Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie: Festschrift für Walter Euchner [1 ed.] 9783428481637, 9783428081639

Wie nur wenige Politologen in Deutschland hat Prof. Dr. Walter Euchner die demokratietheoretische Dimension der politisc

127 96 40MB

German Pages 384 Year 1995

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie: Festschrift für Walter Euchner [1 ed.]
 9783428481637, 9783428081639

Citation preview

Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie Festschrift für Walter Euchner

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 84

Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie Festschrift für Walter Euchner

lIerausgegeben von

Richard Saage

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Das Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie: Festschrift für Walter Euchner / hrsg. von Richard Saage. - Berlin : Duncker und Humblot, 1995 (Beiträge zur politischen Wissenschaft; Bd. 84) ISBN 3-428-08163-3 NE: Saage, Richard [Hrsg.]; Euchner, Walter: Festschrift; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1995 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübemahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 3-428-08163-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANSI-Norm für Bibliotheken

Inhaltsverzeichnis I. Einleitung

Richard Saage Einleitung ......................................................... .

9

11. Die Linke und das Legitimationsproblem der Diktatur Helga Grebing Warum so viel "freiwillige Blindheit"? Betrachtungen zur Legitimation von kommunistischer terroristischer Herrschaft durch Intellektuelle ...........

35

Gert Schäfer Lenin und Stalin als Diktatoren .......................................

47

Joachim Petzold Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats .................

59

lvan Prpic Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

79

Eun-Jeung Lee Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur .............

95

lonna Kut;uradi Der Begriff der Erziehungsdiktatur und die Erziehungsrevolution am Beispiel Atatürks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 113

111. Legitimatorische Muster rechter Diktaturen Hans-Georg Marten Das Legitimationsmuster Rassenhygiene. Anthropologische Grundlagen der NS-Rassendoktrin am Beispiel Fritz Lenz' "Menschliche Auslese und Rassenhygiene" aus dem Jahre 1921 ...................................... 123 Francesca Rigotti und Lorenzo Ornaghi Die Rechtfertigung der faschistischen Diktatur durch die Romanität

141

Wolfgang Maderthaner Legitimationsmuster des Austrofaschismus ............................. 159 Feliks Tych Legitimationsideologien der Pilsudski-Herrschaft ....... . ........ . . . ..... 179 Hans-Jürgen Puhle Autoritäre Regime in Spanien und Portugal. Zum Legitimationsbedarf der Herrschaft Franeos und Salazars ...................................... 191

6

Inhaltsverzeichnis

Peter Waldmann "Was ich mache ist Justicialismus, nicht Liberalismus". Menems Peronismus und Perons Peronismus: ein vorläufiger Vergleich .................. 207 Eun-Jeung Lee Kontinuität und Wandel in der Legitimationsstrategie der Herrschaft von 227 Park Chunghee

IV. Das Scheitern der diktatorischen Legitimationsmuster und die Zukunftsrähigkeit der Demokratie [ring Fetscher Lernfähigkeit eine Voraussetzung für das Überleben politischer Einheiten. Gegenbeispiele: Drittes Reich und Sowjetunion ......................... 245 Hans Mommsen Die NSDAP als faschistische Partei ................................... 257 Jürgen Fijalkowski Die Zukunftsgewißheit rechtsstaatlicher Demokratie. Historische Rechtfertigung und Warnung vor Selbsttäuschung ............................... 273 Udo Bermbach Ambivalenzen liberaler Demokratien .......................... . ....... 289 Bassam Tibi Fundamentalismus und Totalitarismus in der Welt des Islam. Legitimationsideologien im Zivilisationskonflikt: Die Hakimiyyat AllahlGottesherrschaft 305 Rainer Eisfeld Ein "dritter Weg" in Europa - Illusion oder fortdauernde Perspektive? .... 319 Brigitte Gess Zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus .................................................... . 331 V. Anhang

Martin Kühnel und Gerlinde Sommer Zur Tragweite der Diktaturen im 20. Jahrhundert für die Gegenwart. Zusammenfassung der Diskussionen des Symposiums zu Ehren des 60. Geburtstags von Walter Euchner "Grundmuster von Legitimationsideologien diktatorischer Herrschaft im internationalen Vergleich" vom 4. bis 6. November 1993 in Göttingen ....................................... 347 Schriftenverzeichnis von Walter Euchner ........................ . ......... 361 Über die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Personenregister ........................................................ 373

I. Einleitung

Einleitung Von Richard Saage I. Vom 4. - 6. November 1993 fand im Seminar für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen ein wissenschaftliches Symposium zum Thema "Grundmuster von Legitimationsideologien diktatorischer Herrschaft im internationalen Vergleich" 1 statt, aus dessen Referaten und Diskussionen die vorliegende Festschrift zu Ehren des 60. Geburtstages von Walter Euchner hervorgegangen ist. Ich kenne ihn seit dem Sommersemester 1965, als ich, zusammen mit Bassam Tibi und Hans Grünberger, an einem Seminar über das Naturrecht bei Thomas Hobbes teilnahm, das er an der Frankfurter Universität leitete. Diese Veranstaltung sollte nicht nur für meine spätere intellektuelle Entwicklung entscheidend sein; sie war auch der Beginn einer intensiven wissenschaftlichen Kommunikation mit ihm, die bis auf den heutigen Tag nicht abgebrochen ist. Daß sie ein festes freundschaftliches Fundament hat, ist zum großen Teil den Eigenschaften Walter Euchners geschuldet, die ich immer an ihm bewundert habe: das Fehlen jeglicher Arroganz und Eitelkeit, die Fähigkeit zum Dialog, verbunden mit der Bereitschaft, die Argumente anderer genau und gewissenhaft zu prüfen und nicht zuletzt seine unbedingte Zuverlässigkeit, die Ausfluß einer persönlichen Integrität ist, die ich mir immer zum Vorbild genommen habe. Als ich Walter Euchner im Sommersemester 1965 kennenlernte, hatte er bereits von 1953 bis 1958 das Studium der Rechtswissenschaften an den Universitäten Tübingen, München und Heidelberg mit dem Ersten Staatsexamen abgeschlossen. Von 1958 bis 1963 studierte er dann an den Universitäten Tübingen und Frankfurt am Main Politikwissenschaft, Soziologie I Vgl. Martin Kühnel und Gerlinde Sommer, Zur Tragweite der Diktaturen im 20. Jahrhundert für die Gegenwart. Zusammenfassung der Diskussionen des Symposiums zu Ehren des 60. Geburtstages von Walter Euchner "Grundmuster von Legitimationsideologien im internationalen Vergleich" vom 4. - 6. November 1993 in Göttingen, in diesem Band S. 347 - 359. Vgl. auch Walter Reese-Schäfer, Bericht über das Internationale wissenschaftliche Symposium "Grundmuster von Legitimationsideologien diktatorischer Herrschaft im internationalen Vergleich" vom 4. - 6. November 1993 in der Göttinger Universität zum 60. Geburtstag von Walter Euchner, in: IWK, 29. Jg. (1993), S. 519 - 525.

10

Richard Saage

und Geschichte. In seiner Tübinger Zeit lernte er Iring Fetscher kennen, an dessen Institut er von 1963 bis 1969 Wissenschaftlicher Assistent an der Frankfurter Universität war. In dieser Zeit beende te er seine Übersetzung des Hobbesschen "Leviathan" ins Deutsche, deren Präzision und kongeniale sprachliche Ausdruckskraft im In- und Ausland große Anerkennung gefunden hat. Zugleich legte er 1967 seine Dissertation über "Naturrecht und Politik bei John Locke" vor. Sie hat nicht nur das Locke-Bild in der Bundesrepublik entscheidend beeinflußt; darüber hinaus enthält sie eine systematische Gegenüberstellung des traditionellen mit dem modemen Naturrecht, die das, was sie trennt und verbindet, in gültiger Weise herausarbeitet. Von 1969 bis 1971 war Walter Euchner Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Das Habilitationsprojekt über die Korrelation von Eigentum und Herrschaft in der politischen Ideengeschichte konnte er vorerst nicht vollenden, da er 1971 den Ruf auf die Universitätsprofessur für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen annahm. Aus der Fülle der Arbeiten, die seitdem entstanden sind, möchte ich den Sammelband "Egoismus und Gemeinwohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie" (1973) nennen, der die vorläufige Summe seiner Beschäftigung mit der politischen Ideengeschichte enthält. Diesem Band folgte 1983 seine Monographie über "Karl Marx", die das Resultat seiner intensiven Auseinandersetzung mit diesem Denker seit den 60er Jahren ist. 1992 hat er die zweibändige Edition "Klassiker des Sozialismus" herausgegeben, die in eindrucksvoller Weise das internationale Spektrum des sozialistischen Diskurses aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart dokumentiert. Wie wenige Politologen in der Bundesrepublik hat Walter Euchner es verstanden, die Erkenntnisse aus seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der politischen Ideen für die Analyse von Gegenwartsproblemen fruchtbar zu machen: davon zeugen seine Untersuchungen des parlamentarischen Systems der Bundesrepublik und der Enquetekommissionen der Länder (zusammen mit Frank Hampel und Thomas Seidl) ebenso wie z.B. sein Aufsatz über das "Altem der revolutionären Ideen", in dem er in charakteristischer Weise die Spannung zwischen politischem Ideal und der Realität bei den Denkern von der großen Französischen Revolution bis zur Studentenbewegung der sechziger Jahre herausarbeitet. Daß sich diese Festschrift mit dem "Scheitern diktatorischer Legitimationsmuster und der Zukunftsfähigkeit der Demokratie" beschäftigt, ist nicht nur auf den Zusammenbruch der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs in Europa zurückzuführen: sie knüpft auch nahtlos an die Erkenntnisinteressen an, die im Zentrum des wissenschaftlichen Werkes von Walter Euchner stehen und unterdessen zu einem Markenzeichen der Göttinger Politologie geworden sind. Doch fast wichtiger ist, daß er den Teilbereich

Einleitung

11

"Politische Ideengeschichte und Politische Theorie" innerhalb der Politikwissenschaft insgesamt nachhaltig beeinflußte. Indem er die demokratietheoretische Dimension der politischen Ideengeschichte zu einem wissenschaftlichen Programm erhob, wurden seine einschlägigen Arbeiten zu einem schulernachenden Korrektiv des normativ-ontologischen Ansatzes, der bis Ende der 60er Jahre in der bundesrepublikanischen Politologie hegemonial war. Euchner ist zwar mit der klassischen Politik der Meinung, daß zu kurz greift, wer das Phänomen der Politik auf den Kampf um die Macht verkürzt. Der wohl verstandene Zweck der Politik ist ihm zufolge stets auch das "bonum commune" gewesen, die Entfaltung eines guten, gerechten und erfüllten Bürgerlebens in einem Gemeinwesen, das diesen Zielen dient. Ebenso klar hat er aber immer wieder auch darauf hingewiesen, daß diese Ziele weniger von der antiken und mittelalterlichen Philosophie als vielmehr vom Emanzipationsdenken der frühbürgerlichen Freiheitsbewegung geprägt wurden, weil es selber Auslöser und Resultat zugleich der Pluralisierung und Individualisierung der modemen bürgerlichen Gesellschaft ist. Politische Philosophie als "Selbstaufklärung der Gesellschaft" - darin ist Euchner sich mit seinem Lehrer Iring Fetscher einig - kann nur gelingen, wenn die Kategorien, die Freiheit einklagen, nicht von außen an sie herangetragen werden, sondern das Resultat ihrer eigenen Geschichte sind. Es ist ihr "überschießend kritischer Sinn", so Euchner, dem die Einsicht in die Veränderung und prinzipielle Veränderbarkeit der gesellschaftlichen Verhältnisse entspricht, von dem ihr Geltungsanspruch ausgeht. Was ist unter der für Walter Euchners ideengeschichtliche Arbeiten so zentralen Kategorie des "überschießenden Gehalts" zu verstehen? Er hat sie nie als eine ahistorische oder vorgesellschaftliche Konstante begriffen. Vielmehr handelt es sich um eine Verallgemeinerungstendenz, die von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart aufweisbar ist. So hat das frühe Bürgertum vom 16. bis zum 18. Jahrhundert Gleichheit gegenüber dem Adel gefordert, aber nicht für die Nichtbesitzenden. Als sich der "vierte Stand" im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung zur Arbeiterklasse formierte, richtete er jetzt die Gleichheitsforderung gegen das Besitz- und Bildungsbürgertum. Nachdem die Interessen der Arbeiterschaft im Rahmen des Sozialstaates zumindest annäherungsweise eingelöst worden sind, fordern in einem ganz anderen sozio-kulturellen Kontext die schwarze Majorität in Südafrika die Aufhebung der Apartheid und die Frauenbewegung die Chancengleichheit des weiblichen Teils der Bevölkerung gegenüber den Männern. Der "überschießend kritische Sinn" des Gleichheitspostulats besteht also darin, daß dieser Begriff eine gesellschaftsimmanente Eigendynamik entfaltet, die Züge eines Universalismus erkennen läßt, der freilich durchaus - wie die individuellen Menschenrechte zeigen - mit ethnischen Besonderheiten vereinbar ist.

12

Richard Saage

Walter Euchner ist sich stets darüber im klaren gewesen, daß die Prämissen dieser methodologischen Option und die ihnen zugrundeliegenden Werte und Normen den Konkurrenzdruck anderer Ansätze auszuhalten haben, weil es einen privilegierten Zugang zur Wahrheit nicht gibt. Wenn er sich zu der Auffassung bekennt, daß politische Theorie und Ideengeschichte ein unverzichtbarer Teil des Faches "Politikwissenschaft" sind, dann ist das für ihn alles andere als selbstverständlich. Tatsächlich hat sich im 20. Jahrhundert, wie er schreibt, "im Zeichen fortschreitender Rationalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft ( ... ) in allen Bereichen der Sozialwissenschaften jene Auffasung in den Vordergrund (geschoben), welche Wissenschaft allein als Aggregat von möglichst sozialtechnisch nutzbaren, nomologischen, empirisch überprüfbaren Sätzen und methodologischen Anweisungen zu deren Ermittlung versteht,,2. Diese Verwissenschaftlichung der Politologie im letzten Jahrzehnt hat Euchner nie abgelehnt. Ihm zufolge hat der szientifische Ansatz sein unbestreitbares Recht, wenn es um die Erforschung des quantitativen Aspekts der sozio-politischen Realität geht. Aber darüber, welchen Sinn und welche Relevanz seine Befunde haben, kann er ohne normative Kriterien keine Aussagen machen. Dies wissend, hat Walter Euchner in seinen Forschungen niemals vergessen, daß Politik nicht in ihrem empirischen Substrat aufgeht. Wer daher das Angebot der politischen Ideengeschichte, nämlich durch kontinuierliche Diskussion geprüfte Relevanzkriterien zu bieten, ausschlägt, muß wissen, was er tut: ohne normative Orientierungsmaßstäbe sind die Resultate jeder empirischen Untersuchung gleich wichtig. Er droht, sich in der Erforschung von Trivialitäten zu verlieren. Doch diese am frühneuzeitlichen Emanzipationsdenken orientierte Normativität ist für Euchner gleichfalls alles anderes als nicht mehr hinterfragbar. Ihm ist bewußt, daß das von ihm vertretene Paradigma nicht haltbar wäre, wenn der Mensch wirklich, wie Nietzsche sagt, das zur "Chaotik, zur Ausartung bereite Tier" ist. Doch er kann darauf verweisen, daß die Ergebnisse einer Anthropologie, wie Amold Gehlen sie z.B. betrieben hat, ungesichert sind. Es gibt in der Tat gute Gründe, die eigentliche Gefahr für die Zukunft der Menschheit in der Aufrechterhaltung irrationaler Herrschaft zu sehen, aus der Frustration, Aggression und psychische Verkümmerung folgen. Dieser methodologischen Selbstreflexion entspricht, daß sich Euchner in seinen ideengeschichtlichen Arbeiten nicht in naiver Weise auf das frühbürgerliche Emanzipationspotential bezieht. Zunächst distanziert er sich von allen Varianten offener oder verschwiegener Teleologien. Die Verallgemeinerungstendenz der frühbürgerlichen Emanzipationspostulate, so müssen 2 Vgl. Wa1ter Euchner, Demokratietheoretische Aspekte der politischen Ideengeschichte, in: ders., Egoismus und Gemeinwohl. Studien zur Geschichte der bürgerlichen Philosophie, Frankfurt am Main 1973, S. 13.

Einleitung

13

wir ihn interpretieren, ist nicht die Konsequenz eines zielgerichteten Geschichtsprozesses. Ob sie sich durchsetzt oder nicht, hängt nicht von der wirklichkeitsverändernden Kraft einer Geschichtsphilosophie ab, sondern von konkreten gesellschaftlichen Konflikten und Auseinandersetzungen, die Regressionen durchaus einschließen, wie Imperialismus und Faschismus unübersehbar gezeigt haben. Gerade durch den Aufweis historisch und gesellschaftlich einmaliger Umstände, unter denen politische Ideen entstanden und wirksam wurden, entzieht er der Konstruktion sogenannter "historischer Notwendigkeiten" den Boden. Sodann hat er immer wieder verdeutlicht, daß das früh bürgerliche Denken von materiellen und patriarchalischen Interessenlagen beeinflußt worden ist, die zugleich seine kognitiven Schranken konstituierten. Dieses Insistieren auf der materiellen Verankerung politischer Ideen hat ihn im übrigen vor der Versuchung bewahrt, die politische Ideengeschichte als einen Steinbruch zu betrachten, aus dem sich jeder je nach Bedarf für irgendwelche Zwecke bedienen kann. So gesehen, ist die ideologiekritische Dimension für Euchners ideen geschichliches Paradigma zwar zentral. Aber ihr spezifischer Sinn wird erst durch ihren Bezug auf das deutlich, was gerade nicht wissens soziologisch relativiert werden kann. Mit ihr will er nicht einem materialistischen Reduktionismus das Wort reden. Ihre Bedeutung liegt woanders. Erst dann ist ganz zu begreifen, was an politischen Ideen "überschießend", d.h. generalisierbar ist, wenn dargelegt wurde, welchen materiellen und sozio-kulturellen Interessenlagen sie in ihrem Entstehungszusammenhang entgegenkamen. Schiller brachte diesen Gehalt politischer Ideen, der für Euchners Forschungen ebenso zentral ist wie die Ideologiekritik, auf eine prägnante Formel. In seinem Aufsatz "Über das Erhabene" schrieb er: " ... des Menschen (ist) nichts so unwürdig, als Gewalt zu erleiden, denn Gewalt hebt ihn auf. Wer sie uns antut, macht uns nichts Geringeres als die Menschheit streitig; wer sie feigerweise erduldet, wirft seine Menschheit weg,,3.

11. Kann es für diesen Band ein treffenderes Motto geben? Tatsächlich scheint im Ausgang des 20. Jahrhunderts eines festzustehen: Mit dem Zusammenbruch der diktatorischen Regime der Gesellschaftsordnungen des sowjetischen Typs und der schon Jahre zuvor gescheiterten faschistischen und rechtsorientierten Diktaturen in Mittel- und Südeuropa ist entschieden, was in der Zwischenkriegszeit und selbst noch nach dem Zweiten Weltkrieg eine offene Frage war: Auch wenn die Demokratisierungsprozesse in Osteuropa, Asien und Südamerika keineswegs gesichert sind und sich die 3 Friedrich Schiller, Über das Erhabene, in: Schillers Werke in zwei Bänden, hrsg. v. Gerhard Stenzel, Salzburg/Stuttgart o.J., S. 514.

14

Richard Saage

Indizien eines Glaubwürdigkeitsverlustes von "Realpolitik" in den politischen Systemen des Westens mehren, hat der Verfassungstyp "westliche Demokratie" stabilere Strukturen hervorgebracht als die Diktaturen rechter und linker Provenienz. Daß die liberale Demokratie der Herausforderung rechter und linker Totalitarismen sowie autoritärer Regime nicht nur standgehalten, sondern sie überlebt hat, ist sicherlich einer Fülle von innen- und außenpolitischen Faktoren zuzuschreiben. Doch zu vermuten ist auch, daß es Gründe gibt, die dieses Scheitern aus den Legitimationsideologien diktatorischer Herrschaft selbst zu erklären vermögen. In der Literatur kommt dieser Fragestellung die Monographie von Karl Dietrich Bracher "Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert" am nächsten. Doch Brachers Arbeit wurde 1982 veröffentlicht. Sie geht von der Prämisse aus, daß es schwer, wenn nicht unmöglich ist, "ideologische Regime von innen zu überwinden, solange und sofern sie im Alleinbesitz der Kommunikationsmittel sind,,4. Heute wissen wir, daß in den ideologischen Systemen Osteuropas, allen voran in der ehemaligen Sowjet-Union, Reformen eingeleitet wurden, deren Eigendynamik diese Regime selber zum Opfer fielen: es handelt sich um eine historisch neuartige Erfahrung, in deren Licht - im Unterschied zu Brachers Erkenntnisinteresse - das Phänomen der Diktatur erneut zu untersuchen ist. Um es analysieren zu können, wird in dem vorliegenden Band unter "Legitimationsmustern" ein Komplex von normativen sowie von politik- und sozialstrukturellen Aussagen verstanden, mit denen die Exponenten eines diktatorischen Herrschaftssystems im 20. Jahrhundert ihre politischen Ziele charakterisierten. Zugleich hielten sie diese für geeignet, in der in- und ausländischen Öffentlichkeit Anerkennung und Unterstützung des von ihnen propagierten Systems und seiner Machtausübung zu verschaffen. Von Legitimationsmustern ist die Rede, weil von der Annahme ausgegangen wird, daß in diesen Herrschaftsideologien regelmäßig wiederkehrende Aussagen auftauchen, die das Verhältnis von Führung und Masse, von veraltetem und neuem System, die neue Werteordnung, die Unterscheidung von Freund und Feind, das Ziel der Geschichte und dergleichen betreffen, so daß gedankliche Konfigurationen erkennbar werden. Der Begriff "diktatorische Herrschaft" schließlich ist als übergreifende Kategorie für autoritäre und totalitäre Regime zu verstehen. Dies vorausgesetzt, spitzt sich das entscheidende Problem auf drei Fragen zu: Worin liegt der Unterschied und die Übereinstimmung in den Grundlagen linker und rechter Diktaturen? Warum vermochten es beide Linien und ihre jeweiligen Varianten trotz unterschiedlicher ideologischer Stoßrichtung 4 Vgl. Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 14.

Einleitung

15

nicht, eine dauerhafte Herrschaftsordnung im Bewußtsein der breiten Masse der Bevölkerung zu verankern? Und läuft der Zusammenbruch dieser diktatorischen Systeme auf eine automatische Bestandssicherung der westlichen Demokratie hinaus? Es liegt nahe, sich zunächst Klarheit über die verschiedenen Legitimationsvarianten der beiden Diktatur-Typen zu verschaffen, bevor auf die Demokratie-Problematik eingegangen wird. Der erste Schwerpunkt konzentriert sich daher auf das Diktaturproblem der Linken. Wenn der ursprünglich emanzipatorische Impetus des bolschewistischen Experiments zu einer zynischen Despotie verkam, dann stellt sich die Frage, warum namhafte Intellektuelle dennoch von diesem System so fasziniert waren, daß sie lange Zeit dessen Existenz mit ihrer eigenen Identität verbanden. Diesem Problem wendet sich Helga Grebini zu. Ihre entscheidenden Fragen lauten: "Wer hat warum und wie die frühe SowjetUnion, den späten Stalinismus erst in einem Lande und dann als projektiertes Weltsystem durch großes Wort und in schöner Schrift in dem jeweiligen historischen So-Sein legitimiert?". Und worin bestand der "unfreiwillige Beitrag" dieser Intellektuellen zur Zerstörung der kommunistischen Utopie? Gert Schäfer6 vertieft in seinem Beitrag diese Fragestellung, indem er das legitimatorische Selbstverständnis der führenden bolschewistischen Akteure untersucht. Vermag es deren tatsächliches Handeln und seine Folgen zu erklären? Warum rechtfertigten auch jene Bolschewiki, denen eine persönliche Integrität nicht abgesprochen werden kann, die Zwangs- und Terrorherrschaft in Rußland selbst nach dem siegreich beendeten Bürgerkrieg? Welcher Metamorphose waren Lenins Rechtfertigungsversuche der "Diktatur des Proletariats" in Stalins Despotie ab Ende der 20er Jahre unterworfen? Von welchen anderen Triebkräften wurden die Legitimationsmuster und dogmatischen Prämissen des Stalinismus überlagert? Und sind trotz aller Differenzen auch substantielle Gemeinsamkeiten zwischen den legitimatorischen Paradigmen Lenins und Stalins zu erkennen? Andere Beiträge untersuchen, wie die Formel der "Diktatur des Proletariats" von den kommunistischen Herrschaftssystemen in der DDR, in Jugoslawien und in China adaptiert worden ist. Die DDR legitimierte sich als "Arbeiter- und Bauern-Staat"; der Begriff der "Diktatur des Proletariats" findet sich nur in den Parteidokumenten der SED. Wenn sich dergestalt die Partei leitung scheute, ihn auch auf den Staat zu übertragen, dann stellt sich die Frage, die Joachim Petzold7 diskutiert: Warum ist unter diesen Bedin5 Vgl. Helga Grebing, Warum so viel "freiwillige Blindheit"? Betrachtungen zur Legitimation von kommunistischer terroristischer Herrschaft durch Intellektuelle, in diesem Bd. S. 35 - 46. 6 Vgl. Gert Schäfer, Lenin und Stalin als Diktatoren, in diesem Bd. S. 47 - 57. 7 Vgl. Joachim Petzold, Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats, in diesem Band S. 59 - 78.

16

Richard Saage

gungen das Legitimationsmuster "Diktatur des Proletariats" überhaupt noch von der Masse der SED-Mitglieder und den Intellektuellen akzeptiert worden? Seine Ausführungen legen ebenso wie der Beitrag von lvan Prpic 8 über die legitimatorischen Grundlagen der Herrschaft Titos dar, daß die Antwort die Fundamente selbst berührt, auf denen die kommunistische Ideologie als eine Legitimations- und Konstitutionstheorie gleichermaßen beruht. Er weist zu Recht darauf hin, daß die Auseinandersetzung mit der jugoslawischen Version der "Diktatur des Proletariats" in zweierlei Hinsicht lohnend ist. Einerseits vermag die Art, wie sie ausgeübt wurde, erheblich zur Erklärung des Ausbruchs eines blutigen Bürgerkriegs in diesem Lande beizutragen. Andererseits hat die jugoslawische Variante dieser Formel die Gestalt der sozialistischen Selbstverwaltung angenommen: sie stellt damit den radikalsten Versuch dar, das ursprüngliche kommunistische System zu reformieren. Wenn er dennoch scheiterte, ist die Hypothese realistisch, daß er noch schärferes Licht auf die Gründe des schließ lichen Zusammenbruchs der Herrschaftsordnungen des sowjetischen Typs wirft als dessen klassisches Modell selbst. Eun-Jeung Lee 9 skizziert Kontinuität und Wandel der Legitimationsmuster, mit denen die KPCh von Mao bis Deng ihre "Diktatur des Proletariats" rechtfertigte. Aus welchen Quellen speisten sich die "Gedanken Maos" während der nationalen Befreiungskämpfe? Welche Rolle spielte für sie die Utopie eines "neuen Menschen" und einer "neuen Gesellschaft"? Welche konkurrierenden Legitimationsmuster standen sich während des Aufbaus des Sozialismus unter Mao gegenüber? Und auf welche legitimatorischen Ressourcen griff der "Neo-Autoritarismus" unter Deng zurück, in dessen Zeichen der marktorientierte Modernisierungsprozeß in China weiter vorangetrieben worden ist als in anderen sozialistischen Ländern? Das klassische links au tori täre Regime, das sich der Formel der "Diktatur des Proletariats" konsequent verweigerte, ist die Republik Atatürks in der Zwischenkriegszeit. loanna Kur;uradi 10 untersucht, warum dessen Reformen eine Erziehungsrevolution und nicht eine Erziehungsdiktatur zugrundeliegt. Doch mit welcher Werteerkenntnis begründete er seine Erneuerung der sozio-politischen Institutionen der neugegründeten türkischen Republik? Welchen Traditionen der eüropäischen Aufklärung ist sie verpflichtet? Und für welche Kriterien optierte er, wenn er sich für bestimmte Normen entschied und andere verwarf?

8 Vgl. Ivan Prpic, Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien", in diesem Bd. S. 79 - 94. 9 Vgl. Eun-Jeung Lee, Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur, in diesem Bd. S. 95 - 111. IO V gl. Ioanna Kuc;:uradi, Der Begriff der Erziehungsdiktatur und die Erziehungsrevolution am Beispiel Atatürks, in diesem Bd. S. 1 \3 - 119.

Einleitung

17

Der zweite Schwerpunkt gilt der Untersuchung rechter Legitimationsmuster diktatorischer Herrschaft. Wer sie am Beispiel des "Dritten Reiches" untersuchen will, darf über die nationalsozialistische Rassenhygiene nicht schweigen. Heinz-Georg Marten" befaßt sich mit der noch immer unzureichend erforschten ideengeschichtlichen Genesis des rassistischen Paradigmas. Wie wurde es von Hitler rezipiert und in seiner Politikkonzeption umgesetzt? Worin besteht die Pseudowissenschaftlichkeit seines Geltungsanspruches? Und welchem Rechtfertigungsbedürfnissen der nationalsozialistischen Akteure kam es entgegen? Der italienische Faschismus erschloß demgegenüber seine legitimatorischen Ressourcen aus dem Mythos der Romanität. Francesca Rigotti und Lorenzo Ornaghi'2 verdeutlichen nicht nur dessen ideen geschichtliche Ursprünge, sondern auch seine Funktionen für die normative Bestandssicherung der Diktatur Mussolinis. Fühlte sich der italienische Faschismus dem Rom der Kaiserzeit oder dem Rom der Republik zugehörig? Welche semantischen Bedeutungsnuancen des Begriffs "Duce" sind dem Mythos der Romanität geschuldet? In welchem Verhältnis steht der faschistische Tugendkatalog zu ihnen ? Welche Rolle spielte die durch Machiavelli und die Französische Revolution vermittelte Romanität für die Entwicklung einer "bürgerlichen Religion", die der Korruption sowie den Gruppen- und Klassenkonflikten gegenübergestellt wurde? Diskutiert wird aber auch die legitimatorische Bedeutung, die die Aufwertung des "organischen" römischen Musters und die gleichzeitige Absage an die individualistischen und atomistischen Ordnungsvorstellungen der griechischen Antike für das Staatsverständnis des italienischen Faschismus hatte. Wie sind nun aber die Legitimationsmuster des Austrofaschismus zu kennzeichnen, der seine Diktatur im Spannungsfeld zwischen der Autokratie Mussolinis und dem "Dritten Reich" errichtete? Wolfgang Maderthaner'3 zeigt auf dem Hintergrund der ab 1929 einsetzenden wirtschaftlichen und sozialen Krise, warum der Rückgriff auf vormoderne Leitbilder, die vom christlichen Ständestaat über den mystifizierenden Entwurf einer kulturellen Sendung Österreichs als "Ostmarkwächter" bis zu seiner Rolle des Garanten des "christlichen Abendlandes" reichten, das austrofaschistische Regime nicht dauerhaft zu stabilisieren vermochte. Sein Beitrag verdeutlicht zugleich, welche Bedeutung die Geschichtsmetaphysik Othmar Spanns 11 Vgl. Heinz-Georg Marten, Das Legitimationsmuster Rassenhygiene. Anthropologische Grundlagen der NS-Rassendoktrin am Beispiel Fritz Lenz' "Menschliche Auslese und Rassenhygiene" aus dem Jahr 1921, in diesem Bd. S. 123 - 140. 12 Vgl. Francesca Rigotti und Lorenzo Omaghi, Die Rechtfertigung der faschistischen Diktatur durch die Romanität, in diesem Bd. S. 141 - 157. 13 Vgl. Wolfgang Maderthaner, Legitimationsmuster des Austrofaschismus, in diesem Bd. S. 159 - 178.

2 FS Euchner

18

Richard Saage

für die Rechtfertigung des Ständestaates hatte und warum die Frontstellung gegen die Sozialdemokratie und den Nationalsozialismus zugleich dieses Regime auch legitimatorisch von Anfang an überfordern mußte. Feliks Tych 14 zeigt, daß Pilsudskis Diktatur im Spektrum rechter Legitimationsstrategien der Zwischenkriegszeit eine Sonderstellung einnimmt. Auf Symbole nationaler Größe und historischer Vorbilder weitgehend verzichtend, hatte er eher eine kritische Distanz zu seinem Volk. Dennoch ist auch seine Diktatur, die die formalen Hüllen der parlamentarischen Demokratie niemals abstreifte, ohne die Propagierung einer "moralischen Revolution" nicht ausgekommen. Was verstand er unter dieser Formel? Und ist sein Regime überhaupt als "rechts" einzustufen, nachdem die Linke seinen Staatsstreich von 1926 unterstützt hatte? Ähnlich wie das Regime Pilsudskis sind die Diktaturen Francos in Spanien und Salazars in Portugal mit einem Minimum an Legitimationsbeschaffung ausgekommen. Dies vorausgesetzt, konzentriert sich Hans-Jürgen Puhle 15 , auf zwei Fragen: "Erstens: Mit wie wenig Legitimation kann solch ein autorit'äres Regime auskommen, und wie lange kommt es damit aus? Und zweitens: Wann und wo treibt ein Bedarf an vermehrter Legitimation, die mehr ist als diffuse support oder contingent consent, ein solches Regime über sich hinaus, sei es in neue Formen eines veränderten Regimes oder in den Untergang?" Die Legitimationsmuster rechter Diktaturen werden im außereuropäischen Kontext am Beispiel des latein-amerikanischen Caudillismus, in dessen Tradition das Regime Perons in Argentinien stand, und der autoritären Herrschaft Parks in Südamerika untersucht. Peter Waldmann 16 führt einen Vergleich zwischen den politischen Programmen, den autoritär-plebiszitären Führungsstilen und der Machtbasis des Peronismus Menems und Perons durch. Welchen Geltungsanspruch haben für sie rechtsstaatliche Prinzipien, Parlamentarismus, Parteien, Verfassungsprinzipien und Wahl versprechen auf der einen und die verfassungsrechtlich nicht normierten Machtkomplexe wie das Militär, die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände auf der anderen Seite? Welche Rolle spielten der autoritäre "starke" Staat und die "Nation", aber auch die durch soziale Reformen oder liberale Modernisierungspolitik begründete Zustimmung des Volkes für die Rechtfertigung ihrer Politik? Waldmanns Ausführungen schließen ab mit Überlegungen zu den möglichen Funktionen eines "modernisierten" Pero14 Vgl. Feliks Tych, Legitimationsideologien der Pilsudski-Herrschaft, in diesem Bd. S. 179 - 189. 15 Vgl. Hans-Jürgen Puhle, Autoritäre Regime in Apsnien und Portugal: Zum Legitimationsbedarf der Herrschaft Francos und Salazars, in diesem Bd. S. 191 - 205. 16 Vgl. Peter Waldmann, "Was ich mache, ist lusticialismus, nicht Liberalismus". Menems Peronismus und Perons Peronismus: ein vorläufiger Vergleich, in diesem Bd. S. 207 - 226.

Einleitung

19

nismus im Ausgang des 20. Jahrhunderts. Demgegenüber zeichnet EunJeung Lee l7 die wichtigsten legitimatorischen Paradigmen nach, innerhalb derer Park Chunghee in Südkorea während der Phase seiner Machtübernahme (1960 - 63), der Konsolidierung seiner Herrschaft (1963 - 1971) und schließlich während seiner offenen Diktatur im Rahmen des Yushen-Regimes (1972 - 79) seine autoritäre Herrschaft rechtfertigte. Was ist - im Vergleich zum westlichen Demokratieverständnis - unter seiner Konzeption der "Verwaltungsdemokratie" einerseits und der "koreanisierten Demokratie" andererseits zu verstehen? Welchen Stellenwert hatte für ihn die Modernisierung als Legitimationsbasis im Vergleich zum Traditionalismus, Nationalismus und Antikommunismus? Im dritten Teil schließlich wird das "Scheitern der diktatorischen Legitimationsmuster und die Zukunftsfähigkeit der Demokratie" thematisiert. Das Diktum Karl Deutschs, daß Macht die "Fähigkeit, nicht lernen zu müssen", ist, hat sich im sozial wissenschaftlichen Diskurs längst als ein klassisches Paradigma bewährt. Doch zu welchen Einsichten verhilft es uns, wenn wir in seinem Rahmen das Scheitern der Diktaturen des "Dritten Reiches" und der Sowjet-Union interpretieren? [ring Fetscher l8 zeigt nicht nur, wie es zur institutionell verfestigten Lemunfähigkeit des nationalsozialistischen Herrschaftssystems kam und warum sie eine Kursänderung im Zweiten Weltkrieg selbst zu einem Zeitpunkt verhinderte, als klar war, daß die gesteckten Kriegsziele nicht erreicht werden konnten. Darüber hinaus diskutiert er das Problem, warum die Bolschewiki, allen voran Lenin, zwar in der russischen Revolution von 1917 in ihrer Lemfähigkeit allen anderen politischen Kräften überlegen waren. Doch stellten sie mit der Etablierung ihrer Macht eben jene Weichen, die zur Sklerose des Sowjetsystems führten, an der schließlich auch die Reformen Gorbatschows scheiterten. Hans Mommsen l9 untersucht, warum sich dieser Umschlag im "Dritten Reich" schneller vollzog als in der Sowjet-Union. Am Beispiel der Struktur der NSDAP kann er zeigen, daß der totalitarismus theoretische Ansatz nicht geeignet erscheint, diese Frage hinreichend zu beantworten. Doch worin bestehen die charakteristischen Unterschiede zwischen der NSDAP und den kommunistischen Kaderparteien? Wie läßt sich das spezifisch faschistische Profil der nationalsozialistischen Massenpartei kennzeichnen? Und wie wirkte sich Hitlers dynamisch-visionäres Politikverständnis auf ihre innere Verfassung aus? Darüber hinaus zeigt er, welche Bedeutung die in der 17 Vgl. Eun-Jeung Lee, Kontinuität und Wandel in der Legitimationsstrategie der Herrschaft von Park Chunghee, in diesem Bd. S. 227 - 242. 18 Vgl. Iring Fetscher, Lernfähigkeit eine Voraussetzung für das Überleben von politischen Einheiten (Gegenbeispiele: Drittes Reich und Sowjetunion), in diesem Bd. S. 245 - 255. 19 Vgl. Hans Mommsen, Die NSDAP als faschistischistische Partei, in diesem Bd. S. 257 - 271. 2*

20

Richard Saage

"Bewegungsphase" der NSDAP eingeübten Aktionsformen für das innere Gefüge des "Führerstaats" hatten. Demgegenüber wirft ]ürgen Fijalkowski 20 die Frage auf, warum die politisch-institutionellen, ökonomischen, sozialstrukturellen, kulturellen und internationalen Bedingungen faschistischer und leninistischer Diktaturen der Vergangenheit angehören. Haben die rechtsstaatlichen Demokratien, dies vorausgesetzt, Grund zur Zukunftsgewißheit, obwohl sie mit den Problemlagen der unterentwickelten Länder des Südens sowie Osteuropas und mit einer defizitären Sozialintegration in ihrem eigenen Herrschaftsbereich konfrontiert sind? Auch Udo Bermbach 21 konstatiert "Ambivalenzen der Demokratie". Seine Überlegungen gehen von der Prämisse aus, daß stabile Institutionen immer auch der "geronnene Ausdruck" von Wertvorstellungen sind, die einer Gesellschaft erst ihre, wenngleich vielleicht nur fiktive Identität stiften. Dieses Verhältnis von kollektivem Wertehorizont und institutionellem Gefüge steht im Zentrum seiner Reflexionen. Sie kulminieren in der systematischen Frage: Wie muß angesichts massiver Individualisierungstendenzen und ethno-kultureller Fragmentierungen diese Beziehung beschaffen sein, wenn die Zukunftsfähigkeit des Verfassungstyps "westliche Demokratie" gesichert sein soll? Deren eigentliche Herausforderung nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus sieht Bassam Tibp2 nicht mehr im Ost-West-Konflikt, sondern in dem, was Huntington "Zusammenprall der Zivilisationen" (clash of civilizations") genannt hat. Ist die Herausforderung des fundamentalistischen Islam überhaupt noch mit gesinnungsethischen Konzepten wie der "multikulturellen Gesellschaft" oder dem postmodernen "Kulturrelativismus" zu bewältigen? Tibi zeigt nicht nur auf, wie es im historischen Kontext zur Entwicklung vom islamischen Liberalismus zur Frontstellung gegen die westliche Demokratie gekommen ist. Darüber hinaus analysiert er das Problem, inwieweit die fundamentalistische Doktrin des "Gottesstaates" als säkularisierter Totalitarismus zu gelten hat. Rainer Eisjeld23 untersucht die Demokratisierungspotentiale in den westlichen Gesellschaften im Licht des Scheiterns des jugoslawischen Selbstverwaltungssozialismus. Legt es der Zusammenbruch des Kommunismus in Europa nahe, sich mit parlamentarischer Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft als der äußersten 20 Vgl. Jürgen Fijalkowski, Die Zukunfts gewißheit rechtsstaatlicher Demokratie historische Rechtfertigung und Warnung vor Selbsttäuschung, in diesem Bd. S. 273 - 288. 21 Vgl. Udo Bermbach, Ambivalenzen liberaler Demokratien, In diesem Bd. S. 289 - 304. 22 Vgl. Bassam Tibi, Fundamentalismus und Totalitarismus in der Welt des Islam. Legitimationsideologien im Zivilisationskonflikt: Die Hakimiyyat Allah/Gottesherrschaft, in diesem Bd. S. 305 - 318. 23 Vgl. Rainer Eisfeld, Ein "dritter Weg" in Europa? - Illusion oder fortdauernde Perspektive?, in diesem Bd. S. 319 - 329.

Einleitung

21

Grenze menschlicher Selbstbestimmung abzufinden? Stellt sie nunmehr die "Normalität" dar, die sich triumphal über die ganze Erde ausbreitet? Und ist damit die Vorstellung eines sozialistischen Pluralismus, der die maximale Annäherung an den Maßstab politischer Gleichheit einklagt, als formgebendes und konstruktives Konzept absolet geworden? Vor einem Triumphalismus der westlichen Demokratie warnt auch Brigitte Gess 24 . Für sie ist die Aktualität von Hannah Arendts politischer Philosophie weniger Ausdruck einer Modeerscheinung als vielmehr Reflex einer tiefgreifenden Sinnkrise in den westlichen Gesellschaften. Sie fragt, ob nicht die in Arendts Totalitarismustheorie konstatierten Legitimationsdefizite der durch die Industrialisierung hindurchgegangenen Sozietäten auch in den verschiedenen Spielarten der westlichen Demokratie virulent sind. Abschließend diskutiert sie, inwieweit eine mögliche Erneuerung der politischen Partizipation der Bürger in jener Zivilgesellschaft ihr Vorbild haben könnte, für deren normative Grundlagen das Lebenswerk Hannah Arendts steht.

III. Zu welchen Resultaten kommt eine vergleichende Analyse der Legitimationsmuster linker und rechter Diktaturen? Das, was sie verbindet, ist oft genannt worden und wird von den vorliegenden Aufsätzen bestätigt: ihre gegenseitigen Feinderklärungen in Gestalt des "Antimarxismus" auf der einen und des "Antifaschismus" auf der anderen Seite vermag nicht darüber hinwegzutäuschen, daß sie sich in der Ablehnung und Bekämpfung des freiheitlichen Liberalismus und seiner Institutionen in Gestalt der parlamentarischen Demokratie, des Rechtsstaates, der pluralistischen Interessendurchsetzung sowie des grundrechtlich geschützten Individualismus einig sind. Vor allem ist die antiindividualistische Stoßrichtung beider Diktatur-Typen evident: So sah Lenin seine Vision der "neuen" Gesellschaft verwirklicht, wenn "die Verwandlung des Menschen in Rädchen und Schräubchen" in einer "materiellen Organisation, die Millionen Werktätige in der Armee der Arbeiterklasse zusammenfaßt,,25, vollendet ist. Und der Nationalsozialismus machte das Recht des einzelnen auf Leben und Unversehrtheit von seinem Wert für die "Volksgemeinschaft" abhängig 26 . Zugleich trat an die Stelle der diskursiven Kompromißbildung die Gewalt als das entscheidende Mittel der gesellschaftlichen Integration. Sie wurde begleitet von einer Ästhetisierung der Politik durch die kontrollierte Mobilisierung und Formierung der Massen und durch die Verdinglichung von Legitimationsmustern in Gestalt 24 Vgl. Brigitte Gess, Zu Hannah Arendts Totalitarismustheorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, in diesem Bd. S. 331 - 341. 25 Zit. n. Schäfer (Anm. 6), S. 57. 26 Vgl. Marlen (Anm. 11), S. 138.

22

Richard Saage

von Symbolen: diese Ritualisierung der Politik ist am intensivsten im totalitären Spektrum linker und rechter Diktaturen festzustellen; sie nimmt ab, je mehr sie autoritäre Formen annimmt wie die Regime des Austrofaschismus, Francos, Salazars, Pilsudskis, Perons und Parks einerseits und die autoritären Spielarten linker Diktaturen wie die der späten DDR, die föderative Volksrepublik Jugoslawien unter Tito, das kommunistische China unter Deng sowie die türkische Republik unter Atatürk andererseits. Doch diese Gemeinsamkeiten können wichtige Unterschiede nicht verdecken. Zwar vollziehen beide Diktaturtypen die Abkehr vom "bürgerlichen Menschen" und seinem vermeintlichen Eigennutz. Doch in ihrer konsequenten Ausformungen verharren linke Diktaturen nicht wie ihre Antipoden in einer "antibürgerlichen Bürgerlichkeit". Vielmehr streben sie einen "neuen" Menschen als Voraussetzung einer "neuen" Gesellschaft an, der ohne historisches Vorbild ist. Als Ausfluß eines utopischen Rationalismus 27 wird er von Grund auf durch Erziehung neu geschaffen, und zwar nach Kriterien, die das Funktionieren der zukünftigen klassenlosen Gesellschaft garantieren sollen: Erst wenn dieser Prozeß abgeschlossen ist, entfallen die Voraussetzungen einer von der Kommunistischen Partei ausgeübten "Diktatur des Proletariats" und staatlicher Herrschaft überhaupt. Dieser Transformationsprozeß wird als "historische Notwendigkeit" gerechtfertigt: Es ist gerade die "wissenschaftliche" Einsicht in den Verlauf der Geschichte und das "absolute" Wissen um jene historischen Augenblicke, in denen der "Fortschritt" in der Befreiung der Menschheit durch die systematische Anwendung von Gewalt gegen innere und äußere "Feinde" beschleunigt werden kann 28 , die die linke Diktatur rechtfertigen: selbst die perversesten Formen der stalinistischen Despotie können die Tatsache nicht auslöschen, daß sie in ihren Ursprüngen der kollektiven Emanzipationsvariante der Aufklärung verpflichtet war. Freilich nimmt die Intensität des Terrors und die Verbindlichkeit des "neuen" Menschen für die Herrschaftslegitimation linker Diktaturen ab, je mehr sie ihren utopischen Charakter verlieren und sich auf die realen Bewußtseins- und Bedürfnisstrukturen der Menschen einstellen. Zäsuren, die einen solchen Paradigmen wechsel bezeichnen, waren sicherlich der eigenständige Weg Titos in Jugoslawien zum Sozialismus sowie die Reformpolitik Chruschtschows in der SU und Dengs in China. Selbst für einen ideologisierten Staat wie den der DDR war, wie wir sahen, charakteristisch, daß die Formel der "Diktatur des Proletariats" nur in der ideologischen Selbstdarstellung der Partei eine Rolle spielte, aber in den Verfassungsdokumenten fehlte 29 . Ferner darf nicht vergessen werden, daß Ata Türk in der neugegründeten türkischen Republik eine Erziehungsrevolution 27 28 29

Vgl. Grebing (Anm. 5), S. 44f. Vgl. Schäfer (Anm. 6), S. 52f. Vgl. Petzold (Anm. 7), S. 59.

Einleitung

23

auslöste, die zwar auch von einem "neuen" Menschen ausging. Doch kam seine Vision ohne eine kollektivistisch-totalitäre Ausrichtung aus, weil er sie nicht in einem totalisierenden linkshegelianischen Fortschrittsmuster, sondern in den Traditionen der Aufklärung des 18. Jahrhunderts verankerte 3o . Demgegenüber lehnten zwar die rechten Diktaturen gleichfalls das "bourgeoise", auf seinen Eigennutz bedachte Individuum ab. Doch sahen sie - je mehr sie sich dem totalitären Extrem näherten - die Alternative nicht in einem utopischen, sondern in einem historisch verortbaren und zugleich mythologisierten Menschentyp, den es in seiner ursprünglichen Authentizität wieder herzustellen oder sogar zu überbieten gelte. Die Nazis reklamierten das rassistische Paradigma für sich, in dessen Rahmen sie durch Züchtung den am Germanenturn modellierten arischen "Herrenmensehen" hervorzubringen hofften. Es diente zugleich der Rechtfertigung aller Anwendungsbereiche ihrer Genozidpolitik: angefangen bei der Vernichtung "innerer Feinde" über die Euthanasie bis hin zum systematischen Massenmord an den Juden sowie an anderen ethnischen Minoritäten. Auch nutzten sie es zur Begründung ihres Kampfes gegen den "Marxismus", dessen Theorien des Klassenkampfes sie durch den Rassenkampf als das movens der Geschichte ersetzten, sowie zur pseudowissenschaftlichen Legitimierung der homogenen rassischen Volksgemeinschaft, der die gnadenlose Versklavung ganzer Völker, die zu Untermenschen erklärt wurden, zugrundelag 31 • Der italienische Faschismus rechtfertigte sein ideologisches Programm durch den Rückgriff auf den Mythos der Romanität. Sie erlangte für die Legitimationssicherung seiner Diktatur eine solche Bedeutung, daß Mussolini sich bei seiner rassistischen Wende 1938 zu der Behauptung verstieg, die antiken Römer seien hochgradige Rassisten gewesen 32 . Die Unterschiede der Legitimationsmuster des deutschen und des italienischen Faschismus und ihrer differierenden praktischen Auswirkungen sind oft benannt worden: So fehlte der Diktatur Mussolinis bis 1938 fast ganz, was von Anfang an im Zentrum des nationalsozialistischen Vernichtungswillens stand: der Antisemitismus. Doch übersehen werden darf nicht, was beide Legitimationsmuster vereinte: eine radikale Abkehr von den "Ideen von 1789" vollziehend, rekurrierten sie mit dem Mythos des Germanenturns und der Romanität auf vorrnoderne Ordnungsmuster, um den seit der frühen Neuzeit zu beobachtenden Emanzipationsprozeß mit den modernsten sozialtechnischen Repressions- und Manipulationsmitteln im Rahmen einer charismatischen Herrschaft ein für alle Mal zu unterbinden. Freilich kamen die autoritären Varianten rechter Diktaturen wie der Austrofaschismus, die 30 3\

32

Vgl. Kw;uradi (Anm. 10), S. 118. Vgl. Marten (Anm. 11), S. 136. Vgl. Rigotti und Omaghi (Anm. 12), S. 143.

24

Richard Saage

Autokratie Pilsudskis, die Regime Francos und Salazars, ganz zu schweigen von Perons und Parks Herrschaft, ohne solche ideologischen Kraftakte aus: sie ließen es bei Evokationen historischer Ordnungs vorstellungen wie der katholischen Kirche, des Ständestaats, des Konfuzianismus sowie nationaler und militärischer Traditionen bewenden. Oder sie beriefen sich - wie Pilsudski - auf die Notwendigkeit einer "moralischen Sanierung" des politischen Lebens, in deren Zentrum das Leben des Diktators selbst zum großen Vorbild avancierte. Wenn sowohl bei den Links- wie bei den Rechtsdiktaturen eine Abnahme der Intensität legitimatorischer Leitbilder zu beobachten ist, je mehr sich ein Regime vom totalitären Pol ab - und dem autoritären Bereich der Sklala zuwendet, so stellt sich doch die Frage, wie die prinzipielle Differenz beider Diktaturen in ihrer legitimatorischen Ausrichtung erklärt werden kann. Die vorliegenden Aufsätze lassen hypothetische Aussagen über den Grund dieser Unterschiede zu. Sie legen den Schluß nahe, daß offenbar die Linksdiktaturen einem intensiveren Begründungszwang unterliegen als die rechten Varianten, auch wenn ihre Herrschaftsmethoden vor allem in ihrer totalitären Ausprägung weitgehend austauschbar sind. Linke Diktaturen - und das trifft selbst noch für die stalinistische Despotie zu - nehmen ihren Ausgang von dem Anspruch, den Entrechteten und Ausgebeuteten dieser Erde zu ihrer kollektiven Befreiung zu verhelfen. Im Gegenzug legitimieren sich rechte Diktaturen stets mit dem Willen, die Emanzipationsprozesse der Gesellschaft zu sistieren oder rückgängig zu machen 33 . Unter legitimatorischen Gesichtspunkten hat dieser Unterschied weitreichende Konsequenzen. Er bedeutet, daß im ersten Fall nicht nur ein neues politisches System, sondern die gesamte gesellschaftliche Totalität, einschließlich der Eigentumsverhältnisse, der Wirtschaftsordnung sowie der gesamten Formen des menschlichen Zusammenlebens, im Zentrum des Legitimationszusammenhangs steht34 . Im zweiten Fall dagegen beschränkt sich der Legitimationszwang auf die Repressionsmechanismen des politischen Systems: Es muß den Herrschaftsunterworfenen verständlich gemacht werden, warum die Diktatur die Emanzipation unterdrückter Teile der Gesellschaft gewaltsam unterbindet, um die Machtverteilung des gegebenen Status quo verteidigen oder sogar durch den Rekurs auf vormoderne Ordnungsmuster qualitativ überholen zu können. Daher rekurrieren diese Regime auf mythische Vorbilder, denen das Strukturmerkmal emanzipatorischer Selbstbestimmung fehlt: totalitäre und autoritäre Herrschaft wird als Ausfluß mythologisch überhöhter historischer Gegebenenheiten und Traditionen, die verschüttet waren, gerechtfertigt. Demgegenüber wollen linke Diktaturen - vor allem in ihrer totalitären Ausprägung - eine Sozialutopie 33 34

Vgl. Grebing (Anm. 5), S. 45 . Vgl. Prpic (Anm. 8), S. 82f.

Einleitung

25

verwirklichen, die allen politischen Systemen vorhergeht: erst wenn der "neue Mensch" in einer voll emanzipierten Gesellschaft existiert, wird den diktatorischen Mitteln zu ihrer Hervorbringung der Boden entzogen sein. IV.

Warum gelang es den Legitimationsmustern rechter und linker Diktaturen nicht, ihre jeweiligen Regime dauerhaft zu stabilisieren? Diese Frage läßt sich in vergleichender Perspektive auf der Basis eines analytischen Rasters beantworten, das Walter Euchner in einem Diskussionsbeitrag auf dem Göttinger Symposium entwickelt hat35 . Er schlug drei Ebenen vor, auf denen die totalitären und autoritären Spielarten rechter und linker Diktaturen verglichen werden können. Auf der Ideologieebene lassen sich Rechtfertigungsmuster wie Antiindividualismus, Antiliberalismus, Antisozialismus, Antiparlamentarismus, Rassismus, Evokationen alter Ordnungen, aber auch utopische Entwürfe und Konzeptionen des "neuen Menschen" abbilden. Auf der Strukturebene können die die Diktatur tragenden sozialen Bewegungen und Parteien, ihre Organisationsdichte, ihre Mobilisierbarkeit etc. verglichen werden. Auf der Akzeptanzebene schließlich sind die Anerkennung diktatorischer Regime in der Bevölkerung aufgrund der Sicherung von Ruhe und Ordnung, sozialpolitischer Leistungen, der Arbeitsplatzsicherung, der Festschreibung oder Veränderung bestehender Eigentumsverhältnisse, internationaler Anerkennung, aber auch der Grad der Ablehnung aufgrund von Leistungsdefiziten etc. komparatistisch bestimmbar. Geht man von diesem Modell aus, so läßt das in den vorliegenden Beiträgen analysierte Material folgende Antworten auf die oben gestellte Frage zu: Auf der Ideologieebene haben sich die antiindividualistischen Rechtfertigungsmuster als zukunfts unfähig erwiesen. In dem Maße, wie sowohl die linken als auch die rechten Diktaturen die Abschaffung der individuellen Grund- und Menschenrechte zur unverzichtbaren Voraussetzung ihrer Herrschafts systeme erheben, begeben sie sich einer der wichtigsten Quellen gesellschaftlicher, kultureller, wissenschaftlich-technischer und ökonomischer Innovation. Einerseits blockiert die staatlich verordnete Gesinnungskontrolle das schöpferische Potential von Millionen. Dem Druck der Zensur ausgesetzt, wird der kritische Geist mündiger Bürger gelähmt und der Konformismus zu einer gesellschaftlichen Norm erhoben. Neuerungen gehen in der Regel von Minoritäten aus, die nicht selten in Opposition zu herrschenden Paradigmen stehen. Wer sie im Namen der übergeordneten Interessen des "Volkes" oder der "Klasse" unterdrückt, verspielt die Chance, die Reproduktionsbedingungen des Gesamtsystems von den kreativen Fähigkei35

Vgl. Kühnel und Sommer (Anm. 1), S. 354f.

Richard Saage

26

ten der Masse der Bürgerinnen und Bürger her zu sichern und zu verbessern. Andererseits entfällt aber auch die Möglichkeit, das politische System dadurch dauerhaft in der Loyalität großer Teile der Bevölkerung zu verankern, daß es ihnen institutionell abgesicherte Rechte auf individuelle Selbstentfaltung garantiert. An die Stelle der Eigeninitiative tritt vielmehr die obrigkeitsstaatliche Bevormundung, die in dem Maße zu einer der wichtigsten Ursachen der Delegitimation des Gesamtsystems wird, wie der freiwillige Konsens staatlichen Repressionsapparaten und umfassender Informationskontrolle weicht. Sind deren Wirksamkeit auch nur vorübergehend eingeschränkt, so ist die Diktatur in ihrem Bestand gefährdet. Zugleich schufen "linke" und "rechte" Diktaturen auf der Strukturebene Bedingungen, unter denen sie ihre Fähigkeit, Selbstgefährdungen zu erkennen und ihnen durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken, zunehmend einbüßten. Obwohl an Dynamik kaum zu übertreffen, hatte sich der Nationalsozialismus bereits im Sommer 1934 im Zuge der Einführung des "Führerabsolutismus" und der politischen Entmachtung der alten Eliten aller institutionellen Selbstkorrekturen entledigt. Aus dieser Tatsache folgten zwei Konsequenzen. Einerseits ermöglichte sie es, daß sich die genuin faschistischen Kräfte auf den besonders ideologieträchtigen Politikfeldern wie der Verfolgung des Judentums und anderer ethnischer Minoritäten zunehmend zu radikalisieren und ihre ganze Destruktivität auszuagieren vermochten 36 . Andererseits wurde der einmal eingeschlagene Kurs der Diktatur "selbstläufig", auch wenn seine selbstzerstörerische Qualität spätestens im 11. Weltkrieg unübersehbar war. Demgegenüber verlor der Bolschewismus seine Fähigkeit, politische Realität wahrzunehmen und im Sinne seiner eigenen Stabilisierung zu nutzen, nachdem er die Konstituante in Rußland aufgelöst und das Fraktionsverbot in den eigenen Reihen durchgesetzt hatte. Dieser Umschlag vollzog sich nur deswegen in der Sowjetunion langsamer als im "Dritten Reich", weil die Ziele Stalins, die rasche Industrialisierung und der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung, weniger selbstmörderisch waren als die Pläne des deutschen Faschismus. Doch die Langzeitwirkung der "Arroganz der Macht" führte zu ähnlichen Konsequenzen wie im "Dritten Reich": An die Stelle der Konkurrenz politischer Parteien, freier Kritik, unabhängiger Gerichte, legalisierter Opposition etc. trat der allmächtige Geheimdienst, der mit der Aufgabe betraut wurde, die um sich greifende Korruption zu bekämpfen. Doch selber korrupt geworden und um den Ausbau seiner Macht bemüht, unterstützte er die Realitätsverdrängung der Führung. Als dann nach den gescheiterten Reformen unter Chruschtschow die obere Schicht der Nomenklatura während der Herrschaft Breschnews als Kollektiv den einzelnen "Führer" ablöste, war die Stagnation vollendet, weil nun, vom Druck des Geheimdienstes entlastet, nur noch 36

Vgl. Mommsen (Anm. 19), S. 269.

Einleitung

27

die Erhaltung der eigenen Privilegien zählte. Diese Sklerose der Führung aber hatte ihre Entsprechung in der Erstarrung der Gesamtgesellschaft, die schließlich zum Zusammenbruch dieser Herrschaftsordnung führte 37 • Daß selbst ein marxistisch-leninistisches System wie das Titos, das sich von zentralen Mechanismen des Stalinismus im Rahmen seines Selbstverwaltungssozialismus trennte, scheiterte, belegt die These der strukturellen Reformunfähigkeit dieses Diktaturtyps eindringlich38 . Aber auch die anderen autoritären Varianten linker und rechter Diktaturen litten an einer tödlichen Krankheit: Weil jede Veränderung der internen Machtstruktur die Gefahr der Selbstaufgabe des Gesamtsystems birgt, neigten sie zu innerer Erstarrung und verloren so ihre Lern- und Reformfähigkeit 39 . Auch die Bilanz auf der Akzeptanzebene fällt negativ aus, weil sowohl linke wie rechte Diktaturen die Bedingungen des wachsenden Lebensstandards in Form einer erfolgreichen Modernisierungsstrategie selber untergruben. Die marxistisch-leninistischen Regime verloren ihren Kredit in der Bevölkerung zu einem großen Teil durch die Negierung der marxistischen Einsicht, daß die sozialistische Umwälzung nur in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern stattfinden könne 4o . Aus dieser Prämisse folgte ein schwerwiegendes legitimatorisches Dilemma: Wer - wie Mao - auf den "neuen" Menschen mit solidarisch-kollektiven Bedürfnisstrukturen setzte, mußte die Resultate der Kulturrevolution seit 1966 in Rechnung stellen: gemessen an den Zielvorstellungen erwies sie sich als Fehlschlag, und konfrontiert mit den Resultaten als eine Katastrophe, die China an den Rand des industriellen Ruins brachte 41 • Wer jedoch wie Chruschtschow, Gorbatschow und Deng auf die Stimulierung des Eigennutzes baut, um den wirtschaftlichen Modernisierungsprozeß voranzutreiben, ist dem Erwartungsdruck der Bevölkerung ausgesetzt, den Wohlstand des Westens zu erreichen oder sogar zu überholen: ein Versuch, der - wie der Zusammenbruch der Sowjetunion zeigt - entweder gescheitert oder - wie im Falle Chinas voller Risiken für das Politikmonopol der Kommunistischen Partei ist42 . Die Legitimationsdefizite der rechten Diktaturen auf der Akzeptanzebene erweisen sich als nicht weniger gravierend. Gewiß hat die Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit die Akzeptanz des "Dritten Reiches" in großen Teilen der Bevölkerung, einschließlich der Arbeiterschaft, ermöglicht. Doch vergessen werden darf nicht, daß im Vergleich zur Zwischenkriegszeit in der Bundesrepublik das Versorgungsniveau und der Lebensstandard unter 37

38 39 40 41

42

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Fetscher (Anm. 18), S. 247 - 255. Prpic (Anm. 8), S. 80. Petzold (Anm. 7), S. 66. ebd., S. 61. Lee (Anm. 9), S. 104. ebd., S. 111.

Richard Saage

28

den Bedingungen der liberalen Demokratie trotz der gegenwärtigen ökonomischen Strukturkrise so angehoben wurde, daß weder die Blut- und Bodenideologie bei den Bauern noch die "Volksgemeinschaft" bei den Arbeitnehmern in der Industrie und im Dienstleistungssektor oder gar bei den Selbständigen in den mittelständischen Betrieben auf massenhafte Zustimmung hoffen kann43 . In diese "Modernisierungsfalle" sind auch die Diktaturen Francos, Parks und Salazars geraten. In Portugal machte der Modernisierungsrückstand eine revolutionäre Umwälzung notwendig. Da im Ancien Regime sich nicht einmal Ansätze einer Zivilgesellschaft herausgebildet hatten, konnte sich hier die Demokratie nach dem Fall der Diktatur nur langsam konsolidieren. Umgekehrt schuf die kontrollierte Modernisierungspolitik Francos seit Anfang der 60er Jahre ungewollt eine "Gleitschiene" (Puhle), auf der der evolutionäre Übergang zur Demokratie unaufhaltsam wurde 44 . In ähnlicher Weise förderte die konsequente Modernisierungsstrategie der Diktatur Parks die Entstehung einer Zivilgesellschaft, die ihrerseits die Fundamente des autoritären Regimes untergrub. Selbst Menems Regierung in Argentinien, die sich in legitimatorischer Absicht auf Peron beruft, sieht sich zu einem konsequenten neo liberalen Modernisierungskurs gezwungen, vor dem ihr Mentor stets gewarnt hatte 45 . So gesehen, standen die rechten autoritären Regime vor einem ähnlichen Problem wie ihre linke Entsprechung heute in China46 .

V. Angesichts dieses Versagens der Legitimationsmuster linker und rechter Diktaturen ist nun die These vertreten worden, daß die liberale Demokratie, die seit den bürgerlichen Revolutionen des 18. Jahrhunderts zahlreiche Metamorphosen durchlaufen mußte, nun endlich zu der politischen Form der Integration der sozio-politischen Verhältnisse gefunden habe, zu der es keine historische Alternative mehr gebe. Der dieser Feststellung zugrundeliegende Triumphalismus schlug sich in den bekannten Formeln vom "Ende der Geschichte" oder vom "Ende der Utopie" nieder. Demgegenüber ist für einige Beiträge dieses Bandes, die sich im dritten Teil mit diesem Thema beschäftigen, kennzeichnend, daß die diktatorische Herrschaft keineswegs pauschal verdammt wird. Sie weisen u. a. auf das römische Beispiel der zeitlich begrenzten Diktatur hin,47 aber auch auf die diktatorischen Vollmachten, mit denen das englische Parlament Churchill während des 11. Welt43 44

45 46 47

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Fijalkowski (Anm. 20), S. 277f. Puhle (Anm. 15), S. 205. Waldmann (Anm. 16), S. 211 f. Lee (Anm. 9), S. 11Of. Petzold (Anm. 7), S. 63.

Einleitung

29

krieges 48 ausstattete: auf die von der Volksvertretung gesetzten Grenzen festgelegt, könne sie im Gegenteil dem Schutz der Republik dienen und sich als erfolgreiches Mittel zur Krisenbewältigung eignen. Darüber hinaus sind die Autoren der Meinung, daß zwar die Kombination von politischer Teilhabe auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts und den individuellen Grund- und Menschenrechten als eine zivilisatorische Errungenschaft zu betrachten ist, hinter die nicht mehr zurückgegangen werden darf. Doch zugleich ist unübersehbar, daß sie im Niedergang linker und rechter Diktaturen nicht automatisch einen Legitimationsgewinn des Verfassungstyps "westliche Demokratie" sehen, der ihn gleichsam gegenüber allen Gefährdungen immunisiert. Eher scheint das Gegenteil der Fall zu sein. Mit dem Wegfall des Feindbildes "Totalitarismus" treten die Grenzen des Pluralismus-Modells der liberalen Demokratie umso schärfer hervor. Genannt werden die folgenden Defizite: 1. Es wird darauf hingewiesen, daß die Wertebasis der Institutionen des Verfassungstyps "westliche Demokratie" zunehmend ihren universalistischen Geltungsanspruch einbüßt. Da aber stabile Institutionen als geronnener Ausdruck kollektiv vertretener Wertemuster zu gelten hätten, sei der Verfassungstyp "westliche Demokratie" in seiner entscheidenden Legitimationsressource gefährdet: Seine institutionellen Arrangements drohten zu leeren Hülsen zu werden, wenn sie sich auf ihre Funktion der Elitenrekrutierung und der Erzeugung der staatlichen Ordnung beschränkten. Das Politische verschwinde dann aus der Politik: sie drohe zu einer ritualisierten Verwaltung des Status quo bzw. zu einer öffentlichkeitswirksamen Inszenierung von Scheinlösungen zu verkommen, ohne auf die Strukturprobleme der Gesellschaft wirkliche Antworten zu finden. Demokratie- und Politikverdrossenheit der Bürger sei die notwendige Folge49 . 2. In dem Maße, wie sich die Individualisierungstendenzen in den westlichen Ländern verstärkten, werde immer unklarer, worin der unverzichtbare gesellschaftliche Basis-Konsens bestehe: alle Ressourcen, aus denen sich so etwas wie eine kollektive Identität ergeben könnte, seien erschöpft5o . Aus dieser Entwicklung ergeben sich zwei für die liberale Demokratie gleichermaßen fatale Folgen. Einerseits komme es zur Herausbildung einer Doppelmoral: Im Namen individueller Rechte werden staatliche Strukturmaßnahmen zur Schaffung von Infrastrukturen, die solidarischen Zwecken dienen, blockiert, um den politischen Akteuren gleichzeitig Versagen angesichts dringend zu lösender Aufgaben vorzuwerfen 51 . Vgl. Fetscher (Anm. 18), S. 250. Vgl. Bermbach (Anm. 21), S. 295, Fijalkowski (Anm. 20), S. 288, Gess (Anm. 24), S. 340. 50 Vgl. Bermbach (Anm. 21), S. 293. 51 Vgl. Fijalkowski (Anm. 20), S. 286f. 48 49

Richard Saage

30

Anderseits werfe die zunehmende Individualisierung des Lebens prinzipiell die Frage nach der Integrationsfähigkeit der westlichen Demokratien auf: Es sei keineswegs ausgeschlossen, daß die Bürgerkriegsszenarien im ehemaligen Herrschaftsbereich des Realsozialismus die Zukunft der westlichen Demokratie vorwegnehmen 52 . 3. Technologische Entscheidungen mit irreversiblen Konsequenzen setzten das Mehrheitsprinzip zunehmend außer Kraft. Der Verfassungstyp "westliche Demokratie" könne aber nur dann funktionieren, wenn die Minderheit zur Mehrheit werden und einmal getroffene Entscheidungen wieder zu revidieren vermag 53 . Zugleich sei die liberale Demokratie in ihrer jetzigen Form den Nachweis ihrer Fähigkeit noch schuldig, die Lebensbedingungen der Menschheit im 21. Jahrhundert zu sichern. Dem Druck der nächsten Wahlen ausgesetzt, konzentrierten sich die Politiker auf die unmittelbar anstehenden Problemlagen; die fälligen ökologischen Strukturentscheidungen aber blieben aus, weil sie langfristigen Menschheitsinteressen dienten, die im System der Konkurrenzdemokratie nicht mehrheitsfähig und damit auch nicht durchsetzbar seien. 4. In den westlichen Demokratien werden die Individualisierungstendenzen begleitet von massiven soziokulturellen Fragmentierungen. Diese Ghettobildungen stellten aber dann eine schwerwiegende Gefahr für die rechtsstaatliche Demokratie dar, wenn sich in ihnen fundamentalistische Gruppierungen mit totalitärer Ideologie durchsetzten, die das liberale Toleranzprinzip instrumentalisierten, um die von der Aufklärung geprägte politische Kultur des Westens überhaupt zu zerstören. Der ehemalige OstWest-Gegensatz sei längst durch einen "Zusammenprall der Zivilisationen" ersetzt worden, der nicht nur an den Grenzen des Geltungsbereichs der westlichen Demokratien, sondern in ihren Metropolen selbst stattfinde54 . 5. Und schließlich wird darauf aufmerksam gemacht, daß der derzeitige Modernisierungsschub in der Wirtschaft ausschließlich seiner eigenen Logik folge und auf die anderen Teilbereiche der Gesellschaft keine Rücksicht nehme 55 . Er produziere dadurch massenhaft anomische Bewußtseinslagen, die sich in Gewalt - und Ideologiebereitschaft, in der Sehnsucht nach einfachen Lösungen und "starken" Männern äußere 56 . Die immer wiederkehrenden Wellen von Ethnophobien und rechtsextremistischen Gewalttaten seien zwar nicht mit den Entstehungsbedingungen des Faschismus in der 52 53

54 55 56

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Eisfeld (Anm. 23), S. 352. Bermbach (Anm. 21), S. 302. Tibi (Anm. 22), S. 305 ff. Bermbach (Anm. 21), S. 294. Fijalkowski (Anm. 20), S. 285.

Einleitung

31

Weimarer Republik zu vergleichen; doch stellten sie eine ernsthafte Herausforderung der liberalen Demokratie dar57 . Wie soll die westliche Demokratie auf diese Herausforderungen reagieren? Zunächst fällt auf, daß zur Bescheidenheit geraten wird, was ihren Geltungsanspruch betrifft. So wird darauf hingewiesen, daß sich eine schematische Übertragung der westlichen Demokratie auf die Länder der dritten Welt und Osteuropas allein schon deswegen verbiete, weil deren Funktionsvoraussetzungen nicht in den sozio-politischen und kulturellen Strukturen dieser Länder verankert seien: sie könnten, wenn überhaupt, nur allmählich geschaffen werden. Nicht ihr Export in andere sozio-kulturelle Kontexte wird empfohlen, sondern die Herstellung von Bedingungen, die die Koexistenz verschiedener soziokultureller Systeme sichere58 . Sodann wird nahegelegt, daß die Multikulturalität in den westlichen Demokratien ihre Grenze dort zu finden hat, wo sie die individuellen Grund- und Menschenrechte in Frage stellt59 . Vor allem aber ist der Appell unüberhörbar, daß der Individualisierung neue Formen der Solidarität gegenübergestellt werden müssen. Offen kontraproduktiv wäre der Versuch, sie durch innen- und außenpolitische Feindbestimmungen zu erzwingen: eine solche Homogenität würde die Demokratie unter sich begraben6o • Andererseits reiche es aber auch nicht aus, die bestehenden liberal-repräsentativen Institutionen in sich zu demokratisieren. Dem Prozeß der Individualisierung müsse vielmehr insoweit Rechnung getragen werden, als sich die Ausweitung politischer Teilhabe in eine mehrdimensionale Richtung zu bewegen habe 61 : erst in einer, auf den autonomen Kräften der Gesellschaft beruhenden Zivilgesellschaft, deren Partizipationsformen auch vor der Wirtschaft nicht halt machen dürften, könnten die Bürger lernen, freiwillig solidarische Bindungen einzugehen 62 . Die liberale Demokratie, so kann zusammenfassend festgestellt werden, hat den Herausforderungen linker und rechter Diktaturen im 20. Jahrhundert standgehalten. Ob sie die Probleme zu lösen vermag, für die sie selbst verantwortlich ist, muß die Zukunft zeigen. VI.

Abschließend möchte ich den Institutionen und Personen danken, deren Engagement entscheidend mit dazu beigetragen hat, daß diese Festschrift 57

58 59 60

61 62

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Gess (Anm. 24), S. 340. Fijalkowski (Anm. 20), S. 283. Tibi (Anm. 22), S. 317f. Bermbach, (Anm. 21) S. 296. ebd., S. 303f. Fijalkowski (Anm. 20), S. 287f. und Gess (Anm. 24), S. 342.

32

Richard Saage

erscheinen konnte. Zunächst ist die Stiftung Volkswagenwerk zu nennen, die das Symposium zu Ehren des 60. Geburtstages von Walter Euchner finanziert hat. Daß es zu der Drucklegung der Referate kommen konnte, ist der finanziellen Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung und der FriedrichEbert-Stiftung zu verdanken. Dank gebührt aber auch Dipl.-Politologin Gerlinde Sommer, Dr. Walter Reese-Schäfer und cand. phil. Martin Kühnel für ihre redaktionellen Hilfestellungen. Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Im April 1994

11. Die Linke und das Legitimationsproblem der Diktatur

3 FS Euchner

Warum so viel "freiwillige Blindheit"? Betrachtungen zur Legitimation von kommunistischer terroristischer Herrschaft durch Intellektuelle Von Helga Grebing "Wem einmal das Rückgrat gebrochen wurde, Der ist kaum dazu zu bewegen, Eine aufrechte Haltung einzunehmen." Johannes R. Becher

.I. Denken, das sich verführen läßt ... In seinem 1954 zuerst in Frankreich, 1957 in der Bundesrepublik erschienenen, seither viel zitierten Buch "Opium für Intellektuelle" charakterisierte Raymond Aron das stalinistische Regime in der folgenden gültigen Weise: Es "hat den Widerspruch zwischen der Rechtfertigung der gegenwärtigen Macht und der Erwartung einer vollkommenen Zukunft mit Hilfe des Terrors und der Ideologie überwunden, indem es die Gegenwart nicht als solche, sondern als Etappe auf dem Wege zur klassenlosen Gesellschaft verherrlichte. Immerhin, die Ergebnisse der Industrialisierung, die Stärkung einer neuen herrschenden Klasse, die zeitliche Entfernung von der prometheischen Tat, die ein über Menschenkraft gehendes Unternehmen einleitete, all das wirkt zusammen, um einen Glauben zu unterhöhlen, der sich in Meinungen auflöst, sobald ihn kein Fanatismus mehr belebt. Dies erscheint mir die auf lange Sicht wahrscheinlichste Perspektive zu sein."l Aron bestimmte die Rolle der Intellektuellen in diesem Regime als die von "Königen, wenn auch mehr Sophisten als Philosophen", und er fragt: "Wie sollten die fortschrittlichen Intellektuellen den Beistand ihres Talents einem Staat versagen, der die gute Doktrin proklamiert und ihre Mithilfe am Aufbau einer Gesellschaft verweigern, die den Hoffnungen des revolutionären Rationalismus entspricht und Fachleuten wie Intellektuellen großzügig entgegenkommt - unter der Bedingung, daß sie gehorchen? ,,2 I Raymond Aron, Opium für Intellektuelle oder die Sucht nach Weltanschauung, Berlin 1957, S. 346. 2 Aron, S. 348.

3*

Helga Grebing

36

Jeanne Hersch, die bekannte jüdische Philosophin, deren Eltern einst als Bundisten aus Polen in die Schweiz geflohen waren, Schülerin von Karl Jaspers und demokratische Sozialistin, hat zur gleichen Zeit in ihrem Buch "Die Ideologien und die Wirklichkeit" über die kommunistische Ideologie geschrieben: "Der Führer weiß. Also sollte man annehmen, daß, wer von seinen Anweisungen abweicht, einen Irrtum begeht. Aber nein, das ist ein Verbrechen, ein Verrat.'d Der polnische Schriftsteller Czeslaw Milosz hat in seinem 1954 erschienenen "Verführtem Denken" als ein, wie er sich nennt, guter kommunistischer Heide bezeugt, daß er zwar mißtrauisch gegenüber "der neuen weltlichen Religion, auch ihrer Methode" blieb; aber dieses Mißtrauen schloß selbst bei ihm nicht aus, "daß ich, ebenso wie die anderen, ihren mächtigen Einfluß verspürte". Er habe dann aber zu seiner Verwunderung festgestellt, daß er zu einer - wie sie verlangt wurde - hundertprozentigen philosophischen Rechtgläubigkeit "nicht im Stande war". So trennte er sich vom Neuen Denken auch in Polen und schrieb sein Buch: "ein Dialog mit denen, die sich zum Stalinismus bekennen - und ein Dialog mit mir selbst".4 Dieser Rückbezug auf Schriftsteller der 50er Jahre, noch nahe genug der Hoch-Zeit des Stalinismus, mag als allgemeiner Rahmen für die folgenden Ausführungen ausreichen. Bei diesen wird es primär nicht - wie geläufig darum gehen zu konstatieren, warum und wie Intellektuelle, also Künstler, Schriftsteller, Journalisten, Dichter, Gelehrte, schreibend reflektierende Politiker, Kommunisten geworden, geblieben sind oder aufgehört haben, es zu sein. Darüber ist bereits viel gesagt worden; deshalb wird der Blickwinkel auf die Legitimationsleistungen, deren Ausdrucksformen und Argumentationsmuster für diktatorisch-terroristische Herrschaft in kommunistischen Systemen gerichtet.

11. Viele Antworten, wenig Erklärungen: Selbstzeugnisse Sieht man die sogenannte Renegatenliteratur durch und auch das, was über sie geschrieben worden ist,5 dann fällt auf, daß sehr viel zu erfahren Jeanne Hersch, Die Ideologien und die Wirklichkeit, München 1957, S. 48. Czeslaw Milosz, Verführtes Denken, Köln 1955, S. 13 f. 5 Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunisten, Stuttgart 1991; hier finden sich weitere Hinweise, detaillierte Bibliographien und zum Teil Biographien, so daß von der Zitierung von Einzelwerken abgesehen wird. Vgl. aber immer noch grundlegend: Richard Crossmann, (Hrsg.): Ein Gott, der keiner war, Köln 1949, 2 1952; Horst Krüger, Das Ende einer Utopie. Hingabe und Selbstbefreiung früherer Kommunisten, Olten und Freiburg im Breisgau 1963; sowie Hermann Kuhn, Bruch mit dem Kommunismus. Über autobiogra3

4

Warum so viel "freiwillige Blindheit"?

37

ist über die Bekehrung zum Kommunismus und über das irgend wie und irgendwann erfolgende intellektuelle Damaskus oder den langen Marsch aus den Institutionen des kommunistischen Herrschaftsbereichs; sehr viel mehr über den ,Bruch' und das Einrichten einer glaubenslosen Welt sowie über die Rechtfertigung des Befreiungsschlages jedenfalls als über den Anteil des eigenen Tuns während der Zugehörigkeit zur Pseudo-Kirche (oder heute würde man sagen: zur Firma). Die Wortwahl mag ein wenig verräterisch klingen, als ob hier auch nur wieder die sattsam bekannten Interpretations-Stereotype angeboten werden sollen: die Intellektuellen auf der Suche nach einer Religion bzw. die Dingfestmachung eines pseudo-religiösen Dogmatismus. Hierzu ist von Raymond Aron bis Leszek Kolakowski das Nötige und Richtige gesagt worden, was nicht wiederholt werden muß. Es geht auch nicht um das Gewichten der emotionalen oder/und ideologischen Bindungen, auch nicht um psychoanalytisch gestärkte Vermutungen über die Auswirkungen von Kindheitsmustern. Nein, die Fragen, die es zu beantworten gilt, sind vergleichsweise einfache: Wer hat warum und wie die frühe Sowjetunion, den späteren Stalinismus erst in einem Lande und dann als projektiertes Weltsystem durch großes Wort und in schöner Schrift in dem jeweiligen historischen So-Sein legitimiert? Einfache Fragen provozieren häufig komplizierte Antworten, so auch in diesem Fall. Das liegt allein schon daran, daß reichlich wortkarg oder kleinlaut in Nachhinein-Reflektionen über die eigenen Verstrickungen Auskunft gegeben wird: Manes Sperber zum Beispiel, der so überaus beredsame Zeuge großer Konversionen, schweigt merkwürdig still über die eigene Verstrickung noch in der Zeit der Säuberung und der Moskauer Schauprozesse; Ernst Bloch hat sein stakkatohaftes Feiern von Marx, Lenin und Stalin als "wirkliche Führer ins Glück, Lichtgestalten der Liebe, des Vertrauens, der revolutionären Verehrung" einfach durch Streichungen in seinen Werkausgaben vergessen machen wollen; Bertolt Brecht übte zwar später Stalin-Kritik, ließ aber keinen Spielraum für einen Blick auf seine früheren Rechtfertigungen, die oft doppelbödig und zynisch anmuten. Christa Wolf, wir hörten es kürzlich, hat es einfach vergessen, d.h. verdrängt, daß sie zumindest eine kurze Zeitlang IM-ähnlich geführt wurde. Viele erwiesen sich eben als die Finnen aus Brechts ,Flüchtlingsgesprächen': als ein Volk, das in zwei Sprachen schweige.

phische Schriften von Exkommunisten im geteilten Deutschland, Münster 1990; Heinz Abosch, Von der Volksfront zu den Moskauer Prozessen, in: Exilforschung Bd. 1, 1983, S. 27 - 44.

38

Helga Grebing

III. Die Bindungswirkung der Ideologie Selbstzeugnisse von Kommunisten dienen folglich mehr der Rechtfertigung als der Erklärung konkreten Handeins. Andre Gorz nannte seinen Rechenschaftsbericht über die politischen Involvierungen der Intellektuellen in den Kommunismus "Der Verräter". Alfred Kantorowicz hat seine Kapitulation jahrelang hinausgezögert, zumindestens seit 1947 aus Angst, die DDR zu verraten, selbst als Verräter zu gelten, und Wolfgang Harichs letzter Fernsehauftritt stand unter dem Motto "Ich bin kein Verräter". Bei Willi Münzenberg hieß es 1939 in flammendem Zorn : "Der Verräter, Stalin, bist Du!" Es ist die Emphase verräterisch, mit der man überzeugend wirken will, keinen Verrat geübt zu haben: Dies zeigt den Grad der Bindung an und verleiht der Befürchtung Ausdruck, man habe sich auf die sprichwörtliche "andere Seite der Barrikade" gestellt. Dafür geben Zeugnis die langen Zeiten zwischen der klammheimlichen Einsicht, kein Kommunist mehr zu sein, und der öffentlichen Erklärung. Gleich scharenweise könnte man sie nennen, und es wäre eine bunte Reihe : Ignazio Silone, Arthur Koestler, Leo Bauer, Wanda Bronska-Pampuch, Hermann Weber, Carola Stern nur zum Beispiel genannt, und Herbert Wehner gewiß auch. Andere tanzten lebenslang auf doppeltem Boden wie Brecht, von dem Heiner Müller einmal gesagt hat, daß er rechtzeitig starb, weil er am Widerspruch seiner Doppelbödigkeit selbst zerbrochen wäre. Darunter gab es Menschen, wie die schon genannte Wanda Bronska-Pampuch, die noch in Stalins sibirischen Lagern ihre kommunistische Identität bewahren zu müssen glaubten. Manche riskierten zwar den Bruch und bewiesen die starken Nerven, selber die "richtige Lehre" zu vertreten, wie zunächst Wolfgang Leonhard oder seine Mutter Susanne Leonhard, aber auch Hermann Weber, der überzeugte demokratische Sozialist, den es heute noch schmerzt, daß man Lenin aus der sozialistischen Tradition ausgrenzen muß. Wir kennen genügend Beispiele, wo es eines zweimaligen Schocks bedurfte, bis der Befreiungsschlag erfolgen konnte: Ernst Bloch wurde dabei 76 Jahre, und sein Sohn Johannes (genannt Jan) Robert kann zwar seinem Vater die 1936er Stalin-Tiraden nachsehen (weil er nicht der einzige war, der so sprach, in der Tat; weil er sich mit den Lobgesängen selber Mut machen wollte, wie seine Frau Karola Bloch meint); nicht verzeihen kann der Sohn dem Vater allerdings den zweiten Reinfall mit der DDR.6 Das alles gilt wohl auch für Alfred Kantorowicz, Hans Mayer, Heinrich Mann. 6 Jan Robert Bloch, Wie können wir verstehen, daß zum aufrechten Gang Verbeugungen gehörten ?, in : Sinn und Form, Heft 3, 1991 (43. Jg.), S. 523 - 553 ; Hans-Albert Walter, Die Hinrichtung als Rückkehr ins kommunistische Jenseits : Ernst Blochs Rechtfertigung der Moskauer Prozesse, in: Hermann Weber/Dietrich

Warum so viel "freiwillige Blindheit"?

39

Die psychologischen Motive für das Handeln, Nicht- oder verzögertes Handeln sind hier ohne Belang bzw. nur in einer Hinsicht belangvoll: als Indikatoren für die Bindekraft eines in seinen Ursprüngen als Selbstbefreiung der Unterdrückten dieser Welt gedachten Projektes, das in den Strudel der Dialektik der Aufklärung geriet und ursprünglich moralisch so hoch besetzt war, daß oft lebenslang Gläubigkeit wider die Tatsachenwahrnehmung, besseres Wissen und Gewissen anhielt. Die Momente der Legitimierungsleistung für die Diktatur bzw. den Diktator und für die Erhaltung der eigenen Identität sind oft nicht mehr trennbar gewesen. Eines der erschüttemdsten Zeugnisse, wenn nicht das erschütterndste, ist der Bericht der Anna Larina Bucharina über die letzten Monate des "Lieblings der Partei" Nikolaj Iwanowitsch Bucharin in Freiheit. Alles, was er wußte, hätte wissen müssen, war jenseits seines Bewußtseins gerückt; er verbrachte die Tage und Stunden in seinem Zimmer im Kreml und wartete auf den Anruf seines großen "Wohltäters Stalin", der alles, was ihm, Bucharin, vorgeworfen wurde, für ein Mißverständnis erklären würde. Der Anruf erfolgte selbstredend nicht. "Und öfter als alles andere wiederholte er [Bucharin]: ,Ich verstehe das nicht, ich kann das absolut nicht verstehen, was ist denn nur los?'" Als er die ihn belastenden (falschen) Aussagen Radeks in dessen Prozeß liest, "brachte (er) nur ,Entsetzlich' hervor, bat mich es vorzulesen und steckte den Kopf unter ein Kissen, wie ein Kind, das ein schlimmes Märchen hört. ,,7 Die Mitteilung über die Partizipation, die Legitimierung und die Pflichtund freiwilligen Leistungen für kommunistische diktatorische Regime fallen, wie gesagt, kleinlaut aus oder werden gar dem Vergessen anheim gegeben - jedenfalls gegenüber der beobachtenden Öffentlichkeit, wohl nicht immer vor sich selber. Herbert Wehner mag hier genannt werden wirklich innerlich losgekommen ist er, der sich zeitlebens als ein ,Gebrannter' vorgekommen ist, von seiner stalinistischen Phase zwischen 1937 und 1941 nicht; aber er hat nach Jahren des Zweifelns die Kraft zur Ablösung gefunden, so daß gegenwärtig die These, Wehner habe nach 1945, insbesondere in den 70er Jahren Politik im Interesse der DDR betrieben, zu Recht als ,töricht' zu bezeichnen ist. 8 Eine, die nicht sprachlos geworden ist, vielmehr als Sirene des Antikommunismus seit den 50er Jahren galt, war die "Gefangene bei Stalin und Hitler" Margarete Buber-Neumann, die auch beredt von den Stationen Staritz, (u.a.) (Hrsg.): Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und "Säuberungen" in den Kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren, Berlin 1993, S. 344 - 372. 7 Anna Larina Bucharina, Nun bin ich schon weit über zwanzig. Erinnerungen, Göttingen 1989, S. 364, 381. 8 Helga Grebing, Keine Kampagne?, in: Der Sozialdemokrat, März 1994.

40

Helga Grebing

eines/ihres Irrwegs "Von Potsdam nach Moskau" berichtete. 9 Sie hat in vielen Varianten wortreich dargestellt, wie gerade das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit Tausenden von Gleichgesinnten es gewesen ist, das ein sehr wichtiges Element der Anziehungskraft des Kommunismus auf Intellektuelle war: Man trat aus der Isolation, um sich einer Gemeinschaft völlig verbunden zu fühlen. Hinzu kam die Reduzierung weltanschaulicher Komplexität auf "die erste und einzige existierende politische Heilslehre ... , die alle Gebiete des menschlichen Lebens" umfaßte mit anscheinend unfehlbaren Gebrauchsanweisungen. 1o 1921 (mit 20 Jahren) Mitglied des KJVD, ab 1931 zunehmend in unausgesprochener Opposition zur Komintern hatte sie noch einen langen und qualvollen Weg bis zur endgültigen Abkehr zu gehen. Sie und Heinz Neumann arbeiteten in Deckung, verdeckt, in der von vielen geteilten Illusion, ,von innen heraus' wirken zu können. Am 26./27. April 1937 wurde Neumann verhaftet und blieb (bis jetzt) spurlos verschollen. Margarete wurde ein Jahr später verhaftet, ins sibirische Konzentrationslager Karaganda gebracht, 1940 der Gestapo ausgeliefert und war dann bis 1945 Häftling im Frauen-KZ Ravensbrück. Oft und gerade von Linken verkannt und oft fast verhöhnt hat sie - wie man heute weiß - viel Aufklärendes, aber Unbeachtetes über die "Kriegsschauplätze der Weltrevolution"ll zu sagen gewußt. Lebte sie noch (sie starb 1989), wäre ihr gegenüber manches wiedergutzumachen. Ihre Erinnerungen an Kafkas Freundin Mi1ena, wie sie in Ravensbrück, zeigten sie fähig zur Dokumentation einer einfühlsamen Menschlichkeit. 12 Es begegnen einem nur wenige Exkommunisten, die beredt zu schweigen vermochten. Zu nennen wäre Ernst Reuter, der als ein sozialdemokratischer Revisionist und Kriegsgegner (wie Kurt Eisner) begann, als Kriegsgefangener in Rußland zum politischen Leiter des Volkskommissariats für die Wolgadeutschen aufstieg, 1921 gar unter dem Namen Friesland kurzfristig das zentrale Generalsekretariat der KPD leitete, abgesetzt wurde und im Januar 1922 die KPD verließ und zur SPD zurückkehrte. Keineswegs moralisch9 Margarete Buber-Neumann, Als Gefangene bei Stalin und Hitler, Köln 1952; dies., Von Potsdam nach Moskau. Stationen eines Irrwegs, Stuttgart 1957. 10 Margarete Buber-Neumann, Illusion und Wirklichkeit des Kommunismus, in: Faszination des Kommunismus?, Bd. 11, hrsg. vom Arbeitskreis für Ostfragen e.V. München, München 1962, S. 9 - 22. II Margarete Buber-Neumann, Kriegsschauplätze der Weltrevolution. Ein Bericht aus der Praxis der Komintern 1919 - 1943, Stuttgart 1967. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr Ruth Fischer, der "Abtrünnigen wider Willen": Ruth Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus, Frankfurt am Main 1948; dies., Von Lenin zu Mao. Kommunismus in der Bandung-Ära, Düsseldorf/Köln 1956; Ruth Fischer, Arkardij Maslow: Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, München 1990. 12 Margarete Buber-Neumann, Milena, Kafkas Freundin, München/Wien 1977.

Warum so viel "freiwillige Blindheit"?

41

emotional auf die kommunistische Bewegung fixiert, sondern sie als ein Instrument der politischen Strategie und Taktik begreifend, brauchte er nicht dem Sektierertum zu verfallen oder sich in der Haßliebe des professionellen Antikommunisten verzehren; aber er wußte fortan, mit wem er es zu tun hatte. 13 Diese Position Reuters läßt sich fast als ein Unikat ansehen. Signifikanter sind lebenslang anhaltende Umkreisungen des gleichen Themas, warum man Kommunist geworden, aber nicht geblieben war, bis sich oft genug der Kreis schloß: Ignazio Silone, der katholische Priesterschüler, der Mitbegründer der KPI, der demokratische Sozialist, kehrte in seinen letzten Lebensjahren zurück zu einer Facon des süditalienischen nicht-kirchlichen Christentums franziskanischer und benediktinischer Prägung, das in Lateinamerika viel Aufmerksamkeit fand. 14 Dies ist sozusagen der einfache Kreis; Leszek Kolakowski bietet eine subtile Variante : Jahrgang 1927, mit 18 Jahren Kommunist geworden, erforschte er unter anderem die Lehre des institutionalisierten polnischen Katholizismus; nach seiner philosophisch überaus anspruchsvollen Widerlegung des Marxismus-Leninismus und der Begründung einer Philosophie der Freiheit nach Marx wandte er sich dann auf der letzten Stufe seiner Konversionen dem zu, was er einst so vehement bekämpft hatte: der Tradition der "christlichen Lehre". 15

IV. Einordnungsversuche Wurde bisher versucht, einige Grundmuster der Einstellungen und Verhaltensweisen von Intellektuellen im und gegenüber dem Kommunismus vorzustellen, wird es nun darum gehen müssen, historische Kontingenz herzustellen : Es gibt ja nicht den Prototyp eines kommunistischen Intellektuellen, sondern allenfalls historisch-konkret ermittelbare Gruppierungen: - Die Oktoberrevolutionäre mit dem erziehungsdiktatorischen AvantgardeKonzept: hier wären Ernst Reuter, Ignazio Silone, Nikolaj Bucharin und (noch nicht genannt) Isaak Babel 16 anzuführen. 13 Willy Brandt/Richard LöwenthaI, Ernst Reuter. Ein Leben für die Freiheit. Eine politische Biographie, München 1957; Hannes Schwenger, Ernst Reuter. Ein Zivilist im Kalten Krieg, München 1987. 14 Europäische Ideen, hrsg. von Andreas Myke, Heft 9, 1975, Ignazio Silone zum 75. Geburtstag. 15 Vgl. für viele seiner Schriften Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Entstehung, Entwicklung, Zerfall, München 1977 - 1979 sowie ders., Wo sind die Barbaren? Ein Lob des Eurozentrismus oder Die Illusion des kulturellen Universalismus, in : Der Monat, Heft 2, 1980, S. 70 - 83. 16 Vgl. Isaak Babel, Tagebuch 1920. Aus dem Russischen übersetzt, herausgegeben und kommentiert von Peter Urban, Berlin 1990; ders. , Ein Abend bei der Kai-

42

Helga Grebing

- Die deutschen frühen Kommunisten, die gegen die falsche Bürgerlichkeit der Bourgeoisie, aus der sie stammten, protestieren: Franz Borkenau, Margarete Buber-Neumann, Heinz Neumann; dazu die ,Abtrünnigen wider Willen': Ruth Fischer und Arkadij Maslow wären hier zu verorten. - Die Sowjetunion-Begeisterten, zum Teil sukzessive desillusionierten Volksfront-Anhänger und antifaschistischen Spanien-Kämpfer, die sich gleichzeitig konfrontiert fanden mit dem Faschismus und den Stalinschen Säuberungen: Arthur Koestler und George Orwell l7 stehen für die letzteren fast prototypisch; für die ersten wären viele aufzurufen von Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger bis zum jungen Willy Brandt in OS10.18 - Die theoretisch reflektierten Abarbeiter ihrer Option für die Sowjetunion, dem trotz allem "Vaterland aller Werktätigen": Karl Korsch, Fritz Sternberg, 19 Paul Frölich, bei denen die ereignisbezogenen Zäsuren weniger deutlich sind und es sich um eskalierende Prozesse handelt, beginnend mit der Sozialfaschismus-These und sich fortsetzend mit den Säuberungen, den Moskauer Schauprozessen, dem Spanischen Bürgerkrieg, dem Hitler-Stalin-Pakt, bis für sie das "Vaterland aller Werktätigen" kein Traum mehr war, sondern ein Alptraum wurde: sie, die ihren Marx kannten, begriffen es am schnellsten. - Als ein Sonderfall einzuordnen ist Willi Münzenberg, der sich schockartig-widerwillig von der ,Bewegung' (1939 dann auch von der Partei) trennte und seit 1938 einem schmerzhaften Wandlungs- und Lernprozeß unterworfen war, einer lebensgeschichtlichen Krise, die auch Selbstmord im Herbst 1940 nicht ausgeschlossen sein läßt. 20 Sein Bannfluch "Der Verräter, Stalin, bist Du!" schallte damals durchs ganze antifaschistische Europa.

serin. Prosa, Reden, Tagebuch, Briefe, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Heddy Pross-Werth, Berlin 1990. 17 Zu Orwell neuerdings Hans-Christoph Schröder, George Orwell. Eine intellektuelle Biographie, München 1988. 18 Frank Meyer, Interkulturelle Kommunikation im Exil. Zur Analyse der Exilpublizistik in Skandinavien, in: Helga Grebing/Christi Wickert (Hrsg.), Das "andere Deutschland" im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Beiträge zur politischen Überwindung der nationalsozialistischen Diktatur im Exil und im Dritten Reich, Essen 1994, S. 86 - 116. 19 Zu Stemberg neuerdings Sven Papke, Deutsche Soziologie im Exil. Gegenwartsdiagnose und Epochenkritik 1933 - 1945, Frankfurt am Main/New York 1993, S. 38 - 58; vgl. auch Helga Grebing, (Hrsg.), Fritz Stemberg (1895 - 1963). Für die Zukunft des Sozialismus, Frankfurt am Main 1981. 20 Harald Wes seI, Münzenbergs Ende. Ein deutscher Kommunist im Widerstand gegen Hitler und Stalin. Die Jahre 1933 - 1940, Berlin 1991; Babette Gross, Willi Münzenberg. Eine politische Biographie, Stuttgart 1967.

Warum so viel "freiwillige Blindheit"?

43

- Dann die offenen oder sich bedeckt haltenden Apologeten Stalins: Heinrich Mann wiederum, Ernst Bloch, Georg Lukacz, Bert Brecht usw. - Die Absolventen jahrelanger Ablösungsprozesse seit den 30ern bis in die 40er und sogar 50er Jahre hinein: Manes Sperber, Gustav Regler, Ervin Sink6, Susanne Leonhard, Julius Hay, Ernst Fischer, Lew Kopelew (vielleicht auch Alfred Kantorowicz). - Nie erschütterte Anhänger Stalins, für die die Sowjetunion "ihr Jerusalern" bleibt: über Johannes R. Becher, Willi Bredel, Alfred Kurella, Friedrich Wolf, Stephan Hermlin wäre hier zu sprechen. 21 - Spät erschütterte Anhänger Stalins: Alfred Kantorowicz (vielleicht auch erst hier einzuordnen), Leo Bauer, Georg Lukacz, Ernst Bloch, Hans Mayer, Wanda Bronska-Pampuch. - Intellektuelle nationalkommunistische Opponenten gegen den Stalinismus (in Polen, in der DDR): Leszek Kolakowski, Wolfgang Harich, Walter Janka, Gustav Just, aber auch Robert Havemann. 22 - Ausbrecher der jüngeren nachfaschistischen Generation: Wolfgang Leonhard, Carola Stern, Hermann Weber. - Und ihr Gegenbild "treu zur Partei" z.B. Anna Seghers, mit der Variante des vorsichtigen Distanznehmens : Bertolt Brecht, Stefan Heym. - Überzeugte Systemträger, die mehr oder weniger langsam und meist mühevoll sich zu der Einsicht in die Notwendigkeit der Opposition durchgerungen haben: Brigitte Reimann und Christa Wolf zum Beispiel. 23 Dreizehn vorläufige Versuche, eine Gruppe von ca. 200 - 250 Personen in eine vorläufige Systematik zu bringen, wobei die Grundlage überwiegend Selbstzeugnisse sind. Im wesentlichen handelt es sich um Generationskohor21 Reinhard Müller (Hrsg.), Georg Lukacs, Johannes R. Becher, Friedrich Wolf u.a.: Die Säuberungen. Moskau 1936. Stenogramm einer geschlossenen Partei versammlung, Hamburg 1991; Bemd Witte, Johannes R. Becher. Der Verrat der Intellektuellen, in: Die Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Heft 5, 1992 (39. Jg.), S. 408 - 418. 22 Walter Janka, Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Reinbek bei Hamburg 1989; ders., Spuren eines Lebens, Berlin 1991; Wolfgang Harich, Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Zur nationalkommunistischen Opposition 1956 in der DDR, Berlin 1993; Gustav Just, Zeuge in eigener Sache. Die fünfziger Jahre in der DDR, Frankfurt am Main 1990; Armin MitteriStefan Wolle, Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDR-Geschichte, München 1993. 23 Christa Wolf, Im Dialog - aktuelle Texte, Frankfurt am Main 1990; Hermann Vinke (Hrsg.), Akteneinsicht Christa Wolf, Zerrspiegel und Dialog, Hamburg 1993; Brigitte Reimann/Christa Wolf, Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964 - 1973, Berlin 1993.

44

Helga Grebing

ten, die zu bestimmten historischen Zeit- und Fixpunkten in Beziehung gesetzt werden können. Einer zielsicheren soziologischen Einordnung versperrt sich das Personal - schade, denn man hätte alles mit einem Satz abtun können: Trotzki sprach verächtlich VOn den linksbürgerlichen Mitläufern Stalins: "So bildet sich unmerklich eine internationale Schule heraus, die zu nennen wäre Bolschewismus fürs aufgeklärte Bürgertum oder im engeren Sinn Sozialismus für radikale Touristen." Sicher sind das konservativ-liberale bildungsbürgerliche und das kleinbürgerliche Herkunftsmilieu dominant; aber es finden sich auch Aufsteiger aus vorbürgerlichen Schichten und geborene Proletarierkinder; Katholiken, Juden, weniger deutlich Protestanten; Vor- und Vorfeldorganisationen aller Observanzen, darunter auffällig oft die Wandervogel-Bewegung, spielten eine Rolle; Offizierskarrieren (im Ersten Weltkrieg) fehlen ebensowenig wie die Kriegsdienstverweigerer.

v.

Der unfreiwillige Beitrag zur Zerstörung der Utopie

Was alle verband war die Vision einer gerechten Welt; ein Traum, den sie sich selbst zerstörten durch die Unverhältnismäßigkeit der Mittel, die sie guthießen. Ihr Beitrag dazu war das Wort, das die Gedanken frei machen sollte und doch zur Sklavensprache verkam; war durch gegenseitiges Belauern und Denunzieren (meist nur vermeintlich) Andersdenkender ein demaskierendes Lehrstück des stalinistischen Terrors; war die unmittelbare Mittäterschaft in der Nomenklatura. Es gab involvierte Täter, aber nicht minder gläubige Opfer und manchmal bei des in einer Person. Statt der ,neuen Welt' und dem ,neuen Menschen', von denen sie träumten, boten sie der realexistierenden Welt das grandiose Trauerspiel der Absage der Intellektuellen an Individualismus und Liberalismus, die doch ein unverzichtbares Konstituens des besseren Morgen hätten bilden müssen - jedenfalls für Intellektuelle. Warum aber - wie Ervin Sink6 es nennt - soviel "freiwillige Blindheit": "Die Zahl jener Besten geht in die Legion, jener Besten, die damals in tragischer Weise ihre Treue zur Revolution, zum Menschen und zur großen Hoffnung des Menschen wahren wollten und keine andere Möglichkeit fanden und finden konnten, als den Preis einer ,freiwilligen Blindheit' zu zahlen, einer Blindheit, die alles, was in der Sowjetunion geschah und weil es in der Sowjetunion geschah, für notwendig, revolutionär und gut hielt. ,,24 Ja, warum? Systemstrukturelle Erklärungen und psychoanalytische Deutungen liegen nahe und haben gewiß ihr Gewicht; aber manchmal ging es um ganz triviale Sachen: das eigene Theater, die Lehrkanzel, die man bekom24 Ervin Sink6, Roman eines Romans. Moskauer Tagebuch 1935 - 1937, Neuauflage Berlin 1990 (Erstausgabe Köln 1962), S. 487.

Warum so viel "freiwillige Blindheit"?

45

men oder behalten wollte, manchmal war es ganz kreatürliche Angst vor dem Leiden, ehe der Tod kommen konnte - die Bucharina hat sich vorgeworfen, ihren Mann am Selbstmord gehindert zu haben: "Aber heute denke ich, daß für N. I. besser gewesen wäre, wenn sein Leben damals zu Ende gewesen wäre. ,,25 Nicht selten haben betroffene Intellektuelle sich damit zu entschuldigen versucht oder Dritte haben sie damit entschuldigt, daß sie ihre Legitimierungsleistungen nicht als solche wahrgenommen hätten, nicht die Ausbeutbarkeit ihrer Gedankenarbeit für die Begründung terroristischer Herrschaft begreifen konnten, überhaupt den Charakter des stalinistischen Terrorregimes nicht erkannt hätten. Doch gibt es ausreichend Hinweise darauf, daß viele Intellektuelle Zeugen gegen sich selbst sind. Sie haben gewußt, geahnt, vermutet, und sie verfielen oft genug dem Rausch der Ausübung von Macht, die Herrschaft begründete und befestigte. Dennoch verbietet gerade die komplexe Problematik moralische Entrüstung oder wertende Überheblichkeit. Ebenso wäre es unzulänglich, mit Elementen einer oberflächlichen Totalitarismus-Theorie ,einfache' Erklärungen suchen zu wollen. Unterscheidet man nämlich zwischen anti-emanzipatorischen autoritären Diktaturen und ursprunghaft emanzipatorisch begründeten totalitären Diktaturen (die beide gleichwohl in ihren Herrschaftsformen übereinstimmen oder sich ähnlich sind), so ergibt sich im ersten Fall für Intellektuelle die Legitimierung allein der politischen Herrschaft, durch die gesellschaftliche Veränderungsprozesse ja gerade blockiert, der Status quo erhalten, allenfalls die Evokation von historisch Gewesenen erzeugt werden soll. Im zweiten Fall geht es dagegen um die Legitimierung der dem Anspruch nach gesellschaftsverändernd wirkenden sozialen Utopie, die der politischen Herrschaft vorgegeben ist, aber gleichsam von diesem Legitimierungsvorgang profitieren kann. Nicht abgesehen werden kann auch für die Erklärung intellektueller Verhaltensweisen von der Ambivalenz, die in der Entwicklung der Sowjetunion in den 20er Jahren noch gelegen hat; davon zeugen beispielsweise die Dichtungen Isaak Babels, Walter Benjamins ,Moskauer Tagebuch' und Bucharins Selbstrevision genauso wie der Beginn des Gulag-Systems, das Stalin als ,genialen Ingenieur des Terrors' erst langsam erkennen ließ. Hineinzunehmen in den Erklärungsversuch für ,so viel freiwillige Blindheit' wäre auch die teleologische Perspektive der (ideellen) Daseinsvergewisserung, die Bedürfnis wie Werkzeug der Intellektuellen ist, soweit sie 25 Bucharina, S. 379; vgl. Wladislaw Hedeler/Ruth Stoljarowa, Ein unbekannter Brief Nikolai Bucharins an Josef Stalin vom 10. Dezember 1937, in: Internationale wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung (IWK), Heft 1, 1993 (29. Jg.), S. 20 - 25.

46

Helga Grebing

ihre Wurzeln im bürgerlichen Subjektivismus der westlichen Tradition gehabt haben. Bevor der bürgerliche Subjektivismus jene Perspektive zu verlieren droht, kann er in die Legitimierung diktatorisch-terroristischer Herrschaft und der Partizipation an ihr mutieren, so es ihm nicht gelingt, sich zu der permanenten Anstregung der Akzeptanz des unvollständigen menschlichen Daseins durchzuringen.

Lenin und Stalin als Diktatoren Von Gert Schäfer Der Themenstellung des Symposiums folgend konzentriert sich der folgende Beitrag auf einige Punkte und sieht von historischen Alternativen, internationalen und sozialstrukturellen Bedingungen oder auch von den Techniken einer der Absicht nach umfassenden Herrschaftsausübung und Mobilisierung weitgehend ab. Die Grenzen von Ideologie, Gewaltpolitik und bürokratischer Herrschaft wurden mit dem erneuten Scheitern nachholender Industrialisierung und Modernisierung gegen die fortgeschrittenen Zentren der Welt, dem nach dem Zarenreich abermals fehlschlagenden Versuch, ökonomische und soziokulturelle Unterlegenheit durch militärischpolitische Machtkonzentration zu kompensieren, ohnedies überdeutlich 1. Lenin und Stalin waren, einer stalinistischen Lieblingslegende zuwider, sehr unterschiedliche Personen, und diese anscheinend "winzige Kleinigkeit" gewann tatsächlich eine "entscheidende Bedeutung", wie Lenin in seinem Brief vom 4. 1. 1923 über Stalins groben, illoyalen, launenhaften und intoleranten Charakter schrieb 2 . An der Spitze eines despotischen Regimes wog diese "Kleinigkeit" schwer. Bei allem Sendungsbewußtsein war Lenin, anders als Stalin, von Selbstvergötzung frei und in den Grenzen seiner Grundvorstellungen auch zur öffentlich bezeugten, nicht selten radikalen Kritik an eigenen schwerwiegenden Fehlern fähig. Er war bei aller Autorität in den eigenen Reihen kein Alleinherrscher und wollte dies auch nicht sein. Stalin hingegen unterlag dem Cäsarenwahn und wurde zu einem rachsüchtigen, sadistischen und paranoiden Tyrannen. Meine Bemerkungen mögen als eine Personalisierung abgetan werden, doch läßt sich Stalins despotische Autokratie ohne diese Eigentümlichkeiten nicht zureichend verstehen. Lenin sah, so Leszek Kolakowski, "in den Menschen, einschließlich seiner selbst (... ), ausschließlich Instrumente des politischen Handeins, Werkzeuge des historischen Prozesses (... ). Dank dessen konnte er jeman1 Vgl. G. Schäfer, Über die Grenzen von Gewaltpolitik, Ideologie und bürokratischer Herrschaft. Zum Scheitern eines Jahrhundertexperiments, in: Komitee für Grundrechte und Demokratie, Jahrbuch 1991/92, S. 301 ff. 2 W. I. Lenin, Ergänzung zum Brief vom 24. Dezember 1922, in: Lenin. Ausgewählte Schriften, hrsg. u. eingel. von Hermann Weber, München 1963, S. 1200.

48

Gert Schäfer

den an einem Tag in den Schmutz ziehen und am nächsten Tag ein Bündnis mit ihm schließen, wenn die politische Berechnung dies gebot (... ). Es muß (... ) betont werden, daß Lenin dieses rein technische, instrumentelle Verhältnis zu Menschen und Dingen auch auf sich selbst ausdehnte. An persönlichen Vorteilen lag ihm nichts, er errichtete sich keine Denkmäler und besaß (. . .) nicht die Spur von Wichtigtuerei (.. .). Er betrachtete sich als Werkzeug der Revolution und war sich seiner Sache unbeirrbar gewiß,,3. Gerade dieses Bewußtsein, lediglich Werkzeug einer historischen Sache zu sein, verband sich bei Lenin bei aller Flexibilität zwar mit politischer Unduldsamkeit, aber nicht mit Selbstvergötzung. Lenins Freund, der Historiker Michail Pokrowskij, nannte Calvin, als er gefragt wurde, welcher historischen Gestalt Lenin am ehesten gleiche. Wie Trotzki bemerkte: "Die Überzeugung, daß seine Handlung mit einer höheren Notwendigkeit in Einklang stehe, inspiriert sowohl den Marxisten als auch den Calvinisten zur höchsten Anstrengung und Opferwilligkeit,,4. Auch Lenin war ein großer Hasser und brach vor allem während des Bürgerkrieges in unkontrollierte Attacken aus ("erschießen, erschießen ... "). Er war aber, anders als Stalin, nicht ein geprügelter, geknechteter, ressentimentgeladener, rach- und herrschsüchtiger Mensch - Koba, der Rächer der Entrechteten, der sich sehr früh, als Komiteemann in Tiflis und Baku, zu einem gnadenlosen, unbedingte Gefolgschaft verlangenden Führer in "das gelobte Land des Sozialismus" stilisierte und "marxistische Dialektik" mit Macht und Erfolg identifizierte: "Daher auch der bekannte marxistische Leitsatz : Alles was wirklich ist, das heißt alles, was von Tag zu Tag wächst, ist vemünftig,,5. Stalin steigerte sich - Isaac Deutschers Worte - in die Rolle eines neuen Moses hinein, der ein erwähltes Volk durch die Wüste führt6 . Er wurde zu einem sich selbst vergottenden Tyrannen, der nach unbedingter Anerkennung und Unterwerfung gierte. "Stalin. Anerkennen, Lehrer", kritzelte er seine Sehnsucht nieder7 , wobei er Autorität und Folgebereitschaft seit seiner Jugend als ein Verhältnis von Anerkennung durch Unterwerfung aufgefaßt hatte. Seinen besessenen Kampf um Anerkennung auf Leben und 3 Leszek Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus, 2. Bd., München 1988, S. 579, 528. 4 Vgl. Isaac Deutscher, Trotzki, I. Der bewaffnete Prophet, 1879 - 1921 , Stuttgart 1962, S. 497. 5 J. W. Stalin, Anarchismus oder Sozialismus? Gesammelte Werke, Bd. I, Berlin 1950, S. 26l. Vgl. G. Schäfer, Josef Wissarionowitsch Stalin (1879 - 1953), in: Klassiker des Sozialismus. 2. Bd., hrsg. von Walter Euchner, München 1991, S. 128ff. 6 I. Deutscher, Stalin. Eine politische Biographie, Stuttgart 1962, S. 349. 7 Vgl. Dimitri Wolgokonow, Stalin. Triumph und Tragödie. Ein politisches Porträt, Düsseldorf 1989, S. 37l.

Lenin und Stalin als Diktatoren

49

Tod charakterisierte Leo Strauß mit den Worten: "Der letzte Tyrann präsentiert sich als Philosoph, als die höchste philosophische Autorität, als der oberste Exeget, als der Vollstrecker und Henker, der seine Vollmacht aus der einzig wahren Philosophie"s - dem Marxismus-Leninismus-Stalinismus - herleitet. So präsentierte er sich, während er sich zugleich in Techniken der Alleinherrschaft vertiefte, Worowskis "Über die Natur des Absolutismus", Alexandrows "Staat, Bürokratie und Absolutismus in der Geschichte Rußlands" usw. zu Rate zog, von Iwan dem Schrecklichen (der ihm nicht konsequent genug war) oder von Fouche begeistert war ("Das war mal ein Mann. Alle hat er an der Nase herumgeführt, alle zum Narren gehalten") und Netschajews Archiv zum höchstpersönlichen Gebrauch im Panzerschrank seines Büros aufbewahrte 9 . Geradezu exemplarisch können wir an seinem Werdegang beobachten, was Sigmund Freud archaischen Praktiken zuschrieb: Er "log die Wirklichkeit um im Sinne seiner Sehnsucht. Er erfand den heroischen Mythus ( ... ). Die Lüge des heroischen Mythus gipfelte in der Vergottung des Heros" 10. Was Max Weber als eine sehr häufige Praktik charismatischer Herrschaftslegitimation beschrieb, war so ein charakteristisches Merkmal etwa auf den Kongressen der stalinisierten Partei: "Die Einstimmigkeit ist Postulat, das Einsehen des Irrtums Pflicht, das Verharren in ihm schwere Verfehlung, eine ,falsche' Wahl ein zu sühnendes (ursprünglich: magisches) Unrecht" ll - zu bezahlen mit Demütigung, Folter und Liquidierung. Die stalinistische Despotie seit den späten 20er Jahren war noch etwas anderes als das diktatorische Regime eines bürokratischen oder Kasernensozialismus. Stephen Cohen faßte zusammen: "Der Stalinismus war nicht einfach Nationalismus, Bürokratisierung, fehlende Demokratie, Zensur usw., Polizeistaat und dergleichen im geläufigen Sinn. Solche Erscheinungen sind in vielen Gesellschaften aufgetreten und können verhältnismäßig leicht erklärt werden. Der Stalinismus hingegen war ein Exzeß, ein Äußerstes von alledem. Nicht lediglich Gewaltpolitik gegenüber den Bauern, sondern ein wahrer Bürgerkrieg gegen sie; nicht lediglich Polizeirepression oder sogar bürgerkriegsartiger Terror, sondern ein Holocaust, der Dutzende von Millionen Menschen über ein Vierteljahrhundert zu Opfern machte; 8 Leo Strauß, Über Tyrannis. Eine Interpretation von Xenophons ,Hieron' mit einem Essay über Tyrannis und Weisheit von A. Kojeve, Neuwied, Berlin 1963, S.236. 9 Vgl. D. Wolgokonow, S. 370; G. Schäfer, Stalin, S. 148 f. 10 Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, Frankfurt/M. 1967, S. 74f. 11 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Kap. 111, 5., Köln/Berlin 1964, S. 183. 4 FS Euchner

50

Gert Schäfer

(... ) nicht nur em Führerkult, sondern die VergöUlichung emes Despoten,,12. Derlei "Exzesse", die Raserei einer Vernichtungsmaschinerie, der Wahnwitz des Tyrannen und seiner Satrapen, die Beifallssalven unterdrückter und aufgehetzter Massen usw., können nicht zureichend aus der Vorgeschichte, der gesellschaftlichen Basis und verhängnisvollen politischen Weichenstellungen oder aus Struktureigentümlichkeiten diktatorischer Herrschaft an sich erklärt werden. Keine ,materialistische', auf ökonomische Determinationen oder Zwänge, den Kampf von sozialen Klassen und Schichten konzentrierte Sichtweise und auch keine Deduktion aus politischen Ideologien kann die destruktiven Triebkräfte erklären. Solche Antriebe und Entwicklungen gehören zu dem, was die Psychopathologie politischer und gesellschaftlicher Gewalt genannt werden kann. Sie geht einher mit Gewöhnung an massenhafte Barbarei, Erniedrigung, Terror und deren Lobpreisung - Produktions stätten von Massenverbrechen und eines ihnen angepaßten ,Menschentums'. Hannah Arendt hat im Blick auf den Stalinismus die Verknüpfung von Ideologie und Terror hervorgehoben und betont, daß unter Berufung auf die historische Notwendigkeit widerspenstige Menschen und "feindliche Klassen" schließlich nur noch als ein Material galten, an dem das vermeintliche geschichtliche Gesetz "im furchtbarsten Sinne des Wortes exekutiert" wurde 13 . Georg Lukacs sprach im Rückblick von einem Dogmatismus, der im Beiseitefegen jeglicher Rechtsgarantien "selbst ein Minimum an Humanität (... ) verächtlich-systematisch annullierte" 14. Tatsächlich waren hier noch andere Triebkräfte als Legitimationsideologien und dogmatische Überzeugungen am Werke. Trotz Kontinuitäten in der Herrschaftslegitimation mit Vokabeln aus dem den neuen Bedingungen unterworfenen marxistischen Arsenal - jetzt typische Formeln der Macht würde das Verständnis der wirklichen Geschichte verstellt, wenn wir sozusagen aufs Wort glaubten. Theodor von Laue bezeichnete angesichts der realen Entwicklung Rußlands bzw. der Sowjetunion die marxistisch-leninistische Ideologie als einen zwar sachdienlichen Glauben, jedoch als grundfalsches Bewußtsein einer Revolution der Rückständigkeit in einem Zeitalter des Imperialismus l5 . Leszek Kolakowski bemerkte, daß der Marxismus 12 Stephen F Cohen, Rethinking the Soviet Experience. Politics and History Since 1917, New York/Oxford 1985, S. 48. 13 Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt/M. 1958, S. 675. 14 Georg Lukacs, Schriften zur Ideologie und Politik, hrsg. von Peter Ludz, Neuwied, Berlin 1967, S. 682f. 15 Theodore H. von Laue, Stalin in Focus, in: Slavic Review, 1983, Nr. 3, S. 373 ff.

Lenin und Stalin als Diktatoren

51

"als verbindliche Ideologie des sowjetischen Staates (... ) schon früh aufhörte, irgendeine Rolle als ein selbständiger Faktor zu spielen, der die faktische Politik des Staates beeinflußt hätte" und "einfach zur Rhetorik (wurde), die der Rechtfertigung der Realpolitik des großen Imperiums dient,,16. Gefragt werden muß jedenfalls, inwieweit eigentlich das ideologische Selbstverständnis der Akteure und die legitimatorischen Formeln der Macht das wirkliche Handeln und seine Resultate erklären können und inwieweit nicht? Lenins Auskunft: "Wir mußten uns fast durchweg tastend vorwärtsbewegen. Diesen Umstand wird jeder Historiker ( .. .) besonders unterstreichen (. .. ). Wir zweifelten nicht daran, daß wir, nach einem Ausspruch des Genossen Trotzki, ein Experiment anstellen müssen,,17. "Wie ich mich erinnere, hat Napoleon einmal geschrieben: ,On s'engage et puis . . . on voit. In freier Übersetzung heißt das etwa: Zuerst stürzt man sich ins Gefecht, und das Weitere wird sich finden" . Den Kritikern falle es "nicht einmal im Traum ein, daß Revolutionen überhaupt nicht anders gemacht werden können" I 8. Mehr noch: "Wie hätte auch ohne Phantasten in einem solchen Land die sozialistische Revolution begonnen werden können?,,19. Wir kennen die diesem Experiment ursprünglich zugrundeliegenden Diagnosen : "Der Kapitalismus, der sich ausgewachsen hat zum Imperialismus, hat zwangsläufig den imperialistischen Krieg erzeugt,,20. "Der Krieg hat die ganze Menschheit an den Rand des Abgrunds gebracht, in die Gefahr des Untergangs der ganzen Kultur, der Verwilderung und Vernichtung weiterer Millionen und aber Millionen Menschen. Es gibt keinen Ausweg außer der Revolution des Proletariats,,21. Das waren nicht allein Lenins tiefe Überzeugungen, von denen er annahm, daß sie nach allen Regeln des wissenschaftlichen Sozialismus bewiesen seien. Überdies - war es nicht tatsächlich "möglich, daß das Proletariat in einem ökonomisch rückständigen Land eher an die Macht kommt als in einem kapitalistisch fortgeschrittenen Land'.zz, wie Trotzki schon 1905 postuliert hatte? 16 Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus, 3. Bd., München 1979, S. 119f. 17 W. 1. Lenin, Bericht an das Zentralkomitee, 18. März 1919, in: Ausgewählte Schriften, S. 936f. 18 W. 1. Lenin, Über unsere Revolution. Zu den Aufzeichnungen N. Suchanows, 16.117. Januar 1923, in: Ausgewählte Schriften, S. 1176. 19 W. 1. Lenin, Referat über die Naturalsteuer, 15. März 1921, in: Ausgewählte Schriften, S. 1093. 20 W. 1. Lenin, Die Aufgaben des Proletariats in unserer Revolution, 10. April 1917, in: Ausgewählte Schriften, S. 672. 21 Ebd. 4*

52

Gert Schäfer

Dabei konnten Lenin und die denkenden Bolschewiki ihr Tun zu Beginn vor sich selbst nur rechtfertigen, weil sie die Oktoberrevolution, die das Schlachten des Weltkrieges beenden sollte, als Auftakt für eine deutsche und westliche Revolution in einer kriegsbedingten Sondersituation betrachteten. Am Ende seines Lebens sollte Lenin dann darauf setzen, daß gerade "die völlige Auswegslosigkeit der Lage ( ... ) die Möglichkeit eröffnete, auf einem anderen Wege daranzugehen, die grundlegenden Voraussetzungen der Zivilisation zu schaffen als in allen übrigen westeuropäischen Staaten,,23. Sehen wir vom blutdürstigen Cäsarenwahn Stalins und seiner Despotie oder dem Wüten von Satrapen und Folterknechten ab, fragen wir danach, was auch die aufrichtigsten Bolschewiki dazu trieb, der Zwangs- und Terrorherrschaft seit den Tagen der Bürger- und Interventionskriege beizupflichten und ihre eigenen persönlichen Skrupel niederzuschlagen (Trotzki im Privatgespräch: "nichtswürdige Methoden,,24 - öffentlich: wer das Ziel will, muß auch die Mittel billigen) so war dies - über die nichts scheuende Selbstbehauptung in dem erbarmunglosen Bürgerkrieg hinaus - der Glaube an das welthistorisch verbürgte Recht ihres Kampfes, aus dem sich die unbedingte revolutionäre Pflicht ergebe, "mit allen Mitteln" die ihrerseits nicht wählerischen Feinde zu bekämpfen. Damit wurde frühzeitig grundsätzlich der Weg zur absoluten Feindschaft und völligen Entrechtung tatsächlicher oder vermeintlicher Feinde der Revolution beschritten. "Krieg ist Krieg" - hier siegt die effizienteste, rücksichtsloseste Macht. Die Frage der Gewalt galt ausschließlich als eine Frage technischer Zweckmäßigkeit, die Entrechtung aller wirklichen oder möglichen Feinde der revolutionären Sache als das (vielleicht bedauerliche) revolutionäre Gebot. Ist Terror nützlich, dann ist er auch legitim. Es mag nützlich sein, dem Feind Milde zu zeigen oder Abkommen mit ihm zu schließen. Aber auch das ist allein eine Sache der Zweckmäßigkeit in diesem gerechten Krieg und Kampf, dem der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Ausgebeuteten gegen die Ausbeuter USW. 25 . Das war die durch ein entwicklungsgesetzliches Denken modifizierte Version des Tugendterrors, eine Pflichtenlehre revolutionärer Gewalt, eingebettet in eine Geschichtsauffassung, die Maurice Merleau-Ponty mit den Worten charakterisierte: "Wenn die Revolution in den Dingen (den "mate22 Leo Trotzki, Ergebnisse und Perspektiven (1906). Die permanente Revolution (1930), mit Einleitungen von Helmut Dahmer und Richard Lorenz, Frankfurt/M. 1971, S. 75. 23 W. I. Lenin, Über unsere Revolution, in: Ausgewählte Schriften, S. 1175. 24 Vgl. Angelica Balabanoff, Lenin, Hannover 1961, S. 123 f. 25 Vgl. besonders Leo Trotzki, Terrorismus und Kommunismus. Anti-Kautsky, Hamburg 1920.

Lenin und Stalin als Diktatoren

53

riellen" Gesetzen der geschichtlichen Entwicklung, G. S.) ist, weshalb sollte man dann zögern, mit allen Mitteln Widerstände zu beseitigen ( ... )? Indem der wissenschaftliche Sozialismus sich als Reflex dessen ausgibt, was ist, des historischen Prozesses an sich, (... ) verleiht er sich das Aussehen eines absoluten Wissens (... ). Wenn also die Bolschewiki ( ... ) sagen, daß man in gewissen Augenblicken imstande sein muß, die Geschichte zu zwingen, Phasen der Entwicklung zu überspringen ( ... ), wenn sie mit Lenin sagen, daß der Revolutionär für lange Zeit dazu verdammt ist, ,auf die Köpfe zu schlagen' (statt die Appassionata zu hören, wie Lenin nicht ohne Bedauern sagte, G. S.) und es einer endlosen Anstrengung bedarf, die klassenlose Gesellschaft zu formieren und die Geschichte durch Feuer und Eisen dazu zu bringen, daß sie ihren Sinn verwirklicht: - diese Stimmung der Gewalt und der Wahrheit, dieser auf ein absolutes Wissen gestützte Voluntarismus" bedeutet: "Man schafft tüchtig im Namen der Wahrheit, man bedient sich der Gewalt mit umso weniger Skrupeln, als sie, wie man sagt, den Dingen innewohnt. Das ist der bolschewistische Geist (... ), Krisis und Folge des Marxschen,,26. Was Stalin und die Seinen betrifft: die von ihnen Marxismus-Leninismus-Stalinismus genannten herrscherlichen Phrasen und Dekrete waren vielleicht insofern falsches Bewußtsein, als sie wirklich glauben mochten, im Sinne der Büsten, Statuen und Gemälde ihrer vermeintlichen Propheten zu denken. Wo ihnen Tat, Wort und Schrift der zu Ikonen Verhöhnten jedoch nicht paßten, wurde diese verworfen, geleugnet, eingestampft und verfälscht. Diese ideologischen Praktiken - wenn die Formeln der Macht tatsächlich so genannt werden können - bedienten sich einer zur Phrase verkommenen Propaganda, um sich den Mantel des Weltgeistes und das Recht der Geschichte umzuhängen. Dazu gehörte die ständige Beschwörung dialektischer Entwicklungsgesetze als der geradezu kosmischen Garantie ihrer Gewaltstreiche, eine magische Versicherung, das Gesetz der Natur wie der Geschichte sei auf ihrer höheren Seite. Vor allem handelte es sich um Dekrete einer höchsten Autorität, um herrscherliche Denk- und Handlungsweisungen, die, dem Apparat von Befehlsempfängern gemäß, ohne reflektierende Distanz "buchstabiert werden, mechanisch gelernt, monoton und wörtlich", wie "ein Ritual, das die verwirklichende Aktion" begleitet27 . Stalins Lehre von der Möglichkeit des Sozialismus im rückständigen Rußland sollte die Orientierung am Westen, die marxistische Tradition und 26 MauriceMerleau-Ponty, Die Abenteuer der Dialektik, Frankfurt/M. 1968, S. 103 ff. 27 Herbert Marcuse, Die Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus, Neuwied, Berlin 1964, S. 95.

54

Gert Schäfer

den "Trotzkismus" treffen. Sein Gesetz von der notwendigen Verschärfung des Klassenkampfes beim Herannahen und Erreichen des Sozialismus war die Begleitformel des Massenterrors. Die von ihm zur Kardinalfrage des Leninismus erhobene Anerkennung der Sowjetunion als Basis der Weltrevolution bedeutete die Unterordnung der Kommunistischen Internationale unter die von der Führung definierten Interessen des Landes. Als er die Sprache als nicht zum Überbau gehörig erklärte, kam es dem ungeheuren Dialektiker darauf an hervorzuheben, daß der Überbau noch viel wichtiger sei als ursprünglich angenommen. Das war die Sanktionierung des zivilen und militärischen Herrschaftsapparates. Derlei Legitimationsideologie folgt nicht aus irgendeiner marxistischen oder leninistischen Idee. Vielmehr werden die jeweiligen Formeln der Macht zum Marxismus oder Leninismus erklärt und, der Herrschaftsform entsprechend, mit dogmatischem Absolutheitsanspruch verkündet. Doch auch Lenins Begriff der revolutionären Diktatur lief stets auf eine terroristische Diktatur hinaus. "Der wissenschaftliche Begriff der Diktatur", sagte er z. B. 1906, "bedeutet nichts anderes als eine durch nichts beschränkte, durch keine Gesetze und absolut keine Regeln eingeengte, sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht. Nichts anderes als das bedeutet der Begriff Diktatur - merken Sie sich das gut,,28. "Die Diktatur ist eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keinerlei Gesetze gebunden ist", schleuderte er Kautsky 1918 entgegen 29 . Der junge Trotzki hatte in seiner "halbmenschewistischen" Zeit noch die Frage gestellt, ob es denn erlaubt sei, wie die Jakobiner als "reinste Idealisten" im Glauben "an die metaphysische Idee", verbunden mit "absolutem Mißtrauen gegenüber den lebendigen Menschen", "einige Menschenhekatomben" zu opfern, weil dies für die ,Wahrheit' kein zu teurer Preis" sei. Maximilian Lenin sei von diesem Schlag, wenn er sich auch gegenwärtig (1904) lediglich damit abgebe, "theoretisch zu terrorisieren"; seine Orthodoxie stehe "jener absoluten verite, die die Jakobiner beseelte, sehr nahe,,3o. Lenin spottete über den Wankelmut seiner einstigen "Keule", die ihn gut traf. Und tatsächlich wurde er von Konzeptionen beherrscht, die auch unter glücklicheren Bedingungen Bausteine dessen werden konnten, was Trotzki im bitteren Rückblick, nicht ohne im "Kriegskommunismus" maßgeblich 28 W. I. Lenin, Der Sieg der Kadetten und die Aufgaben der Arbeiterpartei, in: Werke Bd. 10, Berlin 1960, S. 244. 29 W. I. Lenin, Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky, in: Ausgewählte Schriften, S. 902. 30 L. Trotzki, Schriften zur revolutionären Organisation, hrsg. von Hartrnut Mehringer, Reinbek 1970, S. 115, 120. Vgl. G. Schäfer, Trotzki - die Tragödie eines revolutionären Marxisten, in: Theodor Bergmann/Gert Schäfer (Hrsg.), Leo Trotzki. Kritiker und Verteidiger der Sowjetgesellschaft, Mainz 1993, S. 17 ff.

Lenin und Stalin als Diktatoren

55

dazu beigetragen zu haben, einen totalitär-bürokratischen Staat nannte 31 . Wie auch anders, wenn in vermeintlicher Dialektik wie in "Terrorismus und Kommunismus" beschworen wird: "Der Weg zum Sozialismus (führt) über die höchste Anspannung der Staatsorganisation ( ... ). So nimmt (... ) der Staat, bevor er verschwindet, die Form der Diktatur des Proletariats an, d.h. des schonungslosesten Staates, der das Leben der Bürger von allen Seiten gebieterisch erfaßt. Diese Kleinigkeit nur, diese ganze Geschichtsstufe - die Staatsdiktatur - hat (... ) der ganze Menschewismus nicht bemerkt und ist über sie gestolpert. Keine andere Organisation, außer der Armee, hat die Menschen mit so hartem Zwang erfaßt wie die staatliche Organisation der Arbeiterklasse in dieser schwersten Übergangsepoche'.32. Lenin selbst hatte durchaus Reserven gegenüber dieser "administrativen" Identifikation von Staat und Diktatur des Proletariats. Aber, in Thesen 33 zusammengefaßt: 1. Sein Organisationskonzept einer zentralisierten Führerpartei mit "eiserner Disziplin", "Geschlossenheit", "Einheit des Willens und Handeins", der Verwandlung "der Autorität der Ideen in eine Autorität der Macht" USW. 34 begünstigte, im Verein mit der Beseitigung von Machtkontrollen und Gegengewichten, sowohl die Verschmelzung von Staat und Partei als auch die, von Eigentümlichkeiten der russischen Tradition geprägte, Bürokratisierung einer der Absicht nach umfassenden gesellschaftlichen Machtausübung. Daher trifft im Resultat zu, was L. Kolakowski feststellte: "Auf diese Weise legte Lenin das Fundament für das, was dann zur Kommunistischen Partei werden sollte, einer Partei, die sich vor allem auszeichnen sollte durch ideologische Einheit, Funktionstüchtigkeit, hierarchischen und zentralistischen Aufbau sowie die unerschütterliche Überzeugung, daß die Partei die Interessen des Proletariats ganz unabhängig davon repräsentiert, was das wirkliche Proletariat darüber denkt; eine Partei, die folglich davon ausgeht, daß ihr Interesse automatisch mit dem Interesse der Arbeiterklasse und dem des universellen Fortschritts identisch ist, die auf dieser Grundlage zugleich davon ausgeht, daß sie über die ,wissenschaftliche Erkenntnis' ver·· t,,35 . f ug

31 L. Trotzki, Verratene Revolution. Was ist die Sowjetunion und wohin treibt sie? Zürich 1937, S. 107. 32 L. Trotzki, L.: Terrorismus und Kommunismus, S. 141. 33 Vgl. ausführlicher G. Schäfer, Lenin, Bürokratie und Bürokratismus, in: Th. Bergmann/W. Hedeler/M. Keßler/G. Schäfer (Hrsg.), Lenin. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Mainz 1994. 34 An solche Formulierungen sollte Stalin mit Vorliebe anknüpfen. Vgl. etwa seine kanonische Schrift "Fragen des Leninismus". 35 L. Kolakowski, Hauptströmungen des Marxismus, 2. Bd., S. 443.

56

Gert Schäfer

2. Lenins Konzeption führte auch und gerade in der radikalen Form von "Staat und Revolution" in die Irre - nicht zuletzt Folge seiner polemischen Überbietung von Kautskys Überlegungen zur demokratischen Kontrolle von Bürokratie und "Beamten". - "Bei Kautsky sieht die Sache so aus: da nun einmal gewählte beamtete Personen bleiben, so bleiben auch im Sozialismus die Beamten, bleibt die Bürokratie! Und gerade das ist falsch". Lenin wollte die Grundlagen einer revolutionären "Diktatur des Proletariats" klären, einerseits der Zerschlagung des alten "politischen Staates" und seiner militärisch-bürokratischen Institutionen (wesentlich eines militär- und polizeistaatlichen Typus), andererseits "der neuen Maschine", mit der die neue Klasse "kommandiert" und "regiert". Dies betraf vor allem a) die beschworene "Dialektik" von absterbendem Staat und "revolutionärer Ausnutzung des Staates", b) das Ausblenden der entscheidend wichtigen Fragen öffentlicher Meinungs-, Urteils- und Entscheidungsbildung und der Regeln gesellschaftlicher Handlungskoordination - bei vorausgesetzter, fragloser Identität von Interessen, Überzeugungen und Sichtweisen der ins Auge gefaßten Säulen "oben" und "unten" - unten vollständige Selbstverwaltung, oben die "direkte Macht des bewaffneten Proletariats, seine Diktatur" vielmehr die der "Avantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifen und das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnung zu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer zu sein,,36. 3. Vor dem Hintergrund seines alten Lobs der Fabrikdisziplin und einer angeblich durch die modeme Technik und Wissenschaft vorgeschriebenen unbedingten Willenseinheit und strengsten Zentralisation kam Lenin wenn überhaupt - nur unzureichend zu Gesicht, daß auch eine "Verwaltung von Sachen" und "Leitung von Produktionsprozessen" mit sozialen und politischen Über- und Unterordnungsverhältnissen einhergeht, wenn und sobald solche ,funktionellen' Autoritätsverhältnisse auch nur die Spur einer gesellschaftlichen Auswirkung besitzen und sich in sozialen Hierarchien niederschlagen. 4. Lenins spätere Kritik des Bürokratismus im "Sowjetstaat" mündete in Vorstellungen einer kommunistischen Verwaltungskunst und Kontrolle der rückständigen, schlecht funktionierenden bürokratischen Apparate von oben, die in der Kontinuität seiner erziehungsdiktatorischen Vorstellungen der Herrschaft einer wissenschaftlich aufgeklärten Minderheit lagen. Hier erneuerte er im Zeichen des wissenschaftlichen Sozialismus und Marxismus die altehrwürdige Vorstellung, zur Herrschaft sei berufen und legitimiert, wer das Wissen besitzt, was durch andere, die Ausführenden, zu tun sei. 36 W. I. Lenin, Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Proletariats in der Revolution, Berlin 1967, S. 28. Vgl. insgesamt Walter Euchner, Die Degradierung der politischen Institutionen im Marxismus, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 4/1990, S. 487 ff.

Lenin und Stalin als Diktatoren

57

Kurz, die bereits zu Beginn des Jahrhunderts beschworene "Teilung der Arbeit unter Führung einer zentralen Körperschaft", die bei Axelrod "ein tragikomisches Gezeter über die Verwandlung des Menschen in Rädchen und Schräubchen" - bevorzugte Bilder Lenins - hervorrief, blieb sein zentrales Konzept einer politischen und "materiellen Organisation, die Millionen Werktätiger in der Armee der Arbeiterklasse zusammenfaßt,,37. Sein Organisationskonzept bedeutete, trotz aller Reden gegen "Bürokratismus", entscheidenden Bestandteilen nach gerade die Trennung von Leitern und Geleiteten, Organisatoren und Organisierten, Regierenden und Regierten nach dem Muster einer bürokratischen Hierarchie des Wissens und der Autorität. Unter den Auspizien Stalins und seiner Gefolgsleute kam es dann in gigantischem Ausmaß zu dem, was Franz Leopold Neumann im Rückblick in die lakonischen Worte faßte: "Der Terror als normales Mittel der Politik gegenüber dem Klassengegner ist in der Leninschen Definition der Diktatur des Proletariats enthalten, ist dann auf die Partei und auf die angeblich klassenlose Gesellschaft ausgedehnt worden,,38.

37 W. I. Lenin, Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück (1904), in : Ausgewählte Schriften, bes. S. 265,291. 38 Franz L. Neumann, Demokratischer und autoritärer Staat. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt/M. 1967, S. 276.

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats Von Joachim Petzold Die DDR hat sich offiziell als einen Arbeiter-und-Bauern-Staat verstanden. Die Bezeichnung Diktatur des Proletariats taucht in den Verfassungen von 1949 und 1968 nicht auf. Sie tritt uns fast nur in Dokumenten der SED entgegen. Als auf dem VI. Parteitag von 1963 ein neues Partei statut beschlossen wurde, hieß es darin rückblickend: "Von unten nach oben baute das arbeitende Volk seine antifaschistisch-demokratische Staatsmacht auf, die den Charakter der demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern hatte."l Im auf dem IX. Parteitag 1976 verabschiedeten neuen Parteiprogramm lautete die entsprechende Formulierung: "In Gestalt der Deutschen Demokratischen Republik errichtete und festigte die Arbeiterklasse im Bündnis mit den Bauern und anderen Werktätigen ihre politische Herrschaft. Sie schuf den sozialistischen Staat der Arbeiter und Bauern als eine Form der Diktatur des Proletariats. ,,2 Die erste Frage, die zu beantworten wäre, lautete daher: Warum hat man diese Beschreibung des DDR-Staates eigentlich nur parteiintern verwendet? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil der Diktaturbegriff durch die NS-Zeit restlos diskreditiert war und weil man unbedingt durch den Hinweis auf die Bauern, die zusammen mit den Arbeitern natürlich die Bevölkerungsmehrheit bildeten, sich eine demokratische Legitimation verschaffen wollte. Diese Absicht sprach nicht nur aus der Formulierung "von unten nach oben", sondern auch aus der auf dem VI. Parteitag erfolgten Umschreibung des autoritären Kommandoprinzips von oben nach unten als "demokratischer Zentralismus".3 Die zweite Frage, die schon viel schwieriger zu beantworten ist, wäre dann: Warum wurde dieses irreführende Versteckspiel parteiintern mitgemacht? Offensichtlich hatte man zwischen 1948 und 1955 die Parteidisziplin in der SED im Rahmen der Wandlung zu einer "Partei neuen Typs" im Sinne Lenins und Stalins so fest verankert, daß es keine ernsthaften Diskussionen um das theoretische Selbstverständnis von I Erich Honecker, Das Parteistatut der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1963, S. 140 (Statut). 2 IX. Parteitag der SED, Berlin, 18. bis 22. Mai 1976. Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Berlin 1976, S. 7. 3 Honecker, S. 23.

60

Joachim Petzold

Partei und Staat und die nahezu uneingeschränkte Entscheidungsgewalt des Politbüros mit dem Generalsekretär an der Spitze mehr gab. Selbst im Gefolge des xx. Parteitags der KPdSU und der Verurteilung Stalins kam es nur vorübergehend zu zaghaften Versuchen, die marxistisch-leninistische Theorie zu überprüfen. Seit dem Februarplenum des ZK der SED von 1958 hatten Ulbricht und der in den Auseinandersetzungen mit den sogenannten Revisionisten auf allen Gebieten zum zweiten Mann in der Partei aufgestiegene Honecker die Zügel wieder fest in der Hand. Doch erst die dritte Frage führt zum Kern des Problems: Warum wurde der Begriff Diktatur des Proletariats von der Masse der SED-Mitglieder und von damals mitunter schon recht kritisch denkenden Intellektuellen in der Partei überhaupt noch akzeptiert, wenn sich selbst die Parteiführung scheute, ihn in offiziellen Staatsdokumenten zu gebrauchen? Die Antwort berührt die Fundamente, auf dem der Marxismus ruht.

I. SED-Mitglieder hatten sich als Marxisten-Leninisten zu verstehen. Das bedeutete in der Frage der Diktatur des Proletariats, sich erst einmal an Lenin zu halten. Dieser hatte in seinen diesbezüglichen Standardwerken aus den Jahren 1917 und 1918 "Staat und Revolution" sowie "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky" die unbedingte Notwendigkeit dieser Staatsform beim Übergang zum Sozialismus unterstrichen. Er konnte sich jedoch dabei - durch nachprüfbare Zitate belegt - auf Marx und Engels berufen und in einer dogmatischen Weise sogar formulieren: "Ein Marxist ist nur, wer die Anerkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktatur des Proletariats erstreckt. ,,4 Karl Marx hatte schon in einem Brief an Joseph Weydemeyer aus dem Jahre 1852 geschrieben: "Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst, weder die Existenz der Klassen in der modemen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. Bürgerliche Geschichtsschreiber hatten längst vor mir die historische Entwicklung dieses Kampfes der Klassen, und bürgerliche Ökonomen die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ich neu tat, war 1. nachzuweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; 3. daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet.,,5 W. I. Lenin, Werke, Bd. 25, Berlin 1981, S. 424. Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 25, Berlin 1987, S. 507f. Walter Euchner hat sich zur Einordnung des Begriffs Diktatur des Proletariats in das Gesamtwerk von Marx in seiner 1972 in München erschienenen Biographie von Kar! 4

5

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

61

Obwohl Marx und Engels bereits dem Begriff Diktatur des Proletariats bei der Niederschrift des Kommunistischen Manifestes nahe gekommen waren, entwickelten sie die damit verbundene Staatstheorie erst unter dem Eindruck der von der Pariser Kommune 1871 gesammelten Erfahrungen. Dabei zeigten sich jedoch im Laufe der Zeit gewisse Nuancierungen. Marx formulierte 1875 in seiner Kritik des Gothaer sozialdemokratischen Programmentwurfs noch recht kategorisch auf den gewaltsamen Umsturz setzend: "Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Gesellschaft liegt die Periode der revolutionären Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht auch eine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andres sein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats. ,,6 Engels, der die politische Entwicklung in den fortgeschrittenen Ländern länger als Marx verfolgen konnte, schrieb 1891 in seiner Kritik des neuen sozialdemokratischen Programmentwurfs schon die demokratischen Wahlmöglichkeiten einbeziehend: "Wenn etwas feststeht, so ist es dies, daß unsre Partei und die Arbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter der Form der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifische Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die große französische Revolution gezeigt hat.,,7 Doch auch Marx hatte die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß es in entwickelten Ländern wie England und Amerika einen friedlichen, auf das allgemeine Wahlrecht gestützten Übergang zum Sozialismus geben könnte. 8 Das war überhaupt der fundamentale Unterschied zwischen den Auffassungen von Marx und Engels auf der einen und denen von Lenin und Stalin auf der anderen Seite: Erstere gingen als konsequente Verfechter der von ihnen geschaffenen Lehre davon aus, daß die sozialistische Umwälzung nur in hochentwickelten kapitalistischen Ländern einzusetzen und nicht auf politischer und ökonomischer Rückständigkeit aufzubauen vermöge. Letztere ignorierten wie auch Mao Zedong und mancher andere politische Repräsentant der Dritten Welt diese Binsenweisheit des Marxismus und schufen so in ihren Machtbereichen pseudosozialistische Systeme, die durch ihr niedriges Wirtschafts- und Lebensniveau den Begriff Sozialismus diskreditierten und die aus diesem Grunde einer permanenten politischen Diktatur bedurften. Karl Kautsky, der - wie nach ihm Rosa Luxemburg - genau spürte, daß mit dem Bekenntnis zur Diktatur niCht nur den demokratischen WahlrechtsMarx geäußert (S. I 13ff.; Revolution und Diktatur des Proletariats). Peter von Oertzen ist auf diese Problematik in dem von Walter Euchner herausgegebenen doppelbändigen Werk Klassiker des Sozialismus, München 1991, Bd. 1, S. 139ff. eingegangen. 6 Marx/Engels, Bd. 19, Berlin 1987, S. 28. 7 Ebd., Bd. 22, Berlin 1990, S. 235. 8 Ebd., Bd. 18, Berlin 1989, S. 160.

62

Joachim Petzold

hoffungen der Arbeiter widersprochen, sondern auch politisches Glatteis betreten und Wasser auf die Mühlen des bolschewistischen Fundamentalismus gegossen wurde, bemühte sich nach Kräften, die Herbeiführung der Demokratie zum politischen Hauptziel der sozialistischen Arbeiterbewegung zu erklären. Er schadete jedoch seinem Anliegen, wenn er den Begriff Diktatur des Proletariat als nebensächlich im marxistischen Lehrgebäude als ein "Wörtchen" - bagatellisierte. 9 Es konnte ganz einfach nicht bestritten werden, daß dieser Begriff überragende Bedeutung für Marx und Engels besaß und das Kernstück ihrer Revolutions- und Staatslehre bildete. Exkurs über die Rolle von Diktaturen in der Geschichte

Wer heute schon an der Verwendung des Wortes Diktatur beim Streben zum Sozialismus Anstoß nimmt, der muß bedenken, daß alles, was mit der diktatorischen Herrschaftsform zusammenhängt, im 19. Jahrhundert noch keineswegs so ausschließlich negativ besetzt war, wie das heutzutage der Fall ist. Schon ein Blick in die einschlägige Literatur und sogar in die Lexika läßt erkennen, die Geschichte kennt ganz unterschiedliche Typen von Diktaturen. Sie wurden mitunter aus der Not geboren und dienten ebenso der Stabilisierung alter überlebter wie neuer zukunftsträchtiger Gesellschaftsordnungen. Der "dictator" im alten Rom war ursprünglich ein für einen eng begrenzten Zeitraum mit außerordentlichen Vollmachten für Kriegs- und Bürgerkriegszeiten ausgestattetes Staatsoberhaupt der Republik. Erst Caesar ernannte sich kurz vor seiner Ermordung in Anlehnung an Sulla zum "dictator perpetuus" und ließ noch mehr als dieser erkennen, daß er an eine unbegrenzte Fortsetzung seiner Herrschaft dachte. Selbst die sich von der Diktatur negativ abhebende griechische Tyrannei wurde von Plato und Aristoteles auch als eine Art Strafe für eine entartete Demokratie beschrieben, die unter den Bedingungen der Sklaverei ohnehin nur eine Minderheitenherrschaft war. In der Neuzeit haben Cromwell und Napoleon I. diktatorische Herrschaftsformen errichtet, die im unmittelbaren Zusammenhang mit den Revolutionen in England und Frankreich standen. Ihr und vor allem der Jacobiner Wirken zur Stabilisierung der revolutionären Errungenschaften des Bürgertums und der Bauernschaft hatten Marx und Engels vor Augen, wenn sie annahmen, daß auf die von ihnen erwartete proletarische Revolution etwas ähnliches folgen würde. Dabei war es ihnen, die sich am Beispiel der Pariser Kommune orientierten, niemals in den Sinn gekommen, daß die sogenannte Diktatur des Proletariats einmal durch Willkürherrscher vom Typ Stalins geprägt sein könnte. Für sie handelte es sich stets um eine Klassen-, nie um eine Personenherrschaft auf dem Wege zum Sozialismus. 9

Karl Kautsky, Die Diktatur des Proletariats, Wien 1918, S. 60.

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

63

Kautsky meinte daher, Marx habe den Begriff Diktatur des Proletariats nur in einem übertragenen Sinne verwenden wollen; denn ein diktatorisches Regime sei nun einmal an einen Diktator gebunden. Eine Klasse könne zwar herrschen, aber nicht regieren. IO Bei Kautsky ist also schon deutlich zu erkennen, wie das allgemeine Streben nach Demokratie - im Ersten Weltkrieg durch die Reden und Erklärungen des amerikanischen Präsidenten Wilson geradezu zum Kriegsziel gemacht und beim Kampf gegen die monarchistischen Autokraten von Zar Nikolaus 11. bis Kaiser Wilhelm 11. zum revolutionären Programm erhoben - den Begriff Diktatur mit dem Odium des Verabscheuungswürdigen belastet hatte. In der DDR war das angesichts der Erfahrungen mit dem NS-Regime noch viel ausgeprägter der Fall. Zur dadurch bedingten Scheu, sich offen zu dem zu bekennen, was Lenin unter Diktatur des Proletariats verstanden hatte und was mit der Umformung der SED zu einer "Partei neuen Typs" entsprechend seiner Frühschriften "Was tun?" und "Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück" I I angestrebt wurde, kamen die Enthüllungen über das stalinistische Terrorregime, auch wenn sie parteioffiziell mit dem verharmlosenden Begriff Personenkult umschrieben wurden. Wer die schon erwähnte Definition eines Marxisten durch Lenin ernst nahm und an dem von Marx und Engels geprägten Begriff Diktatur des Proletariats festhalten wollte, mußte zur Rechtfertigung weiter in die Geschichte zurückgreifen. Im alten Rom wurden die wohltuenden Wirkungen einer die Ordnung wiederherstellenden oder erhaltenden Diktatur hervorgehoben. Nicolo Machiavelli rühmte am Beginn der Neuzeit ausdrücklich einen Diktator, der im allgemeinen Interesse handelte und der dafür ein Mandat erhalten hatte: "Die diktatorische Gewalt brachte der römischen Republik Vorteil, nicht Schaden. Gefährlich für das Staatsleben ist die Gewalt, die ein Bürger an sich reißt, nicht die, welche ihm durch freie Wahl erteilt wird.'d2 Auch Ferdinand Lassalle, der an der Wiege der deutschen Arbeiterbewegung gestanden hatte, war wie Wilhelm Weitling von der Überzeugung ausgegangen, "daß nur durch die Diktatur der Einsicht, nicht durch die Krankheit des individuellen Meinens und Nörgelns, die großen, gewaltigen Übergangsarbeiten der Gesellschaft zu bewerkstelligen sind!" und ließ durchblikken, wie wohl er sich persönlich in der Rolle eines derartigen Diktators gefühlt hätte. 13 Ebd., S. 20ff. Lenin, Werke, Bd. 5, Berlin 1955, S. 355ff.; Bd. 7, Berlin 1956, S. 197ff. 12 Ernst Nolte, Diktatur, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, hrsg. von Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 905. 13 Ebd., S. 904. \0

II

64

Joachim Petzold

Noch viel bedeutsamer für das Nachdenken innerhalb der SED war der im Zusammenhang mit den Modernisierungstheorien auftauchende Begriff der Entwicklungsdiktatur. Wer in der DDR Zweifel an der Berechtigung Lenins hatte, sich in der Auseinandersetzung mit Kautsky ohne weiteres auf Marx und Engels zu berufen, und wer das Stalin-Regime für völlig unvereinbar mit der von ihnen für notwendig erachteten Diktatur des Proletariates hielt, der konnte annehmen, daß die Rückständigkeit Rußlands unter den unleugbaren Bedrohungsbedingungen autoritäre Herrschaftsformen erforderte. Der XX. Parteitag der KPdSU weckte zudem die Hoffnung, daß das stalinistische Herrschaftssystem dauerhaft und restlos überwunden werden könnte. Wenn letztere auch getrogen hat und das undemokratische Sowjetsystem zusammengebrochen ist, so gibt es weiterhin genügend Gründe, an einer baldigen demokratischen Entwicklung in den meisten GUS-Staaten zu zweifeln. Eine funktionsfähige parlamentarische Demokratie als Gegenstück zu einem autoritären Regime ist offensichtlich an Voraussetzungen geknüpft, die in den meisten Staaten der Welt noch nicht gegeben sind. Es wäre daher leichtfertig, die Erfahrungen der Geschichte zu ignorieren und Diktaturen generell zu verwerfen. Genau wie die bedingungslose Förderung der nationalen Verselbständigungsbestrebungen sich in den osteuropäischen Vielvölkerstaaten als zweischneidig erwiesen hat, so wird eine schematische Übertragung politischer und staatlicher Organisationsformen von Westeuropa und Nordamerika auf Osteuropa und die Dritte Welt - so wünschenswert sie vieler Hinsicht auch erscheinen mag - nicht oder nur ganz allmählich möglich sein. Der Historiker hat zudem zu registrieren, daß angesichts dramatischer und existenzbedrohender Umweltzerstörungen von der Notwendigkeit einer Öko-Diktatur gesprochen wird. Es ist nicht seine Berufsaufgabe, Urteile über politische Zukunftsprogramme zu fällen. Aber daran, daß der Sozialismus nur auf einem demokratischen Wege angestrebt werden darf, sollte kein Zweifel gelassen werden. Die Erfahrungen, die mit der sogenannten Diktatur des Proletariats in der Sowjetunion und in den anderen pseudosozialistischen Ländern gemacht wurden, sind so abschreckend, daß alle nicht demokratisch legitimierten Lösungsversuche spätkapitalistischer Widersprüche verworfen werden müssen. 11. Lenin besaß nicht das geringste Verständnis für die Versuche Kautskys, die von Marx und Engels für notwendig erachtete Diktatur des Proletariats mit den demokratischen Bestrebungen der Zeit in Einklang zu bringen. Er hatte in den ersten Tagen des Jahres 1918 die von den Menschewiki und

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

65

den Sozialrevolutionären beherrschte Duma - das erst kurz zuvor gewählte gesamtrussische Parlament - mit dem Argument auseinanderjagen lassen, sie entspräche nicht mehr dem Volkswillen, ihre Mehrheit wäre auf Grund veralteter Kandidatenlisten konterrevolutionär und die Macht läge von nun an allein bei den Sowjets - "koste es, was es wolle". 14 Nachdem die Bolschewiki durch die Revolution an die Macht gekommen waren und die Sowjetregierung unter Führung Lenins durch den 11. Gesamtrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten dafür zunächst auch eine demokratische Legitimation erhalten hatte l5 , dachten sie nicht mehr daran, sich einer Volksabstimmung zu stellen. In den rund 75 Jahren der Sowjetrnacht hat es keine Wahlen mehr gegeben, bei denen noch andere als die von der KPdSU vorgeschlagenen oder ihr wenigstens genehmen Kandidaten auftraten. Anfangs konnte man das mit dem Bürger- und Interventionskrieg rechtfertigen. Aber Lenin machte auch zu Beginn der zwanziger Jahre, also in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik, keine Anstalten, an diesem undemokratischen Zustand etwas zu ändern. Man kann daher durchaus sagen, der Verzicht auf allgemeine, freie und geheime Wahlen entsprach seinen Vorstellungen von der Diktatur des Proletariats. Lenins vor keiner persönlichen Verunglimpfung zurückschreckende Auseinandersetzung mit Kautsky, die er im Herbst 1918 schrieb und sofort veröffentlichen ließ, war daher weit mehr als eine Rechtfertigung der bolschewistischen Politik im ersten Jahr nach der Oktoberrevolution. Obwohl Lenin gelegentlich auf die ihm an sich wohlbekannten Verhältnisse in Mittel- und Westeuropa Bezug nahm, urteilte er offensichtlich ganz aus der Sicht des politisch so rückständigen Rußlands, in dem die diktatorische Herrschaft gleichsam der Normalfall gewesen war und sich höchstens erste Ansätze für eine Demokratisierung gezeigt hatten. Es kam Lenin entgegen, daß auch Marx und Engels noch zu einer Zeit gewirkt hatten, in der dem demokratischen Aufbruch der Arbeiterschaft in Deutschland vor allem mit dem diktatorischen Sozialistengesetz begegnet wurde. Es fiel ihm daher leicht, seinen russischen Lesern zu suggerieren: "Die proletarische Demokratie ist millionenfach demokratischer als jede bürgerliche Demokratie; die Sowjetrnacht ist millionenfach demokratischer als die demokratischste bürgerliche Republik."16 Daß das für die Sowjetrnacht nicht zutreffen würde, daß sie einmal so erbärmlich scheitern könnte, ließ sich nur voraussehen, wenn man die Konsequenzen bedachte, die der 14 Lenin, Bd. 26, Berlin 1961, S. 441. Zur Bewertung vgl. Walter Euchner, Kar! Marx, München 1972, S. 140ff. (Lenin und der Sowjetmarxismus). 15 Lenin, Bd. 26, Berlin 1961, S. 254 f. 16 Ebd., Bd. 28, Ber!in 1959, S. 247.

5 FS Euchner

66

Joachim Petzold

Verzicht auf demokratische Kontrollmöglichkeiten hatte. Jede Form der Diktatur, die nicht von vornherein auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt ist, leidet an einer letztendlich tödlichen Krankheit: Sie kann keine Veränderung der Machtstruktur zulassen, ohne sich selbst aufzuheben. Die Demokratie mit ihren abwählbaren Regierungen verfügt über eine unvergleichlich größere Elastizität, weil die Möglichkeit des Machtwechsels systemimmanent ist. Man wird Lenin zugute halten müssen, daß er - wie die Bolschewiki überhaupt - in der Illusion befangen war, es würde in Kürze zu einer Weltrevolution kommen, in der die sehr wohl gesehene Rückständigkeit Rußlands nicht mehr entscheidend ins Gewicht fiele. 17 Erst Stalin und seine Anhänger haben diese Illusion insofern über Bord geworfen, als sie sich ganz auf die Sowjetunion konzentrierten und die Kommunistische Internationale zu einem Instrument sowjetischer Politik machten. Obwohl sie die illusionäre Erwartung nicht aufgaben, eines Tages werde die ganze Welt nach ihren Vorstellungen und Anweisungen funktionieren, lag in dieser realistischeren Lagebeurteilung wohl die tiefste Ursache ihres Triumphes über die alte bolschewistische Funktionärselite von Trotzki über Sinowjew und Kamenjew bis zu Bucharin. Der illusionäre Traum von der Weltrevolution, den die Bolschewiki mit den Linken in der internationalen Arbeiterbewegung teilten, ließ Lenin sich überhaupt keine Gedanken machen, wann und wie die Diktatur des Proletariats einmal enden würde. Er zitierte ganz einfach Marx und Engels, die ebenfalls in Vorstellungen befangen, die sich keineswegs erfüllt haben vom allmählichen Absterben des Staates in einer klassenlos gewordenen Gesellschaft sprachen. Es ist nicht Sache des Historikers, darüber zu spekulieren, was einmal in ferner Zukunft sein könnte. Er hat lediglich zu konstatieren, daß das 20. Jahrhundert nicht den erwarteten Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus brachte. In vielen Ländern ist höchstens die Befürchtung Rosa Luxemburgs Realität geworden, daß es - wenn keine Rettung durch den Sozialismus käme - zum "Untergang in der Anarchie" kommen würde. 18 Aber auch ohne die Berücksichtigung der Illusionen Lenins klafft eine tiefe Kluft zwischen dem, was Marx und Engels in der Pariser Kommune für beispielhaft für ihre Vorstellungen von der Diktatur des Proletariats fanden, was er für Schlußfolgerungen aus seiner Interpretation dieses Begriffs für die praktische Politik zog und was schließlich aus dem Sowjetsystem wurde.

17 18

Ebd., S. 1 ff., insbes. S. 9. Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1987, S. 494.

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

67

Natürlich war es den meisten SED-Mitgliedern spätestens nach dem XX. Parteitag der KPdSU klar, Stalins Herrschaft konnte unmöglich selbst im Sinne Lenins als "proletarische Demokratie" bezeichnet werden. Aber nach Stalins Tod hatte sich bei vielen die Hoffnung geregt, die ohnehin nicht mehr änderbaren Vorgänge würden unwiderruflich einer Vergangenheit unter Ausnahmebedingungen angehören und das sowjetische Herrschaftssystem ließe sich reformieren. Obwohl es eigentlich schon in Rosa Luxemburgs Gefängnisaufzeichnungen nachlesbar war l9 , wurde der Todeskeim nicht in dem Konstruktionsfehler des Sowjetsystems gesucht, der den Aufstieg Stalins ermöglichte und der die Reformversuche Chruschtschows und Gorbatschows zum Scheitern verurteilte. Ein diktatorisches Regime mit einer nicht einmal Einparteienherrschaft zu nennenden, sondern geradezu personifizierten Zentralgewalt und einem ihr hörigen Funktionärsapparat, konnte nicht dauerhaft sein. Eine Demokratisierung war ein derart antagonistischer Widerspruch dazu, daß sie entweder abgebrochen werden mußte oder das ganze System sprengte. Selbstverständlich haben Marx und Engels unter Diktatur des Proletariats nicht das verstanden, was Lenin und Trotzki 1917/18 in Rußland etablierten. Sogar diese Begründer und Verteidiger der Sowjetrnacht hatten ihre Rechnung nicht mit Stalin gemacht. Wenn Marx und Engels die Pariser Kommune zum Vorbild einer Diktatur erklärten, dann hatten sie eine zunächst durch und durch demokratische Institution vor Augen, die erst durch die Konterrevolution zu diktatorischen Maßnahmen gezwungen wurde. Lenin hat bekanntlich in seinem politischen Testament vor Stalin gewarnt. Daß er aber das Schicksal der Sowjetrnacht so mit einer Personalentscheidung verknüpfen mußte, beweist geradezu, auf welch problematischen Füßen die von ihm propagierte Diktatur des Proletariats stand und wie wenig sie mit dem gemein hatte, was Marx und Engels als ihr Vorbild ansahen. Exkurs über den revolutionären Terror

In der DDR gab es keine Möglichkeit, sich mit dem Disput zwischen Kautsky und Trotzki über die Rolle der Gewalt in der Zeit nach der Oktoberrevolution in Rußland und dem diesbezüglichen Unterschied zwischen der Pariser Kommune und der Sowjetmacht zu befassen. Insbesondere die Werke des letzteren waren derart unter Verschluß, daß sie so gut wie niemand vor Augen bekam. Wer sie sich bei Auslandsreisen mitbrachte, ging ein extremes Risiko ein. Man kann sogar sagen, daß Trotzkis Schriften mit das Verbotenste waren, was es in der DDR gab. Die Werke von ihm und 19 5*

Ebd., S. 332ff.

68

Joachim Petzold

Kautsky, die Hans-Jürgen Mende erst nach der Wende 1989 zur Ergänzung von Lenins "Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky" im Dietz Verlag herausgeben konnte, hätten eine Diskussion zumindest unter Parteifunktionären und Gesellschaftswissenschaftlem unausweichlich gemacht. Es handelte sich um Karl Kautskys "Die Diktatur des Proletariats", die für Lenin zum Stein des Anstoßes für seine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dieser Frage geworden war, und Kautskys Schrift "Terrorismus und Kommunismus", die Vergleiche zwischen der Pariser Kommune und der Sowjetrnacht zog, sowie Leo Trotzkis Antwort unter dem gleichen Titel und Kautskys Analyse der sowjetischen Entwicklung "Von der Demokratie zur Staatssklaverei" ?O Das erste, was dabei ins Auge springt, ist: Ebensowenig, wie Marx und Engels konkrete Vorstellungen über die Formen entwickelten, in denen sich einmal der Sozialismus etablieren sollte, waren sie über grundsätzliche Betrachtungen zur sozialistischen Staatsordnung hinausgegangen. Die Feststellung, daß die Pariser Kommune das Vorbild der für notwendig erachteten Diktatur des Proletariats gewesen wäre, entpuppte sich als ein sehr allgemeiner Hinweis. Schließlich hatte sie nur wenige Wochen existiert, so daß von einer verallgemeinerungswürdigen Tätigkeit kaum gesprochen werden konnte. Trotzdem war aber der Unterschied zur Sowjetrnacht so offensichtlich, daß Lenins Berufung auf Marx und Engels nicht einmal in grundsätzlichen Fragen berechtigt erscheint. Die Pariser Kommunarden hatten im Unterschied zu den Bolschewiki die politische Macht nicht zielbewußt ergriffen. Sie war ihnen bis zu einem gewissen Grade durch die Umstände aufgezwungen worden. Es gab keine Partei, die sich systematisch darauf vorbereitet hätte, keinen wohldurchdachten Aufstandsplan und keine einheitlich und geschlossen handelnde Führung. Nimmt man das bolschewistische Herrschafts system zum Maßstab, dann handelte es sich bei der Pariser Kommune überhaupt um gar kein Diktaturregime. Das Wahlrecht wurde niemandem abgesprochen. Die demokratisch gewählten Körperschaften konnten sich voll entfalten. Vom revolutionären Terror war keine Rede. Geiselnahmen und Geiselerschießungen, die ohnehin nur wenige Personen wie den kommunefeindlichen Erzbischof von Paris betrafen, gehörten nicht zum Regierungskonzept und sind nur schadenbringende Antworten auf den konterrevolutionären Terror gewesen, dem viele zehntausende Kommunarden zum Opfer fielen. Obwohl die Revolutionäre von Paris mindestens in drei sich heftig streitende Gruppierungen zerfielen - in die noch in der Vorstellungswelt von 1793 lebenden 20 Hans-Jürgen Mende hat all diese Arbeiten in einer zweibändigen Sammelausgabe 1990 im Berliner Dietz Verlag unter dem Titel Karl Kautsky: Die Diktatur des Proletariats usw. herausgegeben. Da im folgenden nur aus den Publikationen Kautskys zitiert wird, lautet die Abkürzung lediglich Kautsky.

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

69

Jakobiner, in die sich in einem kurzsichtigen politischen Aktivismus erschöpfenden Anhänger Blanquis und in die nur wirtschaftliche Ziele verfolgenden Parteigänger Proudhons - ging man respektvoll und solidarisch miteinander um. Mit Recht vermerkte Kautsky, wie demokratisch die erste Regierung des Proletariats gewesen war, "völlig durchdrungen von dem Geiste der Humanität, der die Arbeiterklasse des 19. Jahrhunderts beseelte".21 Auch die Oktoberrevolution des Jahres 1917 in Rußland war ohne großes Blutvergießen abgelaufen. Der rote Terror folgte im wesentlichen erst auf den weißen, aber er unterschied sich in der Form kaum von ihm. Zudem richtete er sich von vornherein gegen alle, die den Bolschewiki im Wege standen. Für den Erlaß von Felix Dzierzynski, der in der "Iswestija" vom 1. März 1919 veröffentlicht wurde, findet sich in den Dokumenten der Pariser Kommune nichts vergleichbares: "Die Allrussische Außerordentliche Kommission erklärt hiermit, daß sie keinen Unterschied machen werde zwischen der Weißen Garde aus den Reihen der Krasnowschen Truppe und der Weißen Garde aus der Partei der Menschewiki und der Sozialisten-Revolutionäre (gemeint sind die Sozialrevolutionäre - J. P.) des linken Flügels. Die strafende Hand der Außerordentlichen Kommission (die von Dzierzynski geleitet wurde - J. P.) wird mit gleicher Härte die einen wie die anderen treffen. Die von uns verhafteten linken Sozialisten-Revolutionäre und Menschewiki werden als Geiseln gelten, deren Schicksal von dem Verhalten der bei den Parteien abhängen wird.'.22 Das hieß unmißverständlich, wenn die bei den ehemaligen Bundesgenossen der Bolschewiki im Kampf gegen den Zarismus nicht aufhören würden, gegen die Ausschaltung ihrer gewählten Volksvertreter zu protestieren und für die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse in Rußland einzutreten, dann würden sie genau so behandelt werden wie die Zaristen. Die Rücksichtslosigkeit, mit der von den Bolschewiki sowohl gegen Feinde als auch gegen Kritiker vorgegangen wurde, war eine wichtige Voraussetzung dafür, daß sie sich an der Macht behaupten konnten. Sie kann keineswegs nur Dzierzynski zur Last gelegt oder allein unter dem Begriff Stalinismus gefaßt werden. 1919 trugen die Hauptverantwortung dafür Lenin und Trotzki. Selbst Bucharin hatte in seiner 1918 in Zürich veröffentlichten Schrift "Das Programm der Kommunisten" geschrieben: "Je stärker der Kapitalismus in einem Lande entwickelt ist, desto rücksichtsloser, desto wilder wird sein Verteidigungskampf sein, desto blutiger die proletarische Revolution und desto rücksichtsloser die Maßregeln, vermittels derer die

21 22

Ebd., S. 266. Ebd., S. 333.

70

Joachim Petzold

siegreiche Arbeiterklasse die besiegte Kapitalistenklasse unter ihre Füße nehmen wird. ,,23 Die Bolschewiki gingen also insgesamt in dem Bewußtsein ans Werk, daß der Terror eine der schärfsten Waffen auf bei den Seiten sein würde. Unwillkürlich wird man bei allen, die im 20. Jahrhundert glaubten, bedenken- und rücksichtslos das verwirklichen zu können, was sie allein für richtig und notwendig hielten, an Friedrich Nietzsche erinnert, der seinen Zarathustra sagen ließ: "ich nahm euch alles, den Gott, die Pflicht - nun müßt ihr die größte Probe einer edlen Art geben. Denn hier ist die Bahn der Ruchlosen offen - seht hin! - Das Ringen um die Herrschaft, am Schluß die Herde mehr Herde und der Tyrann mehr Tyrann als je. - Kein Geheimbund! Die Folgen eurer Lehre müssen fürchterlich wüten: und es sollen an ihr Unzählige zu Grunde gehen - Wir machen einen Versuch mit der Wahrheit! Vielleicht geht die Menschheit daran zu Grunde! Wohlan !,,24 Die Bolschewiki kehrten - natürlich nicht unbeeinflußt von der Brutalität, mit der die siegreichen Konterrevolutionäre über die Pariser Kommunarden hergefallen waren und mit der sich die so zivilisiert nennenden Großmächte im Ersten Weltkrieg behandelt hatten - wieder zu dem zurück, was die sozialistische Arbeiterbewegung längst überwunden zu haben schien, den revolutionären Terrorismus. Marx, der ihm noch 1848 manches verbale Zugeständnis gemacht hatte 25 , bescheinigte der Pariser Kommune jedoch mit Genugtuung: "Vom 18. März bis zum Eindringen der Versailler Truppen in Paris blieb die proletarische Revolution rein von allen den Gewalttaten, von denen die Revolutionen und noch mehr die Konterrevolutionen der ,höheren Klassen' strotzen.,,26 Selbst der wohlwollendste Beurteiler der Sowjetrnacht konnte das von der Zeit nach der Oktoberrevolution 1917 nicht sagen. Er pflegte lediglich zu vermerken, daß sich der angestaute Haß der Volksrnassen auch in Gewalttaten entladen hätte. Mit dem Argument "Wo man Holz haut, fallen Späne" wurde vieles entschuldigt, mit dem Hinweis auf die Bedrohung und den Sieg letztlich alles gerechtfertigt oder wenigstens zugedeckt. Wenn man jedoch die Hinterlassenschaft von sieben Jahrzehnten Sowjetrnacht betrachtet, dann stellt sich die Frage nach dem Nutzen und dem Schaden des revolutionären Terrors von neuem und vielleicht sogar schärfer denn je. Engels hat eine recht plausibel klingende Erklärung dafür gegeben, warum sich die Jakobiner 1793 so am Terror berauschten und damit indiEbd., S. 286. Nietzsches Werke (Ausgabe Kröner), Leipzig 1901 ff. Bd. XII, S. 410. 25 Marx/Engels, Bd. 5, Berlin 1982, S. 127,457; Bd. 6, Berlin 1975, S. 165,389, 505; Bd. 22, Berlin 1984, S. 287. 26 Ebd., Bd. 17, Berlin 1983, S. 331. 23

24

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

71

rekt seine eigene Ablehnung dialektisch begründet: "Wir verstehen unter der Schreckensherrschaft die Herrschaft von Leuten, die Schrecken einflößen; umgekehrt, es ist die Herrschaft von Leuten, die selbst erschrocken sind. La terreur, das sind großenteils nutzlose Grausamkeiten, begangen von Leuten, die selbst Angst haben, zu ihrer Selbstberuhigung. ,.27 Der Schluß liegt nahe, daß die alte Bolschewistengarde um Lenin so schnell zum revolutionären Terror griff und mit seiner Hilfe auch ehemalige Kampfgefährten zu treffen suchte, weil sie im Grunde ratlos war, was sie mit der errungenen Macht anfangen sollte, zumal die erhoffte Weltrevolution auf sich warten ließ und schließlich ganz ausblieb. Wer an sich schon keine andere Meinung anerkennt und dann seine eigenen Voraussagen nicht bestätigt sieht, dem bleibt nur die Gewalt, um die Kritiker zum Verstummen zu bringen. III.

Lenins Verantwortung für den Stalinismus ist trotzdem mehr theoretischer als praktischer Natur. Auch Trotzki wurde genau wie fast alle alten bolschewistischen Führer nicht zufällig zum Gegenspieler Stalins. Aber das völlige Fehlen demokratischer Regulierungsmechanismen ließ in allen nach dem Leninschen Prinzip einer angeblichen Diktatur des Proletariats konstruierten und von Parteien neuen Typs geführten Staaten das gleiche Bild entstehen: Wer an der Macht war, versuchte sich mit mehr oder minder diktatorischen Methoden zu behaupten und war in der Regel nur durch den Tod oder eine Palastrevolution von der Macht zu entfernen. Typisch blieb die Mißachtung des Andersdenkenden und die Unterdrückung jeglicher Opposition. Schon Lenin ignorierte alles bei Marx und Engels, was ihm nicht ins Konzept paßte, so vor allem die von Kautsky zur Warnung an die Adresse der Bolschewiki gerichtete marxistische Grundüberzeugung, daß man keine Entwicklungsstufen überspringen dürfe und nur von einem hohen Wirtschafts- und Gesellschaftsniveau zum Sozialismus gelangen könne. So unermüdlich Lenin ansonsten zitierte, den Satz von Marx aus dem Vorwort zur ersten Auflage des "Kapitals" sucht man bei ihm vergebens: "Auch wenn eine Gesellschaft dem Naturgesetz ihrer Bewegung auf die Spur gekommen ist ... kann sie naturgemäß Entwicklungsphasen weder überspringen noch wegdekretieren. ,,28 Allerdings war den Begründern des Marxismus die so gefährliche revolutionäre Ungeduld der Bolschewiki keineswegs fremd gewesen. Aber als 27 28

Ebd., Bd. 33, Berlin 1984, S. 53. Ebd., Bd. 23, Berlin 1988, S. 15 ff.

72

Joachim Petzold

Engels kurz vor seinem Tode 1895 Marxens Schrift "Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850" neu herausgab, bekannte er wenigstens, die Geschichte hat "uns unrecht gegeben", wenn wir damals annahmen, der Sturz der kapitalistischen Gesellschaftsordnung wäre bereits zu dieser Zeit möglich gewesen. Die Kampfbedingungen für die Arbeiterklasse hätten sich zudem seither in den entwickelten Ländern wesentlich verändert: "Die Rebellion alten Stils, der Straßenkampf mit Barrikaden, der bis 1848 überall die letzte Entscheidung gab, war bedeutend veraltet." Obwohl er auch in Zukunft noch eine Rolle spielen werde, so müsse doch angenommen werden, daß die Handhabung des demokratischen Wahlrechts eine weit größere Bedeutung erlangen werde. 29 Diese Einschätzungen des alten Engels waren in der DDR bekannt, aber sie wurden - zumindest was die zuletzt zitierten Erwartungen betraf - mehr oder minder offen als ein Zugeständnis an den sich ausbreitenden Opportunismus in der damaligen sozialistischen Arbeiterbewegung angesehen. Dabei hatten zwei Tatsachen besondere Bedeutung: Einmal war es 1917/18 in Rußland, Österreich-Ungarn und Deutschland zu Revolutionen gekommen, die denen alten Stils ähnelten. Daß sich die Gegensätze in dieser Form entluden, wurde nur bedingt mit der besonderen politischen Rückständigkeit dieser Länder in Verbindung gebracht. Dem stand schon das ausgeprägte deutsche Selbstwertgefühl entgegen. Zum anderen hatte die damalige sozialdemokratische Hoffnung, nach der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechtes mit dem Stimmzettel in der Hand zum Sozialismus gelangen zu können, getrogen. In den letzten Jahren der Weimarer Republik waren Wahlen sogar zum Vorteil der Nazis gewesen. Exkurs über die kommunistische Staatstheorie

Die Enttäuschung über die Weimarer Republik spielte überhaupt eine wichtige Rolle bei der Übernahme der Leninschen Interpretation der Staatsvorstellungen von Marx und Engels. Der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie, der in einer von der ökonomischen Basis her determinierten Gesellschaftslehre ohnehin eine zweitrangige Rolle spielte, so daß selbst Engels am Ende seines Lebens eine gewisse Vernachlässigung der Rolle des Überbaus beklagte 30 , verschwand bei Lenin weitgehend, bei Stalin und der Kommunistischen Internationale völlig. Hinter der Ablehnung des Parlamentarismus stand die grundsätzliche Auffassung, daß das parlamentarische System lediglich die Diktatur der Bourgeoisie verhülle, die bürgerliche Ebd., Bd. 22, Berlin 1990, S. 515 ff. Ebd., Bd. 39, Berlin 1986, S. 435 ff.; 462ff.; 488 ff." Zu Friedrich Engels vgl. den biographischen Abriß von Walter Euchner in dem von ihm herausgegebenen Werk "Klassiker des Sozialismus", Bd. 1, S. 157ff. 29

30

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

73

Demokratie zwar ein Fortschritt gegenüber mittelalterlichen Herrschaftsformen gewesen, aber "eng beschränkt, falsch und verlogen, ein Paradies für die Reichen, eine Falle und Betrug für die Ausgebeuteten, die Armen" geblieben sei. 31 Von dieser Warte aus waren die KPD und die ganze kommunistische Weltbewegung schon in den Jahren der Weimarer Republik von - wie Wilhelm Pieck auf dem VII. Weltkongreß der III. Internationale 1935 selbstkritisch einräumte - "der absolut falschen Vorstellung" ausgegangen, "daß sämtliche bürgerliche Parteien faschistisch seien, daß es ,keine zwei Herrschafts methoden der Bourgeoisie' gebe, daß es den Kommunisten nicht gezieme, die Reste der bürgerlichen Demokratie zu verteidigen,,?2 Georgi Dimitroff äußerte sich im gleichen Sinne: "Der Machtantritt des Faschismus ist nicht die einfache Ersetzung einer bürgerlichen Regierung durch eine andere, sondern die Ablösung einer Staatsform der Klassenherrschaft der Bourgeoisie, der bürgerlichen Demokratie, durch eine andere, durch die offene terroristische Diktatur. Die Ignorierung dieses Unterschiedes wäre ein ernster Fehler. ,,33 Doch genau dieser "ernste Fehler" blieb für die kommunistischen Parteien typisch. Er klingt sogar noch aus Dimitroffs Unterscheidung zwischen einer offenen und einer verdeckten Diktatur heraus, obwohl gerade er, wie sein Ringen um ein besseres Verständnis des Faschismusphänomens beweist,34 bemüht war, die dogmatische Erstarrung der Komintern aufzubrechen. Schon beim Ausbruch des Zweiten Weltkrieges durften auf Stalins Geheiß, der den imperialistischen Konkurrenzkampf maximal ausbeuten und sich mit Hitler Ostmitteleuropa aufteilen wollte, keine Konsequenzen aus den Unterschieden zwischen faschistischen Diktaturen und parlamentarischen Demokratien gezogen werden. Nach 1945 war man schnell wieder dabei, die Politik der Westmächte als faschistisch zu verunglimpfen und die Bundesrepublik Deutschland nicht nur formal als Rechtsnachfolger des Dritten Reiches zu betrachten. Das Fundament für diese Verzerrung der Wirklichkeit lag in theoretischer Hinsicht in der bolschewistischen Staatstheorie, speziell in den bei den Leninschen Werken über Staat und Revolution sowie über die Diktatur des Proletariats. Allerdings darf man auch die pragmatische Willkür nicht unterschätzen, mit der speziell zu Stalins Lebzeiten, aber im Grunde bis zum Ende der Lenin, Bd. 28, Berlin 1959, S. 241. VII. Kongreß der Kommunistischen Internationale. Referate und Resolutionen, Berlin 1975, S. 35. 33 Ebd., S. 94. 34 Georgi Dimitroff, Gegen Faschismus und Krieg. Ausgewählte Reden und Schriften, hrsg. von Rolf Richter, Leipzig 1982, S. 137 ff. 31

32

74

Joachim Petzold

Sowjetunion, die marxistische Theorie behandelt wurde. Marx und Engels waren von der Überzeugung ausgegangen, daß der Staat in der Übergangsphase vom Kapitalismus zum Sozialismus allmählich absterben werde. Selbst Lenin hatte ihre diesbezüglichen Auffassungen zustimmend zitiert. Aber in der politischen Praxis war selbst zu seinen Lebzeiten davon nichts zu spüren. Die Ansätze für eine Selbstverwaltung auf lokaler und betrieblicher Ebene wurden rasch zunichte gemacht. Es entstand ein hoch zentralisierter und bürokratisierter Sowjetstaat, der schließlich auch an seiner eigenen Unbeweglichkeit zugrunde ging; im Grunde also genau das Gegenteil von dem, was Marx und Engels angenommen hatten und was Lenin als richtungsweisend erklärte. Allerdings gab es dafür viele einleuchtende Gründe: Die Sowjetrnacht mußte von Anfang an schwer um ihre Existenz kämpfen. Die Interventionen ausländischer Mächte zwischen 1918 und 1922 hatten keineswegs die Wiederherstellung demokratischer Zustände, sondern die Aufteilung Rußlands zum Ziele. Was ein Sieg der Hitlerfaschisten für die Völker der Sowjetunion bedeutet hätte, braucht angesichts der schon begangenen Verbrechen gar nicht erst näher ausgeführt zu werden. Mehr statt weniger Staat war außenpolitisch wohl unumgänglich. Zudem erwiesen sich Bürokratisierung und Zentralisierung überall als eine Begleiterscheinung der Modernisierung. Für ein allmähliches Absterben des Staates gibt es nirgends Anzeichen. IV. Da im Grunde bis zum Ende der DDR Lenin unangreifbar blieb und seine Theorie von der Diktatur des Proletariats mit Zitaten von Marx und Engels gestützt werden konnte, wurde der Streit unter den Historikern der DDR über diese Frage gewissermaßen stellvertretend um die Bewertung der kommunistischen Selbstkritik auf dem VII. Weltkongreß der Kommunistischen Internationale und der anschließenden Parteikonferenz der KPD in Moskau geführt. Der nicht mehr zum Druck gelangte Band 2 der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung enthielt die - von Überarbeitung zu Überarbeitung lediglich abgeschwächte - Tendenz, diese Selbstkritik als letztlich überflüssig und rein zeitbedingt zu betrachten. Der ebenfalls ungedruckt gebliebene Band 7 der Geschichte des deutschen Volkes sollte dagegen - was die Beurteilung der kommunistischen Politik betraf - konsequent auf den Eingeständnissen von Pieck und Dimitroff aufgebaut werden, daß das Verhältnis zwischen Demokratie und Diktatur von der Kommunistischen Internationale grundSätzlich falsch gesehen wurde. 35 35 Die maschinenschriftlich vervielfältigten Entwürfe von Bd. 7 der Deutschen Geschichte, für den der Verfasser verantwortlich war und an dem Manfred Weiß-

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

75

Zugespitzt lautete die Fragestellung auf dem letzten Historikerkongreß der DDR: "Wie halten wir's mit der Weimarer Republik?".36 Die Auseinandersetzungen hatten sich nach dem Erscheinen des letzten Bandes der "Gesammelten Werke" Rosa Luxemburgs im Jahre 1987 verschärft. Jeder konnte nachlesen, was zuvor sorgsam verschwiegen oder durch polemische Auseinandersetzungen verzerrt wurde 37 : Lenins Interpretation der Diktatur des Proletariats war schon im Entstehungsprozeß der Kommunistischen Internationale bei den deutschen Linken umstritten gewesen und der ausschließlich Stalin zugeschriebene Deformationsprozeß des Sowjetsystem hatte mit der von Lenin und Trotzki 1918 betriebenen Politik begonnen. Auf Rosa Luxemburgs berühmten Satz "Freiheit ist immer Freiheit des Andersdenkenden,,38 folgte eine düstere Voraussage: "Lenin und Trotzki haben anstelle der aus allgemeinen Volkswahlen hervorgegangenen Vertretungskörperschaften die Sowjets als die einzige wahre Vertretung der arbeitenden Massen hingestellt. Aber mit dem Erdrücken des politischen Lebens im ganzen Lande muß auch das Leben in den Sowjets immer mehr erlahmen. Ohnen allgemeine Wahlen, ungehemmt Presse- und Versammlungsfreiheit, freien Meinungskampf erstirbt das Leben in jeder öffentlichen Institution, wird zum Scheinleben, in der die Bürokratie allein das tätige Element bleibt. Das öffentliche Leben schläft allmählich ein, einige Dutzend Parteiführer von unerschöpflicher Energie und grenzenlosem Idealismus dirigieren und regieren, unter ihnen leitet in Wirklichkeit ein Dutzend hervorragender Köpfe, und eine Elite der Arbeiterschaft wird von Zeit zu Zeit zu Versammlungen aufgeboten, um den Reden der Führer Beifall zu klatschen, vorgelegten Resolutionen einstimmig zuzustimmen, im Grunde also eine Cliquenwirtschaft - eine Diktatur allerdings, aber nicht die Diktatur des Proletariats, sondern die Diktatur einer Handvoll Politiker".39 Rosa Luxemburg, die nur Lenin und Trotzki vor Augen hatte und sich das spätere Wüten Stalins gegen die alten Bolschewiki, gegen große Teile des eigenen Volkes und gegen viele kommunistische Emigranten natürlich nicht vorstellen konnte, beschrieb dennoch ahnungsvoll die Folgen: "Solche Zustände müssen eine Verwilderung des öffentlichen Leben zeitigen: Attenbecker und Jürgen John als Kapitelautoren mitwirkten, befinden sich im Besitz des Verfassers. Das gilt auch für eine später noch bearbeitete Fassung von Bd. 2 der Geschichte der SED. 36 Joachim Petzold, Wie halten wir's mit der Weimarer Republik?, in: Sonntag, Nr. 10 (März), 1989, S. 8. 37 Vgl. z.B. Fred Oelßner, Rosa Luxemburg. Eine kritische biographische Skizze, Berlin 1952. 38 Luxemburg, S. 359. 39 Ebd., S. 362.

76

Joachim Petzold

tate, Geiselerschießungen etc. Das ist ein übermächtiges, objektives Gesetz, dem sich keine Partei zu entziehen vermag.,,40 Wer das konsequent zu Ende dachte, der konnte im Stalinismus keine Abirrung vom rechten Weg mehr sehen, der mußte zumindest Zweifel an der Leninschen Auslegung des Begriffs Diktatur des Proletariats bekommen. Die Schwierigkeit, sich diese Erkenntnisse Rosa Luxemburgs anzueignen und sie im Rahmen des Möglichen zu vertreten, hatte jedoch bis zum Ende der DDR auch für die Kenner ihrer Schriften darin gelegen, daß sie nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis eine deutliche Annäherung an die Politik der Bolschewiki vollzog. Die kompromißlose Gegenüberstellung von Rätemacht oder Nationalversammlung und ihre Anteilnahme am Januaraufstand von 1919 in Berlin erweckten den Eindruck, als sei sie mit der Spartakusgruppe und der neugegründeten KPD voll und ganz auf die Linie Lenins eingeschwenkt. 41 Infolge ihrer Ermordung wird es immer hypothetisch bleiben, in welchem Maße das der Fall gewesen ist. Angesichts ihrer Gefängnisaufzeichnungen kann es aber wohl als ausgeschlossen gelten, daß sie Lenins Theorie und Praxis bei der Umsetzung des von Marx und Engels geprägten Begriffs Diktatur des Proletariats akzeptiert hätte. Auch spricht der Protest vieler Mitbegründer der KPD gegen die sogenannte Bolschewisierung der kommunistischen Internationale 1927/28, der zur Formierung einer kommunistischen Parteiopposition gegen das Bündnis zwischen Stalin und Thälmann führte, dafür, daß sich um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die bis zu ihrem gewaltsamen Tode in der internationalen Arbeiterbewegung bekannter und geschätzter waren als Lenin und Trotzki, eine aussichtsreichere kommunistische Alternativbewegung zum Bolschewismus geschart hätte, als es die schwache KPDO sein konnte. Bevor aber unter SED-Mitgliedern die Erkenntnis reifte, daß es schon der Grundfehler Lenins gewesen war, die Unterschiede zwischen Demokratie und Diktatur zu verwischen, im rückständigen Rußland mit dem Aufbau des Sozialismus beginnen und mit einer Minderheit von Proletariern gegen eine erdrückende Mehrheit von Bauern die Theorie von der Diktatur des Proletariats verwirklichen zu wollen, hatte diese auch in der DDR verhängnisvoll gewirkt. Von Lenin wurde größter Wert auf die Feststellung gelegt, die Diktatur des Proletariats sei "eine sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht, die an keine Gesetze gebunden ist".42 Auch wenn man einräumt, daß die Justiz von Klasseninteressen beeinflußt wird, wurde damit der Mißachtung von Recht und Gesetz Tür und Tor geöffnet. Wenn nach ganz willkürlichem Ermessen, allein auf Gewalt gestützt, bestimmt werden konnte, was Recht Ebd. Zu dieser schwierigen Problematik hat Helga Grebing in ihrer Studie über Rosa Luxemburg in "Klassiker des Sozialismus", Bd. 2, S. 58ff. Stellung genommen. 42 Lenin, Bd. 28, Berlin 1959, S. 234. 40 41

Die DDR und das Problem der Diktatur des Proletariats

77

ist und wer recht hat, bekamen erst Dzierzynski und dann Stalin im wahrsten Sinne des Wortes "die Knute in die Hand,,43. In der SBZ und der DDR konnten zwar die Dimensionen ihrer terroristischen Exzesse vermieden werden, aber die weitverbreitete Annahme, sie wären überhaupt verhindert worden, trog. Man hatte lediglich über sie einen Mantel des Schweigens auszubreiten vermocht und kaum postume Rehabilitierungen alter Kampfgefährten wie in der Sowjetunion vornehmen müssen. Wer in der Durchsetzung und in der Respektierung von Rechtsnormen nur eine Klassenkampffrage sah, der setzte sich gegebenenfalls auch über die eigene Rechtsordnung und selbst die eigene Verfassung hinweg. Es sei nur an die Möglichkeit des Freikaufes von angeblich rechtmäßig verurteilten Gefangenen erinnert. Wer bei Lenin die aus dem Zusammenhang gerissene Kritik von Marx am bürgerlichen Wahlsystem zur Zeit der Pariser Kommune las, "in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll"44, der sah sich in seiner generellen Abneigung gegen Wahlen bestätigt, bei dem schwanden die Skrupel, Wahlergebnisse zu fälschen. Da Rosa Luxemburg auf derartige Gefahren hingewiesen hatte, wird nur zu verständlich, warum Walter Ulbricht und sein Anhang mit der festen Absicht aus der sowjetischen Emigration nach Deutschland zurückkehrten: "Wir müssen uns völlig frei machen von dem, was wir uns in der geschriebenen Literatur von Luxemburgianern angelesen haben (vor allem Falsches und Schiefes über die Rolle der Partei) und fest aneignen, was wir bei Lenin und Stalin über die Rolle der Partei lernen können. ,,45 Der gewiß vielschichtige 17. Juni 1953 und der anfängliche Widerstand gegen die Zwangskollektivierung im Frühjahr 1960 hatten gezeigt, daß die Masse der Arbeiter und Bauern durchaus nicht hinter der Politik der SEDFührung stand, daß es keineswegs in der DDR zu einer von unten nach oben aufgebauten demokratischen Diktatur der Arbeiter und Bauern gekommen war, die - da diese die absolute Bevölkerungsmehrheit repräsentierten - dann logischerweise die Bezeichnung Diktatur gar nicht verdient hätte. Die Tatsache, daß sich Honecker und sein Politbüro gestützt auf einen ergebenen Funktionärsapparat 1986 auf dem XI. Parteitag gegen den Willen vieler SED-Mitglieder an der Macht bestätigen lassen konnten und das So Wolfgang Ruge in "Neues Deutschland" vom 8.1. 1990. Lenin, Bd. 28, Berlin 1959, S. 242; Marx/Enge1s, Bd. 17, Berlin 1983, S. 340. 45 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen in der DDR im Bundesarchiv. Zentrales Parteiarchiv Berlin, NL 182 (Bestand Walter Ulbricht), Nr. 821, BI. 14. (Es handelt sich um ein maschinenschriftliches Programm einer Darstellung der Geschichte der KPD mit entsprechenden Lehren ohne Angabe des Verfassers und der genauen Entstehungszeit, von dem aber angenommen werden kann, daß es von Walter Ulbricht im Moskauer Exil angefertigt wurde.) 43

44

78

Joachim Petzold

auch 1990 zu wiederholen gedachten, unterstreicht nur, wie sehr es sich bei ihnen um eine Cliquenherrschaft im Sinne von Rosa Luxemburg gehandelt hatte. Aber die DDR war letzten Endes nur ein kleines Rädchen im bolschewistischen Weltgetriebe. Der ungleich gewichtigere Untergang der Sowjetunion, der ohne äußeren Druck, sondern aus inneren Ursachen erfolgte, bedeutete das Scheitern der Leninschen Konzeption von der Diktatur des Proletariats. Auch wer Kautsky kritisch gegenübersteht, kommt nicht darum herum, die Richtigkeit seiner Voraussage anzuerkennen: "Ohne die Demokratie geht Rußland zugrunde. Durch sie geht der Bolschewismus zugrunde. Das Endergebnis ist vorauszusehen. Es braucht just kein 9. Thermidor zu sein, aber ich fürchte, es wird sich nicht weit davon entfernen.,,46 Zudem hatte es sich schon 1918/19 gezeigt: So emsig Propaganda für den Bolschewismus getrieben wurde: "Eine Weltrevolution im bolschewistischen Sinne zu machen, wird ihr nicht gelingen".47 Die im 20. Jahrhundert eingetretenen Entwicklungen und gemachten Erfahrungen zwingen aber auch dazu, sich von dem zu verabschieden, was Marx und Engels zu dieser Frage gesagt haben, Kautsky in einer problematischen Weise aufrechterhalten wollte und Rosa Luxemburg in einen unlösbaren Widerspruch zwischen Theorie und Praxis stürzte. Wer mit ihr die Sorge teilt, die Menschheit müsse letztlich zwischen Sozialismus, zumindest aber einer sozial ausgewogenen Weltordnung, oder Anarchie mit dem Rückfall in Barbarei wählen, kann den Ausweg nicht mehr in einer wie auch immer interpretierten Diktatur des Proletariats sehen. 48

Kautsky, S. 339. Ebd. 48 Vgl. dazu Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, hrsg. von Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 1990, Bd. 1, S. 578 f. 46

47

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien Von Ivan Prpic

I. Das System der "sozialistischen Selbstverwaltung in Jugoslawien" galt als ein System, das sowohl von den Systemen des sowjetischen Typs als auch von den Systemen der westlichen parlamentarischen Demokratie verschieden war. I Trotzdem konnte es dem Zusammenbruch des Kommunismus in Europa nicht ausweichen. Es erlebte sein Ende zu derselben Zeit und aus denselben Gründen wie die anderen kommunistischen Systeme. 2 Das weist darauf hin, daß das jugoslawische System der sozialistischen Selbstverwaltung im wesentlichen nur ein Herrschaftssystem sowjetischen Typs war. Insoweit wäre der "Fall Jugoslawien" wissenschaftlich eigentlich nicht interessant. Die jugoslawische Version der "Diktatur des Proletariats" scheint mir jedoch aus zwei Gründen beachtenswert zu sein. Der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft in Jugoslawien vollzog sich nämlich erstens auch als der Zusammenbruch des multinationalen staatlichen Gemeinwesens. Das führte zu einem Krieg, dessen Ende und Folgen heute noch nicht zu übersehen sind. Dieser Krieg läßt sich nicht nur mit der Analyse "der Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien erklären, aber die Art, wie diese Diktatur ausgeübt wurde, hat den Krieg zweifellos ermöglicht. 3 I Das war das Selbstverständnis der jugoslawischen Kommunisten. Die wichtigsten Argumente, die diese These belegen sollen, sind enthalten in: Edvard Kardelj, Die Selbstverwaltung und das politische System, Belgrad 1981. Viele Wissenschaftler haben diese Auffassung geteilt. Vgl. z. B. Udo Bermbach/Franz Nuscheler, Sozialistischer Pluralismus, Hamburg 1973. 2 Diese These belegen nicht nur viele wissenschaftliche Darstellungen, sondern auch der Vergleich der kommunistischen ideologischen Selbstanalysen. Vgl. z.B. Gorbatschows Rede auf dem 17. Kongreß der Gewerkschaften der UdSSR am 25.2.1987, die unter dem Titel "Die Umgestaltung ist das ureigenste Anliegen des Volkes" (Presseagentur Nowosti) veröffentlicht ist und Kriticka analiza funkcioniranja politickog sistema socijalistickog samoupravljanja, Beograd 1985. Sowohl Gorbatschow als auch die jugoslawischen Ideologen stellen fest, daß das System nicht nur in eine Krise der Ökonomie, sondern auch in eine Krise der Politik, des Rechts und der Moral geraten ist.

80

Ivan Prpic

Das System der sozialistischen Selbstverwaltung in Jugoslawien war zweitens der radikalste Versuch, das ursprüngliche Modell des kommunistischen Systems zu reformieren. Dieser Versuch dauerte rund vier Jahrzehnte. Er ist gescheitert. An diesem Scheitern läßt sich besser als am ursprünglichen Modell zeigen, warum die Kommunisten nicht imstande waren, diese Systeme zu reformieren.

11. Das kommunistische Herrschaftssystem, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien institutionalisiert wurde, war eine bewußte Nachahmung des stalinistischen Herrschaftssystems. Die jugoslawischen Kommunisten haben sich bemüht, nicht nur die bolschewistische Ideologie und die Institutionen des Systems, sondern auch die bolschewistischen Herrschaftsmethoden nachzuahmen. 4 3 In Kroatien neigt besonders die "neue" politische Elite, aber auch manche Wissenschaftler und Publizisten dazu, den Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft und den Zusammenbruch Jugoslawiens gleichzusetzen. Das ist falsch und politisch gefährlich. Die kommunistischen Herrschaftssysteme waren sowohl in den überwiegend einnationalen (Polen, Ungarn, Albanien) als auch in den multinationalen Staaten institutionalisiert. Sie erlebten den Zusammenbruch überall. Das bedeutet, daß der Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft auch in Jugoslawien aus den ideologischen, politischen und gesellschaftlichen Merkmalen dieser Herrschaft zu begreifen ist. 1918 wurde das Königtum der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet. Dieser Staat sollte eine parlamentarische Monarchie mit der serbischen Dynastie Karadjordjevic an der Spitze sein, war aber permanent in der Krise, so daß 1929 die königliche Diktatur eingerichtet wurde. Der Staat wurde umbenannt und hieß seitdem Jugoslawien. Also, sowohl das kommunistische als auch nichtkommunistische Jugoslawien waren als Staaten permanent in der Krise und waren Diktaturen. Daraus folgt, daß die kommunistische Herrschaft in Jugoslawien die Krise des multinationalen Staates nicht überwinden konnte, nicht aber, daß die Krise des jugoslawischen Staatsgemeinwesens mit dem Zusammenbruch der kommunistischen Herrschaft zu erklären ist. Es handelt sich um zwei Typen der Krise, die analytisch unterschieden werden müssen, obwohl die heutige Krise Jugoslawiens auch mit dem Zusammenbruch des Kommunismus in Jugoslawien zusammenhängt. Die Gleichsetzung des Zusammenbruchs des Kommunismus in Jugoslawien und der Auflösung des jugoslawischen Staatsgemeinwesens vernachlässigt die ökonomischen, sozialen, rechtlichen und moralischen Ursachen der Auflösung des kommunistischen Systems und kann die nötigen Reformen im neuen Nationalstaat Kroatien verschieben oder verhindern. 4 Obwohl spätere ideologisierte Darstellungen der Geschichte des Kommunismus in Jugoslawien versuchten, die Ähnlichkeiten mit dem stalinistischen System zu verharmlosen, konnten sie nicht verleugnen, daß die jugoslawischen Kommunisten noch an dem fünften Kongreß der KPJ 1948, als der Konflikt mit dem Kominform schon öffentlich gemacht wurde und der Bruch unvermeidbar war, Stalin zu den

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

81

Der Konflikt der KPJ mit dem Kominform, beziehungsweise der Konflikt Jugoslawiens mit der UdSSR 1948, veranlaßte die erste Reform des Systems und die Institutionalisierung der "sozialistischen Selbstverwaltung" in Jugoslawien. 5 Die Kommunistische Partei Jugoslawiens konnte, da sie selbst eine bolschewisierte Partei war, den Konflikt nicht einfach als einen Konflikt zwischen den Staaten darstellen. Die jugoslawischen Kommunisten waren gezwungen, den Stalinismus als solchen kritisieren, um den Konflikt zu rechtfertigen. Die Kritik des Stalinismus war aber auch die Selbstkritik der bisherigen Politik der jugoslawischen Kommunisten. Damit waren der Kritik ihre Grenzen gezogen. Sie mußte radikal sein, um den Konflikt mit dem Stalinismus den eigenen Mitgliedern und den Bürgern Jugoslawiens glaubwürdig erklären zu können, aber sie duifte nicht den Aufbau des Sozialismus und die Macht der KPJ in Frage stellen. Die Führung der jugoslawischen Kommunisten konnte dem Zwiespalt nur durch einen KomproKlassikern des Marxismus zählten und die Notwendigkeit des Lernens aus der Erfahrungen der KPdSU betonten. 1949 nationalisierten die jugoslawischen Kommunisten kleine gewerbliche Werkstätten und versuchten, die Landwirtschaft völlig zu kollektivieren. Sie haben es viel radikaler getan, als das in anderen Volksdemokratien zu dieser Zeit gemacht wurde, obwohl das innenpolitisch nicht nötig und wirtschaftlich unvernünftig war. Sie haben das getan, nur um die stalinistischen Vorwürfe, daß in Jugoslawien der Kapitalismus erneuert wird, zu entkräften und zu beweisen, daß sie die Absicht hatten, den Sozialismus sowjetischen Typs nachzuahmen. Eine systematische Analyse der kommunistischen Herrschaft in Jugoslawien würde noch manche Ähnlichkeiten zwischen den bei den Systemen zeigen können: die Kommunisten konnten ihre Diktatur in Jugoslawien institutionalisieren nach einem Weltkrieg, der in Jugoslawien auch ein Bürgerkrieg war; sie kamen an die Macht ohne die unmittelbare Hilfe der Roten Armee; vor dem Weltkrieg war Jugoslawien eine multinationale pseudokonstitutionelle Monarchie, deren Bevölkerung zu mehr als 75 Prozent Kleinbauern waren usw. Das alles begünstigte die Rezeption der "sowjetischen Erfahrungen" und hat entscheidend die Reformen des Systems in Jugoslawien beeinflußt. Eine solche Analyse ist in diesem Aufsatz nicht möglich. Die Kenntnis dieser Umstände muß vorausgesetzt werden. S Vor dem Konflikt gab es in Jugoslawien weder in der Partei noch in der Öffentlichkeit eine politische oder ideologische Auseinandersetzung über die mögliche Reform des Systems. Genauso gab es keine sozialen Kräfte, die die Reform des Systems verlangten. "Die sozialistische Selbstverwaltung" als eine besondere Form der "Diktatur des Proletariats" ist den jugoslawischen Kommunisten durch den Konflikt aufgedrängt worden. Die Reform löste starke Widerstände in der Partei aus, so daß Tito und seine Anhänger brutale Gewalt gegen die Parteigenossen anwenden mußten. Den offiziellen Daten zufolge wurden damals 16312 Personen verhaftet und in Konzentrationslager geschickt. Das waren überwiegend die Altkommunisten. Rund 2300 waren Offiziere, Unteroffiziere und Beamte der JNA, 1618 waren in der Polizei beschäftigt. Unter den Verhafteten gab es auch mehrere hundert von Parteiund Staatsfunktionären. (Vgl. Povijest Saveza kommunista Jugoslavije, Beograd 1985). Die wirkliche Zahl der Verfolgten und Betroffenen war viel größer. 6 FS Euchner

82

Ivan Prpic

miß ausweichen. Von ihrem Standpunkt aus bedeutete das, auf dem Ausbau des Sozialismus (Kommunismus) in Jugoslawien programmatisch zu beharren, aber nachzuweisen, daß der Stalinismus kein Sozialismus ist. So wurde die "sozialistische Selbstverwaltung" als Form der "Diktatur des Proletariats" in das jugoslawische System "eingeführt". Methodisch gesehen wurde sie auf stalinistische Weise institutionalisiert. Sie war "der Beginn eines Prozesses ... der Rücknahme des Stalinismus in der Form des Stalinismus" (Lukacs). An diese, mehr oder weniger bekannten, aber verschieden interpretierten Tatsachen muß erinnert werden, um die Eigenartigkeit der jugoslawischen Version der "Diktatur des Proletariats" verstehen zu können. Sie läßt sich erst dann klar darstellen, wenn man die wichtigsten strukturellen Merkmale der Sowjetgesellschaft unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung ruft. Drei Merkmale scheinen mir besonders wichtig: 1. Die Funktion der Ideologie; 2. die führende Rolle der kommunistischen Partei; 3. Die Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums. 1. Die Funktion der Ideologie. Die methodische Voraussetzung für den Aufbau des bolschewistischen Systems war die Auffassung, daß in der kommunistischen Ideologie die geschichtliche Notwendigkeit des Kommunismus nachgewiesen ist. Der Kommunismus ist in der Parteiideologie auf den Begriff gebracht. Er ist schon als Idee. Um wirklich zu sein, muß die Idee des Kommunismus in der Geschichte erscheinen. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß diese Auffassung der Ideologie das politische Handeln der bolschewistischen Partei legitimieren sollte. Aber die Ideologie sollte nicht nur das politische Handeln der kommunistischen Partei legitimieren. Sie hatte auch die Funktion der Konstitution des Gesamtsystems. Die Institutionen in diesem System - wirtschaftliche, rechtliche, politische, soziale, kulturelle - und die Beziehungen der Individuen untereinander entstehen nicht mittels der allmählichen Differenzierung der Gesellschaft infolge der Teilung der gesellschaftlichen Arbeit, sondern sie werden aus den ideologischen Begriffen abgeleitet. Die Ideologie sollte die Einheit des Systems stiften und so das ganze System zusammenhalten. Sie ist die transzendentale Voraussetzung des Systems, die dieses erst möglich macht. Insoweit war dieses System selbst ideologisch. Die kommunistische Ideologie 6 war eine Gemeinschaftsideologie. Ihrem Selbstverständnis nach drückte sie die wissenschaftliche Erkenntnis aus, 6 Der Begriff "kommunistische Ideologie" wird in diesem Aufsatz gebraucht, um die bolschewistische Anpassung der Marxschen und Engelsschen Lehre zu bezeichnen. Sie umfaßt sowohl die leninsche als auch die stalinistische Interpretation des Marxismus.

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

83

daß die Konstitution einer geschichtlich neuen Gemeinschaft nicht nur möglich, sondern notwendig ist. Im Gegensatz zu den bürgerlichen, abstrakten Gemeinschaften (die Nation, der Staat) sollte die kommunistische Gemeinschaft eine "wirkliche Gemeinschaft" sein.? In dieser Gemeinschaft soll der vergesellschaftete Mensch, die assozierten Produzenten die Arbeit als den ewigen und notwendigen Stoffwechsel mit der Natur "rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen" (Marx, Kapital III, S. 828). Dadurch sollten die materiellen Voraussetzungen einer Gemeinschaft der freien Menschen geschaffen werden. So war die Funktion der kommunistischen Ideologie im kommunistischen Herrschaftssystem, die Gemeinschaft der Kommunisten und Nichtkommunisten zu konstituieren und ihre Einheit zu gewährleisten. 2. Die "führende Rolle der Kommunistischen Partei." Das Subjekt der Verwirklichung der "wirklichen Gemeinschaft" ist der kommunistischen Ideologie zufolge die kommunistische Partei. Sie sei eine Partei "neuen Typs", die das Klassenbewußtsein des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft verkörpert und die historischen Interessen der Menschheit fördern sollte. Dieses Selbstverständnis der Kommunisten hatte schon Lenin zum Ausdruck gebracht und Georg Lukacs in seinen Frühschriften besonders klar dargestellt. Vor der Revolution vereinigten die kommunistischen Parteien die Individuen, die begriffen haben, daß das Proletariat die revolutionäre Klasse der kapitalistischen Gesellschaft ist. Um überleben zu können, muß das Proletariat am kapitalistischen Produktionsprozeß teilnehmen, aber seine Existenz weist auf die Notwendigkeit der revolutionären Überwindung der kapitali7 Den Begriff "wirkliche Gemeinschaft" gebrauchten Marx und Engels, um den Unterschied der "Gemeinschaft der revolutionären Proletarier" von den bisherigen "Surrogaten" der Gemeinschaft, den "scheinbaren" Gemeinschaften (der Staat, die Nation) auszudrücken. Es wäre nicht schwer nachzuweisen, daß sie, wie übrigens auch andere Denker dieser Zeit, diesen Begriff unkritisch anwendeten, ohne ihn von dem Begriff "Gesellschaft" oder "Gemeinwesen" zu unterscheiden. Es läßt sich aber genauso nachweisen, daß sie an relativ seltenen, systematisch wichtigen Stellen, wo sie über die Ziele der proletarischen Revolution sprechen, die Begriffe "Gemeinschaft" und "gemeinschaftlich" gebrauchten. Der Gemeinschaftscharakter der kommunistischen Ideologie und der kommunistischen Parteien ist besonders deshalb wichtig, weil Ferdinand Tönnies in seinem klassischen Buch nachwies, daß die Gemeinschaften deshalb im Produktionsprozeß nicht begründet werden können, weil die Interessen die Gemeinschaft zerstören. Das bedeutet natürlich nicht, daß es keine gemeinsamen Interessen gibt, die durch die politische Vermittlung in einem Gemeinwesen geregelt werden. Das ideologische Programm der Kommunisten war gerade die Konstitution einer Produktionsgemeinschaft.

6*

84

Ivan Prpic

stischen Produktionsweise hin. Insoweit lebt das Proletariat auch außerhalb der kapitalistischen Gesellschaft. Deshalb ist das Proletariat als Klasse nicht nur von den anderen Klassen der kapitalistischen Gesellschaft verschieden, sondern es ist ihnen entgegengesetzt. Die kapitalistische Produktionsweise konstituiert die Gesellschaft als einen territorial unbegrenzten Prozeß, als eine Weltgesellschaft. Die Bourgeoisie hat aber ihre Herrschaft in einem System der territorial begrenzten Nationalstaaten konstituiert. Demgegenüber existiert das Proletariat, das das Wesen des Produktionsprozesses zum Ausdruck bringt, als weltgeschichtliches Subjekt. Seine Existenzweise transzendiert die Nationen und die Nationalstaaten. Er lebt auch außerhalb der Nationen und Staaten. Diese abstrakten bürgerlichen Gemeinschaften sind die Feinde des Proletariats und müssen im Prozeß der Revolution abgeschafft werden. Die Klassenlage des Proletariats in der kapitalistischen Gesellschaft wird in der eigenen proletarischen Moral, Kultur, Wissenschaft usw .. zum Ausdruck gebracht. Insoweit verkörpert das Proletariat schon in der kapitalistischen Gesellschaft die Grundsätze der neuen Gemeinschaft. Die Merkmale der proletarischen Existenz sind dem empirischen Proletariat nicht bewußt. Aber die Kommunisten haben diese Merkmale in ihrer Ideologie begriffen. Die kommunistischen Parteien vereinigen diejenigen Individuen in einer handlungsfähigen Einheit, die verstanden haben, daß sie schon in der kapitalistischen Gesellschaft eine besondere Gemeinschaft sind und eine neue Gemeinschaft aller Menschen gründen sollen. Dieses Ziel ist nicht zu erreichen durch die Vertretung der Interessen des bestehenden Proletariats in den bestehenden Staaten, sondern durch die Zerstörung des bestehenden Staates und der bestehenden Gesellschaft sowie die Erziehung der neuen Menschen für die neue Gemeinschaft. Den Gemeinschaftscharakter der kommunistischen Parteien bringt ihr wichtigster Organisationsgrundsatz - der demokratische Zentralismus zum Ausdruck. Diesem Grundsatz gemäß können der kommunistischen Partei nur diejenigen Individuen angehören, die begriffen haben, daß die Partei die kommunistische Theorie in die Praxis vermittelt und die deshalb bereit sind, die eigenen Interessen den Interessen der Partei zu opfern. Die Mitglieder der Partei müssen sich bewußt sein, daß die Partei nur dann handlungsfähig sein kann, wenn die Mitglieder bereit sind, ihre eigene Freiheit der Einheit der Partei zu opfern. Die Partei geht dem Einzelnen sowohl logisch als auch historisch voraus. Sie ist mehr als die Summe ihrer Mitglieder. Die Einheit der Partei sollte durch die Machtbefugnisse der Exekutivgremien gewährleistet werden. Sie waren ermächtigt, die für alle Mitglieder der Partei verpflichtenden Entscheidungen zu treffen, in der Wahl der nied-

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

85

rigeren Gremien teilzunehmen, die Mitglieder aufzunehmen oder auszuschließen. Grundsätzlich kann das höchste Organ der Partei die ganze Mitgliederschaft, die es gewählt hat, aus der Partei ausschließen. Die Einzelnen konnten nicht von sich aus Mitglieder der Partei werden. Sie mußten von den Mitgliedern empfohlen werden. Ebensowenig konnten sie freiwillig aus der Partei austreten. Sie konnten nur hinausgeworfen werden. Diese Machtbefugnisse seien nötig, um die Reinheit der Ideologie und die Einheit der Partei zu sichern. Die Exekutivgremien der Partei sind eigentlich die Partei. Der Grund der Vereinigung (die Ideologie) und die Organisationsprinzipien konstituierten die kommunistische Partei in der kapitalistischen Gesellschaft als eine besondere Gemeinschaft. Nach der Machtergreifung blieben die Kommunisten zunächst eine ideologische Gemeinschaft innerhalb der im System lebenden Bevölkerung. Sie waren eine Minderheit, die der ganzen Bevölkerung die Befreiung von Ausbeutung versprach. Um ihre Herrschaft zu gewährleisten, bildeten sie einen besonderen Apparat der territorialen Herrschaft. Dieser Apparat war nicht mit der Partei und noch nicht einmal mit ihren Exekutivorganen unmittelbar identisch. Dieser Apparat wurde auf Grund der Verfassung und der Gesetze konstituiert. Die gesetzgebende Gewalt dieses Apparats beruhte auf allgemeinen Wahlen. In den Gremien dieses Apparats konnten sogar die Nichtkommunisten manche leitende Funktionen haben. Insoweit war dieser Apparat ein Staat. Ihm aber fehlte ein wesentliches Merkmal, um ein Staat sein zu können - die innere Souveränität. Der Sitz der souveränen Gewalt war nicht das Parlament, sondern das wichtigste Gremium der Partei - das Politbüro. Der kommunistische Staat war nur das Instrument der Parteiherrschaft. Der kommunistische Staat integrierte nicht die Kommunisten und Nichtkommunisten in ein politisches Gemeinwesen. Der kommunistische Staat war eine technische und nicht eine politische Institution. Er sollte nicht nur die Herrschaft der kommunistischen Partei sichern, sondern auch die Verwirklichung der Parteiideologie und des Parteiwillens fördern. Die bolschewistische Partei hatte im System die Position des Souveräns. Die instrumentelle Auffassung auch des kommunistischen Staates, die Lenin in seinem einflußreichsten Buch Staat und Revolution besonders betonte, weist auf eine, meines Erachtens wichtigere, Funktion der kommunistischen Partei im kommunistischen System. Als institutionalisiertes Bewußtsein der künftigen Gemeinschaft aller Menschen stellte sie ihrem Selbstverständnis nach im bestehenden System, in dem sowohl Kommunisten als auch Nichtkommunisten leben, die künftige Gemeinschaft dar. Die kommunistische Gemeinschaft ist schon in der Partei konstituiert, muß aber den Nichtkommunisten beigebracht (durch ideologische "Arbeit" und Erziehung) oder aufgezwungen werden. Anders gesagt: die Politik als Prozeß der Konstitution des rationalen Gemeinwesens findet nur in der kommunisti-

86

Ivan Prpic

schen Partei statt. Die Partei stiftet die Einheit des Systems. Sie braucht den Staat nur deshalb, weil die Nichtkommunisten auf dem Territorium ihrer Herrschaft leben, nicht aber um das Gemeinwesen der Bürger zu konstituieren. Im Staat wird nur verlautbart, was politisch schon geschehen ist. Die Herstellung des Apparates der territorialen Herrschaft war eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung der Konstitution der kommunistischen "wirklichen Gemeinschaft". Ideologisch notwendige Voraussetzung dazu war die Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums. 3. Die Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums. Die Abschaffung des kapitalistischen Privateigentums im bolschewistischen Modell bedeutete rechtlich die Abschaffung des Rechts des Einzelnen, über die Produktionsmittel frei zu verfügen. Sie war gleichwohl der Wechsel des Subjekts des Eigentumsrechts. Im bolschewistischen Modell wurden der Staat und die lokalen Verwaltungsgremien die formalen Subjekte des Eigentumsrechts. Das Individuum als Produzent war rechtlich desubjektiviert. Die rechtliche Desubjektivierung der Individuen ist ein wesentlicher Aspekt der Struktur des kommunistischen Herrschaftssystems, aber damit kann die Gliederung des Systems nicht erklärt werden. Sie wird erst klar, wenn das Eigentumsrecht als Produktions verhältnis bestimmt wird. Das Eigentumsrecht an den Produktionsmitteln berechtigt zur Ausübung mehrerer Produktionsfunktionen, die im Produktionsprozeß auf verschiedene rechtliche Personen verteilt werden können und im modemen Produktionsprozeß auch verteilt werden. Ökonomisch gesehen bedeutete die Abschaffung des privaten Eigentumsrechts an den Produktionsmitteln gleichwohl den Wechsel des Produktionssubjekts. Als Subjekt der Produktion ist in den kommunistischen Herrschaftssystemen nicht das Individuum, sondern die Gesamtheit der Bevölkerung in einem kommunistischen System vorausgesetzt. Das Individuum ist auch wirtschaftlich desubjektiviert. Der Zweck des Prozesses der materiellen Produktion ist die Befriedigung der Bedürfnisse. Das Recht, die Bedürfnisse zu bestimmen und über die Art und Weise ihrer Befriedigung zu entscheiden, ist eine Funktion und ein Recht des Eigentümers an den Produktionsmitteln. Der Wechsel des Subjekts des Eigentumsrechts und des Subjekts der Produktion im kommunistischen System stellt sich auch als der Wechsel des Subjekts dar, dessen Bedürfnisse zunächst befriedigt werden müssen. F. Feher, A. Heller und György Markus haben in dem Buch Die Diktatur über die Bedüifnisse überzeugend dargestellt, wie in den kommunistischen Systemen das System als Ganzes als eine Produktionseinheit vorausgesetzt ist, so daß vor allem diejenigen Bedürfnisse befriedigt werden, deren Befriedigung die Erhaltung und die Reproduktion des Gesamtsystems gewährlei-

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

87

sten (die Verwaltung, die Armee, die Entwicklung der Produktionskräfte). Danach sollen die gemeinsamen Bedürfnisse der Bevölkerung (das Schulwesen, Gesundheitswesen, die Kultur, usw.) befriedigt werden und zuletzt die Bedürfnisse des Einzelnen. Sie haben auch darauf hingewiesen, daß im kommunistischen System nicht der Staat, der formales Subjekt des Eigentums war, diese Entscheidungen traf. Die Exekutivgremien der kommunistischen Partei hatten die Macht und das Recht, die Bedürfnisse zu bestimmen und über die Art und Weise ihrer Befriedigung zu entscheiden, obwohl sie nicht unmittelbar am Produktionsprozeß teilgenommen haben. Sie beauftragten ihre Mitglieder im Staat und in den Betrieben, die getroffenen Entscheidungen zu verwirklichen. So erschien der Staat als der allgemeine Unternehmer, obwohl die wichtigsten Produktionsentscheidungen außerhalb der Staatsgremien getroffen wurden. Die Exekutivgremien der Partei hatten so im System sowohl die Funktion des Souveräns, als auch des Eigentümers. Die Verschmelzung der Souveränsposition und einer der wichtigsten Funktionen des Eigentümers in der kommunistischen Partei ist die wesentliche Eigentümlichkeit der Gliederung des kommunistischen Herrschaftssystems. Im kommunistischen Herrschaftssystem war nicht nur das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft. Es wurde das kapitalistische Privateigentum abgeschafft. Auf Grund der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie, in welcher behauptet wurde, daß das Kapital und der kapitalistischen Gesellschaft eigentümliche Klassengegensätze in nuce in der universellen Warenproduktion verwirklicht sind, war in den kommunistischen Systemen die Warenproduktion abgeschafft. In der klassischen politischen Ökonomie (Smith) und Philosophie (Hege!) ist gezeigt worden, wie die Universalisierung der Warenproduktion geschichtlich die alten Vereinigungen zerstörte und das Individuum zum Produktionssubjekt konstituierte. Es ist auch hervorgehoben worden, daß die Universalisierung der Warenproduktion die Individuen als Produzenten auf neue Weise integriert. In der Warenproduktion ist die Befriedigung der Bedürfnisse auch Zweck der produktiven Arbeit des Menschen. In Folge der fortgeschrittenen Teilung der Arbeit kann der Einzelne nicht mehr alle seine Bedürfnisse mit den Erzeugnissen seiner Arbeit befriedigen. Um die eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können, muß er zuerst die Bedürfnisse eines Anderen befriedigen. Der Tausch ist so eine spezifische Beziehung zwischen den Produzenten und die Bedingung der Existenz des Einzelnen. Er kann als Privatperson nur existieren, indem seine Arbeit gesellschaftlich wird. Das Medium dieser Vermittlung ist der Markt. Der Markt ist die Gesamtheit der Beziehungen und der Institutionen, die die "privaten" Produzenten herstellen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Sie ist nicht nur ein Mechanismus der Alloka-

88

Ivan Prpic

tion der ökonomischen Ressourcen. Der Markt konstituiert die Gesellschaft als einen Prozeß der Integration der privaten Individuen. "Privat" und "gesellschaftlich" schließen einander nicht aus. In seiner Analyse der so verfaßten Gesellschaft hat gerade Marx auf deren Voraussetzungen hingewiesen. Um die eigenen Bedürfnisse befriedigen zu können, muß das Individuum als Produzent das Recht haben, diese Bedürfnisse zu bestimmen und über die Art und Weise ihrer Befriedigung zu entscheiden. Es muß frei entscheiden können, wo, was, wie es produzieren und unter welchen Bedingungen es seine Erzeugnisse verkaufen wird. Diese Freiheit ist die Voraussetzung der Konstitution der Gesellschaft. Am Markt werden Äquivalente ausgetauscht. Im Tausch werden verschiedene konkrete Arbeitsprodukte in der abstrakten Arbeit einander angeglichen. Die Gleichheit ist die Form dieser Gesellschaftlichkeit.

Da der Produzent zunächst die Bedürfnisse eines Anderen befriedigen muß, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, bestimmt das Interesse und nicht nur die Bedürfnis das Handeln des Einzelnen. Der Einzelne sucht seine Bedürfnisse zu befriedigen, indem er die konkrete Arbeit leistet und seine persönliche Interessen verfolgt, aber er kann diesen Zweck nur erreichen, wenn seine Arbeit die abstrakte allgemeine Form annimmt und durch abstrakte Rechtsnormen geregelt wird. So ist dieser Gesellschaft eine Rationalität, eine Allgemeinheit immanent, die im bewußten Handeln der Menschen auf den Begriff kommt 8 . Um die Entstehung einer neuen Klassengesellschaft zu verhindern und ihr Programm der "wirklichen Gemeinschaft" durchzusetzen, schaffen die Kommunisten die Waren produktion in den kommunistischen Systemen ab. Sie schaffen damit die Gesellschaft als besondere von der Gemeinschaft verschiedene Form der Integration ab. Das ursprüngliche kommunistische Herrschaftssystem war unter der Voraussetzung konstituiert, daß es ein einheitlicher Organismus ist, der sich auf einem bestimmten Territorium die Natur aneignet, um die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen. In diesem Organismus ist die kommunistische Partei der Souverän und Eigentümer, der alle Produktionsressourcen nutzt, um die "wirkliche Gemeinschaft" herzustellen. Die Produktionsressourcen sind der "Baustoff' und die Menschen die "Masse", aus denen die neue Gemein8 Die Marxsche Kritik der kapitalistischen Gesellschaft muß hier als bekannt vorausgesetzt werden. Sie läuft darauf hinaus, daß in der kapitalistischen Gesellschaft durch die soziale Trennung des Eigentums in das Eigentum an der Arbeitskraft und das Eigentum an den Produktionsmitteln die Bedingungen der Aufhebung der in der Zirkulationssphäre verwirklichten Freiheit und Gleichheit enthalten sind. Obwohl Marx die Abschaffung der Warenproduktion und des Marktes in der kommunistischen Gesellschaft befürwortete, hat er nirgendwo gezeigt, wie in dieser Gesellschaft die Elemente des Arbeitsprozesses vermittelt sein sollen.

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

89

schaft aufgebaut werden soll. Obwohl der kommunistische Versuch, die "wirkliche Gemeinschaft" der Menschen aufzubauen, mehrere Jahrzehnte dauerte, blieb die privilegierte Position der Kommunisten bestehen. So blieb auch die Aufteilung in Kommunisten und Nichtkommunisten ein wesentliches Merkmal der Strukturierung dieses Systems. Aber nicht das Einzige. An die Macht gekommen, übernahmen die Bolschewiki die in der kapitalistischen Gesellschaft entwickelte Industrialisierung des Produktionsprozesses. Sie waren dazu nicht nur gezwungen, um das eigene Programm zu verwirklichen, sondern auch wegen der internationalen Konkurrenz. Da sie aber die Warenproduktion und den Markt als Integrationsform des Systems abgeschafft hatten, war die Entwicklung der Produktivkräfte dem System nicht immanent. Die unmittelbaren Produzenten waren weder gezwungen, die Produktivkräfte zu entwickeln, noch daran interessiert. Die Industrialisierung zerstörte die traditionellen Dorfgemeinschaften, förderte die Teilung der Arbeit und verursachte die Umsiedlung der Bevölkerung in die Nähe der Fabriken. Insoweit brachte das System eine neue Integration der Bevölkerung zustande. Die Grundlage der Integration war die Technologie, die konkrete Arbeit und die Bildung. Die Hierarchie hatte damit wesentlich einen ständischen Charakter.

IU. Zur Zeit des Konflikts mit dem Kominform waren die dargelegten Merkmale des kommunistischen Herrschaftssystems weitgehend verwirklicht9 . Gerade weil die Kommunistische Partei Jugoslawiens eine bolschewistische Partei war, sahen sich die jugoslawischen Kommunisten durch den Konflikt gezwungen, sich besonders mit diesen Merkmalen auseinanderzusetzen. Dabei haben sie nicht die beiden Funktionen der Ideologie im System in Frage gestellt. Sie konnten dies auch nicht tun, ohne die eigene Machtposition zu gefährden und das eigene Verständnis des Kommunismus aufzugeben. Sie waren aber gezwungen, eine andere Interpretation der Ideologie zu entwickeln. Sie mußten die ideologischen Begriffe neu bestimmen und haben dies auch getan. Von der These ausgehend, daß im Stalinismus die ursprüngliche Idee des Kommunismus "deformiert" wurde, proklamierten die 9 Die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln begann in Jugoslawien schon während des Krieges als die Enteignung der Kollaborateure der Okkupationsmächte. Der Prozeß wurde in der Industrie unmittelbar nach dem Krieg fortgesetzt. Die erste Nationalisierung wurde 1946 und die zweite 1948 eingeleitet. In der Landwirtschaft aber wurde das Privateigentum nicht abgeschafft, sondern auf 30 Hektar begrenzt. Auch der erwähnte Versuch der Kollektivierung der Landwirtschaft ist 1949 am Widerstand der Bauern gescheitert. Der Prozeß wurde bald abgebrochen, aber der Bauerngrundbesitz auf ca. 10 Hektar herabgesetzt.

90

Ivan Prpic

jugoslawischen Kommunisten das Motto: "Zurück zu den Klassikern des Marxismus". So konnten sie auf den erwähnten Funktionen der Ideologie beharren und gleichzeitig die stalinistische Interpretation der klassischen Lehre kritisieren. Obwohl in den Auseinandersetzungen mit dem Stalinismus die Schriften von Marx und Engels neu interpretiert und zitiert wurden, kehrten die kommunistischen Ideologen im politisch relevanten Marxismus 10 vor allem zur Leninschen Interpretation des Marxismus zurück. So konnten sie auch weiter an der "führenden Rolle" der Partei festhalten. Diese bolschewistische Voraussetzung des Systems haben die jugoslawischen Kommunisten bis 1990 nicht aufgegeben. Die Bedeutung dieser ideologischen Phrase illustriert sehr gut die Position der Kommunistischen Partei im Rechtssystem Jugoslawiens. "Die führende Rolle" der Partei ist erst in der dritten, 1963 verabschiedeten Verfassung Jugoslawiens erwähnt. Dort steht, daß "der Bund der Kommunisten Jugoslawiens mit historischer Notwendigkeit die organisierte führende Kraft der Arbeiterklasse und des arbeitenden Volkes beim Aufbau des Sozialismus und der Verwirklichung der Solidarität arbeitender Menschen und der Brüderlichkeit und Einheit des Volkes ist" (Ustavni razvoj socijalisticke Jugoslavije, Beograd, 1988 S. 377). Fast die gleiche Feststellung ist in der Verfassung von 1974 wiederholt. Bis 1963 wurde die kommunistische Partei im Rechtssystem nicht erwähnt. Auch danach wurde kein Gesetz verabschiedet, das die Tätigkeit der Partei, ihre Finanzierung oder ihren inneren Aufbau regeln sollte. Die Partei war auch nicht im Innenministerium als Organisation registriert. Ihre Tätigkeit, ihre Position im System und ihre Struktur regelte die Partei in ihrem Statut. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens war während der ganzen Zeit der kommunistischen Herrschaft extralegal. Die extralegale Position der Partei weist auf ihre Position des Souveräns im System. I I

10 Ich gebrauche diesen Ausdruck, um die von den Ideologen der Partei ausgearbeitete Interpretation des Marxismus zu bezeichnen. Im Laufe der Entwicklung wurde in Jugoslawien auch eine inoffizielle Deutung des Marxismus möglich. Das war die unerwünschte Folge der kommunistischen Kritik des Stalinismus. Wenn nämlich zwei verschiedene Interpretationen der klassischen Lehre möglich sind, dann müssen auch mehrere möglich sein. So brachte die Kritik des Stalinismus eine gewisse ideologische Liberalisierung mit sich, obwohl ihre methodologischen und politischen Grenzen innerhalb des Marxismus lagen. Das ist der wichtigste Grund, warum in den kritischen Sozialwissenschaften in Jugoslawien die Kritik der Wirklichkeit vom Standpunkt einer bestimmten Interpretation der Marxschen Lehre lange Zeit die bevorzugte Methode war. 11 Die extralegale Position des Bundes der Kommunisten könnte auch als Rezeption der liberalen Tradition gedeutet werden. Das wäre schon deshalb falsch, weil die Gründung aller anderen Bürgerorganisationen gesetzlich geregelt wurde.

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

91

Die jugoslawischen Kommunisten glaubten auch, daß die Leninsche Interpretation des Marxismus ihnen die Kritik des stalinistischen Herrschaftssystems ermöglichte. Lenin hat, wie bekannt, das Absterben des Staates im Kommunismus angekündigt und die Sowjetdemokratie als die Form der kommunistischen Gemeinschaft akzeptiert. So konnte man mit vielen Argumenten nachweisen, daß Stalin im Gegensatz zu Lenin die Stärkung des kommunistischen Staates ideologisch proklamierte und praktisch durchsetzte. Es war auch nicht schwer nachzuweisen, daß im Sowjetsystem nicht die "wirkliche Gemeinschaft", sondern ein bürokratisiertes Kastensystem verwirklicht wurde. Die Ursache des Scheiterns fanden die kommunistischen Ideologen im Staatseigentum an den Produktionsmitteln und der leitenden Funktion des Staates im Produktionsprozeß. Der Staat wurde so zum Sündenbock erklärt und der Etatismus im sowjetischen System zum Symbol der "Deformation" hochstilisiert. Es ist an dieser Stelle weder möglich noch nötig, die Kritik des Stalinismus darzustellen. Wichtig ist jedoch, daß die Kritik am Sowjetsystem auf eine neue Bestimmung des Sozialismusbegriffes hinauslief. Der Sozialismus wurde als eine Gemeinschaft begriffen, in welcher der arbeitende Mensch das Recht hat, über die Bedingungen seines Lebens zu entscheiden und über die Ergebnisse seiner Arbeit zu verfügen. Die Voraussetzungen dazu seien das "gesellschaftliche Eigentum" an den Produktionsmitteln und die Rätedemokratie. Die so bestimmten ideologischen Voraussetzungen des Sozialismus bedeuteten die Umwandlung des institutionalisierten Systems. Erstens sollte das Subjekt des Eigentums wieder gewechselt werden. Anstatt des Staates sollte "die Gesellschaft" das Subjekt des Eigentumsrechts werden. Das wichtigste ideologische, aber vor allem rechtliche Problem wurde die Frage: was ist die Gesellschaft im sozialistischen System? Die Reform wurde eingeleitet, ohne daß diese Frage klar beantwortet wurde. 12 Das gesellschaftliche Eigentum an den Produktionsmitteln wurde dergestalt institutionalisiert, daß manche Verwaltungsfunktionen im Produktionsprozeß, welche aus dem Eigentum folgen und bis dahin dem Staat formal zugeordnet waren, an die unmittelbaren Produzenten in den Betrieben übertragen wurden. Bei der ersten Reform (1950) waren diese Rechte ziemlich begrenzt. Alle Beschäftigten sollten die Verwaltungsgremien des Unternehmens wählen. Die geheim gewählten Arbeiterräte konnten über die Vertei12 Die Bestimmung des gesellschaftlichen Eigentums blieb bis zur Auflösung des kommunistischen Systems in Jugoslawien eines der wichtigsten sowohl ideologischen als auch wissenschaftlichen Probleme. Das war unter anderem deshalb der Fall, weil die Gesellschaft, wo sie konstituiert ist, ein Prozeß ist und nicht als Subjekt des Rechtsverhältnisses institutionalisiert werden kann. Das praktische Problem war die Tatsache, daß im System selbst, als die Reform eingeleitet wurde, die Gesellschaft gar nicht konstituiert war.

92

Ivan Prpic

lung des Einkommens, die Organisation der Produktion im Betrieb entscheiden usw. Gleichzeitig wurden sie auch verpflichtet, das Einkommen des Betriebes zu realisieren, für die einfache und die erweiterte Reproduktion zu sorgen und die Produktionsmittel zu entwickeln. Den Parteigremien außerhalb der Betriebe blieb das Recht und die Macht, über die Bedürfnisse des Gesamtsystems zu entscheiden und die wichtigsten Personalentscheidungen zu treffen, und der Staat übernahm den größten Teil der Akkumulationsaufgaben. So wurde das gesellschaftliche Eigentum als ein geteiltes Eigentum institutionalisiert. Die Unternehmen konnten auch diese relativ geringen Rechte und Pflichten nicht wahrnehmen, ohne daß ihnen die Freiheit zuerkannt wurde, ihr Einkommen am Markt zu realisieren. Obwohl immer noch der Plan als die gesellschaftliche Verbindung zwischen den sozialistischen Betrieben institutionalisiert war, wurde die Notwendigkeit des "sozialistischen Warenaustauschs" ideologisch gerechtfertigt. Die Institutionalisierung des gesellschaftlichen Eigentums und der Rätedemokratie im jugoslawischen kommunistischen System, die als Liberalisierung dargestellt wurde, bedeutete den Anfang der Konstitution der Gesellschaft als einer gesonderten Sphäre innerhalb des kommunistischen Systems. Die wichtigsten Konsequenzen für den Aufbau des Systems wurden bald sichtbar. Die Institutionalisierung des gesellschaftlichen Eigentums, der "sozialistischen Warenproduktion" und des Einkommens als des Zwecks der Produktion, konstituierte das materielle Interesse als Motiv des Handeins der Produzenten und den Konflikt der Interessen als den Normalzustand der Gesellschaft. Das setzte auch die Konstitution des modemen Staates als einer gesonderter Sphäre voraus, wo die gemeinsamen Interessen geregelt wurden sowie der öffentlichen Gewalt, die die allgemeinen Bedingungen der Produktion gewährleistete. Angesichts des Pluralismus der gesellschaftlichen Interessen entstand das Bedürfnis ihrer Vertretung im Staat. So war die parlamentarische Demokratie und das Mehrparteiensystem eine der Möglichkeiten der konsequenten Reform des Systems. Diese Konsequenz hatte Milovan Djilas schon am Anfang der fünfziger Jahre auf den Begriff gebracht, aber die jugoslawischen Kommunisten waren nicht bereit, sie zu verwirklichen, weil sie die Möglichkeit des Machtverlustes beinhaltete. Die zweite Möglichkeit war, das System als eine Produktionsgemeinschaft zu verstehen, dessen Mitglieder Arbeiter sind, die im Produktionsprozeß ihre Bedürfnisse befriedigen sollen. Konsequent ausgeführt, würde das bedeuten, daß alle Rechte und Pflichten des Individuums aus seiner Teilnahme im Produktionsprozeß folgen. Die Arbeitsgemeinschaft ist gleichzeitig die Lebensgemeinschaft, in welcher die Einzelnen die meisten ihrer Inter-

Die Herrschaft Titos und die "Diktatur des Proletariats" in Jugoslawien

93

essen und die wichtigsten Rechte verwirklichen. Außerhalb dieser Gemeinschaft werden nur die Interessen delegiert, die nicht am Arbeitsplatz befriedigt werden können. Organisationsform dieser Gesellschaft wären die Räte vom Unternehmen bis zum Gesamtsystem. Auch diese Konsequenz konnten die jugoslawischen Kommunisten nicht vollziehen. Sie hätte bedeutet, daß keine besonderen politischen Organisationen nötig sind. Auch die kommunistische Partei nicht. Die konsequente Institutionalisierung der Rätedemokratie hätte die Selbstauflösung der Partei bedeutet. Das hat Edvard Kardelj, der wichtigste Ideologe des Selbstverwaltungssozialismus und ein verläßlicher Mitarbeiter Titos, klar gesehen, als er von der Notwendigkeit des Absterbens der Partei sprach, aber den Anfang dieses Prozesses in die weite Zukunft verschob. So wurde in Jugoslawien ein System konstituiert, das ein Zwitterding war. Mit der Konstitution des gesellschaftlichen Eigentums, der Arbeiterräte und der Elemente der Marktgesellschaft wuchs der Druck zur weiteren "Vergesellschaftung" der Wirtschaft, aber auch anderer Segmente des Systems. Die Träger dieses Drucks waren vor allem die Betriebsleitungen, die die Weiterentwicklung der Betriebe zu eigenständigen Rechts- und Wirtschafts subjekten forderten. Unter diesem Druck wurden mehrere Reformen versucht, bei denen immer wieder die Staatsfunktionen dezentralisiert wurden und die Dezentralisierung als Demokratisierung gedeutet wurde. Den Betrieben wurden immer mehr Rechte und Pflichten delegiert. Auch die Funktionen des Marktes wurden erweitert. Die jugoslawische Wirtschaft wurde effektiver als andere kommunistische Wirtschaften. Trotzdem blieb ihre wirtschaftliche Wirkung begrenzt. Vor allem deshalb, weil, trotz aller Reformen, Ökonomie und Politik, Staat und Gesellschaft weder rechtlich noch institutionell systematisch voneinander getrennt wurden. Außerdem war der größte Teil der Akkumulation außerhalb der Betriebe konzentriert. Die Reformen wirkten vor allem desintegrativ. Die Entstaatlichung der Produktionsfunktionen verursachte nicht den Wechsel der Konstitutionsgrundsätze des Staates, sondern nur seine Dezentralisierung. Der Staat hatte ohnehin nicht die Integrationsfunktion. Diese Funktion konnte der Markt ebensowenig erfüllen, weil seine volle Entfaltung bewußt, vor allem aus ideologischen Gründen, verhindert wurde. Die Integrationsfunktion übten auch die Selbstverwaltungsgremien nicht aus. Die Arbeiterräte waren nur in den Betrieben institutionalisiert. Es gab keinen Rat eines Wirtschaftszweiges oder der Gesamtwirtschaft. Die wirkliche Bedeutung der Dezentralisation wird erst klar, wenn man weiß, daß Jugoslawien ein föderativer Staat war, dessen Republiken, ausgenommen Bosnien und Herzegovina, nach dem Nationalitätenprinzip konstituiert wurden. Die Dezentralisierung des Bundesstaates stärkte die Republiken. Auch wenn die Führer der Republi-

94

Ivan Prpic

ken aus ökonomischen Gründen die Dezentralisierung forderten, hatten diese Forderungen nationalistische Anklänge. Die Integrationsfunktion sollte die kommunistische Partei gewährleisten. Aber auch sie konnte diese Funktion nicht erfüllen. Die Mitglieder der Partei hatten nämlich die führenden Positionen in der Wirtschaft, und ihr Handeln bestimmte die Interessen ihrer Unternehmen. So drangen diese Interessen in die Partei ein und zerstörten ihre Einheit. Dasselbe galt für die führenden Funktionäre in den Republiken. Solange Tito lebte, konnte er mit Hilfe der Armee und auf Grund seines Charismas die Interessengegensätze zurückdrängen. Nach seinem Tod (1980) begann der Zusammenbruch. Das kommunistische Herrschaftssystem in Jugoslawien löste sich auf, weil die Kommunisten nicht imstande waren, ihre stalinistische Vergangenheit zu überwinden und die Folgen ihrer eigenen Reformen auf sich zu nehmen. Das kommunistische Jugoslawien aber zerfiel, weil das kommunistische System eine Diktatur war, in welcher die Kommunisten nicht nur die Freiheit der Individuen, sondern auch der Nationen unterdrückten, aber sich zeitweise des Nationalismus bedienten, um interne Auseinandersetzungen auszutragen. Literatur Feher, F./ Heller, A.: György Markus, Diktatura nadpotrebama, Beograd 1986. Kardelj, Edward: Die Selbstverwaltung und das politische System, Belgrad 1981. Marx, Karl: Die Deutsche Ideologie, Werke III, Berlin 1962. - Das Kapital III, Berlin 1965. - Ustavni razvoj socijalisticke Jugoslavije, Beograd 1988.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur Von Eun-Jeung Lee Der "chinesische Weg zum Sozialismus" hat trotz vieler innerer Konflikte und der Wechselhaftigkeit des wirtschaftspolitischen Kurses bisher eine bemerkenswerte Kontinuität der Herrschaft gezeigt. Auch wenn das Regime nach dem Tod von Mao Zedong unter der Führung von Deng Xiaoping eine Liberalisierung der Wirtschaft vorantreibt, bleibt der Anspruch der KPCh auf Alleinherrschaft unantastbar. Keinem anderen sozialistischen Land ist es gelungen, wirtschaftliche Modernisierung in solchem Ausmaß und Tempo voranzutreiben wie der Partei führung unter Deng in den achtziger Jahren. Dies brachte ihr einen beachtlichen Legitimitätsgewinn. Doch gewinnen neuerdings Forderungen nach politischer Modernisierung mehr und mehr an Gewicht. Damit wird die Legitimation und die Zukunft der kommunistischen Herrschaft in China in Frage gestellt. Im folgenden sollen die Legitimationsmuster der kommunistischen Herrschaft in China untersucht werden. Dabei werden drei Phasen unterschieden: die Phase der Befreiungskämpfe, die Ära von Mao Zedong sowie die von Deng Xiaoping.

I. Nationale Befreiungskämpfe und die Gedanken Maos als Legitimationsgrundlage des chinesischen Kommunismus Um die Jahrhundertwende, als Mao heranwuchs, war China am Tiefpunkt seiner Geschichte angelangt. Das Reich der Qing Dynastie war weitgehend zerfallen und die Politik der jungen Republik von Machtkämpfen rivalisierender Militärlords bestimmt. Das Land war formal selbständig, tatsächlich aber der Hegemonie ausländischer Interessen unterworfen. Den konkurrierenden Kolonialmächten, allen voran Japan und England, war jedes Mittel recht, um ihren Einfluß zu vergrößern. Die korrupte, vor die Wahl zwischen Privilegien und nationalen Interessen gestellte Oberschicht, arrangierte sich mit den imperialistischen Mächten. China nach innen und nach außen als Staat zu regenerieren, erforderte tiefgreifende Veränderungen. Die Generation der Vierten Mai Bewegung (1919) hatte zwar den inneren Zusammenhang zwischen nationaler und sozialer Befreiung richtig

Eun-Jeung Lee

96

erkannt, konnte sich aber nicht zur revolutionären Volksbewegung entwikkeln. 1 Es war gewiß das große Verdienst Maos, die nationalen und sozialen Fäden verbunden und zur praktischen Richtschnur kommunistischer Politik gemacht zu haben. Während sich die Guomindang unter der Führung Chiang Kaisheks, der seit 1927 mit dem ländlichen Konservatismus zusammenarbeitete, an ihre ursprünglichen, von Sun Yatsen geprägten Reformpläne nicht mehr erinnern wollte, hatte Mao längst ein feines Gespür für die anti-feudalen und anti-imperialistischen Kräfte in der Masse der Bevölkerung, vor allem bei den Bauern, entwickelt, die damals mehr als 80% der Bevölkerung ausmachten. Als Japan nach dem Überfall auf die Mandschurei (1931) weiter ins nordchinesische Kernland vorstieß, stellten die Kommunisten der Appeasement-Politik der Guomindang-Regierung militärische Taten gegenüber. Ihre Armee-Einheiten, insbesondere die legendäre "Achte Marscharmee", bekämpften den "Aggressor" an vorderster Front. Die Guomindang, die sich in sichere Wartepositionen zurückgezogen hatte, verlor dadurch nicht nur Territorien an die KPCh, sondern auch die Menschen, die die Rettung des Vaterlandes bei Mao und den Kommunisten in Yen an besser aufgehoben sahen als bei der Regierung Chiang Kaisheks hinter den Yangtze Schluchten in Chungking. Die chinesischen Kommunisten unter Mao verstanden sich zwar als Internationalisten, aber vor allem als Patrioten, die ihre Heimat verteidigten. 2 Darauf gründete sich die Politik Maos, die die Kommunisten zum Sieg führen sollte. Wie so viele junge Chinesen kam auch Mao über den Nationalismus zur Politik. Die Demonstration westlicher Stärke erregte bei ihm Sorgen um die Zukunft Chinas. Dies führte ihn dazu, sich mit westlichen Philosophen auseinanderzusetzen, um Wege zur Befreiung Chinas aus Schwäche und Abhängigkeit zu finden. In seinen frühen Arbeiten tritt der nationalistische Zug Maos deutlich hervor? Während er die konfuzianische Tradition für Chinas Rückständigkeit verantwortlich machte, sah er in einer Erneuerung nach dem russischen Vorbild der Oktoberrevolution die Möglichkeit, China

I

Zur revolutionären Entwicklung in China seit dem 19. Jahrhundert siehe u. a.

L. W. Pye, China, An Introduction. New York 1991; J. D. Spence, The Search for Modern China. New York 1990; J. K. Fairbank, The Great Chinese Revolution

1800 - 1985. New York 1985. 2 Vgl. dazu Ch. Johnson, Peasant Nationalism and Communist Power. The Emergence of Revolutionary China 1937 - 1945. Stanford 1962; Peasant, Tseng Ho-jen, State and Democracy: The Chinese Case, in: Issues & Studies, April 1993, S.34ff. 3 Vgl. P. J. Opitz, Mao Tse-tung, in: ders. (Hrsg.), Vom Konfuzianismus zum Kommunismus. München 1969, S. 192ff.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

97

an die Spitze aller Nationen zu bringen. Auf diese Weise war er nach eigenem Bekunden Marxist geworden. Aber erst in den Jahren der Kämpfe gegen Japan und die Guomindang entwickelte er in Yenan allmählich ein politisch-philosophisches System, das in China mit dem Begriff "Gedanken Mao Zedongs" versehen wurde. 4 Dieses Ideensystem, das sowohl aus seinem prometheischen Drang, die alte feudale Gesellschaft zu zerstören, als auch seinem leidenschaftlichen Willen, den neuen Menschen zu schaffen, entstand, beruht auf Vorstellungen, die aus der historischen Situation Chinas, dem Marxismus-Leninismus und der geistigen Tradition des Landes erwachsen sind. 5 Mao ging davon aus, daß der Mensch ein von Natur aus unverdorbenes kollektives Wesen sei, das sich durch seine potentielle Veränderbarkeit, Tugendhaftigkeit, Willenskraft und seine Fähigkeit zur Aufopferung und zum Kampfe gegen Ungerechtigkeit auszeichne. Damit verknüpfte er die Überzeugung, daß die chinesische Volksmasse angesichts der ungerechten Verhältnisse über ungeheuere Energien verfüge, die für eine Revolution mobilisiert werden könnten. Diese Überzeugung entstand unmittelbar aus seiner praktischen Erfahrung in der Bauernbewegung vor 1927. Dort stellte er fest, daß die chinesische Gesellschaft zwar von feudalistischen Kräften, nämlich den Grundbesitzern und den ihnen entstammenden Militärs beherrscht werde, daß diesen aber die Bauern als eine Klasse gegenüberstünden und auf einen vollständigen Umsturz der bestehenden Gesellschaftsordnung hinarbeiten würden. 6 Mit dieser Analyse stand Mao anfangs der offiziellen Linie der KPCh entgegen, die seit ihrer Gründung von 1921 unter starkem Einfluß der Komintern verzweifelt und vergeblich versuchte, in der winzigen städtischen Arbeiterschaft revolutionäre Kräfte zu mobilisieren. Diese auf die Städte gerichtete Strategie brach zusammen, nachdem die Regierung der Guomindang die Arbeiteraufstände in Shanghai und Guangzhou 1927 niederschlug und die bis dahin relativ starken proletarischen Elemente in der 4 Über den Maoismus ist auch auf deutsch viel publiziert worden, insbes. in den 70er Jahren. Das Spektrum reicht von der kritischen Auseinandersetzung orthodoxer Marxisten bis zum Enthusiasmus. Vgl. u.a. H. H. Holz, Widerspruch in China. Politisch-philosophische Erläuterungen zu Mao Tse-tung. München 1970; J. Reusch, Maoismus in der Krise. Frankfurt 1975; I. Schäfer, Mao Tse-tung. Eine Einführung in sein Denken. München 1978; G. Matthiessen, Kritik der philosophischen Grundlagen und der gesellschaftspolitischen Entwicklung des Maoismus. Köln 1973. 5 Vgl. H. F. Vetter, Chinas neue Wirklichkeit. Frankfurt a.M., New York 1983, S.35. 6 Vgl. Ahn Byungjun, Politische Ökonomie der Modemisierung Chinas. Seoul 1992, S. 42 ff. (koreanisch). 7 FS Euchner

98

Eun-Jeung Lee

Partei praktisch auslöschte. 7 Damit gewann Maos Position innerhalb der Partei politisch an Bedeutung. 8 Die Bauernbewegung erhielt vor allem durch den nördlichen Feldzug Chiang Kaisheks starken Auftrieb. Die kommunistischen Partisanen mußten sich in die Berge zurückziehen und trafen dort auf Bauern, die in ihrer Mehrheit bereit waren, gegen die alte Ordnung zu kämpfen. Brutale Ausbeutung und die Not der Massen hatten ihre Geduld erschöpft. Mao und seine Anhänger brauchten nur das bereits vorhandene Bewußtsein der Notwendigkeit einer radikalen Veränderung politisch zu schärfen und militärisch zu organisieren. Aus diesen Erfahrungen stammen Äußerungen Maos wie "Die Massen werden sich selbst befreien" oder "Die Massen, nur die Massen sind die wahren Schöpfer der Geschichte!". 9 Im Unterschied zu orthodoxen Marxisten, die die historische Entwicklung aus ökonomischen Gesetzmäßigkeiten erklären, sah Mao gerade in der Masse und ihrem Gerechtigkeitswillen die treibende Kraft der Geschichte. So kehrte er die These, daß das Bewußtsein vom konkreten Sein bestimmt und damit auch begrenzt sei, um. Der Wille des Menschen stand bei Mao im Mittelpunkt: Ist der revolutionäre Wille vorhanden, können auch die materiellen Stufen übersprungen werden. In einem halb feudalen und halbkolonialen Land wie China würde die Revolution zunächst zu Unabhängigkeit und Demokratie und erst in einem zweiten Schritt zur sozialistischen Gesellschaft führen. Wegen der maßlosen Ausbeutung würde die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung auf der Seite der Revolution stehen. Dazu rechnete er neben den Bauern auch die Arbeiter, Soldaten und das städtische Kleinbürgertum. Zusammen bildeten sie bei Mao die Masse, d. h. die revolutionäre Klasse. 10 Trotzdem war Mao kein Populist. Die Masse würde ihre Möglichkeiten nur unter richtiger Anleitung optimal nutzen können; sie müsse also von der Partei erzogen werden. Allerdings erfordere die richtige Führung durch die Partei stets, ,aus den Massen zu schöpfen und in die Masse zu vermittein', also ihre ,Meinungen zu sammeln und zu konzentrieren, um sie dann wieder in sie hineinzutragen, zu propagieren und zu erläutern, bis die Masse sie sich zu eigen gemacht hat, sich für sie einsetzt und sie verwirklicht. ,11 Die Richtigkeit dieser Meinungen solle dann in den Aktionen der 7 Nach Schätzung der KPCh betrug damals die Zahl der städtischen Arbeiter ca. 2 Millionen. 8 Vgl. P. J. Opitz, Die kommunistische Bewegung, in: ders. (Hrsg.), Chinas große Wandlung. München 1972, S. 250ff. 9 Siehe R. Hoffmann, Der Maoismus. Anmerkungen zum maoistischen Modell der Gesellschaft, in: Internationales Asienforum, No .112, 1979, S. 70. 10 Vgl. Mao Tse-Tung, Über Literatur und Kunst. Peking 1961, S. 108.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

99

Massen überprüft werden. Damit meinte Mao, die Parteiführung und die Massen in einem permanenten Dialog stellen zu können. Die Führung sollte die wirklichen Interessen der Massen herausfinden. Demgegenüber sollten die Massen bereit sein, die langfristigen Konsequenzen ihrer Interessen zu erkennen und sich danach zu verhalten, also der Führung zu gehorchen. Dabei blieb allerdings unklar, woran und wie die wirklichen Interessen der Massen erkennbar sein sollten. 12 Das auch von seinen ausländischen Anhängern gelobte ,Massenlinienturn ' Maos beruhte auf dem von ihm selbst abgelehnten, konfuzianisch geprägten Herrschaftsdenken. An Stelle des konfuzianischen Herrschers traten bei Mao die kommunistische Partei, vor allem aber er selbst als "Supervater" der Nation, der weiß, was für seine Masse gut oder schlecht iSt. 13 Lag die normative Autorität im alten China bei den konfuzianischen Lehren, so traten die Gedanken Maos nun an ihre Stelle. In diesem Zusammenhang wird Maos Konzept vom "Neuen Menschen" verständlicher. Der seiner Natur nach veränderbare Mensch könne durch Erziehung zum "Neuen Menschen" geformt und so eine "Neue Welt" geschaffen werden. Die kommunistische Partei bzw. Mao selbst erziehen die Massen zu "tugendhaftem Verhalten", um "die schlechte Welt zu verändern". Die ersten größeren Erfolge zeigten sich in der Provinz Shensi, die den Kommunisten seit 1935/36 als Zufluchtsort diente. Sie war eines der rückständigsten Gebiete Chinas. Durch die Landreform und seine Strategie der Massenmobilisierung gelang es Mao, trotz - bzw. auch gerade wegen - der Dauerblockade durch die Guomindang und später durch die Japaner, die Dörfer wirtschaftlich, politisch und militärisch zu organisieren. Als der Kampf gegen den japanischen Aggressor 1945 endete, umfaßten die "befreiten Gebiete" Nordchinas bereits über 100 Millionen Menschen. Angesichts dieser Erfolge war es beim 7. Parteitag der KPCh (April 1945) beinah selbstverständlich, die Gedanken Mao Zedongs - auf Vorschlag von Liu Shaoqi - als weltanschauliche Grundlage in die Statuten der Partei aufzunehmen. 14 So wurde der Maoismus als Grundlage der Herrschaft der KPCh institutionalisiert. II Siehe Mao Tse-Tung, Some Questions Conceming Methods of Leadership, in: Selected Works of Mao Tse-Tung. Bd. 3, Peking 1965, S. \ 17ff. 12 Vgl. M. K. Whyte, Deng Xiaoping: The Social Reformer, in: The China Quarterly 135, 1993, S. 521. 13 Vgl. T. Heberer, Traditionale Kultur und Modemisierung, in: Politische Vierteljahrsschrift 1990, S. 221. 14 Zur offiziellen Geschichtsschreibung der KPCh siehe Liao Kailyung (Hrsg.), Siebzig glorreiche Jahre der kommunistischen Partei Chinas. Seoul 1993, S. 199ff. (koreanische Fassung).

7*

100

Eun-Jeung Lee

Schließlich konnte sich die KPCh auch gegen die Guomindang durchsetzen und das Festland unter ihre Herrschaft bringen. Entscheidend für diese Erfolge war die Verbindung von Sozialrevolution und Nationalismus, Pragmatismus und Voluntarismus sowie das strategische Geschick und die charismatische Führung Mao Zedongs. 15 Dies war eine erfolgreiche Mischung kultureller, ideologischer, strategischer und persönlicher Elemente, die auf eine Situation des Kampfes zugeschnitten war. Diese Mischung war auch ausgewogen in dem Sinne, daß das "pragmatische Denken", das für Mao ein Grundprinzip des chinesischen Kommunismus war 16 , eine ständige Anpassung an sich wandelnde Realitäten erlaubte. Diese Ausgewogenheit ging jedoch nach 1949 verloren. Der Konflikt zwischen Pragmatismus und Voluntarismus wurde zum Herd wiederkehrender Legitimitätskrisen der kommunistischen Herrschaft.

11. Aufbau des Sozialismus unter Mao Die Zeit zwischen der Gründung der Volksrepublik und Maos Tod enthält gravierende Kursveränderungen der Politik. Aufgrund seiner überragenden ideologischen und symbolischen Bedeutung ist die gesamte Periode jeoch als Ära Mao Zedongs zu verstehen. Selbst nachdem Mao sich mit dem Abschluß der Kulturrevolution aus der aktuellen Tagespolitik zurückgezogen hatte, war sein Einfluß stets spürbar. Seine Bedeutung kann auch daran abgelesen werden, daß er nach wie vor in der offiziellen Geschichtsschreibung einen zentralen Platz einnimmt, gerade auch zur Legitimierung des gegenwärtigen Regimes. 17 Als 1949 die Volksrepublik China ausgerufen wurde, sprach man im Westen von einen "Sieg des Kommunismus". Für Mao und die KPCh handelte es sich jedoch lediglich um eine "nationale, bürgerlich demokratische Revolution" unter der Führung der Partei als die erste Stufe des Revolutionsprozesses. Erst danach konnte für sie der Übergang zum Sozialismus und zum kommunistischen Gesellschaftssystem erfolgen. Zur Erreichung dieser Stufe der Revolution war nach Mao erneut korrektes Denken notwendig; diesmal hieß es, China in ein Industrieland zu verwandeln. So betonte er: "Vor uns steht die ernsthafte Aufgabe des wirtschaftlichen Aufbaus. Manche Dinge, mit denen wir vertraut sind, werden wir bald beiseite lassen, und Dinge, 15 Vgl. dazu R. Thaxton, On peasant Revolution and national Resistance, in: World Politics, October 1977, S. 24ff. 16 Vgl. Kang Chunhwa, Reform, Öffnung Chinas und Philosophie des ,Pragmatismus', in: Chungguk Yungu 1993, Hf. 1, S. 151 ff. (koreanisch). 17 Vgl. Liao, Kailyung (Hrsg.), 1993.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

101

die uns neu sind, werden uns zwingen, ihnen nachzugehen. . .. Die Imperialisten rechnen damit, daß wir mit der Wirtschaft nicht zurechtkommen werden, sie stehen an der Seite, schauen zu und warten auf unser Versagen. Wir müssen die Schwierigkeiten überwinden und das beherrschen lernen, was wir noch nicht wissen. Wir müssen von allen Fachleuten - wer es auch sein mag - lernen, die Wirtschaft zu handhaben. Wir müssen bei ihnen in die Lehre gehen und bei ihnen respektvoll und gewissenhaft lernen. Wenn wir etwas nicht wissen, müssen wir das zugeben, dürfen nicht so tun, als wüßten wir es. Wir dürfen uns nicht als Bürokraten aufspielen.,,18

Das nach innen gerichtete, nationalistische Sozialismus verständnis Maos wird auch hier deutlich. Mußte das Land vorher von den "imperialistischen und feudalistischen" Kräfte befreit werden, galt es nun, "das Land wirtschaftlich aufzubauen und zu modernisieren". Der verletzte Nationalstolz Chinas sollte wieder hergestellt werden.

In den Jahren 1949 - 1957 war das Regime Maos trotz mancher Rückschläge wirtschaftlich erfolgreich. Das Wachstum der landwirtschaftlichen Produktion lag bei 10% jährlich, das der Industrie weit darüber. 19 Diese bemerkenswerten Fortschritte hingen eng mit der nun herrschenden Ordnung und Stabilität - einschließlich der innerparteilichen Harmonie zusammen. Mit der militärischen Eroberung des Festlandes konnte sich zum ersten Mal seit fast 40 Jahren wieder eine Zentralregierung etablieren. Ihre Kontrolle über das ganze Land war damit jedoch nicht gesichert. Das traditionelle chinesische Herrschaftssystem war alles andere als zentralistisch gewesen. Die Dörfer, Großfamilien und Gilden der Handwerker und Kaufleute hatten sich meist selbst regiert und entgingen faktisch der Zentralgewalt des Herrschers, wenngleich sie diese formal anerkannten?O Das bedeutete für die Kommunisten, daß sie sich zunächst einmal die reale Kontrolle über das ganze Volk verschaffen mußten, und zwar bis ins letzte Dorf hinein. Die Bevölkerung wurde lückenlos organisiert. Dazu wurden sowohl physischer und psychischer Terror als auch modeme technische andere Mittel der Massenbeeinflussung eingesetzt. Zur Gewinnung der Kontrolle über die Dörfer wurden die sog. Gegenrevolutionäre liquidiert und das klassische chinesische Familien-System zerstört. In diesem Prozeß waren die Mitglieder der KPCh nur als ausführende Organe integriert. Die Massen wurden für die "Kampagne gegen die Kon18 Mao Tse-Tung, Über die demokratische Diktatur des Volkes, in: Ausgewählte Werke, Bd. IV, Peking 1968, S. 450 - 451; zitiert nach D. Klein, Innenpolitik und Fraktionskämpfe, in: ders. u.a., Maoismus: Kontinuität und Diskontinuität. Bochum 1977, S. 87. 19 Vgl. J. Reusch, 1975, S. 11; G. Matthiessen, 1973, S. 73ff. 20 J. Domes, Politik und Herrschaft in Rotchina. Stuttgart 1965, S. 32.

102

Eun-Jeung Lee

terrevolutionäre" 1951, die "Drei-Anti"- und die "Fünf-Anti"-Bewegungen von 1951 und 1953 mobilisiert? I So wurden der Beamtenapparat und die großbürgerlichen Kreise gesäubert, die die Dörfer dominierenden sozialen Schichten entmachtet und die Landreforrn durchgesetzt. Bereits 1952 waren 120 - 130 Millionen selbständige Bauern registriert. Die Enteignung des Großgrundbesitzes hatte nicht nur sozialistisch egalisierende Wirkungen, sondern war auch wirtschaftlich ein großer Erfolg. Dennoch lag die besondere Aufmerksamkeit bei der Industrialisierung. Sie galt als materielle Voraussetzung für den Sozialismus und die Erhöhung des Konsumniveaus der Massen. Hier übernahm Liu Shaoqi zunehmend die politische Initiative. Er sah nach sowjetischem Vorbild in der Produktivitätssteigerung die dringendste Aufgabe zum Aufbau des Sozialismus. Diese Linie wurde auf dem VIII. Parteitag 1956 bestätigt. Anstelle des maoistischen Voluntarismus wurde der Entfaltung der Produktivkräfte höchste Priorität eingeräumt. 22 Damit geriet das ursprüngliche Konzept Maos, das auf die Masse der Bauern und egalitäre Produktionsverhältnisse setzte, in ernste Gefahr. Zum einen wurde die Schnellindustrialisierung des ersten Fünfjahresplanes (1953 - 1957) auf Rücken der Bauern ausgetragen?3 Zum anderen führte die extreme Teilung der Arbeit, die der modeme Industriestaat verlangt, zu Klassendifferenzierung und Hierarchisierung. Zugleich fand eine Bürokratisierung der Parteiorgane statt. Mao versuchte, dieser Entwicklung die Politik der permanenten Revolution entgegenzustellen. 1955 begann er, seinen Einspruch geltend zu machen. Während er zunächst damit einverstanden war, die Kollektivierung des Bauernlandes langsam, auf drei Fünfjahrespläne verteilt, vorzunehmen, befahl er nun, den ganzen Prozeß im Laufe von zwei Jahren abzuschließen. Damit sollte die zweite Stufe der Revolution vollzogen werden. Gleichzeitig bemühten sich Mao und seine Anhänger, die Technokraten um Liu beiseite zu drängen. Dabei spielten die Veränderungen in der UdSSR nach dem Tod Stalins eine nicht zu unterschätzende Rolle. Denn Mao war seit dem Beginn seiner außenpolitischen Differenzen mit Chruschtschow zunehmend davon überzeugt, daß die "ideologische Entartung der Sowjetunion" wesentlich auf dem entstehenden "kapitalistischen Geist" ihrer materiellen Anreizpolitik beruhe, und daß die revolutionäre Zukunft Chinas nur durch konsequente Änderung des Bewußtseins der Massen im Sinne eines Primats ideologischer Anreize zu sichern sei?4 21 Nach vorsichtiger Schätzung der westlichen Beobachter erreichte die Zahl der Todesopfer dieser Bewegung über 5 Millionen (ebd.). 22 Vgl. Ahn Byungjun, 1992, S. 64ff. 23 Vgl. R. Hoffmann, 1979, S. 69.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

103

So rief Mao nach Abschluß der Kollektivierung die Massen zum "Großen Sprung" auf. Die "nationale Selbstversorgung" war diesmal das Ziel. Die Kollektive des ganzen Landes sollten in "Volkskommunen" zusammengefaßt werden. Sie sollten neben der Landarbeit Kleinindustrien, selbst kleine Stahlschmelzen, betreiben, Bewässerungsprojekte durchführen und ihre Mitglieder militärisch ausbilden und politisch schulen. Die wirtschaftlichen Ergebnisse waren verheerend. 1959 fiel das Bruttosozialprodukt hinter den Stand von 1957 zurück. Die Ernährungslage wurde äußerst kritisCh?5 Die fatalen Folgen des Großen Sprungs führten zu harter innerparteilicher Kritik an Mao. Er gab die Rolle des Staatschefs an Liu Shaoqi ab, der in der ersten Hälfte der sechziger Jahre nochmals eine ökonomische Wende einleitete. Auch als Parteiführer verzichtete er auf Mitsprache bei wirtschaftspolitischen Entscheidungen. Offiziell beschränkte er sich auf ideologische Grundfragen, faktisch aber auf seine enge Beziehung zur Armee. Es war für Mao das folgenschwerste politische Trauma seines Lebens. Er, der es stets bevorzugt hatte, organisatorischen Zwängen die Massenbewegung entgegenzustellen, mußte nun erleben, wie sich die Führungskräfte in Partei und Verwaltung seinen Ideen zunehmend entfremdeten und ihn selbst mehr und mehr von politischen Entscheidungsprozessen abschnitten. Die neue Linie der Partei unter der Führung Lius entsprach nicht mehr seiner Vision einer klassenlosen Gesellschaft und eines "Neuen Menschen", sondern rein ökonomischen Zielen wie Effizienz, Produktivität und Wachstum?6 Auf dem 10. Plenum des VIII. ZK im September 1962 ermahnte Mao die Parteiführung um Liu Shaoqi und Deng Xiaoping vergeblich, auf keinen Fall den Klassenkampf zu vergessen. Kurz darauf initiierte Mao die "Sozialistische Erziehungsbewegung". Die Bewußtseinsstärke des "Neuen Menschen" sollte die Reprivatisierung von Grund und Boden aufhalten. Als dies nichts fruchtete, beschloß er mit Unterstützung Lin Biaos in einer ZK-Sitzung im August 1966 das Programm der "Kulturrevolution". Das Bildungssystem erlebte eine radikale Umwälzung, die Hochschulen waren zeitweise völlig gelähmt27 ; Millionen von Jugendlichen stürmten Parteibüros und Ministerien. Maos dahinter stehende Logik war klar: War es das Ziel der chinesischen Revolution gewesen, die Massen von korrupter Herrschaft zu befreien, dann hatte das Volk das Recht und die Pflicht, jede Führung zu attackieren, die diese Errungenschaften in Gefahr brachte?8 Die Entfesselung der "Roten Garden" führte 24 Vgl. R. Läwenthal, Die nachrevolutionäre Ära in der Sowjetunion und in China, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B-31 1984, S. 5. 25 Vgl. 1. Domes, 1965, S. 37f.; J. Reusch, 1975, S. 14. 26 Vgl. Ahn Byungjun, 1992, S. 90ff.; J. Domes, 1965, S. 40ff. 27 Vgl. E. Snow, Roter Stern über China. Frankfurt a. M. 1974, 138 - 139.

104

Eun-Jeung Lee

schnell zu Anarchie und zu willkürlicher Verhaftung, Demütigung und Mißhandlung leitender Partei- und Staatsfunktionäre, bis hinauf zum Staatspräsidenten Liu. Jede Form von etablierter Autorität, doch vor allem die neue Herrschaftsstruktur der Partei, sollte nun zerstört werden. Die Partei war für Mao immer nur Mittel, nie Selbstzweck gewesen. Sie konnte nur die organisatorische Kraft sein, die den Willen der Massen in die gesellschaftliche Wirklichkeit umzusetzen hatte. So hatte er sich auch vorher nicht gescheut, gegen die Partei führung an die Massen zu appellieren?9 Die Kulturrevolution Maos war im wesentlichen als sein persönlicher "Ausbruch aus einem verschleierten, aber wirksamen Belagerungszustand" und als sein letzter Versuch zu verstehen, den Konflikt zwischen einer arbeitsteiligen, ausdifferenzierten Leistungsgesellschaft und einer vom Bewußtsein des "Neuen Menschen" getragenen Solidargemeinschaft in seinem Sinne zu lösen. Mit der neuerlichen Massenmobilisierung gelang es Mao, seine persönliche Machtstellung in einem zuvor nie dagewesenen Maße zu festigen und mit einem pompösen Personenkult zu verbinden. Dennoch blieb ihm in politisch-programmatischer Hinsicht der Erfolg, nämlich die Schaffung des Neuen Menschen für die Vollendung des Kommunismus, versagt. Zudem wurde die Wirtschaft, die sich vom Großen Sprung noch nicht erholt hatte, an den Rand des industriellen Ruins getrieben. Sie konnte sich erst erholen, nachdem Deng Xiaoping die Führung übernommen hatte. Charakteristisch für die Herrschaft Maos war der ständige Konflikt zwischen der am utopischen Ziel ausgerichteten permanenten Revolution und der materiellen Notwendigkeit der Modernisierung. Hintergrund dieses Konfliktes waren Auseinandersetzungen um die Gesetzmäßigkeit historischer Entwicklung zwischen der voluntaristischen Position Maos und den stärker marxistisch-reformorientierten Gruppen um Liu. Es ging dabei um die klassische Frage, ob ein fortgeschrittenes Produktionsniveau Voraussetzung für den Sozialismus ist oder ob "die Revolution vor der Produktion" erfolgreich sein kann. Dieser Konflikt war mit einem anderen vermengt, dem zwischen der Neigung Maos zum Despotismus und der Tendenz zur Bürokratisierung der Partei. Dieser entstand, weil die kommunistische Ideologie, im Unterschied zum Faschismus oder zum Nationalsozialismus, die durch Dezisionismus im Sinne Carl Schmitts gekennzeichnet sind, das absolute Entscheidungs28 Zur Kulturrevolution siehe u. a. 1. Domes, China nach der Kulturrevolution. München 1975. 29 Als Mao auf dem Lushan-Plenum (1959) erkennen mußte, daß die Bildung der Kommunen gefährdet war, drohte er den ZK-Mitgliedern damit, eher in die Berge zurückzukehren und das Volk nochmals zu mobilisieren, als den "Großen Sprung" aufzugeben. V gl. R. Hoffmann, 1979, S. 67 ff.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

105

recht eines Führers nicht kenneo, während das Herrschaftsverständnis Maos eher traditionell-autoritär geprägt war, so daß er sich als "Supervater der Nation", der sich unmittelbar aus dem Volkswillen legitimiert, verstand?l Die Konflikte um den Vorrang der raschen Verwirklichung der Utopie oder der raschen Modernisierung waren für die Legitimität der kommunistischen Herrschaft in China von grundlegender Bedeutung. Solange die Autorität Maos faktisch unangefochten war und er die verschiedenen Strömungen in der Partei auf einen gemeinsamen Nenner bringen konnte, waren diese Konflikte - vom Befreiungskampf bis zum Großen Sprung - relativ unproblematisch. Trotz des Autoritätsverfalls nach dem Fiasko des Großen Sprungs versuchte Mao, den Primat der permanenten Revolution weiterhin durchzusetzen, auch wenn dies massive Gewaltanwendung erforderte und dem Aufbau des Landes großen Schaden zufügte. Als Mao im September 1976 starb, verlor sein politisches Vermächtnis rasch an Kraft und Einfluß.

IH. Wandel zum "Neo-Autoritarismus" Nach dem Tod Maos brachen verbitterte Machtkämpfe aus. Sie wurden innerhalb kürzester Zeit zugunsten des anti-maoistischen Bündnisses entschieden, das sich aus orthodoxen Marxisten-Leninisten und Reforrnkräften gebildet hatte. Bereits am 6. Oktober 1976 wurde die "Viererbande", einschließlich der Witwe, gestürzt. Sie hatte mit städtischen Arbeitermilizen die Machtübernahme in einer Neuauflage der Kulturrevolution geplant. Nach dem Scheitern der Viererbande sollte das Land stattdessen in die "sozialistische Normalität" zurückkehren und einer "reformorientiert-pragmatischen" Linie folgen. 32

Vgl. R. Löwenthai, 1984, S. 8. Vgl. H. Van de Yen, Konfuzianismus und Kommunismus aus einer neuen Perspektive, in: S. Krieger/R. Trauzettel (Hrsg.), Konfuzianismus und die Modernisierung Chinas. Mainz 1990, S. 459ff.; T. Heberer, Chinesischer Sozialismus = Sozialistischer Kommunismus? in: U. Menzel (Hrsg.), Nachdenken über China. Frankfurt a.M. 1990(b), S. 126ff. In der gegenwärtigen Diskussion wird im Hinblick auf den autoritären Charakter der Herrschaft nicht selten die Kompatibilität zwischen dem Konfuzianismus und dem Kommunismus betont. Dabei wird aber übersehen, daß die konfuzianische Herrschaftslehre stark personenbezogen und daher voluntaristisch ausgerichtet ist. Hingegen fehlt der kommunistischen Ideologie ein solcher Faktor, auch wenn kommunistische Herrschaft faktisch zum Despotismus neigt. Außerdem sollte nicht außer Acht gelassen werden, daß es vor allem die westlich orientierten Entwicklungsdiktaturen in Südkorea, Singapur und Taiwan waren, die den Konfuzianismus zur Herrschaftslegitimation effektiv eingesetzt haben. 32 Vgl. R. Cremerius/P. Schier/D. Fischer (Hrsg.), Studentenprotest und Repression in China April - Juni 1989. Hamburg 1993, S. 7 f. 30 31

106

Eun-Jeung Lee

Entscheidend für diese Entwicklung war zum einen, daß Deng Xiaoping, der im Juli 1977 zum zweiten Mal rehabilitiert wurde, zum faktischen Führer der Partei aufstieg; zum anderen, daß das XI. ZK der KPCh im Dezember 1978 auf seiner 3. Plenartagung den wirtschaftlichen Aufbau des Landes wieder in den Vordergrund stellte und den Klassenkampf mit der Kollektivierung der fünfziger Jahre für beendet erklärte. Die Partei nahm damit die Tradition des VIII. Parteitags von 1956 wieder auf. Gleichzeitig wurde ein umfangreiches Wirtschaftsprogramm eingeleitet, das die Dekollektivierung und Reprivatisierung der landwirtschaftlichen Produktion beinhaltete und im Oktober 1984 auf den Industriesektor ausgedehnt wurde. Damit war die endgültige Abkehr vom maoistischen Entwicklungskonzept vollzogen. Mit ihnen beginnt die Ära Deng Xiaopings. Der wirtschaftspolitische Wandel unter der Führung Dengs sollte aber keineswegs als eine politische Neuorientierung oder gar als Liberalisierung mißverstanden werden, wie dies vielfach, selbst in der Wissenschaft, geschehen ist. Die "Vier Grundprinzipien" vom März 1979 - Sozialismus, Diktatur des Proletariats, Führungsrolle der Partei, die Gedanken Mao Zedongs lassen diesbezüglich keine Zweifel. Dagegen war die Glaubens- und Opferbereitschaft der Bevölkerung, vor allem der Jugend, nach den Schrecken der Kulturrevolution und nach dem Tod Maos tief erschüttert. Schon im Frühjahr 1979 kam es zu großen Demonstrationen verelendeter Bauern und landverschickter Jugendlicher, die die Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse, bzw. Legalisierung ihrer Rückkehr in die Städte verlangten. Jede oppositionelle Störung wurde entschieden unterdrückt. 33 Sich wiederholende Kampagnen wie "Kampf gegen bürgerliche Ideen", "Schaffung einer sozialistischen geistigen Zivilisation" oder "Kampf gegen geistige Verschmutzung durch rechtes Gedankengut" ließen deutlich erkennen, daß die neue Partei führung von demokratischem Fortschritt weit entfernt blieb. 34 Der Verlust der maoistischen Substanz brachte Dengs Herrschaft unter starken Legitimationszwang, zu dem die innerparteilichen Machtkämpfe der nachmaoistischen Zeit nicht wenig beigetragen hatten. Die Parteiführung versuchte, eine legitimierende Kontinuität zu stiften, indem sie bewußt an den "Mao bis 1956" anknüpfte. Vor diesem Hintergrund ist es zu erklären, warum in China eine Entmaoisierung im Sinne einer Entstalinisierung nicht 33 Zur oppositionellen Protestbewegung und staatlichen Repression nach dem Tod Maos siehe H. F. Vetter, 1983, S. 130ff. 34 Nach der Schätzung von Menschenrechtsorganisationen sind in den letzten vierzig Jahren in China mehr als 50 Millionen Menschen in Arbeitslagern versklavt, gefoltert, getötet und vergessen worden. Dengs Regime ist hier keine Ausnahme. Vgl. dazu D. Domes, Menschenrechte in der Volksrepublik China - ein deutsches Problem?, in: Menschen Rechte - Dokumente. Schicksale. Informationen. 6.1993, S.3.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

107

stattgefunden hat. Denn die historischen Errungenschaften der Kommunisten unter der Führung Maos im Befreiungskampf und während der Aufbauphase waren die wesentliche Legitimationsgrundlage der kommunistischen Herrschaft. So wurde von der 6. Plenartagung des XI. ZKs, in der der von Mao selbst designierte Nachfolger Hua Guofeng vom Amt des Parteivorsitzenden endgültig entlassen wurde, eine grundlegende Resolution über die Parteigeschichte verabschiedet, in der die Verdienste Maos bis 1956 voll anerkannt, aber gleichzeitig der Große Sprung und die Kulturrevolution als Fehler kritisiert wurden. 35 Es wurde zugleich festgelegt, daß die wirtschaftliche Modemisierung für den Aufbau des Sozialismus auf jeden Fall richtig und vor allem notwendig sei, da China sich noch in einem Anfangsstadium des Sozialismus befinde. Der Übergang zum Sozialismus sei im Klassenkampf und durch die sozialistische Umwälzung der Produktionsverhältnisses bis 1956 vollzogen worden. Der Aufbau des entwickelten Sozialismus sei aber nur über Produktivitätssteigerungen möglich. Maos Fehler habe gerade darin gelegen, nach 1956 die Realität des chinesischen Sozialismus nicht erkannt zu haben. 36 "Modemisierung" und "Produktivitätsförderung" rückten an die erste Stelle. Sie wurden zum Maßstab allen politischen Handeins und bildeten die Legitimationsgrundlage der neuen Parteiführung. Die Betonung der Modemisierung bedeutete aber keineswegs eine Kapitulation des "chinesischen Wegs zum Sozialismus".37 Vielmehr distanzierte sich die Parteiführung von den letzten zwei Jahrzehnten der Herrschaft Maos und knüpfte an dem Punkt an, an dem Liu Shaoqi in den fünfziger Jahren aufhören mußte. Die wirtschaftlichen Erfolge der achtziger Jahre, die zu erheblichen Verbesserungen der Lebenssituation der Bevölkerung führten, brachten der Parteiführung gewiß den erhofften Legitimationszuwachs. Das rasche Wirtschaftswachstum führte zwar auch zu Inflation, zu vergrößerten sozialen Disparitäten und, aufgrund der Verflechtung der Parteibürokratie mit der Vgl. Liao Kailyung, 1993, S. 393. Über die These vom "Anfangsstadium des Sozialismus" gab es in den 80er Jahren breite Diskussionen zur politischen Ökonomie und zur Interpretation der chinesischen Geschichte. S. dazu u.a. So Sukheung, Perspektive der sozialistischen Reform in China. Seoul 1990 (koreanisch). 37 Vgl. T. Heberer, 1990(a) S. 209. Heberers Argument, die These vom "Anfangsstadium des Sozialismus" sei das Eingeständnis, daß der sozialistische Versuch im Grunde genommen gescheitert sei, ist zweifelhaft. Sowohl Mao als auch Deng waren fest vom "chinesischen Weg zum Sozialismus" überzeugt. Nur, wie dieser genau aussehen würde, wußte niemand. So kam es schließlich zu äußerst radikalen Kursveränderungen. Auch wenn Deng der wirtschaftlichen Entwicklung Priorität einräumt, stand für ihn der Sozialismus nie zur Debatte. 35

36

108

Eun-Jeung Lee

Wirtschaft, zu vermehrter Korruption, doch wurden diese negativen Erscheinungen in Kauf genommen. Selbst die Akkumulation privaten Kapitals war erlaubt, solange sie die politische Autorität der kommunistischen Führung nicht in Frage stellte. 38 Indessen gab es wichtige theoretische Diskussionen über den "Neo-Autoritarismus", ein Konzept, das sich um die Entwicklungsdiktaturen in Südkorea, Singapur und Taiwan gebildet hatte. Entwicklung erfordere ein "starkes Zentrum" oder eine starke Führerpersönlichkeit, die die ökonomische und politische Modernisierung gegen alle Hindernisse durchsetzt. Zugleich sei politische Stabilität Grundvoraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung?9 Das "starke Zentrum" in China konnte nur die KPCh und ihre Führung sein. Damit bestätigte dieser Ansatz in erster Linie die Legitimität des Herrschaftsanspruchs der kommunistischen Führung. So fand auch Deng Xiaoping lobende Worte für den Neo-Autoritarismus: ein "starker Mann" sei für die Durchführung von Reformen besser geeignet als "westliche Demokratie".4o Dieses Thema, kausale Zusammenhänge zwischen wirtschaftlicher und politischer Entwicklung, löste unter Intellektuellen eine offene Auseinandersetzung über die Demokratisierung Chinas aus, die 1989 ihren Höhepunkt erreichte. 41 Die Partei führung, die im Juni desselben Jahres die studentischen Demonstrationen gewaltsam niederschlagen ließ, erlaubte danach keine öffentliche politische Diskussion mehr. Stattdessen wurde die ideologische Erziehung, vor allem über Maos Gedanken, wieder verstärkt. 42 Die 38 Zur Diskussion über die Veränderungen in China nach Mao vgl. R. Baum, Beyond Leninism? Economic Reform and Political Development in Post-Mao China, in: Studies in Comparative Communism, Sufnmer/Autumn 1989, S. 111 ff.; H. Harding, China's Second Revolution: Reform After Mao. Washington D.C. 1987; E. J. Perry/Ch. Wong (Hrsg.), The Political Economy of Reform in Post-Mao China, Harvard Contemporary China Series, no. 2, Cambridge, Mass. 1985; Yu Sehee, Vergleich der Theorie zur wirtschaftlichen und politischen Reform in China und der Sowjetunion, in: Chungkuk Yungu, Frühling 1992, S. 11 ff. (koreanisch). 39 Zur chinesischen Diskussion s. Mo Chi (Hrsg.), Neo-Autoritarismus. Taipei 1991 (chinesisch); M. Petracca/Xiong Mong, The Concept of Chinese Neo-Authoritarianism, in: Asian Survey, Nov. 1990, S. 1099; Tsai Wenhui, New Authoritarianism, Neo-Conservatism, and Anti-Peaceful Evolution: Mainland China's Resistance to Political Modemization, in: Issues & Studies, Dec. 1992, S. I ff.; B. Sautman, Sirens of the Strongman: Neo-Authoritarianism in Recent Chinese Political Theory, in: The China Quarterly, March 1992, S. 73ff. 40 T. Heberer, 1990(a), S. 230. 41 Vgl. Heeok Lee, Neu-Autoritarismus und chinesisches Entwicklungsmodell, in: Bukbang Donghyang 6.1993, S. 3 - 5. 42 Vgl. dazu Shi Hong, China's Political Development after Tiananmen, in: Asian Survey, Dec. 1990, S. 1207ff.; Lee Weichin, Read My Lips or Watch My Feet: The State and Chinese Dissident Intellectuals, in: Issues & Studies, May 1992, S. 6 ff.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

109

Ereignisse auf dem Tiananmen Platz, die in der westlichen Öffentlichkeit gern als Zäsur der chinesischen Reformpolitik dargestellt werden, waren nichts anderes als ein weiterer Akt in der Bewahrung "sozialistischer Normalität". Auch zuvor hatte die Parteiführung unter Deng keine politische Opposition geduldet, die ihre Autorität in Frage stellte oder stellen wollte. 43 In Wirklichkeit ist die kommunistische Führung jedoch seit den wirtschaftlichen Reformen und besonders seit 1989 in ein politisches Dilemma geraten: Inwiefern kann der marktwirtschaftliche Entwicklungsprozeß fortgesetzt werden, ohne die kommunistische Partei diktatur zu gefährden? Die nationale Unabhängigkeit, die als eine der größten Errungenschaften des chinesischen Kommunismus eine wichtige Legitimationsgrundlage seiner Herrschaft bildete, ist seit langem gewährleistet. Eine äußere Bedrohung bzw. ein ewiger Feind, wie zuvor die USA oder die UdSSR, steht für Legitimationszwecke nicht mehr zur Verfügung. Die Partei versucht diesem Dilemma zu entgehen, indem sie beim Volk das Nationalgefühl und den Stolz auf die historische Größe Chinas stärkt, für die Zukunft allgemeinen Wohlstand verspricht und an die Loyalität gegenüber der Partei appelliert, die in der Vergangenheit zwar auch Irrwege beschritten, jetzt aber den Weg zur Modernisierung und zu einer glorreichen Zukunft gefunden habe. Vor diesem Hintergrund wird die folgende Äußerung des Generalsekretärs des ZK, Jiang Zemin, der an die Stelle des wegen der TiananmenEreignisse abgesetzten Zhao Ziyang getreten ist und allgemein als neuer Nachfolger Dengs gilt, beim XIV. Parteikongreß im Oktober 1992 verständlich: "Reform, Öffnung nach außen und Modernisierung sind zu beschleunigen; laßt uns dadurch noch größere Erfolge beim Aufbau des Sozialismus mit chinesischem Charakter erzielen !,,44 Er meinte damit Fortsetzung der neo-autoritaristischen Politik - die Entwicklung der Wirtschaft unter kommunistischer Führung. Dies wird bestätigt durch die jüngste Verschärfung ideologischer Kontrollen. 45

43 Nicht nur 1979, sondern auch 1986 gab es große Demonstrationen von Studenten und Arbeitern, die eine Demokratisierung verlangten. Daraufhin mußte der Generalsekretär des ZK, Hu Yaobang, zurücktreten. 44 E. J. Perry, China in 1992, in: Asian Survey 1993, S. 13. Zum XIV. Parteikongreß s. Chen Te-sheng, Economic Trends in Mainland China after the CCP's Fourteenth Congress, in: Issues & Studies, April 1993, S. 18ff.; Park Doobok, Konsolidierung der zweiten Phase der Führung von Jiang Zemin und die Perspektiven der chinesischen Reformpolitik, in: Chungkuk Yungu, Sommer 1993, S. 158 ff. (koreanisch). 45 V gl. Frankfurter Rundschau 27. 1. 1993, Frankfurter Allgemeine Zeitung 28.1.1993.

110

Eun-Jeung Lee

IV. Fazit Der Sieg im Krieg gegen die Kolonialmacht Japan und gegen die korrupte Herrschaft der Guomindang hatte den Kommunisten als "Retter der Nation" die wichtigste Grundlage zur Legitimation ihrer Herrschaft geliefert. Dies verdankte sie der Führung Maos, der es in den dreißiger und vierziger Jahren verstanden hatte, die Massen über das Nationalgefühl und seinen voluntaristischen Revolutionsansatz für sich zu mobilisieren. Mao ging in seinen "Gedanken" stets von der Formung des "Neuen Menschen" durch "sozialistische Erziehung" aus. Diese lag in den Händen der Partei bzw. der Parteiführung. Ihre Autorität und ihr Wahrheitsanspruch traten an die Stelle der konfuzianischen Lehre. Bereits 1945 wurden die "Gedanken Mao Zedongs" zur Grundideologie der KPCh und des "Sozialismus mit chinesischer Prägung" erhoben. Nach der Gründung der Volksrepublik traten bald Konflikte zwischen verschiedenen, zum Teil sich widersprechenden Auffassungen über klassische Fragen des Sozialismus auf. Sie überlagerten sich mit Konflikten zwischen der tendenziellen Verwandlung der kommunistischen Herrschaft in einen persönlichen Despotismus Maos und der Gegentendenz einer bürokratisierten Parteiherrschaft: Mao ging davon aus, daß die gesellschaftliche Revolution auch ohne adäquate Entwicklung der Produktivkräfte möglich sei. Daher setzte er auf politisches Engagement ("rot vor fachmännisch"), Egalisierung, Ablehnung materieller Anreize, Kampf gegen Bürokratismus und Technokratie, ideologische Kampagnen und Entfachung der "Schöpfungskraft der Massen". Dagegen räumte die Gruppe um Liu Shaoqi, und später Deng, der Produktion den Vorrang ein. Sie befürwortete materielle Anreize und nahm Lohn- sowie Machthierarchien bewußt in Kauf. Die Entscheidung für den "chinesischen Weg zum Sozialismus" selbst stand aber keineswegs zur Debatte, nur wie dieser auszusehen hatte, blieb unklar. Solange die Kommunisten unter Mao den "Weg zum Sozialismus" vor allem als Durchsetzung egalitärer Produktionsverhältnisse verstanden, machte der Klassenkampf das Wesen staatlichen Handeins aus. Insofern war die Führung der KPCh unumstritten. Mao scheiterte jedoch, den Neuen Menschen zu schaffen. Im Gegensatz dazu fand die Politik Dengs, den Sozialismus durch Produktivitätssteigerungen zu verwirklichen, große Zustimmung in der Bevölkerung. Damit wurde aber die Legitimation der Herrschaft mit dem wirtschaftlichen Erfolg unmittelbar in Verbindung gebracht. Diese Verschiebung der Legitimationsbasis kann die Parteiherrschaft selbst in Gefahr bringen, dann nämlich, wenn sie die Erwartungen der Bevölkerung nicht mehr erfüllen kann oder gar zum Hindernis für die wirtschaftliche Entwicklung werden sollte.

Von Mao zu Deng: Chinas Entwicklung zur Parteiendiktatur

111

Die wirtschaftliche Liberalisierung, die merkliche Schwächung ideologischer Überzeugungen in der Bevölkerung, die auf die Schrecken der Kulturrevolution und die Konflikte innerhalb der Machtelite zurückzuführen ist, ließ die Partei zunehmend in Legitimationszwänge ihrer Alleinherrschaft geraten. Darauf reagierte die neue Partei führung mit intensivierter ideologischer Erziehung und politischen Kampagnen. U.a. wurden die historischen Errungenschaften der Kommunisten im Befreiungskampf und in der Modernisierung des Landes zu Anfang der Volksrepublik der Öffentlichkeit ständig vorgeführt. Wie die vielen Demonstrationen seit 1979 zeigen, wohl ohne großen Erfolg. Der Neo-Autoritarismus, der eine starke Führung des Staates im Stil der südkoreanischen Entwicklungsdiktatur Park Chunghees befürwortet, gab der Partei führung eine neue Legitimationsgrundlage. In Wirklichkeit wurde aber dadurch der Stellenwert der ohnehin angegriffenen sozialistischen Ideologie noch mehr in Zweifel gezogen. Wohl auch deshalb kam es zur öffentlichen Debatte über die Demokratisierung Chinas. Um so mehr setzte die Partei führung nach Tiananmen auf den wirtschaftlichen Reformkurs und auf die neo-autoritaristische Führung der Partei. Dies bedeutet, daß die Parteidiktatur lediglich über eine instrumentale Legitimation, nämlich den des wirtschaftlichen Erfolgs, verfügt. Zugleich wird der Sozialismus auf ein Mittel der Herrschaftslegitimation reduziert, auch wenn die Partei weiterhin den Aufbau des entwickelten Sozialismus als Ziel ihrer Herrschaft beteuert - und beteuern muß. Es bleibt offen, wie lange die kommunistische Führung den wirtschaftlichen Reformkurs fortsetzen kann, ohne dabei ihre Legitimität zu gefährden. Die Erfahrungen in Ländern wie Südkorea und Taiwan haben bereits gezeigt, daß sich mit der wirtschaftlichen Entwicklung unter autoritärer Herrschaft allmählich eine "civil society" entwickelt, die schließlich demokratische Reformen fordert. Die sich neu konstituierenden Dissidentengruppen in China könnten den Anfang der Entstehung einer "civil society" bedeuten.

Der Begriff der Erziehungsdiktatur und die Erziehungsrevolution am Beispiel Atatürks Von Ioanna

Ku~uradi

Es gibt geltende Werturteile nicht nur in Bezug auf Verhaltungsweisen, sondern auch in Bezug auf Wörter. ,Kultur', was immer auch das sei, ,Religion', was immer auch das sei, ,Demokratie', was immer auch das sei, sind "gut"; ,Diktatur' ist "schlecht". Eine philosophische Betrachtung dessen, was der Fall ist, setzt keine Werturteile voraus, sondern Erkenntnis und Werterkenntnis. Das mir für dieses Symposium vorgeschlagene Thema I, das mit einer "kleinen" Veränderung "Der Begriff der Erziehungsdiktatur und die Erziehungsrevolution am Beispiel Atatürks" heißt, werde ich in diesem Sinne zu behandeln versuchen. Erstens: Was könnten Erziehungsdiktatur und Erziehungsrevolution heißen? Diktatur hat mit Vorschreiben (diktieren) eines Verhaltens zu tun. Vorschreiben betrifft die Art und Weise, durch die etwas verwirklicht wird, unabhängig sowohl von der Besonderheit des Verwirklichten als auch von der Absicht des Vorschreibenden : wenn jemand unter gegebenen Bedingungen handelt, ohne sich selbst dazu entschieden zu haben, so ist der Inhalt seines Tuns ihm von jemandem vorgeschrieben. Auf dem politischen Gebiet ist Diktatur der Demokratie entgegengesetzt: wenn ein Volk in einer gegebenen Situation irgend etwas tun muß, wozu es sich nicht selbst entschieden hat, d.h. etwas, das nicht "demokratisch" entschieden worden ist - etwas, das ihm von dem, der die Macht hat, auferlegt worden ist - , so wird dieses Regime üblicherweise ,Diktatur' genannt. Erziehungsdiktatur würde in diesem Fall also eine solche Art und Weise bezeichnen, die Erziehungsangelegenheiten in einem Land zu organisieren, bei der die auf nationaler Ebene gesetzten Zwecke und auch der Weg ihrer Verwirklichung nicht "demokratisch" entschieden und ausgeführt worden sind. Erziehungsrevolution hat auch mit der Art und Weise der Verwirklichung von Erziehung zu tun. Wenn wir - mit Albert Camus2 - unter ,Revolution' I

2

Das Problem der Erziehungsdiktatur am Beispiel Atatürks. L'homme revolte, Editions de la Pleiade, 1965, S. 516.

8 FS Eucbner

114

Ioanna

Ku~uradi

die "Injektion neuer Ideen in die historische Wirklichkeit" (in die Geschichte) verstehen, so würde ,Erziehungsrevolution ' den Versuch bezeichnen, Grundgedanken - z.B. eine Weltanschauung, Menschen-, Wert- und Sinnauffassung -, die vollkommen verschieden von oder unverträglich mit denen sind, welche zu einer bestimmten Zeit in einer gegebenen Gesellschaft gelten, in die historische Wirklichkeit "einzuspritzen" (zu injizieren). Diese Erziehungsrevolution würde also aus all dem bestehen in der Tat, von Fall zu Fall aus ganz Unterschiedlichem -, was getan wird, um dieses Injizieren zu verwirklichen. Und solch ein Injizieren kann auf verschiedene Weisen, auch diktatorisch, verwirklicht werden. Eine Erziehungsdiktatur unterscheidet sich von einer Erziehungsrevolution also nicht so sehr in der Art und Weise der Verwirklichung eines Zweckes, sondern vielmehr dadurch, daß in einer Diktatur den Individuen ein bestimmtes Tun diktiert wird, während in einer Erziehungsrevolution bestimmte neue Ideen, um sie in die historische Realität zu injizieren, zuerst in die Erziehung eingeführt werden. In einer Diktatur zwingt der Diktator die Individuen in einer bestimmten Weise, seiner Absicht gemäß zu handeln; in einer Revolution dagegen wird die Geschichte durch die Setzung neuer Zwecke - die von ganz verschiedenem Wert sein können sozusagen "gezwungen", eine andere, neue Richtung zu nehmen. Die Bedingungen der Möglichkeit, die Geschichte einer Gesellschaft in eine neue Bahn zu lenken, hängen von einer Revolution sowohl in ihrem Rechtswesen als auch ihrem Erziehungswesen ab. Philosophisch betrachtet, hängt die Besonderheit der "Revolution Atatürks", wie sie üblicherweise genannt wird, eng mit der Wertbesonderheit ihrer Zwecke und mit der Besonderheit der Ideen, die er mit seinen Mitarbeitern in die historische Wirklichkeit der neu gegründeten Republik injizieren wollte, zusammen.

* Wenn wir nun die Revolution Atatürks im Licht solcher begrifflichen Unterscheidungen betrachten, ist es möglich, u. a. zu sehen, daß a) es sich um eine politisch verwirklichte Kulturrevolution handelt, daß b) die Ideen und Grundsätze, die er in die historische Realität der Türkei injizieren wollte, eine Eigentümlichkeit besitzen; sie sind nämlich Ideen und Grundsätze, die aus der Erkenntnis des Wertes bestimmter Wesensmöglichkeiten des Menschen deduziert sind, und daß c) auch die Weise, wie diese Ideen und Grundsätze injiziert wurden, sich von den wenigen anderen vergleichbaren Versuchen unterscheidet. Die Veränderungen auf dem Gebiet der Erziehung und in Bezug auf die Erziehung machen den Kern dieser Revolution aus.

Der Begriff der Erziehungsdiktatur und die Erziehungsrevolution

115

Zum ersten Punkt: Wenn wir unter ,Kultur' in diesem Zusammenhang 3 die Weltanschauung, Menschen- und Wertauffassung verstehen, die für eine Weile in einer Gruppe herrscht und alle Lebensäußerungen in ihr ganz natürlich bestimmt, dann können wir deutlich sehen, daß einerseits die in Atatürks Zeit verwirklichten radikalen Veränderungen der sozialen Institutionen auf einer von der bisherigen vollkommen verschiedenen Welt-, Menschen- und Wertauffassung beruhen, andererseits aber die Einführung dieser ganz unterschiedlichen Menschen- und Wertauffassung in der Türkei durch diese sozialen und rechtlichen Veränderungen bezweckt wurde. "Wenn wir uns in fünf oder sechs Jahren gerettet haben, dann ist das infolge der Veränderung unserer Mentalität geschehen,,4 sagt Atatürk in einer Rede, die er 1925 in Kastamonu gehalten hat, und in seiner Eröffnungsrede des Parlaments am 1. November 1937 spricht er von der "großen türkischen Nation, die nicht nur in ihren Institutionen, sondern auch in ihren Gedanken eine Revolution vollbracht hat". Verglichen mit anderen, im oben erwähnten Sinn in der Tat sehr seltenen Revolutionen, die bis zur damaligen Zeit erfolgt sind, verglichen z.B. mit der Französischen Revolution, ergibt sich eine markante Eigentümlichkeit der "Revolution Atatürks": die Französische Revolution war ein Versuch, die im europäischen Geistesraum - oder in der europäischen Denkgeschichte - schon geschehenen, aber in der sozialen Ordnung noch nicht umgesetzten Veränderungen der Welt-, Menschen- und Wertauffassungen auch auf sozialem Gebiet bestimmend zu machen. Sie war ein Versuch, die herrschenden sozialen Beziehungen nach diesen geschichtlichen neuen Auffassungen zu ordnen. Mit anderen Worten: sie war ein Versuch, die Gesellschaft zu "modernisieren" oder zu "säkularisieren" im etymologischen Sinn, d.h. die soziale Ordnung den dort schon entwickelten neuen Ideen anzupassen. Atatürks Revolution ist zwar auch ein Modernisierungsversuch, kein Zweifel. Aber dieser Versuch unterscheidet sich u.a. dadurch, daß er auf die Einführung von Ideen und Auffassungen, die an einem anderen Ort entwickelt worden sind, abzielt. Atatürk und einige seiner Mitarbeiter versuchten, diese Auffassungen, die Produkte einer anderen geistigen Welt sind, die sich aber als besser geeignet für die Entwicklung gewisser Wesensmöglichkeiten des Menschen erwiesen haben, zuerst in der Ordnung der sozialen Beziehungen bestimmend zu machen, damit diese Art von Auffassungen und Ideen sich auch in der Türkei entwickeln und weiterentwickeln können. Von diesem Standpunkt aus gesehen handelt es sich um eine Kul3 ,Kultur' im pluralen Sinne, wie ich sie nenne. Für weitere Unterscheidungen siehe meine "Cultures and ,World Culture'·" in: Philosophy and Culture IV, Montreal 1988, S. 457 - 460. 4 Für alle Zitate von Atatürks Reden, siehe "Atatürk", in : Islam Ansiklopedisi.

116

Ioanna

Ku~uradi

turrevolution, die durch die Modernisierung aller sozialen Institutionen vor allem des Rechtswesens - politisch verwirklicht worden ist, d.h. eine Kulturrevolution, die als ein Ganzes unter der Leitung Atatürks vom Parlament der neu gegründeten Republik beschlossen wurde. Einige die Erziehung betreffenden Gesetze, die vom Parlament in den zwanziger Jahren verabschiedet wurden, können uns zeigen, worauf Atatürk abzielte und wie er diese Ziele setzte. Anhand dieser Gesetze und der sie betreffenden Diskussionen, die damals im Parlament geführt worden sind, ist es möglich, eine geniale Einsicht oder eine Erkenntnis Atatürks nachzuvollziehen - eine Erkenntnis, die heute in der Türkei, wie auch in der heutigen Welt im allgemeinen, fehlt: die Notwendigkeit, es zu vermeiden, daß unverträgliche Grundsätze und Normen gleichzeitig geltend gemacht werden. Dies setzt die Bewertung der Ideen und Grundsätze als Ideen und Grundsätze und auch die Bewertung der Normen unter gegebenen sozialen Bedingungen im Lichte philosophischer Werterkenntnis voraus. Wenn der Wertunterschied von Ideen und Prinzipien nicht erkannt wird - d. h. wenn eine Idee oder ein Prinzip angenommen worden ist, ohne daß die Frage, ob sie unter gegebenen Situationen zur Schaffung der Möglichkeiten, die notwendig für die Verwirklichung der menschlichen Wesens möglichkeiten sind, beitragen oder solch eine Verwirklichung behindern, anhand philosophischer Erkenntnis5 beantwortet wurde -; oder wenn Ideen und Prinzipien als gleichwertig angesehen werden, wie in modischen Ansichten (in Postmodernismus, Pluralismus usw.) behauptet wird, dann etabliert man unverträgliche Normen, die einander in der Praxis ausschließen und zu einem Wirrwarr führen, in dem kein Leitfaden mehr zu finden ist. Die Verabschiedung des Tehvid-i Tedrisat Kanunu (des Gesetzes zur Vereinheitlichung des Erziehungswesens, s. Anhang) im Jahre 1924 und der Weg, den Atatürk dabei gegangen ist, kann als ein Beispiel für die oben genannte Erkenntnis oder Einsicht Atatürks gelten.

In seiner Rede, die Atatürk in Bursa 1922, d. h. vor der Gründung der Republik gehalten hatte, äußerte er sich folgendermaßen: "Nationen, die darauf bestehen, logisch unbegründete Traditionen und Überzeugungen zu bewahren, können sich sehr schwer weiterentwickeln, wenn sie es überhaupt können". Die wichtigsten Orte solch einer Überlieferung waren die traditionellen Schulen und die Medressen (die religiösen Hochschulen), wo die große Mehrheit der Kinder erzogen wurde. Neben diesen Schulen wurden in der 5 Anhand anthropologischer, axiologischer, ethischer und sogar epistemologischer Erkenntnis.

Der Begriff der Erziehungsdiktatur und die Erziehungsrevolution

117

Zeit Selims III. und Mahmuts 11. (Ende des 18. und erste Hälfte des 19. Jahrhunderts) einige modeme Schulen und Hochschulen gegründet, jedoch nur wenige und nur in den großen Städten. Diese bei den miteinander unverträglichen Erziehungsinstitutionen liefen parallel nebeneinander. Atatürk sah das Problem: in seiner Rede, die er in Izmir 1923 hielt, sprach er öffentlich zum ersten Mal über die Notwendigkeit der Vereinheitlichung des Erziehungswesens: "Wir haben ein Problem", sagt er, "das, obwohl offensichtlich, zu berühren jeder vermeidet. Was werden wir mit den Medressen machen? ... Die Erziehungsinstitutionen in unserem Land müssen einheitlich werden. Alle Kinder, Jungen und Mädchen, müssen in der gleichen Weise erzogen werden". ,In der gleichen Weise' heißt hier ,nur in den modemen Schulen'. Unmittelbar nach dieser Rede fängt Atatürk an, den Weg für solch eine Vereinheitlichung vorzubereiten: in seiner bei der Eröffnung des Parlaments am 1. März 1923 gehaltenen Rede spricht Atatürk von der Notwendigkeit, "an die Vereinigung des Ministeriums für Ser'iye und Evkaf [des religiösen Rechts und der frommen Stiftungen] mit dem Erziehungsministerium zu denken und sie zu vollziehen". Hundertjährige Erfahrung im Osmanischen Reich hatte schon gezeigt, daß es unmöglich war, veraltete Institutionen mit den neuen und die mittelalterliche Mentalität mit der modemen zu vereinbaren. Als die von Atatürk vorgeschlagene Zusammenarbeit dieser zwei Ministerien nicht stattfinden konnte, äußerte sich Atatürk am 1. März 1924 im Parlament folgendermaßen: "Wir sehen, daß die öffentliche Meinung die sofortige Anwendung des Grundsatzes der Vereinheitlichung des Erziehungswesens begünstigt. Die Gefahr des Aufschubs und die Vorteile einer schnellen Vorgehensweise müssen zu einer schnellen Entscheidung führen". Am nächsten Tag wurde das Gesetz zur Vereinheitlichung des Erziehungswesens dem Parlament von einem Abgeordneten (Vasif Bey, dem Abgeordneten von Samsun) vorgelegt. Vasif Bey begründete dieses Gesetz mit dem Schaden, welche die gleichzeitige Weiterführung der zwei unverträglichen Erziehungsauffassungen verursacht habe. Am übernächsten Tag, d.h. am 3. März 1924, stimmte das Parlament für die Abschaffung des Ministeriums für Ser'iye und Evkaf und für das Gesetz der Vereinheitlichung des Erziehungswesens. Mit diesem Gesetz wurden alle Schulen und Medressen, die von dem oben genannten Ministerium oder von privaten Stiftungen verwaltet wurden, zusammen mit allen anderen Schulen, die dem Gesundheitsministerium oder dem Militär unterstanden, dem Erziehungsministerium untergeordnet. Gesetze wie das zur "gemischten Erziehung" (nach welchem Jungen und Mädchen in der gleichen Schulen unterrichtet wurden), zur Veränderung

118

Ioanna Ku,