl. den Artikel Die Struktur des semiprofessionellen Theaterbereichs in diesem Buch.

17 Ausnahmen bilden lediglich die von Rahmeninstitutionen gesetzten Funktionsstellen, die sich in der Regel in der ominösen Rolle des Spielleiters niederschlagen, die im Schultheater vom Lehrer, im Krippenspiel vom Pfarrer, im therapeutischen Theater vom Therapeuten ausgefüllt wird.

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Arbeitsteilung im Laienbereich sowohl möglich als auch immer bedroht. Da in einer auf künstlerischer Qualität ausgerichteten Theaterproduktion die Regie ein unverzichtbarer Funktionsbereich ist, andere Funktionsbereiche aber nur mit Abstrichen an der Qualität gänzlich unbesetzt bleiben können, fließen in der Regie potenziell alle künstlerischen und organisatorischen Belange des Laientheaters zusammen. Dies bedeutet, dass die Regie – über die im Begriff angelegten Fertigkeiten – auch über umfassende ästhetische und technische Fähigkeiten verfügen muss, um einerseits Bühnenbild, Musik, Maske, Beleuchtung, Kostüm, Requisiten etc. in das Regiekonzept mit einbeziehen zu können, andererseits aber auch praktisch in diesen Bereichen tätig werden zu können oder zumindest gezielte praktische Vorschläge für die ggf. neu einzuarbeitenden Verantwortlichen für diese Bereiche geben zu können. Dies führt zum Organisationstalent, über das die laikale Regie verfügen muss: Zunächst ist damit die Fähigkeit gemeint, die anfallende ästhetische Arbeit neben der eigentlichen Probenregie verantwortet zu verteilen und durch diese Arbeitsteilung sich selbst zu entlasten.18 Darüber hinaus aber ist damit die Fähigkeit gemeint, mit der Dynamik umzugehen, die sich aus dem zunächst unübersehbaren Muster der Fähigkeiten, Möglichkeiten und des Engagements der mit Aufgaben Betrauten ergibt. Dies bedeutet im Extremfall nichts weniger als ein einfallsreiches Katastrophenmanagement: Mitglieder einer Laientheatervereinigung können mit den ihnen übertragenen Aufgaben überfordert sein, sie können feste Zusagen zurückziehen, ihre Zuständigkeiten anders als die Regie verstehen oder gänzlich ausfallen. In jedem Fall droht ein vielleicht in das Regiekonzept zentral eingebundener Aufgabenbereich unerledigt zu bleiben, denn es existiert kein ausdifferenzierter Arbeitsmarkt, der den Ausfall ausgleichen könnte, ohne die Arbeitsstruktur selbst zu ändern. Genau darauf kommt es aber bei der Organisation des Laientheaters an: Wenn vordefinierte Arbeitsfelder wie Maske, Kostüm, Bühnenbild, Technik etc. nicht befriedigend ausgefüllt werden können, so muss die Arbeitsstruktur selbst umgeformt werden, die mit der Maske Betrauten etwa Aufgaben eines

18 Vgl. dazu den Artikel Die Struktur des semiprofessionellen Theaterbereichs in diesem Buch.

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Bühnenbildners mit übernehmen oder einzelne Darsteller sich die Bedienung der Lichttechnik aufteilen.19 Dynamische Organisation verlangt von der Regie schließlich einen großen Zeitaufwand und ein hohes Engagement. Im Unterschied zu den Darstellern muss die Regie immer bei Probe und Planung anwesend sein. Dies ist nur scheinbar banal, denn wird die Regie nicht von professionellen Kräften gestellt, dann muss diese Zeit neben der beruflichen Beschäftigung zur Verfügung stehen und die Bereitschaft sie aufzuwenden aus einer intrinsischen Motivation erfolgen.

ANFORDERUNGEN AN DIE R EGIE IM L AIENTHEATER III: S YSTEMATISCHE Z USAMMENFASSUNG Zusammenfassend ergeben sich vier Hauptbetätigungsfelder für eine geführte Regie im Laientheater, die untereinander eng verzahnt sind: Konzeptionell muss die Regie auf den Zusammenhang zwischen Einzelmoment und Gesamtinterpretation achten, diesen sicherlich auch planen, vor allem aber flexibel auf Irritationen und Anregungen der Mitspieler reagieren und diese entsprechend in die Interpretation möglichst gewinnbringend aufnehmen; analytisch muss die Regie als kritischer Beobachter der Darsteller fungieren und sowohl Darstellungsmöglichkeiten als auch deren qualitative Ausführung erkennen können; praktisch-didaktisch muss die Regie dem Darsteller helfen, seine Darstellung zu verbessern und seine Darstellungsmöglichkeiten zu erweitern, was auch damit einhergeht, dem Darsteller Gestaltungsvorschläge aus dem Rahmen seiner Möglichkeiten präsentieren zu

19 Dies führt oft zu der Erkenntnis in Laientheatervereinigungen, dass die Arbeit letztendlich immer von denselben wenigen Personen ausgeführt würde. Dies ist – abgesehen von der unzulässig verabsolutierenden Tendenz der Aussage – sicherlich eine Tatsache, die aber in der Natur der Sache liegt: Ohne eine finanzielle Verpflichtung und ohne die Vorgarantie von Fähigkeiten durch bestimmte professionelle Ausbildungen bleibt die Erledigung von Arbeit in erster Linie dem Engagement der einzelnen Beteiligten überlassen.

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können, um dabei mitzuhelfen das je eigene Potenzial frei zu setzen; organisatorisch schließlich muss die Regie sowohl Arbeiten gezielt und verantwortet verteilen können20 als auch nicht ausgeführte Arbeiten übernehmen und anders als geplant ausgeführte Arbeiten mit der Gesamtinterpretation in Einklang bringen, was ggf. zu deren Angleichung führt. Für die praktische Regiearbeit ergeben sich aus den spezifischen Bedingungen des Laientheaters zwei Prinzipien, die für die Zielsetzung einer hohen künstlerischen Qualität als unabdingbar erscheinen: Hoffnung und Verwandlung. Hoffnung bezieht sich dabei keineswegs auf die Regie, für die sich Hoffnung bei bleibenden Defiziten der Inszenierung leicht als die letzte Plage der Pandora entpuppen kann. Hoffnung gilt es vielmehr den Laiendarstellern in Bezug auf ihre eigene Leistung zu vermitteln, denn hier kommt es im Laienbereich regelmäßig zu immensen und praktisch unbegründeten Selbstzweifeln. Denn die Möglichkeiten, vor allem in Anfangsproben zu scheitern, sind unendlich. Ein immer wiederkehrendes Beispiel dafür sind Textkenntnisprobleme in den ersten Proben, die Laiendarsteller in tiefe Selbstzweifel stürzen können, ob der Text bis zur Aufführung beherrscht werden wird. Oftmals betonen die Darsteller, den Text daheim noch gekonnt zu haben, ein Phänomen, das ein notwendiger Bestandteil des Texterlernens ist: Der in der Regel ohne Aktion und Interaktion eingeprägte Text wird in der Probe in völlig neue Zusammenhänge gestellt und gerät in die Krise – in eine Krise, die eine vertiefte Textkenntnis erst ermöglicht und notwendiger Bestandteil einer praktischen Textinterpretation darstellt. Die Erfahrung lehrt, dass bei ausreichender Probenarbeit die Befürchtung eines Scheiterns am Text für die Aufführung irrelevant ist21, eine Sicherheit,

20 Hier deutet sich bereits eine enge Verzahnung der Felder Didaktik und Organisation an: Grundlage einer sinnvollen Arbeitsteilung ist die Verantwortung des Einzelnen, die nur zu gern zugunsten einer Leitung von oben aufgegeben wird. Hier muss die Hinführung zur Übernahme von Verantwortung Teil des didaktischen Feldes sein.

21 Dies liegt unter anderem daran, dass in der szenischen Zusammenarbeit so gut wie alle Textvarianzen auffangbar sind (vgl. dazu den Artikel Lampenfieber in diesem Buch). In der 15-jährigen Praxis der Theatergruppe

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die unerfahrenen Laiendarstellern freilich noch nicht zur Verfügung steht. Genau an diesem Punkt muss die Regie in der Probenarbeit Hoffnung vermitteln und versuchen, die Aufmerksamkeit der Darsteller weg von der Peinlichkeit eines Scheiterns am Text und hin zur praktischen Schauspielarbeit lenken, die Grundlage für eine vertiefte Textkenntnis ist.22 Was für die Regie also Erfahrung ist (was natürlich voraussetzt, dass die Regie des Laientheaters selbst über schauspielerische Erfahrung verfügt), muss den Laiendarstellern ggf. als Hoffnung vermittelt werden. Das Prinzip der Verwandlung ist für ein Laientheater unabdingbar, das sich nicht ständig als gegenüber dem professionellen Theater minderbemittelt begreifen will: Wenig Geld, keine Ausbildung, sogar wenig Begabung dürfen nicht als Defizit in der Produktion erkennbar bleiben; es ist dahingehend Aufgabe der Regie, Defizite zu erkennen, sicherlich sie zu verbessern suchen, jedoch bleibende Defizite in einer ggf. veränderten Regiekonzeption in Vorteile zu verwandeln. Ein Darsteller etwa, der mit starkem dialektalem Akzent spricht, während die restlichen Darsteller eine kaum gefärbte Bühnensprache verwenden, ist ein Bruch in der Inszenierung. Entweder es gelingt im Rahmen der Probenarbeit, die sprachlichen Grundlagen der Bühnensprache aufzuarbeiten oder dieser Bruch muss im Regiekonzept funktionalisiert werden, etwa in der Konturierung einer besonders dummen oder aber besonders gewitzten Figur (Gegensätze, die spannenderweise beide mit Dialektsprechern auf der Bühne verbunden sind) oder in der Funktionalisierung der gesamten Figur als Verfremdungseffekt, deren Auftritte jeweils den Einbruch einer „Natürlichkeit“ in die

Bumerang beispielsweise ist trotz teilweise immenser Textprobleme während der Probenarbeit noch in keiner einzigen Aufführung ein eklatanter Texthänger vorgekommen, was sich unter anderem darin niedergeschlagen hat, dass die Funktionsstelle des Souffleurs seit 13 Jahren unbesetzt geblieben ist.

22 In der Regel fällt das Erlernen des Textes weitaus leichter, wenn es mit Laufwegen und Handlungen etc. verknüpft ist. Was für viele Laiendarsteller zunächst als Überforderung erscheint – die Konzentration sowohl auf Text als auch auf Raum und Handlung – ist ein notwendiges mnemotechnisches Hilfsmittel (bereits vor seiner künstlerischen Bedeutung).

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„Künstlichkeit“ der Bühnensprache bedeuten.23 Herta-Elisabeth Renz schildert anschaulich ein Beispiel einer entsprechenden Verwandlung:24 „Auch Marotten gehören zu unserer Persönlichkeit, und manchmal ist es wichtiger, sie in einer Theatererfahrung triumphal auszustellen als selbstkritisch abzustellen. Ich erinnere mich an jene Produktion der ‚Minna von Barnhelm‘, bei der es der einzig mögliche Darsteller des Riccaut einfach nicht schaffte, seinem etwas affektierten Gang eine mehr militärische Strenge zu verleihen. Doch in Seidenstrümpfen, hohen Absätzen und mit den richtigen Reaktionen der Mitspieler war er durchaus am Platze in der Armee eines exzentrischen Menschen- und Frauenfeindes der Extraklasse. Als wir nach der Vorstellung aus der Garderobe kamen, hörte ich zwei Mädchen sagen: ‚Mein Gott, der geht ja wirklich so!‘ Ja, er ging wirklich so und hatte sie zwei Stunden lang damit unterhalten.“25

Grundlage für die Verwandlung ist eine dynamische Regiekonzeption, wie sie bereits für die Fertigkeit der Organisation eines Laientheaters notwendig war. Letztlich zielt die Forderung nach Verwandlung von Defiziten auf die Kohärenz zwischen Inhalt und Form einer Inszenierung, auf ein durchdachtes Zusammenwirken des „Was“ und des „Wie“, worin nach Jürgen Belgrad die Ästhetik des (Laien-) Theaters liegt: „Jegliches Theater-Spiel hat zwei Dimensionen: 1. eine Verstehens-Dimension [...] (Die Frage nach dem WAS); 2. sowie eine Gestaltungs-Dimension [...]

23 Aus einer bloßen Störung wird freilich noch kein Verfremdungseffekt; hierzu ist es notwendig, die Wirksamkeit der Störung im Rahmen der Inszenierung jeweils genau zu analysieren und vor allem mit weiteren Störungsaspekten zu einer konzisen Interpretationslinie zu vereinen.

24 Allerdings eher mit dem Focus auf das intensive Erleben des Darstellers seiner eigenen Persönlichkeit; auch in diesem Sinne kann das Prinzip der Verwandlung ein sehr positives Potenzial besitzen, hier interessiert jedoch in erster Linie sein Potential in Hinsicht auf eine hohe künstlerische Qualität der Theaterproduktion.

25 Renk 1997, S. 50.

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(Die Frage nach dem WIE). Zusammen – und nur zusammen – als Inhalt und Form, als Inhalts- und Beziehungsaspekt, als Verstehen und Gestalten erlauben diese Aspekte Theater zu beurteilen und zu gestalten – das wäre Ästhetik: [...] Ausdrucksstark wirkt Theater-Spiel, wenn es gelingt, beides zu vereinen: Verstehen und Gestalten. Ästhetik wäre dann die Möglichkeiten des Verstehens und Gestaltens auf der Bühne auszuloten: Welche Verstehensprozesse können [...] Amateure beim Publikum mit welchen Gestaltungsmitteln auslösen? Und welche Gestaltungsmittel provozieren welche Inhalte?“26

Ü BERLEGUNGEN ZUR PERSONELLEN DER R EGIE

F ÜLLUNG

Die Anforderungen an die Regie des Laientheaters sind umfassend, was auch regelmäßig in der Forschung bemerkt wird und Rainer Kittel zu einer (in Hinsicht auf die Spielqualität an vielen Schultheatern sicherlich berechtigten) Grundsatzkritik führt: „Was fehlt, ist meist das Handwerk der LeiterInnen. Ja, auch Theaterkunst hat in großem Maße mit Handwerk zu tun, das man erlernen kann und muß. Niemand käme auf die Idee, einen unmusikalischen Menschen ohne Kenntnisse und musikalische Ausbildung Musikunterricht geben zu lassen oder ein Orchester zu leiten oder gar zu komponieren [sic]. Im Amateurtheater, vor allem im Schultheater, ist das leider oft die Regel. Ein Germanistikstudium, Theaterinteresse oder ein paar Tage Fortbildung scheinen zu reichen, um Theater zu wagen. Welch unsägliche Anmaßung und peinliche Unsachkenntnis. [...] Auch AmateurtheatermacherInnen müssen ausgebildet sein, und zwar nicht nur durch einen oder mehrere Workshops. Sie müssen sich im professionellen Rahmen auf künstlerische Theaterprozesse eingelassen haben, um sich auf das Abenteuer des wahrhaftigen Theaters einzulassen.“27

Leider zieht auch Kittel (wie auch Renk im obigen Zitat) als scheinbar selbstverständliche Konsequenz, nach professionellen Spielleitern zu verlangen. Doch nach den skizzierten Anforderungen für die Regie im

26 Belgrad 1997, S. 6, Hervorhebungen nach Belgrad. 27 Kittel 1997, S. 96.

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Laientheater dürfte offensichtlich sein, dass auch (und vielleicht gerade auch) Profis von diesem Programm überfordert wären: Es geht bei der Regie im Laientheater nicht schlicht um eine hohe fachliche Qualität, sondern um fachlich umfassende Fertigkeiten: Die Regie im Laienbereich muss paradoxerweise weitaus mehr können als die Regie im Profibereich.28 Für einen einzigen Spielleiter sind die Anforderungen nicht schwer und auch nicht nur mit einer professionellen Ausbildung lösbar, sondern sie sind überhaupt nicht lösbar. Die Konsequenz ist schlicht die Verabschiedung des einen Spielleiters aus dem Laientheater, wo immer dies institutionell zu leisten ist.29 Und das skizzierte, funktionale (nicht personale) Verständnis der Bereiche Darstellung und Regie auf der Basis der jeweiligen Beobachtermöglichkeiten begründet die personelle Füllung der Regie im Laientheater: Regie sind grundsätzlich alle Beteiligten, die gerade nicht auf der Bühne spielen und das Bühnengeschehen aus der Perspektive des Zuschauers beobachten können.30 Anstatt nach dem einen Wunderkind zu suchen, das die umfassenden Anforderungen einer Regie im Laientheater erfüllen kann, können diese zwischenzeitig von

28 Wenn das Laientheater tatsächlich einen professionellen Spielleiter benötigt, „um sich auf das Abenteuer des wahrhaftigen Theaters einzulassen“, so ist es letztlich in künstlerischer Hinsicht überflüssig, denn der professionelle Spielleiter könnte mit seiner Erfahrung aus dem Profibereich und seiner auf diesen ausgerichteten Ausbildung mit einem Profitheater bessere Ergebnisse erzielen. Laientheater aber besitzt eigene künstlerische Möglichkeiten und zieht seine Existenzberechtigung auch immer aus der Infragestellung des praktischen Interpretationsmonopols des Profitheaters, dem es von außen (und nur von außen) auch fruchtbare Impulse verleihen kann. 29 Wo dies nicht möglich ist, kann in der Tat eine zurückhaltende Regie die Lösung sein, wenn die übrigen Beteiligten komplementär dazu ein besonders hohes Engagement an den Tag legen.

30 Dies ermöglicht auch das praktische Spiel aller Beteiligten, einschließlich den letztlich für die Regie verantwortlich Zeichnenden, was aus Gründen der Rollenbesetzung notwendig werden kann.

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allen Beteiligten getragen und erfüllt werden.31 Dass sich hieraus auf der Basis unterschiedlicher Begabungs-, Erfahrungs- und Persönlichkeitsstrukturen schnell eine vornehmliche Übernahme der Aufgaben einer Regie durch einige wenige ergibt, liegt in der Natur der Sache; die Ausübung der Regieaufgaben durch wenige „Hauptregisseure“32 muss aber eine zwischenzeitige Beteiligung anderer Beobachter des Bühnengeschehens nicht ausschließen. Begreift das Laientheater den Bereich der Regie als einen Funktionsbereich, der grundsätzlich von allen Beteiligten ausgeübt werden kann, so sind einige grundsätzliche Probleme des Laientheaters tendenziell gelöst: Das Machtgefälle zwischen Regie und Darstellern wird an Funktionsstellen gebunden und kann personell unterschiedlich gefüllt werden; Darsteller nehmen in ihrer Funktion als Regie den Beobachterstandpunkt des Publikums ein, so dass das von Neuhaus beschriebene Problem des fehlenden Vergnügens für andere bereits während der Probenphase praktisch verarbeitet werden kann; die selbst erst Erfahrung sammelnde Laienregie hat bei einer Mehrfachbesetzung der Funktionsstelle die Möglichkeit einer Selbstkritik, da schwierige künstlerische und didaktische Entscheidungen nicht von einem Einzelnen getroffen werden müssen, sondern diskursiv gefunden werden können; der negative Anklang einer geführten Regie

31 Bei aller Laikalität des Laientheaters sollte auch berücksichtigt werden, dass die Beteiligten oftmals Profis in sehr unterschiedlichen Berufen sind. Gerade die Breite der Anforderungen an eine Regie im Laientheater begünstigt die Übernahme einzelner Anforderungen durch Beteiligte, die hier durchaus ihre professionellen Erfahrungen und Ausbildungen einfließen lassen können. Das Laientheater muss auf dieser Ebene nicht unprofessionell bleiben (vgl. hierzu exemplarisch die Artikel Das (nicht) perfekte Bühnenbild, Schminken als Vollendung des (natürlichen) Gesichtsgemäldes und Sprache als Musik in diesem Buch). Im Übrigen widerspricht die Idee der Übernahme von Regiefunktionen von allen durchaus nicht der obigen Feststellung, dass Laiendarsteller ihre eigene Leistung oftmals schlecht einschätzen können – die Einschätzung anderer ist von diesem Phänomen grundsätzlich nicht betroffen.

32 Erfahrungsgemäß sind mehr als drei Personen kaum als ausgewiesene Regie sinnvoll.

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gewinnt eine positive und selbstverständliche Bedeutung, da bei einer kollektiven Regie die Laientheatergruppe sich selbst führt; und schließlich löst die Einbeziehung aller in die breiten Aufgaben einer Laientheaterregie auch das eingangs ausgeführte Qualitätsproblem, dass von den Darstellern des Laientheaters kaum qualitative Ansprüche zu verlangen sind: Wird das Rollenspielen auf der Bühne im Laientheater erweitert um die Möglichkeit, auch vor der Bühne die Rolle der Regie zu übernehmen, so kann an die Umsetzung dieser sozialen Rolle von Seiten des Darstellerbereichs hohe qualitative Ansprüche gestellt werden, allen voran der Anspruch, Verantwortung für die Theaterproduktion zu übernehmen und ein hohes Engagement an den Tag zu legen. Auf diesem Wege ist eine hohe künstlerische Qualität gleichsam über Bande auch im Laientheater zu erreichen: Eine engagierte Regie tendenziell aller führt zu einem engagierten Schauspiel tendenziell aller, das die Vorstellungen und Wünsche tendenziell aller umsetzt.

Die Struktur des semiprofessionellen Theaterbereiches B RITTA E NDER

Der laikale Theaterbereich braucht Struktur. Denn gerade der strukturelle Aufbau der Theaterarbeit kann den laikalen Bereich zu einem semiprofessionellen Arbeitsfeld machen. Dies ist dann erstrebenswert, wenn sich die Zunahme der Professionalität proportional zur Zunahme der künstlerischen Qualität verhält und eine solche Zunahme für den jeweiligen Theaterbereich wünschenswert erscheint. Professionalität kann verschiedentlich gefüllt sein. Oft versteht man darunter, dass einer gewissen Tätigkeit eine theoretisch fundierte und sich über einen längeren Zeitraum erstreckende Ausbildung vorausgeht, dass sich die Handelnden als Experten auszeichnen und somit Arbeit in hoher Qualität liefern und dadurch wiederum gleichzeitig eine hohes Ansehen genießen.1 Die Tatsache, dass Professionalität an Ausbildung, Beruf und Expertendasein gekoppelt ist, schließt oftmals eine nicht zu geringe Bezahlung für die entsprechende Tätigkeit mit ein. Von diesem Professionalitätsverständnis leitet sich mittelbar ab, dass unter Professionalität auch schlicht ein Synonym von Qualität verstanden werden kann. Der Begriff der Semiprofessionalität, der in diesem Beitrag dominant gesetzt werden soll, kann demnach mindestens zweierlei bedeuten: Halb-beruflich oder auch halb-gut. Semiprofessionelle Theatergruppen sind oft genug in der Tat beides: Zusammengesetzt sowohl aus Profis als auch aus Laien sind die Inszenierun1

Vgl. hierzu Krüger 1991, S. 452–456.

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gen oft von einem Spannungsverhältnis zwischen den unterschiedlichen Herangehensweisen und Zielsetzungen bestimmt, bieten ggf. lediglich wenige gute Einzelleistungen und sind in diesem Sinne halbgut. In diesem Beitrag soll ein anderer Begriff von Semiprofessionalität verwendet werden: Auch in einer Theatergruppe, die sich vollständig aus Laien zusammensetzt, können einige Strukturen verwendet werden, die auch den professionellen Bereich kennzeichnen und dort eine künstlerische Qualität begünstigen. Somit kann auch im Rahmen einer Halb-Beruflichkeit eine sehr gute Leistung erzielt werden. Der in diesem Verständnis semiprofessionelle Theaterbereich unterscheidet sich vom professionellen Theaterbereich dahingehend, dass keiner der Darsteller2 und Mitwirkenden eine spezifische Theaterausbildung genossen hat und dass niemand seinen Lebensunterhalt mit der Theaterarbeit verdient. In diesen Punkten verhält sich der semiprofessionelle Theaterbereich äquivalent zum laikalen Theaterbereich. Das Ziel des semiprofessionellen Theaterbereichs ist jedoch, wie im professionellen Theaterbereich auch, die Erreichung einer höchstmöglichen künstlerischen Qualität, und auch der semiprofessionelle Theaterbereich legt wie der professionelle Theaterbereich eine spezifische Struktur an den Tag. Der künstlerische Anspruch sowie der strukturelle Aufbau sind die gemeinsamen Nenner zwischen dem semiprofessionellen und dem professionellen Theaterbereich – das unentgeltliche Arbeiten sowie die nicht spezifisch im Theaterbereich angesiedelte Ausbildung sind der gemeinsame Nenner zwischen dem semiprofessionellen und dem laikalen Theaterbereich. Der semiprofessionelle Theaterbereich bildet damit eine Schnittmenge aus dem laikalen und dem professionellen Theaterbereich. Durch Entlehnung und Übertragung der Struktur des professionellen Theaterbereichs zum Ziele der künstlerischen Qualitätssteige-

2

Für den gesamten Text dieses Artikels gilt, dass Personengruppenbezeichnungen, die in männlicher Form formuliert sind, das männliche wie weibliche Geschlecht miteinschließen, ohne dass dies einer gesonderten Nennung bedarf.

D IE S TRUKTUR

DES SEMIPROFESSIONELLEN

THEATERBEREICHS | 49

rung kann der laikale zum semiprofessionellen Theaterbereich werden. Abbildung 1: Interferenz der Theaterbereiche

Im Folgenden soll zunächst die Struktur des professionellen Theaterbereichs vorgestellt werden, um anschließend darzustellen, in welcher Form eine Übertragung auf den laikalen Theaterbereich als sinnvoll erscheint.

D IE S TRUKTUR DES T HEATERBEREICHS

PROFESSIONELLEN

Die Struktur des professionellen Theaterbereichs variiert stark hinsichtlich der Frage, ob es sich um ein Staats-, ein Stadttheater oder ein Privates Theater handelt und ob beispielsweise ein Musiktheater, ein reiner Schauspielbetrieb oder ein Mehrspartentheater beschrieben wird. Die folgende Grafik versucht eine vereinfachte und allgemein gehaltene Darstellung der verschiedenen Funktionen innerhalb eines Sprechtheaters zu zeigen.3

3

Vgl. Waidelich 1991, S. 15 und Reichard 1990, S. 18.

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Abbildung 2: Struktur des professionellen Theaters

D IE S TRUKTUR

DES SEMIPROFESSIONELLEN

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Der Intendant verpflichtet sich zur Leitung in künstlerischer, technischer und administrativer Hinsicht.4 Je nachdem, ob es sich um eine reine Intendantenführung5, um eine eingeschränkte Intendantenführung6, um eine gemeinsame Führung mit ungeteiltem7, geteiltem8 oder mit geteiltem und gemeinsamen 9 Verantwortungsbereich handelt, teilt er sich diese Aufgaben mit dem Verwaltungsdirektor, dem Chefdramaturgen, dem Chefdisponenten und dem Technischen Direktor. Aufgabe des Intendanten ist es die Ziele des Theaterträgers umzusetzen und eine künstlerische Gesamtkonzeption für Theater und Publikum mit den zur Verfügung stehenden Finanzmitteln zu erarbeiten. Der Intendant repräsentiert das Haus nach Außen und entwickelt zusammen mit dem Chefdramaturgen und dem Oberspielleiter einen roten Faden, den das Haus in der kommenden Spielzeit thematisch verfolgen möchte. Gemeinsam mit dem Chefdramaturgen und dem Oberspielleiter erstellt er mindestens ein Jahr im Voraus den Spielplan, er entscheidet, welcher Regisseur welches Stück inszeniert, und er hat Mitspracherecht bei der Rollenverteilung. Der Intendant hat

4

Vgl. Waidelich 1991, S. 12.

5

Der Intendant übernimmt hier die Gesamtverantwortung über die künstlerische Konzeption, die Finanzen sowie die Administration. Er hat alle Führungsfunktionen inne. Vgl. Reichard 1990, S. 17.

6

Der Intendant repräsentiert das Theater nach außen. Finanzen und Administration übernimmt in diesem Fall der Verwaltungsdirektor. Vgl. Reichard 1990, S. 17.

7

Ein gleichberechtigtes Leitungsgremium bildet die Theaterführung. Eine Teilung in verschiedene Verantwortungsbereiche erfolgt nicht. Alle Leitungskräfte sind gleichberechtigt. Entscheidungen müssen einstimmig beschlossen werden. Vgl. Reichard 1990, S. 17.

8

Das Leitungsgremium hat hier klar definierte Verantwortungsbereiche und isolierte Zuständigkeiten. Es teilt sich meist in Verwaltungsdirektor, Chefdramaturg, Oberspielleiter und Technischer Direktor. Vgl. Reichard 1990, S. 17.

9

Das Leitungsgremium entscheidet zum Teil gemeinsam, zum Teil nur hinsichtlich der spezifischen Zuständigkeit. Es gibt dezidierte gemeinsame und getrennte Entscheidungsbereiche. Vgl. Reichard 1990, S. 17.

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sowohl das Eingriffs- als auch das Letztentscheidungsrecht inne. Er vertritt „sein“ Theater in der Öffentlichkeit.10 Der Verwaltungsdirektor ist für alle juristischen und betriebswirtschaftlichen Belange eines Theaters zuständig. Er strukturiert und überwacht den Haushalt, schließt Arbeits- und Tarifverträge ab, führt Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und Schwachstellenanalysen durch, erstellt Finanzkonzepte und plant den jährlichen Theateretat. Außerdem ist er für den Arbeitsschutz und die Arbeitssicherheit sowie für die Überwachung relevanter Rechtsvorschriften zuständig.11 Der Chefdramaturg ist primär in die Spielplanerstellung eingebunden. Die personelle Struktur sowie die thematische Richtung des Hauses im Hinterkopf sucht er zusammen mit dem Intendanten spielbare Stücke für das Ensemble aus. Er versucht mit seinem Team Interesse bei der Öffentlichkeit für die Arbeit und die Ideen des Theaters zu wecken. Hierfür organisiert er z.B. Theaterführungen hinter die Kulissen, Publikumsgespräche oder Matineen mit anschließendem Theaterfrühstück. Seine Arbeit greift stark in die der Öffentlichkeitsarbeit hinein. Darüber hinaus sichtet er zusammen mit seinen Assistenten neu erscheinende Dramen und prüft, ob sie zum künstlerischen Profil des Hauses passen. Er pflegt Autorenkontakte. Die Dramaturgie produziert außerdem die regelmäßig erscheinende Theaterzeitung, die die Arbeit des Hauses nach Außen trägt. Man versucht außerdem verstärkt Schulen ins Theater bzw. Theater in die Schule zu bringen, was in den Arbeitsbereich der Theaterpädagogik fällt, der auch oft der Dramaturgie unterstellt ist. Der „Jugendclub“ beispielsweise ist zu einer festen Institution eines fast jeden Hauses geworden.12 Der Künstlerische Direktor bzw. Oberspielleiter wirkt auch beratend an der Spielplangestaltung mit. Er trägt ausschlaggebend zur Entwicklung der künstlerischen Linie eines Hauses bei. Der Chefdisponent kümmert sich um die langfristige Disposition. Er sorgt für die künstlerische Personalverteilung, indem er Personal engagiert oder

10 Vgl. Reichard 1990, S. 17 und http://www.buehnenverein.de/de/jobs-undausbildung/berufe-am-theater-einzelne.html, eingesehen am 03.11.2010 [im Folgenden zitiert als Bühnenverein]. 11 Vgl. Bühnenverein. 12 Vgl. Bühnenverein.

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über die Verlängerung oder Nichtverlängerung von Verträgen entscheidet. Er beschließt unter Umständen notwendige Umbesetzungen und terminiert Gastspiele.13 Dem Chefdisponenten untersteht das Künstlerische Betriebsbüro, welches ebenfalls die Disposition, Kooperation und Koordination eines Hauses übernimmt. Dies schlägt sich zum Beispiel in der Erstellung des Probenplans nieder. Der Regieassistent entwickelt gemeinsam mit dem Regisseur den täglichen Probenplan und gibt ihn an das künstlerische Betriebsbüro weiter, welches wiederum für die Verteilung des Planes im Haus sorgt. Hierbei sind u.a. Sperrzeiten, Doppelbesetzungen und festgesetzte Ruhepausen der Schauspieler zu beachten. Der Probenplan gilt als Richtschnur für alle anderen Arbeitsgänge. Der Technische Direktor verfasst auf Grundlage des Probenplans die Komplementär-Arbeitspläne, die z.B. die fristgerechte Erstellung der Bühnendekoration oder der Kostüme sichern. Der Probenplan steuert den gesamten Produktionsablauf vom ersten Proben bis zur Premiere und umfasst von ersten Stell- und Leseproben, Bauproben, szenischen Proben auf Probe- und Hauptbühne auch Kostümproben, Lichtproben, Technische Proben, Haupt- und Generalproben und viele mehr. Die technischen Abläufe und künstlerischen Proben müssen in den letzten Wochen ineinander verschränkt werden.14 Der Technische Direktor ist für die Koordination und die Absicherung eines technisch reibungslosen Ablaufs verantwortlich.15 Ihm sind die technischen Werkstätten unterstellt. Er teilt beispielsweise Bühnenhandwerker, Beleuchter, Schreiner oder Dekorateure für die verschiedenen Produktionen ein und sorgt für die notwendigen Sicherheitsvorkehrungen. Er kommuniziert mit Bauamt und Feuerwehr und erstellt den Haushaltsplan für den technischen Bereich. Er ist Ansprechpartner für alle technischen Fragen.16 Der Regisseur entwickelt zusammen mit dem Produktionsdramaturgen, sowie dem Bühnen-, Kostüm- und Maskenbildner das Regie-

13 Vgl. Bühnenverein. 14 Vgl. Waidelich 1991, S. 15. 15 Vgl. Reichard 1990, S. 19. 16 Vgl. Bühnenverein.

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konzept einer jeden Inszenierung. Er leitet die Proben, arbeitet mit den Schauspielern und inszeniert das Stück, indem er es sprichwörtlich auf die Bühne bringt. Er entscheidet über Besetzung oder die Wahl der Textfassung. Seine Aufgabe ist es Entscheidungen zu treffen, was konkret auf der Bühne zu sehen ist bzw. Kompromisse einzugehen, falls diese Vorstellungen aus technischen oder finanziellen Gründen nicht umzusetzen sind.17 Der Regieassistent ist die rechte Hand des Regisseurs. Er unterstützt ihn bei seiner Arbeit in jeder erdenklichen Hinsicht. Die wichtigste Aufgabe des Regieassistenten ist das Führen des Regiebuchs. Im Regiebuch werden alle für die Inszenierung relevanten Informationen festgehalten: Laufwege der Schauspieler, Auf- und Abtritte, Einsatz verschiedener Requisiten, Lichtwechsel, Musikeinsätze, Tonsignale, Textänderungen. Es enthält Bühnenskizzen sowie Requisitenlisten. Ein sorgfältig geführtes Regiebuch ist für ein gelungenes Arbeiten unabdingbar, da es dafür sorgt, dass die einzelnen Informationen an die verschiedenen Gewerke weitergegeben werden. Es dient z.B. als Grundlage für die Textfassung des Inspizienten bzw. wird bei Wiederaufnahmen herangezogen. Der Regieassistent entwickelt zusammen mit dem Regisseur den täglichen bzw. wöchentlichen Probenplan und gibt ihn an das künstlerische Betriebsbüro weiter. Auch muss er über das Wissen um Sperrzeiten und Ruhepausenregelungen verfügen. Der Regieassistent ist die Anschluss- und Kommunikationsstelle zwischen Regisseur, Produktionsmitarbeitern und dem technischen Bereich. Der Produktionsdramaturg ist nach der Entwicklung des Regiekonzeptes mit dem Regisseur dafür verantwortlich, dass der rote Faden und der Spannungsbogen des Regiekonzeptes auch tatsächlich eingehalten werden. Dazu ist er sporadisch bei Proben anwesend und stellt dem Regisseur seinen außenstehenden Blick zur Verfügung. Er übernimmt eine beratende Funktion. Der Produktionsdramaturg ist für die Entwicklung der textlichen Spielvorlage verantwortlich, indem er sich offen mit Texten und deren Spielbarkeit auseinandersetzt. Er übernimmt Kürzungen, Streichungen und hält mit dem Autor Absprache über diese Änderungen. Der Produktionsdramaturg verfasst zusammen mit seinen Assistenten das Programmheft einer jeden Pro-

17 Vgl. Bühnenverein.

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duktion und hält unter Umständen Kontakt zur Presse, falls diese Aufgabe nicht von der Presse- und Öffentlichkeitsabteilung übernommen wird. In diesem Zusammenhang erstellt er Pressematerial in Form von Pressemappen. Auch die Schauspieler versorgt er mit entsprechendem Begleitmaterial, das Hintergrundinformationen über die jeweilige Produktion enthält. Der Produktionsdramaturg ist generell für die Vermittlung der künstlerischen Idee hinter jeder Produktion verantwortlich.18 Der Bühnenbildner entwirft das Bühnenbild, welches stets in das vorhandene Regiekonzept eingebettet ist. Er überwacht gemeinsam mit dem Technischen Direktor in Kooperation mit dem Regisseur die Werkstattarbeit. Der Bühnenbildner baut seinen künstlerischen Vorstellungen entsprechend Modelle, die den Werkstätten als Vorlage zur praktischen Umsetzung dienen. Ihm steht stets ein Bühnenbildassistent zur Seite, der die Kommunikation zwischen Bühnenbildner und Werkstätten übernimmt.19 Der Kostümbildner entwirft in Absprache mit dem Bühnenbildner, dem Regisseur, dem Dramaturgen und dem Maskenbildner die Kostüme für die jeweilige Produktion. Er veranschaulicht seine Vorstellungen anhand gezeichneter Figurinen. Diese Figurinen werden anschließend an den Gewandmeister weitergegeben und von den jeweiligen Werkstätten in die Praxis umgesetzt. Der Vorgang ähnelt der Entstehung des Bühnenbildes. Der Kostümbildassistent vermittelt auch hier zwischen Kostümbildner und Werkstätten.20 Der Inspizient sorgt für den reibungslosen organisatorischen Ablauf einer jeden Aufführung. Er steuert das mit Monitoren ausgestattete Inspizientenpult seitlich der Hauptbühne. Von ihm gehen Lichtzeichen für Umbauten und Auftritte aus, er steuert den Vorhang und das Stellwerk, er gibt Toneinsätze und bedient ggf. Spezialeffekte. Als Arbeitsgrundlage dient ihm ein Textbuch, das zuvor auf Basis des Regiebuches vom Regieassistenten präpariert wurde. Dem Inspizienten steht eine Sprechanlage zur Verfügung, mit der er im ganzen Haus kommunizieren kann. Er ruft die Schauspieler ein, macht alle Ge-

18 Vgl. Bühnenverein. 19 Vgl. Bühnenverein. 20 Vgl. Bühnenverein.

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werke auf den Beginn der Probe oder Aufführung aufmerksam und gibt sämtliche koordinierenden Informationen an das Haus weiter.21 Aufgabe des Requisiteurs ist es anhand des Regiebuches und mithilfe des Regieassistenten eine Requisitenliste zu erstellen. Diese wird sowohl für den Probenzeitraum als auch für die Aufführungen benötigt. Alle benötigten Requisiten inklusive Einsatzzeitpunkt werden auf dieser Liste verzeichnet. Der Requisiteur ist außerdem für die Anfertigung, Neuanschaffung, Lagerungen und Pflege der Requisiten verantwortlich. Er richtet zu jeder Probe und zu jeder Aufführung die Bühne zusammen mit dem Regieassistenten ein, damit ein reibungsloser Probenbeginn bzw. Aufführungsbeginn gewährleistet ist.22 Jeder Produktionszeitraum beträgt in der Regel sechs Wochen. Wie die vorausgegangen Ausführungen zeigen, ist die Arbeitsstruktur im professionellen Theaterbereich streng vertikal hierarchisch gegliedert. Der Intendant hat unter Umständen Alleinbestimmungsrecht und kann bis zum Ende in laufende Produktionen eingreifen. Jeder Funktion im Theaterapparat ist eine höhere, mit mehr Entscheidungsrecht ausgestattete Funktion übergeordnet. Markant ist die Trennung zwischen künstlerischer Idee und Ausführung, was sich vor allem in den Bereichen Bühne und Kostüm niederschlägt.

P ROFESSION

IM LAIKALEN UND SEMIPROFESSIONELLEN T HEATERBEREICH Wie im professionellen Theaterbereich bietet sich auch im semiprofessionellen Theaterbereich eine Aufteilung in einzelne Verantwortungsbereiche an. Man gehe davon aus, dass zunächst der Wunsch nach der eigenen schauspielerischen Tätigkeit im Zentrum des Interesses an der Mitwirkung im Laientheater steht. Die meisten Mitwirkenden wollen primär spielen. Damit ein solches Spiel aber überhaupt möglich ist, muss ein gewisser Raum geschaffen – müssen auch hier verschiedene Gewerke besetzt werden. Man braucht zum Spielen eine Bühne, Kostüme, Requisiten, Maske etc.

21 Vgl. Reichard 1990, S. 26. Vgl. Bühnenverein. 22 Vgl. Bühnenverein.

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Der Vorteil an der Arbeit mit Laiendarstellern ist (insofern es sich dabei um die Arbeit mit Erwachsenen handelt), dass alle Mitwirkenden eine Profession aus einem anderen Berufsbereich mitbringen. So ist es nahe liegend, dass der Darsteller, der von Beruf Drechsler ist, sich neben seiner darstellenden Funktion im Bereich des Bühnenbaus oder der Requisite engagiert bzw. dass die Darstellerin, die Germanistik studiert hat, sich eher dramaturgischen Aufgaben widmet. Die Aufteilung in Verantwortungsbereiche und Gewerke sollte nach vorhandenem Potential und eigenem Interesse entschieden werden. Diese Aufteilung in Gewerke bedeutet eine Doppelbelastung für jeden Darsteller, denn er ist zugleich Schauspieler und Maskenbildner, Schauspieler und Requisiteur oder Schauspieler und Bühnenbildner.23

V ERANTWORTUNG UND D ELEGATION IM SEMIPROFESSIONELLEN T HEATERBEREICH Im semiprofessionellen Theaterbereich gilt das Prinzip der Verantwortung und Delegation. Die Theatergruppe setzt sich zusammen und stellt Überlegungen an, welche Funktionen innerhalb der Gruppe erfüllt werden sollten. Die Gruppe befindet beispielsweise gemeinschaftlich, dass die Funktion eines Requisiteurs fehlt und zukünftig besetzt werden muss. Ein Mitglied der Gruppe erklärt sich daraufhin bereit diese Aufgabe zu übernehmen. Das heißt nun allerdings nicht, dass diese eine Person selbst alle Requisiten besorgen muss. Aber sie ist verantwortlich dafür, dass Requisiten besorgt werden. Das heißt konkret, dass sie gegebenenfalls andere Mitglieder der Gruppe um Hilfe bitten, delegieren und Aufgaben abgeben muss, ohne dabei die Kontrolle über ihren Verantwortungsbereich zu verlieren. Die Delegation kann in verschiedene Richtungen funktionieren. Meist delegiert der Hauptverantwortliche eines Arbeitsbereiches einzelne Arbeiten an seine Mitarbeiter weiter. So kann der Hauptverantwortliche aus dem Bereich Kostüm beispielsweise die Aufgabe weiterleiten eine Konfektionsgrößentabelle der einzelnen Schauspieler

23 In wenigen Bereichen ist die Doppelfunktion als Schauspieler nicht möglich, was an anderer Stelle genauer erläutert wird.

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anzulegen. Er betraut speziell eine Person a mit dieser Aufgabe. Ist diese Person a jedoch beispielsweise aus zeitlichen Gründen nicht im Stande diese Aufgabe selbst durchzuführen, kann auch sie die Aufgabe an Person b, c, oder d weiterleiten. Wichtig ist jedoch, dass bei Person a nach wie vor die Verantwortung liegt, dass die Aufgabe tatsächlich erfüllt bzw. in diesem Fall die Liste tatsächlich erstellt wird. Delegation kann auch in umgekehrter Richtung und über die Grenzen der Verantwortungsbereiche hinaus erfolgen. Ein Spieler, der sich selbst im Bereich Bühnenbau engagiert, stellt beispielsweise fest, dass er in Szene 4 eine weitere Jacke zum Wechseln auf der Bühne benötigt. Er kann nun direkt Kontakt zum Hauptverantwortlichen des Bereichs Kostüm aufnehmen und ihm die Aufgabe geben diese spezielle Jacke zu besorgen. Der Kostümbildner entscheidet im Folgenden, ob er die Aufgabe selbst erledigt, ob er sie an einen seiner Kollegen aus demselben Arbeitsbereich weiterleitet oder ob er sie an eine andere, unabhängige Person aus der Theatergruppe abgibt, da diese beispielsweise privat speziellen Zugang zu einem solchen Kostüm hat. Die Methode der Verantwortung und Delegation trägt unmittelbar zur künstlerischen Qualität einer jeden Produktion bei. Es schult genaues Hinsehen und fördert genaues, fristgerechtes und kleinschrittiges Arbeiten. Jede einzelne Arbeitsgruppe prüft, ob die Ergebnisse mit dem gemeinsam entwickelten Regiekonzept zu vereinbaren sind. Es liegt in der Verantwortung eines jeden Einzelnen, dass die Produktion gelingt. Diese Verantwortung trägt jeder Darsteller und Mitwirkender sowohl für sich selbst als auch für seinen Mitspieler.24

24 Nebenbei bemerkt fördert die Methode der Verantwortung und Delegation ein gewisses Gemeinschaftsgefühl innerhalb der Theatergruppe, sie steigert die Identifikation mit der Produktion und zwingt die diversen Mitwirkenden immer wieder zum Eingehen von Kompromissen, was eine große kommunikative Herausforderung darstellt und letztlich zum Gruppenbildungsprozess beiträgt.

D IE S TRUKTUR

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E INHEIT VON I DEENFINDUNG UND AUSFÜHRUNG AM B EISPIEL B ÜHNENBILD Innerhalb des professionellen Theaterbereichs wird streng in Ideenhaber und Ausführende unterschieden. Es gibt beispielsweise stets einen Bühnenbildner, einen Bühnenbildassistenten und einen Bühnenbildhospitanten.25 Der Bühnenbildner entwickelt zusammen mit Regisseur und Dramaturg das Bühnenbild, welches stets mit dem Regiekonzept korrespondiert. Er übernimmt die Rolle des Ideenhabers. Der Bühnenbildassistent ist dafür verantwortlich, dass der Plan in die Praxis umgesetzt wird. Der Bühnenbildhospitant jedoch ist derjenige, der zusammen mit diversen Bühnentechnikern letztlich auf der Bühne steht und beispielsweise Tapeten von den Wänden kratzt. Bühnenbildassistent, Bühnenbildhospitant und Bühnentechniker sind die Ausführenden. Eine solche Trennung in Ideenhaber und Ausführende ist im Laienbereich nicht sinnvoll. Die Frage ist hier zunächst, wer dazu autorisiert ist, die Hauptleitung eines Arbeitsbereiches, beispielsweise die Funktion eines Bühnenbildners, zu übernehmen. Diese Autorität lässt sich durch ‚Können‘ legitimieren. Derjenige, der etwas am besten kann, ist dazu autorisiert Andere in diesem Bereich anzuleiten. Können und Wissensvorsprung befähigen zur Anleitung und sichern gleichzeitig qualitativ hochwertiges Arbeiten. Können ist im Umkehrschluss die Voraussetzung für künstlerische Qualität, was nach obiger Definition das dezidierte Ziel des semiprofessionellen Theaterbereichs ist – die Personalpolitik sollte diesem Ziel angepasst sein.26 Dieses Können muss allerdings in der Praxis unter Beweis gestellt oder auch erst entdeckt werden. Nach mehrmaligem Modellieren von Bühnenteilen stellt man beispielsweise fest, dass Person e darin besonders talentiert ist. Die anderen Mitwirkenden bauen daraufhin

25 Siehe Abbildung 2. 26 Um in den Termini Pierre Bourdieus zu sprechen: Herrschaft würde in diesem Fall nicht durch ökonomisches Kapital (Geld), soziales Kapital (Beziehungen) oder symbolisches Kapital (guter Ruf) legitimiert werden, sondern durch kulturelles Kapital (Fertigkeiten, Wissen, Leistung). Vgl. dazu Feldmann 2006. S. 54–56.

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Vertrauen zu e auf und autorisieren e dazu in Zukunft das Modellieren anzuleiten bzw. die Bühnenbildgestaltung in die Hand zu nehmen.27 Wenn Führung durch Können legitimiert wird, schließt es ein praktisches Handeln automatisch mit ein – eine Trennung in Ideenhaber und Ausführender ist somit unmöglich.

S TRUKTUR IM SEMIPROFESSIONELLEN T HEATERBEREICH Folgende Struktur ist für den semiprofessionellen Theaterbereich denkbar:28 Abbildung 3: Mögliche Struktur des semiprofessionellen Theaters

27 Ähnlich wie im Bereich der Regie können sich Führungspositionen innerhalb der Gruppe geteilt werden bzw. Führungspositionen von mehreren Mitwirkenden gleichzeitig besetzt werden. Vgl. den Artikel Regie im Laientheater in diesem Buch. 28 Die Beschreibung der folgenden Struktur soll als eine Möglichkeit neben anderen verstanden werden.

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Wie bereits an anderer Stelle beschrieben, kann und muss sich jeder Schauspieler in verschiedenen Bereichen engagieren, um sich selbst Raum zum Spielen zu schaffen.29 Das heißt konkret, dass jeder Spieler zusätzlich mit einer weiteren Aufgabe aus den oben genannten Bereichen wie Maske, Kostüm, Bühne, Regie, Regieassistenz, Dramaturgie, Werbung / Graphik oder Technik betraut wird. Jeder bringt sich zusätzlich in dem Bereich ein, an dem er das größte Interesse hat und wo er unter Umständen über das größte Können verfügt. Innerhalb der einzelnen Arbeitsbereiche wird ein Arbeiten nach demokratischen Maßstäben und eine Mitbestimmung Aller am entstehenden Kunstwerk angestrebt. Verantwortungsbereiche, die eine direkte Funktion an den Aufführungsabenden selbst fordern, sind von einer Kombination mit der Funktion des Darstellers ausgeschlossen. So zum Beispiel der Bereich der Technik. Der oder die Techniker entwickeln zusammen mit der Hauptleitung ein Technikkonzept, das sowohl Musik- als auch Lichtkonzept umfasst. Sie selbst sind dafür verantwortlich, dass Licht und Ton an den Aufführungen gefahren wird. Sie nehmen also an den Aufführungsabenden die Funktion eines Inspizienten ein, was die Steuerung der Technikpulte beinhaltet und ein gleichzeitiges Darstellen auf der Bühne automatisch ausschließt. Die Vermutung liegt nahe, dass auch der Bereich der Regie vom Spielen ausgeschlossen ist. Dem ist nicht so.30 Wie oben ausgeführt, wird eine Führungsposition durch Können autorisiert. Der Regisseur im semiprofessionellen Theaterbereich sollte deshalb auch über gute Schauspielfähigkeiten verfügen, um das Spiel Anderer adäquat anzuleiten können. Dieses Können kann auch in der Besetzung berücksichtigt werden. Sobald die Funktion der Regie auf zwei Personen

29 An dieser Stelle sei noch einmal erwähnt, dass die Mitwirkung im semiprofessionellen Theaterbereich meist auf ein Interesse an einer eigenen darstellerischen Tätigkeit zurückzuführen ist. Der Wunsch nach dem eigenen Spiel steht meist im Zentrum der semiprofessionellen Theaterarbeit. Neben dem Spiel müssen jedoch auch andere Funktionen besetzt werden, um das eigene Spiel überhaupt möglich zu machen. 30 Vgl. den Artikel Regie im Laientheater in diesem Buch.

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aufgeteilt und ein Blick von außen konstant gewährleistet ist, ist auch eine darstellende Funktion der Regisseure möglich. Hier sind wird bei einem wichtigen strukturellen Punkt angelangt. Im semiprofessionellen Bereich ist es möglich, dass Funktionen von zwei Leuten gleichzeitig besetzt werden, ohne eine hierarchische Abstufung vorzunehmen. Es sind also zwei Regisseure auf gleicher Stufe denkbar. Die Regie entwickelt zusammen mit der Hauptleitung das Regiekonzept und entscheidet über die Besetzung des Stückes. Die Hauptleitung setzt sich aus überdurchschnittlich engagierten31 Mitgliedern der Theatergruppe zusammen. Sie können im Grunde jedem Verantwortungsbereich entspringen. Es empfiehlt sich jedoch die Zusammensetzung der Hauptleitung aus den Bereichen Regie, Dramaturgie, Bühne und Kostüm zu speisen, da diese Bereiche die Grundpfeiler einer jeden Inszenierung sind. Hier ähnelt der semiprofessionelle Bereich dem professionellen Bereich, bei dem die Entwicklung des Regiekonzeptes auch von Regisseur, Dramaturg, Bühnen- und Kostümbildner ausgeht, da diese Konstellation den kleinsten gemeinsamen Nenner einer jeden Inszenierung bildet. Die Regie steht, mit der Hauptleitung im Hintergrund, der künstlerischen Gesamtleitung voran. Bei ihr laufen alle Fäden zusammen. Die Regie teilt sich mit der Hauptleitung die Funktionen des Intendanten, auf den als Person weitestgehend verzichtet werden kann. Neben der Entwicklung des Regiekonzeptes ist die Regie für die Erstellung des Probenplanes verantwortlich. Die Arbeit mit einem Probenplan ist auch für eine semiprofessionelle Theatergruppe unabdingbar. Der Probenplan sichert effektives Arbeiten und verhindert, dass stets alle Darsteller bei den Proben anwesend sein müssen. Dies verhindert wiederum Langeweile und Unproduktivität auf der Probebühne. Der Probenplan sichert außerdem eine strukturierte Probenweise. Er schafft Durchsichtigkeit für alle anderen Arbeitsbereiche. Auf der Basis des Probenplanes kann die Kostümabteilung Anproben terminieren, die Maskenabteilung Maskenpläne erstellen oder die

31 Das überdurchschnittliche Engagement zeichnet sich sowohl durch Qualität als auch durch Quantität aus. Viele Hauptverantwortliche sind meist in mehrere Arbeitsbereiche involviert.

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Technikabteilung Beleuchtungsproben ansetzten. Durch den Probenplan steht außerdem fest, wann ein erster Durchlauf vor der Premiere angesetzt werden muss. Der Probenplan bildet ein zeitliches Grundgerüst, was Sicherheit schafft und Fehlterminierung verhindert. Insofern es irgendwie möglich ist, bietet sich auch im semiprofessionellen Theaterbereich eine kurze intensive Probenphase an, da die Konzentration so gebündelt werden kann, was zu einem guten künstlerischen Ergebnis führt. Im Idealfall sollte auch hier eine Produktion die Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten.32 Die Regie übernimmt außerdem die Disposition, die auch im semiprofessionellen Bereich von unglaublicher Wichtigkeit ist. Sie erfüllt somit auch Aufgaben des künstlerischen Betriebsbüros. Jeder Mitwirkende muss vor Beginn der Produktion seine Fehldaten abgeben. Nur auf Basis dieser Fehldaten kann ein sinnvoller Probenplan erstellt werden. Jeder Darsteller trägt gegenüber seinen Mitspielern die Verantwortung bei den angesetzten Proben anwesend zu sein. Sollte dies nicht möglich sein, muss die Regie früh genug in Kenntnis gesetzt werde, damit eine Umkonzeption erfolgen kann. Desweiteren kümmert sich die Regie um die finanzielle Absicherung der Theatergruppe oder schreibt Artikel im Rahmen der Presseund Öffentlichkeitsarbeit. Ihre Hauptfunktion aber ist die Leitung der täglichen Proben. In der Probenleitung wird er von der Regieassistenz unterstützt, die auch im semiprofessionellen Theaterbereich unter keinen Umständen fehlen darf. Die Regieassistenz übernimmt auch hier vornehmlich das Führen des Regiebuches. Die Wichtigkeit dieser Aufgabe wurde schon in der Ausführung über den professionellen Theaterbereich sichtbar. Im Regiebuch laufen alle wichtigen Informationen der verschiedenen Verantwortungsbereiche zusammen. Im Laienbereich kann

32 Sollte eine Probendauer von sechs Wochen angesetzt sein, ist ein tägliches Proben von vier bis sechs Stunden nötig. Es bietet sich beispielsweise der Probenzeitraum täglich von 18 bis 22 Uhr an, da es so auch berufstätigen Mitgliedern möglich ist der Theaterarbeit beizuwohnen. Der überschaubare Ausnahmezustand von sechs Wochen lässt meist eine Vereinbarung mit dem Berufsleben zu, zumal durch den Probenplan nur für die Wenigsten eine durchgehende Anwesenheit bei den Proben notwendig ist.

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oft aufgrund der Fehlzeiten nicht chronologisch geprobt werden, was im professionellen Theaterbereich meist angestrebt wird. Das nichtchronologische Proben erfordert eine hohe Konzentration und Vorstellungskraft der Regie sowie eine hohe Wachsamkeit der Regieassistenz. Bühnenskizzen innerhalb des Regiebuches sind enorm wichtig, um Anschlussfehler zu vermeiden bzw. sie schnell zu erkennen und zu beheben. Die Regieassistenz richtet zusammen mit dem Requisiteur auf der Basis des Regiebuches die Bühne zu Proben- oder Aufführungsbeginn ein, sie schreibt Artikel und führt Telefonate im Rahmen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Auch die Regieassistenz kann von zwei Personen besetzt werden. Dies ist dann notwendig, wenn die Assistenz auch darstellen möchte. Falls Regie oder Regieassistenz in der Doppelfunktion als Schauspieler agieren, müssen die Rollen jeweils so gewählt werden, dass immer ein Blick von außen gewährleistet ist. Sollte die Regieassistenz an den Abenden der Aufführungen auch die Funktion einer Souffleuse einnehmen, ist der Doppeleinsatz als Schauspieler unmöglich, da so, ähnlich wie bei den Technikern, auch eine Funktion an den Aufführungsabenden selbst einzunehmen ist. Die Aufführungen sind jedoch auch ohne den Einsatz einer Souffleuse denkbar, was den Einsatz der Regieassistenz als Souffleuse auf die Proben beschränkt und das Schauspielen ermöglicht. Die Dramaturgie kümmert sich um die Recherche der Stückauswahl und passt die Auswahl den personellen Gegebenheiten der Theatergruppe an. Wie im professionellen Bereich ist sie an der Erarbeitung des Regiekonzeptes beteiligt und gewährleistet, dass der rote Faden des Regiekonzeptes durchgängig verfolgt wird. Die Dramaturgie schreibt Artikel im Rahmen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie im Rahmen des Programmheftes. Die Aufgaben der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sowie das Schreiben des Programmheftes werden somit von Regie, Regieassistenz und Dramaturgie übernommen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass die Grenzen im semiprofessionellen Theaterbereich im Vergleich zum professionellen Theaterbereich durchlässig sind. Alle Mitglieder der Theatergruppe können und sollen beispielsweise Artikel für das Programmheft schreiben, auch wenn sie nicht dezidiert im Bereich der Dramaturgie angesiedelt sind, sondern sich vornehmlich um Maske

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oder Kostüm kümmern. Flexibilität ist in jeder Hinsicht möglich, erwünscht und zum Erhalt der Theatergruppe notwendig. Ein weiterer wichtiger Verantwortungsbereich ist Werbung und Grafik. Hier wird das Programmheft gesetzt, das Plakat gelayoutet oder die Internetseite gestaltet. Eine jede Theatergruppe sollte sich ansprechend nach Außen präsentieren. Die ansprechende Aufmachung nach Außen ist für die Steigerung der künstlerischen Qualität sehr förderlich. Eine ansprechende Gestaltung ist eine gute Werbung für die Theatergruppe selbst und lockt gleichzeitig potenzielle Sponsoren an, die beispielsweise im Rahmen des Programmheftes eigene Werbung zu Gunsten der Theatergruppe schalten. Im Bereich Bühne, Kostüm, Maske und Requisite gehen künstlerische Idee und Ausführung Hand in Hand. Es gibt jeweils einen Hauptverantwortlichen, der die Arbeit in den entsprechenden Bereichen delegiert und organisiert. Ausgehend vom Regiekonzept wird ein Bühnen-, Kostüm- oder Maskenkonzept entworfen und an gleicher Stelle von den gleichen Personen umgesetzt. Bühnenbild und Bühnenbau gehen beispielsweise Hand in Hand ebenso wie Maskenbild und Maskenbau. Die einzelnen Bereiche sind außerdem für die Archivierung ihrer verwendeten Mittel verantwortlich. So archiviert der Bereich Requisite die Requisiten oder der Bereich Kostüm die Kostüme. Alle Abteilungen sind für ihre interne Disposition selbst verantwortlich. Das heißt zum Beispiel, dass der Bereich Maske einen Maskenplan für Schminkproben und Aufführungen entwickelt oder dass der Bereich Kostüm Anproben mit den einzelnen Schauspielern vereinbart. Es muss ab dem ersten Probentag eine Probebühne mit originalen Ausmaßen der Aufführungsbühne vorhanden sein. Der Bereich Bühne muss sich also vorab um Vermessung und Übertragung der Bühnenmaße kümmern. Hier sei noch einmal erwähnt, dass die Grenzen im laikalen Theaterbereich durchlässig sind. Ein Schauspieler, der sich neben seinem Spiel primär im Bereich Kostüm engagiert, kann darüber hinaus trotzdem beim Anstreichen der Bühnenteile im Bereich Bühne helfen, weil er beispielsweise bereits besondere Erfahrung mit dieser Art von Arbeit gesammelt hat. Der Hauptverantwortliche aus dem Bereich

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Bühne ist dafür verantwortlich genügend Helfer aus den eigenen Reihen zu finden und Aufgaben an sie zu delegieren.

F AZIT Wie die oben genannten Ausführungen zeigen, ist der semiprofessionelle Theaterbereich in struktureller Hinsicht nicht streng vertikal hierarchisch, sondern horizontal hierarchisch organisiert. Eine Funktion kann von mehreren Personen gleichzeitig auf gleicher hierarchischer Ebene erfüllt werden. Es herrscht das Prinzip der Verantwortung und Delegation. Eine Hauptleitung, die sich aus mehreren Hauptverantwortlichen zusammensetzt, ersetzt eine Theaterleitung durch eine Person. Die Entwicklung eines künstlerischen Konzeptes und seine Ausführung gehen Hand in Hand.

Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum S USANNE K NAEBLE

Fragt man im Allgemeinen nach einer Vorstellung von Theaterbühne, wird dem Laien gemeinhin zunächst eine recht materialistisch dominierte Auffassung in den Sinn kommen: ein vom Zuschauerraum abgetrennter, zumeist zum Podium erhöhter Raum, eventuell noch mit einem Vorhang versehen – so scheint zumindest das Bild der klassisch bürgerlichen „Guckkastenbühne“ üblicherweise die Imagination zu dominieren. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Bild als auf ein innerhalb der Theaterhistorie sehr beschränktes Phänomen.1 Weder lässt sich diese Raumvorstellung beispielsweise mit den frühen Formen des Wandertheaters noch mit dem jüngeren politisch engagierten Straßentheater der 1960er und 70er Jahre in Verbindung bringen. Die Idee, dass Räumlichkeit dergestalt dem darstellenden Spiel zugrunde liegt, ist eine dezidiert bürgerlich-institutionelle. Institutionell ist sie deshalb zu nennen, weil dem Theater innerhalb einer sozial ausdifferenzierten Gesellschaft eine spezifische Funktion zukommt, welche dem Zuschauer aus seiner disziplinierend wirkenden Position, gebunden an einer auf das Bühnengeschehen (relativ) frontal ausgerichteten Sitzgelegenheit, die Rolle des aus der Distanz Beobachten-

1

Zu den psychologischen Konsequenzen vgl. den Artikel Lampenfieber in diesem Buch.

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den zuweist.2 An der Verschiedenheit historisch verortbarer Vorstellungen von Bühnenraum wird bereits deutlich, dass diese gesellschaftlich konstituiert sind und stets eine Funktion für ihre Bezugsgesellschaft erfüllen. Vor diesem Hintergrund erscheint es mir daher angemessen, sich dem Phänomen Bühne auch aus einer funktionalen Perspektive anzunähern. Die Metapher der Bühne „als die Bretter, die die Welt bedeuten“ verlangt geradezu nach der Frage nach den Beobachterpositionen, welche „die Welt“ und „die Bretter“ in einen funktionalen Zusammenhang stellt. Es muss also zunächst die in einem abstrakten Feld angesiedelte Frage gestellt werden: Was macht den Bühnenraum eigentlich zum Bühnenraum? Zu diesem Zweck soll im Folgenden als erstes der Raumbegriff theoretisch geklärt werden, um dann in einem zweiten Schritt die Besonderheiten der Bühne als performativem Beobachtungsraum erläutern zu können. In einem dritten Schritt geht es mir dann darum, diese theoretischen Überlegungen für die Theaterarbeit im Laienbereich fruchtbar und anhand eines Beispiels anschaulich zu machen. Spätestens seit dem spatial turn der 1980er Jahre ist der Raumbegriff in den geistes- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen durch eine enge Verknüpfung von Raum und Handeln, d.h. durch den Produktionscharakter von Raum bestimmt. Raum wird als etwas gesellschaftlich Hergestelltes, die Raumwahrnehmung als soziale Konstruktion verstanden.3 Die wissenschaftliche Wende in der Herange-

2

Eine völlig andere Konzeption von Bühnenraum weist beispielsweise das Barock-Theater aus. Von den Logenplätzen der Fürsten ist der Spielort nur selten wirklich gut zu sehen. Der ‚Bühnenraum‘ wird gleichermaßen durch die Beobachtung des sich repräsentativ inszenierenden Adels erzeugt.

3

Vgl. hierzu Bachmann-Medick, S. 291: „So sind fast alle Ansätze des spatial turn auf einen gemeinsamen Nenner bezogen, auf den Raumbegriff von Henri Lefebvre, einem marxistischen Klassiker der Raumtheorie. Er hat die Produktion von Raum in den Blick gerückt, seine unverzichtbare Verknüpfung mit sozialer Praxis. Die soziale Konstituierung des Räumlichen wird hier ebenso betont wie die Rolle des Raumes für die Herstellung sozialer Beziehungen. Es sind also die gelebten, sozialen Praktiken der Raumkonstitution, auch der Ein- und Ausgrenzungen, auf die hin die

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hensweise zur Untersuchung von Raum ist dabei als eine Ablösung bestimmter epistemologischer Modelle beschreibbar, wie etwa Immanuel Kants Formulierung des Raumes als Vorstellung a priori durch ein Raumverständnis abgelöst wird, das die symbolische Ordnung von Gesellschaften ins Zentrum der Untersuchung rückt: Kulturwissenschaftliche Raumtheorien „entstehen durch die Infragestellung von traditionellen philosophischen und physikalischen Auffassungen, die Raum entweder als (meta-)physische Substanz oder als unveränderliche Wahrnehmungsbedingungen voraussetzen“.4 So sind Pierre Bourdieus Analyse sozialer Räume als Produkte der habituellen Praxis,5 Michel Foucaults Entwurf der „Heterotopien“6 oder auch Homi Bhabhas Konzept des „third space“7 alles Theorien, die mit einem Raumbegriff operieren, der spezifisch mit Repräsentation und damit eng mit Macht und Herrschaft verbunden ist. In Anlehnung an die systemtheoretischen Überlegungen Niklas Luhmanns lässt sich Raum daran anknüpfend auch als ein durch Beobachtung hergestelltes Konstrukt begreifen, mit Hilfe dessen soziale (hier: Kunst-) Kommunikation konstituiert wird. Raum ist, so ließe sich im Anschluss hieran formulieren, eines der zentralen Wahrnehmungsmittel, welche sich Kunstkommunikation zu Nutzen macht.8 Prinzipiell notwendig für das Gelingen von Kunstkommunikation ist die Feststellung einer eigenen Realität von Kunstgegenständen, für welche Raum als ein wichtiges Produktionsmedium erscheint. Der Beobachtungsraum Bühne ist somit wesentlicher Bestandteil dessen, was Theater zur Kunstform macht. Er gewährleistet die soziale Funktion der Kunst in einem systemtheoretischen Sinne, nach welchem es „die Funktion der Kunst ist […], der Welt eine Möglichkeit anzubieten,

meisten raumbezogenen Untersuchungseinstellungen im Zuge der Raumwende ausgerichtet sind“. 4

Dünne 2008‚ S. 607.

5

Vgl. Bourdieu 1995.

6

Vgl. Foucault 2005; Foucault 1967.

7

Vgl. Bhabha 2007.

8

Vgl. hierzu Luhmann 1997, S. 180.

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sich selbst zu beobachten – die Welt in der Welt erscheinen zu lassen“.9 Diese allgemein theoretische Verankerung des Raumbegriffs erscheint mir deshalb hilfreich, weil sich auf deren Grundlage ein bestimmtes Verständnis von Bühne artikulieren lässt, nach dem man die Bühne als performativ hergestellten Beobachtungsraum begreifen kann. Das Spezifikum, das die Bühne von anderen sozialen Räumen, welche ebenso durch Beobachtung sozial konstituiert werden, unterscheidet, besteht in einer besonderen Form der Kunstkommunikation: Zum einen ist die Agitation der Schauspieler symbolisch und zeichenhaft repräsentativ und damit als ein Handeln zu begreifen, das per se als zur Beobachtung Ausgestelltes zu verstehen ist. Zum anderen ist die Beobachtung des Zuschauers nicht mit einer Alltagsbeobachtung bzw. allen anderen gesellschaftskonstituierenden Beobachtungen vergleichbar, denn auch sie ist Teil jener Kommunikation, die das darstellende Spiel, das Theater als Kunstform überhaupt erst herstellt.10 Auf dieser Basis kann daher formuliert werden, dass das Medium Raum den Rahmen oder die Grenze der Bühne sowohl für Produzenten als auch für Rezipienten definiert. Der Handlungsraum Bühne ist ganz grundsätzlich durch Abstraktion und symbolische Repräsentation gekennzeichnet. Insbesondere im Vergleich zum Film scheint es evident, dass es im Theater allgemein und speziell im Laientheater – nur sehr selten kann hier ein opulentes Bühnenbild verwendet werden11 – primär das Agieren des Schauspielers ist, das einen (auch imaginativen) Raum für die Beobachter erzeugt: Seine beobachtbar gemachten Sinneswahrnehmungen installieren den Raum und die Szene, die für den Zuschauer nur so als Welt erfahrbar sind. Max Herrmann hat dies als ein „theatralisches Raumerlebnis“ bezeichnet, was bedeutet:

9

Baraldi / Corsi / Esposito [Hg.] 1997, S. 108.

10 Verständlich wird dies insbesondere, wenn man bedenkt, dass man ohne Zuschauer nicht von Theater als Kommunikationsform sprechen kann. 11 Auf das Spezifische des Laientheaters werde ich später noch zurückkommen.

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„Bühnenkunst ist Raumkunst. […] In der Theaterkunst handelt es sich also nicht um die Darstellung des Raumes, sondern um die Vorführung menschlicher Bewegung ‚im‘ theatralischen Raum. Dieser Raum ist aber niemals oder doch kaum je identisch mit dem realen Raum, der auf der Bühne existiert […]. Der Raum, den das Theater meint, ist vielmehr ein Kunstraum, der durch eine mehr oder weniger große innerliche Verwandlung des tatsächlichen Raumes zustandekommt, ist ein Erlebnis, bei dem der Bühnenraum in einen andersge12

arteten Raum verwandelt wird“.

Der Bühnenraum ist funktional betrachtet also etwas durch Kunstkommunikation Produziertes und ist daher nie unabhängig von seiner Wirkung, nie unabhängig vom performativen Handeln, sondern stets aufs engste mit diesem verknüpft. Dies soll im Folgenden näher erläutert werden. Zunächst jedoch noch einmal kurz zurück zur Abstraktion des Bühnenraumes: Der Punkt, dass sich das Beobachten innerhalb des Kunstsystems von Beobachtungen innerhalb anderer sozialer Systeme funktionsgemäß unterscheidet, macht überdies auf etwas Besonderes und Kennzeichnendes des Bühnenraumes aufmerksam. Er markiert die Abstraktion und die Inszeniertheit von Bühne, die diesem Raum konstitutiv zugrunde liegen. Warum dies Aufmerksamkeit erregt, erklärt sich daher, dass eben nicht das Prinzip des Realismus (im Sinne einer realistischen Repräsentation von Welt) die Identität von Theater erzeugt – auch die realistische Konzeption ist ihrerseits eine künstlerisch hergestellte –, sondern das Prinzip der Abstraktion und Inszenierung.13 Dass dies beides entscheidende Merkmale des Bühnenraumes darstellen, lässt sich überdies anhand einer diachronen Perspektive auf den Raum, in dem darstellendes Spiel oder Theater stattfindet, belegen. Die Annahme, die Abstraktion (auf) der Bühne sei etwas spezifisch Modernes, lässt sich entsprechend falsifizieren: „Zu den gängigsten theatergeschichtlichen Fehlurteilen, denen wir vor allem in der Sekundärliteratur immer wieder begegnen, gehören die Behauptungen, der

12 Herrmann 2006, S. 501 f. 13 Vgl. hierzu den Artikel Das (nicht) perfekte Bühnenbild in diesem Buch.

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Regisseur und die Abstraktion auf den Bühnen seien Errungenschaften erst 14

unseres Jahrhunderts“.

Es lässt sich also sogar umgekehrt formulieren, dass Abstraktion generell die Grundlage von Theater ist und das dem Realismus verpflichtete Spiel – wie etwa in den naturalistischen Theaterkonzepten des 19. Jahrhunderts15 – selbst ein (gesellschaftlich und historisch bedingtes) Konstrukt darstellt, das auf der Basis der Realitätsauffassung der Zuschauer operiert und somit ebenfalls inszeniert wird. Innerhalb dieser Überlegungen geht es mir nun nicht eigentlich um die materielle Seite des Bühnenraumes, die tatsächlichen Möglichkeiten der Ausstattung und Aufbaus, sondern um die Frage, worin das Spezifikum der Bühne besteht, die ‚Welt als Welt‘ erscheinen zu lassen. Oder konkreter: Wie werden Räume auf der Bühne erzeugt? Die Antwort auf diese Fragen scheint in der engen Verknüpfung von Raum und Handeln, in der elementaren Verbindung von Bühne und Performanz, zu liegen. Eine eigens hergestellte Realität gewinnt das Bühnengeschehen durch den performativen Akt, durch das eben nicht nur repräsentierende, sondern das die Imagination bemühende Handeln auf der Bühne. So markiert beispielsweise ein schweifender Blick des Schauspiels die Weite des Raumes, die dann auch entgegen der materiell vorhandenen (vielleicht recht beschränkten) Bühnendimension als Teil dieser Wirklichkeit wahrgenommen werden kann. Umgekehrt kann auch die schauspielerische Darbietung einen physikalisch weiten Raum als eng und bedrückend erscheinen lassen. Dasselbe gilt

14 Stadler 1974, S. 199. 15 Vgl. hierzu beispielsweise den theoretischen Ansatz von Arno Holz, einem prominenten Vertreter des naturalistischen Schauspiels: „Auf eine knappe Formel gebracht lautet das ‚Gesetz‘: ‚Kunst = Natur – x‘, wobei der Künstler die Aufgabe hat, das ‚x‘ soweit wie möglich gegen ‚0‘ streben zu lassen“ (Fischer-Lichte 1999, S. 244). Hierbei wäre insbesondere zu klären, was sich hinter diesem „Natur“-Begriff verbirgt. Sehr knapp formuliert lässt sich diese Vorstellung nämlich auch mit der Ideologie der Aufklärung in Verbindung bringen, nur dass „der Mensch keine bekannte Größe mehr darstellte, die vorausgesetzt werden kann, sondern den Gegenstand der Untersuchung bildete“ (ebd.).

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natürlich auch für die akustische Ebene: Mimik und Gestik des Schauspielers erzeugen beispielsweise die unerträgliche Lautstärke des Radios, auch wenn eben keine immense Beschallung in den Zuschauerreihen ankommt. An dieser Stelle scheint nun besonders deutlich zu werden, dass dem Begriff des Bühnenraumes ein Spannungsverhältnis implizit ist. Dieses Spannungsverhältnis entsteht einerseits aus den materiellen und physikalischen Gegebenheiten von Raum und andererseits den Räumen der Imagination, mit deren Hilfe innerhalb des Spiels Wirklichkeit erzeugt wird. Die Transformation oder Synthesis dieser beiden Pole leistet zum einen, ganz entscheidend, der performative Akt der Schauspieler, zum anderen aber auch die Beobachtung der Zuschauer, die durch ihre Beobachtung diese Welt auf der Bühne mitkonstruieren und somit erst entstehen lassen. Beide Parteien sind an der Herstellung des Bühnenraumes durch ihre Beobachtungsleistungen beteiligt.16 Handeln auf der Bühne ist immer performatives Handeln, das zur Beobachtung (von Zuschauern) ausgestellt ist. Mit Erika Fischer-Lichte lässt sich dieses Spannungsverhältnis auch mit den Begriffen „geometrischer“ und „performativer Raum“ beschreiben; für den Bühnenraum konstatiert sie dies folgendermaßen: „Auch Räumlichkeit ist flüchtig und transitorisch. Sie existiert nicht vor, jenseits oder nach der Aufführung, sondern wird – ebenso wie Körperlichkeit und Lautlichkeit – immer erst in der und durch die Aufführung hervorgebracht. Sie ist daher auch nicht mit dem Raum gleichzusetzen, in/an dem diese 17

sich ereignet“.

16 Insofern vertrete ich hier die Auffassung, dass der Rezipient dem Akt der Aufführung elementar zugehörig ist. Theater ohne Zuschauer ist kein Theater. Vgl. hierzu auch die „Theaterformel“ Fischer-Lichtes: „Wo jemand sich, einen anderen oder etwas zur Schau stellte oder darstellte oder die Darstellung selbst zur Schau stellte, sich oder anderes bewußt den Blicken anderer aussetzte, wurde von ‚Theater‘ gesprochen“ (Fischer-Lichte 2001, S. 276; vgl. dazu auch den Aufsatz Einleitung in diesem Buch). 17 Fischer-Lichte 2004, S. 187.

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Der geometrische Raum bezeichnet bei Fischer-Lichte also die materielle Seite des Bühnenraumes, er bleibt als physikalische Konstante auch über den Vollzug der Aufführung hinaus erhalten: „Er verfügt über einen bestimmten Grundriß, weist eine spezifische Höhe, Breite, Länge, ein bestimmtes Volumen auf, ist fest und stabil und im Hinblick 18

auf diese Merkmale unverändert“.

Wenngleich der geometrische Raum damit sehr materiell aufgefasst wird, so haftet ihm aufgrund seiner Unwandelbarkeit tendenziell doch auch eine gewisse Abstraktheit an. Das erklärt sich daher, dass der geometrische Raum auch bei (kleinen) Änderungen der Substanz – Versehrtheit des Bodens oder der Wände beispielsweise – noch immer derselbe bleibt. Er ist der stabile und überdauernde Teil des Bühnenraumes. Durch Instabilität und Flüchtigkeit gekennzeichnet ist dagegen der performative Raum: „Er eröffnet besondere Möglichkeiten für das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern, für Bewegung und Wahrnehmung, die er darüber hinaus organisiert und strukturiert. […] Jede Bewegung von Menschen, Objekten, Licht, jedes Erklingen von Lauten vermag ihn zu verändern. […] Räumlichkeit einer Aufführung entsteht im und durch den performativen Raum, sie wird 19

unter den von ihm gesetzten Bedingungen wahrgenommen“.

Oder anders, d.h. hier tendenziell konstruktivistischer formuliert: Der performative Raum ist ein durch Beobachtung der Schauspieler und Rezipienten hergestellter Raum – Fischer-Lichte bezeichnet ihn auch als „Zwischen-Raum“.20 Damit ist er genau der Ort, an dem die Kunstkommunikation des Theaters stattfindet, weil er durch die Überblendung realer und imaginierter Räume die je eigene Realität der Aufführung generiert. Die Räumlichkeit einer Aufführung, der so verstandene Raum des Theaters, ist also prinzipiell nicht ontologisch

18 Fischer-Lichte 2004, S. 187. 19 Fischer-Lichte 2004, S. 187. 20 Fischer-Lichte 2004, S. 199.

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gegeben, sondern der Bühnenraum wird durch performatives Handeln und rezipierendes Beobachten ständig neu erzeugt. Welche Konsequenzen sind aus diesem theoretischen Überbau für den Umgang mit oder auch das Verständnis von Raum einer Laienbühne ableitbar? Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass eine opulente Ausstattung oder eine dem Prinzip Realismus verpflichtete Raumgestaltung nicht mehr zur Wirklichkeitserzeugung auf der Bühne beiträgt als beispielsweise eine minimalistische Ausgestaltung. Vielmehr gilt es, gerade weil Raum grundsätzlich mit performativem Handeln verknüpft ist, am Konzept des performativen Raumes zu arbeiten. Dabei wirkt sich das Faktum, dass diesbezüglich kein Unterschied zwischen professionellem und Laien-Theater besteht, entlastend auf die Laienbühne aus, da der Finanzrahmen nicht Maßstab für das auf der Bühne Mögliche ist. Eine denkbare und wohl auch wichtige Konsequenz für Regie und Darsteller hieraus wäre, sich auf die Performanzen zu konzentrieren, die wesentlich an der Herstellung von Raum beteiligt sind. Wie und auf welche Weise verschiedene Auftrittsarten, spezifische Performanzen, völlig unterschiedliche Räume im selben physikalischen Raum erzeugen, lässt sich beispielhaft am ersten Aufzug von Franz Grillparzers Medea illustrieren.21 [1] Der erste performative Raum eröffnet den Blick für die Situation der aus ihrer kolchischen Heimat geflohenen Medea. Auf der Bühne befinden sich in dieser Szene die Fürstentochter Medea, ihre Amme und treue Begleiterin Gora sowie ein kolchischer Sklave. Die Einspielung von Meeresrauschen kann ihre Ankunft am Strand eines fremden Landes symbolisieren, welches der Zuschauer entweder aufgrund von mythologischem Wissen als Korinth deuten kann oder aber die Handlung wird es ihm später offenbaren. Das Entscheidende dieses performativen Raumes ist dabei, dass Medea sich ihrer ehema-

21 Grillparzer 1971. Es soll in der folgenden Darstellung jedoch nicht der Anspruch erhoben werden, alle performativen Räume, die im ersten Aufzug des Textes denkbar sind, zu besprechen. Ziel ist vielmehr ein exemplarisches Vorgehen, das sich ganz am Dramentext orientiert. Über die künstlerische Qualität anderer Vorgehensweisen soll damit keine Aussage getroffen werden.

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ligen Macht und Stärke entledigt, indem sie den Sklaven ihr Zaubergerät und das Banner mit dem goldenen Vlies vergraben lässt. Sie selbst legt, im Gegensatz zu Gora, noch Hand an, um ihre dunkle und machtvolle Seite in der fremden Erde zu versenken. [2] Ist dies geschehen, wandelt sich dieser performative Raum durch das Gespräch zwischen Gora und Medea im selben physikalischen Raum zu einem Erinnerungsraum. Wo Medea zuvor noch mit dunkler Magie assoziiert wurde und mit großer Macht ausgestattet war, erscheint sie in diesem Dialog als schwache, devote Gattin Jasons, den sie liebt und der der Grund für ihren Verrat an der eigenen Sippe war. Gora referiert hier zum einen, was zuvor in Kolchis geschehen war, und flucht zum anderen ihrer gegenwärtigen Flüchtlingssituation. Die Szene schließt jedoch nicht, wie es zunächst angelegt scheint, mit einer vollständigen Wandlung der Protagonistin, denn Medea verweist auf den Ort, an welchem ihr magisches Gerät verborgen liegt, mit den Worten: „Der Tag bricht an – mit ihm ein neues Leben! Was war, soll nicht mehr sein; was ist, soll bleiben! Du aber milde, mütterliche Erde Verwahre treu das anvertraute Gut.“22

Medea wählt für ihre Zukunft die Identität einer liebenden Ehefrau, ihre dunkle Seite begräbt sie. Allerdings spiegelt dieses Begraben der geerbten Zaubergerätschaft und -künste eine Verschleierung der ihr angeborenen Macht wieder, welche jederzeit wieder herausbrechen kann. Der „mütterlichen Erde“ vertraut sie das Gut zur „Verwahrung“ an. Medeas dunkle, wilde Seite wird bei ihr zwischengelagert, und gleichzeitig wird auch der fremde Boden Korinths damit ein Stück weit okkupiert. [3] Mit dem Auftritt Jasons und einem korinthischen Landmann ändert sich der Raum erneut. Im Gegensatz zu Medeas bewusster Wahl einer Flüchtlingsidentität scheint Jason vollkommen davon abhängig, in Korinth aufgenommen zu werden. Für ihn ist es die letzte Möglichkeit, durch die Gastfreundschaft König Kreons Ruhm und

22 Grillparzer 1971, VV 136-140.

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Ehre zurückzuerlangen. Er ist ein Bittsteller, der in dem Land seiner Jugendtage die letzte Zuflucht sieht, weshalb er auch nicht gekränkt ist, als ihm der korinthische Landmann ein Gespräch mit dem König lediglich „im Vorübergehen“ (V 151) zusichert. Indem Jason formuliert, „Und brecht grüne Zweige von den Bäumen, Wie’s Brauch hier Landes bei den Flehenden. Und haltet ruhig euch und still […]“23

gibt er zu erkennen, dass er sich Kreon nicht als Krieger und Held des Argonautenzugs, sondern vollkommen unterwürfig zu nähern gedenkt. Für Jason ist derselbe Ort, der für Medea mit dem Ablegen ihrer ‚alten Identität‘ konnotiert ist, ein Raum des Hoffens auf Erhalt seiner ‚alten Identität‘, gefüllt mit dem Wunsch nach Anknüpfung an seine längst vergangene Jugendzeit. [4] Mit dem Auf- bzw. Hervortreten Goras und der Kinder verschärft sich die Kollision der beiden performativen Räume noch. In Jasons Augen ist Gora lebendes Sinnbild dessen, was er hinter sich zu lassen gedenkt,24 für Medea ist sie bewahrender Teil ihrer Herkunft. Ebenso zwiespältig ist die Präsenz der beiden Kinder: Für Medea sind sie konstitutiver Teil ihres ehelichen Bundes mit Jason und Zeugen ihrer ‚neuen Identität‘, wohingegen sie für Jason ein Abbild des Fremden sind, mit dem er sich affiziert hat und dessen er sich nun zu entledigen sucht.25 Erst als die beiden wieder allein sind, entsteht innerhalb der beiden kollidierenden Räume eine Art Privatraum, in welchem durch einen Akt der Liebeskommunikation ihre Verbunden-

23 Grillparzer 1971, VV 154-156. 24 „Jason: ‚Du auch hier? – Dich haß ich vor allen, Weib! / Beim Anblick dieses Augs und dieser Stirn, / Steigt Kolchis’ Küste dämmernd vor mir auf. / Was drängst du dich in meines Weibes Nähe? / Geh fort!‘“ (Grillparzer 1971, VV 194-198). 25 „Jason: ‚Das also wär’ das Ende? / Von trotz’gen Wilden Vater und Gemahl?‘“ (Grillparzer 1971, VV 213).

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heit besiegelt wird.26 Dieser Privatraum tritt als eine soziale Nische in Erscheinung und ist allein schon deshalb durch ungemeine Flüchtigkeit gekennzeichnet, weil er allein in der Gegenwart möglich ist, Vergangenheit und insbesondere Zukunft sind ausgeblendet. Er schwindet daher nicht erst mit dem gleich folgenden Auftritt König Kreons, seiner Tochter Kreusa und ihrem Gefolge, sondern schon bereits im Dialog wird die kurzzeitige Nähe wieder durch die beiden gegensätzlich konzipierten performativen Räume mit trennender Distanz ersetzt. [5] Mit dem Auftritt des Königs wird der Strand Korinths zu Kreons Herrschaftsraum. Er ist gefüllt mit politischer Agitation: Blicke des Machthabers und der Königstochter bestimmen die soziale Stellung der Flüchtlinge, Jason wirft sich dem König zu Füßen, die Götter werden von ihm zum Beweis seiner Unschuld herangezogen, Medea bleibt zunächst beobachtend im Hintergrund und tritt erst hinzu, als Kreusa sie ein „gräßlich Weib, giftmischend, vatermörd’risch“ nennt. Mit ihrem Hervortreten wird der Raum geteilt. Eine scharfe Grenze wird gezogen zwischen den Korinthern und Jason einerseits (dem aus guter Erinnerung heraus nur zu gern verziehen und Schuld abgesprochen wird), und Medea andererseits, die für das Fremde, Andersartige und Barbarische steht. In die Isolation abgeschoben und ausgegrenzt wird die Kolcherin schließlich, als ihre Kinder von Kreusa in den neugeschaffenen familiären Raum von Vertrautheit hineingenommen werden, indem sie sie zu sich nimmt, küsst und liebkost. Noch ist die völlige Isolation Medeas jedoch nicht vollzogen, es deutet sich im performativen Raum nur bereits an, was die Handlung später ratifizieren wird. Noch kommen die Kinder zu ihr zurück und verharren mit ihr, während die Korinther – Jason unter ihnen – ihren Marsch wieder aufnehmen. [6] Als der Herrschaftsraum Kreons sich aufzulösen beginnt, manifestiert sich durch die Umkehr Kreusas zu Medea ein weiterer performativer Raum, den man wohl eine Art Freundschaftsraum, zumindest aber einen Raum der Milde und Zugewandtheit nennen kann.

26 „Jason: ‚Halt mich für hart und grausam nicht, Medea! / Glaub mir, ich fühl dein Leid so tief als meines. […] Du liebst mich. Ich verkenn es nicht Medea; / Nach deiner Art zwar – dennoch liebst du mich, / Nicht bloß der Blick, mir sagt’s so manche Tat.‘“ (Grillparzer 1971, VV 224 f. u. 229 f.).

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Auch hierbei handelt es sich erneut um einen Raum in einer Nische, der sich für eine kurze Zeit auftut, der aber der Macht der anderen Herrschaftsräume um ihn herum nicht dauerhaft standzuhalten vermag. Eröffnet wird diese Nische, als Kreusa an Medea herantritt und sie um Verzeihung bittet. Damit öffnet die korinthische Königstochter der kolchischen eine Tür des Vertrauens; Medea spricht darauf: „O holder Klang! – Wer sprach das milde Wort? […] Hab Dank! und wenn du einst in Jammer bist, wie ich; Gönn’ dir ein Frommer, wie du’s mir gegönnt, Ein sanftes Wort und einen milden Blick. (Sie will ihre Hand fassen, Kreusa weicht scheu zurück.) O weich nicht aus! Die Hand verpestet nicht. Ein Königskind, wie du, bin ich geboren […]“27

Allein die Tatsache, dass beide Königskinder sind (was Medea nochmals beschwörend wiederholen wird, vgl. V 380), verbindet die zuvor einander fremden Frauen. Dieser Raum, den Medea nun mit Kreusa teilt, wird ihr zu einem Schutzraum vor der Macht des Königs und später auch vor Jasons Zorn und Launen. [7] Als die beiden Frauen abgehen und nur mehr Jason und Kreon zurückbleiben, wird ein letzter performativer Raum in diesem ersten Aufzug des Dramas installiert. Er dient der Erzählung von den Abenteuern und Erlebnissen Jasons in Kolchis und seiner Heimatstadt Jolkos und wird damit zur Grundlage des Bündnisses zwischen dem Vertriebenen und dem König von Korinth. Hierin ist Jason nicht mehr der Bittsteller des Königs, der er vorher war, sondern in seinem Erzählen inszeniert er sich als tragischer Held des Argonautenzugs, dem alles Schlechte, das man ihm nachsagt, schicksalhaft und schuldlos zugefallen ist; zugefallen ist ihm das goldene Vlies und nach eigner Aussage sogar die wilde Frau, die er aus Kolchis mitgebracht hat.28

27 Grillparzer 1971, VV 370-376. 28 „Jason: ‚Sie fiel mir zu. Ihr Vater fluchte ihr. / Nun war sie mein – hätt’ ich’s auch nicht gewollt. / Durch sie ward mir das rätselvolle Vlies, / Sie führte mich in jene Schauerhöhle, / Wo ich’s gewann, dem Drachen abgewann. / Sooft ich ihr seitdem ins Auge blicke, / Schaut mir die Schlange

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Zuguterletzt zeigt sich dieser Raum des Erzählens von den Geschehnissen um Jason und Medea als ein Rechtsraum, denn auf der Basis des Erzählten fordert der Flüchtige vom König das Gastrecht für sich und die Seinen ein: „Beim Zeus, der Fremden Schützer, bitt ich es, Und bei dem Gastrecht fordr’ ich’s, das die Väter In längstentschwundner Zeit uns aufgerichtet, In Jolkos und Korinthos, solcher Schickungen Mit klugem Sinn in vorhinein gedenkend. Gewähre mir’s, damit nicht einst den Deinen In gleichem Unheil, gleiche Weigrung werde.“

29

Das Recht liegt hier, dem griechischen mythischen Kosmos der Handlung entsprechend, bei den Göttern. Ein Rechtsraum ist in dieser Welt zugleich auch immer ein religiöser. König Kreon willigt daher nicht nur ein, sondern er lässt eben diesen Ort, an dem das Bündnis zwischen ihm und Jason geschlossen wurde, dem Gott Zeus weihen: „Hier aber, wo ich dich zuerst gesehn, Erhebe sich ein heiliger Altar. Der Fremden Schützer, Zeus, sei er geweiht Und Pelias’, deines Oheims blut’gen Manen. Dort wollen wir vereint die Götter bitten, Daß sie den Eintritt segnen in mein Haus, Und gnädig wenden, was uns Übles droht.“

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Eben dieser Bündnisraum wird durch die Errichtung einer Opferstätte zum sakralisierten Boden. Was die Figur des Kreon dabei jedoch nicht weiß, bzw. keine der Figuren auf der Bühne, die Zuschauer hingegen sehr wohl, ist, dass zuvor bereits Medea am selben Strand ein Opfer

blinkend draus entgegen. / Und nur mit Schaudern nenn ich sie mein Weib.“ (Grillparzer 1971, VV 468-475). 29 Grillparzer 1971, VV 562-568. 30 Grillparzer 1971, VV 574-580.

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darbrachte:31 Sie hat die Zeichen ihrer Herkunft, ihr Zaubergerät und was am Bedeutsamsten ist, das goldene Vlies, den Auslöser für die mythologische Tragik der Geschehnisse, in eben dieser Erde versenkt. Hier sind es also dezidiert die Zuschauer, welche die Sakralität des Raumes durch ihr Mehrwissen miterzeugen. Über die Beobachtungsleistung der Zuschauer erhält dieser sakrale Raum somit innerhalb des ersten Aufzugs entgegen der sonstigen Flüchtigkeit des performativen Raumes ein Moment des Überdauerns, da der erste performative Raum auf der Bühne nicht nur nochmals heranzitiert, sondern vielmehr wiederhergestellt und erweitert wird. Sicher handelt es sich nicht um denselben performativen Raum, er wird ja durch die Performanzen jeweils unterschiedlicher Figuren erzeugt, aber die Konstruktionsleistung der Zuschauer ermöglicht die (religiös aufgeladene) Koinzidenz des ersten performativen Raumes im Akt mit dem letzten. Was an diesem Beispiel von performativen Räumen der Szenen [1] bis [7], wie ich denke, deutlich erkennbar wird, ist zum einen, dass Raum bereits dann imaginiert wird, wenn ein Darsteller darauf verweist. Durch Blicke, Mimik und Gestik des Schauspielers müssen Grenzen des Raumes, seine akustische Füllung, seine Form sichtbar werden, und zwar bereits ohne dass das Bühnenbild eine Rolle spielt, Musik dazu kommt usw. Das heißt schließlich, dass die Voraussetzungen dafür sehr präzise Vorstellungen vom zu performierenden Raum, der Welt auf der Bühne, sind, die zuallererst im Kopf des Darstellenden erarbeitet werden müssen. Im performativen Raum der Szene [1] ist die Einspielung von Meeresrauschen beispielsweise nicht zwingend, es reicht der Hinweis durch die agierenden Figuren: Das performative Handeln erzeugt die Imagination welchen Raumes auch immer. Zum anderen wird die besondere Verknüpfung von Raum und Körper sichtbar, die sich stets von Machtverhältnissen bestimmt wird. Für die Frage nach den Konsequenzen von (kulturwissenschaftlichen) Überlegungen zur Räumlichkeit im darstellenden (Laien-)Spiel bedeutet dies, diese Machtverhältnisse anschaulich zu machen. Sie stel-

31 Natürlich handelt es sich um ein Wissen, das auch der Regie und den Schauspielern zur Verfügung steht, und daher – zumindest bei einer textnahen Interpretation des Stücks – in der Inszenierung entsprechend eingebunden sein muss.

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len einen entscheidenden und fruchtbringend anwendbaren Zugang zur Erzeugung der Welt auf der Bühne dar. Im Folgenden möchte ich das vorgestellte Beispiel, den ersten Aufzug aus Grillparzers Medea, noch dazu nutzen, um auf der Folie der zugrundeliegenden theoretischen Überlegungen einige Möglichkeiten des Umgangs mit den Machtverhältnissen performativer Räume in der Form von Inszenierungsvorschlägen vorzustellen. In Szene [1] gilt es, Medeas Zaubermacht, obwohl sie sich ihrer zu entledigen sucht, zu performieren. Da sie selbst nicht handelt, d.h. nicht mit eigenen Händen ein Loch in die Erde für ihr Zauberwerkzeug gräbt, sondern dies durch einen kolchischen Sklaven vollziehen lässt, lässt sich hierfür bereits ein offenkundiges Hierarchiegefälle nutzen, um Medeas Macht und Gefährlichkeit zu inszenieren. Die Grundlage performierter Macht ist das Verhältnis, wer wie Kontrolle über einen Körper auszuüben vermag. Das bedeutet für die Quantität des Handelns in der Regel, dass im dialektischen Verhältnis von ‚Herr- und Knechtschaft‘32 der ‚Knecht‘ der aktiv Ausführende ist, quantitativ gesehen also mehr agiert. Symbolisieren lässt sich dies, indem der ‚Knecht‘ mit viel geschäftigem Treiben ausgestattet wird, ständig etwas säubert, zurechtrückt und vor allem auch große Wege auf der Bühne zurückzulegen hat, wohingegen der ‚Herr‘ äußerst reduziertes Handeln an den Tag legen sollte. Ein (gespielter) Machthaber sollte nie ‚zappeln‘, er muss wenig tun, da alle Blicke an ihm haften. Wenn kleine Zeichen von ihm genügen, um bei anderen große Handlungen auszulösen, erscheint die Macht also umso mehr gesteigert. Macht ist auch auf der Bühne stets als etwas Hergestelltes, im sozialen Umgang Produziertes zu begreifen.33 Dem entspricht außerdem die populäre Theaterregel: „Der König kann sich nicht selbst spielen, er wird durch die Anderen gespielt“. Innerhalb des Beispiels Szene [1] könnte das dann so aussehen, dass, während der Sklave

32 Die Begrifflichkeiten ‚Herr- und Knechtschaft‘ sind hier in Anlehnung an Friedrich Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) gewählt, da hierin der Gedanke der Aktivität des Machtunterlegenen eine prominente Rolle spielt. 33 Dass dies grundsätzlich der Fall ist, zeigen u.a. die Theorien von Michel Foucault und Niklas Luhmann.

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schwer zu ‚schuften‘ hat, also schwerste körperliche Arbeit leistet, Medea nur an einer Stelle der Bühne steht, sitzt oder liegt. Die Kontrolle über den arbeitenden Körper, der ihr Werk ausführt, könnte als Marionettenspiel, bei dem sie ‚die Strippen zieht‘, inszeniert werden. Oder aber, und dies steigert Macht noch, allein ihre Stimme lenkt den Körper des Sklaven: Medea beherrscht auf diese Weise den gesamten Raum nur mit ihrer Präsenz und ihren Worten. Dieser performative Raum ändert sich dann mit dem tätlichen Eingreifen Medeas, also in dem Moment, als sie selbst Hand anlegt, ihr Zaubergerät zu vergraben. Er weicht einem Flüchtlings- bzw. dem Erinnerungsraum, den Gora in Szene [2] produziert. Hierin ist verlorene Macht Thema. Goras Handlungen müssen ebenso klar bestimmt erfolgen, wie ihre Anklagen formuliert sind, Medea hingegen ist reduziert und in ihrer Haltung verteidigend. Da Gora in diesem Dialog zwar eine Machtposition einnimmt, gleichzeitig aber nachhaltigen Einfluss auf Medea auszuüben sucht und somit aktiv und handelnd ist, bietet es sich für die Inszenierung beispielsweise an, dass sie den Raum dergestalt besetzt, dass sie ihn erläuft. Das bedeutet, dass sie gezielte Gänge vollzieht, die Souveränität repräsentieren, und das Gehtempo dabei gemäßigt hält. Auf diese Weise würde die Figur den Raum dominieren und zugleich mit Aktivität füllen. Demgegenüber könnte in der Szene [3] dann Jason auftreten, denn er ist jemand, der sich bewusst darüber ist, dass er sich auf fremden Boden befindet, bzw. dem Unterlegenheit gegenüber dem König, beim dem er als Bittsteller auftreten will, zugeschrieben werden muss. Das Hervortreten sowohl Goras als auch der Kinder begrenzen den Radius seines Handlungsspielraumes noch zusätzlich. Der Privatraum in der Szene [4] zeichnet sich demgegenüber insbesondere dadurch aus, dass er durch eine relative Machtenthobenheit34 von den übrigen sozialen Räumen abgegrenzt ist. Dieser performative Raum, den Medea und Jason für kurze Zeit herstellen, scheint zeitenthoben. Hierin sind die beiden das, was sie früher vielleicht

34 Ich spreche hier von relativer Machtenthobenheit, weil das Gespräch der beiden auch nicht völlig machtfrei und ohne Zweckgebundenheit erfolgt. Aber zumindest in dem Moment der Liebeskommunikation scheinen die sozialen Bedrängnisse ausgeblendet.

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einmal waren und nun nicht mehr sein können: ein Liebespaar. Anhand von körperlicher Nähe und schrittweisem Entfernen könnte dies sichtbar gemacht werden. Beim Auftritt Kreons und der Installation des politischen Herrschaftsraumes in Szene [5] bleibt von diesem Privatraum nichts mehr übrig, er wird völlig verdrängt. Das Geschehen um den König, bei dem sich Jason zu seinen Füßen wirft, tritt in den Vordergrund, während Medea wie ein Schatten im Hintergrund verharrt. Mit ihrem Hervortreten erfolgt, wie bereits dargestellt, ein Riss im performativen Raum, durch welchen Medea von der Gruppe der Korinther isoliert wird. Choreographisch ist diese Isolation am Besten in der Bühnenmitte nachvollziehbar, weil sie dort am stärksten wirkt, während die Übrigen geschlossen abgehen. Der Raum um Medea wirkt in ihrer Handlungslosigkeit im Sinne von Erstarrtheit dann erdrückend, er wird von der Figur nicht mehr gefüllt. Erst mit dem Herantreten Kreusas wird diese performative Starre abgelöst und es wird ein Freundschaftsraum in der Szene [6] generiert. Auch hier ist enge körperliche Agitation gefragt, denn diesem Raum wird unter den Augen Kreons und seiner Macht wenig Platz geboten. Die beiden Frauen stehen getrennt von der korinthischen Männergesellschaft und werden von dieser bestenfalls misstrauisch beobachtet. Am Ende ihres Dialogs, als die beiden abgehen, könnte Medea Kreusas Körper deutlich als Schutzschild gegenüber König Kreon gebrauchen. Der performative Erzählraum in der Szene [7] knüpft daraufhin wieder an den mythischen Raum der Szene [1] und dessen Götterbezug an. Hierbei könnte der Einsatz derselben Musik wie in Szene [1] die Verbindung der beiden performativen Räume noch verdeutlichen. Zusammenfassend sei zu diesem Beispiel nochmals festgehalten, dass es die Performanzen der agierenden Figuren auf der Bühne sind, die Räumlichkeit im Wesentlichen erst erzeugen. Die Konsequenz für das Laientheater hieraus lautet, dass nicht vornehmlich die materielle, physikalische Seite wie beispielsweise die Bühnenausgestaltung die Dimension ‚Raum‘ auf der Bühne bestimmt, sondern die beobachtbar gemachten Imaginationen der Darsteller bestimmen das Raumkonzept der Inszenierung.35 Wichtig ist dementsprechend eine Art ‚mind map‘

35 Im Gegensatz dazu ist beispielsweise schulisches Laientheater in seiner filmischen Inszenierung (und oft genug auch in seinen realen Ausprägun-

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für jeden Bühnenauftritt, die Körper und Raum im Verhältnis von Figur und Handlung in Bezug setzt. Gewinnbringend können hierfür die Machtverhältnisse auf der Bühne genutzt werden, da sie alle sozialen Beziehungen gleichermaßen durchziehen und somit eine hervorragende Anschlussmöglichkeit für die Konzeptionierung von ‚Raum‘ bieten.

gen) durch eine intensive Arbeit an Kulisse, Kostüm und Maske gekennzeichnet, begleitet von einem in räumlicher Hinsicht eher statischen Spiel.

Sprache als Musik. Ein Technikprogramm S ILVAN W AGNER

In seinem kurzen Manuskript Ethik entfaltet Stanislawski eine grundlegende Kritik am professionellen Theater und fordert eine umfassende Arbeit des Schauspielers an sich selbst, die weit über die eigentliche Bühnenarbeit hinausgeht. In diesem Rahmen stellt er vor allem die professionelle Prägung des privaten Bereichs in anderen Künsten dem Schauspiel als positives Vorbild gegenüber: „Wie beginnt der Sänger, der Pianist, der Tänzer seinen Tag? Sie stehen auf, waschen sich, ziehen sich an, frühstücken. Der Sänger beginnt zu einer bestimmten, freigesetzten Zeit mit dem ‚Einsingen‘ und mit Stimmübungen. Der Musiker spielt Tonleitern oder andere Etüden zur Erhaltung und Entwicklung seiner Technik. Der Tänzer eilt ins Theater, in den Trainingssaal, um die aufgegebenen Übungen fortzusetzen. Das geht so jeden Tag. Im Sommer und im Winter. Jeder ausgelassene Tag gilt als verloren und wirft den Künstler in seinem Können zurück. [...] Und nur der Schauspieler beeilt sich morgens, nachdem er sich angezogen und gefrühstückt hat, auf die Straße zu kommen, um Bekannte zu besuchen oder sich mit den privaten Dingen seines Haushalts zu befassen, weil das seine einzige freie Zeit ist. [...] Da [...] der Schauspieler ‚keine Zeit‘ hat, bleibt seine Kunst im besten Falle stehen, im schlimmsten geht es mit ihr abwärts. Der Schauspieler verfällt einer zufälligen Technik, die sich notwendigerweise von selbst aus dummer, verlogener, falscher ‚Arbeit‘

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auf Proben und während der Abendvorstellungen, bei öffentlichen, schlecht vorbereiteten schauspielerischen Auftritten ergibt.“1

Es ist hier nicht der Ort, die sowohl positiven wie auch negativen Überzeichnungen und Pauschalierungen Stanislawskis zu hinterfragen; auch eine Kritik seiner Ethik, die eine völligen Selbstaufgabe des Künstlers in seine Profession zu fordern scheint, soll hier nicht erfolgen; stattdessen möchte ich den Vergleich Stanislawskis zwischen Schauspiel und anderen Künsten – speziell der Musik – aufgreifen und insbesondere seine implizierte Forderung einer privaten Arbeit an der Technik nach dem Vorbild professioneller Musiker und Tänzer konkretisieren. Dabei soll es nicht um den gesamten, komplexen Bereich des Bühnenspiels gehen, sondern lediglich um den Aspekt der Stimme, der in der Tat eine Beleuchtung unter musikalischer Perspektive nahe legt.2 Ziel ist dabei eine Übertragung des musikalischen Modells eines täglichen Technikprogramms auf den Schauspielbereich. Für einen Instrumentalmusiker besitzt das Technikprogramm in den meisten Fällen in der Tat alltagsrituellen Charakter: Es initiiert den Arbeitsprozess mit dem Instrument, es trainiert die am Instrumentalspiel beteiligten Muskeln und Sehnen, es erinnert grundsätzliche Bewegungsabläufe, es übt ggf. neue bzw. noch wenig gefestigte Bewegungsabläufe ein. Initialisierung, Training, Erinnerung und Einübung sind damit die funktionalen Bestimmungen eines Technikprogramms, wobei nicht immer alle Aspekte erfüllt werden müssen. Der Inhalt eines Technikprogramms setzt sich aus einzelnen Übungen zusammen, die sowohl allgemeinen als auch individuellen technischen Anforderungen des Instrumentalspiels Rechnung tragen; der Aufbau eines Technikprogramms kann in vier Schritte systematisiert werden:

1

Stanislawski 1950, S. 25-27.

2

„Musik ist sprachähnlich. Ausdrücke wie musikalisches Idiom, musikalischer Tonfall, sind keine Metaphern. Aber Musik ist nicht Sprache. Ihre Sprachähnlichkeit weist den Weg ins Innere, doch auch ins Vage. Wer Musik wörtlich als Sprache nimmt, den führt sie irre.“ (Adorno 1986a, S. 251); zur dialektischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von Musik und Sprache grundsätzlich vgl. ebd. und Adorno 1986b.

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Analyse des Instrumentalspiels und Reduktion auf grundsätzliche technische Anforderungen: Technik steht zunächst in denkbar großer Distanz zu der Kunst, die sie fundiert; während Kunst der Anwendung einer Sprache nahe kommt, ist Technik der Beschäftigung mit ihrer Grammatik vergleichbar. Musikalische Technik und sprachliche Grammatik begegnen sich auch in ihrer gemeinsamen Tendenz zur reduzierenden Verallgemeinerung: Die hochdifferenzierten Phänomene Musik bzw. Sprache werden durch Technik bzw. Grammatik nicht etwa abgebildet, sondern systematisch eingeordnet, wobei die Praktikabilität der jeweiligen Ordnungssysteme nicht zuletzt in ihrer Begrenztheit liegt; während Grammatik Sprache auf abgrenzbare Regelbereiche reduziert, reduziert Technik Musik auf abgrenzbare Lehrstücke. Formulierung praktischer Aktionen, welche die grundsätzlichen Anforderungen möglichst isoliert und konzentriert behandeln: Die abstrakten Ergebnisse von Analyse und Reduktion müssen in konkrete Handlungen übersetzt werden. Ist im musikalischen Bereich etwa der Bogenstrich der Geige ein abgrenzbares Lehrstück, so wären einzelne Bogenstriche die entsprechende konkrete Handlung; ist im sprachlichen Bereich etwa die Tempusbildung eine abgrenzbarer Regelbereich, so wären Umformungen einzelner Verben zwischen z.B. Präsens und Präteritum die entsprechende konkrete Handlung. Grundlagen eines Technikprogramms werden diese praktischen Aktionen, wenn der Ausübende der Versuchung widersteht, entweder zu musizieren oder zu sprechen, also von der künstlich isolierten Handlung ins natürliche Handeln zu verfallen. Konstruktion von Übungen durch Reihung und Varianz: Die einzelne praktische Aktion ist noch keine Technikübung, da ihr noch zwei entscheidende Eigenschaften fehlen: Einerseits benötigt eine Technikübung Dauer, um ein Memorieren auf körperlicher und geistiger Ebene zu gewährleisten; da nach wie vor das Prinzip der Konzentration auf eine isolierte Aktion gilt, wird Dauer durch Reihung der einzelnen Aktion bzw. Wiederholung der gesamten Übung erreicht. Andererseits ist gerade diese Struktur kontraproduktiv, da durch allzu stupide Reihung schnell körperliche und geistige Ermüdung eintritt

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und die Übung keinen Übeeffekt mehr zeitigt;3 deswegen benötigt die Technikübung ebenfalls Varianz in einem engen Rahmen. Im musikalischen Beispiel würde etwa eine mit gleichmäßigem Strich auszuführende Tonleiter sowohl Reihung (des Bogenstrichs) als auch Varianz (des Tonmaterials) Rechnung tragen, im sprachlichen Beispiel etwa die Umformung unterschiedlicher schwacher Verben aus der ersten Person Singular Präsens in die entsprechende Präteritumform. Anordnung der Übungen vom Einfachen zum Komplexen: Sowohl Instrumentaltechnik als auch Grammatik beschreiben ihre Beobachtungsgegenstände Musik bzw. Sprache als hierarchisch gegliederte Systeme. Dabei bauen differenzierte, komplexe Phänomene auf fundamentalen, einfachen Phänomenen auf (die komplexe Technik des Sprungbogens baut auf dem einfachen Bogenstrich auf, die komplexe Konjugation von Präteritopräsentien auf der einfachen Konjugation schwacher Verben). Dies ist der systematische Grund für eine Anordnung einzelner Übungen vom Einfachen zum Komplexen; hinzu kommen übepraktische Gründe (die kaum Vergleichspunkte im Grammatikbereich aufweisen): Vor allem die Funktionen Initialisierung und Erinnerung fordern gerade zu Beginn des Technikprogramms eine Konzentration auf einfache, grundlegende Einheiten, ebenso wie die körperliche Seite des Übens, die eingangs allzu große Anforderungen an den Bewegungsapparat verbietet, um eine Überforderung der noch unflexiblen Muskeln und Sehnen zu vermeiden. Ziel eines Technikprogramms ist die Automatisierung fundamentaler Abläufe, die später in die künstlerische Interpretation eingebaut werden können und dort als Handlungsrepertoire zur aktiven Verfügung stehen. Dies gilt sowohl in Bezug auf die künstlerische Interpretation im Rahmen der Aufführung als auch im Rahmen der Probe: Freilich müssen zunächst auch die technischen Übungen eingeübt werden, doch das Ziel ist letztlich auch hier, dass das Technikprogramm vor dem Üben der Probe abläuft, um den Körper an fundamentale Muster zu erinnern; das Technikprogramm gehört damit nicht zum Üben im engeren Sinne (für den Theaterbereich: zur Probe

3

Hinzu kommt, dass erst durch feine Unterschiede das gemeinsame Zentrum eines Lehrstücks bzw. einer Regel wirklich erkennbar wird.

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selbst), sondern ist dieser vorgeschaltet.4 Technik ist Vorstufe einer künstlerischen Interpretation und selbst so wenig Kunst wie das Alphabet in Bezug auf ein Gedicht. Technik trainiert mechanische Abläufe, die selbst sinnlos sind und erst in Verwendung im Rahmen einer Interpretation mit Sinn gefüllt werden. Diese grundsätzliche Differenzierung ist vor allem im Laienspielbereich stets zu betonen, da ansonsten leicht zwei Missverständnisse entstehen können: Einerseits könnte Technik mit Kunst verwechselt und jene in diese direkt übertragen werden – was zu einer Verkürzung künstlerischer Interpretation auf mechanische Topoi führt;5 andererseits könnte diese Verwechslung auf die Regie projiziert werden, deren technische Anregungen und vorgeschlagene Übefassungen dann als Aufführungsfassungen missverstanden und – verständlicherweise – abgelehnt würden. Grundlage für diese Missverständnisse, die sprachliche Technik von instrumentaler Technik unterscheidet (wo entsprechende Schwie-

4

Im Laienbereich ist es freilich notwendig, in Rücksicht auf die Ersterarbeitung technischer Grundlagen des Bühnenspiels die laufende Probe gewissermaßen zwischenzeitig auszusetzen. Bei Defiziten in schauspielerischer Grundlagentechnik bieten sich zwei Arbeitsformen an: Gemeinsames Technikprogramm vor der Probe (wenn allgemeine und grundsätzliche Defizite aufgearbeitet werden müssen), Parallelproben mit einzelnen Darstellern (wenn spezifische Defizite aufgearbeitet werden müssen), vgl. den Artikel Regie im Laientheater in diesem Buch.

5

Entsprechende mechanische Umsetzungen von Sprechtext orientieren sich zumeist an Satzzeichen als eindeutige Aufführungshinweise, und in der Tat liegt gerade hier eine Parallelisierung zu musikalischer Phrasierung nahe: „In keinem ihrer Elemente ist die Sprache so musikähnlich wie in den Satzzeichen. Komma und Punkt entsprechen dem Halb- und Ganzschluß. Ausrufungszeichen sind wie lautlose Beckenschläge, Fragezeichen Phrasenhebungen nach oben, Doppelpunkte Dominantseptimakkorde; und den Unterschied von Komma und Semikolon wird nur der recht fühlen, der das verschiedene Gewicht starker und schwacher Phrasierungen in der musikalischen Form wahrnimmt“ (Adorno 1986b., S. 106f.). Der Vergleich mit musikalischer Phrasierung zeigt jedoch auch auf, dass eine mechanische Umsetzung dieser sprachlichen Aufführungshinweise nicht über die Ästhetik einer computergenerierten Mididatei hinaus gelangen kann.

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rigkeiten signifikant seltener auftreten), ist die letztlich nicht hintergehbare Sinnhaftigkeit von Sprache.6 Nichtsdestoweniger ist eine zumindest tendenzielle Entkoppelung von Text und spontaner Sinngebung notwendige Ausgangsbasis der Verwendbarkeit von Sprache als technisches Material. Grundlage einer solchen Sinngebung ist zumindest in der gesprochenen Sprache weniger die lexikalische Bedeutung von Wörtern oder die grammatikalische Bedeutung von Sätzen, sondern vielmehr eben die sprachmusikalische Umsetzung im Akt des Sprechens. Gerade weil die sinnlich-sinnhafte musikalische Umsetzung der Sprache eine alltägliche Notwendigkeit darstellt, fällt eine distanzierende Betrachtung der Sprachmusik für Muttersprachler schwer, weswegen die Bewusstwerdung der eigenen Sprachmusik ein erster Schritt zu einer technischen Verwendung von Sprache sein muss.7 Materielle Grundlage hierfür (und für das gesamte hier entfal-

6

Die überaus starke Affinität von Sprache und (durch den Sprecher zugeordnetem) Sinn kann durch die Revision eines klassischen Versuchs der Gedächtnispsychologie belegt werden: Herrmann Ebbinghaus operierte 1885 mit sogenannten „sinnlosen Silben“ (Listen von dreibuchstabigen Silben ohne überkommene Bedeutung, z.B. MOZ), um Grundlagen menschlichen Lernens mit möglichst unverknüpftem, „reinem“ Material zu erforschen. U.a. Schermer hat nachgewiesen, dass trotz einer fehlenden standardisierten Verknüpfung mit Sinn von sinnlosen Silben nicht die Rede sein kann, da die Probanden im Akt des Memorierens das sprachliche Material mit Sinn füllen (vgl. Schermer 1991, S. 103-105), in unserem Beispiel etwa: MOZ als Abkürzung des Salzburger Mozarteums; phonologisch als Imperativ des Verbs motzen; als Musikprojekt des Komponisten JC Brand; phonologisch als Bezeichnung einer Computerspielmodifikation etc.

7

Hier bricht ein fundamentaler Unterschied zur Instrumentalmusik auf: Zumindest bei Muttersprachlern geschieht die Anwendung von Sprache in der Regel automatisch und nicht willkürlich gelenkt, während der instrumentale Anfänger jede einzelne Aktion lenkend und bewusst ausführen muss. Das Sprechen-Können ist hier zunächst ein Hemmschuh für eine reflektierte Auseinandersetzung mit Sprache. Die Folge kann eine relativ schnell einsetzende Frustration sein, die von der Regie aufgefangen werden muss, vgl. den Artikel Regie im Laientheater in diesem Band.

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tete Technikprogramm) soll ein einfacher Hauptsatz sein (in seiner Umsetzung einer grundlegenden Struktur in etwa vergleichbar mit einer Tonleiter), der einer emotionalen Füllung zunächst einigermaßen unverdächtig ist: Ein Baum steht auf einer Wiese. Dieser Satz wird von schriftlicher zu mündlicher Sprache, indem er sprachmusikalisch ausgeführt wird. In einer ersten Vorübung zum Technikprogramm Sprache geht es darum, sich der eigenen Sprachmusik bewusst zu werden. Die Vorübung besteht darin, den Satz einmal „normal“ (d.h. unmarkiert, in gewöhnlicher, bequemer Sprachmusik) auszusprechen und ihn anschließend noch zweimal möglichst identisch zu wiederholen.8 Die identische Wiederholung soll die Ausführung der einzelnen sprachmusikalischen Parameter für den Sprecher selbst beobachtbar und bewusst machen, mit denen mündlicher Sprache Sinn verliehen wird:

T ONHÖHE Der Begriff der Tonhöhe entspricht in etwa dem physikalischen Prinzip Frequenz. Sätze können durch Tonhöhe unterschiedlichen Sinn bekommen (etwa eine ansteigende Tonhöhe für einen fragenden Sinn, eine zunächst an-, dann absteigende Tonhöhe für eine Aussage, eine beim letzten Wort sprunghaft ansteigende Tonhöhe für einen Ausruf), wobei die Tonhöhendifferenzierung nicht nur zwischen Wörtern oder Silben, sondern auch innerhalb einzelner Silben sinnvoll eingesetzt werden kann (ironische oder affektierte Sprechweisen etwa funktionieren häufig auf der Basis einer solchermaßen kleinschrittigen Ausdifferenzierung der Tonhöhe). Die Organisationsform von Tonhöhe ist

8

Wie bei allen Übungen des hier vorgestellten Technikprogramms ist zumindest für die Ersterarbeitung die Durchführung in einer Gruppe sicherlich effektiver, da hier eine kritische Rückmeldung von außen erfolgen kann. Auch die Arbeit mit einem Aufnahmegerät kann die Selbstbeobachtung erleichtern.

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Melodie. Die menschliche Sprechstimme kann der groben Orientierung halber in drei melodische Register eingeordnet werden, nämlich das hohe, mittlere und tiefe Register, wobei das mittlere Register aus Ausgangspunkt der normalen Tonlage des jeweiligen Sprechers entspricht.

L AUTSTÄRKE Oftmals wird das Phänomen Lautstärke an Tonhöhe gekoppelt, etwa in der Ausführung der deutschen Initialakzentuierung9. Doch Lautstärke funktioniert auch als eigenständige, nicht an Tonhöhe gekoppelte Sinneinheit (etwa im Rahmen einer drohenden Sprechweise, die oftmals gerade tiefe Töne mit großer Lautstärke verknüpft). Die Organisationsform von Lautstärke ist Dynamik. Die menschliche Sprechstimme kann der groben Orientierung halber in drei dynamische Register eingeordnet werden, nämlich das laute10, mittellaute11 und leise12 Register, wobei das mittellaute Register aus Ausgangspunkt der normalen Lautstärke des jeweiligen Sprechers entspricht.

T ONLÄNGE Ein in der deutschen Sprache weniger präsentes sprachmusikalisches Sinnmittel ist die Tonlänge. Nichtsdestoweniger ist auch die Tonlänge Sinnträger, sei es in der umfassenden Differenzierung zwischen schnellem und langsamem Sprechen (das mit den Bedeutungen aufgeregt bzw. beruhigend belegt werden kann) oder in einer Binnendifferenzierung im Satz, bei der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Wort mittels langsamer Aussprache gelenkt werden kann. In dieser Hinsicht organisiert Tonlänge grundsätzlich die musikalische Gestaltung von

9

Betonung der ersten Wortsilbe mit Ausnahme von Vorsilben.

10 Die Bezeichnung der Musiklehre hierfür ist forte, abgekürzt f. 11 Die Bezeichnung der Musiklehre hierfür ist mezzoforte, abgekürzt mf. 12 Die Bezeichnung der Musiklehre hierfür ist piano, abgekürzt p.

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Sätzen, die mittels Tonlänge in Haupt- und Nebenwörter eingeteilt werden. Die Organisationsform von Tonlänge ist Rhythmus.

T ONFARBE Das komplexe Phänomen der Tonfarbe ist kein physikalischer Parameter im engeren Sinn; physikalisch würde der Tonfarbe am ehesten die Obertonbeteiligung am produzierten Klang entsprechen. Diese aber ist nicht in dem Sinne wie Höhe, Lautstärke oder Länge relativ willkürlich steuerbar, auf ihre Produktion kann der Sprecher nicht direkt Einfluss nehmen, sondern am ehesten über Vorstellungen. Aus diesem Grund operiert der Bereich der Tonfarbe mit einer bildhaften, synästhetischen Sprechweise (etwa in den Gegensatzpaaren weich, hart, sanft, rau, warm, kalt, die im physikalischen Sinne nichts mit der Produktionsweise des entsprechenden Klanges zu tun haben, sondern auf Wahrnehmungskonventionen Bezug nehmen). Die Organisationsform von Tonfarbe ist Klang. Abb. 4 zeigt eine Notation der Organisationsformen Melodie und Rhythmus einer normalen Ausführung des Paradigmas meinerseits. Sie kann im Rahmen der ersten Vorübung auch als Vergleichsfolie dienen, um die jeweils eigene normale Ausführung des Paradigmas differenzierter zu erkennen. Abbildung 4: Vorübung 1 (normale Aussprache des Paradigmas)

Eine zweite Vorübung vor dem eigentlichen Technikprogramm wäre nun die Löschung dieser normalen Sprachmusik zumindest bezüglich der notierten Organisationsformen Melodie, Rhythmus und Dynamik: Wieder in dreimaliger Wiederholung13 soll der Satz möglichst ohne 13 In der musikalischen Übepraxis hat sich herausgestellt, dass eine dreimalige identische Wiederholung einer Übung noch sinnvoll ist, da der jewei-

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Varianz in Melodie (also auf einer Tonhöhe), Rhythmus (also mit identischen Silbenlängen – hier sollte sich nicht an Worteinheiten orientiert werden) und Dynamik (also auf einer Lautstärkenebene) gesprochen werden (vgl. Abb. 5). Abbildung 5: Vorübung 2 (Löschung)

Sinn dieser zweiten Vorübung ist einerseits ebenfalls eine Bewusstwerdung der eigenen automatischen Sprachmusik, die im Zuge der Schwierigkeiten ihrer Einebnung umso deutlicher erkennbar wird;14 andererseits geschieht hier im Idealfall die Entkoppelung von Text lige Übedurchlauf bei dieser Frequenz noch aktiv-bewusst erfolgen kann; werden Übungen sehr viel häufiger identisch wiederholt, so kann der Körper gleichsam ohne Beteiligung des Bewusstseins agieren, was das Üben zumindest ineffektiver macht, wenn nicht gar einer fehlerhaften Ausführung der Übung Vorschub leistet. Bei einer ersten Erarbeitung von Übungen kann es freilich notwendig sein, eine einzelne Übung sehr viel häufiger als dreimal laufen zu lassen, um ihre Grundlagen zu verstehen und ihre adäquate Durchführung leisten zu können. Hier liegt der bereits angesprochene Unterschied zwischen der Durchführung eines Technikprogramms (dreimalige Wiederholung bereits beherrschter Übungen) und einer übenden Ersterarbeitung eines Technikprogramms (Üben im engeren Sinne). 14 Besonders interessant ist hierbei, dass aller Voraussicht nach die Einebnung der drei Parameter unterschiedlich einfach umsetzbar ist: Je selbstverständlicher und unreflektierter ein Parameter (etwa Silbenlänge) einem Sprechtext zugeteilt wird, desto schwieriger wird seine willkürliche Einebnung fallen; im Umkehrschluss kann von den je individuelle Schwierigkeiten dieser Übung bereits eine persönliche Schwerpunktsetzung im Technikprogramm abgeleitet werden: Wenn beispielsweise die Löschung der Sprachmelodie leicht, die Löschung des Rhythmus dagegen schwer fällt, so sollte der Schwerpunkt des Technikprogramms auf Übungen zum Rhythmus gelegt werden.

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und Sinn: Nicht von ungefähr wird eine Einebnung der grundsätzlichen sprachmusikalischen Parameter als seelenloses, roboterhaftes Sprechen wahrgenommen (eine Assoziation allerdings, die nicht zu weit tragen sollte, um der Löschung nicht wieder einen neuen Sinn zu verleihen). Die Schwierigkeit einer Entkoppelung von Sprache und Sinn wird auf allen sprachmusikalischen Organisationsebenen sinnfällig: Auf Ebene der Melodie liegt es nahe, aus der Sprechsprache zu fallen und den Text auf einer Tonhöhe zu singen15 – was allerdings dem Text auf der Basis einer besonderen Tonfarbe einen neuen Sinn verleihen würde. Auf Ebene des Rhythmus fällt eine gleichartige Gestaltung der Silbenlängen sicherlich bei mehrsilbigen Wörtern schwerer, da sich der Rhythmus von Alltagssprache in der Regel an Wort- und nicht Silbengrenzen als Sinneinheiten orientiert. Analoges gilt für die Ebene der Dynamik, da die deutsche Initialakzentuierung eine lautere Ausführung erster Silben bei mehrsilbigen Wörtern verlangt. Die Beherrschung beider Vorübungen ist eine notwendige Vorstufe für die Durchführung der eigentlichen Technikübungen, die ein Bewusstsein und eine zumindest rudimentäre Steuerbarkeit sprachmusikalischer Einheiten voraussetzen. Die erste Übung des eigentlichen Technikprogramms (Tonleiterübung, vgl. Abb. 6) widmet sich der Organisationsform Melodie: Das Paradigma wird dreimal mit aufsteigender Sprachmelodie, dreimal mit absteigender Sprachmelodie gesprochen; der Rhythmus braucht dabei nicht beachtet werden. Wichtig jedoch ist, dass die Tonleiter aus möglichst identischen Tonschritten besteht16 (nicht etwa

15 Sprechen und Singen sind grundsätzlich unterschiedliche Modi der Stimme, die sich vor allem auf Ebene der Organisationsform Klang differenzieren. Als Übergangslösung ist gegen eine singende Ausführung der Löschung nichts einzuwenden, sie sollte jedoch möglichst mit einer der alltäglichen Sprechstimme ähnlichen Färbung ausgeführt werden. 16 Da die Tonleiterübung die erste Übung eines Technikprogramms Sprache darstellt, sollte der Ambitus nicht zu groß werden, um die Sprechstimme am Beginn des Trainings nicht zu überfordern. Daher sind kleine Tonschritte besser als größere. Ebenso muss darauf geachtet werden, dass eine aufsteigende Sprachmelodie im tiefen Register, eine absteigende Sprach-

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ein großer Tonsprung zwischen den ersten beiden Silben, der bereits zwischen tiefem und hohen Register wechselt und bei den Folgesilben nur noch sehr kleine Tonschritte zulässt) und eine kontinuierliche Melodierichtung beibehält (kein automatisches, „natürliches“ Absenken der letzten Silbe der zweisilbigen Wörter). Darüber hinaus sollte die gesamte Übung in einer einheitlichen, mittleren Lautstärke durchgeführt werden, also keine Koppelung von Lautstärke und Tonhöhe durchgeführt werden. Abbildung 6: Tonleiterübung

Die zweite Übung des Technikprogramms (vgl. Abb. 7) ist gewissermaßen die Übertragung der ersten aus dem Organisationsbereich Melodie in Dynamik: Das Paradigma soll je dreimal mit ansteigender Lautstärke (crescendo) und absteigender Lautstärke (decrescendo) gesprochen werden, wobei auch hier der Rhythmus nicht beachtet werden muss. Analog zur ersten Übung aber sollte auch hier keine automatische Koppelung von Lautstärke und Tonhöhe erfolgen (alle Silben sollten auf einer Tonhöhe ausgeführt werden), und die Lautstärkenveränderung sollte möglichst kontinuierlich, also in gleichmäßigen Intensitätsunterschieden, umgesetzt werden.

melodie im hohen Register beginnen muss, um jeweils Platz zur Entfaltung nach oben bzw. unten zu haben.

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Abbildung 7: Dynamikübung

Nach den Übungen zur Entkoppelung von Lautstärke und Tonhöhe kann eine Rekombination beider Parameter erfolgen, allerdings in systematischer Breite: In der dritten Übung (vgl. Abb. 8) wird das Paradigma jeweils dreimal in den Kombinationen [crescendo + aufsteigende Melodie], [decrescendo + aufsteigende Melodie], [crescendo + absteigende Melodie] und [decrescendo + absteigende Melodie] ausgeführt. Da die Übung komplexer ist, empfiehlt es sich, vor jedem Ausführungswechsel eine Konzentrationspause einzulegen, um jeweils den Beginn einer neuen Übung adäquat anzusetzen: Die erste Durchführung etwa [crescendo + aufsteigende Melodie] muss leise und tief beginnen, die zweite Durchführung [decrescendo + aufsteigende Melodie] dagegen laut und hoch, schwieriger noch bei der dritten und vierten Durchführung (leise und hoch bzw. laut und tief). Abbildung 8: Kombinationsübung

Die vierte Übung (vgl. Abb. 9) beschäftigt sich nun in spezifischer Weise mit dem Rhythmus und orientiert sich dafür an einer normalen

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sprechmusikalischen Ausführung17 des Paradigmas: Ziel ist es, den Satz fünfmal möglichst identisch zu wiederholen, wobei jedoch jedesmal eine deutliche Pause vor ein je unterschiedliches Wort gesetzt wird, beginnend beim letzten. Die Pause soll den Satz nur unterbrechen, nicht aber seine musikalische Ausführung (abgesehen von der rhythmischen Verschiebung) verändern. Diese Übung dient letztlich dazu, auf die unwillkürlich-normale Sprechweise willkürlich zugreifen zu können und sie – hier in rhythmischer Hinsicht – an einzelnen Punkten verändern zu können. Abbildung 9: Pausenübung

Die fünfte Übung (vgl. Abb. 10) widmet sich dem komplexen Phänomen der sprachlichen Betonung.18 Die Betonung einzelner Silben, also ihre relative Hervorhebung im Vergleich zu ihren Nachbarsilben, wird in erster Linie mit dem Parameter Lautstärke verbunden, was jedoch unterkomplex ist: In der deutschen Sprache wird gewöhnlicherweise in Koppelung von Lautstärke und Tonhöhe betont, daneben können aber auch Silbenlänge und sogar Tonfarbe zur Betonung eingesetzt werden bzw. zusammen mit Lautstärke und Tonhöhe angewandt werden. Betonungen sind sinnstiftend, weshalb auch eine technische Übung dazu mit komplexer Sprachmelodie, - rhythmik, - lautstärke und - farbe auszuführen ist. Das Paradigma wird in der Betonungsübung insgesamt sechsmal durchgesprochen, wobei jedes Wort einmal stark betont wird, angefangen beim ersten Wort.

17 Falls sich diese signifikant von der Ausführung des Autors (vgl. Abb. 1) unterscheiden sollte, muss hier eine entsprechend andere sprachmusikalische Ausführung als Grundlage der Übung als notiert angesetzt werden. 18 Zur historischen Differenzierung der Betonungsmöglichkeiten und ihres prosodischen Umfeldes vgl. Wagenknecht 1993, S. 15-20.

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Die Übung kann dadurch variiert werden, dass die herkömmliche Betonungstechnik – laut und hoch – umgekehrt angewendet wird, das betonte Wort also leise und tief ausgeführt wird. Neben der Charakteränderung des Satzes (der bei umgekehrter Betonungstechnik oft fragend oder arrogant wirkt) kann hierbei der relative Charakter des Phänomens Betonung beobachtet und eingeübt werden: Betont ist, was (in welcher Hinsicht auch immer) sich von seinem Umfeld unterscheidet. Eine weitere (und weitaus schwierigere) Möglichkeit der Variation der Betonungsübung ist ihre Durchführung mit Konzentration auf je eine einzige Organisationsform: Betonung nur durch Dynamik, nur durch Rhythmus, nur durch Melodie. Abbildung 10: Betonungsübung

Wie bereits erwähnt, ist das Phänomen Tonfarbe komplex und schwerer als die übrigen sprachmusikalischen Parameter willkürlich steuerbar; dies bedeutet nicht, dass der Bereich der Tonfarbe nicht Gegenstand technischer Übung sein kann oder sein sollte, ganz im Gegenteil: Ihre Beherrschung und differenzierte Einsetzbarkeit ist sicherlich ein Schlüssel für die sprachliche Dimension einer überzeugenden künstlerischen Darbietung. Lediglich eine Behandlung im Rahmen einer allgemeinen Grundlagentechnik, wie sie hier vorgestellt werden soll, erscheint als wenig sinnvoll, da einerseits die in diesem Bereich

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notwendig bildhafte Sprache wenig objektiv ist und kaum für eine funktionierende schriftliche Kommunikation taugt und andererseits die Übebedürfnisse hier mehr individueller Natur sein dürften und damit besser Teil eines individuell konzipierten Technikprogramms sind. Nichtsdestoweniger erscheint es als möglich, drei grundsätzliche Tonfarben auch in einem allgemeinen Technikprogramm zu behandeln, nämlich Flüstern, Sprechen und Schreien. Diese drei grundsätzlichen Tonfarben entsprechen den Klängen zischend, unmarkiert, gepresst und gehen je unterschiedliche Koppelungen mit bestimmten dynamischen, rhythmischen und melodiösen Ausführungen ein. Zwar erscheint dabei zunächst die Koppelung an Lautstärke als selbstverständlich (flüstern als leise, sprechen als mittellaut und schreien als laut), doch gerade diese Koppelung zwischen Farbe und Dynamik entpuppt sich als weiche, leicht auflösbare Koppelung; eine harte Koppelung dagegen besteht hinsichtlich der Sprachmelodie: Flüstern wird immer ohne Sprachmelodie ausgeführt und ist nur normalerweise leise; normales Sprechen wird mit einer komplexen Sprachmelodie ausgeführt und ist nur normalerweise mittellaut; Schreien wird mit einer relativ monotonen Sprachmelodie immer im hohen Register ausgeführt (hinzu kommt eine tendenziell gleichmäßige rhythmische Ausführung) und ist nur normalerweise laut. In der sechsten und letzten Übung des allgemeinen Technikprogramms Sprache (vgl. Abb. 11) gilt es nun, das Paradigma je dreimal in den drei grundsätzlichen Klangfarben zu sprechen, wobei jeweils Melodie und Rhythmus identisch ausgeführt werden, die Dynamik dagegen zwischen den drei dynamischen Registern leise, mittellaut und laut wechselt. Den Beginn bildet dabei jeweils die normale, jedoch weiche Koppelung zwischen Klangfarbe und Lautstärke. Abbildung 11: Tonfarbenübung

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Abbildung 12: Zusammenfassung

Das (nicht) perfekte Bühnenbild G UIDO A PEL / S USANNE K NAEBLE

V ORÜBERLEGUNG Bei einem Theaterbesuch fällt nach dem Öffnen des Vorhangs – so denn einer vorhanden ist – der erste Blick auf die Kulisse, welche die Bühne gestaltet und in der die Schauspieler agieren. Die Kulisse spielt bei der Umsetzung eines Theaterstückes eine wichtige Rolle, trägt sie doch enorm zur Wirkung der Handlung bei. Wie aber sieht das perfekte Bühnenbild aus? Denken wir an ein traditionell vorgetragenes Stück, so denken wir an großflächige Hintergrundgemälde und opulente Ausstattungen, vielleicht sogar verschiedene Ebenen. Nicht selten werden solche Kulissen noch mithilfe von Drehbühnen wandelbar gemacht. Durch den Einsatz solch großer und aufwändiger Bühnenbilder wird das Stück in eine möglichst naturalistische Umgebung gesetzt, die sicher durch ihre scheinbar „echte“ Wirkung überzeugen kann. Das Stück selbst erscheint dadurch zwar realitätsnah, möglicherweise aber auch konservativ und uninspiriert. In modernen Inszenierungen – auch klassischer Stücke – geht man daher meist zu abstrahierten und der Entstehungszeit des Werkes enthobenen Kulissen über. Durch die freie Gestaltung der Bühne kann ein Drama bewusst aus dem historischen Kontext gerissen werden. Spannend scheint hierbei vor allem, dass eine „Enthistorisierung“ des Bühnenbildes es häufig erlaubt, historische Konzeptionen wie veränderte Macht- oder Geschlechterverhältnisse überhaupt erst einsichtig zu machen. Die Transformation sozialer Strukturen produziert so für den Zuschauer

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Anschlussfähigkeit: Im Verstehen symbolisch repräsentierter Lebenswelten gewinnt der Rezipient Zugang zur historischen Dimension des Spiels. Das Ergebnis sind Aufführungen, die alleine schon durch ihr Bühnenbild eine ganz neue Dimension und Lesart vermitteln. Im Folgenden wollen wir die beiden Inszenierungsmodelle Konkretion (naturalistisch) auf der einen und Abstraktion (freie Gestaltung) auf der anderen Seite nennen. Dabei ist zu beachten, dass hier eine idealtypische Trennung der beiden Modelle besprochen wird, die in der Praxis wahrscheinlich kaum jemals in Reinform auftreten wird. Meistens wird wohl eine Vermischung von Konkretion und Abstraktion Verwendung finden. Mit der unterschiedlichen Wirkung beider Pole innerhalb eines Stückes kann allerdings bewusst gespielt werden. So können beide Seiten jeweils auf ihre Art und Weise paradox erscheinen, wenn sie aufeinanderprallen. Auf der Rezeptionsebene ist dies als ein enormer Mehrwert zu verzeichnen, denn durch die Antagonie der Modelle werden diese jeweils markiert und gerade in ihrer Unterschiedlichkeit betont, was schließlich zu einer Pluralität an Deutungsmöglichkeiten führt. Als Paradebeispiel für eine abstrakte Bühnengestaltung kann Shakespeares Globe Theatre in London genannt werden. Das Besondere dieser Bühne war, dass sie von drei Seiten aus einsehbar war. Die Zuschauerränge waren kreisförmig um 3/4 der Bühne herum angeordnet. Es gab lediglich eine Rückwand mit Türen, allerdings auch mit bespielbaren Balkonen oberhalb der Türen. Hier wurde bewusst auf eine realitätsnahe Gestaltung der Bühne verzichtet, der Zuschauer konzentrierte sich ausschließlich auf das Spiel der Darsteller. Diese wiederum bezogen auch den Parkettraum des Theaters in ihr Spiel mit ein, z.B. bei Auftritten und Abgängen. Auf diese Weise stand Shakespeares Wortgewalt absolut im Mittelpunkt des Geschehens. Der Zuschauer wurde nicht durch überflüssigen Zierrat von der Poesie und dem Spiel abgelenkt – ganz im Sinne des Dramendichters.

D IE B ÜHNE

DES

L AIENTHEATERS

In Bezug auf das Laientheater kann die vorangegangene Überlegung durchaus eine Hilfe sein. Das Problem beginnt in der Regel bei der

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vorhandenen Bühnenarchitektur. Welche Laienschauspielgruppe kann schon auf die Möglichkeiten einer großräumigen Theaterbühne zurückgreifen? Man wird hier eher mit den Einschränkungen kleinerer Bühnen zurechtkommen müssen, deren Ausmaße oft in alle Richtungen zu wenig Raum bieten. Ein weiteres Problem stellt sich durch die finanziellen Möglichkeiten einer Theatergruppe. Solange diese nicht in den Genuss von Fördergeldern kommt, sieht sich ein wohl eher bescheidener Kassenstand den Anforderungen einer Inszenierung gegenüber. Beides, die räumliche wie die finanzielle Einschränkung, führt letztlich nur zu einer Konsequenz: Man muss improvisieren, sprich, die gegebenen Möglichkeiten von Anfang an in die Planung der Bühne und der Inszenierung mit einbeziehen. Die Abstraktion der Bühnengestaltung ist dabei allerdings nicht nur ein nahe liegendes Mittel um kosten- und platzsparend zu arbeiten: Durch eine gut in die Handlung integrierte, abstrakte Kulisse wird die räumliche und finanzielle Einschränkung sinnvoll aufgefangen und letztlich unsichtbar gemacht, zugleich kann dadurch die Inszenierung aber auch an Qualität gewinnen, was im Folgenden näher erläutert wird. Das Bühnenbild bietet hierbei nämlich nahezu endlose Möglichkeiten. Die Schwierigkeit besteht am ehesten darin, die konkrete Vorstellung der Kulisse, wie sie beim Lesen eines Theaterstückes üblicherweise im Kopf entsteht, soweit es geht auszublenden. Nicht selten geben Dramentexte die jeweilige Spielumgebung recht genau vor, was ihre Abstraktion umso mehr erschwert. Beispielsweise leitet Friedrich Dürrenmatt seinen Dramentext zu Die Physiker mit einer vierseitigen, romanhaften Raum- und Umgebungsbeschreibung ein, bevor der erste Akt beginnt. Hierin werden nicht nur akribisch genaue Angaben zu Stand, Farbe und Ausstattung der Möbelstücke und des Bühnenraumes gegeben, sondern auch ausufernde, für die Handlung teils überflüssige Anmerkungen gemacht, wie zum Beispiel das Aussehen des Gebäudes, in dem die Handlung spielt, des umgebenden Gartens und der Landschaft – alles letztlich im Stück ohnehin unsichtbar. Im Text heißt es: „Ort: Salon einer bequemen, wenn auch etwas verlotterten Villa des privaten Sanatoriums ‚Les Cerisiers‘. Nähere Umgebung: Zuerst natürliches, dann verbautes Seeufer, später eine mittlere, beinahe kleine Stadt. Das einst schmu-

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cke Nest mit seinem Schloss und seiner Altstadt ist nun mit grässlichen Gebäuden der Versicherungsgesellschaften verziert und ernährt sich zur Hauptsache von einer bescheidenen Universität mit ausgebauter theologischer Fakultät und sommerlichen Sprachkursen, ferner von einer Handels- und einer Zahntechnikerschule, dann von Töchterpensionaten und von einer kaum nennenswerten Leichtindustrie und liegt somit schon an sich abseits vom Getriebe. Dazu beruhigt überflüssigerweise auch noch die Landschaft die Nerven, jedenfalls sind blaue Gebirgszüge, human bewaldete Hügel und ein beträchtlicher See vorhanden sowie eine weite, abends rauchende Ebene in unmittelbarer Nähe – ein düsteres Moor – nun von Kanälen durchzogen und fruchtbar, mit einer Strafanstalt irgendwo und dazugehörendem landwirtschaftlichen Großbetrieb, so dass überall schweigsame und schattenhafte Gruppen und Grüppchen von hackenden und umgrabenden Verbrechern sichtbar sind. [...] Links befindet sich die Parkfront, die Fenster hoch und bis zum Parkett hinunterreichend, das mit Linoleum bedeckt ist. Links und rechts der Fensterfront ein schwerer Vorhang. Die Flügeltüre führt auf eine Terrasse, deren Steingeländer sich vom Park und dem relativ sonnigen Novemberwetter abhebt. [...] Rechts vorne eine schwere Eichentüre. Von der braunen Kassettendecke schwebt ein schwerer Kronleuchter. [...]“1

Da es einer Laiengruppe aufgrund der oben genannten Einschränkungen aber unmöglich ist, diese Angaben realitätsnah und naturalistisch umzusetzen, kann und muss sie sich der Abstraktion bedienen. Die ausschweifende Einleitungsbeschreibung Dürrenmatts kann beispielsweise mündlich vorgetragen werden, während das Bühnenbild sich bewusst davon unterscheidet. Diese absurde Inkohärenz zwischen dem Vorgetragenen und dem Gezeigten hat eine Markierung zur Folge und wird beim Publikum wohl Verwunderung und Komik auslösen, führt sie doch Dürrenmatts übertrieben naturalistische Angaben geradezu ad absurdum. Für die Inszenierung wird dies im Hinblick auf ihre Deutungsmöglichkeiten sicher einen Gewinn darstellen. Je mehr man sich von solchen vorformulierten Textbuchangaben löst, desto spannender kann das Ergebnis der Inszenierung werden. Eine abstrakte Bühnengestaltung lenkt den Fokus vielmehr auf die Darsteller, deren Leistungen dadurch sowohl mehr gefordert werden

1

Dürrenmatt 1998, S. 11–14.

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als auch mehr Beachtung finden.2 Durch die Abstraktion und vor allem auf Reduktion im Sinne einer Minimalisierung entsteht eine ganz eigene Bühnenästhetik, die die Inszenierung stark beeinflusst.

ABSTRAKTION

UND K ONKRETION BEI UNTERSCHIEDLICHEN B ÜHNENMODELLEN

Der Klassiker unter den Kulissenformen ist die Guckkastenbühne.3 Sie ist so beschaffen, dass sie drei Seiten eines Raumes zeigt, während die vierte Wand fehlt. Durch diese fehlende Wand schaut das Publikum als (nach dem Verständnis des bürgerlichen Theaters meist: unbeteiligter) Beobachter auf die Handlung.4 Für die Darsteller existiert in der Regel die unsichtbare Wand, wodurch die Bühne vom Zuschauerraum getrennt ist. Ein „Durchbrechen“ dieser Wand nimmt der Zuschauer dann als Störung des Spiels wahr. Die Guckkastenbühne kann eine Holzplattenkonstruktion mit integrierten Türen und Fenstern sein, aber auch aus von der Decke herabhängenden Stoffbahnen bestehen. In letzterem Fall sind keine Fenster oder Türen vorhanden, Auftritte und Abgänge erfolgen zwischen den Stoffbahnen. Die Verwendung von Stoffbahnen erzeugt in der Regel eine Abstraktion des Schauplatzes, da es einen solchen Ort in der Wirklichkeit ja kaum gibt. Der Einsatz von Stoff ist hierbei grundsätzlich eine gute Möglichkeit, die Bühne mit einfachen Mitteln effektvoll zu gestalten. Drehbühnen gibt es nur in großen Theatern. Auf einer großen runden Scheibe sind durch Holzaufbauten zwei bis vier Unterteilungen untergebracht, in denen jeweils unterschiedliche Schauplätze dargestellt werden. Durch das Drehen der Bühne kann schnell und ohne weitere Umbauten zwischen ganz verschiedenen Kulissen gewechselt werden. Bei der Drehbühne liegt der Fluchtpunkt der Kulisse in der

2

Vgl. dazu den Artikel Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum in diesem Buch.

3

Die folgende Vorstellung der Bühnenmodelle orientiert sich an der exemplarischen Darlegung bei Stadler 1974.

4

Zu den psychischen Folgen dieser Form vgl. den Artikel Lampenfieber in diesem Buch.

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Mitte der Bühne, während er bei der Guckkastenbühne nach links und rechts außen verschoben ist. Abbildung 13: Bühnenformen

Ein ähnlicher Effekt wird durch Simultanbühnen erzeugt. Hierbei besteht die Bühne aus verschiedenen Einzelelementen, die entweder auf verschiedenen Ebenen oder an unterschiedlichen Plätzen im Raum (oder im Freien) verteilt sind. So kann jedes Element für sich gestaltet werden und einen eigenen Schauplatz darstellen, was der Konkretion der Bühnengestaltung entgegenkommt. Im Gegensatz zur Drehbühne kann hierbei auf verschiedenen Ebenen simultan gespielt werden. Eine beliebte Kulisse stellt auch die Freilichtbühne dar, bei der die Gegebenheiten des Aufführungsortes genutzt und ins Spiel integriert werden. Spielorte im Freien profitieren von ihrem natürlichen Ausse-

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hen, bieten die Schauplätze doch zum Teil echte Bäume, Gräser, Felsen oder Mauern. In der Regel bieten Freilichtbühnen auch mehr Platz zum Spielen als Bühnen im Innenraum. Allerdings erfordern gerade Freilichtbühnen ebenfalls eine Abstraktion – sofern nicht das vorgetragene Stück selbst zufälligerweise im Freien spielt. Die natürliche Beschaffenheit solcher Bühnen erzwingt diese Abstraktion regelrecht. Sollen spezifische Räume dargestellt werden, so muss das Publikum letztlich die vorhandene Naturkulisse ausblenden und sich eine ganz andere Umgebung vorstellen. Das Bühnenbild kann hierzu natürlich Hilfestellungen geben: Räume können angedeutet werden durch Möbel, durch angedeutete Mauern oder Ähnliches. Abstraktion bedeutet im Sinne der Bühnengestaltung also vor allem, Dinge von ihren konkreten und bekannten Bedeutungen zu lösen und sie mit neuen Bedeutungen zu füllen. Das heißt, Abstraktion wird nicht nur durch eine vereinfachte oder reduzierte Darstellung von Gegenständen oder Räumen erreicht, sondern auch durch die gänzliche Isolierung von denselben bis hin zur völligen Zweckentfremdung vorhandener Kulissenelemente. In der Geschichte des Theaters waren Bühnen aber nicht immer so aufgebaut, wie sie heute üblich sind. Bei Urvölkern, wo auch schon seit jeher spielerisch Geschichten dargestellt wurden, wurde, so viel wir heute wissen, meist gänzlich auf eine Bühne sowie auf Bühnendekoration verzichtet – woran sich in manchen Gesellschaften bis in die Gegenwart nur kaum etwas geändert hat. Das Spiel findet ebenerdig mit dem Publikum in der freien Natur statt. Verwendete Hilfsmittel zur Unterstützung der Handlung entsprechen in der Regel nicht ihren natürlichen Abbildern, sondern sind abstrakte Requisiten. Auch in den antiken Hochkulturen waren Dekorationen und Requisiten nie von besonderer Bedeutung. Die alten Ägypter beispielsweise spielten einfach vor oder in ihren Tempeln. Die Bühnengestaltung wandelte sich nur sehr langsam. Im frühen Mittelalter fanden christliche Mysterienspiele zunächst in Kirchen statt. Im ausgehenden Mittelalter, als diese Spiele immer häufiger außerhalb der Kirche stattfanden, wurden Schauplätze weiterhin nur angedeutet. Kleine Bauten und Versatzstücke kamen hinzu und wurden über den ganzen Platz zwischen dem Publikum verstreut. Es gab also keine zentrale Spielfläche. In der Frührenaissance erzeugte man etwas mehr Ord-

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nung, indem man die einzelnen Schauplätze als Bühnenteile in einer Reihe nebeneinander platzierte. Dekorationen wurden aber noch immer sehr spärlich und in abstrakter Form eingesetzt. Die eigentliche Illusionsbühne – sprich: die Konkretion der Bühnengestaltung – entstand erst in der Hochrenaissance zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Perspektivische Malerei schuf die Illusion real existierender Stadtplätze. Mit immer prunkvolleren Dekorationen wurden die höfischen Bühnen ausgestattet. Um zwischen verschiedenen Schauplätzen zu wechseln, wurde schließlich die Drehbühne entwickelt. Die Konkretion der Kulissen fand ihren Höhepunkt im Barock im Zusammenhang mit der Entstehung der Oper. Holzrahmen wurden mit reich bemalten Leinwänden bespannt und hintereinander gestaffelt, wodurch ein optischer Tiefeneindruck erzeugt wurde. Das barocke Prinzip der perspektivischen Malerei und der konkreten Darstellung des Schauplatzes behauptete sich bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, weshalb auch heute unsere klassische Vorstellung einer Bühnengestaltung von diesem Bild geprägt ist.

P RAKTISCHE B EISPIELE Nehmen wir als Beispiel an, eine Szene spielt im Ballsaal eines Schlosses. Laut den Textbuchangaben wären hier links und rechts je eine Tür mit zwei Flügeln, an den Rändern des Raumes einige zierliche Barock-Bänkchen und Tischchen mit opulenten Kerzenständern, an den Wänden möglicherweise goldgerahmte Portraits einflussreicher Ahnen, in der Mitte des Saales wäre Platz für 10 Tanzpaare und so weiter. Vor dem inneren Auge entsteht ein Bild, wie wir es aus Hollywood-Kostümfilmen kennen. Dass wir die Möglichkeiten einer solchen Konkretion im Laienbereich nicht zur Verfügung haben, steht außer Frage. Wie aber lässt sich die Vorstellung dieses Raumes auf die vorhandene zu bespielende Bühne übertragen? Man kann versuchen, wenigstens einen Teil der im Text formulierten Vorgaben herzustellen, indem man reduziert, wo es die Handlung zulässt. Reduktion ist ein wichtiges Mittel bei der Abstraktion. Vielleicht genügen eine Tür, eine Bank und ein Tischchen mit Kerzen. Die Portraits können möglicherweise ganz unterschlagen werden oder durch ein handlungs-

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relevantes Objekt ersetzt werden. Somit wäre der Aufwand schon einmal erheblich verringert. Leider gibt das Bühnenbild jetzt vielleicht nicht mehr den eigentlichen Charakter eines Ballsaales wieder. Eine noch stärkere Reduzierung auf das Wesentliche kann jedoch Wunder wirken. Entfernen wir uns von der Idee des Ballsaales an sich, und lassen den Raum als imaginäre Kulisse wirken, beispielsweise durch ganz neutrale weiße Wände oder einen schwarzen Bühnenstoff. Tauschen wir die barocken Bänke gegen neutrale Sitzflächen ein, z.B. einfache Holzstühle oder Kisten. Ersetzen wir die schweren Kerzenständer durch Teelichter. Nehmen wir alles so weit zurück, dass es der Vorstellung des Zuschauers obliegt, wie der Raum aussieht. In Verbindung mit der gespielten Handlung wird das abstrakte, minimalisierte Bühnenbild Assoziationen im Kopf des Betrachters hervorrufen, auch wenn er bestimmte Gegenstände in diesem Moment nicht auf der Bühne sehen kann – ähnlich wie beim Lesen eines Buchs wird der Raum imaginiert und es entstehen gewisse Bilder vor dem inneren Auge. Nicht vorhandene Türen „erscheinen“ einfach durch die Auftritte und Abgänge der Schauspieler an immer den gleichen Stellen: Der performative Akt produziert den Raum. Ein unsichtbares Fenster wird man als Zuschauer beispielsweise wahrnehmen, wenn ein Darsteller den Blick durch die Scheibe ins Freie simuliert. Abstraktion kann also durch Reduktion entstehen. Andererseits kann selbstverständlich auch durch Steigerung abstrahiert werden, durch offensichtliche Übertreibung etwa – durch eine Abstrahierung des gewohnten Erscheinungsbildes. Gerade wenn in einigen Bereichen der Kulisse (oder der Kostüme) Einsparungen durch Reduktion gemacht werden, wird unter Umständen eine Überzeichnung an anderer Stelle möglich. Dies schafft einen auffälligen Kontrast. Dementsprechend könnte man die Bühne gewissermaßen mit einem Gemälde vergleichen. Der Maler stellt dabei die ihm wichtigen Elemente stärker heraus, während Unwesentliches zurückhaltend dargestellt wird. Er erschafft somit seine ganz eigene Betrachtung des Motivs, die nicht unbedingt mit der Realität deckungsgleich sein muss, dem Bild dabei aber eine persönliche Note verleiht. Für die Bühne meint dies die spezifische Fokussierung, welche den bespielten Raum der Inszenierung erzeugt.

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Stellen wir uns nun beispielsweise vor, in der oben beschriebenen reduzierten Kulisse des Ballsaals tritt ein über alle Maßen prunkvoll ausgestatteter König auf, so wird dies seine majestätische Erscheinung noch wesentlich prägnanter darstellen, ja mitunter sogar persiflieren. Dabei kommt es gar nicht so sehr darauf an, dass die Kostümausstattung des Königs tatsächlich wertvoll ist oder aussieht, vielmehr geht es um die optische Wirkung, die das Kostüm beim Zuschauer erzielt. Mit ähnlichen Mitteln würde auch ein Maler bestimmte Bildelemente über- oder untertreiben, um beim Betrachter die gewünschte Wirkung zu erzielen. Das Ganze lässt sich natürlich auch auf Bühnenelemente übertragen, die besonders hervorgehoben werden sollen. Eine solche Vorgehensweise setzt natürlich voraus, dass Bühnenbild und Kostüme ein Bestandteil der Stückkonzeption sind. Ein intensiver Austausch zwischen Regie und Bühnen-, Kostüm- sowie Maskenbildner ist dazu zwingend erforderlich. Gerade im Bereich Laientheater ist hier nicht das Konzept eines genialen Regisseurs, der alle Vorgaben der Inszenierung im Alleingang auf die Bühne bringt, zu verfolgen, sondern gerade der kommunikative Austausch entsprechender „Fachleute“ für Bühnengestaltung, Choreographie, Dramatik usw. verspricht großen Gewinn für ein umfassendes, an Deutungsmöglichkeiten reiches Regiekonzept.5 Weiterhin ist es nicht unüblich, dass in einem Theaterstück Szenen vorkommen, die im Freien spielen, z.B. in einem Park oder im Wald, während andere Szenen im Innenraum, z.B. in einem Salon, einem Büro, einem Wohnzimmer oder Ähnlichem spielen. Wie aber geht man als Laientheatergruppe sinnvoll mit verschiedenen Handlungsorten innerhalb eines Stückes um? Für große Umbauten fehlen meistens der nötige Platz auf der Bühne sowie die Zeit innerhalb der Aufführung. Auch hier muss folglich abstrahiert werden, und zwar weit mehr als bisher schon beschrieben. Natürlich kann man beispielsweise eine Waldkulisse auf eine Stoffbahn aufmalen und diese bei Bedarf wie einen Vorhang vor eine andere Kulisse ziehen. Doch hier erliegt man dem Versuch, den Schauplatz weitestgehend realistisch zu konkretisieren. Stattdessen sollte man in diesem Falle versuchen, sich ganz von der Vorstellung des Waldes als natürliche Entität zu lösen. Der

5

Vgl. dazu den Artikel Regie im Laientheater in diesem Buch.

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Wald könnte durch einen einzigen, abstrakt gehaltenen Baumstamm dargestellt werden. Ein Schauspieler, der sich z.B. in einem Wald oder hinter einem Baum versteckt, könnte dies nur andeuten, indem er einen Ast in der Hand hält und sich dahinter „versteckt“ – was sicher nicht gelingt, aber dadurch eine witzige Komponente in das Spiel bringt. Für die Zuschauer offensichtlich, wäre der so „versteckte“ Schauspieler für die anderen Schauspieler auf der Bühne eben trotzdem unsichtbar. Folglich gilt es im Laientheater – wohl mehr als im finanziell besser gerüsteten Profitheater – auf die Zeichenhaftigkeit des Dargestellten zu vertrauen, entscheidend ist der performative Akt. Eine zusätzliche Ebene könnte in diesem Beispiel auch eine akustische Einspielung beisteuern: Durch Vogelgezwitscher ist der Wald wahrzunehmen, auch wenn er nicht sichtbar ist. Die Musik- oder Geräuschvertonung eines Theaterstückes soll hier zwar nicht weiter ausgeführt werden, doch soll diese Erweiterungsmöglichkeit bei der Inszenierung nicht unerwähnt bleiben – vielleicht als Gedankenanstoß, um einer bloßen Beschäftigung der für das Bühnenbild Verantwortlichen lediglich mit physischen Möglichkeiten zu wehren. Wenn die Bühne so weit abstrahiert ist, dass sie weder eine Freiland- noch eine Innenraumkulisse zeigt, sondern ganz bewusst neutral bzw. minimalistisch angelegt ist, so lässt sich damit viel freier spielen, als mit jeder anderen Kulisse. Gewiss erfordert dies auch die entsprechende Mitarbeit des Schauspielers, denn dieser muss nun definieren, wie der umgebende Raum aussieht und wo seine Grenzen sind. Der Schauspieler muss den nicht vorhandenen Raum glaubhaft in sein Spiel mit einbringen, so dass der Zuschauer diesen trotz reduzierter Gestaltung wahrnimmt. Diese Vorgehensweise fordert einerseits eine größere Leistung von den Schauspielern, doch in gleicher Weise wird ihr Spiel vom Publikum viel intensiver wahrgenommen. Nach einem Theaterbesuch wird sich das Publikum viel mehr an die Handlung und das Spiel erinnern können, da es nicht von überflüssigen Kulissenelementen abgelenkt wurde.6 Es dürfte mittlerweile klar sein, dass für eine gute Inszenierung eine gute Gesamtkonzeption wichtig ist. Bühnengestaltung, Kostüme,

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Hierzu sei auch auf den Artikel Die Bühne als performativ hergestellter Beobachtungsraum in diesem Buch verwiesen.

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Maske, Requisiten und natürlich die Regie müssen von Anfang an Hand in Hand gehen.7 Wenn das grundsätzliche Bühnenkonzept steht, kann die Spielweise direkt daran anknüpfen und somit das Bestmögliche aus einem Stück herausholen. Ein wichtiger Faktor dabei ist überdies auch ein stimmiges Farbkonzept. Das altbewährte Rezept weniger ist mehr erweist sich gerade auch im Laientheater als gute Richtschnur. Einerseits können dadurch Kosten gespart werden, andererseits erzielt man mit wenigen Farbtupfern größere Effekte, als wenn alles überladen ist. Ausgehend von der Farbgebung des Bühnenhintergrundes sollten die Farben der Requisiten, Bühnenbauteile und Kostüme in harmonischer Weise gewählt werden. Falls jemand die Kostüme selbst schneidert, lässt sich dies besonders gut abstimmen. Verwendet man dafür wenige für die Handlung gut passende Farbtöne, die z.B. eine Symbolcharakteristik aufweisen, erscheint das Stück homogen. Aber auch das Gegenteil kann natürlich gewollt sein: eine bewusste Übertreibung der Farbfülle, eine Überzeichnung der Farbsymbolik oder bewusst unpassend gewählte Farbtöne, die beim Zuschauer eher Verwunderung auslösen und als Störung empfunden werden können. Gewiss kann auf diese Weise auch eine einzelne Person besonders hervorgehoben werden oder ein besonderes Bühnenteil als absurdes Element hervorstechen. Auch hier ist der Vergleich mit einem Maler, der sein Bild komponiert, eine gute Möglichkeit, eine Herangehensweise für die Bühnen- und Gesamtgestaltung eines Stückes zu entwickeln. Ob das Bild eher abstrakt oder konkret umgesetzt wird, ob es eher grell oder ruhig wirkt, ob es Akzente setzt oder durch Homogenität glänzt – all das liegt in der Hand des Malers. Und diese Ausdrucksmöglichkeit sollte den Bogen von der Regie über das Gestaltungskonzept der Bühne, der Maske und der Kostüme spannen. Dies erfordert eine gute Vorplanung und konstruktive Zusammenarbeit, führt aber mit größter Wahrscheinlichkeit zu einem mehr als befriedigenden Ergebnis.

7

Vgl. dazu den Artikel Die Struktur des semiprofessionellen Theaterbereichs in diesem Buch.

D AS ( NICHT ) PERFEKTE B ÜHNENBILD | 117

S CHLUSSBEMERKUNG Wenn wir wieder an die Ausgangssituation denken, mit der wir an die (Bühnen-)gestaltung eines Stückes herangehen, und uns nun die Gegenüberstellung von Konkretion und Abstraktion vor Augen führen, kommen wir zu der Erkenntnis, dass eine naturalistische Umsetzung des Bühnenbildes nicht nur mit viel Aufwand verbunden ist, sondern in der Regel auch die Qualität des Stückes schmälert. Die Konkretion der Kulisse, die ein perfektes Abbilden der Natur will, ist letztlich gar nicht so perfekt. Stattdessen erweist sich eine nicht naturgetreue, also nicht perfekte Darstellung des Schauplatzes durchaus als stückdienlich, denn der Zeichencharakter wird als solcher erkenntlich und dem Rezipienten als weitere Interpretationsofferte präsentiert. Für das Laientheater und seine eingeschränkten Möglichkeiten ist das nicht perfekte Bühnenbild also ohne Frage perfekt.

Schminken als Vollendung des ‚natürlichen Gesichtsgemäldes‘ E VA W AGNER

Es klingt einfach: Um kleine, tief liegende Augen groß wirken zu lassen, soll man nach Young neben beziehungsweise schon auf der Nasenwurzel ein Licht setzen, das sich beinahe über die ganze obere Augenpartie zieht, so dass der obere Knochen der Augenhöhle keinen Schatten mehr zu werfen scheint. Mit Licht ist auch über die Hälfte des unteren Augenlides aufzuhellen. Nur der äußere Bereich des oberen Auges darf abgedunkelt werden, aber nicht bis zur Augenbraue. Die dunkle Farbe läuft in einem recht steilen Schwung nach oben Richtung äußere Augenbraue und Schläfe aus. Um den Anschein von Weite zu erzeugen, ist das untere Augenlid außen mit einer dunklen, feinen Linie zu betonen, die ein Stück weit über die eigentliche Größe des Auges Richtung Schläfe gezogen ist. Zwischen den Verdunkelungen des oberen und unteren Augenrandes bleibt eine recht weite Fläche, die aufzuhellen ist, sodass ein harter Kontrast zwischen hell und dunkel erzeugt wird.1 Um einen bestimmten Maskeneffekt zu erzielen, reicht es scheinbar, das zu schminkende Gesicht – bzw. Gesichtsteile wie Augen und Wangen – mit Hilfe der in der Literatur vorgestellten Idealtypen zu typisieren, sich die entsprechenden Schminktipps herauszusuchen und sie mit passendem Werkzeug richtig anzuwenden.

1

Young 1988, S. 54.

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Leider machen Laienmaskenbildner oft die Erfahrung, dass der beschriebene Weg nicht bei jedem zu schminkenden Darsteller das gewünschte Ergebnis erbringt. Im Gegenteil können die Augen erdrückt statt groß wirken, die Wangen einfach nur rot angemalt statt gut durchblutet, dreckig statt eingefallen. Es liegt nahe, die Schuld beim laikalen Maskenbildner zu suchen. Er hat das Auge, die Wangen, die Gesichtsform etc. falsch typisiert, er hat die Anweisungen nicht richtig umgesetzt oder ist schlicht unbegabt. Unbestreitbar ist die Tatsache, dass der Maskenbildner etwas falsch gemacht haben muss, wenn er nicht den Maskeneffekt erzielt, den er erzielen wollte. Aber dies liegt nicht zwangsweise daran, dass er unprofessionell mit der Literatur umgeht. Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wo die Problemursachen (auch) liegen und welche Möglichkeit der Laienmaskenbildner hat, damit umzugehen. In den Schminktipps und –anweisungen der einschlägigen Literatur für Laien wird deutlich, dass ein Schminkeffekt in Abhängigkeit des zu schminkenden Gesichts zu erzielen ist: So müssen beispielsweise unterschiedliche Augenformen auf unterschiedliche Weise geschminkt werden, um ein und denselben Effekt zu erwirken wie z.B. „klassisch schön“ zu erscheinen. Oben wurde bereits beschrieben, wie zu kleine, tief liegende Augen zu bearbeiten sind, um sie größer wirken zu lassen. Sind die Augen zu rund und hervorstehend, dunkelt man das komplette obere Lid bis über die Lidfalte ab, aber nicht bis ganz zur Augenbraue. Dem Verlauf des oberen Auges folgend verläuft die Verdunkelung insgesamt als geschwungener breiterer „Strich“ über das Auge und läuft Richtung Schläfen nach oben in einer Spitze aus. Das untere Augenlid ist innen zu verdunkeln, damit die Augen kleiner wirken. Allerdings darf die dunkle Linie nicht mit der Verdunklung des oberen Lides zusammentreffen. Dazu ist die dunkle Linie im Augenlid nicht ganz bis zum äußeren Augenwinkel zu zeichnen, vorher wird der Lidstrich außerhalb des Lides weiter gezogen.2 Das Schminkvorgehen davon abhängig zu machen, wie das zu bearbeitende Gesicht beschaffen ist, so dass also der gleiche Maskeneffekt bei unterschiedlichen Gesichtern auf unterschiedliche Arten zu erzeugen ist, ist grundsätzlich richtig. Dabei werden jedoch zwei Schwie-

2

Vgl. Young 1988, S. 54.

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rigkeiten ignoriert. Zum einen kann es möglich sein, dass sich die Gesichtsmerkmale eines Laienschauspielers wie die Augen nicht typisieren lassen in klassisch schön, rund, klein, tief liegend, hängend etc. Zum anderen wird das optische Phänomen außer Acht gelassen, dass die Wirkung einer Form von den sie umgebenden Formen abhängig ist. Die Typisierung eines Laienschauspielergesichts oder Teile von diesem kann daher schwer oder unmöglich sein, da im Laienbereich in der Regel keine „fleischgewordenen“ klassischen Schönheiten, Kleinäugige, Rundbackige etc. spielen, sondern „untypische“ Menschen. Um zu klären, wie hier der Begriff „untypisch“ verstanden wird, bedarf es der Aufschließung, was es mit dem Typenbegriff auf sich hat. Als weiblichen Normtyp kann man das „klassisch schöne Gesicht“3 begreifen, das von Young exakt beschrieben wird: Das Gesicht ist oval, weder zu dick noch zu dünn, und harmonisch proportioniert. Diese Harmonie zeigt sich in einer horizontalen Dreiteilung des Gesichtes in Stirnzone (gemessen vom Haaransatz bis zu den Augenbrauen), Augen- und Nasenzone (gemessen von den Augenbrauen bis zu unteren Nasenscheidewand) und Mund- und Kinnzone (gemessen von der Nasenscheidewand bis zum Kinn). Jede dieser Zonen weist die gleiche Größe auf. Das klassisch schöne Frauengesicht ist vertikal in fünf gleichmäßige Zonen einteilbar, wobei eine Zone der Breite eines Auges entspricht (gemessen wird vom äußerem zum inneren Augenwinkel). Zwischen den inneren Augenwinkeln beider Augen liegt also die mittlere vertikale Zone, in die exakt ein Auge hineinpassen würde. Der Mund in der dritten vertikalen Zone überragt die Zonengröße, aber nicht beliebig, sondern in der Form, dass lotgerechte, vertikale Linien von den inneren Rändern der Pupillen aus exakt auf die Mundwinkel treffen würden.4 Diese Beschreibung könnte noch weiter getrieben werden. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang nicht die Vollständigkeit, sondern der Umstand, dass die Harmonie des Normtypusʼ „klassische Schönheit“ in einer exakten, mathematisierten Beschreibung und Fixierung des Gesichts besteht. Dabei scheint Young die Harmonie,

3

Young 1988, S. 49.

4

Vgl. Young 1988, S. 49.

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die durch die Symmetrie der beiden Gesichtshälften zustande kommt, als so selbstverständlich (für den Typ „klassisch schönes Gesicht“) hinzunehmen, dass diese nicht erwähnt wird.5 Gesichter bzw. Gesichtsteile können die mathematisierte Harmonie des Gesichts stören, die durch den Normtyp „klassisch schönes Gesicht“ in idealer Art vorgegeben ist. Young nennt hier zum Beispiel eine hohe oder breite Stirn6, eng beieinander stehende Augen mit Hängelidern oder kleine, tief liegende Augen7, eine breite oder kurze Nase. All diese Abweichungen von dem Normtyp „klassische Schönheit“ bilden für sich wieder Typen, wie den Typ hohe Stirn, Typ breite Stirn, Typ kleine Augen, Typ tief liegende Augen etc. Im Laientheater ist es wohl die Regel, dass die Darstellerinnen von dem Normtyp „klassische Schönheit“ abweichen – aus dem einfach Grund, da dieser Typ in der Gesamtbevölkerung wohl eher rar ist. Die Schwierigkeit für Laienmaskenbildern besteht aber nun darin, dass sie unter Umständen in den zu schminkenden konkreten Darstellerkollegen nicht die vom Normtyp abweichenden Typen erkennen (können) wie Typ Pausbacke, Typ Kleinauge usw. Das kommt daher, da sowohl der Normtyp „klassische Schönheit“ wie die davon abweichenden Typen wie Fliehkinn alle ideale Vorstellungen, Abstrakta, sind. Diese lassen sich in manchen konkreten Gesichtern oder Gesichtsteilen nicht wieder erkennen. Die gleiche Schwierigkeit – und das gleiche Vorgehen – steckt im Phantombildzeichnen: Bei dem Programm Ultimate Flash Face8 z.B. wird

5

Nach einer Studie von Gründl, der den Zusammenhang zwischen der Gesichtshälftensymmetrie und der Attraktivität des Gesichtes untersuchte (vgl. www.beautycheck.de, eingesehen am 25.09.2010), ist ein klares Ergebnis, dass sehr asymmetrische Gesichter eher als unattraktiv wahrgenommen werden; das sehr attraktive Gesicht darf lediglich kleine Asymmetrien haben (vgl. Braun / Gründel / Marberger / Scherber: Beautycheck. Ursachen und Folgen von Attraktivität. S. 3, herunterladbar auf www.beautycheck.de). Das meint aber nicht, dass völlig symmetrische Gesichter in jedem Fall attraktiv sind.

6

Vgl. Young 1988, S. 51.

7

Vgl. Young 1988, S. 54.

8

Unter http://flashface.ctapt.de/, eingesehen am 10.02.2010, kann das Programm bedient werden.

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nach dem Setzkastenprinzip aus einem Pool von typischen Kinnformen, Mündern, Nasen, Augen, Brauen etc. ein Gesicht zusammengesetzt. Mit dieser Methode lässt sich eine mehr oder weniger große Identität von Phantombild und konkretem Gesicht erzeugen. Angenommen, man kann das Programm bedienen und man hat für die Phantombildzeichnung ein konkretes Gesicht als Vorbild vor Augen, sind Abweichungen beider Bilder darauf zurückzuführen, dass sich das Vorbild, das konkrete Gesicht, „untypisch“ verhält: Es lässt sich nicht durch die im Pool gegebenen typischen Kinne, Münder, Nasen etc. wiedergeben – oder umgekehrt formuliert lassen sich die typischen Kinnbilder, Nasenbilder etc. nicht auf die konkreten Gesichtsmerkmale abbilden. Wie beim Phantombildzeichnen wird beim Maskenbilden der Laienmaskenbildner dazu angehalten, aus einem Pool typischer Merkmale die für das konkrete Gesicht passenden zu suchen und auf es zu projizieren. Auch hier kann sich das konkrete Gesicht „untypisch“ verhalten, so dass keine Typisierung der konkreten Merkmale möglich ist. In diesem Fall kann der Laienmaskenbildner auch kein Schminkrezept heraussuchen und anwenden. Aber auch wenn dem Laienmaskenbildner eine Typisierung beispielsweise eines Augenpaares bei isolierter Betrachtung gelingt, können die Augen durch deren Einbettung in ein Gesicht anders im Gesamtzusammenhang wirken als abgesondert fixiert. Dieses Phänomen kann man als optische Täuschung begreifen, von der es zahlreiche Beispiele gibt. So wirken zwei exakt gleich lange Linien sehr unterschiedlich groß, wenn man ihre Enden je mit einem Winkel begrenzt, deren Spitzen entweder auf die Linie zeigen oder von der Linie weg. Mögliches Folgeproblem der unterschiedlichen Wirkung eines Gesichtsteils bei isolierter Betrachtung und bei Betrachtung im Gesamtzusammenhang ist, dass die Bearbeitung eines als typisch erkannten Gesichtsteils mit dem adäquaten Schminkrezept unter Umständen dennoch nicht den gewünschten Effekt erbringt, da dieser vom Gesamtzusammenhang zerstört wird. Auch hier zeigt sich, dass der Laienmaskenbildner mit Hilfe des Setzkastensystems möglicherweise nicht die Gesamtwirkung erzielen kann, die er sich vorstellt. Als Ursache für die beschriebene mögliche Inkompatibilität von den typischen Vorbildern aus der Literatur und dem konkreten Gesichtsbild wurde das „untypische“ Verhalten des konkreten Gesichts

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genannt. Dies bedarf einer Präzisierung: Nicht das „untypische“ Verhalten ist an der Inkompatibilität schuld, sondern genau genommen wird daran lediglich offenbar, dass das in der Laienmaskenbildnerliteratur vorgeschlagene Vorgehen problematisch ist. Die Arbeit des Maskenbildners lässt sich als hermeneutischer Beobachtungsprozess begreifen, bei dem der Maskenbildner das konkrete Gesicht des Schauspielers erkennend beobachtet (vgl. Abb. 14). Wünschenswertes Ziel dieser Beobachtung ist die Schaffung eines Plans, was genau wie zu schminken ist. Dabei hat der Maskenbildner einen vorab festgelegten Effekt in seiner Vorstellung, die die Maske erzielen soll. Als vorab festgesetzt kann man den Effekt bezeichnen, da unabhängig vom konkreten Gesicht des Schauspielers eine Figurenvorstellung im Kopf des Maskenbildners existiert. Eine Figur soll beispielsweise grundsätzlich attraktiv und liebenswürdig wirken, da das ihrem Charakter entspricht, so wie von Regisseur und Maskenbildner interpretiert wird. Bei der Beobachtung des konkreten Gesichts entwickelt der Maskenbilder einen Plan, wie er das konkrete Gesicht in diese Figurenvorstellung verwandeln kann (P 1). Dabei wird er möglicherweise nicht sofort auf eine endgültige Lösung kommen, sondern sich noch einmal in das Gesicht des Darstellers vertiefen, es genauer beobachten und dabei seine bisherige Planung im Kopf behalten (G 2). Auf diese Weise ändern sich sowohl sein Plan als auch das Gesicht des Darstellers, da dieses immer genauer erkannt wird bzw. in Beziehung zu dem – nun dynamischen – Plan gesetzt wird. Ändert sich die Wahrnehmung des Gesichtes, muss auch der Plan modifiziert werden (P 2). Der Prozess ist endlich, die einzelnen Vor- und Zurückbewegungen sind aber in ihrer Anzahl nicht festgelegt. Grafisch lässt sich dies folgendermaßen darstellen:

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Abbildung 14: Hermeneutischer Zirkel der Maske

In der Literatur wird vorgeschlagen, das konkrete Gesicht des Darstellers zu typisieren in Kleinauge, „klassische Schönheit“, Hochstirn etc. Für jeden in einer bestimmten Literatur vorkommenden Typ ist der Schminkplan bereits fertig vorgegeben – zumindest bei der korrigierenden Maske, die sich an dem Normtyp „klassische Schönheit“ orientiert. Problematisch an der nahe gelegten Typisierung des Gesichts und der damit möglicherweise einhergehenden Isolierung von Gesichtsmerkmalen ist, dass der Ausgangspunkt des Beobachtungsprozesses nicht primär das konkrete Gesicht ist. Sondern den Beginn der Gesichtsanalyse bilden die Typen aus der Literatur, die in dem konkreten Gesicht lediglich wiedererkannt werden. Das konkrete Gesicht wird auf diese Art im Akt des Typisierens zu einem leeren Blatt Papier gelöscht, auf das Typen (im Geiste des Maskenbildners) eingezeichnet werden. Die konkreten Elemente im Gesicht werden ersetzt durch die abstrakten Elemente der Typen, die den konkreten bestenfalls ähneln – es wird gleichsam ein Phantombild des Darstellers erstellt. Letzten Endes arbeitet der Maskenbildner dann mit einem im Akt des Typisierens gebastelten „Phantombild“, aber nicht mit dem konkreten Gesicht des Darstellers. Neben dieser grundsätzlichen Schwierigkeit, dass sich der Maskenbildner beim Typisierungsvorgehen nicht auf das konkrete Gesicht stützt, sondern auf Typen, die ihm bestmöglich ähneln, könnte das Typisierungsvorgehen aus zwei anderen Gründen scheitern: Immer dann, wenn sich das konkrete Gesicht nicht durch das Typisieren zum leeren Blatt löschen lässt, kann der Maskenbildner auf keinen fertigen Schminkplan aus der Literatur zurückgreifen. Es mag auch sein, dass der Laienmaskenbildner auf andere Art mit dem Typisieren überfor-

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dert ist. Mangels Ausbildung mag es ihm nicht möglich sein, das konkrete Gesicht mit den Typen aus der Literatur zu identifizieren. Seine Typenkenntnis ist wahrscheinlich begrenzt, da er sich nicht im Rahmen einer Ausbildung mit unterschiedlicher Fachliteratur auseinandergesetzt hat. So ist er auf die Typen beschränkt, die in der ihm gerade zur Verfügung stehenden Literatur vorgestellt werden. Zudem ist das ganze Vorgehen der Typisierung für den Laienmaskenbildner kein Alltagsgeschäft. Je nach Begabung, Interesse und Erfahrung kann es ihm mehr oder weniger gut gelingen. Statt von der Vorstellung auszugehen, die Laienmaskenbildnerarbeit beginne damit, in dem konkreten Schauspielergesicht Typen (aus der Literatur) wieder erkennen zu müssen, wird hier ein anderer Weg vorgeschlagen. Auch bei diesem Vorgehen wird mit der Annahme von vorgefertigten Bildern gearbeitet. Diese fertigen Bilder sind aber nicht Typen, die in das Gesicht projiziert werden, sondern das konkrete Gesicht wird als (ein einzigartiges) vorgefertigtes Bild begriffen: Das konkrete Gesicht kann als ein bereits bemaltes Blatt Papier wahrgenommen werden, auf welches ohne das Zutun des Maskenbildners Erhebungen und Vertiefungen, Konturen, Rundungen, Linien, Schatten etc. eingezeichnet sind. Diesem natürlichen Gesichtsgemälde steht der Maskenbildner als Beobachtender gegenüber mit dem Ziel, das natürliche Gesichtsgemälde zu verstehen. Von einer ersten Beobachtung, in der der Maskenbildner Informationen des natürlichen Gesichtsgemäldes aufnimmt, gelangt er zu einem ersten Verständnis des Gesichtsgemäldes. Die gewonnen Informationen überprüft der Maskenbildner erneut mit dem Gesichtsgemälde. Diese abermalige Beobachtung wird ihn zu einem besseren oder zumindest anderem Verständnis des Gesichtes führen, da sich die Informationen mehren, bestätigen oder verändern. Das neue Verständnis könnte der Maskenbilder wieder in Bezug zum Gesichtsgemälde setzen, wozu er dieses erneut beobachtet und mit seinen bisherigen Informationen in Zusammenhang bringt. Mögliches Ergebnis wäre eine weitere Modifikation des Verständnisses für das Gesichtsgemälde. 9

9

Auch in dem Band Texte und Materialien für den Unterricht. Theater spielen wird bei der Maske im Schultheater darauf hingewiesen, dass man sich die Hilfe von Kunsterziehern organisieren soll (vgl. Neuhaus 1985,

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Das konkrete Gesicht eines Darstellers als bemaltes Blatt Papier wahrzunehmen, als natürliches Gesichtsgemälde, bedarf der Übersetzung eines dreidimensionales Ge-Bildes (das Gesicht) in ein zweidimensionales. Dies kann ausschließlich in der Vorstellung des Maskenbildners geschehen oder (zumindest bei der Entwicklung eines Maskenplans) auch mit Hilfe einer Fotografie. Diese bewusst zu vollziehende dimensionale Übersetzung ist für die Arbeit des Maskenbildners hilfreich. Denn bei jedem maskenbildnerischen Arbeiten sind die allgemeinen optischen Gesetze des zweidimensionalen Raumes zu berücksichtigen. So gilt beispielsweise beim (fotorealistischen) Malen/ Zeichnen auf einer zweidimensionalen Fläche als auch beim Schminken eines Gesichts der Grundsatz, dass Dunkles optisch in den Hintergrund tritt, Helles in den Vordergrund.10 Jedes Schminken mit dem Ziel, die natürliche Gesichtswirkung zu verändern, bedarf einer Beeinflussung der gegebenen Hell-Dunkel-Verhältnisse: Der Kontrast kann intensiviert oder abgeschwächt werden, die Lage im Gesicht kann verschoben werden. Diese Veränderungsarbeit scheint dann leichter zu gelingen, wenn sich der Laienmaskenbildner einen natürlichen Gesichtsschatten – zum Beispiel neben den Nasenrücken – nicht als unveränderbar hinnimmt, da die Nase nun mal so gewachsen ist; sondern er kann diesen Schatten als einen auf einer zweidimensionalen Fläche gezeichneten wahrnehmen, der z.B. lediglich zu dunkel geraten ist und aufgehellt werden muss, um die Nase kleiner wirken zu lassen. Auch kann der bewusste Transfer der tatsächlichen Dreidimensionalität des Gesichtes in den zweidimensionalen Raum die mögliche Umsetzung einer Schminkvorlage aus der Literatur oder eine selbst entwickelte vereinfachen. Die Vorlage, das Ziel, ist zweidimensional gegeben. Es scheint zielführender, das zu Verändernde an die Medialität des Ziels anzupassen als umgekehrt das Ziel an die Medialität des zu Verändernden.

S. 139f.). Auch hier wird also auf die Parallele aufmerksam gemacht, die zwischen dem Bildermalen und dem Maskenbilden besteht. 10 „[...W]as ich als Goldene Regel der Schminkkunst bezeichne: Schminken Sie alles, was kleiner wirken soll, dunkler und alles, was größer wirken soll, heller!“ (Young 1988, S.47).

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In der Metapher des natürlichen Gesichtsgemäldes gesprochen besteht die Arbeit des Maskenbildners darin, das vorgefundene Gesichtsgemälde zu Ende zu malen. Der Maskenbildner steht zum Beispiel vor der Aufgabe, dass ein natürliches Gesichtsgemälde älter wirken muss, schöner, strenger, dreckig, geschminkt, ausgemergelt und so weiter, weil das die darzustellende Figur verlangt. Gerade an den Komparativen ist zu erkennen, dass beim maskenbildnerischen Arbeiten die Basis, das vorgemalte natürliche Gesichtsgemälde, nicht gelöscht oder beliebig verändert werden kann. Mit einfachen Schminkmaterialien wie Make-up, Farbstifte, Farbpuder kann man kein komplett neues Gemälde über das vorhandene natürliche Gesichtsgemälde gestalten. Der Maskenbildner kann (mit einfachen Schminkmaterialien) lediglich das Vorgemalte betonen oder abschwächen.11 So ist ihm es beispielsweise nicht möglich, aus einem Teenagergesicht überzeugend ein greises Gesicht zu zaubern, eine Stupsnase zu einer langen Nase zu schminken, ein rundes Gesicht in ein markant-eckiges Gesicht zu verwandeln etc.12 Radikale Änderungen

11 „[... A]rbeiten wir nur mit Schminke, also ohne Plastiken, so bin ich der Meinung, man soll nichts auf ein Gesicht ‚draufschminken‘, sondern die vorhandenen Anlage und Proportionen verstärken oder abschwächen“ (Strauchmann 1968, S. 167). „Nur wenn wir zum Beispiel eine Falte, eine Vertiefung oder Erhöhung genau organisch (anatomisch) dahin schminken, wo sie einmal sein wird, ist es richtig“ (Strauchmann 1968, S. 167). Auch Neuhaus reduziert die grundlegenden maskenbildnerischen Möglichkeiten auf das Betonen und Abschwächen von Merkmalen und verweist dabei auf die entstehenden Schwierigkeit der Effektschminke: „Die andere Seite ist das Betonen oder Retouchieren bestimmter Teile des Gesichts. Retouchen wirken allerdings im Allgemeinen nur, wenn ein größerer Abstand zwischen Zuschauer und Darsteller vorhanden ist.“ (Neuhaus 1985, S. 140). 12 Auch beim Kategorisierungs- und Typisierungsvorgehen sind Gesichter nicht wahllos veränderbar. Sie sind in Abhängigkeit des Typs zu bearbeiten, wobei aber der Typ nicht verändert wird oder werden kann: Young beschreibt, dass wegen der Grenzen der Schminkkunst Rollenfiguren so besetzt werden, dass sie von sich aus der Vorstellung des Bühnenautors oder Regisseurs entsprechen (Young 1988, S. 48).

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dieser Art können mit plastischen Mitteln wie Latex erzielt werden. Dafür fehlen im Laienbereich aber wohl meist die Ausbildung, die Zeit, die räumlichen Möglichkeiten und das Geld. Die maskenbildnerische Vollendung eines natürlichen Gesichtsgemäldes ist geleitet von der Figurenvorstellung des Maskenbildners, sie ist das Vorwissen, das die Beobachtung von Anfang an bestimmt. Um ein Gesichtsgemälde zu vollenden, bedarf es der Analyse des natürlichen Gesichtsgemäldes. Der Maskenbildner beobachtet, was bereits in dem natürlichen Gesichtsgemälde von seiner Vorstellung umgesetzt ist, was noch nicht zu seiner Zufriedenheit oder sogar gegen seine Figurenvorstellung „ausgeführt“ ist. Das Beobachten des natürlichen Gesichtsgemäldes ist also nicht völlig neutral, sondern geschieht in Hinblick auf die Bühnenfigur. Diese Aufgabe des Maskenbildners wurde oben grafisch festgehalten. Als Ziel wurde die Entwicklung eines Schminkplans genannt, die Figurenvorstellung wurde als von Anfang an gegebenes Vorwissen erklärt. Doch woher kommt die Figurenvorstellung? Eine Besonderheit des Laientheaters ist, dass die Figurenvorstellung kaum unabhängig von den konkreten Darstellern der Theatergruppe entwickelt werden kann. Denn im Laientheater existiert für die meisten Rollen so gut wie keine Wahl in der Besetzung; nur diese und jene Personen haben viel Zeit zum Proben, nur diese und jene Personen verfügen über genügend Darstellungsrepertoire, nur diese und jene Personen sind Jugendliche etc. Da es im Laientheater wohl keine Stückwahl und keine Rollenbesetzung gibt, die nicht auf das Ensemble zugeschnitten ist, werden beim Laienmaskenbilden zum einen die natürlichen Gesichtsgemälde der Darsteller an die idealen Figurenvorstellungen angeglichen, die aus der Interpretation des zu inszenierenden Stücks erwachsen, zum anderen aber werden diese Figurenvorstellung durch die konkret zur Verfügung stehenden Darsteller mit ihren natürlichen Gesichtsgemälden erzeugt. Beides ist notwendigerweise primär. Allererst wird ein Text mit seinen Figuren unabhängig von einer konkreten Laiengruppe interpretiert und gegebenenfalls als Maske imaginiert – ohne die Unabhängigkeit gäbe es kein wirkliches Textverständnis. Allererst wird andererseits aus den zu Verfügung stehenden natürlichen Gesichtsgemälden ein Text interpretiert und Figurenvorstellungen geschaffen.

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Um aus der Beobachtung des natürlichen Gesichtsgemäldes heraus eine Figurenvorstellung zu generieren, bedarf es der neutralen Beobachtung des Gesichtsgemäldes, bei der der Maskenbildner auf der Suche nach dessen Eigenheit13 ist. Vor der Entwicklung eines Schminkplans in Auseinandersetzung mit den beiden Größen Figurenvorstellung und Gesichtsgemälde bzw. konkretes Gesicht (oben skizziert) steht also erst die Beobachtung des natürlichen Gesichtsgemäldes mit dem Ziel, dieses für sich zu verstehen. Da diese Eigenheitserkundung erst einmal keinen maskenbildnerischen Zweck erfüllt, ist der Begriff des natürlichen Gesichtsgemäldes noch nicht von Nöten; es wird das konkrete Gesicht beobachtet und seine Eigenheit verstanden. Verständnis des konkreten Gesichts lässt sich ebenfalls als hermeneutischer Prozess begreifen. Der Maskenbildner studiert das konkrete Gesicht mit dem Ziel, dieses zu erfassen. Einem ersten Verständnis folgt eine erneute Beobachtung mit dem möglichen Ergebnis eines tieferen Verständnisses etc. Diese neutrale Beobachtung des Darstellergesichts als konkretes Menschengesicht scheint vor der Beobachtung des natürlichen Gesichtsgemäldes stehen zu müssen. Gleichzeitig ist zu postulieren, dass ein konkretes Darstellergesicht von einem Maskenbildner immer erst als natürliches Gesichtsgemälde wahrgenommen wird, das zeichenhaft gelesen werden kann und veränderbar ist. Ein natürliches Gesichtsgemälde ist aber, wie bereits ausgeführt, nicht beliebig veränderbar, die laienmaskenbildnerischen Mittel sind begrenzt. Zum Problem wird die Begrenztheit, wenn Figurenvorstellung und natürliches Gesichtsgemälde stark differieren. Dieses Problem ist typisch für den Laienbereich, da sich das Laientheater seine Darsteller nur begrenzt nach Wunsch zusammenstellen kann, so dass textbasierte Figurenvorstellungen mehr oder weniger exakt umgesetzt werden können. Die Begrenzung hat zur Folge, dass im Laienbereich die Figurenvorstellung eher an das natürliche Gesichtsgemälde ange-

13 Mit dem Begriff „Eigenheit“ ist nicht Einzigartigkeit oder Individualität oder dergleichen gemeint, sondern ganz wörtlich das, was dem natürlichen Gesichtsgemälde eigen ist. Dieses Eigene kann auch völlig einem Typ entsprechen und muss nicht individuell sein.

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passt werden muss als umgekehrt.14 Die Schwierigkeit kann auf nur eine Art gelöst werden: Das Problem kann als Gewinn gesehen werden. Die textbasierte Figurenvorstellung im Kopf des Laienmaskenbildners wird nicht durch die natürlichen Gegebenheiten vernichtet, sondern bereichert; sie können ihm interessante und sinnvolle Facetten einer Figur bzw. des Stücks zeigen, auf die er selbst nicht hätte kommen können. Zum Beispiel könnte (aus welchen Gründen auch immer) die Rolle der Prinzessin in einer Laientheatergruppe nur mit einer im konventionellen Sinn hässlichen Darstellerin besetzt werden, einer vielleicht kleinen, dicken Person mit großer Nase und Doppelkinn. In dem Fall passiert etwas mit der Figur und mit der Inszenierung des Stücks. Schönheit wird auf diese Art als gesellschaftlich erzeugt vorgeführt. Möglicherweise mag genau dies in die Inszenierung passen, sie sogar grundlegend bestimmen. Das vorgestellte Vorgehen schließt in keiner Weise die Möglichkeit (wenn nicht sogar die Notwendigkeit) aus, sich Hilfe und Anregung aus der einschlägigen Literatur zu holen. So stehen beispielsweise gerade die textbasierte Figurenvorstellung im Kopf des Regisseurs und des Maskenbildners zwangsweise in Verbindung mit Typen. Jede Gesellschaft liest in physiognomischen Merkmalen charakterliche Züge.15 Beispiele für die Zusammenhänge von Physiognomie und gesellschaftlicher Bedeutung finden sich in einschlägiger Literatur, auch über die maskenbildnerische Veränderung der physiognomischen Merkmale. Es wurde dargestellt, dass der ausschließliche Verlass auf die Literatur mit ihrem praktizierten Typisierungsvorgehen beim Maskenbil-

14 Auch Neuhaus plädiert dafür, vor der Schminkarbeit das konkrete Gesicht zu studieren und dessen Eigenarten zu erkennen: „Beim Schminken gilt: Weniger ist oft mehr. Das ‚natürliche‘ Gesicht eines Darstellers hat in der Regel für sich schon sehr viel Interessantes zu bieten.“ (Neuhaus 1985, S. 140) 15 Dabei mag die Zuordnung von physiognomischem Merkmal und gesellschaftlicher Bedeutung von Gesellschaft zu Gesellschaft variieren. So mag ein kleiner, zusammengekniffener Mund nicht in jeder Gesellschaft und zu jeder Zeit auf Rachsucht, Eigensinn oder Egoismus schließen lassen (Beispiel aus Young 1988, S. 28).

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den von daher grundsätzlich problematisch ist, dass konkrete Darstellergesichter im Akt des Typisierens gelöscht werden und zu Typen werden, die dem konkreten Gesicht mehr oder weniger ähneln. Vorgeschlagen wurde, sich als Maskenbildner etwas frei von Typen zu machen und also nicht zu versuchen, etwas in ein konkretes Gesicht hineinzuzwingen, sondern mehr auf das zu schauen, was man dem natürlichen Gesichtsgemälde abgewinnen kann. Im Akt des Schminkens selbst, wenn die Figurenvorstellung und der Vollendungsplan bereits stehen, kann sich das tastende, beobachtende Vorgehen fortsetzen. So hat beispielsweise die erwähnte gegenseitige Wirkungsbeeinflussung von isoliert betrachtetem Einzelmerkmal und dem Gesichtsganzen Konsequenzen für das Schminken. Es kann der Umstand auftreten, dass zur Veränderung eines Einzelmerkmals nicht das Merkmal selbst bearbeitet werden muss, sondern andere Merkmale. Deren veränderte Optik kann das eigentlich zu verändernde Merkmal bereits so in seiner Wirkung beeinflussen, dass es keiner weiteren Bearbeitung bedarf. Vorstellbar ist auch, dass man die beabsichtigte Wirkung eines Einzelmerkmals nicht alleine dadurch erzielen kann, dass man die in der Literatur vorgeschlagene Technik an ihm anwendet; sondern man muss gleichzeitig ein anderes Gesichtsmerkmal behandeln, damit die Wirkung zustande kommt. Kurz: Die gegenseitige Abhängigkeit der Wirkungen einzelner Merkmale macht einen doppelten Blick notwendig, sowohl die isolierte Beobachtung eines Merkmals als auch die Beobachtung des Merkmals in seinem Gesamtzusammenhang. Ein anderer Grund, sich im Laientheaterbereich ein Stück weit gegenüber der Literatur zu emanzipieren, liegt in der möglichen Ungeübtheit des Laienmaskenbildners, die zur Folge haben kann, dass der Laienmaskenbildner nicht immer das gleiche Schminkergebnis produzieren kann: Bei jeder Vorstellung sieht die Maske mehr oder weniger anders aus. Um mit dieser Art von Unvorhersehbarkeit zu Recht zu kommen, braucht der Laienmaskenbildner den Mut und die Unabhängigkeit, spontan zu reagieren. Eine Möglichkeit, mit Fehlern beim Schminken umzugehen, ist die Technik des „Fehlerausgleichs“. Jede Verdunklung, jede Aufhellung, jede Rötung etc. bewirkt einen Effekt. Eine entstandene Disharmonie im Gesamtbild wie ein zu dunkel geratener Schatten an der Schläfe kann dadurch wieder in das Gesamt-

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bild passen, indem nicht er selbst verändert wird (was ggf. ein komplettes Abschminken voraussetzen würde), sondern ein weiterer „Fehler“ an einer anderen Stelle im Gesichtsgemälde produziert wird, der im ursprünglichen Vollendungsplan nicht vorgesehen war. Die beiden Fehler können sich in ihrer Wirkung gegenseitig aufheben. Der zweite Fehler, der den ersten Fehler ausgleichen kann, kann aber unter Umständen eine weitere Disharmonie erzeugt, so dass abermals ein Fehler im Gesichtsgemälde platziert werden muss, der freilich nicht im eigentlichen Vollendungsplan berücksichtigt werden konnte. Dieses Hangeln von Fehler zu Fehler hat dann sein Ende, wenn sich die Fehler gegenseitig aufheben und die „richtigen Fehler“ zu einem harmonischen Gemälde führen. Diese indirekte Art der Veränderung eines Merkmals scheint zentral in der konkreten Arbeit des Laienmaskenbildners gefordert zu sein. Das dabei erforderliche diffizile und indirekte Vorgehen kann nicht in der Literatur beschrieben werden; es ist ein Herantasten an den gewünschten Maskeneffekt durch Ausprobieren und durch verstehendes Beobachten des dadurch neu Entstandenen. Im Laientheaterbereich scheint der Maskenbildern bei verschiedenen Arbeitsschritten sich bewusst mit dem auseinander setzen zu müssen, was er konkret vor sich hat und gleichzeitig mit einem Ideal, einer Vorstellung im Kopf. So befasst er sich mit dem konkreten Darstellergesicht und einer textbasierten Figur, um eine Maskenvorstellung zu entwickeln. Zur Entwicklung eines Vollendungsplans des Gesichtsgemäldes, beschäftigt er sich mit der entwickelten Maskenvorstellung und dem natürlichen Gesichtsgemälde. Bei der Vollendung des natürlichen Gesichtsgemäldes arbeitet er sowohl mit seinem Vollendungsplan als auch mit den möglichen Unvorsehbarkeiten, die beim Schminken passieren, der gerade entstandenen Maske.

Lampenfieber: Entstehen und Vergehen einer Kulturkrankheit S ILVAN W AGNER

Das Phänomen Lampenfieber kennzeichnet wie selbstverständlich das Umfeld vor allem des Laientheaters: In vorgreifendem Verständnis beteuern Verwandte und Freunde den Darstellern vor Aufführungsbeginn, dass „ein bisschen Lampenfieber dazu gehört“, auch im Selbstverständnis vieler Ausführender ist das Lampenfieber fest verankert in der Aufführungssituation, und schließlich tritt das Phänomen auch oft genug tatsächlich ein in den Formen Übelkeit, Panik, Zittern, Schwitzen etc. Ein Blick auf dem Buchmarkt erweckt den Eindruck, dass das Thema eine entsprechend breite Beachtung in der zuständigen Fachwissenschaft, der Psychologie, erfährt, denn psychologisch orientierte oder auch bloß inspirierte Veröffentlichungen der sogenannten Ratgeberliteratur zum Thema Lampenfieber haben längst eine unübersehbare Dichte erlangt. Die fachwissenschaftliche Basis dieser Ratgeberliteratur ist jedoch einigermaßen schmal: Lampenfieber selbst ist kein Begriff (und damit auch kein eigentlicher Gegenstand) der Psychologie, und das in der Praxis relativ eng umgrenzbare Phänomen wird wissenschaftlich unter der denkbar breiten Topik Angst unspezifisch behandelt.1 Lampenfieber wäre in diesem psychologischen Verständ1

Ursache dafür ist weniger eine fehlende Masse der psychologischen Arbeiten zum Themenbereich als vielmehr Grundlagenprobleme: „es fehlt eine einheitliche Terminologie, die Ursachen sind noch nicht eindeutig

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nis als „Aufführungsangst“2 eine spezifische Form „emotionale[r] Erregungszustände, die auf die Wahrnehmung von Hinweisen, auf mehr oder weniger konkrete bzw. realistische Erwartungen oder allgemeine Vorstellungen physischer Gefährdung oder psychischer Bedrohung zurückgehen“.3 Problematisch an einer ausschließlich psychologischen Annäherung an das Phänomen Lampenfieber ist die der Psychologie inhärente Tendenz zur Enthistorisierung ihrer Gegenstände zumindest zu anthropologischen (wenn nicht gleich zu biologischen) Konstanten: „Der Symptomkomplex Aufführungs- oder Leistungsangst ist ein bekanntes, universelles Phänomen der Menschheit“.4 Bei einer solchen Ausweitung gerät jede historisch-soziologische Bestimmung „der Menschheit“ aus dem Blick, was bisweilen im Zuge der Rückprojizierung rezenter Verhaltensweisen auf den (in dieser Hinsicht – ohne empirische Basis – oft bemühten) Urmenschen bizarre Blüten treibt:

identifiziert, eine Bestätigung der experimentellen Ergebnisse durch Wiederholung oder Nachfolgeuntersuchung fand nicht statt, und erfolgreiche, langfristige Behandlungsmethoden wurden bisher ebenfalls nicht verifiziert“ (Mornell 2002, S. 13f.). Mornell kritisiert in ihrer Studie abschließend noch differenziert die bisherigen psychologischen Untersuchungsmethoden hinsichtlich ihrer Missverständnisse in künstlerischer Hinsicht (vgl. ebd., S. 98-103), ein interdisziplinäres Defizit, an dem zu kranken eine psychologische Beschäftigung mit dem primär künstlerischen Phänomen Lampenfieber stets Gefahr läuft. 2

Zur Begriffsdiskussion der Begriffe Aufführungsangst und Lampenfieber vgl. Mornell 2002, S. 17-23 (Mornell legt hier auch einen Forschungsüberblick vor, allerdings mit Schwerpunkt auf musikalisches Lampenfieber). Mornells Ausführungen zur Aufführungsangst bauen allerdings auf die mittlerweile überholte freudianische Unterscheidung zwischen Angst (Vorbereitung auf objektiv nicht vorhandene Bedrohung) und Furcht (Vorbereitung auf objektive Bedrohung) auf (vgl. zur Kritik etwa Floßdorf 2000, S. 190f.).

3

Fröhlich 2004, S. 229.

4

Mornell 2002, S. 19.

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„Wenn Lampenfieber Anfälle von Durchfall oder Übelkeit verursacht, so ist dies eine Neuauflage der Reaktionen unserer Vorfahren, die angesichts einer Gefahr ihren Magen entleerten, um so unbeschwerter durch Flucht ihr Leben vor Raubtieren zu retten“.5

Sieht man auch von der Fragwürdigkeit der Erklärung ab, so ergibt sich bei einer derartigen Setzung6 des Lampenfiebers als Teil einer

5

Tarr 1993, S. 19. Tarr schreckt auch nicht davor zurück, biologistische Erklärungsmuster auf das hochkomplexe Phänomen musikalischer Ästhetik anzuwenden: „Während wir bei klassischen Geigern oft die Anstrengung harten Übens förmlich spüren können, ist es eine Freude zu beobachten, wie instinkthaft ein Zigeunermusiker sein Instrument handhabt und darauf vertraut, daß er mit seinen Zuhörern eine Verbindung eingeht“ (Tarr 1993, S. 48). Auch abgesehen von dem mehr als abenteuerlichen Dualismus disqualifizieren sich die Ausführungen Tarrs durch einen Kulturbegriff, der sich lediglich in seiner Wertungsrichtung, nicht aber in seiner Argumentation von rassistischen Kulturentwürfen unterscheidet.

6

Mehr als eine Setzung kann ein solches Verständnis nicht sein, da Fluchttechniken „unserer Vorfahren“ schlichtweg nicht beobachtet werden können – eine problematische argumentative Ausgangsbasis gerade für eine sich als empirisch begreifenden Wissenschaft wie der Psychologie. Dies schlägt sich auch in dezidiert fachwissenschaftlichen Ausführungen nieder, die gerade in der Definition von Angst als biologisches Überlebensprogramm merkwürdige Paradoxien freisetzt : „Subjektiv ist die Angst freilich auch darin, daß wir sie nicht nur als psychischen Affekt, sondern auch am eigenen Leibe erleben, indem wir nämlich unsere Pulsfrequenz erhöhen, die Muskeln spannen und weitere physische ‚Symptome’ mehr produzieren. Und darin kommt ein Stück unserer Naturgeschichte zum Vorschein: Angst als leib-seelischer Alarmzustand, dem die biologische Funktion zukommt, die energetisierenden und mobilisierenden Potentiale freizusetzen, welche angesichts einer tatsächlichen Gefahr die ums Überleben willen notwendige Angriffs- oder Fluchtreaktion ermöglichen. Angst also als integraler Bestandteil des von der Natur uns gegebenen Antriebspotentials. Gleich hier jedoch begegnen wir einer ersten Doppeldeutigkeit der Angst. Denn bei aller Bereitschaft zur motorischen Reaktion kann die Angst uns doch daran hindern, die Bewegung tatsächlich auszu-

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conditio humana ein grundlegendes Problem: Wenn Lampenfieber zur biologischen Grundausstattung des Menschen gehört, dann kann es auch nicht geheilt, sondern lediglich in seinen Symptomen gelindert7 werden. Eine kultur- und geisteswissenschaftlich orientierte Betrachtung dagegen kann das Phänomen Angst als historische Variable anstatt als ahistorische Konstante begreifen;8 wenn in Folge auch das

führen. Solche Lähmung kann uns sogar auf Dauer unbeweglich und damit schließlich handlungsunfähig machen. Sie kann aber auch, als vorübergehende Starre im Schreckmoment, uns davon abhalten, vorschnell zu reagieren, und uns helfen, die Lage gleichsam im Zeitraffer zu sichten, bevor wir der drängenden Bewegung freien Lauf lassen. Sie kann schließlich auch sozusagen absichtlich inszeniert werden, wie durch den sogenannten Totstellreflex bei einigen Tieren“ (Floßdorf 2000, S. 187). Angst soll damit als biologisches Programm sowohl zu (positiver wie negativer) Aktivität als auch zu (positiver wie negativer) Passivität führen, ja sie kann letztlich vor sich selbst schützen (denn woher sonst sollte die vorschnelle Reaktion kommen, vor der die Angststarre schützt, wenn nicht von der Angst?) – eine grundlegend paradoxale Struktur, die eher die wissenschaftshistorischen Wurzeln der Psychologie in der Theologie verrät, als dass sie für eine mittlerweile an den Naturwissenschaften orientierte Fachrichtung operabel wäre. 7

Hierbei hat die psychologische Ratgeberliteratur trotz ihrer problematischen Grundsetzung eine breite Palette an praktikablen Methoden zur Relativierung der negativen Aspekte des Lampenfiebers zutage gefördert, deren Nutzen je individuell zu eruieren ist (vgl. etwa Tarr 1993, S. 133-218).

8

Vgl. etwa grundsätzlich Solomon 1981, S. 252: „Es wird allgemein angenommen, Emotionen seien Erbe unserer primitiven Vorfahren, ‚triebhaft‘ in ihrem Wesen und eine Bedrohung für unser geordnetes, ‚vernünftiges ‘ Leben. Dagegen möchte ich behaupten, daß es die Emotionen sind – und nur an der Oberfläche unsere Vernunft –, die dem Leben Sinn und Daseinsberechtigung verleihen“. Eine breite ethnologische Belegsammlung für die kulturelle und nicht natürliche Verknüpfung zwischen Emotion und Zeichen liegt bei LaBarre 1981 vor; sie entlarvt die selbstverständliche Setzung einer biologischen Koppelung von Emotion und körperlichem Ausdruck (etwa Lampenfieber und Übelkeit) als ethnozentrische Projektion über kulturelle und historische Grenzen hinweg. Gerok-Reiter und

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Angstphänomen Lampenfieber als historische Erscheinung betrachtet wird (und dies soll in diesem Aufsatz versucht werden), dann spricht nichts dagegen, dass diese Erscheinung sich wieder wandeln oder gar gänzlich vergehen kann. Eine erste entsprechende Annäherung an das Phänomen liefert der Begriff selbst: Lampenfieber ist als Begriff erst ab 1858 nachweisbar9, und auch Tarr räumt ein, die älteste Beschreibung des Phänomens erst 1752 in Quantz’ berühmter Flötenschule vorzufinden.10 Das Grimm’sche Wörterbuch führt „Lampenfieber“ noch nicht als eigenständigen Begriff, sondern stellt ihn lediglich den verwandten Begriffen „Klingenfieber“11 und „Kanonenfieber“12 an die Seite. Diese

Obermaier begreifen in der Einleitung ihrer der Angst gewidmeten Aufsatzsammlung die vorläufigen Ergebnisse der historischen Emotionsforschung als Grundlage einer erst beginnenden Revision der Zusammenhänge von Emotion und Geschichte: „So haben vor allem ethnologische Studien hinlänglich gezeigt, in welchem Ausmaß die Codierung von Emotionen in den Formen ihres verbalen wie gestischen oder mimischen Ausdrucks kulturellen Spielregeln, Normen und Voraussetzungen unterliegt. Darüber hinaus hat die historische Emotionsforschung nicht nur die synchrone, d. h. kulturelle Variabilität der Gefühle, sondern auch die Modellierung der Gefühle in diachroner, also historischer Hinsicht hervorgehoben. Trotz der vielfältigen Ansätze ist das Forschungsfeld jedoch allenfalls erst eröffnet“ (Gerok-Reiter/Obermaier 2007, S. 3f.). Auch Floßdorf führt die geschichtliche Bindung der Angst an das Programm der Aufklärung vor (vgl. Floßdorf 2000, S. 194-197), allerdings ohne grundlegende Konsequenzen daraus zu ziehen. 9

Vgl. Kluge 1975.

10 Vgl. Tarr 1993, S. 17, ein denkbar später Beleg für ein angeblich natürliches Phänomen angesichts mehreren Jahrtausenden Musik- und Bühnengeschichte. 11 „Klingenfieber, n. studentisch, furcht vor der klinge, dem duell; wie kanonenfieber, lampenfieber“ (Grimm/Grimm 2004b). Der Band 11 des Wörterbuches, in dem beide Fundstellen zum Begriff „Lampenfieber“ vorkommen, ist erstmals 1873 erschienen.

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beiden Begriffe verweisen offensichtlicher als Lampenfieber auf ihre historische Verortung im bürgerlichen Zeitalter, und die mit ihnen im engeren Sinne bezeichneten Phänomene dürften nach der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols bei der Sühnung von Beleidigungen und nach grundlegenden Veränderung der Kriegsführung auch nicht mehr zum Standardverhaltensrepertoire gehören. Mit dem Begriff „Lampenfieber“ wird das Phänomen der spontanen Bühnenangst im 19. Jahrhundert den eher martialischen Fieber-Komposita an die Seite gestellt und als lebensbedrohliche, unverfügbare Krankheit13 metaphorisiert.14 Der Wortbestandteil „Lampe“ dagegen entstammt der Bühnensprache des 18. und 19. Jahrhunderts und wird in der Lite-

12 „Kanonenfieber, n. die fieberhafte erregung die einen im bereich der kugeln ergreift, ein eher scherzhafter name wie lampenfieber u.a.“ (Grimm/Grimm 2004a). 13 Eine positive Semantisierung des Fieberbegriffs als „lustvolle, erregende Komponente“ eines Auftritts (Tarr 1993, S. 18) fehlt für den Sprachhorizont des 19. Jahrhunderts. Fieber ist zunächst eine ernste, lebensgefährliche Krankheit, und auch ein übertragener Gebrauch des Wortes (etwa „Schauspielfieber“ bei Wieland 1966, S. 304) behält einen deutlich negativen Charakter. Diese negative Schlagseite des Fieberbegriffs im bürgerlichen Zeitalter wird auch durch die in den martialischen Fieber-Komposita Klingen- bzw. Kanonenfieber vorliegende Verbindung zwischen Fieber und Kampf gestützt, die von Herder 1793 idealtypisch formuliert wird: „Der große Friederich nannte die Kriege ‚Fieberanfälle der Menschheit’. Dem Fieber ruft man einen Arzt; auch dies Fieber wird seinen Arzt finden, der seine Anfälle wenigstens lindre und mindre.“ (Herder 1971, S. 109). 14 Ein interessanter literarischer Niederschlag der Verknüpfung von Angst und Bühne liegt in Georg Heyms Gedicht Das Fieberspital vor, in dem der Dichter die fiebernden Todkranken als Marionetten stilisiert, deren symbolische Fädenzieher ebenfalls nicht fehlen: „Die bleiche Leinwand in den vielen Betten / Verschwimmt in kahler Wand im Krankensaal. / Die Krankheiten alle, dünne Marionetten, / Spazieren in den Gängen. Eine Zahl / Hat jeder Kranke. Und mit weißer Kreide / Sind seine Qualen sauber aufnotiert. / Das Fieber donnert. Ihre Eingeweide / Brennen wie Berge. Und ihr Auge stiert / Zur Decke auf, wo ein paar große Spinnen / Aus ihrem Bauche lange Fäden ziehn. [...]“ (Heym 1960, S. 166f.).

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ratur dieser Zeit unverzichtbarer Bestandteil der Semantisierung von Theater, etwa in Schlegels Roman Lucinde aus dem Jahr 1799: „Ich glaubte unsichtbarerweise in einem Theater zu sein: auf der einen Seite zeigten sich die bekannten Bretter, Lampen und bemalten Pappen; auf der andern ein unermeßliches Gedränge von Zuschauern, ein wahres Meer von wißbegierigen Köpfen und teilnehmenden Augen“.15

Bretter, Lampen und bemalte Pappen – also erhöhtes Podest, Beleuchtung und Kulisse – grenzen sich hier scharf ab von der anonymen Masse der Zuschauer, die gänzlich in ihrer anonymisierten Funktion als Rezipienten aufgehen. Die Lampen bescheinen einen Raum, der unter intensivster Beobachtung steht und letztlich durch sie von einem anderen Raum, aus dem die Beobachtung erfolgt, radikal getrennt ist. Entsprechend sind die gelöschten Lampen (beispielsweise in Kellers Grünem Heinrich von 1880) eindeutiges Signal für eine nichtbespielte Bühne, die auch nicht mehr beobachtet wird: „Als ich wieder erwachte, war das Theater leer und still, die Lampen ausgelöscht, und der Vollmond goß sein Licht zwischen den Kulissen über die seltsame Unordnung herein“.16

Die Lampen des Theaters indizieren eine absolute Ausnahmesituation, deren Spannung auf den ersten Moment, dem Beginn der Vorstellung fokussiert wird, wie etwa in Moritz’ Anton Reiser von 1785: „die Lampen waren schon angezündet, der Vorhang aufgezogen und alles voll Erwartung, der entscheidende Moment war da“.17

Diese absolute Ausnahmesituation muss freilich nicht mittels Lampenfieber verarbeitet werden; die Titelfigur erinnert sich in Goethes berühmten Theater-Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre von 1795 an

15 Schlegel 1962, S. 28. 16 Keller 1968, S. 98. 17 Moritz 1979, S. 337f.

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eine bezüglich der persönlichen Verfassung des Darstellers ideale Theateraufführung: „O! ich war auch einmal in diesem glücklichen Zustande, als ich mit dem höchsten Begriff von mir selbst und meiner Nation die Bühne betrat. Was waren die Deutschen nicht in meiner Einbildung, was konnten sie nicht sein! Zu dieser Nation sprach ich, über die mich ein kleines Gerüst erhob, von welcher mich eine Reihe Lampen trennte, deren Glanz und Dampf mich hinderte, die Gegenstände vor mir genau zu unterscheiden. Wie willkommen war mir der Klang des Beifalls, der aus der Menge herauftönte; wie dankbar nahm ich das Geschenk an, das mir einstimmig von so vielen Händen dargebracht wurde! Lange wiegte ich mich so hin; wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf mich zurück; ich war mit meinem Publikum in dem besten Vernehmen; ich glaubte eine vollkommene Harmonie zu fühlen und jederzeit die Edelsten und Besten der Nation vor mir zu sehen.“18

Dieser Textabschnitt, der denkbar weit von einer Schilderung von Lampenfieber entfernt, ja ihr diametral entgegengesetzt ist, verspricht gerade deswegen einen Einblick in die soziohistorischen Wurzeln dieses Phänomens: Zunächst trennt Wilhelm typischerweise Bühnenraum und Zuschauerraum radikal durch die exponierende Erhöhung des Podests19 und durch die Reihe der Lampen; die Trennung wird gerade durch die Bestrahlung absolut, da Wilhelm, der Beobachtete, selbst nicht mehr beobachten kann und durch die Beleuchtung und deren Begleiterscheinungen vom Publikum gänzlich getrennt ist; sein Eindruck ist jedoch diametral entgegengesetzt: Der Darsteller ist trotz

18 Goethe 1968, S. 258. 19 Die Definition in Meyers Konversationslexikon von 1905 setzt den Aspekt der räumlichen Erhöhung dominant, indem sie Lampenfieber als verfälschten Ausdruck für Rampenfieber begreift: „im Bühnenwesen [heißt Rampe] das Gestell, dessen Lampenreihe die vordere Bühne von untenher beleuchtet, daher Rampenfieber (fälschlich Lampenfieber)“ (Meyer 1908); „fälschlich“ ist die Benennung freilich nicht, das Lexikon bezieht sich hier offenbar implizit auf die französische („rampfeber“) und schwedische („fièvre de la rampe“, vgl. Kluge 1975) begriffliche Fassung des Phänomens, ohne allerdings Abhängigkeitsverhältnisse zu diskutieren.

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der radikalen Trennung vom Publikum paradoxerweise mit diesem „in dem besten Vernehmen“ und in vollkommener Harmonie, die Wirkrichtung oszilliert („wie ich wirkte, wirkte die Menge wieder auf mich zurück“), die Beobachterrichtung dreht sich schließlich sogar um, und der Darsteller sieht vor sich die „Edelsten und Besten der Nation“, die im bürgerlichen Drama des 18. Jahrhunderts eigentlich er als Schauspieler hätte verkörpern sollen. Diese Aufladung des Schauspielers mit Paradoxie, wie sie Goethe im Wilhelm Meister vorführt, reagiert auf eine grundsätzliche Paradoxie der bürgerlichen Theaterbühne: Der Trennung von Welt und Bühne einerseits und andererseits dem Anspruch, auf dieser Bühne Welt zu präsentieren; in Bezug auf den einzelnen Darsteller formuliert: Im Zustand der radikalen Ausnahme soll das Normale agiert werden, eine denkbar spannungsgeladene Anforderung, die entweder mit einer Aufladung des Darstellers an Paradoxie verarbeitet werden kann – oder eben durch eine intensive Wahrnehmung dieser Spannung durch den Darsteller, durch Lampenfieber.20 Die Grundlage dieser Spannung – die paradoxale Anforderung an den Darsteller, die Einheit zwischen Welt und Bühne in ihrer radikalen Trennung herzustellen – gehören jedoch keineswegs natürlicherweise zum Theater, wie ein bruchstückhafter historischer Abriss zeigt: Schon die Hervorhebung des Auftrittsraumes durch eine Erhöhung mittels eines Podiums ist keine Konstante der Theatergeschichte; Wolfgang Michael verortet die ersten Ansätze der theatralen Verwendung von Podien in das 13. Jahrhundert, hier jedoch noch nicht in der Funktion als strikte Trennung von Zuschauerraum und Auftrittsraum: „[D]iese Vorführungen lateinischer Dramen in der Kirche haben [...] höchstens verschiedene über die Spielfläche verteilte oder um sie herum angeordnete

20 Dieses

Verständnis

von

Lampenfieber

als

Wahrnehmung

einer

grundlegenden Diskrepanz zwischen Rolle und Identität schlägt sich auch in einer spezifischen Verwendung des Begriffs in der Gaunersprache des 19. Jahrhunderts nieder: Hier bezeichnet Lampenfieber die „Angst vor Verratenwerden durch einen verhafteten Mittäter. Eigentlich Angst vor dem Bühnenauftritt; hier soviel wie Angst vor Anzeige bei der Polizei“ (Küpper 1997, S. 481).

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Einzelpodien. Von einem Gesamtpodium haben wir bei dem liturgischen Drama keine Kunde. Auch bei den Spielen in der Volkssprache und im Freien scheint es zunächst kein Gesamtpodium gegeben zu haben.“21

Von der Podiumsbühne als Normalfall ist erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auszugehen (vgl. Michael 1974, S. 17). Die Podiumsbühne ist paradoxerweise die Grundlage für die Illusionsbühne der Renaissance und des Barocks, da erst mit der radikalen Abtrennung von Welt und Bühne auf dieser die Illusion jener angestrebt werden kann. Der Anspruch einer Weltillusion im Theater gehört freilich nicht natürlicherweise zum Phänomen Theater dazu, sondern ist eine hochkomplexe soziohistorische Ausprägung, wie Edmund Stadler im historischen und ethnologischen Vergleich herausarbeitet (vgl. Stadler 1974). Umfasst die Paradoxie des Illusionstheaters noch den gesamten Bühnendiskurs, so konzentriert sich die Aufmerksamkeit durch die umfassende Psychologisierung im 18. Jahrhundert mehr und mehr auf den Darsteller als entscheidende Größe in der Vermittlung zwischen Welt und Bühne: „Die Kenntnis der menschlichen Seele avancierte zu einer der wichtigsten Zielsetzungen des ausgehenden Jahrhunderts. Die Schauspielkunst trug zu ihrer Realisierung bereits seit den sechziger Jahren wesentlich bei.“22

Parallel dazu entwickelt sich die Guckkastenbühne als bestimmende Bühnenform, also die Eingrenzung der Podiumsbühne durch drei Wände, wobei die Darsteller zwischen sich und dem Publikum eine fiktionale, vierte Wand zu ziehen hatten; programmatisch fordert Denis Diderot 1758 das Einziehen dieser vierten Wand und verbietet damit das A-part-Sprechen auf der Bühne, also die direkte Wendung zum Publikum: „Man denke also, sowohl während dem Schreiben als während dem Spielen an den Zuschauer ebensowenig, als ob keiner da wäre. Man stelle sich an dem

21 Michael 1974, S. 11 22 Fischer-Lichte 1999, S. 139.

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äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterr abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde.“23

Erst hier ergibt sich der bis heute fortdauernde voyeuristische Blick des Publikums in eine Szene, die idealiter so dargeboten wird, als ob sie nicht unter Beobachtung stünde. Für den Darsteller bedeutet dies die bereits skizzierte Aufladung an Paradoxie, ein Effekt, der von Diderot explizit formuliert wurde: In seiner Schrift Das Paradox über den Schauspieler von 1769 führt Diderot aus, dass „das Paradox des Schauspielers [... darin besteht], daß Gefühle und Leidenschaften nur in kritischer Distanz zur Rolle, bildlich gesprochen: nur im Zustand der Kälte, überzeugend dargestellt werden können“.24 Diese Einheit von größtmöglicher Distanz zur Rolle bei gleichzeitiger größtmöglicher emotiver Überzeugungskraft ist aber nicht weniger als die psychologische Reformulierung der paradoxalen Anforderung, die Einheit zwischen Welt und Bühne herzustellen.25 Der Spielbegriff, den Schiller schließlich in seinen Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen von 1795 entwirft, trägt das Paradoxon weit über den Bühnenraum hinaus und begründet implizit damit philosophisch die

23 Diderot 1984, S. 284. 24 Lazarowicz / Balme 1991, S. 155. 25 Scheinbar löst Goethe diese Paradoxie der vierten Wand auf, indem er fordert, stets in Hinsicht auf das Publikum zu agieren; näher betrachtet intensiviert er jedoch gerade dadurch die Paradoxie des Darstellers, indem dieser gleichsam in zwei Personen zerfällt: „Auch merke man vorzüglich, nie ins Theater hineinzusprechen, sondern immer gegen das Publicum. Denn der Schauspieler muß sich immer zwischen zwei Gegenständen theilen: nämlich zwischen dem Gegenstande, mit dem er spricht, und zwischen seinen Zuhörern [...]“ (Goethe 1901, S. 154). Freilich kann man zurecht von einem Ende des Illusionstheaters im Übergang zum 20. Jahrhunderts sprechen, da hier intensive Kritik an dem Paradigma der vierten Wand geübt wurde; allerdings wird zeitgleich die Forderung nach einem „natürlichen Spiel“ forciert (vgl. Fischer-Lichte 1999, S. 232-235), so dass im Endeffekt eine Paradoxie durch eine andere ersetzt wird, die ganz auf die Person des Darstellers konzentriert ist.

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Übertragbarkeit des Lampenfieberphänomens auf alle rollenhaften Auftrittsarten: „Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Dieser Satz, der in diesem Augenblicke vielleicht paradox erscheint, wird eine große und tiefe Bedeutung erhalten, wenn wir erst dahin gekommen sein werden, ihn auf den doppelten Ernst der Pflicht und des Schicksals anzuwenden; er wird, ich verspreche es Ihnen, das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen.“26

Beachtet man die historische Koinzidenz der Entwicklung der bürgerlichen Theaterbühne mit dem Aufkommen des Begriffs Lampenfieber und – vorlaufend – der Beschreibung des mit ihm bezeichneten Phänomens, so drängt sich der Gedanke auf, dass Lampenfieber an diese historische (und damit veränderbare) Bühnenform und ein entsprechendes Theaterverständnis gebunden ist. Der Begriff Lampenfieber entpuppt sich bei diesem Verständnis als exakter, geradezu analytischer Begriff27, der mit der theatertechnischen Grenze zwischen Bühne und Welt genau den neuralgischen Punkt des bezeichneten Phänomens im Namen führt: Gelingt es dem Darsteller, die Spannung seiner Paradoxie zu verarbeiten, also die „Lampengrenze“ zugleich aufzubauen und zu überbrücken28, so gelingt die Aufführung ohne

26 Schiller 1962, S. 618, Hervorhebungen durch Schiller. 27 Gegen Mornell 2002, S. 23: „Die Autorin hält die Begriffe ‚Lampenfieber’ und ‚Aufführungsangst’ für unvollkommen und irreführend. Weil es aber keinen überzeugenden Ersatz gibt, werden nachfolgend die ungleichen Partner ‚Lampenfieber’ und ‚Aufführungsangst’ weiterhin verwendet und wie Synonyme behandelt“. Meines Erachtens höhlt gerade eine solche Synonymisierung den Begriff Lampenfieber aus, da er damit gänzlich psychologisiert und auf ein Angstphänomen reduziert ist. Dass Angst eine nahe liegende Begleiterscheinung der skizzierten systemischen Spannungen ist, wird damit freilich nicht bestritten. 28 Historisch haben sich hierfür unterschiedliche Modelle entwickelt: Diderot etwa fordert eine „kalte Verstellung“ vom Darsteller, die zugleich die tiefsten Gefühle transportieren soll; die Stanislawski-Schule (weniger er

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Lampenfieber, gegebenenfalls sogar entgegengesetzt im Gefühl der Euphorie; kann der Darsteller die an der paradoxen „Lampengrenze“ entstehende Spannung jedoch nicht verarbeiten, so geraten Körper und Geist in eine Krise, die systematische Spannung schlägt sich in persönlicher Spannung nieder, der spontane Ausbruch von Lampenfieber kann dieser Spannung Ausdruck verleihen.29 Lampenfieber muss nicht – so sollte der historische Abriss plausibilisieren – psychologisch als Niederschlag einer grundlegenden Existenzangst30 verstanden werden; vielmehr deutet die historische Koinzidenz zwischen den ersten Beschreibungen und Benennungen des Phänomens und der Entstehung einer hochparadoxen Bühnenform darauf hin, dass Lampenfieber ein an das bürgerliche Theater gebundenes Phänomen ist, das zusammen mit diesem entstanden ist und zusammen mit diesem vergehen wird. Entsprechende Entwürfe, die sich kritisch am bürgerlichen Bühnenentwurf abarbeiten, existieren spätestens seit dem 20. Jahrhun-

selbst) entwirft das Modell der Einfühlung, des Eins-Werdens mit der Rolle; Goethe dagegen begreift die Qualität der völkischen Bühne im Eins-Werden mit dem Publikum. Aber auch der flapsige Tipp gegen Lampenfieber, sich die Zuschauer nackt vorzustellen, ist vergleichbar modelliert: Er fordert die Umkehrung der Beobachtungsrichtung, so dass nun der Beobachtete selbst Beobachter wird, die Zuschauer aber Darsteller. Welche Aufladung an Paradoxie auch immer gelingt, sie immunisiert gegen Lampenfieber. Problematisch an diesen „Heilmitteln“ ist lediglich, dass sie gleichermaßen unverfügbar wie Lampenfieber sind: Der Aufforderung „werde paradox!“ ist nicht rein willkürlich Folge zu leisten. 29 Auch die – im Grundverständnis gänzlich anders ausgerichtete – psychologische Literatur misst dem Aspekt der Grenzkreuzung eine zentrale Bedeutung bei und macht die Erscheinungen des Lampenfiebers am Kreuzen der Grenze zum Bühnenauftritt fest (vgl. etwa Nagel 1993, S. 494). 30 Gegen z.B. Tarr 1993, S. 15: „Lampenfieber ist im Kern Angst vor dem Leben“. Eine fachwissenschaftliche Studie, die zu einem ähnlichen Ergebnis wie Tarr kommt, liegt bei Nagel 1993 vor.

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dert.31 Von einem umfassenden Paradigmenwechsel kann freilich in der Praxis noch lange nicht gesprochen werden, da zum einen ein Abarbeiten am Paradigma dieses in der Haltung des Protestes zunächst bestätigt und bestärkt und zum anderen gerade die Paradoxie der bürgerlichen Bühne zwischen Künstlichkeit und Natürlichkeit nach wie vor einen enormen ästhetischen Reiz ausüben kann. Damit wäre es sowohl künstlerisch unbefriedigend als auch pragmatisch fragwürdig, zur Bewältigung des Lampenfiebers auf neue, kommende Bühnenformen zu verweisen; ein etwaiges Leiden an Lampenfieber verdient akute Behandlung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass gerade im Bereich der Symptombehandlung eine breite Palette an Handlungsempfehlungen vorliegt; sie sollen hier nicht wiederholt und schon gar nicht bewertet werden, da die Qualität eines Heilmittels sich aus seiner Wirksamkeit im Einzelfall ergibt. Stattdessen soll im Folgenden Lampenfieber als hermeneutisches Phänomen, als Phänomen der Selbstinterpretation des Darstellers, untersucht werden – denn die grundsätzliche Paradoxie der bürgerlichen Bühne legt auch die Selbstbeobachtung des Beobachteten nahe, die die konkreten Erscheinungsformen des Lampenfiebers auf hermeneutischem Wege erzeugt. Diese Erscheinungsformen sind von einer merkwürdigen Gezieltheit gekennzeichnet, wie Tarr in Bezug auf den musikalischen Bereich ausführt: „Vor allem bei Musikern ist es auffallend, daß sich ihr Lampenfieber als Hemmung meist auf die spezielle Spieltätigkeit auswirkt. So erleben Bläser Trockenheit im Mund, wodurch der Ansatz und die Blastechnik beeinträchtigt sind. Pianisten klagen über feuchte, kalte Hände und haben Angst, von den Tasten abzurutschen, Organisten befürchten weiche Knie, die die Treffsicherheit des Pedalspiels behindern, und Streicher fürchten ein Zittern des bogenführenden Armes. Oder denken wir an das Sprechen in der Öffentlichkeit [...]. Wie kommt es, daß wir ausgerechnet eine zittrige Stimme bekommen oder

31 An dieser Stelle sei nur exemplarisch auf die Theaterentwürfe Bertold Brechts und Christoph Schlingensiefs verwiesen, die beide (mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen) die bürgerliche Theaterbühne grundlegend überformt haben.

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einen Kloß im Hals, also gerade das, was wir am wenigsten gebrauchen können?“32

Tarr beantwortet ihre Frage mit dem Hinweis auf die Hochspezialisierung körperlicher Handlung in künstlerischen Berufen, „die weit über das hinausgeht, was für das tägliche Überleben notwendig wäre“33, so dass im Punkt dieser Hochspezialisierung eine Angriffsfläche für Verletzlichkeit entstehe. Tarr schließt entsprechend mit einer direkten Abhängigkeit von Spezialisierungsgrad der Bewegungsmuster einer Tätigkeit und ihrer Anfälligkeit für Lampenfieber: „Je enger solche Muster, über die wir uns definieren, desto verletzbarer werden wir, und umgekehrt: je weiter sie ausfallen, z.B. Chormitglied, Hausfrau, Kind, Single, desto weniger Angriffsfläche bieten wir für Lampenfieber.“34

Wendet man diese Logik auf den Theaterbereich an, so dürfte hier überhaupt keine Angriffsfläche für Lampenfieber geboten werden, da die Anforderungen an den Bewegungsapparat hier umfassend-allgemein und keineswegs hochspezialisiert sind; vor allem im Laientheaterbereich ist von einer Spezialisierung von Bewegungsmustern in keiner Weise auszugehen; dennoch gibt es Lampenfieber auch hier, und auch hier schlägt sich die merkwürdige Gezieltheit des Phänomens negativ nieder: Lampenfieber kann auf der Bühne etwa zu Ablenkung, Verkrampfung, Vergessen und – umfassender – zu Versagen führen. All diese Erscheinungsformen setzen aber – vergleichbar mit der Mundtrockenheit der Bläser oder den zitternden Armen der Streicher – an grundsätzlich notwendigen Fertigkeiten für das Bühnenspiel an: Ablenkung an Konzentration, Verkrampfung an körperlicher Flexibilität, Vergessen und Versagen an Text- und Handlungskompetenz.

32 Tarr 1993, S. 47. 33 Tarr 1993, S. 48. Hier bricht offensichtlich eine Spannung in der biologistischen Argumentation auf: Tarr sieht gerade im beruflichen Bereich des „Nicht-Lebensnotwendigen“ (Tarr 1993, S. 48) Ansatz für Lampenfieber, das ihrem Ansatz nach jedoch gerade zum grundsätzlichen biologischen Überlebensprogramm zählt. 34 Tarr 1993, S. 48.

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Meines Erachtens erklärt sich diese Gezieltheit des Phänomens, wenn man es als außergewöhnlich dynamischen hermeneutischen Akt der Selbstinterpretation des Darstellers begreift: Im Akt des Darstellens interpretiert der Darsteller seine eigene Darstellung, eine Interpretation, die umso intensiver geschieht, je mehr Gewicht der Darsteller der Aufführung beimisst; hermeneutisch ist diese Interpretation insofern, dass sie sich auf zwei grundsätzlich zu unterscheidende Größen bezieht: dem zu interpretierenden Gegenstand selbst (die Darstellung) und dem Vorwissen über diesen Gegenstand (das Vorwissen über das Spiel); außergewöhnlich dynamisch ist dieser Akt der hermeneutischen Interpretation deshalb, weil der eigentliche Gegenstand der Interpretation – das Darstellen – parallel zu seiner Interpretation erst entsteht: Der Darsteller spielt, während er sein Spiel interpretiert; schon deshalb gewinnt das hermeneutische Vorwissen über das Spiel ein systematisches Übergewicht. Dieses Vorwissen nun ist sowohl von eigenen Ansichten des Darstellers als auch von Ansichten Anderer bestimmt: Das Vorwissen speist sich aus der gesamten positiven wie negativen Erfahrung des Darstellers mit Spiel, Auftritt und der spezifischen Rolle, seiner Ansicht über seine Tagesform, aber auch aus Zuweisungen von Anderen auf Spiel, Auftritt, Rolle und seine Person; zurückliegende Lobe und Kritiken, Gemeinplätze über Rollen („der Faust steht und fällt mit der Besetzung des Mephisto“), Auftritt („ein bisschen Lampenfieber gehört dazu“), Spiel („wie kannst du dir nur so viel Text merken?“) bestimmen dieses Vorwissen grundsätzlich ebenso stark wie die eigenen – oft differenten – Erfahrungen.35 Es ist erstaunlich, wie gerade im Laienbereich Freunde und Verwandte auf diesem Wege Lampenfieber regelrecht herbeireden, um anschließend Verständnis zu beteuern und allerhand Heilmittel parat haben.36

35 Hier liegt meines Erachtens die Ursache dafür, dass mehr Üben nicht automatisch zu einer Verminderung des Lampenfiebers führt, vgl. Mornell 2002, S. 25f. Nicht die Quantität des Übens kann sich positiv auf Lampenfieber auswirken, sondern dessen Qualität, wen bereits das Üben die Umstände des Auftritts mit einbezieht, s.u. 36 Es scheint weitaus vielversprechender zu sein, die Besetzung bestimmter Diskurse mit Lampenfieber über die traditionellen Arten ihrer (historisch

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Der Hauptunterschied zwischen der Selbstinterpretation des Darstellers bei Probe und Aufführung liegt nun darin, dass der Darsteller bei der Aufführung mit bislang unverfügbarem Vorwissen konfrontiert wird, das es spontan zu verarbeiten gilt; dazu gehören auch erfolgende oder unterbleibende Publikumsreaktionen während des Spiels. Wenn nun dieses modifizierte Vorwissen für die Selbstinterpretation des Darstellers beim Auftritt kaum ins Gewicht fällt, so kann die Aufführung wie die Probe erfolgen, der Darsteller liefert eine erarbeitete Fassung ab; wenn das modifizierte Vorwissen einen hohen Stellenwert einnimmt, so ist die Selbstwahrnehmung des Darstellers eine grundsätzlich andere als bei der Probe; da der Darsteller im Akt des Spielens das entstehende Spiel zugleich mit diesem Vorwissen interpretiert, kommt es zu einer Veränderung des Gegenstandes selbst, das Spiel wird als völlig different zur Probe erlebt und auch tatsächlich ausgeführt. Dieses Erleben kann sowohl positiv als auch negativ ausfallen: Verstärkt der Darsteller mit dem modifizierten Vorwissen die positiv besetzten Aspekte der Aufführung, so kann es zu einem euphorischen Erleben der Aufführung kommen – der Darsteller „verschmilzt“ mit Rolle oder Publikum und nimmt die Paradoxie der bürgerlichen Bühne in sich auf; verstärkt der Darsteller dagegen mit dem modifizierten Vorwissen die negativen Aspekte der Aufführung, so kommt es zu Lampenfieber. Die Hermeneutik der Aufführung besitzt darin ihre Perfidie, dass das modifizierte Vorwissen bereits lange vor der Aufführung selbst zu arbeiten beginnt: Die Interpretation der eigenen Darstellung erfolgt bereits vor ihrer Ausführung, so dass das Vorwissen in dieser Phase die gesamte Interpretation bestimmen kann, ohne dass der eigentlich zu interpretierende Gegenstand überhaupt mit einbezogen werden könnte. Hier kann Vorfreude entstehen, die zu einem euphorischen Selbstempfinden führen kann, oder aber Angst vor der Aufführung,

wandelbaren) gesellschaftlichen Verhandlung zu erklären als über ihre natürliche Affinität zu Angst. Auch die Beobachtung, dass „Kinder [...] im allgemeinen kein Lampenfieber [kennen] – wenn sie nicht schon durch Eltern oder Lehrer ‚kritikgeschädigt’ sind“ (Mantel 2003, S. 35) verweist darauf, dass es sich nicht um einen natürlichen Überlebensmechanismus handelt, sondern um ein kulturelles Phänomen, das gelernt werden muss.

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die wiederum das akute Aufbrechen von Lampenfieber begünstigt.37 Aufführungsangst ist in diesem hermeneutischen Verständnis ein Selbstinterpretationsmechanismus, der seinen hermeneutischen Zirkel absolut setzen kann, indem er auf eine Einbeziehung des eigentlich zu interpretierenden Gegenstandes (Darstellung) vollständig verzichtet und sich gänzlich auf eine Auswertung des Vorwissens beschränkt; Lampenfieber dagegen ist ein Selbstinterpretationsmechanismus, dessen Hermeneutik zwar auch primär vom Vorwissen bestimmt wird, aber parallel dazu vom eigentlichen Gegenstand zumindest irritiert werden kann: Wenn das Lampenfieber die Erwartungshaltung eines vollständigen Versagens schafft, die tatsächliche Darstellung aber weit hinter den Horrorfantasien zurück bleibt und im Großen und Ganzen passabel ist, so wird im hermeneutischen Akt der Selbstinterpretation das negative Vorwissen relativiert, eine nichtbiologische Erklärung für die im Regelfall relativ kurze Lebensdauer des intensiven Gefühls Lampenfieber.38 Freilich sorgt Lampenfieber auch dafür, dass die Selbstinterpretation des Darstellers selbst bei ausbleibender Katastrophe zu einem negativen Fazit kommt: Das eigene Spiel wird als defizitär wahrgenommen, als schlechter als gewöhnlich (und durch die Unmittelbarkeit von Interpretation und Gegenstand, von Selbstsicht und Darstellung, kann eine entsprechende Verschlechterung auch de facto erfolgen). Hier kann eine hermeneutische Betrachtung des Phänomens Lampenfieber weiterhelfen: Ist man sich bewusst, dass das dominant gesetzte Vorwissen im hermeneutischen Akt des Lampenfiebers ein

37 Ich begreife damit gegen ein psychologisches Verständnis nicht Lampenfieber als Angst, sondern verstehe beide Aspekte als durchaus miteinander verbunden, jedoch in ihrer Zeitlichkeit voneinander geschieden: Aufführungsangst betrifft eine beliebige Zeitspanne vor der Aufführung, Lampenfieber ist eng an die Aufführungszeit selbst gekoppelt und trägt den paradoxalen Anforderungen der bürgerlichen Bühne Rechnung. 38 Die biologische Erklärung verweist auf die Kurzlebigkeit der vom vegetativen Nervensystem bei der Bedrohungssituation „Auftritt“ ausgeschütteten Hormone (vgl. Mornell 2002, S. 34-38). Lampenfieber kann jedoch über die gesamte Aufführung verteilt auftreten, vgl. Mantel 2003, S. 36-39.

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negatives (Vor-)Urteil über die eigene Darstellung begünstigt, so ist die eigene darstellerische Leistung logisch notwendigerweise besser, als dies in der akuten Selbstsicht erscheint. Dies verändert vielleicht noch nicht das spontane Gefühl Lampenfieber, aber dieser logisch zwingende Sachverhalt kann dem Augenschein entgegen gehalten werden und für eine Neufüllung des hermeneutischen Vorwissens und in Folge für eine veränderte Selbstsicht sorgen.39 Über diese akute Behandlungsmöglichkeit hinaus können an einem hermeneutischen Verständnis von Lampenfieber weitere Umgangsweisen festgemacht werden, die einer störenden Eigendynamik des Phänomens entgegenwirken: Hermeneutische Grundlage des Lampenfiebers ist – wie bereits ausgeführt – ein im Vergleich zur Probe verändertes, modifiziertes Vorwissen über die eigene Darstellung, die die Selbstsicht des Darstellers verändert. Während die Modifikation des Vorwissens im Bereich der Aufführung weitgehend unverfügbar bleibt (und damit auch Lampenfieber ein nicht willkürlich verfügbares Phänomen wird), kann im Bereich der Probe das Vorwissen über die eigene Darstellung durchaus gezielt verändert werden; dies gilt umso mehr im Bereich des Laientheaters, in dem Probenablauf und –inhalte nicht wie im professionellen Theater weitestgehend institutionalisiert sind.40 Hier erscheinen vor allem drei (miteinander verknüpfte) Möglichkeiten vielversprechend:

39 Es ist eine Binsenweisheit, dass man sich angesichts des Lampenfiebers kleine Fehler bei der Aufführung verzeihen sollte (vgl. etwa Mantel 2003, S. 194). Der Akt des Verzeihens bedarf jedoch einer Grundlage, um ausgeführt werden zu können, und wenn andere Grundlagen (religiöse, philosophische, biologische etc.) nicht zur Verfügung stehen, so bietet eine hermeneutische Sichtweise auf das Lampenfieber hier eine logische Grundlage, die ein Verzeihen eigener Fehler begünstigt. 40 Vgl. dazu den Beitrag Die Struktur des semiprofessionellen Theaterbereichs in diesem Buch.

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Thematisierung und Diskussion des hermeneutischen Vorwissens über die Aufführung Eine Diskussion des Selbstverständnisses einer Theatergruppe ist notwendiger Bestandteil einer Gemeinschaftsbildung; in diesem Zuge können auch Theaterentwürfe entstehen, die Lampenfieber tendenziell obsolet werden lassen (vgl. die obigen Ausführungen zum Zusammenhang zwischen Lampenfieber und der bürgerlichen Bühne). Doch auch jenseits dieser grundsätzlichen Möglichkeit (die sicherlich andere Interessen bedienen würde als die Bekämpfung des Lampenfiebers) bietet die Probe die Möglichkeit, ggf. selbstverständliches Vorwissen über die Aufführung zum Thema zu machen und kritisch zu hinterfragen. Dazu gehören, wie bereits angesprochen, alle Klischees zu Rollen, Auftritt und Spiel aus dem Kreis der Darstellenden, derer Angehörigen und Freunde und des zu erwartenden Publikums, also eine Gemengelage an Meinungen, die aufgrund ihrer Subjektivität hier nicht erschöpfend behandelt werden können; ich möchte lediglich ein gerade im Laienbereich weitverbreitetes Vorurteil aufgreifen: die angebliche Notwendigkeit, in der Aufführung mit besonderer Intensität zu spielen. Dieses Vorurteil kleidet sich beispielsweise in „motivierende“ Ansprachen von Spielleitern kurz vor dem Auftritt, jetzt „200 Prozent zu geben“, „die Leute von den Stühlen zu reißen“ oder „Feuer zu geben“. Die Forderung einer besonders guten Leistung in der Aufführung verändert aber das Vorwissen über die eigene Darstellung im Vergleich zur Probe fundamental – und in Bezug auf Lampenfieber verheerend: Leistung wird plötzlich der zentrale Bewertungsmaßstab, gekoppelt noch mit dem Anspruch, diese Leistung spontan (in welcher Hinsicht und wie auch immer) zu verbessern. Neben diesen problematischen Implikationen ist dieses Vorwissen auch inhaltlich höchst fragwürdig: Der Rahmen für Verbesserungen ist die Probe, nicht aber die Aufführung; wenn die Inszenierung noch am Ende der Probenarbeit Defizite aufweist, so kann die Aufarbeitung dieser nicht sinnvollerweise der Verantwortung der einzelnen Darsteller anheimgestellt werden; wenn die Probenarbeit aber zu künstlerisch wertvollen Ergebnissen geführt hat, wieso sollte sich die Aufführung davon unterscheiden? Ein eher serielles Verständnis von Probe und Aufführung schafft den unsinnigen Überbelastungen der Darsteller bei der Auffüh-

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rung Abhilfe: Was in der Probe erarbeitet wurde, soll in der Aufführung schlicht reproduziert werden, ein Aufführungsverständnis, das im professionellen Bereich schon aufgrund der potenzierten Aufführungshäufigkeit eher die Regel ist als im Laienbereich, wo die in der Regel wenigen Aufführungen einer Produktion schon aufgrund ihrer Seltenheit einen Ausnahmestatus nahe legen, dem es entgegenzuwirken gilt. Einüben von Vertrauen Gemeinsame Grundlage sowohl für längerfristige Aufführungsangst als auch für kurzfristiges Lampenfieber ist eine negative Erwartungshaltung; ihr kann eine positive Erwartungshaltung in Form von Vertrauen entgegengehalten werden. Eine solche kommt jedoch nicht von Ungefähr, sondern muss in der Probe gezielt eingeübt werden41, um auch in der Belastungssituation Lampenfieber aktualisiert werden zu können. Vertrauen einüben funktioniert grundsätzlich auf zwei Ebenen: Zum einen gilt es, Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten einzuüben. Hier gilt es in der Probe den Fokus nicht nur auf die noch verbesserungswürdigen Fähigkeiten der Darsteller zu legen, sondern gerade auch als selbstverständlich empfundene positive Fähigkeiten und Eigenschaften der Darsteller zu betonen: Ein bloßes Stehen, eine sprachliche Eigenheit, mimische und gestische Besonderheiten, aber auch Aussehen können entscheidende Bedeutung für eine überzeugende Darstellung haben, und vieles hiervon ist so selbstverständlich, dass es nicht in die Selbstinterpretation des Darstellers mit einbezogen wird. Gerade aber im Selbstverständlichen, im nicht willkürlich oder unwillkürlich Veränderbaren liegt ein großes Potenzial für ein positives Vorwissen über die Aufführung: Wird die Wichtigkeit etwa einer physiognomischen Besonderheit des Darstellers für die Qualität der Darstellung in der Probe unterstrichen (z.B. ein besonders breites Lächeln, das der Figur der Lady Macbeth eine Aura des Wahnsinns verleihen kann), so kann der Darsteller auch im Zustand höchsten Lampenfiebers auf das Selbstverständliche vertrauen.

41 Vgl. hierzu auch den Artikel Regie im Laientheater in diesem Buch.

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Zum anderen ist es notwendig, die autistische Tendenz des Lampenfiebers aufzubrechen: Die Hermeneutik des Lampenfiebers fokussiert sich in der Regel auf die eigene Darstellung, und dies ausschließlich; gerade im Theater ist aber die künstlerische Qualität einer Darstellung in den meisten Fällen kein Ergebnis, das von der Aktion eines einzigen abhängig wäre: Theater ist ein Gruppenphänomen, und die Qualität einer Szene ergibt sich aus dem Zusammenspiel aller Beteiligten. Wenn nun für den Einzelnen ein Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten schwer zu gewinnen ist, so fällt es vielleicht umso leichter, Vertrauen zu den Mitspielern zu gewinnen. Begreift man Darstellung konsequent als Interaktionsprozess, so fallen etwaige Fehler Einzelner weitaus weniger ins Gewicht – und genau dieser Zusammenhang kann in der Probe vorweggeholt und einstudiert werden: Viele Kleinigkeiten wie Texthänger, Textsprünge, Choreographiefehler oder unsauber ausgeführte Gesten können von den Spielpartnern völlig problemlos und unauffällig kaschiert werden, so dass sich eine leicht veränderte, aber deswegen nicht notwendigerweise schlechtere Fassung ergibt. Auf der anderen Seite ergibt sich die Intensität z.B. einer Dialogszene erst aus dem Zusammenwirken beider Darsteller, relativ unabhängig von der Qualität der jeweils einzelnen Aktion. Eine Probenarbeit, die auch auf eine Verminderung des Lampenfiebers ausgerichtet ist, muss diese interpersonellen Effekte zulassen, deutlich vor Augen führen und ggf. vor der Aufführung ins Gedächtnis rufen. Training der Aufführungssituation im Rahmen einer fiktionalen Wirklichkeit Für eine gezielte Verarbeitung von Lampenfieber bereits in der Probe kann schließlich auch eine gerade dem Theater eigene Möglichkeit helfen, die paradoxerweise zugleich die historische Grundlage des Lampenfiebers darstellt: Die Erzeugung einer fiktionalen Wirklichkeit durch ein Handeln Als-Ob. Wenn die Differenz zwischen Probe und Aufführung Grundlage für ein modifiziertes Vorwissen über die eigene Darstellung ist, so kann gerade die Möglichkeit, im Spiel Wirklichkeit zu erzeugen, dabei helfen, zwischenzeitig den Unterschied zwischen Probe und Aufführung einzuebnen und im konsequenzver-

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minderten Raum des Handelns Als-Ob42 den Umgang mit Lampenfieber einzuüben. Gelingt die Probe, ist dies gewöhnlicherweise (und vor allem gegen Ende der Probenphase) unproblematisch: Es ist durchaus üblich, dass auch im Rahmen der Probe gut funktionierende Szenen in Spielfluss kommen und die Darstellung zwischenzeitig mit spannungsgeladener Intensität sowohl produziert als auch rezipiert wird – sprich: die Aufführung der Darstellung im Rahmen der Probe vorweggeholt werden kann. Problematisch dagegen ist der Umgang mit Fehlern bei der Probe: Darsteller brechen bei Fehlern regelmäßig selbst das Spiel ab, setzen verbessernd erneut an, entschuldigen sich und erklären den Fehler oder markieren ihn doch zumindest mit einer Geste (wie etwa ärgerliches Kopfschütteln); orientiert an den outtakes im Film-Abspann sind Fehler auch oftmals Anlass zur Heiterkeit. All diese Reaktionsformen auf Fehler sind verständlich und erfüllen gerade zu Beginn der Probenarbeit durchaus wichtige Funktionen; ihnen gemeinsam ist jedoch, dass sie Fehler in der Probe nicht als Fehler zulassen, sondern verändern und diese Akte der Veränderung einüben. Im Extremfall sind die Darsteller in der Aufführung dann zum ersten Mal mit Fehlern konfrontiert, die jetzt eben nicht im Nachhinein verändert (erklärt, verbessert, verlacht) werden können, da damit ein Rollenbruch (und damit der größte Fehler zumindest einer klassischen Theaterinszenierung) verbunden wäre. Wenn in der Probe keine aufführungsadäquaten Umgangsmöglichkeiten mit Fehlern eingeübt worden sind, gewinnen tatsächliche Fehler in der Aufführung ein übergroßes Gewicht bzw. stehen dem Spiel tatsächlich als schwere Störungen im Wege, was wiederum das Lampenfieber bestätigt und verstärkt. Deshalb ist es notwendig, im Als-Ob der Probe bereits ab und an (und forciert gegen Ende der Probenphase) Aufführungsbedingungen zu erzeugen und ein Verändern von Fehlern nicht zuzulassen;

42 Andreas Kotte sieht im Als-Ob und im konsequenzverminderten Handeln theatraler Aktion einen Grundzug des klassischen Theaters, das freilich im Zuge der Theaterreformen im 20. Jahrhundert teilweise aufgebrochen wurde (vgl. Kotte 2005, S. 186-189). Das Handeln Als-Ob wäre damit vornehmlich ein Grundzug des hier als bürgerliches Theater bezeichneten Phänomens, das selbst das Schauspieler-Paradoxon hervorbringt, das die historische Grundlage des Lampenfiebers ist.

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stattdessen kann in der Probe Scheitern regelrecht eingeübt werden, also zunächst ein Zulassen von Fehlern als Fehler ohne sie im Nachhinein zu verändern und in Folge Modelle des sinnvollen, bühnenadäquaten Umgangs mit ihnen. Hieraus können die Darsteller zweierlei Erfahrungen machen, die gleichermaßen als akute Mittel gegen Lampenfieber dienen: Erstens fallen Fehler (etwa kleine Versprecher) in den meisten Fällen für die Qualität der Darstellung kaum ins Gewicht, wenn sie nur als solche akzeptiert und belassen werden und sich nicht auf das Spiel im Folgenden auswirken. Zweitens gibt es eine Vielzahl an Möglichkeiten, Fehler sinnvoll in das Spiel mit einzubauen und sie dadurch zu verändern43 – es gilt also, bereits in der Probe Modelle zu erlernen, um mit eigenen Fehlern konsequent in der Rolle zu verfahren, anstatt sie als Anlass zu nehmen aus der Rolle zu fallen: Im AlsOb einer Aufführungssituation im Rahmen der Probe kann – mit aller Konsequentverminderung – Scheitern dahingehend geübt werden, dass es für den außenstehenden Betrachter nicht als Scheitern erkennbar ist, also dass Fehler Teil des Handelns der Rolle werden und nicht Handeln des Darstellers bleiben. Um in der Probe Aufführung zu inszenieren ist es darüber hinaus vor allem in einer fortgeschrittenen Probenphase sinnvoll, möglichst alle Parameter einer Aufführungssituation identisch zu produzieren, also Kostüm, Bühnenbild, Maske aber auch etwa Uhrzeit, Wartezeiten, Warteorte, Konzentrationsphase vor Beginn etc.44 Denn Lampen-

43 Vgl. zu diesem Vorgehen auch im Bereich der Maske den Aufsatz Schminken als Vollendung des ‚natürlichen Gesichtsgemäldes‘ in diesem Buch. 44 Einer der wichtigsten Punkte hierbei ist sicherlich das Publikum, also der externe Beobachter, der nicht wie etwa die Regie Teil der üblichen Probe ist. Falls hierfür keine geeigneten Personen gefunden werden können, die bereits in der Probe Publikum spielen können (und um ein Spiel handelt es sich auch auf dieser Seite, da im Als-Ob einer Aufführungssituation auch die Zuschauer ihre Rolle nicht brechen dürfen, etwa indem sie zwischenzeitig hinter die Bühne kommen), dann bietet sich auch an, die Rolle des externen Beobachters gänzlich auf Technik auszulagern: Schon das Aufstellen einer Videokamera kann einer Probe Aufführungscharakter verleihen und Lampenfieber aufkommen lassen – dessen Bewältigung dann im

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fieber speist sich nicht nur als tatsächlichen Fehlern und einem ggf. ungeprobten Umgang mit ihnen, sondern aus der gesamten Gemengelage eines bei der Aufführung modifizierten Vorwissens. Wenn aber bereits die Probe stellenweise eine Aufführung umfassend inszeniert (und hierbei liegt der Schwerpunkt eben nicht auf der Spielqualität der Darstellung, sondern auf dem scheinbar nebensächlichen Umfeld der Darstellung), so wird dem Lampenfieber tendenziell die Grundlage entzogen: Wenn nicht nur das Stück selbst, sondern auch die Aufführung des Stückes in der Probe geübt wird, hat die Hermeneutik des Lampenfiebers in der Aufführung kaum die Grundlage, um zu einer gänzlich anderen Selbstinterpretation des Darstellers zu gelangen. Die Paradoxie der bürgerlichen Bühne findet in der Möglichkeit einer Bekämpfung des Lampenfiebers durch das Als-Ob einer Aufführungssituation ihre ironische Vollendung: Ebenso wie eine bestimmte Theaterform Lampenfieber als Kulturkrankheit anerzogen hat, kann eben dieselbe Theaterform die praktische Möglichkeit darstellen, Lampenfieber gezielt wieder zu verlernen. Notwendig hierfür ist lediglich, dass Lampenfieber nicht als persönliches, psychologisches Problem des Einzelnen, sondern als Ausdruck einer grundsätzlichen und systematischen Spannung des Theaters selbst verstanden wird, die damit auch nicht vom Einzelnen, sondern nur vom gesamten Theater aufgelöst werden kann.

konsequenzverminderten Rahmen der Probe ausprobiert und eingeübt werden kann.

Vom Nutzen des narrativen Reality-TVs E VA W AGNER

In narrativen Reality-TV-Formaten1 des Privatfernsehens kann man alltäglich Laiendarsteller agieren sehen, etwa in Zwei bei Kallwass, in den Gerichtshows, in Verdachtsfälle, Entscheidung am Nachmittag etc. Das Zuschauen ist weniger ein Genuss, denn die Laiendarsteller agieren ungeschickt, ihr Spiel wirkt oft lächerlich und kann den Fernsehzuschauer nicht überzeugen. Es scheint zunächst, als könne ein Laientheaterspieler aus der Rezeption derartiger Formate nichts für sein eigenes Spiel lernen. Durch Umwege ist aber gerade das mängelbehaftete Laienspiel in den narrativen Reality-TV-Formaten ein nützlicher Lehrer und eine Chance für die Verbesserung des eigenen Spiels von Laiendarstellern, die nicht von den Möglichkeiten einer professionellen Ausbildung profitieren können. Notwendig ist dafür ein Analysewerkzeug, mit dem die intuitiv gespürten Mängel des Laienspiels konkret benannt werden können. Die Anwendung der sprachphilosophischen Sprechakttheorie auf die Bühnensituation

1

Klaus / Lücke bestimmen die Genrefamilie Reality-TV folgendermaßen: „Narratives Reality TV umfasst jene Sendungen, die ihre ZuschauerInnen mit der authentischen oder nachgestellten Wiedergabe realer oder realitätsnaher außergewöhnlicher Ereignisse nicht-prominenter Darsteller unterhalten. Performatives Reality TV umfasst jene Sendungen, die eine Bühne für nicht-alltägliche Inszenierungen sind, jedoch zugleich direkt in die Alltagswirklichkeit nicht-prominenter Menschen eingreifen“ (Klaus / Lücke 2003, Reality TV, S. 199, Hervorhebungen durch Klaus / Lücke).

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scheint mir solch ein Werkzeug zu liefern. Ergänzend zu der Möglichkeit, das TV-Laienspiel einer gewinnbringenden Kritik zu unterziehen, braucht es für den fortbildungswilligen Laiendarsteller auch ein positives Beispiel von Laiendarstellung. Dieses findet man nach einem soziologischen Beschreibungsmodell sozialer Interaktion in Menschen, die ganz alltäglich in ihren Berufen und anderen Konstellationen handeln.

D IE S PRECHAKTTHEORIE

VON

J OHN L. AUSTIN

Bevor die besondere Situation des Sprechens auf einer Theaterbühne2 beschrieben werden kann, soll erst das Sprechen ohne fiktive Brechung in den Blick genommen werden. In der Sprachphilosophie ist man unter anderem darum bemüht zu klären, was Sprache überhaupt leistet bzw. leisten soll. 1972 wurde in Deutschland John Langshow Austins Vorlesungsschrift How to do things with words veröffentlicht – mit dem deutschen Titel: Zur Theorie der Sprechakte. Austins Bemühungen gelten dem Ziel, eine Leistung von sprachlichen Äußerungen aufzuzeigen, die in der vorangegangenen Sprachtheorien wohl gesehen, aber nicht systematisch erfasst wurde. Austin entwickelt seine Idee an der bis dahin vorherrschenden Theorie von Sprache: Sprachliche Äußerungen haben – so die geltende Ansicht – in der Hauptsache die Aufgabe, Behauptungen / Aussagen über die Welt anzustellen, etwa: „Die Sonne scheint.“ Diese so genannten konstativen (feststellenden) Äußerungen unterliegen dem Kriterium der Wahrheit.3 Wenn jemand sagt: „Die Sonne scheint“, dann kann diese Äußerung wahr oder falsch sein, je nachdem, ob die Sonne scheint oder nicht. Austin zeigt nun, dass es sprachliche Äußerungen gibt, die nicht dem Wahrheitskriterium unterstehen. „Ich taufe dich auf den Namen

2

Mit dem Begriff (Theater–)Bühne ist hier mehr als eine Erhebung im Theaterhaus gemeint, auf der gut sichtbar Schauspieler handeln. Zur Bühne kann jeder Platz werden, auf der Menschen in einer Rolle für ein Publikum agieren. So ist auch das Filmset eine Bühne.

3

Vgl. Austin 1998, S. 25f.

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Titanic!“ Hier kann man schlecht fragen: Ist das eine wahre Aussage über die Welt? Mit solch einer Äußerung stellt man nichts fest, sondern man tut etwas mit ihr. Mit der Äußerung „Ich taufe dich auf den Namen Titanic“ wird eine Schiffstaufe vollzogen. Austin nennt derartige sprachlichen Äußerungen performative Äußerungen (oder Sprechakte). Sie zeichnen sich dadurch aus, dass man mit ihnen handelt, sodass es zu sagen bedeutet es zu tun.4 Man kann mit ihnen befehlen, versprechen, wetten, warnen, lieben, taufen, verheiraten, verurteilen, scheiden und so weiter. Die Handlungen, die durch solche Sprechakte vollzogen werden, sind genauso Wirklichkeit wie das Schlachten eines Tiers, das Einschenken von Kaffee, das Staubsaugen. So wie es bei konstativen Äußerungen das Kriterium der Wahrheit gibt, so unterliegen performative Äußerungen bestimmten Kriterien, die das Gelingen des Sprechaktes betreffen. Die Frage bei performativen Äußerungen lautet nicht: Ist die Äußerung wahr oder falsch?, sondern: Ist der Akt geglückt oder nicht? Damit ein Sprechakt glücken kann – also tatsächlich vollzogen wird – müssen außersprachliche Umstände erfüllt sein. Der Befehl „Schließ die Tür!“ erfordert zum Beispiel eine offene Tür – ansonsten passt die sprachliche Äußerung nicht zur Situation. Das Glücken des Sprechaktes „Ich taufe dich auf den Namen Titanic“ erfordert ein Schiff, einen befugten Sprecher, eine offizielle Zeremonie etc. – ansonsten handelt es sich um einen Probe zur Taufe oder um einen Betrug, falls der Sprecher nicht befugt ist zu taufen.5 Austin untersucht, ob auf sprachlicher Ebene gewisse Umstände gegeben sein müssen, damit Sprechakte gelingen können. So fragt er, ob es grammatikalische oder syntaktische Notwendigkeiten gibt, die eine performative Äußerung zum Gelingen enthalten müssen bzw. die zur Unterscheidung von performativen und konstativen Äußerungen nötig sind. Er fragt zum Beispiel: Muss die Äußerung grammatikalisch in der ersten Person Singular Indikativ Präsens Aktiv stehen („ich tue xy?“), da schließlich immer der Sprecher mit seiner Äußerung handelt? Beispiele, in dem das Verb in der zweiten Person Prä-

4 5

Vgl. Austin 1998, S. 29. Vgl. Austin 1998, S. 31 und die 2. Vorlesung, in der verschiedene Unglücksfälle von performativen Äußerungen kategorisiert werden.

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sens Indikativ Passiv steht, zeigen, dass das nicht der Fall ist: „Hiermit werden Sie angewiesen, Ihren Antrag auf Arbeitslosengeld bis zum 1.7. an Frau Maier weiterzuleiten.“ Unter geeigneten außersprachlichen Umständen wird mit diesem Satz eine Anweisung mit rechtlichen Konsequenzen gegeben. Wohl aber, meint Austin, müssen Sprechakte in die Form „Ich tue xy“ umgewandelt werden können. „Hiermit werden Sie angewiesen“ kann umgeformt werden in „Hiermit weise ich Sie an“. Grammatikalisch gibt es jedoch letztlich keine eindeutige Form, die performative Äußerungen kennzeichnen. Auf syntaktischer Eben verhält es sich entsprechend: Performative Äußerungen müssen beispielsweise kein Verb enthalten, um zu gelingen. Man kann auch einfach sagen: „Schuldig!“, um jemanden schuldig zu sprechen.6 Performative Äußerungen sind in ihrem Glücken also nicht von bestimmten grammatikalischen oder syntaktischen Formen abhängig. Auf sprachlicher Ebene bedeutsam und für das Glücken zuständig sind nach Austin im sprechsprachlichen Bereich aber Intonation und die sprechbegleitende Gestik und Mimik.7 Mit den Worten „Schließ die Tür!“ kann ein Befehl getätigt werden, eine Bitte, ein Wunsch – die Art, den Satz auszusprechen, kennzeichnet seine Rolle, die er spielt. Missglückt ein Sprechakt, erreicht der Sprecher wohl nicht das Ziel, das er erreichen wollte. Dennoch geschieht nicht einfach nichts mit einem missglückten Sprechakt. Irgendetwas hat der Sprecher mit seiner (missglückten) Äußerung getan. Was, das hängt von der Situation ab. Jemand kann beispielsweise ein unehrliches Versprechen abgeben; kommt diese Unehrlichkeit zu Tage, ist das Versprechen nicht nichtig, sondern unehrlich, zeigt betrügerische Absichten oder ähnliches.8 Sprechen auf der Bühne Bisherige Ausführungen galten sprachlichen Äußerungen in „normaler“ sozialer Interaktion. Sprechen auf der Bühne muss davon unter-

6

Vgl. Austin 1998, S. 74-87.

7

Vgl. Austin 1998, S. 94ff.

8

Vgl. Austin 1998, S. 33.

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schieden werden. Denn auf der Bühne handeln und sprechen keine Menschen, sondern Darsteller als Figuren; und dies tun sie nicht für sich, sondern für Zuschauer.9 Beim Sprechen auf der Bühne kann man zwei Ebenen der Kommunikation unterscheiden. Es kommunizieren zum einen Darsteller als Figuren auf der Bühne und erzeugen dabei eine Figurenwelt. Es kommuniziert zum anderen das Publikum mit dieser Figurenwelt. Dass auf der Bühne Figuren zum Zweck der Beobachtung miteinander agieren, hat 1.) grundlegende Konsequenzen für die Unterscheidung von konstativen und performativen Äußerungen und 2.) Konsequenzen für das Gelingen eines Sprechaktes. Zur Unterscheidung von konstativen und performativen Äußerungen Austin stellt fest, dass unter anderem die Intonation, Gestik und Mimik festlegen, ob eine Äußerung eine konstative oder eine performative Rolle spielt. Das ist auf der Bühne anders: Wenn man nur die Kommunikation zwischen den rezipierenden Zuschauern und den dargestellten Figuren betrachtet (und nicht die dargestellte Kommunikation zwischen den Figuren), dann gibt es ausschließlich performative Äußerungen und überhaupt keine konstativen auf einer Bühne. Das kommt daher, dass die Darsteller auf der Bühne Figuren für das Publikum spielen, die innerhalb eines abgeschlossenen Ganzen sprechen und handeln. So sind alle Äußerungen auf der Bühne Teile der Bühnenhandlung. Nachweisen lässt sich diese Behauptung mit dem Wahrheits- und Glückenstest: An die dargestellten Bühnenäußerungen lässt sich vom Publikum nicht sinnvoll die Frage stellen, ob sie war oder falsch sind. Denn die Bühnenäußerungen gehören nicht der Publikumswelt an, sondern der dargestellten Figurenwelt. Sehr wohl lässt sich aber fragen, ob die Figurenäußerung geglückt ist oder nicht. Dieses Glücken betrifft das Zustandekommen einer Interpretation des Dargestellten. Beim Interpretieren wird jede Bühnenäußerung als

9

Formelhaft kann das so ausgedrückt werden: A spielt (B), während C zusieht (Fischer-Lichte 2001, S. 276). Vgl. hierzu auch den Artikel Einleitung in diesem Buch.

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intentional wahrgenommen und in Zusammenhang mit allen anderen Bühnenäußerungen gebracht. In der dargestellten Welt der Figuren sind dagegen durchaus konstative von performativen Äußerungen im Sinne Austins zu unterscheiden. Für das Publikum ist aber eine dargestellte konstative Äußerung performativ, indem sie zum Glücken einer Interpretation beiträgt. Wichtig scheint noch zu erwähnen zu sein, dass die performative Rolle, die eine Äußerungen in der Figurenwelt spielt, nicht identisch sein muss mit der Rolle, die diese Äußerungen beim Publikum für deren Interpretationen einnimmt. Zum Gelingen von performativen Äußerungen auf der Bühne Damit ein Sprechakt außerhalb der Bühne glücken kann, müssen nach Austin sprachliche und außersprachliche Faktoren zusammenkommen. Die Intonation muss stimmen, der Sprecher muss gegebenenfalls befugt sein, der Sprechakt muss zur Situation passen etc. Eine Besonderheit von Bühnensprechakten ist, dass diese immer glücken: Konzentriert man sich nur auf die Kommunikation zwischen Publikum und Figurenwelt, wirken alle Bühnenäußerungen performativ und glücken dabei stets. Denn jede Äußerung wird irgendeine Rolle für die verschiedenen Zuschauerinterpretationen spielen; keine Äußerung wird bei einer Interpretation außer Acht gelassen werden (können). Insofern gelingen also alle Bühnensprechakte. Dabei ist es für das Glücken erst einmal nicht relevant, wie genau etwas gesagt wurde. Jedes Sprechen auf der Bühne ist von sich aus enorm gewichtig und enorm bedeutungsvoll. Freilich ist genau das Wie einer Äußerung entscheidend. Der Stimmeinsatz erschafft ganz unterschiedliche Bedeutungsnuancen, sodass sich aus den gleichen Worten unterschiedliche Sprechakte in der Welt der Figuren machen lassen. „Schließ die Tür!“ kann in der dargestellten Welt als Befehl geäußert werden, als Bedrohung, als erotische Einladung. Dabei tragen auch Mimik und Gestik zum Glücken eines Sprechaktes bei. Eine ernsthafte Bedrohung kann ggf. nicht von einem Lächeln begleitet sein oder in einer komplett entspannten Körperhaltung ausgesprochen werden. Auch für die Unterscheidung

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von konstativen und performativen Äußerungen in der Figurenwelt braucht es einen klaren Einsatz von Stimme und Körper, denn nach Austin wird nicht durch eindeutige grammatikalische, lexikalische oder syntaktische Kriterien unterschieden. Die Notwendigkeit, durch Stimme und Körper klar zu markieren, welche Rolle eine Äußerung innerhalb der Figurenwelt spielt, ergibt sich aus dem Umstand, dass alle Äußerungen vom Publikum zu einer Interpretation des Gesehen zusammengefügt werden. Der dritte Umstand einer erfolgreichen performativen Äußerung ist die Entsprechung von Worten und Situation. Diese Bedingung ist durch die Bühnensituation schon gegeben: Es ist davon auszugehen, dass Regie und Darsteller einen Dramentext sinnvoll auf die Bühne bringen und nicht ununterbrochen Wahnsinn produzieren. Konsequenzen für das Darstellen einer Bühnenfigur Eine wichtige Einsicht der Übertragung von Austins Sprechakttheorie auf die Bühnensituation lautete, dass alles Sprechen auf der Bühne für den Zuschauer performativ ist. Wenn alle Äußerungen per definitionem Handlungscharakter besitzen, dann muss der Darsteller grundsätzlich erst einmal nicht mehr machen als zu sprechen, um auf der Bühne etwas Wichtiges zu tun. Er muss nicht dabei handeln etwa in der Form von gehen, zeigen, stehen, drehen, umarmen, Fäuste ballen etc. Nach Austin entscheidet unter anderem die Art, etwas zu äußern, darüber, welche Rolle die Äußerung innerhalb der Figurenwelt spielt – und damit für die Interpretation des Gezeigten durch den Zuschauer. Um diese Rolle darzustellen, braucht es einen exakten Stimmeinsatz des Darstellers.10 Diesem geht voraus, dass der Darsteller (und die Regie) die Bühnenfigur und ihre Äußerungen in den verschiedenen Situationen auf irgendeine Art verstehen. Mimik und Gestik unterstützen und klären laut Austin die Rolle, die eine Äußerung innerhalb der Figurenwelt spielt. So muss also vor allem die Stimme das „Richtige“ tun – Mimik und Gestik haben eine dienende Funktion. Das letztgenannte Kriterium zum Glücken einer performativen Äußerung ist die Übereinstimmung von Situation und Äußerung. Hier

10 Vgl. dazu den Artikel Sprache als Musik in diesem Buch.

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scheint nun ein neuralgischer Aspekt vorzuliegen, denn eine solche Übereinstimmung kann im Bühnengeschehen in vielfältiger Weise gebrochen werden: Sprechakte von Figuren können von ihren Kommunikationspartnern missverstanden werden, situativ unpassend sein (ganze Komödien bauen darauf auf) oder schlicht ignoriert werden und verpuffen. Diese Arten in Bezug auf die Kommunikation innerhalb der Figurenwelt missglückter Sprechakte sind künstlerisch wertvoll und können einen großen Reiz der Inszenierung ausmachen. Problematisch wird es, wenn in der Kommunikation zwischen Dargestelltem und Publikum ein Sprechakt misslingt, da er der gezeigten Situation unangemessen ist, ohne dass dies Teil der intendierten Inszenierung ist. Dieses Problem ist nun regelmäßig in narrativen Reality-TV-Formaten zu diagnostizieren, wie nun beispielhaft ausgeführt werden soll. Beispielhafte Analyse eines Szenenausschnitts Zweck der Ausführungen zur Sprechakttheorie ist, dass sie eine differenzierte Erklärungsmöglichkeit dafür liefern, warum das Laienspiel im Privatfernsehen von schlechter Qualität ist. Dazu werden die genannten Konsequenzen für das Darstellen einer Figur in Beziehung gesetzt zur Darstellungsart in Reality-Formaten des Privatfernsehens. Als Beispiel dient hierzu ein knapper Szenenausschnitt aus Verdachtsfälle, ausgestrahlt vom Sender RTL am Donnerstag, den 17.6.2010. Das Format Verdachtsfälle (ein Sendeformat, das private, meist familiäre Problemfälle schildert) zeichnet sich durch seine narrativen Elemente aus und dem offensichtlichen Konstruktionscharakter. Erzählzeit und erzählte Zeit sind nicht identisch; die Handlung umfasst immer mehrere Tage oder sogar Wochen. Dabei wird sich keine große Mühe gegeben, die Illusion zu erzeugen, dass das Gezeigte an verschiedenen Tagen stattfindet: Auffallend oft haben die Darsteller die gleichen Kostüme zu ganz unterschiedlichen Zeitpunkten an, sodass der Zuschauer erkennen kann, dass alles an einem Tag (oder wenigen Tagen) gedreht wurde. Die Information, wann etwas geschieht, bekommt der Zuschauer vom Offsprecher geliefert. Dieser ist eine erwähnenswerte Besonderheit von Verdachtsfälle. Er fungiert als allwis-

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sender Erzähler, der kein Teil des Bühnengeschehens ist, sondern den Zuschauer durch dieses führt. In Verdachtsfälle werden außerdem zwei Interviewtechniken angewendet. Immer wieder wird die Handlung mitten in einer Szene unterbrochen und eine Figur spricht über sich oder andere Figuren in einer eigenen Interviewkulisse. Diese Interviews suggerieren dem Zuschauer, dass sie nachträglich gemacht wurden und die Figuren nach dem Geschehen bzw. dem Dreh über sich in der Situation sprechen. Bei der anderen Interviewart in Verdachtsfälle wendet sich eine Figur mehr oder weniger plötzlich aus dem Geschehen zur Kamera bzw. zu einem unsichtbaren und unhörbaren Reporter und gibt einen Kommentar, ohne das Setting zu verlassen. Es ist deswegen wichtig, diese Eigenheiten von Verdachtsfälle zu nennen, weil mit dem Offsprecher und den Interviewtechniken konstatives Sprechen möglich ist. Alles, was der Offsprecher äußert, ist wahr, richtig, unbestreitbar. Er macht die Geschichte. Durch die Interviewtechniken haben auch die Figuren die Gelegenheit, konstativ für den Rezipienten zu sprechen. Die Interviewsequenzen fungieren als Metatexte, also als Texte, die über den Bühnentext gelegt sind, um ihn zu kommentieren. Durch die Interviews verlassen die Figuren die Ebene, in der sie performativ sprechen, und betreten die Ebene des konstativen Sprechens. Die Figuren handeln in den Interviews nicht mehr, sondern äußern sich über ihre gezeigten Handlungen. Damit treffen sie wahre oder unwahre Aussagen über das Bühnengeschehen. Beschreibung des Ausschnitts aus Verdachtsfälle In der Folge wird eine junge Frau, Jessica, gezeigt, die in der Wohnung ihrer Mutter Autogrammkarten findet. Auf diesen ist die Mutter halbnackt abgedruckt. Jessica befürchtet, dass ihre Mutter ihr Geld mit dem Verkauf ihres Körpers verdient. Jessica bespricht sich mit ihrer Freundin Hylia an deren Arbeitsstätte, einem Café. Der betrachtete Beginn der Unterhaltung dient beispielhaft für die Laiendarstellung im Privatfernsehen.11

11 Das Folgende ist eine eigene Mitschrift der Sendung Verdachtsfälle, RTL am 17.6.2010.

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Offsprecher: „Einen Tag, nachdem sie in der Post ihrer Mutter erotische Fotos der 45jährigen gefunden hat, ist Jessica Frontzeck immer noch schockiert. Die 22-jährige Kellnerin weiß nicht, was sie davon halten soll. Deshalb vertraut sie sich ihrer Freundin und Kollegin Hylia Gönül an.“ Währenddessen sieht man das Café von außen. Schnitt. Hylia arbeitet hinter dem Tresen, Jessica läuft am Tresen vorbei und bedient einen Kunden an einem Tisch. Sie geht vorne am Tresen entlang und betritt ihn. Am Zugang steht Hylia. Sie lässt Jessica hinter sich vorbei gehen und redet dabei mit ihr. Schnitt. Nur Jessicas Gesicht ist im Bild, sie spricht ein paar Worte zu Hylia, an ihrem Gesicht ist keine Emotion ablesbar. Schnitt. Hylias Profil ist groß im Bild, sie schüttelt den Kopf, dreht die Augen nach oben. Schnitt. Hylia: „Und jetzt machst du dir darüber total die Gedanken?“ Hylia beginnt zu sprechen, im Bild ist Jessica, die locker gegen das Thekenregel gelehnt ist. Ihre Hände hat sie auf die Theke gestützt. Es wird zurückgezoomt, sodass beide Frauen im Bild sind. Hylia lehnt locker am Tresen gegenüber von Jessica, ihre Ellenbogen liegen auf. Jessica: „Natürlich! Was würdest du denn machen, wenn deine Mama solche Karten hätte?“ Immer noch sind beide Frauen im Bild, die Kamera zoomt etwas näher, zoomt wieder zurück. Hylia: „Ja, komm, also ich mein´, das kann doch sonst was sein. Guck mal: dein Vater sitzt im Knast und ist alleine – und warum sollte er nicht was zu gucken haben?! Deswegen hat sie die Fotos bestimmt gemacht.“ Die Kamera schwenkt zu Hylia, die jetzt alleine im Bild ist. Man sieht nur ihren Kopf bis zur Brust, ab und an kommt ihre linke Hand ins Bild, die sie gestikulierend hebt. Die Kamera schwenkt zu Jessica, die nun alleine im Bild ist. Sie sagt nichts. Stattdessen beginnt Hylias Stimme aus dem Off. Hylia im Interview: „Jessi und ihre Eltern: da treffen echt zwei Welten aufeinander. Die Eltern sind halt so total locker und die bauen auch mal ziemlich

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viel Scheiße. Und die Jessi ist da eher so spießig und macht alles genauso, wie es sich gehört.“ Hylia befindet sich in einem Wohnraum. Sie ist anderes gekleidet und frisiert als im Café und sitzt auf einem Stuhl. Sie ist im Frontprofil zu betrachten, die Kamera steht während des Interviews still. Es werden ihr Name und ihr Alter eingeblendet mit der Information, dass sie die beste Freundin Jessicas sei. Hylia lacht leicht, als sie davon erzählt, dass Jessicas Eltern „auch mal ziemlich viel Scheiße bauen“. Hylia in der Kneipe: „Ja, dann, dann ist es eben so ne Art Rollenspiel zwischen deinen Eltern, was sie da miteinander grad am Laufen haben. Hhmmm?“ Die Kamera ist anfangs auf Jessicas Gesicht gerichtet, sie zoomt zurück bis Hylia auch noch im Bild ist. Es wird an den Körpern der beiden erkennbar, dass das Gespräch genau da einsetzt, wo es vom Interview unterbrochen wurde. Hylia untermalt „Rollenspiel“ mit einer auslandenden Geste, sie zeichnet vor ihrem Körper mit Hand und Arm einen Halbkreis. Jessica wechselt darauf hin ihr Standbein, ihre Hände bleiben auf den Tresen hinter sich gestützt. Nach dem „Hmmm?“ wendet sich Hylia von Jessica ab und beginnt irgendeine Arbeit am Tresen. Jessica: „Woa, Rollenspiel. Guck mal, davon will ich gagaar nichts wissen. Ja?“ Hylia dreht sich gerade um, Jessica reißt für einen kleinen Augenblick die Augen auf und begleitet dies mit einem minimalen Zurückzucken des Kopfes. Nach dieser Erschrockenheitsgeste wendet Jessica die Augen von Hylia ab, schaut gezielt zu irgendetwas vor dem Tresen, was außerhalb der Wahrnehmungsmöglichkeit des Fernsehzuschauers ist. Dann beginnt Jessica zu sprechen. Sie wendet ihre Augen wieder zu Hylia, die währenddessen am Tresen beschäftigt ist. Jessica beginnt ab „Guck mal“ ihre rechte Hand vom Tresen hinter sich zu lösen. Sie will sie heben, stoppt die Bewegung aber kurz und führt sie dann doch aus. Bei „wissen“ hat sie ihren Höhepunkt erreicht und betont so das Wort gestisch. Vor dem „Ja?“ hält Jessica eine relativ lange Redepause, die sie durch eine Handbewegung füllt: Die erhobene Hand federt sie ein Stück weiter runter. Die Kamera zoomt auf Jessica, die am Ende des

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Redebeitrags alleine im Bild ist. Sie wendet sich ihrerseits dem Tresen hinter sich für irgendeine Arbeit zu.

Analyse des Ausschnitts Das Spiel der beiden Darstellerinnen und deren Präsentation zeigen Probleme verschiedenster Art. Hier sollen nur zwei in den Blick genommen werden, die sich aus der Beschäftigung mit der Sprechakttheorie ergeben: 1.) die Differenz von Behauptung und Darstellung und 2.) die Unstimmigkeit von Sprache und Körper. Zu 1.) Differenz von Behauptung und Darstellung: Der Offsprecher äußert sich ausschließlich konstativ über das Bühnengeschehen. Er sagt, was wann passiert und was in den Figuren vorgeht. Bei dem zu betrachtenden Szenenausschnitt wird der Zuschauer in Kenntnis über Jessicas anhaltenden Schockzustand gesetzt. Sie wendet sich wegen ihrer Verzweiflung an ihre beste Freundin Hylia. Als Zuschauer erwartet man ein vertrautes, ruhiges Gespräch mit einer schockierten Jessica und einer verständnisvollen, tröstenden, betroffenen, Ratschlag gebenden Hylia. Ein ruhiges Gespräch erwartet der Zuschauer auch wegen der Umgebung, in der die Unterredung stattfindet: Die Freundinnen befinden sich in einer geöffneten Kneipe in der Rolle als Bedienungen und Tresenfrauen. Was der Zuschauer aber zu sehen bekommt ist folgendes: Jessica scheint weniger schockiert und verwirrt als vielmehr sicher, was der Fund bedeutet, und Hylia berät und tröstet nicht, sondern greift ihre Freundin eher an und behandelt sie herablassend. Letztlich wirkt das Gespräch – gerade von Hylia aus – mehr feindselig als freundschaftlich. Die erste aggressive Geste Hylias ist ihr Augenrollen ganz zu Beginn des Gesprächs. Hylia richtet die Augen noch oben und schüttelt den Kopf in einer Art, die bedeutet: Ich bin genervt von dir (oder von dem, was du sagst). Die Zuschauer müssen davon ausgehen, dass Hylia gerade der Bilderfund und Jessicas Befürchtungen offenbart wurden und sie deswegen den Kopf schüttelt, weil sie Jessicas Sorgen für übertrieben und unrealistisch hält. Spielabsicht ist wahrscheinlich, Jessicas schlimme Ahnungen als wahnsinnig darzustellen; was Hylia aber durch ihr exzessives Augenrollen und Kopfschütteln macht, ist Jessica selbst als wahnsinnig zu markieren.

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Der Zuschauer sieht, dass Hylia ihre Ellenbogen nach hinten auf den Tresen stützt, sodass ihre Hände eigentlich locker nach unten hängen müssten. Sie hebt aber bewusst und unter Anspannung die Handinnenfläche nach oben – eine eher aggressive Geste, die ausdrückt: Komm nur her und greif mich an! Zum Körper passend benutzt sie bei dem Satz „Und jetzt machst du dir darüber total die Gedanken“ eine Prosodie, die eigentlich benutzt wird, wenn man ausdrücken will, wie dumm man eine Person findet und wie sauer man auf sie ist. Dies lässt sich durch einen Imitationstest belegen. Dabei ist Hylias Prosodie nachzuahmen, aber der Wortinhalt so abzuändern, dass er der von Hylia verwendeten Prosodie entspricht. Es ist anzunehmen, dass Hylia mit ihrer Prosodie nicht Genervtheit performieren wollte, sondern Verständnis für die Freundin ausdrücken wollte. Markiert wird dies auf Wortebene durch die Herausstreichung der „Gedanken“ mit Hilfe der beiden vorgeschobenen Worte „total die“. Es ist ein Unterschied, ob man sagt: „Und jetzt machst du dir darüber total die Gedanken.“ Oder: „Und jetzt machst du dir darüber Gedanken.“ Das erste impliziert ein Mitgefühl vom Sprechenden für den Gesprächspartner – das freilich auch ironisiert werden kann – denn der Einschub eines Füllworts und der Einsatz des bestimmten Artikels an einer Stelle, die konventionell den Artikel verbietet, verleihen dem Satz Gewicht. Dies kann man als Versuch werten, der Gewichtigkeit der Gedanken verbal zu entsprechen und auch sein tiefes Verständnis für sie zum Ausdruck zu bringen. Die zweite Variante ist durch ihre Sparsamkeit auf Wortebene, die nur beschreibt und inhaltlich nichts betont, eher offen für alle möglichen Implikationen. Auf Jessicas impliziten Vorwurf, dass ihre Reaktion auf den Bilderfund völlig natürlich sei, verwendet Hylia eine Prosodie, die Verteidigung ausdrückt, die Zurückweisung eines Vorwurfs. Der Körper Hylias agiert die Prosodie unterstützend Schuld zurückweisend: Hylia begleitet die Höhen in der Stimme mit Händen, Augenbrauen, Schultern und Armen, die sich heben, um die Inhalte des Gesprochenen wegzuschmettern. Ihre (vermutliche) Spielabsicht ist aber, der Freundin die Absurdität ihrer Gedanken zu zeigen. Sie sagt einleitend: „Ja, komm! Das kann doch sonst was sein!“ und abschließend: „Deswegen hat sie die Fotos bestimmt gemacht!“ Hylia will anscheinend aufzei-

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gen, was es für logische Erklärungen für den Bilderfund gibt. Ihre gewählte Taktik ist freundschaftlich-aggressiv: Sie will die Mutter verteidigen und Jessica als altmodisches, verklemmtes Dummerchen hinstellen. Dies ist auch gut absehbar an dem zwischengeschalteten Interview mit Hylia. Hier drückt sie aus, dass sie ihre Freundin ein wenig spießig findet und mit den unkonventionelleren Eltern sympathisiert. Hylia schafft aber keine freundschaftliche Frotzelaggressivität, als sie sich darum bemüht, ihre Freundin zu beschwichtigen. Sondern sie legt in ihre Stimme und ihren Körper so viel Aggressivität, dass es so wirkt, als sei Hylia selbst diejenige, von der erotische Bilderkarten gefunden wurden, und die sich nun verteidigen muss. Gut ist das an der Prosodie ihres letzten Satzes abzulesen: „Deswegen hat sie die Fotos bestimmt gemacht!“ Hylia äußert ihn mit einer Prosodie, die ausdrückt: „Mann, bist du völlig doof!“ Was Hylia letztlich also nicht mit ihren Äußerungen tut, ist die Freundin beruhigen, sondern sie verteidigt sich selbst und beschimpft die andere indirekt als dumm. Man kann noch weitere Beispiele für Hylias Aggressivität finden und damit für ihr schlechtes Spiel. Als schlecht ist ihr Spiel daher zu bewerten, da sie mit ihren Äußerungen Verteidigung und Angriff performiert, was nicht zu den konstativen Äußerungen des Offsprechers passt, dass Hylia ihrer Freundin beisteht und sie berät. Zu 2.) Unstimmigkeit von Sprache und Körper: Performative Äußerungen gelingen, indem die Worte, die Art sie zu äußern, und Gestik und Mimik zusammenpassen und etwas Stimmiges ausdrücken. Bei Jessicas Spiel kann man beobachten, durch welche Kleinigkeiten eine Performanz misslingen kann. Hylia stellt die Vermutung an, dass Jessicas Eltern möglicherweise in ihrem Liebesleben Rollenspiele praktizieren und dass sich von daher die Visitenkarten erklären lassen. Jessica will vermutlich Entsetzen, Ekel, Ungläubigkeit, Schockiertheit, Scham über diese Vorstellung äußern: „Woooaaah, Rollenspiel! Guck ma, davon will ich gagar nichts wissen!“ Um das überzeugend zu spielen, hätte sie zwei Dinge im Voraus machen müssen: 1.) Mit dem Körper schockiert reagieren, wenn Hylia die Idee ausspricht und 2.) unmittelbar an Hylia anschließen. Als der Begriff „Rollenspiel“ von Hylia fällt, bewegt sich Jessicas Körper zwar, der vorher in Ruhe zugehört hat. Die Körperreaktion

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Jessicas ist aber problematisch, denn sie drückt nicht Schockiertheit aus, sondern Gemütlichkeit: Sie wechselt das Standbein und richtet ihren Körper wieder bequem ein.12 Passend zur Gemütlichkeit lässt Jessica Hylia auch noch ausreden, anstatt ihr gleich ins Wort zu fallen, dass sie von irgendwelchen Sexpraktiken ihrer Eltern nichts wissen will – obwohl sie inhaltlich exakt dies aussagt. Das Äußern der Worte selbst („Woooaaah, Rollenspiel! Guck ma, davon will ich gagar nichts wissen!“) drückt ebenfalls kaum Schockiertheit aus. Die Prosodie von Jessica steht eher für leicht nervende Langeweile, so, als würde Jessica sagen: „Woooaaaah! Jetzt hör mit dem langweiligen Gequatsche auf, du nervst!“ Während Jessica die Worte äußert, hebt sie ihren rechten Arm, stoppt die Bewegung aber, um sie letztlich doch auszuführen. Ihre Handinnenfläche zeigt Richtung Boden, was gerade noch zurückhaltbare Gewalt ausdrückt. Beim Äußern der Worte begeht sie also den Fehler, dass sie unentschlossen Hand und Arm hebt und dass die letztlich doch ausgeführte Geste aggressiv ist und so wiederum nicht zu der gelangweilten Prosodie passt. Jessica performiert mit Körper, Prosodie und Worten vier nicht zusammenpassende Dinge: Gemütlichkeit, zurückgehaltene Gewalt, nervende Langeweile und Schockiertheit.13 Schlecht ist das Spiel nicht deswegen, weil zu wenig dargestellt wird, sondern zu viel: Da sich die Darsteller nicht auf die Aktion konzentrieren, die bereits durch den Sprechakt ausgeführt

12 Zum Gelingen eines Sprechaktes trägt offenbar also auch in entscheidendem Maße der Spielpartner bei: Nicht die sprechende Hylia bestimmt, was gerade durch ihr Gesagtes getan wurde, sondern ihre Mitdarstellerin Jessica macht durch ihre Reaktion das Gesagte zu einem bestimmten Sprechakt. 13 An Jessicas Spiel wird auch klar, warum in Formaten wie „Verdachtsfälle“ die permanente Notwendigkeit besteht, durch Offsprecher und Figuren zu erklären, was die Figuren tun. Die Darsteller sind schlicht nicht in der Lage, es durch ihr Spiel auszudrücken. Wenn innerhalb der performativen Ebene keine Klarheit geschaffen werden kann, braucht es konstative Äußerungen, die festlegen, was performativ geschieht. Diese Lösung, das schlechte Spiel auszugleichen, bewirkt gleichzeitig Gegenteiliges: Gerade durch die konstativen Äußerungen von Offsprecher und Figuren in Interviews wird das schlechte Spiel offen gelegt.

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wird, führt die Anreicherung der Darstellung mit Mimik, Gestik und Körperaktion zu Overacting.

W IR ALLE SPIELEN T HEATER – D IE S ELBSTDARSTELLUNGS THEORIE VON E RVING G OFFMAN Zu wissen und genauer bestimmen zu können, warum man sich eine Art Darzustellen nicht zum positiven Vorbild nehmen kann, ist eine wertvolle Erkenntnis.14 Jedoch steht die Frage aus, was ein Laiendarsteller tun kann, um positive Vorbilder zu erhalten, ohne eine professionelle Ausbildung zu durchlaufen. Eine Antwort hält Erving Goffman bereit: In seinem Buch Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag zeigt Goffman, dass das Agieren von Menschen in sozialen Interaktionen als Theateraufführungen beschreibbar ist. So betrachtet handeln Menschen auch im Alltag als Darsteller von Rollen auf einer Bühne mit Kostüm, Requisiten, Mitdarstellern und Publikum. Dabei ist das Rollendarstellen in den meisten Fällen völlig unproblematisch, so dass man mit Goffman behaupten kann, dass Menschen in ihrem Alltag Profidarsteller sind. Wenn Menschen zusammenkommen, dann drückt jeder einzelne immer etwas von sich aus, absichtlich oder unabsichtlich – in jedem Fall versuchen Menschen stets Informationen über die anderen zu gewinnen.15 Ziel bzw. Ergebnis des Selbstausdrucks ist nach Goffman, den anderen zu beeindrucken. Wie jemand spricht, welche Kleidung und Frisur er trägt, wie groß er ist, welchem Geschlecht er angehört und so weiter ist alles zeichenhaft, weswegen es von anderen gelesen und gedeutet wird. Wie jemand spricht, weckt beispielsweise bei dem einen den Eindruck, dass dieser jemand eingebildet, aber nett ist, bei einem anderen, dass er um seine Wirkung bemüht ist. Goffman fasst diese Art der Ausdrucksmittel als Teile der persönlichen Fassade zusammen, die jeder Mensch besitzt. Andere Ausdrucksmittel der

14 Und eine differenzierte, kritische Beobachtung schlechter Vorbilder kann das eigene Spiel nicht unerheblich verbessern. 15 Vgl. Goffman 2002, S. 5.

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persönlichen Fassade sind zum Beispiel Amtsbezeichnungen, Hautfarbe, Alter, Gestik. Auch die Bühne gehört zur persönlichen Fassade. Die Bühne ist der Ort der Darstellung. Das kann das Wohnzimmer sein, die Arztpraxis, das Klassenzimmer oder der Gastraum in der Gastwirtschaft.16 Im Normalfall versucht jeder in seinem Alltag den Eindruck, den er anderen von sich gibt, zu kontrollieren und zu lenken. Dazu gibt er nach Goffman seinen Mitspielern und Zuschauern – bewusst oder unbewusst – die Darstellung einer Rolle. Beispiele für solche Rollen sind: freundlicher Gastgeber, hilfsbereiter Nachbar, vertrauenswürdiger Freund, guter Liebhaber, fürsorgliche Mutter, aufmerksamer Schüler, strenger Lehrer, kompetenter Arzt, freundlicher Kellner. Damit die Darstellung einer Rolle gelingt, d.h. dass der Darsteller bei seinem Publikum den Eindruck erweckt, den er erwecken will, müssen viele Dinge zusammenkommen. Für eine überzeugende Rollendarstellung erwartet das Publikum erst einmal eine Stimmigkeit der Fassade in sich. Die Art sich zu kleiden und zurechtzumachen legt zum Beispiel eine bestimmte Art sich zu verhalten nahe. Zu einer überzeugenden Darstellung braucht es auch eine Übereinstimmung von Bühne, Aussehen und Verhalten.17 So erfordert das Darstellen der Rolle „kompetenter Arzt“ zum Beispiel als Bühne eine Praxis mit Empfang, Wartezimmer, Behandlungszimmer etc. Alles muss so eingerichtet und architektonisch so gebaut sein, dass es den Eindruck beim Publikum – den Patienten – erweckt, dass sie dem Arzt vertrauen können. Als Requisiten dienen dem Arzt beispielsweise moderne Untersuchungsgeräte, Patientenakten, medizinische Fachbücher im Regal, Informationstafeln an der Wand, Modelle vom menschlichen Körper etc. Der Arzt als Darsteller braucht das richtige Kostüm, um als vertrauenswürdiger, kompetenter Arzt vom Publikum erkannt zu werden. Er benötigt saubere, ordentliche Einheitskleidung, ein gepflegtes Äußeres, medizinische Geräte etc., seine Darstellung verlangt nach einer gewählten Art zu sprechen, fachterminologisches Vokabular, Höflichkeit, Interesse für den anderen etc.

16 Vgl. Goffman 2002, S. 23-30. 17 Vgl. Goffman 2002, S. 26.

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Dass das alles Teile eines Spiels, einer Darstellung, sind, wird dann ganz offenkundig, wenn der darstellende Arzt um seiner Rolle willen dem Publikum etwas vorspielen muss – nun tatsächlich auch im Sinn von vortäuschen: Goffman beschreibt das Problem, dass Ärzte sich im Normalfall nicht daran erinnern, was sie mit einem Patienten gesprochen haben, welche Pillen sie ihm in welcher Dosis verabreicht haben und so weiter. Der Patient aber erinnert sich selbstverständlich an alles und wäre zutiefst gekränkt, würde er mitbekommen, dass sich der Arzt nicht an ihn und seine Krankheit erinnert. Also verschleiert der Arzt sein Unwissen und spielt im Gegenteil den Sich-Erinnernden. Kohärenz und Normalität als Rollenerwartungen Eine Besonderheit des Alltagtheaters ist, dass die Mitdarsteller eines Darstellers gleichzeitig die Zuschauerfunktion für die Vorstellung von diesem einzelnen Darsteller übernehmen. Vom Theater im herkömmlichen Sinn unterscheidet sich das Alltagtheater auch darin, dass die Handlungen, die ein Darsteller in seiner Rolle tätigt, nicht ein konsequenzvermindertes Als-ob-Handeln sind. Nach Goffman glauben die Rollendarsteller entweder an die Identität von Realität und Rolle – eine gute Mutter spielt nicht nur die gute Mutter, sondern sie „ist“ es – oder die Rollendarsteller wollen zumindest den Eindruck beim Publikum erwecken, dass Realität und Rolle identisch sind.18 Goffmans Realitäts- und Identitätsbegriffe können durch die Begriffe Kohärenz und Normalität präzisiert werden: Sowohl Mitdarsteller als auch Publikum erwarten von einem Darsteller, dass er seine Rolle dauerhaft spielt. Gerade private Rollen wie dein Freund, deine Mutter, dein Nachbar zeichnen sich dadurch aus, dass sie im Normalfall immer ähnlich gespielt werden, sich die dargestellte Rolle also durch Kohärenz auszeichnet. Vor allem im beruflichen Bereich wird an Rollen das Kriterium der Normalität herangetragen. Darsteller und Zuschauer haben von bekannten Rollen wie Verkäufer, Schüler, Straßenarbeiter ein mehr oder weniger genaues Bild der Rolle. Es gibt also eine Norm, die eine Rolle bestimmt und die Darsteller erfüllen müssen.

18 Vgl. Goffman 2002, S. 19.

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Beobachtung im Alltag Nach Goffman sind funktionierende Menschen unserer Gesellschaft großartige Darsteller, die ein perfektes Schauspiel abliefern, ohne darüber nachzudenken.19 Goffman meint sogar, dass jeder auf der Theaterbühne einigermaßen gut bestehen kann – mit wohlwollendem Publikum –, da wir alle tagtäglich spielen und die Welt in entscheidenden Punkten eine große Bühne ist.20 Auch wenn die Behauptung, jeder könne auf einer Theaterbühne halbwegs überzeugen, übertrieben sein mag, so ist doch etwas Wahres in ihr. Goffman beschreibt in seinem Buch vor allem berufliches Alltagstheater, bei dem die agierenden Menschen sich mehr oder weniger stark bewusst sind, dass sie gerade eine bestimmte Rolle darstellen, die ihnen auch geläufig ist. Es ist anzunehmen, dass eine Person genau diese Rolle auch auf einer Theaterbühne einem kritischem Publikum gegenüber überzeugend darstellen könnte. Auf der Theaterbühne wird aber von einem Laiendarsteller meist nicht verlangt, (s)eine berufliche Rolle darzustellen, sondern eher eine kohärente Figur mit einem Charakter, die Veräußerung innerer Zustände in Monologen, Situationen, in denen die Figur ohne Zuschauer völlig unbeobachtet agiert etc. Obwohl auf der Bühne andere Rollendarstellungen als im Alltag verlangt werden, ist die Betrachtung der Alltagswelt als Theaterbühne nützlich, um aus dem Alltag etwas für das Darstellen auf der Theaterbühne zu lernen. Zum einen gibt die Betrachtungsweise Gewissheit, dass der berufstätige Laiendarsteller tatsächlich wenigstens in einem Bereich im Wortsinne professionell darstellt, nämlich in seinem Beruf, und von daher das Erzeugen eines intendierten Eindrucks bei einem Publikum Alltagsgeschäft für ihn ist. Zum anderen macht die Betrachtungsweise den Blick frei für alltägliche Darstellungen, die unbewusst bei sich selbst oder anderen laufen und bisher als Darstellungen nicht erkannt wurden. „Natürliche“ Gefühlsbekundungen wie Trauer, Wut, Freude, Skepsis, Interesse, Mitgefühl, „natürliche“ Körperaktionen wie Hören, Hungern, Kopfschmerzen, Weinen, Husten,

19 Goffman 2002, S. 68: „[...] wir alle spielen besser, als wir es zu tun glauben.“ 20 Vgl. Goffman 2002, S. 67.

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„natürliche“ Charakterzüge wie Selbstbewusstsein, Schüchternheit, Überheblichkeit, Freundlichkeit können alle als Dinge betrachtet werden, die einer bestimmten konventionellen, normierten Ausdrucksform bedürfen. Genau diese gilt es in ihren alltäglichen Formen zu erkennen – und zu imitieren. Dabei geht es nicht darum, tatsächliche Charaktere, Gefühle von Menschen aufzuspüren, die quasi hinter beobachtbaren Aktionen stecken, sondern die beobachtbaren Darstellungsmöglichkeiten und deren Wirkungen zu studieren. Interessant für die Beobachter des Alltagstheaters dürften wohl gerade nicht funktionierende Alltagsdarstellungen sein – und laut Goffman sind wir im Aufspüren von Fehlern einer Darstellung noch besser als im Manipulieren unserer eigenen Darstellungen.21 Wird eine Rolle schlecht dargestellt, dann hat das nicht nur die Wirkung, dass die Darstellungsabsicht schwieriger oder gar nicht erreicht wird. In den Momenten, derentwegen eine Darstellung (in Teilen) misslingt, wird etwas anderes dargestellt und ungewollte Spielabsichten verwirklicht.22 Eine kleine Sprechpause, eine kaum wahrnehmbare, nervöse Geste, eine plötzliche Änderung der Stimmfarbe, eine Ungeschicklichkeit, ein Moment der Unaufmerksamkeit, ein deplatzierter oder misslungener Sprechakt kann etwas über den Darsteller verraten, das über seine Darstellung hinausgeht oder im Widerspruch zu ihr steht. Ist eine Darstellung gestört, wird auch immer dargestellt, dass eine Rolle dargestellt wird. Das sagt wiederum etwas über den Darsteller aus, entlarvt ihn beispielsweise als Lügner, Anfänger, Hochstapler, Nervösen. Von Bedeutung ist die Erkundung dieser Störmomente, da durch diese prompt das sichtbar wird, worin das Funktionieren einer Darstellung begründet ist. Dies ist brauchbar für eine überzeugende Darstellung auf der Bühne. Aber auch der absichtsvolle Einsatz von Störelementen kann für eine Bühnenrolle erforderlich sein, denn durch sie kann eine Darstellung bzw. die Bühnenrolle an Vielschichtigkeit und Differenziertheit gewinnen. Voraussetzung ist dafür die Kenntnis darüber, was die störungsfreie Darstellung einer Rolle auszeichnet.

21 Vgl. Goffman 2002, S. 12. 22 So wie das Ergebnis eines missglückten Sprechakts nicht in einem Nichts besteht, als hätte er nicht stattgefunden, so ist eine fehlerhafte Darstellung nicht effektlos.

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Hier können die beiden vorgestellten Theorieansätze miteinander verknüpft werden: In dieser ex-negativo-Erkenntnis (Bewusstwerden des Funktionierenden durch das Gestörte) liegt, wie bereits ausgeführt, auch der Nutzen des narrativen Reality-TVs. Die spezifische Darstellungsweise der dort auftretenden Laien hat immer den Effekt zu markieren, dass Rollen dargestellt werden. Störmomente werden aber weniger absichtlich und gekonnt ins Spiel eingebunden, sondern geschehen aus Unkönnen und Geldmangel (bei genügend Geld hinter einer Produktion ist auch mehr Zeit vorhanden, schlechte Takes zu wiederholen und zu verbessern). Diese Einschätzung rührt daher, dass mit den Darstellungsstörungen den Bühnenrollen keine Tiefen verliehen werden, die Störungen also nicht in Hinblick auf die Bühnenrolle sinnvoll interpretiert werden können, sondern ausschließlich auf den Darsteller in seiner Rolle als Darsteller einer Bühnenrolle verweisen. Kurz: die Störungen in den Reality-Formaten wirken schlicht wie ungekonntes Spiel. Der Vergleich der versehrten Bühnendarstellungen im Privat-TV mit funktionierendem Alltagstheater kann zeigen, worin sich gute Darstellungen auszeichnen, oder umgekehrt, worin schlechte Darstellungen begründet sein können. Goffman untersucht Alltagstheater vor Publikum, d.h. Rollen, die in einen sozialen Kontext eingebunden sind. Auf der Theaterbühne werden hingegen auch Darstellungen verlangt, in denen Bühnenfiguren alleine auf der Bühne sind, unbeobachtet von anderen Bühnenfiguren. Hierfür finden sich keine vorbildlichen beobachtbaren Alltagsdarstellungen – mit Ausnahme der Selbstbeobachtung oder „Voyeurismus“. Auch kann die Darstellung innerer Monologe auf der Theaterbühne verlangt werden, bei denen es natürlicherweise keine alltäglichen Vorbilder geben kann. Das Lernen aus dem Alltagstheater hat auch dort seine Grenze, wo Bühnenkonventionen sich von (rezenten) alltäglichen Darstellungskonventionen unterscheiden.

L ITERATUR Primärliteratur Diderot, Denis (1984): Ästhetische Schriften. Band I, hg. von Friedrich Bassenge. Berlin 1984 Dürrenmatt, Friedrich (1998): Die Physiker. Eine Komödie in zwei Akten. Neufassung 1980. Zürich 1998 Goethe, Johann Wolfgang von (1968): Wilhelm Meisters Lehrjahre (= Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7). 7. Aufl. München 1968 Goethe, Johann Wolfgang von (1901): Regeln für Schauspieler. In: Goethes Werke. Weimarer Ausgabe I, Band 40. Weimar 1901, S. 139–168 Grillparzer, Franz (1971): Medea. Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dritte Abteilung des dramatischen Gedichts ‚Das goldene Vlies‘. Nachwort von Helmut Bachmaier. Stuttgart 1971 Herder, Johann Gottfried (1971): Briefe zur Beförderung der Humanität, hg. von Heinz Stolpe. Band 1. Berlin / Weimar. 1971 Heym, Georg (1960): Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe, hg. von Karl Ludwig Schneider, Band 1. Hamburg / München 1960 Keller, Gottfried (1961): Der grüne Heinrich. Zweite Fassung. (=Sämtliche Werke in acht Bänden, Band 4), Berlin 1961 Moritz, Karl Philipp (1979): Anton Reiser. Ein psychologischer Roman. Frankfurt a.M. 1979 Schiller, Friedrich (1962a): Sämtliche Werke. Auf Grund der Originaldrucke herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert in Verbindung mit Herbert Stubenrauch. Band 5, 3. Aufl. München 1962 Schlegel, Friedrich (1962b): Lucinde. In: Behler, Ernst [Hg.]: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe. Bd. 5, München u.a. 1962, S. 1-82 Wieland, Christoph Martin (1966): Geschichte der Abderiten. In: Martini, Fritz / Seifert, Hans Werner [Hg.]: Christoph Martin Wieland. Werke Band 2. München 1966

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Hametner, Michael (1993): Deutsches Amateurtheater – Woher? Leipzig 1993 Haueis, Eduard (1997): Vom Theater der Schule zur Schule des Theaters. In: Belgrad [Hg.] (1997), S. 23-37 Herrmann, Max (2006): Das theatralische Raumerlebnis. In: Dünne, Jörg / Günzel, Stephan [Hg.]: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 501-514 Jürgens, Ekkehard (1997): Am Anfang war das Laienspiel. Bürgertheater im alten Griechenland. In: Belgrad [Hg.] (1997), S. 12-22 Kaufmann, Andreas (1991): Vorgeschichte und Entstehung des Laienspieles und die frühe Geschichte der Laienspielbewegung. Stuttgart 1991 Kittel, Rainer (1997): Für mehr Kunst und Professionalität im Amateurtheater – ein Pamphlet. In: Belgrad 1997, S. 96f. Klaus, Elisabeth/ Lücke, Stephanie (2003): Reality TV – Definition und Merkmale einer erfolgreichen Genrefamilie am Beispiel von Reality Soap und Docu Soap. In: Medien & Kommunikationswissenschaft 51/2, 2003, S. 195-212 Klepacki, Leopold (2004): Schultheater. Theorie und Praxis. Münster u.a. 2004 Kluge, Friedrich (1975): Art. Lampenfieber. In: Ders.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 21. Aufl. Berlin / New York 1975, S. 421 Knaeble, Susanne / Wagner, Silvan (2010): Der lange Atem der Passion. Ein performativer Analyseansatz literarischer Kontexte am Beispiel Oberammergau. In: Van Uffelen u.a. [Hg.]: Literatur in Kontext: ein gegenseitiges Entbergen. Wien 2010, S. 115-141 Ko, Youkyung (2002): Zwischen Bildung und Propaganda. Laientheater und Film der Stuttgarter Arbeiterkulturbewegung zur Zeit der Weimarer Republik. Stuttgart 2002 Kotte, Andreas (2005): Theaterwissenschaft. Köln u.a. 2005 Krüger, Wolfgang (1991): Professionalisierung. In: Kerber, Harald / Schmieder, Arnold [Hg.]: Handbuch Soziologie. Hamburg 1991, S. 452–456 Küpper, Heinz (1997): Art. Lampenfieber. In: Ders.: Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Stuttgart u.a. 1997, S. 481

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Internetpräsenzen http://bdat.wklv.de/cms/upload/Geschichte_des_BDAT_1892_2009. pdf http://www.beautycheck.de http://www.buehnenverein.de/de/jobs-und-ausbildung/berufe-amtheater-einzelne.html http://flashface.ctapt.de/ http://www.theatergruppe-bumerang.de

Autorinnen und Autoren

Apel, Guido, ist gelernter Druckvorlagenhersteller und arbeitete zehn Jahre lang als Grafiker in einem Versandhaus. Seit 2000 ist er als freiberuflicher Grafiker, Illustrator, Fotograf und Musiker tätig. Seit 2005 wirkt er in der Theatergruppe Bumerang als Bühnenbildner, Schauspieler und Musiker mit. Ender, Britta, studiert Germanistik, Geschichte und Philosophie auf Lehramt Gymnasium an der Universität Bamberg, unterrichtet Dramatisches Gestalten, arbeitete als Regieassistentin an Theatern in Bamberg und Berlin und wirkt seit 2003 bei der Theatergruppe Bumerang in den Bereichen Regie, Schauspiel und Organisation mit. Knaeble, Susanne, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie an der Universität Bayreuth, Promotion im Fach Ältere Deutsche Philologie. Arbeit als wissenschaftliche Assistentin und Habilitationsprojekt am Lehrstuhl für ÄdPh. Mitwirkung bei der Theatergruppe Bumerang seit 2005 in den Bereichen Schauspiel, Dramaturgie und Regie. Wagner, Eva, studierte Lehramt an Grundschulen, arbeitet an ihrer Dissertation in der Älteren Deutschen Philologie an der Universität Bayreuth, wirkt seit 2003 in der Theatergruppe Bumerang in den Bereichen Schauspiel, Maske, Kostüm und Regie mit, leitet Schulspielgruppen und arbeitet als freie Künstlerin.

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UND

A UTOREN

Wagner, Silvan, studierte zuerst Instrumentalpädagogik, dann Germanistik und evangelische Theologie. Promotion im Fach Ältere Deutsche Philologie, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Beginn der Habilitation an der Universität Bayreuth. Gründungsmitglied der Theatergruppe Bumerang, Mitwirkung in den Bereichen Regie, Schauspiel, Musik, Requisite.

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