Die Grammatik der Demokratie. Das Staatsverständnis von Peter Graf Kielmansegg 9783848746170, 9783845288499

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Die Grammatik der Demokratie. Das Staatsverständnis von Peter Graf Kielmansegg
 9783848746170, 9783845288499

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Wissenschaftlicher Beirat: Klaus von Beyme, Heidelberg Horst Bredekamp, Berlin Norbert Campagna, Luxemburg Wolfgang Kersting, Kiel Herfried Münkler, Berlin Henning Ottmann, München Walter Pauly, Jena Volker Reinhardt, Fribourg Tine Stein, Göttingen Kazuhiro Takii, Kyoto Pedro Hermilio Villas Bôas Castelo Branco, Rio de Janeiro Loïc Wacquant, Berkeley Barbara Zehnpfennig, Passau

Staatsverständnisse herausgegeben von Rüdiger Voigt Band 124

Ahmet Cavuldak [Hrsg.]

Die Grammatik der Demokratie Das Staatsverständnis von Peter Graf Kielmansegg

© Titelbild: Die Zeichnung zeigt Peter Graf Kielmansegg (geb. 1937) im Jahr 1983. Künstlerin: Janet Brooks Gerloff.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8487-4617-0 (Print) ISBN 978-3-8452-8849-9 (ePDF)

1. Auflage 2019 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019. Gedruckt in Deutschland. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Editorial

Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Verände‐ rungen, sondern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die »Entgrenzung der Staatenwelt« jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Umso interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staatsverständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Glo‐ balisierung begonnen hat und nicht mit ihr enden wird. Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den Staat basieren, wird unter dem Leitthema »Wiederaneignung der Klassiker« im‐ mer wieder zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsver‐ ständnisse veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Wei‐ marer Staatstheoretikern Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theoretikern. Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideolo‐ gie, die einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickungen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Analyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusam‐ menhang nicht verzichtet werden.

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Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Fragestellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Stu‐ dierende der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der Anschluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftlichen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointierung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmit‐ telbar in die Problematik des Staatsdenkens eingeführt. Prof. Dr. Rüdiger Voigt

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Vorwort

Peter Graf Kielmansegg ist einer der bedeutendsten Politikwissenschaftler Deutsch‐ lands. Im Mittelpunkt seines Schaffens steht die Frage nach der Legitimität des de‐ mokratischen Verfassungsstaates. Das Werk Graf Kielmanseggs, das im Grenzgebiet der Geschichts- und Politikwissenschaft angesiedelt ist und ungeachtet seiner vielen Schichten und Fäden eine beeindruckende Konsistenz aufweist, enthält nicht nur viele Anregungen, die produktiv aufgearbeitet werden können; auch die Form, der Stil und die Herangehensweise Graf Kielmanseggs könnten die Politik- und Ge‐ schichtswissenschaft hierzulande inspirieren. Im vorliegenden Sammelband wird Graf Kielmanseggs Werk erstmals von nam‐ haften Politikwissenschaftlern und Historikern im Gesamtzusammenhang erschlos‐ sen und kritisch gewürdigt. Graf Kielmanseggs „Grammatik der Demokratie“ wird nicht nur in den historischen Kontext seiner Entstehung und Wirksamkeit eingebet‐ tet, sondern für die weitere wissenschaftliche Diskussion fruchtbar gemacht. Die hier versammelten Beiträge führen exemplarisch vor Augen, wie das Gespräch mit dem Werk Graf Kielmanseggs aussehen und gelingen könnte. Ich danke zunächst den Autoren dafür, dass sie meiner Einladung gefolgt sind, von ihrer Warte aus das Gespräch mit dem Werk Peter Graf Kielmanseggs aufzuneh‐ men. Die Entstehung des Bandes hat viel länger gedauert als ursprünglich geplant. Im Herbst 2016 reifte in mir die Idee und der Entschluss dazu, da ich den 80. Ge‐ burtstag von Graf Kielmansegg im Blick hatte und zum Anlass nehmen wollte für eine kritische Würdigung seines Werkes. Tatsächlich fand dann zu Ehren Graf Kiel‐ manseggs am 22. Juni 2017 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ein Symposion statt, auf dem Prof. Dr. Herfried Münkler, Prof. Dr. Tine Stein und ich die Festvorträge gehalten haben. Die ausgearbeitete Fassung dieser Vorträge bildete den Kern des vorliegenden Bandes, der später um weitere Beiträge ergänzt wurde. Ich hoffe, dass die Autoren und Leser nach der Lektüre sagen können, das Warten habe sich gelohnt. Zu danken habe ich auch Prof. Dr. Rüdiger Voigt für die Aufnah‐ me des Bandes in die Reihe „Staatsverständnisse“. Der Hinweis auf diese Möglich‐ keit kam von Prof. Dr. Tine Stein, dafür gebührt ihr aufrichtiger Dank. Dr. Ellen Thümmler danke ich für die freundliche Zusendung einiger älterer Rezensionen der Werke Graf Kielmanseggs. Einen ganz besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Peter Graf Kielmansegg, der meine Fragen stets mit Geduld und Sorgfalt beantwortet hat. Mit ihm habe ich ein längeres biographisches Interview geführt, das ich bereits hier in meiner Einfüh‐ rungsabhandlung über sein Werk und Wirken stellenweise herangezogen habe; es

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soll demnächst mit einigen Aufsätzen von Graf Kielmansegg in einem weiteren Band veröffentlicht werden. Zudem ist es mir eine angenehme Herzenspflicht, dem Menschen und Gelehrten Prof. Dr. Dr. h. c. Hans Maier für seine großzügige Unter‐ stützung zu danken; er hat mir in einer schwierigen Situation seine Hand gereicht, obwohl er mich nur flüchtig kannte und für mich keinerlei akademische Verantwor‐ tung trug. Nalân hat mich immer wieder lächelnd daran erinnert, dass das Leben zum Glück nicht in Wissenschaft aufgeht. Für geschenktes Leben kann man sich aber wohl kaum angemessen bedanken, jedenfalls nicht mit wenigen Buchstaben, deshalb sei hier nur ehrfürchtig daran erinnert. Berlin, Mai 2019

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Ahmet Cavuldak

Inhaltsverzeichnis

I.

Einführung

Ahmet Cavuldak Peter Graf Kielmanseggs Grammatik der Demokratie

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Sandra Wirth Nachdenken über Demokratie – Peter Graf Kielmanseggs Verständnis von Politikwissenschaft

63

II.

Geschichte

Herfried Münkler Was kann die Politikwissenschaft aus der Beschäftigung mit Historischen Themen lernen? Graf Kielmanseggs Buch über den Ersten Weltkrieg

85

Jürgen Kocka Nach der Katastrophe und vor neuen Herausforderungen. Im Anschluss an Kielmanseggs „Geschichte des geteilten Deutschland“

99

Eckhard Jesse Peter Graf Kielmansegg zwischen Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft

109

Edgar Wolfrum Paradoxien der Erinnerung. Die NS-Vergangenheit der Deutschen und die Gegenwart

127

III.

Demokratie

Birgit Enzmann Schlechtwetterdemokratie. Peter Graf Kielmansegg zur Souveränität und Herrschaft des Volkes

143

Philipp Erbentraut Souveränität ohne Souverän? Kielmanseggs Kritik der Volkssouveränität im Vergleich mit Jürgen Habermas und Ingeborg Maus

161

9

Oliver Hidalgo Volkssouveränität und Demokratie – eine konstruktive Auseinandersetzung mit Kielmanseggs ,Quadratur des Zirkels‘ im Spiegel von Rousseaus Contrat social

187

Tine Stein Menschenrechte und die Grenzen des demokratischen Verfassungsstaats – eine Auseinandersetzung mit Peter Graf Kielmanseggs Demokratietheorie vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise

207

Hans Vorländer Populismus und die repräsentative Demokratie

227

Frank Decker Brauchen wir mehr direkte Demokratie? Begründungslinien einer skeptischen Position

247

Hartmut Rosa Versuch über das Gemeinwohl

263

Uwe Backes Gegenentwurf zum demokratischen Verfassungsstaat: Totalitäre Ordnungen als durchherrschte Ideokratien

273

Vincent August Von ›Unregierbarkeit‹ zu Governance: Neoliberale, teleologische und technologische Staatskritik

287

IV.

Europa, Politikberatung, Öffentlichkeit

Marcus Höreth Der Voraussetzungsreichtum einer europäischen Demokratie

315

Felix Wassermann Salus ubi multi consiliarii. Über Heilsversprechen der Politikberatung

335

Ellen Thümmler Oft ergründet, schwer zu beschreiben – der Wissenschaftler als „public intellectual“. Eine Spurensuche am Beispiel Peter Graf Kielmanseggs im Merkur und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

357

Autorenverzeichnis

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I. Einführung

Ahmet Cavuldak Peter Graf Kielmanseggs Grammatik der Demokratie

Die deutsche Politikwissenschaft wurde nach dem zweiten Weltkrieg von den Alli‐ ierten bekanntlich als Demokratiewissenschaft begründet.1 Dahinter stand die Über‐ zeugung, das demokratische Freiheitsexperiment könne nur dann gelingen, wenn die voraussetzungsreiche und komplexe politische Ordnung auch verstanden werde; deshalb sollte das Fach unbedingt eine staatsbürgerliche Erziehungsaufgabe erfüllen. Im Rückblick kann man wohl sagen, dass die Politikwissenschaft alles in allem mit ihren Möglichkeiten – von der Lehrerausbildung über Aufklärung der öffentlichen Meinung bis hin zur Politikberatung – zur Begründung und Festigung der Demokra‐ tie in der Bundesrepublik beigetragen hat. Einige namhafte Vertreter haben bedeu‐ tende Beiträge zum Verständnis des demokratischen Verfassungsstaates, seines Scheiterns und Gelingens, seiner Genese und Geltung, seiner Institutionen und Nor‐ men, vorgelegt; genannt seien etwa Ernst Fraenkel, Dolf Sternberger, Wilhelm Hen‐ nis, Hans Maier, Iring Fetscher, Karl Dietrich Bracher, Kurt Sontheimer, Klaus von Beyme und Fritz W. Scharpf.2 Zu diesem erlauchten Kreis der deutschen Politikwissenschaftler gehört auch Pe‐ ter Graf Kielmansegg, denn er ist zweifelsohne einer der bedeutendsten Analytiker der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland. Dabei hat Graf Kielmansegg – wie die meisten Genannten auch – nicht einmal Politikwissenschaft studiert, sondern gelangte erst auf Umwegen zu ihr. Er hat in Bonn, Kiel und Tübingen Jura und aus Interesse nebenbei Geschichte studiert, dann aber im Fach Neuere Geschichte pro‐ moviert. Die Anfänge des wissenschaftlichen Werdegangs des jungen Grafen Kiel‐ mansegg deuten denn auch auf eine traditionelle Laufbahn als Historiker hin. Seine erste Veröffentlichung erfolgt gewiss nicht von ungefähr in den „Vierteljahreshef‐ te(n) für Zeitgeschichte“, die damals von Hans Rothfels und Theodor Eschenburg herausgegeben wurden, und zwar bereits 1960; gemeint ist der Essay über „die mili‐

1 Im Folgenden greife ich teilweise auf Formulierungen meiner Laudatio auf Peter Graf Kielman‐ segg zurück, die ich am 22. Juli 2017 auf dem Symposion zu Ehren Graf Kielmanseggs anläss‐ lich seines 80. Geburtstages an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gehalten habe; sie ist inzwischen im Jahrbuch 2017 der Akademie veröffentlicht worden. Siehe: Cavuldak 2018. 2 Für eine kritische Würdigung des wissenschaftlichen Lebenswerkes bedeutender deutscher Poli‐ tikwissenschaftler siehe: Jesse/Liebold 2014; der Beitrag über Graf Kielmansegg darin stammt von Alexander Gallus und Ellen Thümmler: Gallus/Thümmler 2014.

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tärisch-politische Tragweite der Hoßbach-Besprechung“ vom 5. November 1937, den der 23jährige Student auf der Grundlage einer Seminararbeit geschrieben hat.3 Nach dem Staatsexamen begab sich Graf Kielmansegg an die Arbeit an seiner Dissertation bei dem konservativen Preußen-Historiker Walter Hubatsch in Bonn. Das Thema lautete: „Freiherr vom Stein und die Zentralverwaltung der Verbündeten Mächte in den Jahren 1813 und 1814“. Ursprünglich wollte sich Graf Kielmansegg mit dem „Nationalsozialismus und der Dritten Gewalt – Justiz – in der frühen Phase des Dritten Reiches“ auseinandersetzen, um seine beiden Studienfächer sinnvoll zu kombinieren. Sein Vorschlag wurde aber von Hubatsch leider nicht akzeptiert, weil dieser als Hauptherausgeber der „Briefe und Denkschriften des Freiherrn vom Stein“ eigene Forschungsinteressen verfolgte. Wie viel wir von der späteren Liberalität des Lehrers Graf Kielmansegg dieser Erfahrung der Unfreiheit verdanken, bleibt freilich sein Geheimnis. Obwohl Graf Kielmansegg von dem Thema zunächst nicht begeis‐ tert war, legte er sich ins Zeug und lieferte auf der Grundlage der wesentlichen Ar‐ chivquellen eine souverän konzipierte und geschriebene Dissertation.4 Die Histori‐ kerzunft hat denn auch von ihr respektvoll Kenntnis genommen. In einer kundigen Besprechung des Buches in der „Historischen Zeitschrift“ wird neben „dem reichen Einstrom einer zuverlässigen Aktenhistorie“ die „tatsachenreiche und stets nüchterngerechte, sorgfältig abwägende Darstellung“ des Verfassers gelobt.5

1. Das frühe historiographische Werk „Deutschland und der Erste Weltkrieg“ Zwar trägt bereits die Dissertation typisch Kielmansegg'sche Züge, aber seine analy‐ tischen Stärken, sein schriftstellerisches Können und nicht zuletzt sein langer Atem kommen erst in der großen Monographie über „Deutschland und der Erste Welt‐ krieg“ wirklich zum Zuge. Er hat sie als wissenschaftlicher Assistent an dem politik‐ wissenschaftlichen Lehrstuhl von Eugen Kogon zwischen 1965 und 1968 geschrie‐ ben, noch bevor er habilitiert war. Sein Doktorvater Hubatsch hatte ihn darum gebe‐ ten, seinen älteren Handbuchbeitrag über den Ersten Weltkrieg auf den neuesten Forschungsstand zu bringen, doch die Arbeit daran hatte sich verselbständigt und wuchs zu einem eigenen Buch aus. Dieser Umstand zeugt nicht weniger als das Er‐ gebnis seiner Bemühungen selbst von der großen Leidenschaft und Neugierde im in‐ tellektuellen Temperament Graf Kielmanseggs. Obwohl die Studie über den Ersten Weltkrieg im turbulenten und ereignisreichen Jahr 1968 erschienen ist, wurde sie in der Öffentlichkeit sehr anerkennend aufge‐ nommen, auch wenn ihr eine breite Wirkung versagt blieb. In der Wochenzeitung 3 Kielmansegg 1960. 4 Kielmansegg 1964. 5 Raumer 1968, S. 422.

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„Die Zeit“ rühmte Karl-Heinz Janßen das Buch als „eine außergewöhnlich reife Leistung eines noch jungen Juristen, Historikers und Politologen (Jahrgang 1937), dessen abgewogenes Urteil und unbestechliche Sachlichkeit gerade bei diesem The‐ ma umso mehr überraschten, als er sich von wissenschaftlichen Mentoren wie Wal‐ ter Hubatsch und Eugen Kogon und auch von der militärischen Tradition seiner Fa‐ milie abheben mußte. Sein als Handbuch konzipiertes Opus, ein Fluchtpunkt in der unübersehbaren Weltkriegs-Literatur, hat er mit solcher Methodenstrenge gearbeitet, daß er sich weder eilfertige Urteile noch lodernde Gefühlsausbrüche gestattet. Ein vornehmer Stil, der nahezu ohne wörtliche Zitate auskommt und dramatischer Ak‐ zente entbehrt, erhöht beim Leser das Gefühl des Vertrauens“6. In der „Frankfurter Allgemeinen“ hob der Rezensent Graf Kielmanseggs „gründliche Umsicht und Blick für komplizierte Zusammenhänge“ hervor und dankte ihm dafür, dass er „die wahren Hintergründe der Kriegspolitik beider Seiten aufgezeigt und so eine einiger‐ maßen gerechte Bewertung ermöglicht“ habe.7 Angesichts dieser öffentlichen Resonanz ist es erstaunlich, dass die HistorikerZunft in der Bundesrepublik dem Weltkriegsbuch Graf Kielmanseggs nicht die ge‐ bührende Beachtung geschenkt hat. Eine der wenigen kritischen Würdigungen des Buches von Seiten der Historiker stammt aus der Feder von Andreas Hillgruber; sein Urteil lautete: „Es handelt sich um ein vorzüglich geschriebenes, allen an der Ge‐ schichte des Ersten Weltkrieges Interessierten nachdrücklich zu empfehlendes Buch, das – in den Urteilen besonnen und ausgewogen — im ganzen gesehen das enthält, was nach einem Jahrzehnt intensiver, durch die Öffnung der deutschen Archive er‐ möglichter Forschung ohne Engagement zugunsten der einen oder anderen Richtung in der Forschung gesagt werden kann.“8 Das Werk wurde auch außerhalb des Landes hier und dort von Historikern wahrgenommen und wertgeschätzt. Hellmut Seier be‐ scheinigte in der schweizerischen Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Graf Kiel‐ manseggs Buch „Profil und beachtliches Gewicht“; der junge Autor habe eine „Posi‐ tion der Mitte“ zwischen Gerhard Ritter und Fritz Fischer eingenommen, überhaupt verstehe er zwischen Deutungsrichtungen und Generationen zu vermitteln; er habe „Vermittlungshistoriographie im guten Sinne“ geschrieben.9 Und eine längere Be‐ sprechung von der marxistischen Warte aus in Ungarn trägt immerhin den Titel: „Ein aufrichtiges Werk über den ersten Weltkrieg“; der Rezensent I. Gonda zeigt sich besonders angetan von der Klarheit, mit der Graf Kielmansegg die konservative militärische und politische Elite dafür kritisiert, dass sie das Land in den Krieg ge‐ stürzt hat, ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen, als er verloren war.10

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Janßen 1969. Schickel 1969. Hillgruber 1969, S. 220. Seier 1969, S. 967. Gonda 1973, S. 217.

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Als das Buch 1980 in zweiter Auflage erneut auf den Markt kam, reagierten vor allem Historiker aus dem angelsächsischen Erfahrungsraum und beklagten bezeich‐ nenderweise die verpassten Rezeptionschancen. Henry Cord Meyer konstatierte 1982 in der „The International History Review”: „When Kielmansegg's book first appeared in 1968, it was not reviewed by any major Western research periodical. […] And his book is still the only comprehensive West German presentation of this scope and thoroughness.”11 Ganz ähnlich fiel die Einschätzung von Gerald H. Davis in der „German Studies Review“ aus: “The reprint of an important but neglected work published originally in 1968 represents both an advantage gained and an op‐ portunity lost to the scholarly community. It is advantageous because the first edition apparently sold out without becoming as widely known or used as it should have be‐ en. The comprehensive historical reviews overlooked it und few scholarly books or articles cite it. Yet it is the best – and almost the only – recent comprehensive histo‐ rical analysis written by a single author about Germany in the First World War. […] Kielmansegg's book still needs to be revised and translated into English and perhaps other languages.”12 Eine englische Übersetzung des Buches kam nicht zustande. Aber auch die deutschen Historiker haben die zweite Chance kaum genutzt, um die Studie stärker als bis dahin einzubeziehen in die Diskussion über den Ersten Welt‐ krieg. Der begnadete Geschichtserzähler Sebastian Haffner ist eine der wenigen rühmli‐ chen Ausnahmen. Er schrieb 1981 für die neue Auflage seines erstmals 1964 veröf‐ fentlichten populären Buches über „die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“ ein Nachwort. Darin kommt er zu dem Schluss, das Ergebnis der großen, von Fritz Fischer ausgelösten Kontroverse um den Ersten Weltkrieg sei „doch ein völlig verändertes, sehr viel distanzierteres Bild der Rolle, die das Deut‐ sche Reich vor und nach dem Ersten Weltkrieg gespielt“ habe. Und dann heißt es: „Als seine klassische Zusammenfassung darf wohl Peter Graf Kielmanseggs ´Deutschland und der Erste Weltkrieg` gelten, 1968 erschienen und gerade jetzt wie‐ der neu aufgelegt. Ich bin stolz darauf, dass mein kleiner, mehr journalistisch als fachhistorisch angelegter Versuch, die Ergebnisse der Fischer-Kontroverse, wie ich sie damals sah, einem breiterem Lesepublikum nahe zu bringen, durch Kielman‐ seggs vier Jahre später erschienenes großes Werk in den Hauptpointen eher bestätigt als entwertet wird.“13 Es entbehrt freilich nicht ganz der Ironie, dass die Fachhistori‐ ker in Deutschland erst Jahrzehnte später den Rang des Weltkriegsbuches von Graf Kielmansegg erkannt und anerkannt haben. Erwähnt sei nur noch die bemerkenswer‐ te Literaturempfehlung des bekannten Weltkriegshistorikers Gerd Krumeich aus dem Jahr 2014: „Last but not least sei ein schon sehr altes, aber in der Verbindung 11 Meyer 1982, S. 143-144. 12 Davis 1982, S. 417. 13 Haffner 2001, S. 190 f.

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von solider und präziser Schilderung der militärischen Ereignisse und der politi‐ schen Entwicklung vollständig ´unüberholtes` Werk empfohlen, nämlich Peter Graf Kielmanseggs ´Deutschland und der Erste Weltkrieg`“14 Es könnte sich also doch lohnen, einen kurzen Blick in das Buch selbst zu werfen, um den Historiker und po‐ litischen Denker Graf Kielmansegg kennenzulernen. Im Vorwort teilt der Autor mit, er wolle mit seiner Gesamtdarstellung den Leser nicht bloß informieren, sondern ihm das selbständige Nachdenken ermöglichen und sein Problembewusstsein schärfen. Er wolle in seiner Darstellung „den Horizont der objektiven Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Zeit“ bestimmen, und dieser Horizont und das Wissen um die Folgen bildeten das Spannungsfeld, in dem das Ur‐ teil des Nachlebenden sich bilden müsse. Daran, dass auch der Historiker sich bei aller erforderlichen Distanz ein Urteil über das Geschehen erlauben darf, ja erlauben muss, gibt es keinen Zweifel. Denn: „Zu sehr bestimmen die Fehlentscheidungen, Fehlentwicklungen, Verhängnisse jener Jahre noch immer unser Schicksal, als daß der Historiker sich solchem Urteil entziehen dürfte. Gewiß kommt dabei sein per‐ sönliches Engagement ins Spiel. Aber sollte nicht gerade das Engagement, sofern seine Prämissen nicht verdeckt sind und die Offenheit der wissenschaftlichen Er‐ kenntnisbemühung erhalten bleibt, dazu beitragen können, Relevanzen geschichtli‐ chen Geschehens aufzuspüren, die dem unbeteiligt Distanzierten verborgen blei‐ ben?“15 Diese engagierte Stellungnahme des jungen Historikers zur Bedeutung der Geschichte für die Gegenwart macht deutlich, dass das große Werk der Ernüchte‐ rung, das ja der Krieg selbst auch immer ist, von einer pädagogischen Absicht durchdrungen ist. Graf Kielmansegg stellt deprimiert fest, wie wenig es selbst Wis‐ senschaftlern gelang, im Umgang mit dem Krieg Nüchternheit und Vorurteilsfreiheit an den Tag zu legen. Der Eifer, der Nation auch mit dem Geist und der Feder zu die‐ nen, habe die erstaunlichsten Blüten getrieben; gerade die Intellektuellen hätten oft den Krieg als ein heilsames Ereignis gepriesen. Die wenigen kritischen Stimmen et‐ wa von Ernst Troeltsch, Friedrich Meinecke und Max Weber seien, schreibt Graf Kielmansegg, immerhin „ein ermutigendes Zeugnis für die Fähigkeit des Geistes zur Distanz“.16 Es sei erlaubt, die Antwort Graf Kielmanseggs auf die Schlüsselfrage der deut‐ schen Kriegsschuld kurz wiederzugeben, weil sie beispielhaft von seiner Abwä‐ gungskunst und intellektuellen Redlichkeit Zeugnis ablegt. Dass sie durch die neue‐ ren und vielbeachteten Forschungsbeiträge von Christopher Clark und Herfried Münkler im Kern eher bestätigt worden ist17, zeigt zudem, wie verlässlich und be‐ lastbar dessen politische Urteilskraft sein kann. Graf Kielmansegg stellt in seiner 14 15 16 17

Krumeich 2014, S. 150. Kielmansegg 1980, S. XII. Ebd., S. 150. Clark 2013; Münkler 2013. Graf Kielmansegg hat auf dem Höhepunkt der vor allem durch das Buch von Christopher Clark erneut entfachten Kriegsschulddebatte im Jahr 2014 einen Beitrag

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scharfsinnigen Analyse des Konfliktgeschehens bei den militärischen und politi‐ schen Akteuren eine „Hypertrophie des Konfliktdenkens und des Sicherheitsstre‐ bens“ und analog dazu einen „Mangel an kritischer Rationalität“ fest.18 Gerade in Deutschland sei ein „spezifisches Ethos des Kampfes“ lebendig gewesen, das sich aus der noch überwiegend „feudal-aristokratischen Prägung der Führungsgruppen“ erklären lasse. Dazu komme die Verblendungsmacht des deutschen Nationalismus, der gleichermaßen in der Furcht vor Unterlegenheit wie in Gefühlen der Überlegen‐ heit wurzelte. Verhängnisvolle Fehlkalkulationen seien dann die Folge gewesen; um einer fiktiven, imaginierten Existenzgefahr zu entgehen, sei Deutschland in eine rea‐ le Existenzgefahr hineingelaufen.19 Das expansive Hegemonialstreben der deutschen Politik sei eigentlich defensiv gewesen, geboren aus der Furcht; und der Furcht in der Politik wohne nun einmal eine aggressive Tendenz inne.20 Gleichwohl könne man nicht behaupten, die deutsche Politik hätte den Krieg unbedingt gewollt und ge‐ plant. Der deutsche „Blankoscheck“ an Österreich zur Aktion gegen Serbien sei das Fundament einer Politik des Risikos gewesen, an der andere europäische Mächte ge‐ hörig Anteil gehabt hätten, und als solches eben etwas anderes als der zielstrebige Entschluss, einen europäischen Krieg zu entfesseln. Dementsprechend differenziert schätzt Graf Kielmansegg die Motive der zentralen Entscheidungsfigur ein: „Es ist unmöglich, mit Sicherheit zu sagen, ob der Reichskanzler, als er Österreich freie Hand gab, im letzten Grunde doch darauf vertraute, dass es gut gehen werde, dass die Diplomatie den Erfolg einbringen werde, oder ob er fatalistisch gestimmt war und den Krieg, der auf die Dauer doch unvermeidlich erschien, erwartete. Die Quel‐ len erlauben es nicht, hier scharf zu unterscheiden. Beide Stimmungen scheinen in wechselnder Stärke wirksam gewesen zu sein.“21 Herfried Münkler stellt in seiner großen und vielbeachteten Studie über den Ers‐ ten Weltkrieg aus dem Jahre 2013 anerkennend fest, die „analytisch klarste Alterna‐ tive zu Fischers These, das ´Septemberprogramm` sei der Dreh- und Angelpunkt der deutschen Politik gewesen“, habe Graf Kielmansegg entwickelt: „Im Mittelpunkt seiner Untersuchung stehen die Bemühungen Bethmann Hollwegs, eine Konfrontati‐ on der Parteien zu vermeiden und die wachsenden Meinungsverschiedenheiten über die Kriegsziele zu verdecken. Dessen ´Politik der Diagonale` stellte Kielmansegg zufolge im Stimmgewirr der Wortmeldungen, Eingaben und Denkschriften den im‐ mer aussichtsloseren Versuch dar, doch noch zusammenzubinden, was nicht mehr zusammenzubinden war, und sowohl den Burgfrieden zu bewahren als auch die an‐

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in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ veröffentlicht, in dem er sich entschieden gegen ein‐ fache Urteile über Schuld und Unschuld am Ersten Weltkrieg ausspricht und eine analytisch differenzierte Sichtweise bemüht; vgl. Kielmansegg 2014. Kielmansegg 1980, S. 434. Ebd., S. 13. Ebd., S. 434. Ebd., S. 12.

nexionshungrige Rechte ruhigzustellen. Der Reichskanzler wurde dadurch zu einer fast tragischen Figur, die weniger an sich selbst als an seiner verfassungsmäßigen Schwäche und der wie immer schwankenden Haltung des Kaisers scheiterte. Es ge‐ lang ihm darum auch nicht, den Primat der Politik gegenüber dem Militär wieder‐ herzustellen, was die zentrale Aufgabe seines Amtes war.“22 Hinter dem Versagen der konservativen politischen und militärischen Entscheidungselite macht Graf Kiel‐ mansegg die strukturellen Schwächen des Wilhelminischen Reiches ausfindig, die eine Konfliktverschärfung und -eskalation begünstigten, angefangen mit dem politi‐ schen Integrationsproblem des Militärs. Im Krieg seien zwar der Schein und die For‐ men der konstitutionellen Monarchie gewahrt worden, im Grunde aber habe Deutschland mit einer „Fiktion als Staatsform“ gelebt.23 Die Kluft und Ungleichzei‐ tigkeit zwischen der Staatsform und der Gesellschaftsordnung sei durch den Krieg so groß geworden, dass beide nicht mehr zusammen bestehen konnten. In der Sum‐ me lässt sich wohl von einem angestauten Demokratisierungsproblem des Reiches sprechen, das nach der Niederlage die Revolution gleichsam wie ein Dammbruch auf den Plan rief. Nicht die Revolution sei Ursache für die Niederlage gewesen, schreibt Graf Kielmansegg prägnant gegen die Dolchstoßlegende, sondern die Nie‐ derlage Ursache der Revolution.24 Der Jugend von 1914 bescheinigt er respektvoll eine „glühende Bereitschaft zum Opfer und die fraglose Überzeugung vom Sinn die‐ ses Opfers“ und erlaubt sich dennoch ein kritisches Urteil für die Gegenwart: „Der Nachlebende wird an solchen Opfergängen zu ermessen versuchen, welche Kraft in dem Glauben an das Vaterland beschlossen lag, und es wird ihm nicht leicht werden, die Wirklichkeit des Vaterlandes an diesem Glauben zu messen.“25 Hier spricht und urteilt nicht nur der junge frühreife Wissenschaftler – als das Buch erscheint, ist Graf Kielmansegg gerade einmal 31 Jahre alt –, sondern schon der politisch engagierte Bürger zu seinen Mitbürgern, in der Hoffnung, aus den Ka‐ tastrophen der Geschichte lernen zu können. Und die größte Lehre, die die Deut‐ schen aus der katastrophalen Geschichte ziehen mussten, hieß „Demokratie“. So hat es durchaus seine innere Stimmigkeit, dass Graf Kielmansegg nach seinem Versuch, den politischen Trümmerhaufen der deutschen Geschichte intellektuell redlich zu bewältigen, sich daranmachte, über Herkunft und Zukunft der Demokratie nachzu‐ denken.

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Münkler 2013, S. 269. Kielmansegg 1980, S. 151. Ebd., S. 682. Ebd., S. 68.

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2. Die Habilitationsschrift über Volkssouveränität Im Rückblick kann man nur staunen darüber, mit welcher Behändigkeit Graf Kiel‐ mansegg der Übergang von der Gelehrtenschlacht um den Ersten Weltkrieg in die ideengeschichtlichen Gefilde der Demokratietheorie gelang. Wie so oft in der Ge‐ schichte hat auch hier ein Zufall das Seine dazu beigetragen, damit aus dem jungen Historiker ein bedeutender Analytiker der Demokratie werden konnte; gemeint ist die Begegnung Graf Kielmanseggs mit Eugen Kogon, dessen wissenschaftlicher Mitarbeiter er an der Technischen Hochschule Darmstadt 1963 wurde. Kogon hatte zwar einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl inne, war aber von Hause aus Sozio‐ loge. Nach dem Krieg hat er als Überlebender von Buchenwald ein Buch über die „organisierte Hölle“ der Konzentrationslager geschrieben, das den Deutschen end‐ lich die Augen öffnen sollte und ihm nebenbei einen traurigen Ruhm bescherte.26 Kogon und Graf Kielmansegg waren ihrer Herkunft und Prägung nach sehr unter‐ schiedlich: Kogon schwärmte als Katholik vom demokratischen Sozialismus, für den Graf Kielmansegg als jemand, der aus einer konservativen aristokratischen Fa‐ milie stammte, nicht viel übrig hatte. Auch was das politikwissenschaftliche Hand‐ werk und Wissen angeht, konnte Graf Kielmansegg wohl von Kogon nicht viel ler‐ nen; er nahm ihn denn auch mehr als gebildeten Publizisten wahr denn als Wissen‐ schaftler. Graf Kielmansegg lernte die Politikwissenschaft nach eigenem Bekunden vor allem dadurch kennen, dass er das Fach am Lehrstuhl von Kogon lehrte, wobei die Gespräche mit dem älteren, theoretisch versierten Assistentenkollegen ErnstOtto Czempiel ihm schon eine Hilfe waren.27 Als Redner und öffentlicher Intellektu‐ eller, der im Radio und Fernsehen etwa mit Adorno und Horkheimer auf Augenhöhe über Freiheit, Entfremdung und Terror in der Moderne sprechen konnte, hat Kogon ihn aber gewiss beeindruckt. So schreibt Graf Kielmansegg über Kogon: „Er besaß eine Souveränität des freien Vortrags, eine Gabe der scharfen und klaren Formulie‐ rung, dazu der hilfreichen Verdeutlichung des Abstrakten mit rasch und sicher ge‐ wählten Beispielen, wie sie auf den deutschen Kathedern nicht häufig waren und sind; auch das rhetorische Temperament, ohne das man niemanden zum Zuhören bringt.“28 Trotz des großen Altersunterschieds entstand zwischen ihnen eine Freund‐ schaft, die man wohl nicht anders als herzlich bezeichnen kann. Als Kogon im De‐ zember 1987 starb, verabschiedete sich Graf Kielmansegg von ihm mit einem Essay im „Merkur“, der sein traurigster und schönster sein dürfte.29 Graf Kielmansegg schrieb unter Kogons Obhut seine Habilitationsschrift über „Volkssouveränität als Legitimitätsproblem“. Das Thema hat er gegen einen Vor‐ 26 27 28 29

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Kogon 1946. Siehe: Cavuldak/Kielmansegg, 2019. Kielmansegg 1988a, S. 255. Kielmansegg 1988a.

schlag Kogons durchsetzen können, weil er genau wusste, was er wollte. Vor allem diese „Untersuchung der Bedingungen demokratischer Legitimität“, wie der Unterti‐ tel der 1977 erschienenen Studie dann lautete, begründet bis heute den außerordent‐ lichen Rang des Demokratietheoretikers Graf Kielmansegg. Sie markiert gewisser‐ maßen die Geburtsstunde des Politikwissenschaftlers, ohne dass der Historiker in ihm den Platz geräumt hätte. In dem ersten, historischen Kapitel wird die Entwicklung der Volkssouveränitäts‐ doktrin von den Anfängen der mittelalterlichen politischen Philosophie bis zum Tri‐ umph in der Französischen Revolution minutiös rekonstruiert. Historisch sei die Volkssouveränität als Kampfinstrument gegen die absolute Monarchie eingesetzt worden, sie habe denn auch ihre Stärken bis heute vor allem in der Kritik. Graf Kiel‐ mansegg bekräftigt seine Überzeugung, dass „individuelle Selbstbestimmung nicht in gesellschaftliche Verfügungsmacht ohne Rest verwandelt werden“ könne, um dann fortzufahren mit den Worten: „Dieser Befund nimmt der Idee der Volkssouve‐ ränität nun freilich nichts von ihrer historischen Bedeutung. Sie hat ihre geschichtli‐ che Aufgabe gehabt; als Formel der Verkündigung einer prinzipiellen Alternative zum monarchisch-aristokratisch verfassten Staat, als Kampfruf war der Begriff also unersetzlich. Aber diese geschichtliche Aufgabe hat die Doktrin auch geprägt. Nicht nur in dem Sinn, dass sie einfach die Gegenposition widerspiegelt […], sondern auch in dem umfassenderen Sinn, dass Kraft und Wirkung des Prinzips vor allem ne‐ gatorischer Art sind. An ihm scheitert jede Wirklichkeit. Denunziation, Bloßstellung schlechter Wirklichkeit ist denn auch durchgehend bis heute das Argumentations‐ muster geblieben, in dem die Doktrin sich am charakteristischsten entfaltet.“30 Die Volkssouveränitätsidee orientiere sich gewissermaßen an dem Vorbild des persona‐ len Kollektivsubjekts des Monarchen. Die Redeweise vom Volk als Kollektivsubjekt impliziere unausweichlich „organizistische Vorstellungen“, die auf Kosten der Frei‐ heit des Individuums gingen. Wer aber vom freien Individuum ausgehe, wie es die Demokratieprämisse doch verlange, „für den sei aber nicht Homogenität gegeben, sondern Vielfalt, Fülle der Individualitäten, Pluralität der Meinungen und Interessen, die die Idee des einen Souveräns nicht zu fassen“ vermöge.31 In dem zweiten, systematischen Kapitel setzt sich Graf Kielmansegg mit der zeit‐ genössischen Demokratietheorie, vor allem linker Provenienz, auseinander, um den Geltungsanspruch der Volksouveränitätsidee zu prüfen. Ihren Vertretern – wie etwa Habermas, Macpherson, Luhmann – wirft er massive theoretische Schwächen vor, die bezeichnenderweise oft genug stilistisch greifbar seien; ihre Argumentation sei bei aller Kompliziertheit der Sprache von „deklamatorischer Wiederholung“ und einer „extremen Formelhaftigkeit“ geprägt.32 Politische Beteiligung könne unter kei‐ 30 Kielmansegg 1977, S. 248. 31 Ebd., S. 243. 32 Ebd., S. 195.

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nen Umständen mit Selbstbestimmung identisch sein, weil, wer an kollektiven Ent‐ scheidungsprozessen teilnimmt, nicht primär über sich selbst, sondern über Dritte verfüge – das ist der gewichtige systematische Einwand Graf Kielmanseggs gegen den Legitimitätsanspruch der Volkssouveränität.33 Wer aber über andere zu verfügen befugt sei, müsse rechenschaftspflichtig sein und sich verantworten. Deshalb soll politische Herrschaft in der Demokratie als anvertraute Vollmacht – eben als trust – verstanden und ausgeübt werden, die in Ämtern verfasst ist.34 Graf Kielmansegg kommt zu dem Ergebnis, das Prinzip der Volkssouveränität sei untauglich, politische Herrschaft in der Demokratie zu begründen; es könne „allein kein tragfähiges normatives Fundament für ein freiheitliches Gemeinwesen“ abge‐ ben.35 Es sei geboten, die Bedingungen demokratischer Legitimität anders und neu zu formulieren. Dabei sei es töricht und müßig, aus dieser Erkenntnis die Forderung abzuleiten, dass die allgemein anerkannten, festgefügten, die demokratische Verfas‐ sungstradition beherrschenden Formeln, in denen die Idee der Volkssouveränität Ausdruck gefunden habe, nicht mehr verwendet werden dürften. Aber dass „hinter die alten Formeln neue Einsichten treten müssten“, das sei mit Entschiedenheit das Fazit seiner Arbeit.36 In Anlehnung an Kant formuliert Graf Kielmansegg den Grundsatz, ein Staat sei dann legitim, wenn er „die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht bloß als Mittel“ behandelt.37 Und dies könne noch am ehesten erreicht werden, wenn neben der Teilhabe an Herrschaft auch Schutz vor Herrschaft und bestimmte „Leistungen“ von Herrschaft gewährleistet seien. Am En‐ de meldet Graf Kielmansegg grundsätzlich Zweifel daran an, dass es überhaupt sinn‐ voll sein könnte, eine „Theorie demokratischer Legitimität im Sinne eines geschlos‐ senen, streng gefügten, möglichst deduktiv aufgebauten Aussagensystems“ anzustre‐ ben; er vermutet vielmehr, der „vorsichtige Weg des einfachen Sammelns von Ge‐ sichtspunkten und Argumenten“ könnte dem Gegenstand „Politik“ weit angemesse‐ ner sein, um Vereinfachungen und Gewaltsamkeiten zu vermeiden.38 Wolfgang Jäger hat seinerzeit als einer der ersten Graf Kielmanseggs Habilitati‐ onsschrift kritisch gewürdigt. In seiner Besprechung bemängelt er, der Autor habe die Volkssouveränitätsdoktrin gleichsam als Urformel des demokratischen Verfas‐ sungsstaates überhöht, um sie dann der Untauglichkeit zur Beschreibung der Bedin‐ gungen der Rechtmäßigkeit von Herrschaft überführen zu können: „Er kann sich nicht aus dem Bannkreis Rousseaus befreien“, schreibt Jäger, „da er sich dessen theoretischen Anspruch zu eigen macht, indem er nach einer Ersatzformel für Volks‐ souveränität sucht. Es ist nicht einzusehen, warum das längst – notwendig span‐ 33 34 35 36 37 38

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Ebd., S. 235. Ebd., S. 244. Ebd., S. 255. Ebd. S. 15. Ebd., S. 258. Ebd., S. 256.

nungsreich – mit anderen Doktrinen verwobene Konzept der Volkssouveränität in seiner Reinheit wiederhergestellt und für obsolet erklärt werden soll. Hier wird das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Als ein zentrales Element bewahrt das Volkssou‐ veränitätsprinzip seinen Stellenwert in der Begründung des freiheitlichen Rechts‐ staates.“39 Doch am Ende rühmt er das „scharfsinnige Buch“, das ihn zum Nachden‐ ken und zur Kritik gereizt habe. Die Habilitationsschrift Graf Kielmanseggs wurde auch von namhaften Politik‐ wissenschaftlern mit großem Lob bedacht. Dolf Sternberger sah in der ebenso küh‐ nen wie gründlichen Studie den „bedeutendsten Beitrag“ zur Legitimitätstheorie der neueren Zeit.40 Mit seiner scharfsinnigen Untersuchung des Verhältnisses von De‐ mokratie und Souveränität habe Graf Kielmansegg die „hergebrachte Rousseausche und rousseauistische Begründung der demokratischen Legitimität auf die fiktive Ho‐ mogenität des Volkes und seines Willens“ außer Kraft gesetzt. Iring Fetscher schrieb am Ende seiner längeren Besprechung im „Merkur“, auch die Anhänger eines demo‐ kratischen Sozialismus könnten an dieser verdienstvollen Arbeit nicht vorbeige‐ hen.41 Karl Dietrich Bracher stellte 1983 fest, Graf Kielmansegg habe „behutsam und doch schlagend die rousseauistischen und neo-marxistischen Tendenzen eines radikalen, ja totalitären Demokratieverständnisses widerlegt“, die seit Ende der sech‐ ziger Jahre eine vernünftige theoretische Diskussion in Deutschland ernsthaft be‐ droht hätten.42 Und Tine Stein hat 2007 die Habilitationsschrift Graf Kielmanseggs als „Schlüsselwerk der Politikwissenschaft“ mit den Worten gewürdigt, ihm gelinge es, „den Leser gewissermaßen von Rousseau zu befreien“, indem er die Unzuläng‐ lichkeit der Volkssouveränitätsdoktrin als Antwort auf die demokratische Legitimi‐ tätsfrage „ideengeschichtlich und historisch fundiert, begrifflich in höchstem Maße präzise und mit einer in der Politikwissenschaft ihresgleichen suchenden analyti‐ schen Schärfe“ darlegt.43

3. Konturen einer liberalkonservativen Theorie demokratischer Legitimität Graf Kielmansegg hat seit den siebziger Jahren die Probleme und Chancen der De‐ mokratie in immer neuen Anläufen zum Gegenstand gelehrter Erörterung erhoben. Davon, mit welcher Intensität und Brillanz er dies getan hat, geben vier Aufsatz‐ sammlungen Kunde, die einander vorzüglich ergänzen: „Nachdenken über Demo‐ kratie“ aus dem Jahr 1980, „Das Experiment der Freiheit“ von 1988, „Die Gramma‐

39 40 41 42 43

Jäger 1979, S. 12. Sternberger 1986, S. 390. Fetscher 1977. Bracher 1984, S. 82. Stein 2007, S. 213.

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tik der Freiheit“ 2013 und zuletzt „Wohin des Wegs, Europa?“ im Jahr 2015.44 Mit ihnen ist er nebenbei zum Chronisten der deutschen Demokratiediskussion im letz‐ ten halben Jahrhundert geworden. In der Gesamtschau lassen sich die Konturen einer vielschichtigen liberalkonser‐ vativen Theorie demokratischer Legitimität erkennen, die Graf Kielmansegg ausge‐ hend von seiner Kritik an der Volkssouveränitätsdoktrin entwickelt hat. Er selbst hat die vorläufige Summe seiner demokratietheoretischen Überlegungen in Anlehnung an einen tiefsinnigen Satz von Thomas Paine, wonach die amerikanischen Verfas‐ sungen für die Freiheit das seien, was die Grammatik für die Sprache sei, als einen Beitrag zum Verständnis der „Grammatik der Freiheit“ bezeichnet. Die Metapher der Grammatik wird hier bereitwillig von Graf Kielmansegg übernommen, aber auf den zentralen Gegenstand seiner Reflexionsarbeit angewandt, nämlich auf die Demokra‐ tie – wohlwissend, dass er in der Regel mit Bedacht vom demokratischen Verfas‐ sungsstaat spricht, um die historische und normative Komplexität dieser politischen Ordnung kenntlich zu machen. Damit ein „so kompliziertes und voraussetzungsrei‐ ches zivilisatorisches Wagnis wie die Demokratie“45 gelingen kann, muss es auch von den Bürgern und Politikern verstanden werden. Graf Kielmansegg ist denn auch davon überzeugt, dass ohne Kenntnis der Gram‐ matik der Freiheit es kein Leben in Freiheit geben könne. Aufschlussreich ist, wie er die Übernahme der Grammatikmetapher zur Beschreibung seines Denkanliegens be‐ gründet: „Jede Grammatik – auch darin ist die Übertragung des Begriffs durchaus erhellend – ist ein Produkt aus Logik und Geschichte. So auch das Regelsystem, in dem sich Freiheit konstituiert. Dabei ist die Bedeutung der Geschichte eher größer als die der Logik. Freiheitliche Ordnungen sind in besonderem Maße der Versu‐ chung ausgesetzt, sich als Deduktionen aus ihren normativen Prämissen misszuver‐ stehen. Das sind sie in Grenzen auch. Vor allem aber sind sie Schöpfungen einer lan‐ gen, konfliktreichen Geschichte, in der Erfahrungen gemacht und Erfahrungen ver‐ arbeitet werden.“46 Weil dem so ist, schreibt Graf Kielmansegg keine Demokratie‐ theorie aus einem Guss oder gar ein „systematisches Lehrbuch der Grammatik der Freiheit“, sondern seit seiner Habilitationsschrift locker miteinander verknüpfte Es‐ says. Diese Darstellungsform soll gerade sichtbar machen, dass „das Nachdenken über die Verfassung der Freiheit nur dann fruchtbar ist, wenn es nicht als Sache strenger deduktiver Systematik verstanden, sondern zur Aufgabe einer ihren Gegen‐ stand immer wieder neu umkreisenden historisch informierten praktischen Vernunft gemacht wird“. Das Wissen um die Bedeutung der Geschichte und überhaupt um den Wert von Erfahrungen macht skeptisch gegenüber Theorien, weil sie sich mit ihren Abstrak‐ 44 Kielmansegg 1980a; Kielmansegg 1988; Kielmansegg 2013; Kielmansegg 2015. 45 Kielmansegg 1980a, S. 30. 46 Kielmansegg 2013, S. 7.

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tionen vielfach über das in der Geschichte Erlebte, Erlittene und Erlernte hinwegset‐ zen und damit den nötigen Respekt vor den Leistungen der vergangenen Generatio‐ nen vermissen lassen. Die Politikwissenschaft kann nicht nach dem Vorbild der Na‐ turwissenschaften verstanden und betrieben werden, denn sie verfügt neben der hi‐ storischen auch über eine normative Dimension, der man mit Zahlen und anderen Mitteln der empirischen Datenerhebung nicht „gerecht“ werden kann. Der adäquate wissenschaftliche Umgang mit bzw. Zugang zu Politik besteht letztlich in einer auf Vernunft und Erfahrung gestützten Verständigung darüber, wie eine gute, dem Men‐ schen bekömmliche politische Ordnung gestaltet sein müsste. Da aber das, was Ver‐ nunft und Erfahrung gebieten, keineswegs auf der Hand liegt, wie Philosophen es gerne hätten und bisweilen auch frohen Mutes behaupten, sondern in einem weiten und dunklen Feld zerstreut ist, das wir einfachheitshalber Geschichte nennen, müs‐ sen wir um jedwede Orientierung ringen. Graf Kielmansegg versteht die Politikwis‐ senschaft in diesem Sinne als eine „Orientierungswissenschaft“, die die „erfahrungs‐ wissenschaftliche Beschreibung und Erklärung der Wirklichkeit“ mit dem „philoso‐ phischen Nachdenken über eine dem Menschen gemäße und bekömmliche Ordnung des Zusammenlebens“ verbinden sollte.47 Sein politisches Denken entwickelt sich denn auch im Modus einer behutsamen Suchbewegung, seine Argumentationsgänge sind Gratwanderungen im Spannungsfeld von analytischer und wertender Betrach‐ tungsweise. Graf Kielmanseggs Nachdenken über die Demokratie ist historisch verortet und normativ verankert. Was den historischen Kontext angeht, liegt es auf der Hand, dass Graf Kielmansegg in seinem Werk vor allem die Erfahrungen mit der Demo‐ kratie in der Bundesrepublik vielfach reflektiert und verarbeitet hat, auch wenn seine Schlussfolgerungen und Erkenntnisse oft über eine größere Tragweite verfügen. Und der normative Anker und Standpunkt, von dem aus er seine Denkbemühungen star‐ tet und zu dem er immer wieder zurückkehrt, ist bei Graf Kielmansegg schon äußer‐ lich markiert, wenn man sich vor Augen führt, dass er an prominenter Stelle, näm‐ lich im Titel zweier seiner Bücher, vom Experiment und der Grammatik der Freiheit spricht. Die Freiheit ist für ihn gewiss nicht irgendeine politische Norm, sondern schlichtweg die bedeutendste; sie überragt nicht nur alle anderen politischen Nor‐ men und Güter an Dignität, sondern hebt sie allesamt gewissermaßen in sich auf. Eben darum sollte alles politische Denken am Ende auf Freiheit ausgerichtet sein. Nicht zuletzt diese Kernüberzeugung erweist Graf Kielmansegg als liberalen politi‐ schen Denker in einer alten und ehrwürdigen europäischen Tradition. Es fällt aber auf, dass die deutschen älteren, freiheitlichen Traditionsschichten politischen Den‐ kens im demokratietheoretischen Werk Graf Kielmanseggs so gut wie keine Spuren hinterlassen haben. Das wiederum hat gewiss einiges mit dem tiefgreifenden

47 Kielmansegg, 1988b, S. 16.

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(Ab-)Bruch der politischen Tradition Deutschlands durch die nationalsozialistische Katastrophe zu tun.48 Wie viele andere Politikwissenschaftler seiner Generation ori‐ entiert sich auch Graf Kielmansegg vor allem an englischen und US-amerikanischen Erfahrungen und Autoren. Von den Klassikern der Demokratietheorie fühlt er sich insbesondere Alexis de Tocqueville und den Federalist-Papers von Alexander Ha‐ milton, James Madison und John Jay verpflichtet.49 Komplementär zu dem liberalen Moment gesellt sich ein konservatives Ele‐ ment50: die Freiheit des Individuums, die Graf Kielmansegg im Auge hat und schätzt, ist eine Freiheit, die sich in Bindungen entfaltet und manifestiert. Die „Chance voller Entfaltung“ erhalte der Mensch erst „durch die Bereitschaft zur Bin‐ dung“, durch die Fähigkeit, aus der Bezogenheit auf sich selbst auszubrechen.51 In der Moderne, in der Tendenzen der Auflösung überlieferter Geltungen und Bindun‐ gen deutlich stärker seien als die Fähigkeit, neue Verbindlichkeiten zu stiften, werde oft radikale Autonomie mit Freiheit verwechselt; der Mensch könne aber nicht Mensch werden und bleiben, wenn man ihn sich selbst überlasse. Er sei von Hause aus auf Gesellschaft angewiesen und bedürfe überhaupt der Verbundenheit, um Mensch sein zu können, und ohne gemeinsam Verbindliches könne es keine Verbun‐ denheit geben.52 Im Hintergrund schimmert die Aristotelische Sicht durch, der Mensch sei ein soziales Wesen, auch wenn Graf Kielmansegg mit ihm nicht darin übereinstimmt, die Bestimmung des Menschen gehe in der Politik auf, weil er der 48 Wilhelm Hennis wurde 1999 in einem Gespräch nach den Gründen für seinen langanhaltenden Verdruss über die Entwicklung der deutschen Politikwissenschaft gefragt und er antwortete da‐ rauf mit der ihm eigenen Schärfe zunächst Folgendes: „Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Als erstes nenne ich den kompletten und gewollten Abbruch der Tradition des älteren deutschen politischen Denkens. Außer mir und Hans Maier hat sich doch niemand dafür inter‐ essiert. Man lebte also vom Import, von aufgelesenen Brocken.“ Hennis 1999: 373. Tatsächlich hat die von Hans Maier und Michael Stolleis mit viel Sorgfalt und Aufwand herausgegebene mehrbändige „Bibliothek des deutschen Staatsdenkens“ bisher nur eine überschaubare Rezepti‐ on erfahren. Hans Maier hat später in seiner Autobiografie ebenfalls seiner Enttäuschung Aus‐ druck verliehen mit den Worten, „ein neues historisches Bewusstsein, das an jenes ältere, vor‐ nationale, humanitäre und freiheitliche Denken anknüpfte, entwickelte sich kaum. Waren den Deutschen die älteren Epochen ihrer Geschichte gänzlich aus dem Blick geraten? Drohte uns alle Vergangenheit, die uns mit Europa verbindet, zur Vorgeschichte – und damit partiell zur Ungeschichte – zu werden? Ich bin davon überzeugt: In unserem Parlamentarismus und Föde‐ ralismus, unserem Rechts- und Sozialstaat sind viele ältere Züge unserer Geschichte aufbe‐ wahrt. Wir wissen es nur nicht mehr. Gehörte es nicht zu den Voraussetzungen einer lebendi‐ gen politischen Kultur, sie wieder zu erschließen?“ Maier 2011, S. 329 f. 49 So dürfte es wiederum kein Zufall sein, dass Graf Kielmansegg von den kanonisierten Autoren und Werken der Demokratietheorie nur Tocqueville und die Federalist-Papers mit Bewunde‐ rung gewürdigt hat. Siehe dazu: Kielmansegg 2007a; Kielmansegg 2013d. 50 Im Jahr 2017 hat Graf Kielmansegg einen Essay veröffentlicht, in dem er vom „Recht und der Pflicht, konservativ zu sein“ spricht. Die Moderne habe eine Dynamik unablässiger, grundstür‐ zender Veränderung entfesselt. Sie sei unbedingt auf eine Balance zwischen Kräften der Bewe‐ gung und Kräften der Beharrung angewiesen, sonst werde sie sich mitsamt dem Menschen zer‐ stören. Vgl.: Kielmansegg 2017a. 51 Kielmansegg 1980a, S. 25. 52 Ebd., S. 108.

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Überzeugung ist, dass in einer modernen Demokratie die Bürger auch die Freiheit haben sollten, fernab von der Politik ein sinnvolles Leben führen zu können. Es ist bemerkenswert, dass Graf Kielmansegg dieses Verständnis von „gebunde‐ ner Freiheit“ bereits 1971 in seiner scharfsinnigen Erörterung der „Legitimität als analytische Kategorie“ formuliert hat. Der Mensch erfahre sich selbst als frei und zugleich als gebunden an Geltungen, die von keinem Willen, zumal dem eigenen nicht, abhängig seien, und die ihn unbedingt verpflichteten; der Umgang mit sich selbst und der Welt sei nicht dem Willen des Menschen beliebig anheimgestellt, aber dennoch seiner Disposition nicht entzogen: „Diese Doppelerfahrung, die Erfahrung, dass man will und dass man soll, ist eine Bedingung menschlicher Existenz, Bedin‐ gung in beiden Bedeutungen des Wortes: als Vorgegebenheit und als Ermögli‐ chung.“53 Deshalb dürfe Legitimität nicht mit Autorität, Fügsamkeit oder Zustim‐ mung aus freien Stücken verwechselt werden; sie bezeichne eine besondere Gel‐ tungserfahrung, nämlich „soziale Geltung als rechtens“. Im Kern geht es um die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit und Anerkennungswürdigkeit der politischen Ordnung und ihrer Geltungsansprüche, die durch Vernunft, Gott, Natur oder Ge‐ schichte gewonnen und begründet werden kann. Wiewohl in der historischen Wirk‐ lichkeit diese letzten Geltungsgründe sich oft überlagerten und vermischten, sei es doch möglich, hinter jedem politischen System eine Legitimitätsidee zu finden – gleichsam als Kern seiner geistigen Existenz.54 Und welche zentrale Legitimitätsidee steht hinter der modernen Demokratie? Die nächstliegende Antwort könnte lauten: Volkssouveränität. Um es aber etwas genauer zu erfahren, bemüht Graf Kielmansegg einen Blick auf die zwei „Geburtsurkunden“ der modernen Demokratie, nämlich auf die amerikanische Unabhängigkeitserklä‐ rung vom 4. Juli 1776 und die französische Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789.55 Die französische Erklärung stellt im zweiten Artikel fest, dass das Ziel jeder politischen Vereinigung die Erhaltung der natürlichen und unveräußer‐ lichen Menschenrechte sei, um anschließend die Souveränität der Nation zu verkün‐ den. Auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung begründet politische Herr‐ schaft maßgeblich mit den Menschenrechten, wenn sie feststellt, dass alle Menschen von ihrem Schöpfer gleichermaßen ausgestattet „with certain inalienable rights“ sei‐ en, um dann fortzufahren mit dem Gedanken „that to secure these rights govern‐ ments are instituted among men deriving their just powers from the consent of the governed“. Auffällig an dieser Formulierung ist, dass sie politische Herrschaft nicht als Souveränität und das Volk nicht als Träger der Souveränität konzipiert. Stattdes‐ sen erklärt sie eine Regierung als legitim, wenn sie die unveräußerlichen Menschen‐ rechte schützt und sich auf die Zustimmung der Regierten stützt. Dennoch kann man 53 Kielmansegg 1971, S. 368. 54 Ebd., S. 389. 55 Kielmansegg 2013a, S. 642.

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sowohl im amerikanischen als auch im französischen Fall von einer Verschwisterung der Menschenrechte mit der Volkssouveränität sprechen; Graf Kielmansegg erklärt sie historisch durch den Umstand, dass Menschenrechte und Volkssouveränität als „Kampfinstrumente“ gegen die alte politische Ordnung eingesetzt worden seien, um die Begründung einer neuen zu rechtfertigen.56 Aber auch der Sache nach gibt es zwischen beiden Konzepten einen inneren Zu‐ sammenhang. Denn das Prinzip der Volkssouveränität wird abgeleitet aus der Idee der Autonomie des Individuums.57 Der normative Ausgangs- und Bezugspunkt für die Legitimität politischer Herrschaft ist in der Neuzeit das autonome Individuum; ohne die Zustimmung der herrschaftsbetroffenen Individuen kann eine rechtmäßige politische Ordnung nicht begründet werden. Wie kann und soll aber eine demokrati‐ sche Ordnung unter dieser Prämisse überhaupt bestehen? Das, was demokratietheoretisch schwierig zu sein scheint, ist in der Geschichte gut möglich. Die moderne Demokratie hat nach einer langen und konfliktreichen Geschichte im Wettstreit der Legitimitätsprinzipien den Sieg davon getragen. Heute gibt es kaum noch eine politische Ordnung, die sich nicht als demokratisch bezeich‐ nen wollte, weil sie sonst keine Existenzberechtigung hätte. Deshalb könnte man meinen, die Frage der Legitimität stelle sich für die Demokratie nicht mehr so dring‐ lich, sie sei ja grundsätzlich zu ihren Gunsten beantwortet. Dem ist aber nicht so. Denn durch die allseitige Beanspruchung ist Demokratie inzwischen zu einem Kampfbegriff verkommen, er weist kaum noch scharfe Konturen auf, so dass nun der Deutungsstreit um seine Bedeutung umso heftiger ausgetragen wird. Das Prob‐ lem der Herrschaftsbegründung scheint für die Demokratie sogar eine Daueraufgabe geworden zu sein, weil die Macht der Infragestellung in ihr aufgrund der Freiheit und der Dynamik des Wandels ungleich größer ist als in anderen politischen Ord‐ nungen. Graf Kielmansegg betont immer wieder die historische und normative Komplexi‐ tät der modernen Demokratie, hinter die der demokratietheoretische Diskurs nicht zurückfallen sollte.58 Um deutlich zu machen, wie komplex und voraussetzungsreich diese politische Ordnung ist, spricht er bevorzugt vom demokratischen Verfassungs‐ staat. Die Formulierung enthält drei Bestandteile: Staat, Verfassung und Demokratie. Diese drei Elemente haben jeweils eine eigene Geschichte, die in den europäischen Ländern durchaus unterschiedlich verlaufen ist. Irgendwann haben sie sich aber zu einer spannungsreichen Einheit fortentwickelt und zusammengefügt. Die Sicht Graf Kielmanseggs auf die voraussetzungsreiche Entstehungsgeschichte des demokrati‐ schen Verfassungsstaates lautet: die Demokratie entwickelt sich im Gefäß des wer‐ denden Nationalstaates, den sie vorfindet; sie eignet sich die Repräsentativverfas‐ 56 Kielmansegg 1981, S. 103. 57 Kielmansegg 1977, S. 139. 58 Kielmansegg 2013, S. 140.

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sung an, die in ganz anderen historischen Zusammenhängen vorgebildet wurde; und sie verschwistert sich mit einer komplementären normativen Tradition, der rechtsund verfassungsstaatlichen.59 In seiner zentralen, erstmals 1985 veröffentlichten Abhandlung mit dem Titel „Die Quadratur des Zirkels“ verknüpft Graf Kielmansegg in einer für ihn typischen Weise historische Betrachtung und systematisch-analytische Argumentation, um den demokratischen Verfassungsstaat als „die erfolgreichste Institutionalisierung politi‐ scher Freiheit in der Geschichte der Menschheit, die wir kennen“ zu verteidigen.60 Er versucht darin den hartnäckigen Verdacht und Vorwurf zu entkräften, die reprä‐ sentative Demokratie sei gemessen am Maßstab des Ideals wahrer und wirklicher Volksherrschaft die zweitbeste Lösung, wenn nicht sogar eine Notlösung.61 Die Pro‐ tagonisten der repräsentativen Demokratie im 18. und 19. Jahrhundert hätten in ihr zwar auch einen von den Umständen in modernen Gesellschaften, konkret von der Großräumigkeit und der schieren Zahl ihrer Bürger, erzwungenen Ersatz für die Ver‐ sammlungsdemokratie gesehen. Noch mehr hätten sie aber die repräsentative Demo‐ kratie als eigenen und überlegenen Typus einer freiheitlichen Verfassung gedeutet; Arbeitsteilung zwischen denen, die die Tüchtigsten im Geschäft der Politik sind, und denen, die sich auf anderes besser verstehen; Schutz der Minderheiten; Gemein‐ wohlorientierung – das seien die Hauptargumente, auf die sich dieses Urteil grün‐ de.62 Auf einer prinzipiellen Ebene plädiert Graf Kielmansegg im Anschluss an Wil‐ helm Hennis dafür, die repräsentative Demokratie als eine spannungsreiche Synthese des Demokratieprinzips und des Amtsprinzips zu betrachten.63 Dazu heißt es: „Das Demokratieprinzip spricht jedem Bürger das gleiche Recht auf freie Mitwirkung an 59 60 61 62 63

Zur Geschichte des Verfassungsstaates siehe eingehend: Fenske 2001; Reinhard 2002. Kielmansegg 1985. Kielmansegg 2013, S. 39. Ebd., S. 48. Anregend für Graf Kielmansegg war vor allem Hennis Frankfurter Antrittsvorlesung vom 4. Februar 1961 zum Thema „Amtsgedanke und Demokratiebegriff“; vgl.: Hennis 2000. Graf Kielmansegg war mit Hennis freundschaftlich verbunden. Ihre Wege kreuzten sich bereits Mit‐ te der siebziger Jahre. Auf der Tagung der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im Herbst 1975 in Duisburg, auf der es einen heftigen Disput über das Problem der Legitimität politischer Herrschaft zwischen Hennis und Habermas gab, war auch Graf Kielmansegg zuge‐ gen. Er hat nicht nur seinerzeit die Beiträge von Hennis und Habermas in einem Sonderheft der Politischen Vierteljahresschrift herausgegeben, sondern vierzig Jahre später einen prägnant kri‐ tischen und überaus lesenswerten Rückblick auf die Hennis-Habermas-Debatte von 1975 ver‐ fasst. Vgl. Kielmansegg 1976; Kielmansegg 2016a. Ende der siebziger Jahre kam die gemein‐ same Herausgeberschaft mit Hennis und Ulrich Matz von zwei Bänden über „Regierbarkeit. Studien zu ihrer Problematisierung“ dazu, die aus einem Forschungsprojekt von Hennis her‐ vorgegangen sind und seine Unterschrift erkennen lassen. Siehe dazu: Hennis/Graf Kielman‐ segg/Matz1977/1979. Es fällt jedenfalls auf, dass Wilhelm Hennis der einzige Politikwissen‐ schaftler ist, dessen Werk Graf Kielmansegg mehrmals mit großer Sympathie gewürdigt hat; vgl. Kielmansegg 2013b; Kielmansegg 2014a. Gleichwohl sollte dieser Umstand nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Einfluss von Dolf Sternberger auf das demokratietheoretische Den‐ ken Graf Kielmanseggs größer war. Sternberger hat Graf Kielmansegg nicht nur im Sommerse‐ mester 1970 um die Vertretung seines Lehrstuhls an der Heidelberger Universität gebeten, son‐

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den gemeinsamen Angelegenheiten zu und bündelt diese Rechte in der Denkfigur der Volkssouveränität. Das Amtsprinzip besagt, dass alle Befugnis, für andere ver‐ bindlich zu entscheiden, als Amt verfasst sein solle.“64 Die Befugnis, für andere ver‐ bindlich zu entscheiden, sei zu verstehen als übertragene Vollmacht – von vornhe‐ rein begrenzt und zweckgebunden. Die Bestimmung des Amtes sei das Gemeinwohl und sein konstitutives Element Verantwortlichkeit. Wenn man das Mandat als Amt verstehe, sei die Wahl als Akt der Bevollmächtigung auch ein Verfahren, durch das Repräsentanten zur Verantwortung gezogen werden können. Im Grunde kennzeichne der angelsächsische Begriff „responsible government“ dieses System viel besser als der Begriff repräsentative Demokratie.65 Graf Kielmansegg hat auf der Grundlage seiner Überlegungen zur Legitimität de‐ mokratischer Herrschaft weitere politische Institutionen und Verfahrensregeln the‐ matisiert und beurteilt; genannt seien etwa die Mehrheitsregel, die direkte Demokra‐ tie, die politischen Parteien und die Verfassungsgerichtsbarkeit. Graf Kielmansegg verteidigt die demokratische Mehrheitsregel in den achtziger Jahren des vergange‐ nen Jahrhunderts auch angesichts neuer Herausforderungen wie Atomwaffen und Kernenergie als gerechtfertigt und zumutbar. Das Prinzip, dass grundsätzlich allen Bürgern das gleiche Recht auf Mitentscheidung der gemeinsamen Angelegenheiten zukomme, sei nicht anders einlösbar als durch die Mehrheitsregel.66 Natürlich sei der Geltungsbereich der Mehrheitsregel von vornherein durch die elementaren Rech‐ te der Person, wie sie in Grundrechtskatalogen verbürgt seien, begrenzt. Auch sei grundlegend eine Offenheit gewährleistet, denn Mehrheiten von heute könnten durch Mehrheiten von morgen korrigiert werden. Gegen den Einwand, Entscheidun‐ gen nach der Mehrheitsregel berücksichtigten nicht die Intensität der Präferenzen, oder aber den Vorwurf der Konservativen, eine Regel, die nur zähle und nicht wäge, könne nicht vernünftig sein, macht der Analytiker geltend, dass der Mehrheitsent‐ scheid „nur der letzte Akt eines Prozesses ist, in dem unterschiedliche Intensitäten des Engagements und unterschiedliche Grade des Sachverstandes“ durchaus wirk‐ sam werden könnten.67

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dern nahm ihn auch bewusst in seinen Schülerkreis auf, der sich in regelmäßigen Abständen traf, um sich intensiv auszutauschen. Vor allem zwei Bücher Sternbergers haben bei Graf Kiel‐ mansegg bleibende Spuren hinterlassen: zum einen der erstmals 1962 veröffentlichte Band mit dem schönen Titel „Grund und Abgrund der Macht“, der Graf Kielmansegg den Zugang zur Legitimitätsthematik verschaffte, und zum anderen „Nicht alle Gewalt geht vom Volke aus“ aus dem Jahr 1971, das schon im Titel an Graf Kielmanseggs Kritik an der Volkssouveränitäts‐ doktrin gemahnt. Vgl. Sternberger 1980 und Sternberger 1986. Dass Sternberger auch als gro‐ ßer Stilist für Graf Kielmansegg ein Vorbild gewesen sein dürfte, braucht kaum eigens erwähnt zu werden. Kielmansegg 2013, S. 54. Ebd., S. 59. Kielmansegg 1988, S. 103. Ebd., S. 129.

Was die Rechtmäßigkeit der direkten Demokratie betrifft, plädiert Graf Kielman‐ segg dafür, sie nicht abstrakt und allgemein zu bestimmen, sondern in Abhängigkeit von drei Faktoren differenziert zu betrachten, nämlich vom gesellschaftlichen Kon‐ text, von dem politischen System und den konkreten direktdemokratischen Regeln und Verfahren.68 Bei weichenstellenden Verfassungsentscheidungen findet er es durchaus plausibel, auf die höhere Legitimationskraft von Volksentscheiden zurück‐ zugreifen, obwohl er grundsätzlich eher skeptisch ist, dass die direktdemokratischen Elemente sich sinnvoll einfügen lassen in das parlamentarisch-repräsentative Sys‐ tem, weil sie dessen Funktionslogik mit den klaren Verantwortlichkeiten empfind‐ lich stören würden.69 Auch ist Graf Kielmansegg davon überzeugt, die politischen Parteien seien für die Funktionsfähigkeit des demokratischen Repräsentativsystems unverzichtbar; sie erfüllten eine lebenswichtige Scharnierfunktion zwischen dem Demokratieprinzip und dem Amtsprinzip. Parteien reduzierten Komplexität, bündel‐ ten Interessen und Erwartungen der Bürgerschaft, entwickelten Gemeinwohloptio‐ nen und machten überhaupt Verantwortungsstrukturen im demokratischen Regie‐ rungssystem transparent.70 Nicht zuletzt durch den Wettbewerb der Parteien habe der demokratische Staat die gesellschaftlichen Konflikte und den Pluralismus fried‐ lich institutionalisiert – gewissermaßen als Alternative zum Bürgerkrieg.71 An der friedlichen Konfliktschlichtung hat – neben der Mehrheitsregel im Zusam‐ menspiel mit der freien Meinungsäußerung – aber auch die Verfassungsgerichtsbar‐ keit einen bedeutenden Anteil. Das auffallend starke Vertrauen in die Verfassungsge‐ richtsbarkeit interpretiert Graf Kielmansegg zumindest auch „als Ausdruck eines la‐ tenten Misstrauens gegen den demokratischen Modus der Entscheidung“, der vor al‐ lem als Konflikt von Interessen und Machtressourcen organisiert sei.72 Die Form der justiziellen Konfliktentscheidung durch eine unabhängige, tendenziell aristokrati‐ sche Instanz sei ganz und gar auf argumentative Klärung einer Streitfrage hin ange‐ legt. Deshalb seien Verfassungsgerichte besonders geeignet, eine „kompensatorische Gemeinwohlverantwortung“ zu übernehmen und dadurch den demokratischen Pro‐ zess zu entlasten.73 Bemerkenswert ist, dass Graf Kielmansegg Demokratien mit Verfassungsgerichtsbarkeit in der Tradition des europäischen politischen Denkens als „gemischte Verfassungen“ sieht: „Zwei Ordnungsprinzipien unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Provenienz werden miteinander verknüpft, um sich wechselseitig auszubalancieren, vor den Gefahren der Einseitigkeit, vor den Exzessen konsequen‐ talistischer Logik zu bewahren und eben dadurch dem Gemeinwesen Stabilität zu si‐ chern, die Stabilität des mittleren Weges – das ist das klassische Verständnis der ge‐ 68 69 70 71 72 73

Kielmansegg 2013, S. 132. Ebd., S. 125, 139. Ebd., S. 86. Ebd., S. 78; siehe dazu auch: Kielmansegg 1995. Kielmansegg 2013, S. 175. Ebd., S. 172.

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mischten Verfassung. Wenn dieser Gedanke im Zeitalter der Demokratie überhaupt noch fortlebt, dann doch wohl in der erstaunlichen Bereitschaft vieler Demokratien, eine sekundäre verfassungsgebende Gewalt einem Gericht anzuvertrauen.“74 Im Übrigen erörtert Graf Kielmansegg die Verfassungsgerichtsbarkeit als ein dy‐ namisches Element der Gewaltenteilung in der Demokratie. Aber er sieht auch jen‐ seits der drei Gewalten im Aufbau des demokratischen Staates – Legislative, Judika‐ tive und Exekutive – eine Reihe von Gewaltteilungen zwischen dem öffentlichen und privaten Bereich, zwischen Wirtschaft und Staat, zwischen Staat und Kirche, die jeweils in einem spannungsvollen Verhältnis der Komplementarität zueinander ste‐ hen.75 Wahrscheinlich sei Gewaltenteilung das elementarste Strukturmerkmal der europäischen Zivilisation überhaupt. Zur Freiheitsgrammatik Graf Kielmanseggs gehört auch die Einsicht, dass die de‐ mokratische Revolution die Möglichkeit der Wendung ins Totalitäre in sich birgt, dass die Demokratie pervertiert werden kann „durch die totalitäre Dialektik von aller Geschichte transzendierender Hoffnung und alle Wirklichkeit verfluchender Enttäu‐ schung“.76 Die Vision einer Gesellschaft der Gleichen und Glücklichen verlange un‐ begrenzte Freiheit des Handelns; es liege eine Art von Logik darin, dass Ziele, die über jede denkbare verfasste Wirklichkeit hinausweisen, alle Schranken politischen Handelns in Frage stellten, am Ende auch den Menschen, so wie man ihn vorfindet. Deshalb sei eine Demokratie ohne verfassungsstaatliche Einhegung und Selbstbe‐ schränkung in der Gefahr, ihre utopischen Ideale absolut zu setzen und damit ins To‐ talitäre abzudriften. Auch die deutsche Katastrophengeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts legt den Schluss nahe, dass der Gegenpart von Totalitarismus nicht in der Demokratie, sondern in der Rechtstaatlichkeit besteht, die die Men‐ schenrechte als Schranken der Herrschaft zur Geltung bringt. Das mag in der von Graf Kielmansegg bevorzugten Formulierung vom demokratischen Verfassungsstaat von fern anklingen; in ihr wird die Bedeutung der Verfassung und des Staates betont, während die Demokratie kleingeschrieben wird. So gesehen kann man dahinter eine gewisse Restskepsis gegenüber der Demokratie, ja vielleicht sogar gegenüber der Masse als gefährliche politische Größe vermuten. Es fällt jedenfalls auf, dass die Re‐ de vom demokratischen Verfassungsstaat nur im deutschen Erfahrungs- und Sprach‐ raum verbreitet ist, sie lässt sich kaum in andere europäische Sprachen übertragen – was auf die politische Pfadabhängigkeit der europäischen Nationen und ihrer unter‐ schiedlichen Leitsemantiken hinweist. Damit ist die europäische Dimension im demokratietheoretischen Werk Graf Kielmanseggs berührt. Seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts be‐ gleitet er das große Integrationsprojekt der Europäischen Union mit realistischem 74 Ebd., S. 178. 75 Kielmansegg 2008, S. 16. 76 Kielmansegg 1988, S. 34.

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Blick und skeptischem Wohlwollen. „Europa“ war und ist schließlich neben der De‐ mokratie die zweite große Lehre und Hoffnung, die die Deutschen mit Franzosen und anderen Europäern aus ihrer Katastrophengeschichte geschöpft haben. Graf Kielmansegg ist davon überzeugt, dass Europa sich mit dem gewagten und weltweit einzigartigen Integrationsprojekt noch einmal als „ein schöpferisches Zentrum der menschlichen Zivilisation“ erweise, in dem grundlegend Neues erdacht und erprobt werde, und zwar auf dem Felde der Politik, das seit je ein Feld europäischer Kreati‐ vität gewesen sei.77 Aber auch hier geht es Graf Kielmansegg vor allem um die Le‐ gitimität der Demokratie. Um ihre Möglichkeiten sei es in der Europäischen Union nicht sonderlich gut bestellt, denn eine elementare Voraussetzung für die demokrati‐ sche Legitimität sei nicht gegeben, nämlich ein „kollektives politisches Subjekt“. Es gibt Völker Europas, aber noch kein europäisches Volk. Die europäischen Na‐ tionen seien Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in de‐ nen kollektive Identitäten sich herausgebildet hätten und tradiert würden. Europa, auch das engere Westeuropa aber sei „keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemeinschaft und noch immer sehr begrenzt eine Erfahrungsge‐ meinschaft.“78 Die Pluralität von tief in der Geschichte verwurzelten Kommunikati‐ ons-, Erinnerungs- und Erfahrungsgemeinschaften sei „das europäische Grundda‐ tum“;79 man könne Europa geradezu so definieren. Als Historiker weiß Graf Kiel‐ mansegg eben um das Gewicht der Geschichte, das Europa in den Knochen steckt, und das man nicht durch Zukunftsmut einfach abschütteln kann. Warum ist es aber für die demokratische Legitimität der Europäischen Union überhaupt wichtig, dass es eine belastbare Identität der Europäer als Europäer gibt? Hatte Graf Kielmansegg nicht im Rahmen seiner Kritik an der Volksouveränitäts‐ doktrin darauf hingewiesen, dass hinter der Metapher des Volkes sich eine Vielfalt von Interessen, Meinungen und Weltanschauungen in ihrer Gegensätzlichkeit ver‐ birgt, deren gleiches Lebensrecht die Demokratie zu respektieren hat, so dass keine Gruppe, auch nicht die Mehrheit, von sich sagen kann: Wir sind das Volk? Auf die Gefahren der Vereinnahmung durch Homogenitätsvorstellungen in der Demokratie hinzuweisen ist das eine; etwas anderes ist es aber, kollektive Identität als eine Voraussetzung für den demokratischen Regierungsmodus zu postulieren. Normative und empirische Aspekte bündelnd, begründet Graf Kielmansegg seine Überzeugung von der Notwendigkeit einer kollektiven Identität in der Demokratie wie folgt: „Nur wenn alle Entscheidungsbetroffenen sich als an einer gemeinsamen, übergreifenden politischen Identität teilhabend begreifen, wird die Unterscheidung zwischen dem zustimmungsfähigen Entscheidungsrecht der Mehrheit und der nicht zustimmungsfähigen Fremdherrschaft möglich […] und kann die solidarische Inan‐ 77 Kielmansegg 2015, S. 17. 78 Ebd., S. 68. 79 Ebd., S. 71.

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spruchnahme der Bürger für ihre Mitbürger durch das Gemeinwesen mit Zustim‐ mung rechnen“.80 Den antizipierten Einwand, er orientiere sich damit an überholten nationalstaatlichen Vorstellungen, lässt Graf Kielmansegg nicht gelten, denn die Na‐ tion sei nun einmal „eine Antwort auf Funktionserfordernisse der Demokratie“, wenn auch nicht die einzig denkbare, aber doch immerhin die, mit der die moderne Demokratie ins Leben getreten sei. Natürlich seien kollektive Identitäten keine „Na‐ turkonstanten“, als historische Phänomene böten sie durchaus Raum für Wandel. Aber die Prozesse, in denen sich kollektive Identitäten herausbildeten, brauchten Zeit. Nach fünfzig Jahren Integrationsgeschichte stünden die alten Mitglieder der Europäischen Gemeinschaft allenfalls am Anfang eines solchen Prozesses. Damit möchte aber Graf Kielmansegg die partikulare Zugehörigkeit zum Nationalstaat kei‐ neswegs über die universalistischen Wertorientierungen stellen; vielmehr sollen bei‐ de in einem komplementären Verhältnis zueinander stehen, wobei im Konfliktfall die universalen demokratischen Werte als Beurteilungsmaßstäbe wie als Maximen des Handelns den Primat haben sollten.81 Schließlich gibt er zu bedenken, dass Nüchternheit in der Beurteilung des Wirklichen und Möglichen für das europäische Integrationsprojekt nicht weniger wichtig sei als „das visionäre Hinausdenken über das Wirkliche und Mögliche“.82 Die europäischen Krisenphänomene der letzten Jahre geben seiner skeptischen Einschätzung mehr Recht, als ihm wahrscheinlich selbst recht sein dürfte. Aber Graf Kielmansegg hat sich nicht damit begnügt, die Probleme der Europäischen Union zu beschreiben, sondern entwirft auch stets mögliche und realistische Lösungsansätze, um Europa den Weg in die Zukunft zu weisen. Europa sei inzwischen ein so kom‐ plexes, in sich so heterogenes Gebilde geworden, dass das alte, in die Formel „Im‐ mer enger“ gefasste Programm – stetig fortschreitende Integration um ihrer selbst willen – sich festgefahren habe. Ein neues Programm müsse her, nicht länger inte‐ grationsfixiert, sondern aufgabenorientiert. Das europäische Projekt müsse sich über wenige, konkrete Aufgaben definieren, bei deren Bearbeitung in überschaubarer Zeit wirklich sichtbar werde, dass europäische Zusammenarbeit einen Mehrwert schaffen könne.83 Im Übrigen könnte das Gelingen des europäischen Integrationsprojektes für andere Regionen der Welt eine gewisse Vorbildfunktion erfüllen, auch wenn es kaum möglich sein dürfte, die Europäische Union in anderen Weltgegenden nachzu‐ bilden; das ist umso wichtiger als Regionalbündnisse die Funktion einer friedenssi‐ chernden Ordnungsmacht für bestimmte Räume mittelfristig wirksamer erfüllen könnten als die Vereinten Nationen.84 Dabei ist Graf Kielmansegg davon überzeugt, dass zu der Hoffnung, die Voraussetzungen der Demokratie ließen sich durch Ein‐ 80 81 82 83 84

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Ebd., S. 67. Kielmansegg 2013c, S. 54. Kielmansegg 2015, S. 94. Cavuldak/Kielmansegg 2019. Kielmansegg 2018b, S. 166.

wirkung von außen, zumal durch militärische Interventionen eines demokratischen Welthegemons, weltweit schaffen, die uns bisher verfügbaren Erfahrungen wenig Anlass geben.85 Er konstatiert vielmehr ein Dilemma: wir hätten es zwar mit einer weltweiten Erosion der Voraussetzungen stabiler nicht-demokratischer Herrschaft zu tun, dem korrespondiere aber keine gleichzeitige weltweite Evolution der kulturellen Voraussetzungen der demokratischen Regierungsweise. Die Strukturen der Un‐ gleichheit erodierten in der Welt nach und nach, doch mündeten die Befreiungsakte keineswegs in die Begründung einer Ordnung der Freiheit ein.86 Hoffnung macht aber immerhin die vom Politikwissenschaftler konstatierte ver‐ gleichsweise höhere Lernfähigkeit der Demokratie, die bedingt ist durch historische Lernimpulse und institutionelle Lernchancen im Kontext einer in Freiheit geführten öffentlichen Debatte.87 Wenn Graf Kielmansegg im Allgemeinen die Skepsis als eine analytische Tugend der Politik- und Geschichtsbetrachtung stark macht, dann wohl nur, um ihr eine geerdete und geläuterte Hoffnung abtrotzen zu können. Es liegt nahe, noch hinter dieser Haltung Erfahrungsspuren der deutschen Geschichte im vergangenen Jahrhundert zu vermuten, die in der ersten Hälfte in schwindelerre‐ gende Abgründe führte und selbst einem nüchternen Analytiker Verzweiflung bei‐ bringen könnte, in der zweiten Hälfte aber wieder Platz machte für die Hoffnung, dass doch nicht alles vergebens und verloren ist. Als politischer Denker bewegt sich Graf Kielmansegg auf dem brüchigen Erfahrungsboden des gesunden Menschenver‐ standes, der nach der nationalsozialistischen Katastrophe in Deutschland einem schmerzvollen Lernprozess mühsam abgerungen werden musste.

4. Das opus magnum „Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland“ Diesen demokratischen Lernprozess hat wiederum kein anderer als Peter Graf Kiel‐ mansegg in seiner monumentalen „Geschichte des geteilten Deutschland“ vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur Wiedervereinigung reskonstruiert und analysiert. Da‐ rin kann man abermals beobachten und bestaunen, was den zum Politikwissen‐ schaftler gewordenen Historiker im Kern ausmacht und auszeichnet: sorgfältiges Quellenstudium, souveräner Umgang mit dem Forschungsstand, analytisch-systema‐ tischer Zugriff auf das Anschauungsmaterial, konzeptionelle Strenge, sachliche Nüchternheit, Klarheit und Eleganz der Sprache und eine hohe Abwägungskunst, der starke Urteile abgerungen werden. 85 Kielmansegg 2006, S. 123. 86 Kielmansegg 2013, S. 247. 87 Kielmansegg 1989, S. 94. Siehe zur Lernfähigkeit des politischen Systems in Deutschland auch die kritische Bestandsaufnahme bei: Schmidt 2016, S. 479 ff.

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Das opus magnum aus dem Jahr 2000 trägt den Titel „Nach der Katastrophe“, und damit ist die Perspektive genannt, unter der Graf Kielmansegg die deutsche Ge‐ schichte von 1945 bis 1990 betrachtet und deutet.88 Den Ausgangspunkt markiert die nationalsozialistische Katastrophe mit dem Zivilisationsbruch, von dem noch der reife Historiker sagt, er sei „letztlich unbegreiflich“.89 Dieses Urteil ist erstaunlich für einen analytischen Kopf wie Graf Kielmansegg, macht aber womöglich deutlich, dass er als Deutscher von der deutschen Katastrophengeschichte unmittelbarer be‐ troffen ist als andere. Die lebensgeschichtlich verbürgte Nähe zum Gegenstand sei‐ ner wissenschaftlichen Neugierde mag ein gewisses Risiko der Befangenheit bergen, sie bietet aber offenbar auch besondere Erkenntnischancen, weil sie nicht zuletzt mit einem größeren Einfühlungsvermögen einhergeht. So gesehen kann man es als einen Vorteil betrachten, dass Graf Kielmansegg die von ihm erzählte und gedeutete Ge‐ schichte des geteilten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg über weite Stre‐ cken bewusst erlebt und begleitet hat, in und mit ihr groß geworden ist. Im späten Hauptwerk „Nach der Katastrophe“ hat jedenfalls der Bürger, Historiker und Politik‐ wissenschaftler Graf Kielmansegg auf das Glücklichste zusammengefunden. Seine konzeptionelle Doppelperspektive formuliert er gleich zu Beginn: „Alle Geschichte von 1945 an ist Geschichte im Schatten und im Bewusstsein der einmal geschehenen Katastrophe. Natürlich verbinden zahllose Kontinuitätslinien das Da‐ vor und das Danach miteinander. Aber was den Abgrund überbrückt, ist nur noch gebrochene Kontinuität.“ Und: „Die deutsche Geschichte diesseits der Katastrophe ist wirklich eine neue Geschichte, kein anderes europäisches Volk hat in einer ver‐ gleichbaren Weise mit einer ´zweiten Geschichte` neu begonnen.“90 Um deutlich zu machen, dass die deutsche Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus ein neues Ufer gesucht und erreicht hat, wollte Graf Kielmansegg ursprünglich dem Buch den Titel „Diesseits der Katastrophe“ geben; dafür war aber der Verlag nicht zu gewinnen 91 Graf Kielmansegg ist davon überzeugt, dass es die nationalsozialistische Kata‐ strophe war, die Deutschland demokratiewillig und demokratiefähig gemacht hat; sie sei aber nur eine notwendige, keine hinreichende Bedingung des Lernens gewesen.92 Für einen gelingenden Neubeginn der deutschen Geschichte habe es zudem einer ganz außerordentlichen Gunst der Umstände bedurft. Dabei seien die Chancen des Neubeginns wesentlich den Westdeutschen vorbehalten gewesen, die „Folgelasten der Katastrophe“ hätten vor allem die Deutschen im Osten tragen müssen. Die extre‐

88 Kielmansegg 2000. Im Folgenden zitiere ich die durchgesehene Taschenbuchausgabe, die 2007 unter dem Titel „Das geteilte Land. Deutsche Geschichte 1945-1990“erschienen ist. 89 Kielmansegg 2007, S. 10. 90 Ebd., S. 13. 91 Ebd., S. 677. 92 Kielmansegg 1999.

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me, unwillkürliche Ungleichverteilung dieser Lasten sei eines der Grundprobleme der seitherigen deutschen Geschichte. Es ist bemerkenswert, dass diese Ungleichheit sich in der Geschichte des geteilten Landes von Graf Kielmansegg wiederfindet. Die Konzeption des Buches hat indi‐ rekt einen politisch-pädagogischen Zug, insofern der Autor die Legitimitätsfrage oder auch die Zukunftsfähigkeit der politischen Ordnung als Beurteilungskriterium anlegt, um über die Frage zu entscheiden, wieviel Raum er jeweils der Betrachtung der Bundesrepublik und der DDR einräumt.93 Von den insgesamt sechzehn Kapiteln thematisieren zehn die westdeutsche Demokratie und die Bonner Republik im OstWest-Konflikt, vier handeln von der Entstehung und dem Leben mit der Teilung, nur eines ist explizit der DDR gewidmet. Und in diesem Kapitel geht es Graf Kielman‐ segg um die Frage, warum die DDR keine „deutsche Möglichkeit“ war; um ihr Scheitern zu erklären, analysiert er vor allem das Scheitern ihrer Legitimationsstrate‐ gien (im Einzelnen die antifaschistische, sozialistische, wohlfahrtsstaatliche und friedenspolitische). Der ostdeutsche Weg aus der nationalsozialistischen Katastrophe führte am Ende in eine Sackgasse, während die westdeutsche Antwort die Zukunft auf ihrer Seite hatte. Dem entsprechend wird die Entstehungsgeschichte der west‐ deutschen Demokratie entlang ihrer Konflikte, Entscheidungen und Institutionen eingehend dargestellt und gewürdigt. Auch dem gesellschaftlichen Wandel und dem ökonomischen Fundament der Bundesrepublik wird einige Aufmerksamkeit zuteil. Und im letzten Kapitel mit der für den Autor typischen Überschrift „Nachdenken über Deutschland“ versucht Graf Kielmansegg das Hadern bedeutender Schriftstel‐ ler und Intellektueller mit der Bundesrepublik und ihrem Demokratieexperiment nachzuvollziehen – bis an die Grenzen des Verstehbaren wohlgemerkt – und nimmt dabei die schöne Literatur als ein Medium der politischen Reflexionsgeschichte ernst. Der Grund für das abgrundtiefe Misstrauen der Intellektuellen gegen die Bun‐ desrepublik und ihr hoffnungsfrohes Wohlwollen gegenüber der DDR bestand darin, dass das Land nach Hitler keine „zustimmungsfähige Vergangenheit“ mehr hatte und deshalb seine „Identität in einer habituellen Distanzierung von sich selbst“94 suchte: „Der düstere Schatten der Vergangenheit war immer schon da, wo die junge Repu‐ blik auf ihrem Entwicklungspfad ankam.“95 Überhaupt lautet die Kernthese Graf Kielmanseggs, dass in allen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens die katastrophische Vorgeschichte das be‐ stimmende Ausgangsdatum für die Entwicklung der Bundesrepublik war. Die Kata‐ strophenerfahrung habe viele Lernimpulse freigesetzt; ihre Spuren seien etwa im po‐ litischen System selbst, angefangen vom Grundgesetz und dem Parteiensystem, in der Außenpolitik, im Wirtschaftssystem und in der politischen Kultur erkennbar. Die 93 Kielmansegg 2001, S. 13. 94 Ebd., S. 357. 95 Ebd., S. 645.

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dauerhafte Prägung der politischen Kultur durch die katastrophische Vorgeschichte beschreibt Graf Kielmansegg wie folgt: „Und da kommen dann auch Traumatisie‐ rungen ins Spiel, die für die Bundesrepublik konstitutiv sind und offenbar endlos fortwirken. Die elementare Unsicherheit im Umgang mit uns selbst, die Verklemmt‐ heit, sobald es um das Thema Nation oder auch nur Heimat geht, die Tendenz Politik und Moral in eins zu setzen – in all diesen hypersensiblen Schmerzzonen unserer politischen Kultur zeigen wir uns als ein traumatisiertes Gemeinwesen, traumatisiert bis tief in die Sprache hinein. Was wir sagen dürfen und was nicht, welche Wörter wir benutzen dürfen und welche nicht, das ist uns durch unsere Vergangenheit vor‐ gegeben. Die Prägung unseres Gemeinwesens durch eine einzigartige Vergangenheit wird auch da sichtbar, wo wir scheinbar einfach nur eine westliche Industriegesell‐ schaft unter anderen sind und Entwicklungen durchlaufen, die wir mit diesen Gesell‐ schaften teilen. Diese Entwicklungen nehmen bei uns einen etwas anderen Charakter an, sie können sich verschärfen, weil sie auf eine andere politische Kultur treffen. Das gilt meines Erachtens für die 68er Bewegung und ihre Folgen – die RAF legiti‐ mierte sich bekanntlich mit der Behauptung, der Faschismus lebe in der Bundesre‐ publik fort, man kämpfe also eigentlich gegen Hitler. Es gilt für die demographische Entwicklung – Bevölkerungspolitik war ja lange Zeit ein Tabu im Nachkriegs‐ deutschland. Es gilt für den eigentümlichen, eskapistischen Pazifismus der Deut‐ schen und so fort.“96 Graf Kielmansegg beurteilt diese diffuse Allgegenwart der na‐ tionalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland als eine zutiefst ambivalente Sa‐ che; denn sie kann Scheuklappen anlegen und dadurch die Denk- und Handlungs‐ freiheit einschränken, aber auch gegenüber Gefahren für Freiheit und Demokratie zu besonderer Wachsamkeit anhalten. Das reife Spätwerk Graf Kielmanseggs wurde in der breiten Öffentlichkeit sehr anerkennend aufgenommen und gewürdigt. Klaus Hildebrand rühmte in seiner Be‐ sprechung Graf Kielmansegg als „einen Meister der ebenso scharfsinnigen wie ge‐ bildeten Reflexion“.97 Seine große Darstellung der Geschichte des geteilten Deutschland setze „intellektuelle Maßstäbe“ und werde gewiss zu einem Standard‐ werk avancieren. Eckhard Jesse stellte fest, Graf Kielmansegg habe „auf der Höhe des Forschungsstandes ein ungemein gelehrtes Buch geschrieben, das subtil Ursa‐ chen und Wirkungen“ erörtere.98 Immer wieder betone er die Offenheit der histori‐ schen Situation, er sei in seiner Darstellung um ein „Höchstmaß an Gerechtigkeit“ bemüht, seine Urteile seien denn auch stets balanciert. Im Übrigen seien die Bildle‐ genden kleine Glanzstücke, die das Geschehen gleichsam in der Nussschale einfin‐ gen. Schließlich teilte Jesse dem Leser mit, dass Graf Kielmansegg keine Parallelge‐ schichte und Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten geschrieben habe, 96 Cavuldak/Kielmanseeg, 2019. 97 Hildebrand 2000. 98 Jesse 2001.

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obwohl er ihr Verhältnis treffend als „symbiotischen Antagonismus“ charakterisiert habe. Dieser Feststellung gab der Publizist Peter Bender eine entschieden kritische Wendung; seine Besprechung des Buches von Graf Kielmansegg trug den aussage‐ kräftigen Titel: „Der fremde Osten“.99 Der Autor sei Westdeutscher auch im politi‐ schen Sinn des Worts, heißt es darin vorwurfsvoll. Die Bundesrepublik habe er er‐ lebt, die DDR aber habe er sich erlesen müssen. Die DDR sei nun einmal das Schicksal der Ostdeutschen gewesen und ihr Schicksal habe die gleiche Beachtung verdient wie dasjenige der Westdeutschen. Auch habe Graf Kielmansegg den Anteil der Ostdeutschen an der Wiedervereinigung nicht angemessen gewürdigt. Am Ende stellt aber auch Bender respektvoll fest, dass an diesem Werk niemand vorbeikom‐ men werde, der sich ernstlich um die Nachkriegsgeschichte der Deutschen bemüht. Von den Zeithistorikern im engeren Wortsinne gab es nur wenige Stimmen, die sich zu dem Buch Graf Kielmanseggs äußerten. Einer von ihnen war der ausgewie‐ sene Kenner der Beziehungsgeschichte der beiden deutschen Staaten Christoph Kleßmann. In seiner kritischen Würdigung bemängelte er, dass die „wechselseitigen Einflüsse und Abgrenzungsstrategien“ der BRD und der DDR in der Darstellung Graf Kielmanseggs blass blieben.100 Hingegen zeigte er sich fasziniert davon, wie Graf Kielmansegg in seiner Darstellung jeglichen Determinismus umgeht – nämlich über eine „Verflüssigung des historischen Geschehens durch immer wieder einge‐ schobene Fragen und abwägende Erörterungen, auch durch häufige Hinweise, dass vieles nicht zu entscheiden“ sei. Am Ende konstatierte Kleßmann: „Vom souverä‐ nen, problemorientierten Zugriff, vom gedanklichen und sprachlichen Niveau und nicht zuletzt auch von der eindrucksvollen Bebilderung und Kommentierung her ge‐ hört Kielmanseggs Buch insgesamt zu den gelungensten Versuchen, die sperrige Thematik der deutschen Nachkriegsgeschichte in den Griff zu bekommen.“101 Ein anderer Zeithistoriker, der sich für das Deutungsangebot Graf Kielmanseggs der neueren deutschen Geschichte interessierte, war Konrad H. Jarausch. Auch er zeigte sich beeindruckt von Graf Kielmanseggs Synthese der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte: „Der glänzende Stil, die klare Organisation und die reiche Bebilderung garantierten eine gute Lesbarkeit des Buches. Die souveräne Literatur‐ kenntnis, der unaufgeregte Ton und das ausgewogene Urteil zeigen, dass es sich um ein reifes Werk handelt, das aus einer jahrzehntelangen wissenschaftlichen Politik‐ betrachtung hervorgegangen ist. Immer wieder besticht der Text durch eine ein‐ leuchtende Begriffsbildung […]“.102 Gleichwohl erlaubte er sich einige kritische Hinweise; auch er findet, dass das Buch vor allem aus der Perspektive der alten Bundesrepublik geschrieben sei und deswegen das kumulative Resultat der Vorent‐ 99 100 101 102

Bender 2000. Kleßmann 2001. Ebd. Jarausch 2001, S. 16.

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scheidungen eine „glättende Erfolgsgeschichte [sei], die den Wandlungsprozess von seinem Ende durch die Vereinigung beurteilt und die Verwerfungen und Verirrungen auf seinem Wege minimiert“.103 Insbesondere müsste die „langsame Verinnerlichung demokratischer Werte und Verhaltensweisen“ in ihrer Komplexität differenzierter aufgearbeitet werden. Die Kritik der Intellektuellen an der Bundesrepublik und ihre latente Sympathie für das andere Deutschland deute Graf Kielmansegg eher als Ver‐ sagen; es könnte aber sein, meint Jarausch, dass er damit ihren Beitrag zur Stabili‐ sierung der Demokratie zu gering veranschlage. Eine weitere kundige Besprechung des Hauptwerks von Graf Kielmansegg stammt aus der Feder von Hans Peter Schwarz, die an entlegener Stelle veröffent‐ licht worden ist und deshalb wahrscheinlich kaum gelesen wurde. Schwarz gehörte ja zu den wenigen Politikwissenschaftlern in Deutschland, die auch Zeitgeschichte auf hohem Reflexionsniveau betrieben haben, wobei er vor allem große Biographien über bedeutende Politikerpersönlichkeiten der Bundesrepublik wie Konrad Adenau‐ er und Helmut Kohl geschrieben hat. Zunächst stellte Schwarz fest, offenbar liege das Genre von Gesamtdarstellungen Graf Kielmansegg; vor längerer Zeit schon sei seine Monographie „Deutschland und der Erste Weltkrieg“ erschienen, „gleichfalls ein Meisterstück vieldimensionaler Geschichtsschreibung“.104 Doch dort fänden sich noch viel mehr „narrative Elemente und chronologisch fortschreitende Erörterun‐ gen“. Im vorliegenden Werk „Nach der Katastrophe“ überwiege ganz eindeutig die „abwägende, geschickt systematisierte Präsentation von Deutungen“. Graf Kielman‐ segg sei ein „Großmeister des Abwägens, der Vermittlungen und der Abschattierung von Grautönen“, ohne dass dies ihn zu einem Freund von Unverbindlichkeiten machte. Dieses Lob wiederum hinderte Schwarz nicht daran, an der Gesamtperspek‐ tive des „außergewöhnlich geglückten Buches“ seines Kollegen gewisse Zweifel an‐ zumelden, angefangen mit dem Titel. „Nach der Katastrophe“ – das würde zwar einen Rückblick auf die DDR aus heutiger Sicht ganz gut treffen, meinte Schwarz, aber diese Perspektive werde der Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik nicht ganz gerecht. Zwar sei es sicher richtig, dass die Katastrophe von 1945 in ganz Deutschland die Rahmenbedingungen für die Politik geschaffen habe, die erst 1990 überwunden wurden, doch hätten die Deutschen später von der kommunistischen Herrschaft über halb Europa ebenfalls ihren Anteil mitbekommen. Daraus zog Schwarz den Schluss, der Titel des Buches hätte eher lauten müssen: „Während der Katastrophe“ oder „In Erwartung der Katastrophe“, wenn man darunter entweder den Dritten Weltkrieg oder aber die Einbeziehung der Bundesrepublik in den kom‐ munistischen Machtbereich ohne Krieg verstehe. Zudem vermisste der Zeithistoriker im Denk- und Fragehorizont Graf Kielmanseggs das klassische „Problem von Auf‐ stieg und Niedergang“; er diagnostizierte einen „müden Niedergang“ in Deutschland 103 Ebd., S. 17. 104 Schwarz 2001.

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– im Wettbewerb der Kontinente intellektuell, demographisch, auch an schöpferi‐ scher Kraft und an Gestaltungswillen. Das sei doch „eine sehr viel gravierendere Angelegenheit als die psychologischen Nachwirkungen Adolf Hitlers und der unter ihm begangenen deutschen Untaten, an denen nichts mehr zu ändern“ sei. Seine Würdigung endete mit den Worten: „Die Republik kann sich glücklich schätzen, in diesem Politologen einen so geistvollen Deuter ihrer Entwicklung gefunden zu ha‐ ben. Die Zunft der Historiker wird für ihre Detailstudien bei Kielmansegg zahllose Anregungen finden. Manche, denen nicht viel einfällt, werden das Buch nach Strich und Faden ausschlachten […] Und diejenigen, die derzeit gleichfalls an Gesamtdar‐ stellungen arbeiten, werden diese Neuerscheinung nicht ohne Sorge lesen. Sie setzt Maßstäbe und ist nur schwer zu übertreffen.“105 Entgegen der Erwartung von Hans-Peter Schwarz hat die Zunft der Historiker Graf Kielmanseggs Geschichte des geteilten Deutschland – übrigens ähnlich wie zu‐ vor sein großes Weltkriegsbuch auch – kaum gebührend rezipiert, was durchaus in einem Kontrast zu der öffentlichen Resonanz steht, die dem Werk zuteilwurde. Es fällt auf, dass etwa die „Historische Zeitschrift“ auch dieses Buch nicht gewürdigt hat, aber auch ansonsten gibt es Anzeichen dafür, dass die Historiker in Deutschland Graf Kielmansegg nicht als einen der Ihren wahrgenommen und anerkannt haben.106 Ein Teil der Erklärung mag darin bestehen, dass Graf Kielmansegg eben keinen Lehrstuhl für neuere Geschichte inne hatte und die Fächer als Zünfte ein Eigenleben führen, das sie durch personelle Netzwerke und andere Machtstrukturen absichern und abschotten. Natürlich hat es Ausnahmen gegeben, aber sie bestätigen auch hier nur die Regel. In der Debatte um Hans-Ulrich Wehlers fünften und letzten Band sei‐ ner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ über die „Bundesrepublik und DDR 1949-1990“ gehörte Graf Kielmansegg zu den scharfsinnigsten und anspruchsvolls‐ ten Kritikern.107 Wehler reagierte auf die konstruktiven Einwände des „vorzüglichen Kenners der deutschen Nachkriegsgeschichte“ stets mit Verständnis und Anerken‐ nung.108 So bemerkte er in einer Erwiderung: „Peter Graf Kielmansegg bringt, wen wundert`s, manche meiner Interpretationen besser auf den Punkt, als ich es zu tun vermocht habe.“109 Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass gerade auch Wehler ein robustes akademisches Revierverhalten gegenüber den Politik- und Sozialwissen‐ 105 Ebd. 106 Erwähnt seien nur zwei Veröffentlichungen von Zeithistorikern, die Graf Kielmanseggs Ge‐ schichte des geteilten Deutschland nicht berücksichtigen, obwohl dies vom Anspruch und Zu‐ schnitt des Themas her angebracht gewesen wäre: zum einen der von Jürgen Danyel, JanHolger Kirsch und Martin Sabrow herausgegebene Sammelband „50 Klassiker der Zeitge‐ schichte“, siehe: Danyel/Kirsch/Sabrow 2007; und zum anderen Gabriele Metzlers Monogra‐ phie „Der Staat der Historiker. Staatsvorstellungen deutscher Historiker seit 1945“, siehe: Metzler 2018. 107 Bahners/Cammann 2009. 108 Ebd, S. 148, 202, 255, 297. 109 Ebd., S. 89.

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schaftlern an den Tag legte, wenn sie ihm mit ihren Deutungsangeboten in die Quere kamen; so heißt es im Vorwort seiner gesamtdeutschen Nachkriegsgeschichte, bis vor kurzem hätten „die Neuzeithistoriker auf eine eigentümliche Weise, die nicht leicht zu erklären ist, den Politik- und Sozialwissenschaftlern bereitwillig und kampflos die Beschäftigung mit der Nachkriegszeit und der Geschichte der Bundes‐ republik überlassen“.110 Auf der anderen Seite haben aber auch die Politikwissenschaftler das opus ma‐ gnum Graf Kielmanseggs kaum angemessen wahrgenommen und gewürdigt – ein‐ mal abgesehen von den erwähnten Ausnahmen Hans-Peter Schwarz und Eckhard Jesse. Zu nennen wäre noch allenfalls der jüngere Alexander Gallus, der Graf Kiel‐ manseggs „luzide Porträt“ der Bundesrepublik als „so angenehm nüchtern wie die bundesdeutsche Geschichte selbst“ empfand;111 ihn überzeugte die „konzise Synthe‐ se“ Graf Kielmanseggs, seine kompakte Erzählweise ebenso wie seine treffsicheren Interpretationen und auf Fairness bedachten Urteile.112 Bezeichnend ist wiederum, dass Gallus in den letzten Jahren als einer der wenigen Politikwissenschaftler die „prekäre Nachbarschaft“ von Geschichts- und Politikwissenschaft in der Absicht thematisiert hat, sie wieder stärker miteinander ins Gespräch zu bringen.113 Beide Fächer feierten in den siebziger Jahren immerhin eine Art Hochzeit als die maßgeb‐ lich von Hans-Ulrich Wehler propagierte „Gesellschaftsgeschichte“, die sich als His‐ torische Sozialwissenschaft verstand, als neues Leitparadigma durchsetzte, inzwi‐ schen aber haben sie sich weitgehend auseinandergelebt. Die Doppellehrstühle für Politikwissenschaft und Zeitgeschichte sind verschwunden, die im Rückblick als eine Antwort auf ein besonderes Deutungs- und Verständigungsbedürfnis des Lan‐ des nach der Katastrophe erscheinen. Die Politikwissenschaft hat sich in den letzten Jahrzehnten jedenfalls weiter „versozialwissenschaftlicht“ und von der Geschichte entkoppelt. Einiges spricht dafür, dass das Fach sich damit womöglich auch eines Stücks seiner Ansprechbarkeit und Gesprächsfähigkeit in der politischen Öffentlich‐ keit beraubt hat. Denn es fällt schon auf, dass diejenigen Politikwissenschaftler, die an den öffentlichen Selbstverständigungsdebatten teilgenommen haben, einen ausge‐ prägten Sinn für die historischen Tiefendimensionen der Politik und Demokratie hat‐ ten; im Übrigen auch für die Bedeutung einer allgemein zugänglichen und verständ‐ lichen Sprache, um zwischen den Kommunikationssphären der Wissenschaft und Öffentlichkeit vermitteln zu können.

110 Wehler 2008, S. XVI. In dem Zusammenhang sei noch an Wehlers ungewöhnlich über‐ schwängliche Huldigung des Buches von dem Historiker Jörn Leonhard über den Ersten Weltkrieg in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ erinnert, in der es aber auch darum ging, das vielbeachtete konkurrierende Buch des Politikwissenschaftlers Herfried Münkler über den Ersten Weltkrieg gewissermaßen aus dem öffentlichen Feld zu schlagen. Vgl. Wehler 2014. 111 Gallus 2001, S. 327. 112 Ebd., S. 324. 113 Gallus 2016.

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Zu ihnen gehört auch Peter Graf Kielmansegg; als sprachmächtiger Intellektueller hat er seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in den öffentlichen Selbstverständigungsdebatten der Bundesrepublik das Gewicht seines Wortes immer wieder in die Waagschale geworfen. Für ihn war und ist es wichtig, dass die Politik‐ wissenschaft keine Selbstgespräche führt; sie sollte sich mit dem, was sie zu sagen hat, an die Bürgerschaft und den Politiker wenden, um gemeinsam zur „Humanisie‐ rung der Bedingungen menschlicher Existenz“ in der Demokratie beizutragen.114 Zuweilen reagieren Bürger und Politiker ihrerseits auf das Werk eines Politikwissen‐ schaftlers mit Kritik oder Zuspruch, weil sie davon besonders angesprochen sind oder herausgefordert werden. Es sei erlaubt aus den Würdigungen, die das opus ma‐ gnum Graf Kielmanseggs jenseits der Wissenschaft erfahren hat, nur eine herauszu‐ greifen und wiederzugeben. Kein Geringerer als der frühere Bundespräsident Ri‐ chard von Weizsäcker sprach von Graf Kielmanseggs „klugen und abwägenden Ur‐ teilen“ und von dem Lesegenuss, den sein Werk ihm bereitet habe. Und er fügte hin‐ zu: „Wir können dafür nur mit der höchsten Achtung dankbar sein.“115

5. Sprache und Öffentlichkeit Peter Graf Kielmansegg wurde 1983 der Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa verliehen. Die deutsche Akademie für Sprache und Dichtung begründete ihre Entscheidung damit, Graf Kielmansegg sei ein „Gelehrter von weiter, zugleich poli‐ tischer, historischer und juristischer Bildung, der seine oft erregenden Erkenntnisse in gelassener Erörterung und in heller Sprache“ vortrage.116 Karl Dietrich Bracher lobte in seiner Laudatio denn auch vor allem Graf Kielmanseggs „Sinn für Form und Balance des Urteils“.117 Eingangs seiner Rede bemerkte er, es sei angesichts der Lage und des Rufes der Politikwissenschaft eher ungewöhnlich, dass dieser Preis einem ihrer Vertreter zufalle, zumal dieser einer der jüngeren Kollegen sei. Tatsäch‐ lich ist Graf Kielmansegg bis heute der einzige aus dem Fach geblieben, der diesen Preis erhalten hat. Seine Dankesrede bei der Entgegennahme des Sigmund-Freud-Preises steht unter einem einzigen Titelwort, das es allerdings in sich hat: „Gratwanderungen“. In sei‐ nem Fall bezeichnet es die behutsame Wanderung auf einem schmalen Grat zwi‐ schen Fächern und Zeiten, Wahrheit und Zweifeln und nicht zuletzt auch sprachli‐ chen Mitteilungsformen mit unterschiedlichen Anforderungen. Graf Kielmansegg 114 Kielmansegg 1980a, S. 18. 115 Die Äußerung stammt aus einem privaten Brief Weizsäckers an Graf Kielmansegg, der mir dankenswerterweise auf meine nachdrückliche Bitte hin Auszüge daraus zur Verfügung ge‐ stellt hat. 116 Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1984, S. 134. 117 Bracher 1984, S. 83.

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bezieht sich auf einen prägnanten Satz von Robert Musil, um deutlich zu machen, worauf es ihm beim Schreiben vor allem ankommt: Stil ist Genauigkeit. Er versuche in seinen Texten den Leser „zum Zeugen des Nachdenkens“ zu machen, durch das der Ungewissheit das eigene Urteil abgewonnen werde;118 und eben darin bekunde sich sein Respekt vor dem Leser. Als selbstbewusster Stilist, dessen Umgang mit der Sprache schöpferisch, aber nicht spielerisch ist, hat Graf Kielmansegg die Jargonanfälligkeit der Sozialwissen‐ schaften immer wieder problematisiert. Eine längere Besprechung des Hauptwerkes von Dolf Sternberger „Drei Wurzeln der Politik“ im Merkur aus dem Jahr 1979 trägt den vielsagenden Titel: „Auf der Suche nach dem verlorenen Wort“. Es sei erlaubt, eine Passage daraus zu zitieren, die in ihrer polemischen Schärfe etwas untypisch ist für den stets wohltemperierten Autor: „Wer Sternberger liest“, schreibt Graf Kiel‐ mansegg, „wird sich über den Sprachverfall, der sich in den Sozialwissenschaften wie in kaum einer anderen Disziplin ereignet hat, erst recht eigentlich klar. Was heißt im übrigen ´ereignet` hat? Die große Mehrzahl der schreibenden Wissenschaft‐ ler hat ihn in einer Mischung von Professionalisierungseifer, Eitelkeit, Unvermögen und Verantwortungslosigkeit gegenüber der Sprache eifrig befördert. Als ob es nicht auf der Hand läge, dass eine Wissenschaft, die so sehr auf Mitteilung über die engen Zirkel der Eingeweihten hinaus angewiesen ist wie die Sozialwissenschaft, sich selbst zerstört, wenn sie ihre Sprache verludern lässt!“119 Graf Kielmansegg hatte wohl in den drei Jahrzehnten, die seitdem ins Land gegangen sind, keinen Anlass gehabt, optimistischer zu sein; 2010 ist ein Essay erschienen, in dem er „die Sprach‐ losigkeit der Sozialwissenschaften“ thematisiert und beklagt.120 Sollte die Politik‐ wissenschaft hierzulande in der breiten Öffentlichkeit an Bedeutung verloren haben, wie manche beobachtet zu haben glauben, liegt es auf der Hand, dass ihr „Sprach‐ problem“ dafür mitverantwortlich ist. Graf Kielmansegg selbst hat im letzten halben Jahrhundert als öffentlicher Intel‐ lektueller zu grundlegenden Fragen und Problemen des demokratischen Gemeinwe‐ sens der Bundesrepublik Stellung genommen, bevorzugt in größeren Beiträgen für die Monatszeitschrift Merkur, die Wochenzeitung Die Zeit und die Frankfurter All‐ gemeine Zeitung. Er hat sich in der Öffentlichkeit immer wieder zu Wort gemeldet, wenn er den Eindruck hatte, die Demokratie sei gefährdet oder aber das Gemein‐ wohl gerate aus dem Blickfeld der Politik. In der hitzigen Debatte um den Terroris‐ mus und Radikalenerlass hat er die Notwendigkeit der wehrhaften bzw. streitbaren Demokratie gerade auch vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen mit der Weimarer Republik verteidigt, ohne übrigens ihre Schwierigkeiten zu verschwei‐

118 Kielmansegg 1984, S. 88. 119 Kielmansegg 1979, S. 1021. 120 Kielmansegg 2010.

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gen.121 In dem Kontext hat er auch den Umgang der deutschen Politikwissenschaft mit Terrorismus und Gewaltproblematik scharf kritisiert; er machte ihr konkret drei Vorwürfe: Entgrenzung des Gewaltbegriffs, Entfesselung des Demokratiepostulats und Verlust der Wirklichkeit.122 In der leidenschaftlichen Debatte um den Nachrüs‐ tungsbeschluss der Nato vom Dezember 1979 mahnte Graf Kielmansegg vor einer „Flucht ins Gefühl“, vor zu viel Angst und moralischer Empörung.123 Diese Reakti‐ onsweise sei gewiss nicht die richtige Antwort auf die „Brutalität der Fakten“, sie böte kein Ersatz für die „Anstrengung des Denkens“. Gefordert sei vielmehr die „Kraft zu nüchternem, besonnenem Urteil, das der Wirklichkeit standhält, auch da, wo sie uns äußerste Entscheidungen“ abfordere. Niemand könne in dieser Sache ge‐ wiss sein, dass er die richtige Antwort wisse, und niemand dürfe für sich in An‐ spruch nehmen, dass es ihm allein um den Frieden zu tun sei. Ein freies Gemeinwe‐ sen sei auf ein Minimum an Achtung der Bürger voreinander über alle Meinungsge‐ gensätze hinweg angewiesen. Graf Kielmansegg wandte sich als besorgter Bürger entschieden gegen manche radikale Tendenzen der Friedensbewegung, die die de‐ mokratischen Entscheidungsverfahren umgehen zu müssen meinen, um den Frieden sichern zu können; der organisierte und massenhafte Ungehorsam, der den Staat vor die Wahl zwischen Kapitulation und Gewaltanwendung stelle, sei auch dann eine „Vergewaltigung der Demokratie“, warnte Graf Kielmansegg in drastischen Worten, wenn sie auf Körperverletzung und Sachbeschädigung verzichte. Wiederum typisch ist für Graf Kielmansegg, dass er in seiner öffentlichen Intervention die Analyse des konkreten Problems mit grundsätzlichen demokratietheoretischen Überlegungen flankiert: „Was am Ende übrig bleibt, ist die einfache Wahrheit, dass die Vernunft uns keinen anderen Weg weist als den des offenen und fairen Kampfes der Meinun‐ gen, der schließlich nach Regeln entschieden werden muss, die wir einander zumu‐ ten können, den Regeln des freiheitlichen Verfassungsstaates. Auf sie einlassen kann sich nur, wer sich nicht für unfehlbar hält. Auf sie einlassen kann sich nicht, wer nur den eigenen Standpunkt für moralisch möglich hält.“124 Auch ist es bezeichnend für sein intellektuelles, der Polemik abholdes Selbstver‐ ständnis, dass Graf Kielmansegg an dem 1986 durch die Kritik Jürgen Habermas an 121 Kielmansegg 1979a. Es sei hier nur am Rande erwähnt, dass die Weimarer Republik im de‐ mokratietheoretischen Denken Graf Kielmanseggs stets gegenwärtig ist, vor allem durch den dunklen Schatten ihres Scheiterns. Für eine prägnante und positive Würdigung der Weimarer Verfassung, konkret der Stellung des Reichspräsidenten darin, siehe: Kielmansegg 2018a. Es ist bezeichnend für die vielschichtige und umsichtige Betrachtungsweise Graf Kielmanseggs, dass er die Weimarer Verfassung von der Mitverantwortung am Scheitern der Republik weit‐ gehend freispricht, dafür aber die Handlungsspielräume der verschiedenen Akteure und die Engpässe in der politischen Praxis betont. Er kommt zu dem nur scheinbar paradoxen Schluss: Die Weimarer Republik „hätte mit jeder Verfassung scheitern können und musste mit keiner scheitern“, Ebd., S. 238. 122 Kielmansegg 1978. 123 Kielmansegg 1981a. 124 Kielmansegg 1983.

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„apologetischen Tendenzen in der deutschen Zeitgeschichtsschreibung“, insbesonde‐ re an den Thesen von Ernst Nolte zu einem etwaigen ursächlichen Zusammenhang zwischen Bolschewismus und Nationalsozialismus, ausgelösten „Historikerstreit“ nicht unmittelbar teilgenommen hat.125 Er nahm einige Jahre später in einem Büch‐ lein mit dem sprechenden Titel „Lange Schatten. Vom Umgang der Deutschen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit“ Stellung dazu, als die Gemüter sich beru‐ higt hatten und man hoffen durfte, dass zwischen den ideologisch verhärteten Fron‐ ten Platz sein könnte für eine nüchterne und differenzierte Sichtweise. Zu der mittel‐ baren Hinterlassenschaft der nationalsozialistischen Diktatur gehöre, konstatierte Graf Kielmansegg, dass die deutsche politische Kultur wohl auf unabsehbare Zeit durch traumatische Erinnerungen geprägt sein werde: „Es ist ein Aspekt dieser Prä‐ gung, dass wir Demokratie definieren und unser Selbstverständnis als Bürger einer Demokratie gewinnen aus der immer wieder neu zu gewinnenden Absage an die Vergangenheit. Wie könnte es auch anders sein? Aber so unvermeidlich diese Fixie‐ rung auf das dunkle Gegenbild zu dem, was wir sein wollen und vielleicht geworden sind, ist – sie hat eine Unausbalanciertheit unseres Gemütszustandes als Bürger zur Folge, die unserer Demokratie zu schaffen macht.“126 Im Übrigen sei die Gering‐ schätzung verfassungsstaatlicher Legalität, wie sie im Kampf gegen Nachrüstung und Kernkraftwerke in Erscheinung getreten sei, nur eines der vielen Symptome die‐ ser problematischen Befindlichkeit. Und was die Kritik von Habermas angeht, sei auch sie unverkennbar im Sog der Versuchung konstruiert, „den Gegner in den poli‐ tischen Konflikten der Demokratie in den Schatten der Vergangenheit zu stoßen“. Aber die „für das Deutschland nach Hitler konstitutive Legitimitätsformel des bedin‐ gungslosen Neins zu dem Irrweg der zwölf Jahre“ dürfe nicht zu einer „Ausgren‐ zungsformel inmitten der Demokratie“ gemacht werden.127 Schließlich sollte es doch darum gehen, gab Graf Kielmansegg zu bedenken, die „Erinnerung an die äu‐ ßerste Unmenschlichkeit in Impulse der Menschlichkeit zu verwandeln“, denn nur dann ließe sie sich ertragen.128 Nach der Deutschen Einheit stand für einige Zeit die Frage im Raum, ob das wie‐ dervereinigte Land erneut in einen Prozess der Verfassungsgebung eintreten oder aber am Grundgesetz festhalten sollte.129 Graf Kielmansegg plädierte in der öffentli‐ chen Debatte mit Nachdruck dafür, das Grundgesetz nicht zur Disposition zu stellen, denn es habe tiefe Wurzeln geschlagen. Die Legitimität der westdeutschen Demo‐ kratie sei im Kern „Verfassungslegitimität“, dieser Konsens dürfe nicht aufs Spiel gesetzt werden, da niemand wissen könne, ob das mit einer neuen Verfassung gelin‐ 125 Siehe dazu den Dokumentationsband mit den wichtigsten Beiträgen zur Kontroverse: Piper 1987. 126 Kielmansegg 1989a, S. 84. 127 Ebd., S. 93. 128 Ebd., S. 96. 129 Guggenberger/Stein 1991.

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gen würde.130 Ende der neunziger Jahre äußerte sich Graf Kielmansegg anlässlich der Spendenaffäre der CDU zur Krise der Parteiendemokratie;131 die Parteien seien in der repräsentativen Demokratie zwar notwendig, stünden aber stets in der Versu‐ chung, ihre partikularen Interessen über das Gemeinwohl zu stellen. Wenn sich die Parteien und mit ihnen die politische Klasse sich in ihrer Selbstbezüglichkeit ver‐ selbständigten, nehme das Vertrauen der Bürger Schaden und damit die demokrati‐ sche Ämterordnung selbst; deshalb sei die Integrität der Politiker nicht ihre Privatan‐ gelegenheit, sondern ein öffentliches Gut. Die Wirkungen von rechtlichen und insti‐ tutionellen Vorkehrungen seien begrenzt. Wichtiger sei die Entwicklung einer politi‐ schen Kultur, die die Exzesse des Parteienstaates nicht toleriert. Die Demokratie sei immer auch ein „politisch-pädagogisches Unternehmen“, in dem die Öffentlichkeit und Politik sich gegenseitig zur Gemeinwohlverantwortung erziehen sollten. Es liegt auf der Hand, dass Graf Kielmansegg mit seinen öffentlichen Stellung‐ nahmen selbst zur Erfüllung der staatsbürgerlichen Erziehungsaufgabe beitragen möchte. Dabei sind seine Interventionen erkennbar Anwendungen und Übersetzun‐ gen seiner grundsätzlichen demokratietheoretischen Überlegungen auf die jeweili‐ gen politischen Herausforderungen und Problemlagen. So hat Graf Kielmansegg etwa immer wieder gefordert, die europäische Staaten‐ föderation brauche klar umrissene Grenzen, wenn sie mit dem notwendigen Mini‐ mum an demokratischer Legitimität effektiv handeln können sollte; da er letzteres ohne eine politisch-kulturelle Identität und ein Bewusstsein bürgerschaftlicher Zuge‐ hörigkeit für nicht möglich hält, hat er sich gegen einen etwaigen EU-Beitritt der Türkei gewandt, der inzwischen nicht zuletzt aufgrund der autoritären Entwicklung des Landes unter Recep Tayyip Erdoǧan kaum noch eine ernstzunehme Option dar‐ stellt.132 Auf dieser Gedankenlinie liegt auch sein Einspruch gegen die Vergabe der doppelten Staatsangehörigkeit an Migranten türkischer Herkunft, wobei Graf Kiel‐ mansegg sich hierfür auf das republikanische Erbe von Rousseau beruft, an dem er sich ansonsten eher kritisch abarbeitet.133 Bemerkenswert ist auch, dass er für die derzeitige Konjunktur der populistischen Bewegungen, die so manche Schwächen der repräsentativen Demokratie ausnutzen, grundsätzlich Erfahrungen der Entgrenzung verantwortlich macht. Das Bedürfnis des Menschen nach Grenzen sei tief verwurzelt; es gehe dabei um Sicherheit, Zuge‐ hörigkeit, Lebens- und Weltvertrauen. Nicht zuletzt von daher rührt wohl die ent‐ schieden kritische Einschätzung des Internets als ein „anarchisches Kommunikati‐ onsmedium“, in dem selbst elementare Rationalitätsstandards des politischen Dia‐ logs nicht mehr aufrechterhalten seien.134 Das Internet wirke zunehmend als ein Me‐ 130 131 132 133 134

Kielmansegg 1993. Siehe auch Kielmansegg 2011. Kielmansegg 2000a. Kielmansegg 2009a. Kielmansegg 1999a. Kielmansegg 2017.

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dium der Desinformation, konstatiert Graf Kielmansegg, es fördere den Zerfall der Öffentlichkeit in viele selbstreferenzielle Teilöffentlichkeiten, die in Abschottung nebeneinander existierten. Die demokratische Politik bewege sich schon seit Länge‐ rem im Schlepptau der Demoskopie, die „Erregungsstürme im Internet“ erhöhten nun ihre Abhängigkeit von den Stimmungen des Tages.135 Das ist umso bedenkli‐ cher als die repräsentative Demokratie Graf Kielmansegg zufolge aufgrund der Pe‐ riodisierung der Wahlämter, der Logik des Parteienwettbewerbs um Regierungs‐ macht und der Begrenztheit der Zeithorizonte politischer Karrieren und einer immer älter werdenden Wählerschaft eine gegenwartsfixierte Zeitstruktur hervorbringt, die zukunftsverantwortliches politisches Handeln tendenziell erschwert.136 Gegen die populistischen Anfechtungen der Demokratie erinnert Graf Kielman‐ segg daran, dass „das Volk im Singular in der Demokratie zwar ein denknotwendiger Zurechnungspunkt für letztinstanzliche Entscheidungsmacht“, aber am Ende doch nur eine Metapher sei, hinter der sich eine Vielfalt an Interessen und Überzeugungen verbirgt; er verteidigt den diskursiven, von Kompromissen und der Lernbereitschaft aller gekennzeichneten demokratischen Modus der Politik gegen die bequemen Ver‐ einfacher und Verantwortungslosen sowohl unter den Bürgern als auch unter den Po‐ litikern, ohne die Grenzen seiner Problemlösungskapazität zu verschweigen.137 Der diskursive Modus der Politik sei zwar ziemlich erfolgreich in der Bewältigung von Interessenkonflikten, er tue sich aber viel schwerer mit Wertkonflikten und er schei‐ tere oft an Identitätskonflikten. Da nun alle drei Dimensionen zusammenkamen in der hitzigen Debatte der letzten Jahre über Migration und Flüchtlinge, war und ist es wohl schwierig, einen gesellschaftspolitischen Konsens zu erreichen. Graf Kielman‐ segg hat vor kurzem eine strategische Konzeption gefordert, die die Bereitschaft zu helfen mit dem „Willen zur Behauptung des Eigenen“ verbindet. Angesichts der fortgeschrittenen Polarisierung sei es im Umgang mit der Jahrhundertherausforde‐ rung Migration unbedingt erforderlich, eine „Sprache der Mitte“ zu entwickeln, die Raum schaffe für einen vernünftigen politischen Diskurs ohne Feindseligkeiten.138 Auch diese Stellungnahme zeigt, dass Graf Kielmansegg ein politischer Denker der Vermittlung ist, dem Mitte und Maß wichtig sind. Es verwundert daher nicht, dass er davon überzeugt ist, die Demokratie brauche für ihre Stabilität eine starke Mitte; dafür spricht nicht zuletzt der Umstand, wie Graf Kielmansegg eigens feststellt, dass „bei einer durch sozioökonomische Charakteris‐ tika bestimmten Mitte Einstellungen, Mentalitäten, Denk- und Verhaltensmuster in deutlicher Konzentration finden lassen, die in besonderer Weise die Demokratie“

135 Kielmansegg 2016, S. 33. 136 Kielmansegg 2003, S. 585 ff. Kielmansegg 2013, S. 271. Siehe dazu auch die Überlegungen von: Schmidt 2009, S. 498 ff. 137 Kielmansegg 2018. 138 Kielmansegg 2019.

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stützen.139 So betrachtet gibt es auch gute demokratietheoretische Gründe für die So‐ ziale Marktwirtschaft; der demokratische Staat hat nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, die „Marktergebnisse nach Gerechtigkeitskriterien zu bewerten und ge‐ gebenenfalls zu korrigieren“, um zu verhindern, dass die Mitte der Gesellschaft zer‐ fasert.140 Graf Kielmanseggs öffentliche Interventionen erinnern daran, dass die Demokra‐ tie nicht nur eine Grammatik, sondern auch eine ihr gemäße und bekömmliche Spra‐ che hat, die sich von den Sprachen totalitärer und autoritärer politischer Ordnungen unterscheidet.141 Und mit seinem demokratietheoretischen Werk hat Graf Kielman‐ segg einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet, dass die liberale Demokratie hierzu‐ lande verstanden und gelebt werden kann. In dem Zusammenhang sei noch erwähnt, dass Graf Kielmansegg 2001 in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Verdienste und Beiträge zur öffentlichen Debatte aus teilnehmender Sorge um das Gemeinwohl den renommierten Schader-Preis verliehen bekam. In seiner Laudatio bemerkte der Soziologe Friedhelm Neidhardt, Graf Kielmansegg besitze Maßstäbe, „um wichtige Fragen unseres Gemeinwesens von unwichtigen zu unterscheiden“ und er äußere sich zu den wichtigen Fragen mit einer Klarheit und einem „Proportionsgefühl“, die wir der öffentlichen Meinungsbildung umso mehr wünschen müssten, je mehr diese zum großen Palaver zu verkommen drohe.142 Diese Feststellung hat heute mehr Ge‐ wicht und Berechtigung als in dem Jahr, in dem sie formuliert wurde; die Meinungs‐ bildung findet längst nicht mehr hauptsächlich in den Medien der gebildeten bürger‐ lichen Öffentlichkeit statt, an die Graf Kielmansegg im Vertrauen auf die Überzeu‐ gungskraft des guten Arguments sein Wort adressiert. Es kann aber kein Zweifel da‐ ran bestehen, dass das demokratische Freiheitsexperiment auf Dauer nur gelingen kann, wenn die Bürger in den öffentlichen Debatten Argumente austauschen, mög‐ lichst nach bestem Wissen und Gewissen urteilen, das Gemeinwohl nicht aus den Augen verlieren und bereit sind, voneinander zu lernen und Kompromisse einzuge‐ 139 Kielmansegg 2009, S. 63. 140 Zur Geschichte und Bedeutung des umkämpften politischen Konzeptes „Mitte und Maß“ siehe: Münkler 2010. 141 Die politische Sprache der Demokratie lässt sich vor allem in Abgrenzung von den in totalitä‐ ren und autoritären Ordnungen vorherrschenden Sprachmustern idealtypisch charakterisieren; da aber neben der Gleichheit die Freiheit letztlich ihr wichtigster Wesensmerkmal sein dürfte, könnte es schwerfallen, sie substanziell zu bestimmen. Für die Frage, wie sehr die demokrati‐ sche Gleichheitsrevolution auch die Sprache prägt, bietet Tocquevilles Hauptwerk „De la dé‐ mocratie en Amérique“ immer noch eine unerschöpfliche Fundgrube; er beobachtete in den USA mit Sorge, wie „unverbindlich“ die Sprache der Demokratie werden kann, obwohl die durch den fortschreitenden Individualismus permanent auseinanderstrebende Gesellschaft für ihren Zusammenhalt auf mehr Verbindlichkeit gerade auch durch die Sprache angewiesen ist. Siehe dazu Tocqueville 1981 und Avramenko 2017. Im Übrigen lassen sich auch hier Über‐ gänge und Grauschattierungen zwischen den Extremen feststellen, denn politischen „Sprach‐ verfall“ gibt es auch in funktionierenden Demokratien. Siehe dazu nur die aufschlussreichen Überlegungen von Dolf Sternberger und Hans Maier: Sternberger 1991; Maier 1977. 142 Neidhardt 2001.

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hen. Die Politikwissenschaft kann sich glücklich schätzen, wenn sie zu dieser demo‐ kratischen Kultur der Nachdenklichkeit und Freiheit beitragen kann.

6. Die Beiträge des Bandes Seit einiger Zeit wird die politische Ideengeschichte der Bundesrepublik rekonstru‐ iert; die Beiträge wichtiger und einflussreicher Denkschulen wie der Frankfurter Schule und der Ritter-Schule oder einzelner Denker wie etwa Jürgen Habermas, Ralf Dahrendorf und Wilhelm Hennis zur politischen Selbstverständigung der bundesre‐ publikanischen Demokratie wurden in einer Reihe von Studien erschlossen. In einer solchen intellectual history der Bundesrepublik verdiente auch Peter Graf Kielman‐ segg Beachtung, der in großer Selbstständigkeit und beharrlicher Kontinuität sein Verständnis von Politikwissenschaft entwickelt, sein Nachdenken über Demokratie geübt hat. Bisher gibt es aber keine systematischen Bemühungen, das Werk Graf Kielmanseggs in der Gesamtschau zu würdigen, wenn wir einmal absehen von einer Einführungsskizze André Kaisers und Thomas Zittels zu der 2004 von ihnen heraus‐ gegebenen Festschrift für Peter Graf Kielmansegg und dem Portrait-Essay von Alexander Gallus und Ellen Thümmler aus dem Jahr 2014.143 Im vorliegenden Band soll im Rahmen einer ersten Annäherung das historische und demokratietheoretische Werk Graf Kielmanseggs erschlossen und kritisch ge‐ würdigt werden. Die Autorinnen und Autoren sind dankenswerterweise der Einladung des Heraus‐ gebers gefolgt, von ihrer Warte aus das Gespräch mit dem Werk Peter Graf Kielman‐ seggs aufzunehmen. Dabei sollte es nicht nur darum gehen, das Werk Graf Kielman‐ seggs in den historischen Kontext seiner Entstehung und Wirksamkeit einzubetten, sondern zu nutzen für die weitere wissenschaftliche Diskussion. So individuell die sozialwissenschaftlichen Zugänge und erzielten Ergebnisse auch oft geprägt sein mögen: es gibt Raum für die Hoffnung, dass man voneinander lernen kann. Das Werk Graf Kielmanseggs, das im Grenzgebiet der Geschichts- und Politikwissen‐ schaft angesiedelt ist und ungeachtet seiner vielen Schichten und Fäden eine beein‐ druckende Konsistenz aufweist, enthält nicht nur viele Anregungen, die produktiv aufgearbeitet werden können; auch die Form, der Stil und die Herangehensweise Graf Kielmanseggs könnten vor allem die Politik- und Geschichtswissenschaft hier‐ zulande inspirieren. Die Beiträge des vorliegenden Bandes führen exemplarisch vor Augen, wie das Gespräch mit dem Werk Graf Kielmanseggs aussehen und gelingen könnte.

143 Kaiser/Zittel 2004, S. 9-18; Gallus/Thümmler 2014.

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Die Beiträge sind in drei Teile mit jeweils einem thematischen Schwerpunkt ge‐ gliedert, wobei die Grenzen zwischen ihnen fließend sind: erstens Geschichte, zwei‐ tens Demokratie und drittens schließlich Europa, Politikberatung und Öffentlichkeit. Zunächst gibt es aber noch einen einführenden Beitrag von Sandra Wirth, die an einer Werkbiographie Graf Kielmanseggs unter der Obhut von Eckhard Jesse sitzt. Wirth rekonstruiert Graf Kielmanseggs Verständnis von Politikwissenschaft anhand von vier Elementen: Interdisziplinarität, Schlüsselbedeutung der Sprache, Politolo‐ gie als Orientierungswissenschaft, und Wirken in die außerakademische Öffentlich‐ keit. Am Ende spricht sie von einem kontaktfreudigen und wirkmächtigen Einzel‐ gänger, der sich in vielem vom Mainstream der Disziplin abhebt. Den Reigen der Beiträge zum Schwerpunkt „Geschichte“ eröffnet Herfried Münkler mit seinen Überlegungen zur Frage, was die Politikwissenschaft aus der Beschäftigung mit historischen Themen lernen könne, die er am Beispiel Graf Kiel‐ manseggs Buch über den Ersten Weltkrieg entwickelt. Münkler würdigt Graf Kiel‐ manseggs Studie über den Ersten Weltkrieg und lobt insbesondere dessen Beobach‐ tungstiefe, analytische Schärfe und Subtilität. Graf Kielmansegg habe einen ausge‐ prägten Sinn für die „Handlungsspielräume der Politik in dilemmatorischen Konstel‐ lationen der Konfrontation“, und dies sei gewiss eine der zentralen Problem- und Fragestellungen der Politikwissenschaft. Münkler kritisiert die szientistisch-empiri‐ sche Engführung und die damit einhergehende Kurzsichtigkeit der deutschen Poli‐ tikwissenschaft und empfiehlt die Auseinandersetzung mit der Geschichte zur Schu‐ lung politischer Urteilskraft, um einen Denkhorizont für historische Analogien und politische Prognosen gewinnen zu können. Damit könne das Fach nebenbei auch eine größere Deutungsmacht und öffentliche Relevanz erreichen, meint Münkler und schöpft dabei wohl auch aus eigenen Erfahrungen; denn er selbst hat ja nicht zuletzt mit seinen Büchern über den Ersten Weltkrieg und den Dreißigjährigen Krieg ge‐ zeigt, wie das gelingen kann. Der Historiker Jürgen Kocka – neben Wehler der be‐ deutendste Vertreter der sogenannten Bielefelder Schule – würdigt souverän das opus magnum Graf Kielmanseggs. Wer eine zuverlässige und rundum gelungene Geschichte Deutschlands 1945 bis 1990 suche, könne „weiterhin nicht Besseres fin‐ den als Peter Graf Kielmanseggs ´Nach der Katastrophe`“; das Buch sei merkwürdig wenig besprochen worden, stellt Kocka verwundert fest, obwohl es „auf Grund sei‐ ner Substanz, Qualität und Ausgewogenheit eigentlich den Rang eines Klassikers“ besitze. Graf Kielmansegg definiere seine Begriffe scharf, stelle immer wieder sys‐ tematische Bezüge her und reflektiere die historischen Befunde im Licht der politik‐ wissenschaftlichen Demokratie- und Diktaturforschung. Seine Fragestellungen seien nach wie vor von zentraler Bedeutung, auch wenn in der Zukunft vermutlich soziokulturelle und zivilisationsgeschichtliche Dimensionen an Gewicht gewinnen könn‐ ten, die über die deutsche Geschichte hinausweisen.

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Eckhard Jesse unternimmt daraufhin den Versuch, das Werk Graf Kielmanseggs zwischen Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft zu verorten. Zunächst the‐ matisiert er die Unterschiede zwischen beiden Fächern in idealtypischer Zuspitzung: Geschichtswissenschaft wolle das Besondere erfassen, gehe eher chronologisch vor und sei stärker narrativ ausgerichtet, Politikwissenschaft hingegen wolle das Allge‐ meine erfassen, ihre Vorgehensweise sei eher systematisch, analytisch und verglei‐ chend. Gemessen daran sei das große Weltkriegsbuch Graf Kielmanseggs ungeach‐ tet gewisser Anklänge an politikwissenschaftliche Fragestellungen ein historisches Buch, während umgekehrt in seiner monumentalen Geschichte des geteilten Deutschland die politikwissenschaftliche Betrachtungsweise dominiere. Jesse relati‐ viert diese Zuordnungen wieder ein Stück weit, wenn er feststellt, Geschichts- und Politikwissenschaft dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden; sie sollten sich möglichst durch ihre Stärken befruchten und ergänzen. Der Historiker Edgar Wol‐ frum geht in seinem Beitrag auf die „Paradoxien der Erinnerung“ an die NS-Vergan‐ genheit und ihre Präsenz in der Gegenwart ein und zieht dabei die Schriften Graf Kielmanseggs zu Rate. Er findet es besonders fruchtbar, dass Graf Kielmansegg nicht in Kategorien der Rettung oder des Untergangs denkt oder andere schlichte bi‐ näre Zugänge bemüht, sondern stets in Paradoxien. Die für das Thema wichtigste von Graf Kielmansegg formulierte Paradoxie lautet, die Demokratiegründung in der Bundesrepublik sei sowohl trotz als auch wegen der „Unfähigkeit zu trauern“ gelun‐ gen. Wolfrum skizziert zunächst prägnant und engagiert die Schwierigkeiten und Defizite der bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung, um in einem zweiten Schritt die Kehrseiten des schmerzhaften Lern- und Läuterungsprozesses durch die Erinnerung an den Nationalsozialismus am Beispiel der gegenwärtigen Migrationsund Flüchtlingspolitik zu thematisieren. Den zweiten Teil über das Demokratieverständnis Graf Kielmanseggs eröffnet Brigit Enzmann mit ihren Überlegungen zur „Schlechtwetterdemokratie“. Sie rekon‐ struiert die demokratische Legitimitätskonzeption Graf Kielmanseggs mit Kenntnis und Sympathie, aber nicht ohne kritische Distanz. So habe Graf Kielmansegg seine Argumente gegen eine „radikale Lesart von Volkssouveränität“ vorgebracht, die selbst Rousseau nicht in dieser Form vertreten habe. Er messe am Ende dem demo‐ kratischen Legitimationsinput durch gleiche Teilhaberechte zu wenig Bedeutung bei. Gleichwohl kommt Enzmann zu dem Ergebnis, Graf Kielmansegg habe „den Nach‐ weis der Vorzugswürdigkeit des demokratischen Verfassungsstaates gegenüber einer reinen Demokratie seit den 1970-er Jahren wieder und wieder geführt und damit zur Selbstvergewisserung der bundesdeutschen Republik entschieden beigetragen“. Phi‐ lipp Erbentraut würdigt anschließend Graf Kielmanseggs Kritik der Volkssouveräni‐ tät im Vergleich mit Jürgen Habermas und Ingeborg Maus. Der Vergleich der drei Demokratietheoretiker wirkt umso erfrischender, als bisher ein Austausch der Argu‐ mente zwischen ihnen nicht stattgefunden hat. Erbentraut formuliert Bedenken ge‐

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gen Graf Kielmanseggs Kritik an der Volkssouveränitätsdoktrin: es führe sehr wohl eine Brücke von der Autonomieprämisse zur verbindlichen Geltung von Regeln, oh‐ ne dass die Gesellschaft deshalb in Anarchie zerfallen müsse; auch sei nicht einzuse‐ hen, warum mit der Figur des Volkssouveräns notwendig organizistische Vorstell‐ ungen verbunden sein sollten; und schließlich sei die prästabilierte Harmonie zwi‐ schen Volkssouveränität und Menschenrechten keine Fiktion. Am Ende empfiehlt er, an die Räte- und Parteiendiskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts anzuschließen, um die Elemente staatsbürgerlicher Selbstbestimmung zu stärken. Oliver Hidalgo vertieft die Auseinandersetzung mit Graf Kielmanseggs Verständ‐ nis von Volkssouveränität und Repräsentation im Spiegel von Rousseaus Contrat so‐ cial. Rousseau habe in seinem politischen Werk Widersprüche, Gegensätze und Aporien der Moderne aufgezeigt, auch die Widersprüche und Aporien, die Graf Kielmansegg im Hinblick auf Idee und Praxis der Volkssouveränität feststelle, seien in Rousseaus Theorie „zumindest vorgezeichnet“. Zudem zeige sich Rousseau in seinen „praxisnäheren“ Schriften deutlich kompromissbereiter bezüglich der Unver‐ meidlichkeit von Repräsentativorganen, als ihm häufig unterstellt werde. Nach der Lesart Hidalgos liegen Graf Kielmansegg und Rousseau nicht so weit auseinander, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Im Übrigen zeigen die unterschiedli‐ chen, ja gegensätzlichen Interpretationen des Rousseauschen Werks von Habermas und Ingeborg Maus über Iring Fetscher bis hin zu Graf Kielmansegg ihrerseits, wie offen und spannungsvoll, aber auch, wie bedeutend dessen Werk für die demokratie‐ theoretische Diskussion nach wie vor ist. Und zwar vorwiegend, wie Graf Kielman‐ segg selbst einmal festgestellt hat, als Gegenmodell und kritischer Kommentar zur tatsächlichen Entwicklung der modernen Demokratie im 19. und 20. Jahrhundert. Im Anschluss daran setzt sich Tine Stein mit dem brisanten Thema „Flüchtlings‐ krise“ im Lichte der Demokratietheorie Graf Kielmanseggs auseinander. Im Mittel‐ punkt steht dabei die Spannung zwischen Menschenrechten und Grenzen des demo‐ kratischen Verfassungsstaates. Graf Kielmansegg habe nicht nur die Vorzugswürdig‐ keit der repräsentativen Demokratie überzeugend begründet, sondern auch stets um ihre Gefährdungen und Grenzen gewusst. Für die Flüchtlingskrise bedeute dies kon‐ kret: Die Lösung sei weder in einer Politik der offenen Grenzen noch in nationalen Abschottungsstrategien zu suchen; vielmehr gelte es das Sollen und Können bzw. universelle Menschenrechte und partikulare demokratische Staatsbürgerschaft mit‐ einander zu versöhnen, wie das Grundgesetz es vorsehe. Da aber diese Balance zwi‐ schen Öffnung und Abgrenzung unter hohem Problemdruck im Rahmen des störan‐ fälligen demokratischen Systems der Stellvertretung von Willens- und Entschei‐ dungsbildung nicht einfach zu erreichen ist, entstand vielerorts ein diffuses Unbeha‐ gen, das sich mit den populistischen Bewegungen lautstark Luft verschaffte. Hans Vorländer erörtert in seinem Beitrag das Verhältnis von Populismus und re‐ präsentativer Demokratie; der Populismus sei ein Symptom der Demokratiekrise,

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nämlich Ausdruck der Entfremdung von Teilen der Bürgerschaft von der politischen Klasse und dem politischen System. Er könne in seinen progressiven Varianten durchaus zu einer Erneuerung der Demokratie beitragen. Doch was die rechtspopu‐ listischen Strömungen in den europäischen Demokratien angeht, falle es schwer, sie als eine „gute“ Herausforderung zu kennzeichnen, da sie weit über die Sichtbarma‐ chung von Repräsentationsproblemen hinaus die Grundlagen der freiheitlichen De‐ mokratie angreifen. Gleichwohl hofft Vorländer, dass auch ein „Empörungspopulis‐ mus“ am Ende des Tages für die Demokratie als „Frischzellen-Kur“ wirken kann, wenn er nämlich zu einer stärkeren Mobilisierung und Besinnung der demokrati‐ schen Kräfte führt, um die Responsivität der Demokratie zu erhöhen. In dem Zusam‐ menhang stellt sich oft auch die Frage, ob und wenn ja, inwiefern die direkte Demo‐ kratie zur Überwindung der Probleme der repräsentativen Demokratie beitragen könnte. Frank Decker geht in seinem Beitrag just dieser Frage nach; er setzt sich kri‐ tisch mit den Begründungslinien der skeptischen Position Graf Kielmanseggs aus‐ einander. Inzwischen gehe es in der Debatte um die Sinnhaftigkeit einer Ergänzung des Repräsentativsystems um direktdemokratische Verfahren weniger um das Ob als um das Wie und Wieviel. Dabei lieferten Graf Kielmanseggs Analysen zur System‐ verträglichkeit von parlamentarischer Regierungsform und direkter Demokratie „wichtige und wertvolle Orientierungsmarken“. Die empirischen Befunde seien er‐ nüchternd und bestätigten weitgehend Graf Kielmanseggs Skepsis. Gleichwohl sieht Decker selbst größere Spielräume für eine Integration direktdemokratischer Elemen‐ te in der repräsentativen Demokratie, vor allem auf der Landesebene, um die Politik stärker auf das Gemeinwohl zu verpflichten. Der Soziologe Hartmut Rosa versucht in seinem Beitrag das Gemeinwohl als nor‐ mative regulative Idee der Politik in der Demokratie näher zu bestimmen. Dabei geht er von der Annahme aus, Graf Kielmanseggs „ebenso reichhaltiges wie diffe‐ renziertes und oft nuanciertes politisches Denken“ zentriere sich um die Kernidee des Gemeinwohls, die zwar in vielen seinen Schriften auch an zentralen Stellen im‐ mer wieder auftauche, dem er aber vielleicht gerade deshalb bisher keine eigenstän‐ dige Abhandlung gewidmet habe. Rosa definiert das Gemeinwohl als ein Resonanz‐ verhältnis der Bürger zueinander, eine Beziehung des Hörens und Antwortens. Schließlich sei doch das Grundversprechen der Demokratie, dass jeder eine Stimme erhalte, die er oder sie nicht einfach abgibt, sondern auf „antwortende, agierende und reagierende Weise einbringt.“ Rosa zufolge zeichnet sich eine freiheitliche politische Ordnung durch eine lebendige Resonanzkultur aus, während Erstarrung, Entfrem‐ dung und Verdinglichung als alternative Modi politischer Beziehungen eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Eben Letzteres kennzeichnet totalitäre oder autoritäre politische Ordnungen. Graf Kielmansegg gehört zu den Politikwissenschaftlern, die von Anfang an „das Andere“ der Demokratie, nämlich den Totalitarismus, als analytische Herausforde‐

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rung ernstgenommen haben. Uwe Backes analysiert in seinem Beitrag „totalitäre Ordnungen als durchherrschte Ideokratien“, die er im Sinne Graf Kielmanseggs als Gegenentwurf zum demokratischen Verfassungsstaat betrachtet. Zunächst setzt sich der Autor mit den „wegweisenden Beiträgen“ Graf Kielmanseggs zum Totalitaris‐ musthema auseinander, um „wertvolle Einsichten für die Analyse der Autokratien in Geschichte und Gegenwart“ zu gewinnen. In einem zweiten Schritt umreißt er das Konzept der „durchherrschten Ideokratien“. Der Ideokratiebegriff habe schon im 19. Jahrhundert Eingang in die deutsche Staatsformenlehre gefunden; er sei ursprüng‐ lich auf die Jakobinerherrschaft gemünzt, später sei er aber auch auf das bolschewis‐ tische Regime angewandt worden. Den Begriff der „Durchherrschung“ borgt Backes sich von den Sozialhistorikern Alf Lüthke und Jürgen Kocka, die ihn entwickelt ha‐ ben, um die DDR-Gesellschaft besser zu erfassen. Der Autor kommt zu dem Ergeb‐ nis, der Ausdruck „totalitäres Regime“ solle auf „die durchherrschten Formen der Ideokratie“ beschränkt bleiben. Diesseits der Schwelle einer totalitären Herrschaftsparalyse gab es auch in den demokratischen Staaten immer wieder Phasen, in denen sich die Wahrnehmung kri‐ senhafter Erscheinungen zu Narrativen verdichtete. So gab es in den 1970er Jahren in den westlichen Demokratien eine Krisendebatte, die unter dem Stichwort „Unre‐ gierbarkeit“ geführt wurde. In der Bundesrepublik wurde diese Krisendebatte maß‐ geblich geprägt durch zwei Sammelbände, die von Wilhelm Hennis, Peter Graf Kiel‐ mansegg und Ulrich Matz herausgegeben wurden. Vincent August rekonstruiert in seinem Beitrag die Unregierbarkeitsdebatte im Kontext der siebziger Jahre als Symptom einer politischen Sinnkrise, die fundamen‐ tale Zweifel an der Modernisierung der Gesellschaft und Souveränität des Staates aufkommen ließ. In seinem Annäherungsversuch unterscheidet August nicht nur zwischen den konservativen Krisentheoretikern wie Hennis und Graf Kielmansegg und ihren linken neomarxistischen Kritikern wie Habermas und Claus Offe, sondern macht darüber hinaus weitere wirkmächtige Deutungslinien aus, die er als „neolibe‐ rale und technologische Staatskritik“ zusammenfasst; zu dieser dritten Gruppe, die sich dem politischen Links- und Rechtsschema entzieht, werden Autoren wie Michel Crozier, Niklas Luhmann und Michel Foucault gezählt. Sie hätten einer analytischen Dezentrierung des Staates das Wort geredet und gegen das starke Amtsethos der Westminster-Demokratie die Kontingenz der Institutionen und ihrer Funktionen her‐ vorgehoben und damit einem instrumentellen Staatsverständnis den Weg geebnet – mit problematischen Folgen bis in unsere Gegenwart hinein. Der letzte Teil des Bandes enthält drei Beiträge, die sich mit weiteren wichtigen Aspekten des politischen Denkens und Wirkens Graf Kielmanseggs auseinanderset‐ zen. Marcus Höreth würdigt in seinem Beitrag Graf Kielmanseggs Zeit seines aka‐ demischen Lebens unternommene Bemühungen, den demokratischen Verfassungs‐

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staat als eine voraussetzungsreiche Hervorbringung der gesamten europäischen Ge‐ schichte zu verstehen. Dabei sei die Europäische Union ihrerseits nur sehr bedingt demokratiefähig, weil die Voraussetzungen dazu nicht gegeben seien; es gebe kein europäisches Volk, kei‐ ne belastbare kollektive Identität, auch keine intermediären Vermittlungsstrukturen wie Medien, Parteien, Verbände und Bürgerbewegungen auf der europäischen Ebe‐ ne, die geeignet wären, eine europäische Demokratie zu legitimieren. Höreth weist die utopischen Entwürfe von Autoren, die der Europäischen Union einen großen In‐ tegrationssprung nach vorne empfehlen und sie als Republik verfassen wollen, als nicht machbar und zumutbar zurück. Stattdessen plädiert er ganz im Sinne Graf Kielmanseggs für eine vorsichtige pragmatische Gangart im Integrationsprozess; die Europäische Union soll sich weiterhin auf die vermittelte Legitimation durch die na‐ tionalstaatlichen Institutionen stützen und sich stärker auf ihre Fähigkeit konzentrie‐ ren, Probleme zu lösen, die von den Nationalstaaten nicht mehr alleine gelöst wer‐ den könnten. Höreth empfiehlt am Ende mit Nachdruck, bei der intellektuellen Neu‐ gründung Europas die fundierten Diskussionsbeiträge Graf Kielmanseggs zu beach‐ ten. Daran schließt sich der Beitrag von Felix Wassermann über das „Heilsverspre‐ chen der Politikberatung“ an, in dem Graf Kielmanseggs Überlegungen zu Chancen und Problemen der Politikberatung in der Demokratie vielfach herangezogen und gewürdigt werden. Graf Kielmansegg würde sich selbst wohl nicht als Politikberater bezeichnen, meint der Autor; gleichwohl habe er die Politikwissenschaften immer „irgendwie“ als eine praktische Wissenschaft und als eine beratende Disziplin betrie‐ ben. Wassermann erschließt in seinem anregenden Beitrag die Bedeutung dieses „ir‐ gendwie“ im politischen Denken und Wirken Graf Kielmanseggs. Er habe nicht nur in seinem wissenschaftlichen und publizistischen Werk immer wieder die Bedingun‐ gen und Möglichkeiten politischer und gesellschaftlicher Beratung durch Wissen‐ schaft im Allgemeinen und Politikwissenschaft im Besonderen erkundet, sondern auch durch sein wissenschaftspolitisches und ehrenamtliches Wirken in herausgeho‐ benen Ämtern das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in Deutschland maßgeblich mitgeprägt. Dabei findet Wassermann es besonders auf‐ schlussreich, dass Graf Kielmansegg vor allem in den Akademien der Wissenschaf‐ ten einen relativ idealen Ort für die Politikberatung erblickt, weil diese etwa im Un‐ terschied zu den Universitäten von Aufmerksamkeits- und Bedeutsamkeitszwängen entlastet seien und daher besser als gemeinwohlverantwortlicher Reflexions- und Deliberationsraum fungieren könnten. Im letzten Beitrag schließlich würdigt und porträtiert Ellen Thümmler Peter Graf Kielmansegg als „public intellectual“ der Bundesrepublik. Ihre Spurensuche kon‐ zentriert sich vor allem auf seine öffentlichen Stellungnahmen in der Monatszeit‐ schrift Merkur und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Zunächst nähert sich

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Thümmler der Gestalt des öffentlichen Intellektuellen als Zeitdiagnostiker und sei‐ nes Verhältnisses zum Wissenschaftler und Experten, sodann profiliert sie den Mer‐ kur und die FAZ als „Leitmedien“ in der Bundesrepublik, um schließlich in einem dritten Schritt die politischen Debattenbeiträge Graf Kielmanseggs systematisch zu erschließen. Mit seinen öffentlichen Interventionen habe der Gelehrte zur Vergewis‐ serung der demokratischen Ordnung und zum Ausbau eines bürgerschaftlichen Geis‐ tes beitragen wollen, und zwar von einer konservativen Warte aus. So sei seine rhe‐ torische Strategie des Erläuterns und Vermittelns in den politischen Debatten in der Regel „gegen eine Linkswendung“ positioniert. Auch betont die Autorin den engen inhaltlichen Zusammenhang zwischen dem wissenschaftlichen Werk und den öffent‐ lichen Wortmeldungen Graf Kielmanseggs; selbst der sprachliche Stil ändere sich in den Texten für die Tageszeitungen kaum, er sei notwendig kürzer, pointierter, mitun‐ ter auch ironisch, aber immer die Leser im Sinne eines „Wir“ ansprechend, mitneh‐ mend und verpflichtend. Während Graf Kielmansegg also die Grammatik der De‐ mokratie ausbuchstabiert, spricht er selbst im demokratischen Geist. Was liegt da nä‐ her, als unsererseits das Gespräch mit ihm aufzunehmen?

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Sandra Wirth Nachdenken über Demokratie – Peter Graf Kielmanseggs Verständnis von Politikwissenschaft

Das Bonner Beethoven-Gymnasium bot dem jugendlichen Peter Graf Kielmansegg dank seiner Lage nahe am Rhein einen Blick auf das weiter südlich gelegene Bun‐ destagsgebäude. Direkt am Ort des Geschehens war dem Schüler die Entstehung der neuen deutschen Demokratie allgegenwärtig. Den parlamentarischen Debatten lauschte er seiner Erinnerung nach ehrfürchtig und tief beeindruckt über das Radio. Sein Vater Johann Adolf Graf von Kielmansegg, selbst beteiligt am Aufbau der Bun‐ deswehr, nahm ihn 1952 mit auf die Zuschauertribüne des Bundestages.1 In diesen frühen Jahren fanden sein Interesse an der öffentlichen Sache und dem Nachdenken über die (repräsentative) Demokratie ihren Ausgangspunkt, seither durchdringen sie das akademische Werk Kielmanseggs. Vier Bausteine tragen dessen Wissenschaft von der Politik: die Interdisziplinarität, die Schlüsselbedeutung von Sprache, das Verständnis der Politikwissenschaft als Orientierungswissenschaft sowie sein Wir‐ ken in die außerakademische Öffentlichkeit.

1. Erster Baustein: Die Interdisziplinarität Bereits in frühen Studienjahren stellt Kielmansegg sein Interesse am Blick über den vielzitierten Tellerrand unter Beweis: Der Weg in die akademischen Kreise führte ihn 1957 zunächst zur Jurisprudenz an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Univer‐ sität in seinem Heimatort Bonn. Seine Entscheidung für ein Studienfach war dabei keineswegs vorgezeichnet: Weder Vater, Mutter, noch der ältere Bruder hatten stu‐ diert – obgleich sein Vater Johann Adolf sich sehr für Geographie, Geschichte und Staatswissenschaften interessierte, blieb ihm eine akademische Bildung aus finan‐ ziellen Gründen versagt.2 Dem jungen Peter Graf Kielmansegg war schnell klar, dass für ihn eine Offizierslaufbahn – in Fortsetzung der „jahrhundertealte[n] Famili‐

1 Vgl. Kielmansegg 2015, S. 17. 2 Vgl. Feldmeyer/ Meyer 2007, S. 3f.

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entradition“3 – nicht in Frage kam. Als Angehöriger der „weißen Jahrgänge“4 wurde er zudem nie direkt mit einer solchen Karriereoption konfrontiert. Obendrein war er damals der Überzeugung, jemand zu sein, „der sich nicht so ganz leicht in sehr strik‐ te Hierarchien einfügt und nach Kommando morgens aufsteht“5. Anfangs war seine Motivation für das Studium noch wenig zielgerichtet: „Ich hatte im Grunde relativ wenig Ahnung, […] was mich da eigentlich erwartet, denn damit hat man ja in der Schule überhaupt nichts zu tun. […] Aber man weiß, dass es so‐ zusagen die Qualifikation für alle mögliche Berufe ist, die in den Öffentlichen Dienst führen können und das genügte mir eigentlich. Von der Vorstellung man könnte dann Di‐ plomat werden oder man könnte irgendwie in der Ministerialverwaltung tätig werden bis hin zu der Vorstellung man könnte als Richter tätig werden. Im Hintergrund war viel‐ leicht doch schon das Gefühl, dass der öffentliche Raum, der politische Raum etwas sei, das mich besonders interessiert, das da auch hineingewirkt hat in meine Entscheidung eben Jura zu studieren. […] Vielleicht habe ich auch im Grunde das Gefühl gehabt und das war ja dann auch vollkommend treffend in der Selbsteinschätzung: Ich bin jemand der über Dinge nachdenken will. Und ich brauche erstens eine Ausbildung, die mich so‐ zusagen mit dem Handwerkszeug dazu ausstattet und ich brauche dann auch einen Beruf in dem ich die Chance habe, das zu praktizieren.“6

Insbesondere das Zivilrecht im ersten Semester war für ihn etwas sehr Abstraktes. So begann er, allerlei Nebenveranstaltungen zu besuchen: „Also wenn man so das Vorlesungsverzeichnis durchblätterte, […] dann sah man tausend Dinge, die einen noch interessierten und dachte: ‚Also das musst du noch machen‘ – von der Musik‐ wissenschaft bis zur Vererbungslehre.“7 Schnell stellte sich heraus, dass ein solches Pensum neben dem Jurastudium unmöglich durchzuhalten war. Gepackt vom Ehr‐ geiz und entgegen dem Rat seiner Kommilitonen, wie er rückblickend zu berichten weiß, nahm er sich ab dem ersten Semester dennoch vor, ein Nebenfach zu studie‐ ren. Seine Wahl fiel auf die Geschichtswissenschaft – eine Disziplin, die ihn schon zu Schulzeiten fasziniert hatte. Da ihm der Norden näher lag als der Süden und da er ungern an einer Großstadt‐ universität studieren wollte, führte ihn sein Weg von Bonn aus weiter an die Kieler Christian-Albrechts-Universität und ein Jahr später an die Eberhard-Karls-Universi‐ tät in Tübingen, an der der Historiker und Bismarck-Kenner Hans Rothfels lehrte. Diesem verdankte Kielmansegg seine erste akademische, geschichtswissenschaftli‐ che Publikation: Im Zuge einer Lehrveranstaltung über die Münchner Konferenz 3 Gallus/Thümmler 2014, S. 419. 4 Gemeint sind jene zehn Geburtsjahrgänge, die weder im Zweiten Weltkrieg noch in der Bundes‐ wehr zum Wehrdienst einberufen wurden und somit weder vor 1945, noch nach 1956 Soldaten waren. Peter Graf Kielmansegg wurde am 27. Juni 1937 geboren und gehörte damit ganz knapp nicht mehr zu den Einberufenen (Stichtag 1. Juli 1937). 5 Kielmansegg 2015, S. 8. 6 Ebd., S. 7-9. 7 Ebd., S. 20.

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von 1938 verfasste er eine Seminararbeit über die Hoßbach-Besprechungen. Auf Umwegen war ihm empfohlen worden, diese in den von Hans Rothfels und Theodor Eschenburg herausgegebenen Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte zu veröffentli‐ chen. Rothfels zeigte sich keinesfalls abweisend und gab dem damals 23-jährigen Studenten neben vielen Literaturhinweisen und Ratschlägen schließich die Möglich‐ keit, seinen überarbeiteten Aufsatz zu veröffentlichen.8 Kielmanseggs „Studien-Rundreise“ endete schließlich in Bonn, wo er sich auf sein erstes Staatsexamen vorbereitete, das er 1961 dem Oberlandesgericht Köln ab‐ legte. Im Anschluss daran, wollte er vor allem sich selbst beweisen, dass er sein Ge‐ schichtsstudium „nicht nur so als Liebhaber nebenbei betrieben […], [sondern] es auch in diesem Fach zu einer gewissen professionellen Reife gebracht hatte“9. In reichlich zwei Jahren fertigte er bei dem konservativen Preußen-Historiker Walther Hubatsch, einem Kenner der Schriften des Freiherrn vom Stein, seine Dissertation „Freiherr vom Stein und die Zentralverwaltung der Verbündeten Mächte in den Jah‐ ren 1813 und 1814" an. Mit dieser wurde er 1964 im Fach Neuere Geschichte an der Universität Bonn promoviert. Gleichwohl er sich schon zu Studienbeginn für den öffentlichen Raum interessier‐ te und ihm eine politikwissenschaftliche Tätigkeit durchaus als mögliches Berufsziel präsent war, ließen seine Studienpläne nur vereinzelt Schnittpunkte zu: Er hörte je eine Vorlesung von Karl Dietrich Bracher in Bonn und Michael Freund in Kiel, zu Theodor Eschenburg kam er in seiner Tübinger Zeit nicht. Die entscheidende Wei‐ chenstellung in Richtung Politischer Wissenschaft erfolgte mit einer gewissen Ver‐ zögerung erst nach der Promotion durch ein Stellenangebot des Darmstädters Eugen Kogon. Die günstige Gelegenheit kam dem bis dahin beruflich noch Unentschlosse‐ nen zu pass und eröffnete ihm einen Einblick in die noch im Aufbau begriffene Dis‐ ziplin. Der „Reiz des Unfertigen“10 lockte Kielmansegg und zugleich tat er sich mit der Orientierung in dem für ihn neuen Fach schwer. Ihm fehlte in dieser Zeit das Vorbild eines Politologen, der in einer Person seine späteren Vorstellungen vom Fach verkörperte. Auch von Kogon gingen keine konkreten Vorgaben aus, sodass Kielmansegg sich in relativ großer Freiheit und Selbstständigkeit seinen eigenen „Baukasten“ der Politikwissenschaft zusammenstellen konnte. Spätestens seit der Habilitation sollte dieser sein akademisches Schaffen bestimmen. Die Veröffentlichungen seiner ersten Assistentenjahre an der Technischen Hoch‐ schule Darmstadt in den 1960er Jahren verweisen noch deutlich auf die geschichts‐ wissenschaftliche Prägung: Allen voran ist hier das gut 700-seitige Werk über den Ersten Weltkrieg von 1968 zu nennen, welches er auf thematischen Anstoß seines 8 9

Vgl. ebd., S. 23; Kielmansegg 1960. Kielmansegg 2015, S. 21; Hierfür kam nur die Promotion infrage, da das Staatsexamen auf den Lehrerberuf ausgerichtet war und es hierfür zweier Fächer bedurft hätte. Ein akademischer Ab‐ schluss im gleichen Fach war keine Voraussetzung zur Erlangung des Doktorgrades. 10 Ebd., S. 21.

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Doktorvaters Hubatsch hin in drei Jahren fertigstellte.11 Diesem folgten bis Ende der 1960er Jahre ein Zeitschriftenaufsatz sowie ein Sammelbandbeitrag, die sich eben‐ falls mit Aspekten der Zeitgeschichte auseinandersetzten.12 Für seine politikwissen‐ schaftliche Habilitationsschrift – mit dieser Perspektive war die Assistentenstelle verbunden – wollte er die historische Dimension mit einem politiktheoretischen Thema verbinden. In „Volkssouveränität als Legitimationsproblem“ beginnt er seine Erörterung, inwieweit die traditionelle Volkssouveränitätsformel zur normativen Be‐ gründung des demokratischen Verfassungsstaates ausreicht, mit einem gut 150-seiti‐ gen Ritt durch die europäische Entwicklungsgeschichte der Doktrin. Rückblickend beschreibt sich Kielmansegg selbst als einen „zum Politikwissen‐ schaftler gewordene[n] […] Historiker“.13 Wenngleich der politologische Anteil in seinem Gesamtwerk berufsbedingt dominanter ausfällt – er lehrte von 1971 bis 2002 als Professor für Politikwissenschaft in Köln und Mannheim –, ist dieses seit Beginn seiner akademischen Karriere vom Oszillieren zwischen den Fächern geprägt: In den demokratietheoretischen Arbeiten schimmert sein historisches und ideengeschichtli‐ ches Interesse ebenso deutlich durch, wie der analytische Blick des Politologen seine geschichtswissenschaftlichen Abhandlungen durchzieht – die Habilitationsschrift so‐ wie sein Opus magnum zur Geschichte des geteilten Deutschlands14 legen davon beispielhaft Zeugnis ab. Überdies sucht Kielmansegg auch auf anderen Ebenen den interdisziplinären Austausch: Im Rahmen seiner vielfältigen ehrenamtlichen Tätigkeiten in Akademi‐ en, Stiftungen, Fachvereinigungen, Beiräten und Initiativen lernte er eine Reihe von Vertretern anderer Disziplinen sowie deren spezifische Fragestellungen und Heran‐ gehensweisen kennen. Einige seiner Ämter übte er über viele Jahre hinweg aus: In der Studienstiftung war er zunächst als Stipendiat, in den folgenden Jahrzehnten als Vertrauensdozent und Vortragender bei den Sommerakademien und schließlich bis 2007 als Vizepräsident tätig. Er engagierte sich daneben im wissenschaftlichen Beirat der Fritz Thyssen Stiftung, im Kuratorium der Stiftung Wissenschaft und Po‐ litik, als Präsident der Heidelberger Akademie und in der wissenschaftlichen Kom‐ mission des Wissenschaftsrates, zudem ist er Mitglied in den beiden Fachvereini‐ gungen: Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) und Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft (DGfP). Einige Jahre lang war er zudem für die Veranstaltungsreihe Mainauer Gespräche zu gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit tätig. 1957 durch die Lennart-Bernadotte-Stiftung ins Leben gerufen, hatte diese zum Ziel, namhaften Personen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Medien ein Gesprächsforum über den Erhalt und die Pflege der Umwelt zu bieten.15 Über per‐ 11 12 13 14 15

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Vgl. Kielmansegg 1968. Vgl. Kielmansegg 1969a und Kielmansegg 1969b. Kielmansegg 2007, S. 677. Vgl. Kielmansegg 2000. Vgl. Brickwedde 1999, S. 131.

sönliche Kontakte kam Kielmansegg im Lauf der 1980er Jahren in den vorbereiten‐ den Ausschuss. Einige Jahre lang fungierte er fortan als Sprecher und Herausgeber der jährlichen Tagungsbände. Der wohl ungewöhnlichste Blick über den fachlichen Tellerrand ergab sich für ihn durch die Deutsche Akademie für Technikwissenschaft (acatech). Aufgrund sei‐ ner Einbindung in die Akademienlandschaft war er als ex officio-Mitglied des Vor‐ standes an der Umwandlung des Konvents für Technikwissenschaften hin zur eigen‐ ständigen Akademie beteiligt und er ist seither Mitglied.

2. Zweiter Baustein: Schlüsselbedeutung der Sprache Einen weiteren zentralen Baustein der Wissenschaft Kielmanseggs markiert die Schlüsselbedeutung der Sprache. Seiner Überlegung nach verortet sich jede Diszi‐ plin auf einer Skala zwischen esoterischem und exoterischem Sprechen. Auf der einen Seite spricht die Wissenschaft mit sich selbst, auf der anderen Seite ist sie auf den Dialog mit der Welt angewiesen, „weil wissenschaftliche Erkenntnis nur im Ge‐ spräch mit der Welt das Bild, das wir von der Welt haben, prägen, formen, bestim‐ men kann. […] Wissenschaft ist […] als Unternehmung [gedacht worden], die uns in ein neues Verhältnis zur Welt setzen will. Deshalb muss die Welt teilnehmen an der systematischen Bemühung der Wissenschaft, die Welt zu verstehen.“16 Wie sich ein Fach letztlich artikuliert, entscheiden objektive Gegebenheiten – etwa der Untersu‐ chungsgegenstand, die Methodik und die Art der Erkenntnisse – sowie das disponi‐ ble Selbstverständnis – die Kultur des Faches. Insbesondere den deutschen Sozialwissenschaften attestiert Kielmansegg ein Sprachproblem. Obwohl sie „gute Gründe hätten, vorzugsweise exoterisch, so exote‐ risch wie möglich zu sprechen, […] [haben sie] eine ausgeprägte Neigung ent‐ wickelt […], so esoterisch wie möglich zu sprechen“17. Gerade sie sind allerdings im besonderen Maße darauf angewiesen, mit ihrem Untersuchungsobjekt – der so‐ zialen Welt – zu kommunizieren: Einerseits werden in dieser Fragen und Probleme identifiziert, die im Zuge wissenschaftlicher Reflexion für die Erkenntnissuche rich‐ tungsweisend sind. Andererseits entscheidet sich in dieser Kommunikation, ob die sozialwissenschaftlichen Aussagen über die beobachtete Welt valide sind. Schließ‐ lich vollzieht sich der Beobachtungsprozess hauptsächlich in der Kommunikation zwischen Subjekt und Objekt. „Sozialwissenschaften, die sich die Möglichkeiten nehmen, mit der sozialen Welt, die sie beschreiben und erklären wollen, zu kommu‐ nizieren; oder umgekehrt: Sozialwissenschaften, die der sozialen Welt, die sie be‐ schreiben und erklären wollen, die Möglichkeit nehmen, mit ihnen, den Sozialwis‐ 16 Kielmansegg 2010, S. 94. 17 Ebd., S. 95.

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senschaften zu kommunizieren, beschädigen eine essentielle Voraussetzung sozial‐ wissenschaftlicher Erkenntnis.“18 Gründe für die Neigung zum esoterischen Sprechen sieht Kielmansegg erstens im willkommenen Verfremdungseffekt: Da Sozialwissenschaft über Wirklichkeit be‐ richtet, die grundsätzlich für jeden erfahrbar ist, muss sie nicht selten mit außerwis‐ senschaftlichen Primärerfahrungen konkurrieren und sich gegen sie ausweisen. „Die sprachliche Verfremdung […] dient dem Nachweis, dass Wissenschaft etwas Ande‐ res, Besonderes mitzuteilen hat. Je weniger das tatsächlich der Fall ist, desto wichti‐ ger wird die sprachliche Verfremdung.“19 Zweitens folgt sie aus einer verstärkten Tendenz zur Mathematisierung sozialwissenschaftlichen Sprechens. „In der forma‐ len Sprache der Mathematik gewinnen alle Aussagen eine Präzision, eine Transpa‐ renz, eine Stringenz, die anders nicht zu haben sind […]. Die Mathematik erscheint als die Sprache der Wahrheit. Und welche Wissenschaft möchte nicht die Sprache der Wahrheit sprechen?“20 Hierin liegt zudem das Bedürfnis verborgen, einen Grad an Sicherheit und Gewissheit für sozialwissenschaftliche Aussagen zu behaupten, der den Naturwissenschaften gleichkommt. Einen dritten Grund sieht Kielmansegg in der Selbstbezüglichkeit der Gesell‐ schaftswissenschaft. Die Sprache wird im Zuge des übersteigerten Wettbewerbs um Reputation und Einfluss zur Demonstration exklusiver Professionalität genutzt. Hin‐ ter dieser Entwicklung vermutet er gerade in der deutschen Wissenschaftslandschaft „ein untergründiges Gefühl der Schwäche, der Unsicherheit, des Nicht-Ernst-Ge‐ nommen-Werdens, das die Sozialwissenschaften veranlasst, ihren Rang als Wissen‐ schaft besonders zu betonen, gerade auch in ihrer Redeweise.“21 Ein gelassenes Selbstbewusstsein ist essentiell, um die esoterische durch eine der Öffentlichkeit zu‐ gewandte Sprache zu ersetzen, denn es gilt: „Man hört nicht aufmerksam zu, wenn man nicht gut verstehen kann.“22 In diese Überlegungen betten sich seine eigenen Arbeiten ein, drei sprachliche Charakteristika treten dabei zutage: Erstens ist das wissenschaftliche Nachdenken für Kielmansegg eng mit seiner Muttersprache verbunden, sein Œuvre ist daher fast ausschließlich auf Deutsch verfasst. Obgleich er im Zuge seines Postdoc-Studiums in Oxford sowie seiner beiden Gastprofessuren an der Georgetown University Wa‐ shington D.C. und am Bologna Center der Johns Hopkins University intensiver mit der englischsprachigen Politikwissenschaft in Berührung gekommen war, publizierte er nur wenige fremdsprachige Aufsätze. Zu wichtig ist ihm die Beherrschung einer Sprache in all ihren Feinheiten und Nuancen, um zugunsten eines größeren Leser‐ kreises und der internationalen Rezeption auf jenes Instrument zu verzichten. Die 18 19 20 21 22

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Ebd., S. 96. Ebd., S. 98. Ebd., S. 98. Ebd., S. 101. Ebd., S. 93.

Beschränkung auf den deutschsprachigen Raum ist für ihn nicht gleichbedeutend mit einer Verdammung zur Provinzialität. Für ihn geht die (deutsche) Sprache als Kul‐ turgut mit der Verantwortung einher, diese lebensfähig zu erhalten und an kommen‐ de Generationen weiterzugeben.23 Zweitens verfasst Kielmansegg seine Texte weitgehend frei von sozialwissen‐ schaftlichem Jargon. Die Politikwissenschaft soll, „so hört man es gelegentlich von Spöttern, […] [nicht mit] der Meteorologie zu vergleichen [sein]. Beide Wissen‐ schaften redeten täglich von dem, wovon ohnehin alle redeten, aber dies in einer Sprache, die niemand verstehe.“24 Schon in seinen frühen Arbeiten kritisiert er ins‐ besondere Vertreter der „kritischen Politikwissenschaft“ für ihren bemüht kompli‐ zierten Sprachstil, der oft nur über theoretische Schwächen und mangelnde Argu‐ mentationskraft hinwegtäusche.25 Geleitet von dem Credo „Wer schreibt, geht mit der Sache um, über die er schreibt, und mit dem Leser, für den er schreibt“26, be‐ müht sich Kielmansegg in komplexen Argumentationszusammenhängen um allge‐ mein verständliche und zugleich präzise Formulierungen. Da es die „erste, elementa‐ re Aufgabe der Wissenschaft von der Politik [ist,] […] für die Integrität der Grund‐ begriffe unserer politischen Sprache“27 zu sorgen, darf sie sich in ihrem Nachdenken über Prämissen und Implikationen von Begriffen „weder naiv stellen noch sich mit wolkiger Unbestimmtheit zufriedengeben“28. Ein Großteil seiner Aufsätze und Zei‐ tungsartikel verhandelt komplexe demokratietheoretische Zusammenhänge und setzt allein aufgrund in seiner argumentativen Dichte ein gewisses Bildungsniveau des Lesers voraus. Drittens legt Kielmansegg großen Wert auf die sprachliche Strukturierung der Ar‐ gumentation. In seinen Texten nimmt er den Leser auf eine charakteristische, fragen‐ de Reise des Nachdenkens mit.29 Eine Fülle an einleitenden Fragen, Rück- und Nachfragen sowie Zwischenzusammenfassungen bildet den roten Faden seiner Es‐ says, treibt die Erkenntnisse voran, wägt ab und prüft sie postwendend, sie zeugt zu‐ gleich von einer überdeutlich pädagogischen Bemühung. So strukturiert, erwecken Kielmanseggs Texte den Eindruck eines Zwiegesprächs des Autors mit sich und zu‐ gleich illustrieren sie den schmalen Grat, „zu seinen Zweifeln an der Möglichkeit der Gewissheit ebenso zu stehen wie zu seiner Überzeugung von der Vernünftigkeit der eigenen Argumente. Dieser Weg macht den Leser zum Zeugen des Nachden‐ 23 Vgl. Kielmansegg 2016d, S. 11 f. Seine Monographien wurden bisher nicht übersetzt, konkrete Anstöße im Fall der Bücher über den Ersten Weltkrieg sowie zum geteilten Deutschland verlie‐ fen im Sand. 24 Kielmansegg, 1988a, S. 10. 25 Vgl. Kielmansegg, 1977, S. 195. 26 Kielmansegg 1983. 27 Kielmansegg 1988a, S. 14. 28 Kielmansegg 1977, S. 248. 29 Zittel und Kaiser bezeichnen es als „gezielte Form des nachforschenden Fragens“. Vgl. Zittel/ Kaiser 2004, S. 10.

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kens, durch das der Ungewissheit das eigene Urteil abgewonnen wird.“30 Diese geis‐ tigen Auseinandersetzungen führt er stets mit Kugelschreiber auf Papier. In Ausnah‐ mefällen überdenkt er einzelne Formulierungen mehrere Tage lang, bis sie ihn an in‐ haltlicher Substanz und klarem Ausdruck zufriedenstellen. Angesichts dieser herausgehobenen Bedeutung von Sprache in seinem Werk ist es leicht nachvollziehbar, dass die Auszeichnung mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa durch die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung 1983 für ihn persönlich die größte Ehrung darstellt.31 Umso mehr grämt er sich nach eigener Aussage, wenn seine Absatzeinteilung und Überschriften aus optischen oder verkaufsstrategischen Erwägungen in Zeitungen so verändert werden, dass sie die Argumentationsstruktur verwaschen oder vermeintlich den Leser an der Ernsthaftig‐ keit des zugrundeliegenden Textes zweifeln lassen.32 Im Kontrast dazu erstaunt sei‐ ne eigene Nachlässigkeit, die ihm zuweilen bei der Titelwahl unterläuft: Einige Auf‐ sätze sind in unterschiedlichen Zusammenhängen, teils unter gleichen, teils unter veränderten Überschriften erschienen. Die Neuauflagen überarbeitete er geringfügig, jedoch enthalten nicht alle Schriftstücke einen Verweis auf den Ursprungstext. Bei‐ träge mit dem Titel „Lässt sich die Europäische Union demokratisch verfassen?“ wurden insgesamt viermal abgedruckt – zuerst 1994 in der Europäischen Rund‐ schau, dann 1995 in Werner Weidenfelds Band „Reform der Europäischen Union“. Im Buch Frank Deckers und Marcus Höreths „Die Verfassung Europas“ erschien 2009 ein anders strukturierter Text, der 2015 in Kielmanseggs Monographie „Wohin des Wegs Europa?“ erneut veröffentlicht wurde. Unter verschiedenen Überschriften hingegen firmiert der erstmals 1985 in „Aktuelle Herausforderungen der repräsenta‐ tiven Demokratie“ von Ulrich Matz veröffentlichte Beitrag „Die Quadratur des Zir‐ kels“. Im Jahr 1988 nahm Kielmansegg ihn unter dem Titel „Die zweitbeste Lö‐ sung?“ im Band „Das Experiment der Freiheit“ auf, 2013 erschien er als „Zweiter Versuch. Die Quadratur des Zirkels. Überlegungen zur Identität der repräsentativen Demokratie“ in „Die Grammatik der Freiheit“.33

30 Kielmansegg, 1983, o. S.. 31 Vgl. Kielmansegg, 2016d, S. 15. Geehrt wurde Peter Graf Kielmansegg außerdem mit dem Schader-Preis (2001), der Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg (2002) sowie dem Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland (2006). 32 Über seinem am 23. Januar 1990 erschienenen Artikel, in dem er sich für die Beibehaltung des Grundgesetzes und gegen eine neue gesamtdeutsche Verfassung aussprach, setzte Die Zeit den Titel „Grundgesetz über alles“. 33 Nicht auf ihre vorgenannten Titel verweisen die Beiträge von 1988 und 2009.

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3. Dritter Baustein: Politologie als Orientierungswissenschaft Kielmanseggs Bemühung um eine klare und allgemein verständliche Sprache hängt unmittelbar mit dem dritten Baustein seines Fachverständnisses zusammen: Die Po‐ litologie ist Orientierungswissenschaft. Bereits in seiner Habilitationsschrift ist die‐ ser Gedanke angelegt. Kielmansegg wendet sich – zumal in einer Zeit, die stark von der Diskussion über drei widerstreitende Wissenschaftsparadigmen beherrscht war34 – entschieden gegen die strikte Trennung empirischer und normativer Demokratie‐ theorie: „Gewiß, es ist sinnvoll, zwischen zwei Aufgaben der Demokratietheorie zu unterschei‐ den – Beschreibung und Erklärung von politischen Institutionen und Prozessen einer‐ seits, Analyse von Begründungsargumentationen andererseits –, weil ihr Gegenstand gleichsam zwei Dimensionen hat, dem Betrachter einmal in einer vorfindbaren, wirkli‐ chen Gestalt und ein zweites Mal in den Geltungsüberzeugungen, auf die diese Wirklich‐ keit sich gründet, begegnet. […] Aber normativ im Sinne von präskriptiv ist wissen‐ schaftliche Theorie auch dann nicht, wenn sie Begründungsargumentationen zu ihrem Gegenstand macht. Und empirisch im Sinn von ‚der Kontrolle durch Erfahrung unter‐ worfen‘, ‚auf Erfahrung gegründet‘, ist sie immer oder sollte sie doch immer sein. […] Demokratietheorie ist nur als ein System von Aussagen konzipierbar, in dem ein be‐ stimmter Erfahrungszusammenhang mit den ihm zugehörigen objektivierten Geltungs‐ überzeugungen verarbeitet wird.“35

Damit ist der rote Faden gesponnen, der Kielmanseggs Werk durchzieht: Der Mensch ist existenziell auf andere Menschen angewiesen, da er sich erst in der Be‐ ziehung zu diesen konstituiert. Aus dieser anthropologischen Konstante heraus muss es Regeln – sprich eine politische Ordnung – geben, nach denen für alle verbindliche Entscheidungen zustande kommen.36 Die Aufgabe der Politikwissenschaft ist es, sich diesem Gegenstand sowohl als Erfahrungswissenschaft zu nähern als auch zen‐ trale normative Fragen an ihn zu stellen. Die klassische Suche nach dem besten Staat hält er für wissenschaftlich diskutierbar, insofern Argumente entwickelt, geprüft und gewogen werden können. Der Gegenstand der Politikwissenschaft stellt „seiner Na‐ tur nach Fragen, die den, der sich auf sie einläßt, über die Grenzen streng scientisti‐ scher Selbstbeschränkung hinausführen. Man kann ihnen nicht auf die Dauer aus‐ weichen, ohne dem Gegenstand Politik selbst auszuweichen. […] Der Gegenstand Politik zwingt zu normativer Reflexion.“37 Einem modernen Wissenschaftsverständ‐ nis folgend, kann es dabei nicht mehr um die „Wahrheit“ von richtigen Ordnungen 34 Aus Sicht der Zeitgenossen standen sich mit der ontologisch-normativen (ideengeschichtlichessentialistischen), der dialektisch-kritischen (dialektisch-historischen) und der empirisch-ana‐ lytischen (deduktiv-empirischen) Strömung drei scheinbar unvereinbare Theorieansätze gegen‐ über. Vgl. Beyme 1986, S. 14-23 und Narr 1971, S. 41-83. 35 Kielmansegg 1977, S. 11 [Hervorhebung im Original]. 36 Vgl. ebd., S. 234. Kielmansegg 1987c, S. 57. 37 Kielmansegg, 1987a, S. 61.

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gehen, „sondern nur noch um die Vernünftigkeit, die Einsichtigkeit, die Evidenz von Gründen.“38 Philosophisches Nachdenken und erfahrungswissenschaftliche Be‐ schreibung dürfen nicht zu einer Einheit verschmolzen werden. Insofern kann die Politologie nicht mehr direkt auf das aristotelische Vorbild rekurrieren. Aber erst in der Gratwanderung zwischen beiden Ansätzen, ergänzt er 1987, ist schließlich eine dritte Ausprägung des Nachdenkens über Politik möglich: die der Praxis zugewandte Analyse.39 Einen praktischen Beitrag zur Orientierung des Einzelnen in einer komplizierten und undurchsichtigen Welt zu leisten, begreift Kielmansegg als grundlegende Auf‐ gabe der Politologie. In den späten 1980er Jahren verwendet er den Begriff der Ori‐ entierungswissenschaft.40 Es gehört für ihn zur Bildungsfunktion des Faches, dass es „nicht nur bestimmte professionelle Kompetenzen zu vermitteln habe, sondern auch eine nicht-professionelle Urteils- und Handlungsfähigkeit in politischen Angelegen‐ heiten“41 ermöglicht. Im demokratischen Verfassungsstaat reicht allein ein bestimm‐ tes Sachwissen, wie es etwa die Natur- oder Wirtschaftswissenschaften anbieten, nicht aus. Politische Urteilsfähigkeit bezieht sich vielmehr auf jene Handlungszu‐ sammenhänge, die den spezifischen Modus des Verfassungsstaates zum Umgang und Entscheiden von Problemen betreffen. Sie entsteht in modernen Gesellschaften „in Diskursen über handlungsanleitende Normen, die das verfügbare Wissen […] und die verfügbare analytische Kompetenz aufnehmen.“42 Hierzu kann die Politolo‐ gie einen orientierenden Beitrag leisten. Er stellt jedoch zu seinem Bekümmern fest, dass sie verglichen mit der Wirtschafts-, Rechts- oder Geschichtswissenschaft als ge‐ sellschaftsberatende Wissenschaft nicht sehr präsent ist, obgleich sie an eine über zweitausendjährige Geschichte des politischen Denkens in Europa anknüpfen könn‐ te.43 Die Disziplin „sollte nicht vergessen, was sie einmal war: Ratgeberin für das politische Lebewesen Mensch, dem sich die Frage nach der besten politischen Ord‐ nung stellt. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass wir mit dieser Frage jemals zu Ende wären.“44 Hierin zeigt sich eine gedankliche Verwandtschaft zum Wissenschaftsverständnis Wilhelm Hennis‘. Dessen Politologie sollte, im Sinn einer praktischen Wissenschaft, Probleme der politischen Wirklichkeit aufgreifen und mit Mut zum normativen Ur‐ teil das Gemeinwesen über seinen Zustand aufklären.45 Kielmansegg geht jedoch nicht so weit, eine „Zerstörung“ der Politikwissenschaft als „Folge des Ausweichens

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Ebd., S. 61. Vgl. Kielmansegg 1987c, S. 58, 75-77; Kielmansegg 1987b, S. 4. Vgl. Kielmansegg, 1988a, S. 16. Kielmansegg, 1987a, S. 63. Ebd., S. 63. Vgl. Kielmansegg, 2016b, S. 78. Ebd., S. 80. Vgl. Hennis 2000, S. 28; Kielmansegg 2013a, S. 9.

vor aller normativen Bestimmung des politisch zu Fordernden und Aufgegebenen“46 durch den Szientismus zu diagnostizieren. Um einen fruchtbaren Beitrag leisten zu können, darf sich normative Reflexion seiner Ansicht nach nicht gegen eine empi‐ risch betriebene Politikwissenschaft verschließen.47 Zudem ist sich Kielmansegg be‐ wusst, dass normative Antworten nicht über denselben Wahrheitsstatus wie empiri‐ sche Feststellungen verfügen, da sie nicht in gleicher Weise durch Beobachtung für jedermann nachvollziehbar bestätigt oder widerlegt werden können.48 Betrachtet man Kielmanseggs Fachverständnis drängt sich beim oberflächlichen Blick die Frage auf, inwieweit dieses in Diskrepanz zu seinen beiden akademischen Wirkungsorten steht: Die sogenannte Köln-Mannheimer Schule war eng verbunden mit ihrem Gründer Ferdinand Aloys Hermens (Professor in Köln) und dessen Habi‐ litanden Werner Kaltefleiter (später Professor in Kiel) und insbesondere Rudolf Wil‐ denmann (später Professor in Mannheim). Gefördert vom akademischen Vater Her‐ mens nahm die empirisch-analytische Politikwissenschaft Nachkriegsdeutschlands ihren Ausgangspunkt in der Stadt am Rhein und wurde durch Wildenmann – als „Prototyp des modernen Sozialwissenschaftlers“49 – schließlich nach Mannheim ge‐ tragen, wo selbiger unter anderem maßgeblich an der Gründung des Zentrums für Umfragen, Methoden und Analysen (kurz: ZUMA, heute Teil von GESIS – LeibnizInstitut für Sozialwissenschaften) beteiligt war.50 Als Kielmansegg zeitgleich mit Ulrich Matz an die Universität berufen wurden, war der 1971 emeritierte „Platzhirsch“ Hermens und bis dato einzige Professor für Politikwissenschaft in Köln bereits im Begriff, seine Zelte abzubrechen. Auch mit den kurz darauf Hinzugestoßenen, Hans-Peter Schwarz und Karl Kaiser, setzte das Kollegium die Wissenschaftsausrichtung Hermens nicht fort. Anders stellte sich die Situation in Mannheim dar: Neben Wildenmann standen sein früherer Assistent Max Kaase51 und sein Nachfolger Franz Urban Pappi52 allen voran für die empirische Wahlforschung, der gegenüber Kielmansegg mit seiner Politikwissenschaft eine ge‐ wisse Solitär-Funktion einnahm. Diese Eischätzung relativiert sich jedoch bei nähe‐ rer Betrachtung: Das Kollegium – hierzu sind unter anderen die vielseitig interes‐ sierte Beate Kohler-Koch53 und der Osteuropa-Kenner Egbert Jahn zu zählen – ge‐ staltete sich doch deutlich diverser. Größere Gemeinsamkeiten mit Kielmanseggs Politologie lassen sich indes zu den Arbeiten des Freiburgers Wilhelm Hennis ausmachen. Mit diesem teilt er nicht nur

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Hennis 2000, S. 12, 16; vgl. ebd., S. 125 f. Vgl. Kielmansegg, 1987a, S. 61. Vgl. Kielmansegg, 1987c, S. 75. Bleek 2001,S. 381. Vgl. Detjen 2014, S. 355; Thümmler 2014, S. 45 f. Vgl. Schmitt-Beck 2014, S. 391 f. Vgl. Falter 2014, S. 614. Vgl. Jachtenfuchs 2014.

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die Sympathie für normative Fragen, sondern auch das wissenschaftliche Engage‐ ment für den demokratischen Verfassungsstaat, der spätestens seit der Habilitations‐ schrift Kristallisationspunkt seines Schaffens ist. Als voraussetzungsreiches Ergeb‐ nis einer langen und konfliktreichen historischen Pfadentwicklung,54 ist er keines‐ wegs aus stringent kausalen Gesetzen abgeleitet, sondern er beruht in Teilen auf hi‐ storischen Zufällen, politischer Führung und glücklichen Fügungen.55 In ihrer Ver‐ schmelzung von Amtsgedanke (Idee der Rechtsgebundenheit aller Herrschaft und Verpflichtung auf das Gemeinwohl) und Demokratieprinzip (Idee der Bürgerfreiheit) sieht sich die erfolgreichste Institutionalisierung und auch einzig denkbare „Verfas‐ sung der Freiheit“ beständig wechselseitigen Spannungen und potentiellen Konflikte ausgesetzt – hierin folgt Kielmansegg den bereits bei Wilhelm Hennis und Dolf Sternberger ausformulierten Gedanken.56 Dabei liegt es in ihrem Wesen, sich selbst immer wieder Zweifeln, „ob die gefundene Antwort die richtige sei“, auszusetzen und sich immer neu ihrer selbst zu versichern. Als Advokat des Verfassungsstaates57 macht Kielmansegg diesen zum Objekt „einer ihren Gegenstand immer wieder neu umkreisenden historisch informierten praktischen Vernunft“58, indem er fortwährend seine Prinzipien erörtert. Hierzu gehört für Kielmansegg allen voran die systemspezifische Logik der kla‐ ren Zuschreibung von Verantwortlichkeit. Aus dieser Überlegung heraus, verteidigt er die repräsentative Demokratie gegen die vermeintlich bessere direkte Demokratie, wie er sie unter anderem bei Robert Dahl – „a sorry substitute fort he real thing“59 – propagiert wähnt. In der Beschreibung als „zweitbeste Lösung“ sieht er die repräsen‐ tative Variante verunglimpft, da sie die Bedeutung der Entscheidungsbefugnis „als rechtlich eingehegte, zeitlich befristete, gemeinwohlgebundene und rechenschafts‐ pflichtige Macht“60 ignoriere. Direkt demokratische Elemente stellen im Gegensatz zu Wahlen einen grundsätzlich anderen Modus der Bürgerbeteiligung dar: die Ab‐ stimmung. Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung der Verfahren, ist die poli‐ tische Beteiligung selektiver als bei Wahlen. In die Funktionslogik der parlamentari‐ schen Demokratie wollen sie sich allesamt nicht problemlos einordnen lassen.

54 Kielmansegg beschreibt die repräsentative Demokratie zuweilen metaphorisch als „Frucht ei‐ nes langen Reifeprozesses“, „Gewebe, in dem sich viele Fäden verknüpfen“ oder „Essenz von zweitausend Jahren europäischer Verfassungskultur“. Vgl. Kielmansegg, 1988b, S. 54, 58. 55 Vgl. Zittel/ Kaiser 2004, S. 14; Kielmansegg, 2013b, S. 7. 56 Vgl. Hennis 2000. Hierin „Amts- und Demokratiebegriff“, S. 127-147 und Sternberger 1971. Hierin „Die Erfindung der ‚Repräsentativen Demokratie‘. Eine Untersuchung von Thomas Pai‐ nes Verfassungs-Ideen“, S. 59-81. Kielmansegg 2013b, S. 8. 57 Vgl. Gallus/Thümmler 2014, S. 419. 58 Kielmansegg, 2013b, S. 8. 59 Robert Dahl, 1982 zit. bei Kielmansegg 1988b, S. 44. 60 Kielmansegg 2016a, S. 11; vgl. auch Kielmansegg 2013b. Hierin insbesondere: „Vierter Ver‐ such – Über direkte Demokratie. Sieben Anmerkungen zu einem Glaubensstreit“, S. 101-144.

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Tief geprägt von seiner liberal-konservativen Haltung61, scheut sich der Gelehrte in diesen Auseinandersetzungen nicht vor vermeintlich altmodischen Begriffen, wenn er etwa auf die Bedeutung der Tugend bei Amtsträgern und Bürgern verweist oder der Idee des Gemeinwohls neue Substanz geben will.62 Dem Einzelnen, frei in der Entfaltung seiner Möglichkeiten und zugleich auf die Gemeinschaft angewiesen, spricht Kielmansegg in seinen Appellen an tugendhaftes Handeln eine große Verant‐ wortung für das Gelingen des demokratischen Gemeinwesens zu. Ein Staat, der dem Bürger diese Eigenverantwortung abspricht und sich als allzu‐ ständig konstituiert, ist ihm zutiefst suspekt – viel zu groß scheint ihm die Gefahr, dass er mit den nachgefragten Bedürfnissen aller schlichtweg überfordert wäre oder den Bürger zum Objekt statt zum Zweck seines Agierens mache. Für Kielmansegg hängt die Zukunftsfähigkeit der Demokratie an dem Vermögen, überlieferte Werte und Normen zu bewahren – so sie nicht durch neue ersetzt werden können. Es ist „wichtig, daß es genug Menschen gibt, die konservativ sind. [… W]enn sie die Fä‐ higkeit verlieren, zu bewahren, werden sie an ihrer Fähigkeit, die Welt unaufhörlich zu verändern, scheitern.“63

4. Vierter Baustein: Wirken in die außerakademische Öffentlichkeit Mit ihrer Orientierungsfunktion rückt der vierte Baustein Kielmanseggs Wissen‐ schaft in den Blick: Er möchte mit Argumenten in die Öffentlichkeit hineinwirken. Seine Arbeiten werden folglich nicht nur von „Fragen bestimmt, die in der unmittel‐ baren Auseinandersetzung mit dem politischen Prozess aufgeworfen werden“64, sie mischen sich auch in große Debatten der Zeitgeschichte ein: „Sozialwissenschaften sind Krisenwissenschaften. Will sagen: Gesellschaftliche Ent‐ wicklungen, die als Krisen wahrgenommen werden, sind bevorzugter Gegenstand der So‐ zialwissenschaften. Sie sind auch der wichtigste Impuls für den Fortgang sozialwissen‐ schaftlicher Diskurse.“65

Der Beginn seiner Beschäftigung mit der normativen Grundlegung des demokrati‐ schen Verfassungsstaates fiel nicht zufällig in die Zeit der Studentenbewegung und der heftigen Debatten um die Legitimität politischer Ordnungen. Ebenso verhält es sich mit seinen Beiträgen zur Demokratisierungsfähigkeit der Europäischen Union. Intellektuell diszipliniert und auf ernstzunehmende Erklärungen gestützt, soll sei‐ ne Politikwissenschaft „eine gewichtige Stimme in dem […] Streitgespräch [sein], 61 62 63 64 65

Vgl. Hacke 2006, S. 20; Sontheimer, 1980. Vgl. Kielmansegg 1972 und Kielmansegg o. J.. Kielmansegg 1975, S. 28. Zittel/Kaiser 2004, S. 10. Kielmansegg 2016a, S. 5.

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durch das freie, offene Gesellschaften ein Bild von sich selbst und von der Welt, in der sie leben, gewinnen – nicht mehr und nicht weniger.“66 Die Prinzipien der Of‐ fenheit und des Respekts vor dem Gegenargument sind für ihn von fundamentaler Bedeutung.67 Seine Sichtweise auf die Wissenschaft als eine in die Öffentlichkeit wirkende Sa‐ che begründet sich nicht unwesentlich durch den ersten Politologen, den Kielman‐ segg bereits zu Schulzeiten wahrnahm: Theodor Eschenburg. Auch wenn er diesem auf wissenschaftlicher Ebene nie viel abgewinnen konnte, prägte Eschenburg mit seinen Artikeln in der Zeit schon früh das Bild eines Politikwissenschaftlers, der nach außen wirksam ist.68 Kielmansegg will mit seiner Wissenschaft nicht nur die eigenen Zunftgenossen ansprechen, er erschließt sich mit seinen Texten und deren Platzierung gezielt andere Publika. Den Hauptteil seines Werkes bilden Beiträge in interdisziplinär gestalteten Bänden sowie Zeitschriftenaufsätze, vor allem im Mer‐ kur. Von großer Bedeutung sind ebenso die über sechzig Artikel, die er seit Beginn seiner akademischen Karriere für Tages- und Wochenzeitungen schrieb.69 Allen vor‐ an in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nimmt er regelmäßig Aspekte des demo‐ kratischen Verfassungsstaates oder der Entwicklung der Europäischen Union in den Blick, zuweilen beschäftigt er sich mit Fragen der Hochschulpolitik. Die Quantität seiner Zeitschriftenartikel ist mit der Emeritierung 2002 deutlich angestiegen. Seit‐ her beteiligt er sich durchschnittlich dreimal im Jahr auf diesem Weg an öffentlichen Kontroversen. Einige Zeitungspublikationen gehen auf Kielmanseggs umfangreiche Vortragstä‐ tigkeit zurück. Angefangen in den späten Darmstädter Jahren und verstärkt seit sei‐ ner Emeritierung tritt Kielmansegg durchschnittlich drei bis vier Mal jährlich auf. In rund fünfzig Jahren kann er auf schätzungsweise zweihundert Referate zu unter‐ schiedlichen Anlässen und Thematiken zurückblicken.70 An großen wissenschaftli‐ chen Kongressen nimmt er jedoch selten teil, er bevorzugt kleinere Veranstaltungen mit einem überschaubaren Teilnehmerkreis. Die Zielgruppe seiner Vorträge ist breit gefächert und reicht von Industrie-, Handels- sowie Handwerkskammern über Mi‐ nisterien und Parteiorganisationen, Stiftungen, Initiativen und Vortragsreihen bis hin zu Schulen und anderen Einrichtungen. Dabei äußert sich Kielmansegg selten tages‐ politisch – Ausnahmen bildeten einige Vorträge Ende der 1970er/Anfang der 1980er Jahre zur Nachrüstungsdebatte. Das dominante Thema seines Repertoires ist die De‐ 66 Kielmansegg 1988a, S. 16. Dabei ist er sich sehr wohl bewusst, dass die tatsächliche Wirkung der Politikwissenschaft bestenfalls indirekt oder gering sein kann. 67 Beispielhaft hierfür ist die öffentlich mit Egbert Jahn ausgetragene Debatte über den Begriff der strukturellen Gewalt. Sie erschien 1979/80 in den DGFK-Informationen der Deutschen Ge‐ sellschaft für Friedens- und Konfliktforschung. 68 Vgl. Kielmansegg 2015, S. 19. 69 Die Zählung schließt Rezensionen und Leserbriefe nicht ein. 70 Vgl. zum Folgenden Kielmansegg 2016c, o. S. sowie Kielmansegg 2016d, S. 3-7. Die genaue Anzahl sowie die Titel seiner Vorträge lassen sich nicht mehr rekonstruieren.

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mokratie, deren Entwicklung sowie deren Perspektiven. Seine Referate widmeten sich in den vergangenen Jahren verstärkt verschiedenen Aspekten der Europäischen Union sowie der Rolle wissenschaftlicher Politikberatung in Deutschland. Gelegent‐ lich beschäftigt sich Kielmansegg auch mit historischen Themen, insbesondere mit Persönlichkeiten und Daten aus der Zeitgeschichte. In einem pfälzischen Gymnasi‐ um sprach er etwa vor Lehrerkollegium und Schülerschaft über die Namensgeberin, Hannah Arendt, in einer benachbarten Schule referierte er aus ähnlichem Anlass zu Alfred Delp. Nach eigener Aussage kennt er Berührungsängste mit unterschiedlichen Zielgrup‐ pen ebenso wenig, wie er den Aufwand scheut, sich in bisher von ihm kaum beach‐ tete oder im universitären Lehrbetrieb zu kurz gekommene Thematiken einzuarbei‐ ten. Damit sind zwei grundlegende motivationale Aspekte seiner Vortragstätigkeit benannt: Diese Veranstaltungen sind ihm eine willkommene Gelegenheit für die ei‐ gene inhaltliche Weiterbildung, noch wichtiger ist ihm der Kontakt zum außeruni‐ versitären Publikum. Wer sich gänzlich im „Gehege“ des eigenen Faches einspinne, verliere nur allzu leicht das Gespür für die Relevanz und Gewichtung von Themen außerhalb der akademischen Welt. Doch gerade dieses sei für die Politikwissen‐ schaft unerlässlich. Aus der Einstellung heraus widmete Kielmansegg einen Großteil seines Schaffens dem Verfassen von Sammelbandbeiträgen und Zeitungsartikeln, dem Referieren vor unterschiedlichen Zielgruppen und der Arbeit in diversen Gre‐ mien. Einzige Bedingung ist ihm, dass er Rezipienten gegenübersteht, „denen das ir‐ gendwie ernst ist mit der Sache und wo es sich lohnt etwas zu investieren“71. Die Einladung in eine Fernseh-Talkshow schlug er seiner Erinnerung nach aus, da er nicht zu einer Veranstaltung auftreten wollte, die ausschließlich Unterhaltungszwe‐ cken dient. In dieser Haltung manifestiert sich exemplarisch die begrenzte Reichwei‐ te seines öffentlichen Schaffens: Die Auswahl seiner Vortrags- und Publikationsorte bedingt einen eher bürgerlichen und akademischen gebildeten Rezipientenkreis. Ge‐ rade mittels niedrigschwelliger Formate könnte seinen Ideen ein Zugang zu weiteren Gesellschaftsschichten eröffnet werden. Kielmanseggs Orientierungswissenschaft richtet sich in ihrer Tendenz an bereits grundlegend Orientierte und sie läuft Gefahr, große Teile der Bevölkerung aus dem Blick zu verlieren.

5. Nachdenken über Demokratie Kielmanseggs Interesse gilt dem intellektuellen Durchdringen und Abwägen von Fragen der politischen Wirklichkeit. Angeregt durch Kontroversen der Zeit erwählt

71 Ebd., S. 4.

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er sich häufig Untersuchungsgegenstände, die von Antinomien geprägt sind – seine Abhandlungen über Repräsentation und Partizipation, über das Verhältnis von De‐ mokratie und Marktwirtschaft sowie über Demokratisierung und Integration in der Europäischen Union legen hiervon Zeugnis ab. Auch innerhalb widerstreitender Prinzipien vermag er Spannung aufzudecken: Für das Amtsprinzip ist beispielsweise der Spagat zwischen Gemeinwohlauftrag und der Repräsentation des Partikularen konstitutiv. Eindeutige und simple Antworten oder die streitbare Zuspitzung sind weder Ziel, noch Ergebnis seines Nachdenkens über Demokratie. Ihm geht es nicht darum, widerstrebende Elemente der Demokratie einzuebnen oder gar zu beseitigen, er sucht die Balance zwischen ihnen. In alldem versteht Kielmansegg seine Arbeit als Beitrag einer Orientierungswissenschaft, die ohne Scheu vor normativen Er‐ kenntnissen eine Bildungsfunktion übernimmt und mit ihren Argumenten über das Fach hinaus in die Öffentlichkeit wirkt. Seine Art Politologie zu verstehen und zu betreiben erscheint folgerichtig für einen Wissenschaftler, der am interdisziplinären und argumentativen Austausch mit anderen interessiert ist und diesen auch sucht, dem aber zugleich Kompromisse über die eigenen Überzeugungen hinweg äußerst schwer fallen. Obgleich er in vielen – auch außeruniversitären – Zusammenhängen präsent und innerhalb des Faches nicht isoliert ist, bleibt er mit seiner Politikwissenschaft doch ein akademischer Einzelgänger. Die gemeinsam mit anderen Herausgebern veröf‐ fentlichten Sammelbände verorten sich fast ausschließlich in seinen akademischen Anfangsjahren – etwa „Regierbarkeit“ (gemeinsam mit Wilhelm Hennis und Ulrich Matz, 1977 und 1979) und „Funkkolleg Politik“ in je zwei (gemeinsam mit Klaus von Beyme und Ernst-Otto Czempiel, beide 1987), „Politikwissenschaft. Eine Grundlegung“ in drei Bänden (gemeinsam mit Klaus von Beyme, Ernst-Otto Czem‐ piel und Peter Schmoock, alle 1987). Rückblickend sieht Kielmansegg eine Ursache für seine Skepsis gegenüber größeren Gemeinschaftsprojekten in einer noch wäh‐ rend der Assistentenjahre in Darmstadt geplanten Herausgeberschaft begründet: Ge‐ meinsam mit Gottfried Erb und Axel Görlitz erdachte er eine 18-bändige Reihe „Systematische Politikwissenschaft“, in der kleinere Monographien die Vielfalt des Faches repräsentieren sollten.72 Uneinigkeiten unter den Herausgebern, schleppende Zuarbeit der verpflichteten Autoren und das nachlassende Interesse des Verlages, lie‐ ßen schließlich nur die Veröffentlichung von sieben Bänden zu. Diese Erfahrung hat Kielmansegg wohl nachhaltig „abgeschreckt“. Angespornt von dem „starke[n] Be‐ dürfnis, das was ich mache selbst zu machen“73, ist auch keiner seiner Arbeiten in Koautorenschaft erschienen. Ähnlich verhielt es sich mit öffentlichen Unterschriftenaktionen: Laut eigener Aussage fiel es ihm zu schwer, Texte zu unterschrieben, die – aufgrund ihrer Entste‐ 72 Vgl. Kielmansegg 2016e, S. 4 f.; Erb/Görlitz/Kielmansegg 1976-1977. 73 Vgl. Kielmansegg 2016e, S. 4.

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hungsgeschichte – oft Passagen enthalten, mit denen er nicht vollständig d'accord ging. Gerade in den 1970/80er Jahren beäugte er die Vermengung von Wissenschaft und Politik kritisch: „Da fand ich wiederum, dass man auseinanderhalten muss: Man kann sich politisch engagieren, aber man kann nicht mit der Autorität des Wissen‐ schaftlers eine bestimmte politische Position vertreten. Und da das häufig ineinan‐ dergeschoben wird, gerade die Politikwissenschaft ist da prädestiniert und besonders anfällig für diese Art der Vermischung, deswegen bin ich da immer zögerlich gewe‐ sen.“74 Neben wenigen inneruniversitären Anliegen, beteiligte er sich nur im Falle der Abschaffung des Theodor-Eschenburg-Preises der DVPW im Jahr 2013 an einer Unterschriftenaktion.75 Für Kielmansegg waren für seine Beteiligung in diesem Fall einerseits die aus seiner Sicht marginalen Verfehlungen des Gründervaters westdeut‐ scher Politikwissenschaft ausschlaggebend. Zudem hätte die Frage, ob er der richti‐ ge Namensgeber für den Preis sei, vielmehr aus fachlicher Sicht auf seine politik‐ wissenschaftlichen Leistungen erörtert werden müssen. Andererseits empfand Kiel‐ mansegg die nachträgliche Infragestellung Eschenburgs als Namensträger als „schwere Verletzung seiner Ehre“76. Schlussendlich ist es vielleicht diese Position als „kontaktfreudiger Einzelgän‐ ger“, ganz sicher aber ist es sein Fachverständnis – gebildet aus der Interdisziplinari‐ tät, der Schlüsselbedeutung der Sprache, der Politologie als Orientierungswissen‐ schaft und dem öffentlichen Wirken –, das Peter Graf Kielmansegg vom Mainstream der Disziplin abhebt und zu einem „wirkmächtigen Politikwissenschaftler“77 in der Bundesrepublik werden ließ.

Literaturverzeichnis Beyme, Klaus von, 1986: Die deutsche Politikwissenschaft im internationalen Vergleich. In: Beyme, Klaus von (Hrsg.): Politikwissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Ent‐ wicklungsprobleme einer Disziplin, Opladen, S. 12–25. Bleek, Wilhelm, 2001: Geschichte der Politikwissenschaft in Deutschland. München. Brickwedde, Fritz, 1999: Umweltschutz als strategisches Handlungsfeld von Stiftungen. In: Bertelsmann Stiftung (Hrsg.): Handbuch Stiftungen. Ziele – Projekte – Management – Rechtliche Gestaltung, Wiesbaden, S. 123–142. Detjen, Joachim, 2014: Ferdinand A. Hermens. In: Jesse, Eckhard/Liebold, Sebastian (Hrsg.): Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Ba‐ den-Baden, S. 347–360. Eisfeld, Rainer (Hrsg.), 2016: Mitgemacht. Theodor Eschenburgs Beteiligung an „Arisierun‐ gen“ im Nationalsozialismus. Wiesbaden. 74 75 76 77

Ebd., S. 9. Eine Zusammenfassung einzelner Debattenpositionen findet sich bei Eisfeld 2016. Kielmansegg 2016e, S. 9. Jesse 2016, S. 291.

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II. Geschichte

Herfried Münkler Was kann die Politikwissenschaft aus der Beschäftigung mit Historischen Themen lernen? Graf Kielmanseggs Buch über den Ersten Weltkrieg*

1. Eine Debatte über den Ersten Weltkrieg Ende der 1950er/Anfang der 1960er Jahre fand in Deutschland eine mit großem En‐ gagement ausgetragene geschichtspolitische Debatte statt, in deren Zentrum die The‐ sen des Hamburger Historikers Fritz Fischer standen. Fischer hatte, zunächst vor‐ sichtig, dann zunehmend dezidiert die These vorgetragen, es sei keineswegs so ge‐ wesen, dass die europäischen Mächte infolge politischer Unbedachtheit und durch die unglücklichen Mechanismen der bestehenden Bündnissysteme in den Ersten Weltkrieg hineingeschlittert seien, sondern das Deutsche Reich habe ganz systema‐ tisch und bedacht auf diesen Krieg hingearbeitet. Einem Bündnis aus Militaristen und Kapitalisten in Deutschland sei es um den „Griff nach der Weltmacht“ gegan‐ gen, wie der eingängige Titel eines von Fritz Fischers Büchern lautet.1 Fischers Arbeiten waren mehr als eine geschichtswissenschaftliche Neubeurtei‐ lung der Politik des Deutschen Reichs im Jahrzehnt vor Kriegsbeginn, über die sich die Historiker dann in ihren Fachzeitschriften hermachen konnten, um diesen und je‐ nen Aspekt der Neuinterpretation zu diskutieren. Sie waren eine geschichtspolitische Intervention sondergleichen, und als solche wurden sie auch von den meisten Zeit‐ genossen verstanden. Geschichtspolitik – das ist der Gebrauch historischer Ereignis‐ se und Entwicklungen zu politischen Zwecken, eine Implementierung hegemonialer Deutungsmuster, nichts, was bloß die Fachspezialisten betrifft, sondern ein Versuch, sich in den Besitz der Prägestempel für das kollektive Gedächtnis eines politischen Verbandes zu bringen.2 Man könnte auch in der Begrifflichkeit Antonio Gramscis sagen, Geschichtspolitik ist eine der Waffen im Kampf um kulturelle Hegemonie. Bis zum Auftritt Fritz Fischers besaß der Freiburger Historiker Gerhard Ritter mit seinen Arbeiten über den Schlieffenplan und den drei Bänden „Staatskunst und

* Der Text geht auf einen am 22. Juli 2017 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften gehaltenen Vortrag zurück. 1 Fischer 1961/1969/1977. Zu den methodischen Schwächen und Fehlern Fischers vgl. Trachten‐ berg 2006, S. 67-73. 2 Zum Begriff der Geschichtspolitik vgl. Wolfrum 1999, speziell zur Fischer-Kontroverse, S. 231ff., allgemein Troebst 2013, S. 15-34.

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Kriegshandwerk“ in Deutschland die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg und seine Vorgeschichte.3 Die von Ritter vertretene geschichtspolitische Position besag‐ te, dass das deutsche Militär jenseits politischer Kontrolle seine eigenen Pläne für einen möglichen Zweifrontenkrieg gemacht habe und diese Pläne im Juli 1914 eine Selbstläufigkeit entwickelt hätten, die mit politischen Mitteln nicht mehr aufzuhalten war. Militarismus, das war in Ritters Sicht die Verselbständigung des Militärischen gegenüber der Politik, die Entwicklung von Vorschlägen zur Bearbeitung von He‐ rausforderungen, die allein der fachlichen Beurteilung durch das Militär folgten und sich nicht länger als ein dienendes Glied gegenüber den Vorgaben der Politik sahen.4 Für Ritter war, will man es pointieren, Militarismus ein Organisationsproblem der Politik und damit insbesondere des Staates. Fritz Fischers Angriff auf die Ritter’sche Hegemonie lief darauf hinaus, dass er ein sehr viel weiter gefasstes Verständnis von Militarismus ins Spiel brachte, und diesen Militarismus begriff er als typisch für den deutschen Weg in die Moderne, nämlich die Entstehung eines Amalgams aus Militär und Schwerindustrie, die den Krieg als ein Mittel zur Eroberung von Märkten und rohstoffreichen Gebieten ansa‐ hen. Ihnen sei mit einer konsequenteren Unterstellung des Militärs unter die Direkti‐ onsgewalt der Politik, wie Ritter sich das im Anschluss an Clausewitz5 vorstellte, nicht beizukommen gewesen, weil die Politik, so Fischer, bis in ihren innersten Kern hinein selbst militaristisch gewesen sei. Die deutschen Eliten mussten daher in sei‐ ner Sicht ausgetauscht oder zumindest ihr Zugriff auf die Machtmittel des Staates ra‐ dikal begrenzt werden, um zu verhindern, dass sich dieser militaristische Geist noch einmal durchsetzte und das Land in einen weiteren Krieg stürzte. Wie stand Peter Graf Kielmansegg zu dieser Debatte? 1968, also einige Zeit nach der zwischen Ritter und Fischer und ihren jeweiligen Anhängern ausgetragenen Kontroverse, veröffentlichte er ein Buch – „Deutschland und der Erste Weltkrieg“ –, das sich in einer bemerkenswerten Gelassenheit mit dem zuvor so heftig umstritte‐ nen Thema beschäftigte.6 Wer sich das Buch genauer anschaut, kann bemerken, dass der Schwerpunkt seiner Fragestellung weder auf der Vorgeschichte des Ersten Welt‐ kriegs liegt noch auf dessen Nachgeschichte, also dem Weg zum Friedensvertrag von Versailles und dessen Aufnahme in Deutschland, sondern dass es Kielmansegg 3 Ritter 1956 sowie 1954-1968. 4 In diesem Sinne auch die wohl gründlichste Darstellung einer Geschichte des Militarismus: Vagts 1959. Von diesem mit Blick auf das politisch-administrative System definierten Militaris‐ mus ist der Militarismus als individuelle Einstellung und gesellschaftliche Disposition zu unter‐ scheiden; vgl. dazu für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Rohkrämer 1992, S. 95-109 und Wette 2008. 5 Clausewitz‘ Formel vom Krieg als „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ enthält implizit die Forderung einer Unterstellung der Kriegführung unter die Vorgaben der Politik. Clausewitz hat das explizit gemacht, als er davon sprach, der Krieg habe zwar seine „eigene Grammatik“, nicht aber seine „eigene Logik“. Clausewitz 1980, S. 210, S. 991; vgl. dazu auch die Beiträge in Dill 1980 sowie Münkler 1986, S. 92-103.. 6 Kielmansegg 1968.

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um die Politik des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg ging, der zwi‐ schen den unterschiedlichen politischen Gruppierungen im Innern des Reichs, der Konfrontation mit den äußeren Feinden, den Vorgaben und Erwartungen des Gene‐ ralstabs und einem seit dem zweiten Kriegsjahr und den wachsenden Gefallenenzah‐ len aufkommenden Friedenswunsch in Teilen der Bevölkerung nach einem politi‐ schen Ansatz suchte, mit dem er die politische Initiative gegenüber einem sich zu‐ nehmend verselbständigenden Kriegsgeschehen zurückgewinnen konnte.7 Wie kam man aus dem Krieg wieder heraus? Das jedenfalls sind die Teile des Kielmansegg’schen Buches, die mich selbst am meisten beeindruckt haben und in denen ich das Alleinstellungsmerkmal von Kiel‐ manseggs Buch gegenüber anderen Darstellungen des Ersten Weltkriegs sehe. Für Bethmann war klar, dass der Krieg nach dem Scheitern des Schlieffenplans und dem erfolglosen „Wettlauf zum Meer“ im Herbst 1914 militärisch nicht mehr zu gewin‐ nen war, dass man ihn also politisch beenden musste und dass es dabei darum ging, zum Status quo ante zurückzukehren. Er wusste aber auch, dass die großen Mächte unter den Gegnern, Russland, Großbritannien und Frankreich, sich in Anbetracht ihrer materiellen Überlegenheit gegenüber den Mittelmächten auf ein Remis nur dann einlassen würden, wenn sie schwere militärische Niederlagen hinnehmen mussten, der Weg zum Sieg also mit für sie tendenziell unerträglichen Verlusten ver‐ bunden war. Dann, so das Kalkül Bethmanns, würden sie bereit sein, den Krieg, des‐ sen Weiterführung ihnen viel, zu viel abverlangen würde, politisch zu beenden und sich auf ein entsprechendes Angebot von Seiten der Mittelmächte einlassen.8 Das war die Linie, die Bethmann Hollweg und Falkenhayn, der Chef der 2. Obersten Heeresleitung, miteinander verabredet hatten. Sie hatten dabei indes ein Problem, denn je mehr den deutschen Heeren die Umsetzung dieses Vorhabens ge‐ lang – was vor allem 1915 mit den großen Siegen über Russland der Fall war9 –, desto größer wurde die politische Erwartung in Teilen der Bevölkerung, diese militä‐ rischen Erfolge würden auch in einen Sieg-Frieden umgesetzet werden und man werde sich nicht mit einem Verhandlungs-Frieden abspeisen lassen, bei dem die „Siege der Soldaten“ von den Politikern verspielt wurden, wie das in politisch rech‐ ten Kreisen hieß, die zunehmend gegen Bethmann Hollweg und seine Politik mobil machten.10 Das waren die Konstellationen, die dann den Debatten der Weimarer Re‐ publik zugrunde lagen und die sich zu einer für die Republik nicht zu bewältigenden politischen Hypothek auswuchsen. Man kann also sagen, dass Kielmanseggs Herangehensweise an die Frage, welche Folgen der Erste Weltkrieg für den weiteren Verlauf der deutschen Geschichte hatte, 7 8 9 10

Ebd., S. 129ff., 219ff., 243ff. und 330ff. Vgl. auch Münkler 2013, S. 289ff., 403ff. und 619ff. Kielmansegg 1968, S. 78ff.; Münkler 2013, S. 342ff. Kielmansegg 1968, S. 211ff. und 219ff.

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sehr viel subtiler war als der Problemaufriss des vorangegangenen ersten Historiker‐ streits in der Bunderepublik Deutschland. Das entsprach, wie mir scheint, dem Tem‐ perament Krielmanseggs. Was sich an der Fragestellung und Beobachtungstiefe des Weltkriegsbuchs von Peter Graf Kielmansegg konstatieren lässt, ist die Suche nach einem anderen Blick auf ein Problem, das zuvor in konfrontativer Schärfe verhan‐ delt worden war, so, als wollte Kielmansegg sagen, die Weiterführung dieser Debat‐ te bringe nichts an neuen Erkenntnissen. Viel ertragreicher sei es dagegen, wenn man sich das Problemfeld, das der Kontroverse zugrunde lag, noch einmal vorneh‐ me und dort nach neuen Ansätzen Ausschau halte. Soweit ich die Arbeiten des Kol‐ legen Kielmansegg kenne, ist diese Herangehensweise für sein gesamtes Werk cha‐ rakteristisch.

2. Die ausgebliebene Debatte über die Handlungsspielräume der Politik in dilemmatischen Konstellationen der Konfrontation Kielmanseggs Weltkriegsbuch hat indes keine der Ritter-Fischer-Kontroverse ver‐ gleichbare Resonanz gefunden. Warum war dem so? Zunächst hat sein Buch fraglos neue Perspektiven auf die Behandlung des Ersten Weltkriegs und die Vorgeschichte der Weimarer Republik eröffnet, aber es war keine geschichtspolitische Intervention, keine politische Positionierung im Ringen um die kulturelle Hegemonie in Deutsch‐ land. Es war der Beitrag eines Wissenschaftlers zu wissenschaftlichen Problemen, geschrieben mit dem Methodenansatz eines Historikers, aber ausgerichtet auf eine, wenn nicht die zentrale Fragestellung der Politikwissenschaft, nämlich die nach den Handlungsspielräumen eines Politikers in dilemmatischen Konstellationen und nach den Ursachen seines Scheiterns – denn fraglos ist Bethmann Hollweg politisch ge‐ scheitert. Mit dem Scheitern Bethmanns an Herausforderungen, denen er politisch nicht gewachsen war und mit denen vielleicht auch kein anderer Politiker zurechtge‐ kommen wäre, wurde der Weg in die Niederlage vom Herbst 1918 beschritten. Inso‐ fern ist Kielmanseggs Buch „Deutschland und der Erste Weltkrieg“ ein vorzügliches Beispiel dafür, was die Politikwissenschaft aus der Beschäftigung mit historischen Themen lernen kann und wie zugleich genuin politikwissenschaftliche Fragestellun‐ gen dazu beitragen, historische Debatten aus ihren festgefahrenen akademischen Frontlinien herauszuholen und sie wieder produktiv zu machen. Ein zweiter Grund für die ausbleibende Debatte ist das Erscheinungsjahr 1968, in dem vordergründig ganz andere Fragestellungen als die nach dem Verlauf und den Folgen des Ersten Weltkriegs die politische Debatte in Deutschland bestimmten. Wenn der Blick auf den Ersten Weltkrieg damals, fünfzig Jahre nach dessen Ende, eine Rolle spielte, dann eher im Sinne einer Affirmation der Fischer-Thesen: Das Machtkartell aus Militär, Großindustrie und Medienmoguln, das nach Fritz Fischer

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im Vorfeld des Ersten Weltkriegs die ausschlaggebende Rolle spielte, war in den Au‐ gen derer, die damals gegen Springer, Kurras und ehemalige NS-Mitglieder in Poli‐ tik und Justiz ankämpften, immer noch an der Macht, und für solch subtile Fragen, wie die nach den Handlungsspielräumen eines Politikers und den dilemmatischen Paradoxien, in die er dabei geraten konnte, hatte man keinen Sinn. Im Gegenteil: In Konstellationen, die durch den „Geist der Utopie“ (Ernst Bloch) geprägt waren und in denen ein grenzenloser Optimismus bezüglich dessen, was man politisch errei‐ chen könne, die allgemeine Debatte bestimmte, war die Beschäftigung mit den Di‐ lemmata und Paradoxien der Politik nicht angesagt. Sie störte die Aufbruchstim‐ mung. Wenn die Grundstruktur einer sozio-politischen Ordnung in Frage gestellt wird und neu eingerichtet werden soll, wenn es weiterhin um die systemische Re‐ krutierung politischer Eliten geht, kommt Problemen, wie den von Kielmansegg auf‐ geworfenen, keine große Resonanz zu. Die Aufmerksamkeit ist dann anderweitig fo‐ kussiert.11 Zu dem für eine nachhaltige Aufmerksamkeitsfokussierung ungünstigen Zeit‐ punkt der Veröffentlichung kam freilich noch ein struktureller Aspekt hinzu; er be‐ stand darin, dass Kielmanseggs Fragestellung, vor allem aber seine Antwort viel zu melancholisch waren, als dass sie für eine Intervention ins geschichtspolitische Selbstverständnis der damals noch recht jungen Bundesrepublik geeignet gewesen wären. Das untersuchte Problem ließ weder die kompakte Anklage der sozio-politi‐ schen Eliten Deutschlands im Ersten Weltkrieg zu noch bot es Aussichten auf eine grundsätzliche Lösung der behandelten Probleme, sondern zeigte ein Dilemma auf, in das alle geraten können, die Politik betreiben. Und das Vertrackte an diesem Di‐ lemma war, dass ihm auch diejenigen nicht entgangen wären, die 1914, 1916 und 1917 eine prinzipiell andere als die von Bethmann Hollweg betriebene Politik präferierten, also die politische Linke in Deutschland. Die Melancholie der Kielman‐ segg’schen Überlegungen kam also nicht an gegen die sanguinische Aufbruchsstim‐ mung der Zeit von 1968ff., und die Skepsis bezüglich der Handlungsspielräume von Politik war eben nur Wasser im Wein der verbreiteten Vorstellung, man könne eine bessere Welt schaffen, wenn man nur wolle und die dafür erforderlichen gesell‐ schaftlichen Kräfte zusammenbringe. Ich vermute, dass ein solches Unverständnis dem heutigen Jubilar durchaus recht war. So manches Nicht-Verständnis dürfte aus seiner Sicht das ganz und gar richtige Verständnis gewesen sein. In gewisser Hin‐ sicht war die Beschäftigung mit Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg für Graf Kielmansegg eine Vorübung auf dem Weg zu seinen späteren Studien über Re‐ gierbarkeit.12

11 Zur Betrachtung von Aufmerksamkeit als einem knappen Gut, das entsprechend bewirtschaftet wird, vgl. Franck 1998. 12 Vgl. Hennis et al. 1980.

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3. Das Problem der politischen Urteilskraft Das Fach Politikwissenschaft hat in den letzten zwei, drei Jahrzehnten eine andere Entwicklung genommen, als sie Peter Graf Kielmansegg bei der Veröffentlichung seines Buchs über den Ersten Weltkrieg und danach vorgeschwebt haben dürfte. Skepsis als Grunddisposition hat in ihr kaum noch Platz, nachdem sie, die Skepsis, von einem Methodendesign aufgezehrt worden ist, das zu den hochschießenden Hoffnungen und Erwartungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre grundsätz‐ lich Distanz hält, das in seinem szientistischen Anspruch auf methodische Überprüf‐ barkeit von Aussagen aber auch keinen Grund für skeptische Zurückhaltung bei der Betrachtung des Möglichen und Machbaren sieht. Das Fach ist durch die quantitati‐ ven Methoden der Soziologie und Ökonomie „kolonisiert“ worden, und die meisten Fachvertreter legen bei der Ausbildung der Studierenden keinen Wert auf die Schu‐ lung politischer Urteilskraft. Sie verstehen politikwissenschaftliche Seminare nicht als einen Raum, in dem die Befähigung, Politik zu betreiben, zu beurteilen und zu kommentieren, vermittelt wird, sondern sehen darin einen Trainingsplatz für die wis‐ senschaftliche Analyse möglichst eng umrissener Politikfelder. Man könnte auch sa‐ gen: Im Prozess ihrer Szientifizierung ist die Wissenschaft von der Politik zuneh‐ mend zu einer Wissenschaft von Verwaltungsabläufen geworden, und dabei ist der Zeithorizont, der dabei ins Blickfeld kommt, auf ein Jahrzehnt in die Vergangenheit und eines in die Zukunft zusammengeschrumpft. Es dominiert die Nahperspektive. Weitblick traut man sich schon aus methodischen Erwägungen nicht mehr zu. Eine Folge dessen ist, dass die politische Ideengeschichte, der klassische Trai‐ ningsplatz für die Entwicklung politischer Urteilskraft, in der Struktur politikwissen‐ schaftlicher Institute eine zunehmend marginale Rolle spielt und sich statt dessen ein Verständnis von politischer Theorie durchgesetzt hat, bei dem die Theorie bloß eine willfährige Dienerin der erwähnten Nahbeobachtung administrativer Prozesse ist. Um nicht missverstanden zu werden: Ich will das Erfordernis einer solchen Theorie nicht in Abrede stellen; was ich aber bestreiten möchte, ist der von deren Vertretern tollkühn, d.h. in reflexionsfreier Naivität, vertretene Anspruch, damit das Theorieer‐ fordernis der Politikwissenschaft hinreichend bedient zu haben. Das will ich ein we‐ nig erläutern. Die szientistische Ausrichtung des Fachs beruht – uneingestanden – auf der An‐ nahme, man habe es in der Politik mit Problemen und Schwierigkeiten, mitunter auch mit Unwägbarkeiten zu tun, nicht aber mit unausrechenbaren strategischen Ge‐ genspielern. Das zeigt sich darin, dass solche strategischen Gegenspieler, wenn sie denn überhaupt vorkommen, als „Vetospieler“ bezeichnet werden, womit die ihnen verfügbaren Optionen auf Ja oder Nein reduziert sind. Durch die Reduktion ihrer Kreativität beim Gegenhandeln auf das bloße „Nein“ werden sie szientistisch gebän‐ digt und handhabbar gemacht. Das ist zugleich der Grund dafür, warum die Annah‐

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men und Prognosen einer solcherart kupierten Politikwissenschaft immer dann in sich zusammenfallen, wenn Gegenspieler auftauchen, die von der ganzen Fülle der Möglichkeiten kreativen Gegenhandelns Gebrauch machen. Sie sind im szientisti‐ schen Modell nicht vorgesehen, und wenn man sich nicht damit retten will, dass man ihr Auftreten zu einem Problem der Politik, aber nicht der Politikwissenschaft er‐ klärt, muss man dann doch Anleihen bei der politischen Urteilskraft und bei histori‐ schen Parallelen und Analogien machen. Weil man den Umgang mit historischen Analogien aber nicht reflektiert hat, weil man sich mit deren Voraussetzungen und ihrer begrenzten Reichweite nicht beschäf‐ tigt hat, werden diese Anleihen zu einem Rückzug in die Banalität freien Assoziie‐ rens oder zur schematischen Übertragung von Konflikt und Kriegsverläufen aus der Vergangenheit in die Gegenwart.13 Je enger die Grenzen einer Wissenschaft sind, desto banaler werden die Äußerungen von Wissenschaftlern, sobald sie sich außer‐ halb dieser Grenzen bewegen. Politik ist aber ein Terrain, bei dem die damit befass‐ ten Wissenschaftler sich notorisch außerhalb der von ihnen bearbeiteten engen Fel‐ der bewegen müssen. Peter Graf Kielmansegg kann sich dort bewegen. Das hat, be‐ haupte ich, mit dem Training politischer Urteilskraft zu tun, als das er das Fach – immer auch – verstanden und betrieben hat.

4. Historische Analogie und politische Prognose: Ein Blick auf Edmund Burke Ein Beispiel für die Folgen fehlender politischer Urteilskraft ist der Umgang mit dem so genannten Arabischen Frühling in Wissenschaft und Publizistik vor wenigen Jahren. Man hatte mit dieser Bewegung in der arabischen Welt nicht gerechnet, und es gab wohl auch keine starken Gründe, aus denen heraus man damit hätte rechnen können. Das Anfangsereignis in Tunesien war kontingent, und die rasante Ausbrei‐ tung von Protestbewegungen außerhalb Tunesiens war selbst für die Spezialisten der digitalen Kommunikation überraschend. Also griff man zu Analogien aus der jünge‐ ren Geschichte, die naheliegend erschienen, und das waren die so genannten Friedli‐ chen Revolutionen im Spätherbst 1989, als die Satellitenstaaten der Sowjetunion der Reihe nach zusammenbrachen. Diese Analogie besaß eine gewisse Plausibilität. Sie bedeutete, dass Bürgerbewegungen, die sich aus eigener Kraft der autoritären und korrupten Führer des Landes entledigt hatten (was in der Anfangsphase des Arabi‐ schen Frühlings ja auch der Fall war),14 nun eine neue politische Ordnung nach westlichem Vorbild errichten würden. Dabei wollte man sie gerne beraten und unter‐ stützen. Aber dann kam mit einem Mal alles ganz anders, und was anders kam, hätte 13 Dazu im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg und dessen Analogisierung zum Peloponnesischen und zum 2. Punischen Krieg vgl. Münkler 2014, S. 55-70. 14 Zu dieser Phase: Nordhausen/Schmid 2011; Jelloun 2011.

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sich durchaus voraussehen lassen: dann jedenfalls, wenn man über ein größeres Ar‐ senal möglicher Analogien verfügt und diese mit politischer Urteilskraft geprüft hät‐ te.15 Aber dazu hätte man sich mehr mit der politischen Ideengeschichte beschäfti‐ gen müssen.16 Die naheliegende Alternative zur Analogie von 1989 war die von 1789 oder bes‐ ser von 1792 bis 1814, also die Zeit vom Beginn der radikalen Phase der Französi‐ schen Revolution bis zum Zusammenbruch der napoleonischen Großreichsbildung: eine Revolution, die nicht auf die Veränderung der politischen Ordnung beschränkt blieb, sondern eine Dynamik entwickelte, die schon bald auf die städtischen Massen und das Land außerhalb der Hauptstadt übergriff, die also zu einer Revolution der gesellschaftlichen Ordnung wurde.17 Durch ihre sich überschlagende Dynamik rief sie die Sehnsucht nach dem starken Mann hervor, der die ständigen Veränderungen in geordneten Bahnen bringen sollte und den Menschen wieder eine stabile Erwar‐ tungssicherheit geben würde. Gleichzeitig stellte die Revolution mit expansiver Wucht die bestehenden Grenzen der europäischen Staatenwelt in Frage, griff weit über die Grenzen Frankreichs hinaus und mündete schließlich in eine Abfolge von Kriegen, die erst durch eine mächtige Koalition mit Großbritannien und Russland an der Spitze sowie Preußen und Österreich als „Zünglein an der Waage“ beendet wur‐ den. Das war die alternative historische Parallele zu der von den „friedlichen Revo‐ lutionen“ im Hinblick auf die Ereignisse in der arabischen Welt. – Historische Ana‐ logien haben Grenzen, und niemals sind sie die Blaupausen für den aktuellen Gang der Geschichte. Sie sind bei ihrer Anwendung auf Urteilskraft angewiesen. Wie muss man sich das vorstellen? Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France sind ein Beispiel für den Gebrauch von Analogien unter der Kontrolle politischer Urteilskraft.18 Als im Jahre 1790 noch niemand von Napoleon wusste und ihn keiner kannte, prognostizierte Burke den Aufstieg eines Militärs, der die Macht an sich reißen werde. Wie konnte Burke das wissen? Für ihn war der Blick zurück naheliegend, der Blick in die engli‐ sche Geschichte, in diesem Fall auf die Revolution von 1640-1660, die bloody revo‐ lution, und nicht auf die Revolution von 1688/89, die glorious revolution, und dabei stieß er auf den Lordprotektor Oliver Cromwell, die Macht der Generäle, die Säube‐ rung des Parlaments durch Oberst Pride usw. Burke entwickelte daraus ein Verlaufs‐ modell, das den Fortgang der Französischen Revolution in erstaunlicher Präzision antizipierte. Die Französische Revolution wurde keineswegs zu einer Wiederholung 15 Vgl. aus einer desillusionierten Sicht: Clasmann 2015; Lynch 2016. 16 Dazu das Einleitungskapitel „Was ist und wozu studiert man politische Theorie und Ideenge‐ schichte“ in Münkler/Straßenberger 2016, S. 11-25. 17 Furet/Richet 1989, S. 84ff., S. 160ff. haben von drei Revolutionen, der Revolution der Nota‐ beln, der Revolution der Pariser Straße und der Revolution des Landes, gesprochen, die sich teleskopartig zusammenschoben und das revolutionäre Projekt zum „entgleisen“ brachten. 18 Burke 1967.

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der bloody revolution in England, aber die strukturelle Prägung eines Revolutions‐ verlaufs, die sich von 1640-1660 ausmachen lässt, zeigt sich auch zwischen 1789 und 1814/15. Burkes Argumentation beginnt damit, dass er sich mit einer historischen Analogie auseinandersetzt, die er für falsch hält und von der er befürchtet, dass sie gefährliche Illusionen in der englischen Gesellschaft verbreiten werde. Der Dissenter Richard Price hatte in einer Predigt die These aufgestellt, die Revolution in Frankreich sei der in England von 1688/89 vergleichbar, ähnele also der glorious revolution. Burke widerspricht dem; er hält die Analogie für falsch und darum politisch irreführend; deswegen untersucht er eingehend die revolutionären Ereignisse in Frankreich. Da‐ bei kommt er zu dem Ergebnis, dass sie eher denen von 1640-1660, also der bloody revolution, vergleichbar sind. Aber er bedient sich zusätzlich auch der Analogien aus der antiken Geschichte, etwa, wenn er über die mathematisch rationalen Prinzipien, nach denen die Neueinrichtung der sozio-politischen Ordnung Frankreichs erfolgt, unter Verweis auf die Eroberungspolitik Roms mit ironischem Unterton bemerkt: „Sie haben Frankreich in eben der Manier freigemacht, in welcher die Römer, jene alten, redlichen Freunde der Rechte des Menschen, Griechenland, Mazedonien und andere Länder mit der Freiheit beschenkten. Unter dem Vorwand, die Unabhängig‐ keit jeder einzelnen Stadt zu sichern, rissen sie die Bande entzwei, die das Ganze zusammenhielten.“19 Schließlich beschäftigt sich Burke noch mit dem Zustand der seit Beginn der Re‐ volution schrittweise zerfallenden Armee und stellt die These auf, diese Armee wer‐ de sich nie zum politischen Instrument einer Versammlung machen lassen, „die nie länger als zwei Jahre in ihrer Würde verbleibt“, denn „es ist bekannt, wie schwer es zu allen Zeiten gehalten hat, Armeen zu einem anhaltenden Gehorsam gegen bürger‐ liche Senate und Volksversammlungen zu bringen“.20 Neben dem Aufstieg Oliver Cromwells und der Offiziere seiner New Model Army dürfte Burke an dieser Stelle auch die Rolle der Legionen in der Spätphase der römischen Republik vor Augen gehabt haben. Er schreibt, es werde immer wieder zu Meutereien und Erhebungen kommen, „bis irgendein allgemein beliebter General, der die Kunst versteht, den Soldaten zu fesseln, und der den wahren Geist eines militärischen Befehlshabers be‐ sitzt, es dahin bringen wird, aller Augen auf sich allein zu richten. Diesem werden die Armeen aus persönlicher Ergebenheit gehorchen. Keine andere Art von Gehor‐ sam ist in dieser Lage der Sachen vom Soldaten zu erwarten. Von dem Augenblick aber, da dies geschehen wird, muß der Mann, der die Armee wirklich kommandiert, auch Meister alles übrigen werden; er muß Herr […] des Königs, Herr der gesetzge‐ benden Versammlung, Herr der ganzen Republik sein.“21 – Das war eine ziemlich 19 Ebd., S. 272. 20 Ebd., S. 307. 21 Ebd., S. 307f.

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genaue Beschreibung der politischen Karriere, die Napoleon Bonaparte wenige Jah‐ re später machen sollte. Edmund Burke, diese herausragende Gestalt der politischen Ideengeschichte, hat also historische Themen genutzt, um aktuelle politische Entwicklungen antizipieren zu können. Man kann von ihm einiges lernen, aber dazu muss man sich mit ihm be‐ schäftigt haben, was diejenigen, die eine eilfertige Analogie zwischen dem Arabi‐ schen Frühling und den Friedlichen Revolutionen von 1989 herstellten, offensicht‐ lich nicht getan haben. Überflüssig zu erwähnen, dass Burkes Denken von einer ge‐ hörigen Portion Skepsis gekennzeichnet war – womit wir wieder bei Graf Kielman‐ seggs Verständnis von politischer Wissenschaft sind. Edmund Burke war ein Libe‐ ralkonservativer, denen auch Graf Kielmansegg zuzurechnen ist.22

5. Legitimation durch Nutzen: Die Politikwissenschaft im System der Wissenschaften Der Gebrauch historischer Themen in politikwissenschaftlicher Absicht ist eine Her‐ angehensweise an Probleme, die sich nicht stringent szientifizieren lässt. Man kann daraus schlussfolgern, dann habe sie auch in der Wissenschaft nichts zu suchen, son‐ dern ihr Platz sei eher im leichtfüßigen politischen Feuilleton. Diese Konsequenz ha‐ ben viele Fachkollegen bekanntlich gezogen; sie beschränken sich in ihrer Arbeit als Wissenschaftler auf immer speziellere und engere Themen. Frei nach Wittgenstein: Wovon man methodisch kontrolliert nicht sprechen kann, davon sollte man als Wis‐ senschaftler schweigen. Das ist durchaus konsequent, hat aber ein Problem: Wenn es einmal wirklich um Politik geht, herrscht seitens der Politikwissenschaft als Fach ein großes Schweigen; andere Wissenschaften übernehmen dann das Sprechen, weil sie – im Gegensatz zu Politikwissenschaft – glauben, sie hätten über Politik etwas zu sagen. Das können wir zurzeit beobachten, wo sich Kulturwissenschaft, Philosophie und Geschichtswissenschaft immer mehr aus dem einstigen Arbeitsfeld der Politik‐ wissenschaft zurückholen. Infolgedessen steht diese zunehmend vor dem Problem, den Nachweis ihres gesellschaftlichen Nutzens zu erbringen, seitdem sie zu so vie‐ len in ihren Zuständigkeitsbereich fallenden Fragen notorisch schweigt. Es gibt Wissenschaften, die sich nicht beständig um den sinnfälligen Nachweis ihres gesellschaftlichen Nutzens bemühen müssen, sondern denen es genügt, wenn davon die Rede ist, einer aus ihren Reihen sei nahe daran, ein Problem zu lösen, an dem andere bislang gescheitert seien. Was für ein Problem das ist, spielt keine Rolle, und was an ihm das Problematische ist, das geklärt werden muss, würde auch kaum 22 Zu dieser Charakterisierung vgl. Krockow 1986, S. 71-79. Zur Bedeutung liberal-konservativen Denkens für die Geschichte der Bundesrepublik vgl. Hacke 2006. Hacke rechnet auch Graf Kielmansegg dieser Denktradition zu.

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einer von denen verstehen, denen es erklärt wird. Das ist der Vorteil der Naturwis‐ senschaften. Ihnen wird ein Nutzen zugeschrieben, den sie nicht ständig und immer wieder aufs Neue unter Beweis stellen müssen. Die Politikwissenschaft besitzt die‐ sen Vorzug nicht, und sie wird auch nicht in diese Situation kommen, wenn sie sich auf dem Weg der Szientifizierung noch weiter spezialisiert und differenziert. Wahr‐ scheinlich ist das eine der Trennlinien zwischen dem, was im Angloamerikanischen sciences und humanities heißt, ohne dass dies in der Benennung unseres Fachs – political science – semantisch so abgebildet wird. Die Politikwissenschaft kann sich mit einem Teil ihrer Arbeitsgebiete sehr wohl in den Bereich der sciences begeben, aber sie muss mit einem anderen im Feld der humanities bleiben, und entgegen einem unter Fachkolleginnen und -kollegen verbreiteten Gestus sind die im Feld der sciences Tätigen immer die legitimatorischen Kostgänger der in den humanities Ver‐ bliebenen. Ich will diese These abschließend noch einmal an dem Problemfeld des Lernens aus historischen Themen erläutern. Normalerweise haben sozio-politische, sozio-ökonomische Ordnungen eine ge‐ wisse Stabilität, die dafür sorgt, dass aus dem – in der Begrifflichkeit Reinhard Ko‐ sellecks23 – gegenwärtigen Erfahrungsraum Schlüsse für die Konstitution eines Er‐ wartungshorizonts gezogen werden können, und wenn man dieses alltägliche Ver‐ halten szientifiziert, nimmt man große Datenmengen und extrapoliert sie in die Zu‐ kunft, um verlässliche Aussagen über den zunächst unzuverlässig imaginierten Er‐ wartungshorizont machen zu können. Das Problem ist, dass die Zuverlässigkeit die‐ ses Verfahrens an der Stabilität der bestehenden oder angenommenen Ordnung hängt. Wenn diese fragil wird oder zerbricht, ist es auch um die Zuverlässigkeit der Extrapolationen geschehen. Sie sind im buchstäblichen Sinn wertlos geworden. Wir haben derlei zuletzt bei den Demoskopen erlebt, die sich mit ihren Vorhersagen zum Brexit-Votum in Großbritannien und zur US-amerikanischen Präsidentschaft gründ‐ lich blamiert haben. Heißt: eine szientifizierte Politikwissenschaft ist auf die Stabili‐ tät von Rahmenbedingungen angewiesen, die sie selber nicht kontrollieren, ge‐ schweige denn garantieren kann. Das ist mehr als eine Unbehaglichkeit für das Fach: Es ist ein strategisches Problem, und der Umgang mit ihm legt nahe, dass ein Teil des Fachs im Sinne der angesprochenen Begrifflichkeit in dem humanities ver‐ bleibt, wo er nicht – oder jedenfalls sehr viel weniger – bei der methodischen Grundlegung von wissenschaftlichen Aussagen auf die Stabilität sozialer und politi‐ scher Ordnungen angewiesen ist. Im Gegenteil: Von hier aus kann er deren Instabili‐ tät, ihren Zerfall und ihre Zerstörung am besten beobachten. Die Szientifizierung des Fachs fand in einer Periode großer Stabilität bzw. einsin‐ niger Entwicklungsprozesse statt. Diese Zeit ist nun offenkundig vorbei. Der Auf‐ stieg der Autokraten, die politische Renaissance des Nationalstaates, die offene Fra‐

23 Koselleck 1979, S. 349-375.

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ge, wie die Zukunft der Demokratien aussehen wird – all diese Fragen lassen sich mit Datenextrapolationen nicht beantworten und, wo das doch der Fall ist, sind die Aussagen nicht besser begründet, als das bei historischen Analogien und Parallelen der Fall ist. Wir bewegen uns gegenwärtig in eine solche Periode zerbrechender Ordnungen hinein. Gerade in ihr werden von unserem Fach Antworten erwartet. In diesem Sinne wird die Art, in der Graf Kielmansegg das Fach beackert und gepflegt hat, auch in Zukunft nicht der Vergangenheit angehören.

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Jürgen Kocka Nach der Katastrophe und vor neuen Herausforderungen. Im Anschluss an Kielmanseggs „Geschichte des geteilten Deutschland“

1. Wer eine gekonnte, zuverlässige und rundum gelungene Geschichte Deutschlands 1945 bis 1990 – mit Berücksichtigung der Wiedervereinigung, die sie in einen ande‐ ren Aggregatzustand überführte – sucht, kann weiterhin nichts Besseres finden als Peter Graf Kielmanseggs „Nach der Katastrophe“.1 Das in den 1990er Jahren ge‐ schriebene und im Jahr 2000 erstmals veröffentlichte Buch ist merkwürdig wenig besprochen worden, obwohl es auf Grund seiner Substanz, Qualität und Ausgewo‐ genheit eigentlich den Rang eines Klassikers besitzt. Zwei Fragestellungen leiten die umfang- und detailreiche Darstellung auf breiter Literatur- und Quellenbasis. Einerseits: Wie gelang es den Deutschen, sich aus der tiefen, selbstverschuldeten Katastrophe von Diktatur, Weltkrieg und Niederlage her‐ auszuarbeiten, wie beeinflussten die Nachwirkungen dieser Katastrophe und der Umgang mit ihr die Geschichte Deutschlands, der Bundesrepublik und der DDR, in den folgenden Jahrzehnten? Andererseits: Was bedeutete die Teilung des Landes in zwei entgegengesetzte, wenn auch verflochtene Gesellschaften und Staaten, für die deutsche Geschichte in Europa und der Welt? Wie zwei lockere rote Fäden struktu‐ rieren diese beiden Fragestellungen die vieldimensionale Darstellung, in der die Po‐ litik- und Institutionengeschichte zentral sind, Kapitel über Wirtschaft und Gesell‐ schaft nicht fehlen, die Geschichte der Hoch- und der Alltagskultur dagegen am Rande bleibt. Das Buch ist anschaulich, spannend und leserfreundlich. Der Autor er‐ zählt nicht, er argumentiert. Nicht dass er die Modelle und Theorien der Sozial- und Politikwissenschaften aufnähme, fachsprachlichen Jargon meidet er konsequent. Aber durch das explizite Aufwerfen von Fragen, auf die dann Antworten gesucht, nachvollziehbar geprüft und schließlich gegeben werden, wird das Buch durch und durch analytisch. Die Darstellung wird kontinuierlich von Reflexion auf das eigene Vorgehen unterbrochen, Zweifel werden nicht unterdrückt, manches bleibt ausdrück‐ lich offen. Immer wieder weist Kielmansegg darauf hin, dass es auch anders hätte kommen können, und: dass es auch andere Interpretationen gibt als die eigenen, die

1 Peter Graf Kielmansegg, Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000.

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er gleichwohl entschieden, wenn auch nie rechthaberisch vorträgt und verficht. Kiel‐ mansegg hat vor allem als Professor für Politische Wissenschaft gelehrt. Dieses Buch ist ein Beleg dafür, dass man in dieser Generation noch zum Politikwissen‐ schaftler werden konnte, ohne aufhören zu müssen, Historiker zu sein. Doch es ragt nicht zuletzt aus anderen Synthesen zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhundert dadurch hervor, dass es seine Begriffe scharf definiert, ständig systematische Bezüge herstellt und die historischen Befunde im Licht der politikwissenschaftlichen Demo‐ kratie- und Diktaturforschung zu reflektieren weiß. Dem Buch kommt die berufliche Doppelqualifikation des Autors – als Historiker und Politikwissenschaftler – zugute. Es handelt sich um Zeitgeschichte im Vollsinn des Wortes. Denn der 1937 gebo‐ rene Autor hat die Zeit, die er darstellt, selbst erlebt. Es geht in einem sehr direkten Sinn um seine Geschichte. Er wird in den ersten Nachkriegsjahrzehnten die verbrei‐ tete Sorge geteilt haben, dass Bonn doch noch Weimar werden und auch der zweite Demokratieversuch der Deutschen scheitern könne. Man spürt die – fast ein wenig erstaunte – Erleichterung des mitlebenden und rückblickenden Zeitgenossen, je deutlicher sich herausstellte, dass die Demokratiegründung in der Bundesrepublik gelang – trotz und aufgrund der nachwirkenden Katastrophe, der verbreiteten „Unfä‐ higkeit zu trauern“ (Mitscherlich) und der unzureichenden Bereitschaft der Nach‐ kriegsdeutschen, ihrer Vergangenheit ins Gesicht zu sehen. Deutlich wird seine ent‐ schiedene Distanz zu jenen Zeitgenossen, die wie Heinrich Böll oder Christa Wolf auch noch spät, in den achtziger Jahren, in „hartnäckiger Verachtung der Bonner Re‐ publik“ verharrten. Eindeutig und kompromisslos kontrastiert er die westdeutsche Demokratie mit der ostdeutschen Diktatur, so klar er andererseits herausarbeitet, wie sehr sie aufeinander verwiesen und miteinander antagonistisch verbunden waren, und so sehr er anerkennt, dass auch die DDR als ein post-und antifaschistischer Staat eine kritische Antwort auf die deutsche Katastrophe darstellte, die den Deutschen als andauernde Last gemeinsam war und blieb. Auch aus der daraus resultierenden ge‐ meinsamen nationalen Verantwortung leitet der Autor das Recht und die Pflicht zur Wiedervereinigung ab, als sie 1990 möglich wird. Kielmansegg lässt keinen Zweifel an seiner grundsätzlichen Zustimmung zur ge‐ lingenden Geschichte der Bundesrepublik, zu ihrer Verfassung und ihrer Rechtstaat‐ lichkeit, zu ihrer freiheitlichen Demokratie und ihrer sozialen Marktwirtschaft – bei häufiger Kritik und zahlreichen Zweifeln im Einzelnen. Aber sein argumentativer Umgang mit den über die Jahrzehnte zahlreich bleibenden Kritikern der Bundesre‐ publik bleibt durchweg zurückhaltend, nachdenklich und fair. Von jedwedem Trium‐ phalismus hält er sich auch nach dem Zusammenbruch der DDR und ihrer Absorpti‐ on durch die Bundesrepublik frei. Er verweist auf Fritz Stern, der bekanntlich im Sommer 1990 schrieb, Deutschland sei etwas ganz Seltenes zugestoßen: „Es hat eine zweite Chance erhalten.“ Daran schließt Kielmansegg die Frage, mit der das Buch

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endet: „Wie gut haben die 45 Jahre zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 3. Oktober 1990 die Deutschen darauf vorbereitet, ihre zweite Chance zu nutzen?“

2. Hier soll es nicht um eine nachgeholte Rezension dieses außerordentlichen Buches gehen. Vielmehr möchte ich seine erneute Lektüre als Anlass nehmen, um ein Vier‐ teljahrhundert nach seiner Entstehung einige Probleme der Gegenwart im Licht der von Kielmansegg dargestellten Geschichte zu beleuchten, und die Frage anzuschlie‐ ßen, was daraus für die zukünftige Beschäftigung mit der deutschen Zeitgeschichte folgen könnte. Dies mag zugleich zur historischen Einordnung von Kielmanseggs magnum opus beitragen. Gegenwärtig ist die öffentliche Diskussion durch die Über‐ zeugung bestimmt, dass Deutschland – Staat, Gesellschaft, Lebenswelt – krisenhaft gespalten oder fragmentiert und dass es die zentrale Aufgabe der Politik sei, den in‐ neren Zusammenhalt erneut zu stärken oder gar wiederherzustellen, nicht zuletzt durch Reintegration der von der jüngsten Entwicklung Abgehängten, Enttäuschten und Verunsicherten. So argumentieren nicht nur die zahlreichen Kritiker der gesell‐ schaftlichen Ungleichheit, des Kapitalismus, der Globalisierung und der überhaupt aus den Fugen geratenen Verhältnisse. Auch die Regierenden werden nicht müde zu erklären, dass dies eine Hauptaufgabe der Politik sei. Was ist aus historischer Per‐ spektive, im Licht der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts und auf dem Hintergrund der Darstellung Kielmanseggs zu diesem gegenwärtigen Krisenbe‐ wusstsein zu sagen? Zunächst: Kielmanseggs Darstellung macht klar, dass auch die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik von tiefgreifenden Konflikten geprägt waren. Man denke an die Auseinandersetzung um Westbindung und Aufrüstung in den fünfziger Jahren, an die umkämpfte Ostpolitik und die heftigen Sozialproteste der sechziger Jahre, aber auch an die Kämpfe um den Nachrüstungsbeschluss und die Friedensbewegung in den späten 70er und frühen 80er Jahren. Auch die Vereinigungskrise um 1990 hatte das Zeug, zu einem inneren Fundamentalkonflikt zu werden, der jedoch im Institu‐ tionengefüge der sich ausdehnenden Bundesrepublik nicht zum Ausbruch kam. Durchweg ging es um grundlegende Weichenstellungen, die heftig umkämpft waren, bevor sie – durchweg erst später – breite Akzeptanz fanden. Diese Konflikte spalte‐ ten nicht nur die Politik, sondern auch die partizipierenden Teile der Gesellschaft. Sie konstituierten die Geschichte der Bundesrepublik mit. In diesem Licht erscheint der heutige Konfliktpegel als nicht besonders hoch, so sehr sich die Struktur und die Inhalte der Konflikte auch verändert haben. Übrigens passt auch die Entwicklung der Geschichtswissenschaft – und darüber hinaus: des Umgangs mit unserer Ge‐ schichte – in dieses Bild. Von den heftigen Kämpfen zwischen Richtungen, „Schu‐

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len“ und Deutungen von den 50er bis in die 80er Jahre ist die Profession heute weit entfernt. Trotz vieler Scharmützel im Einzelnen herrscht eigentlich sehr viel Kon‐ sens, auch und gerade was Kielmanseggs Thema, die Deutung der Geschichte der Bundesrepublik, angeht. Dieser die Aufgeregtheit der gegenwärtigen Debatten rela‐ tivierende Befund wird noch viel deutlicher, wenn man die Kämpfe und nachhalti‐ gen Verwerfungen der Weimarer Republik und die wirklich gespaltene Klassenge‐ sellschaft des Kaiserreichs in den Vergleich einbezieht. Manchmal nützt eine längere Zeitperspektive, um den Sinn für Proportionen nicht zu verlieren oder wieder zu ge‐ winnen. Es sei in diesem Zusammenhang auf ein besonders gelungenes Kapitel in Kiel‐ manseggs Darstellung hingewiesen, das mit „Nachdenken über Deutschland“ über‐ schrieben ist. Es handelt sich um eine knappe, aber inhalts- und zitatenreiche Aus‐ einandersetzung mit den Deutungen der Bundesrepublik, die sich in den Schriften führender Schriftsteller und Intellektueller über die Jahrzehnte hinweg finden: Es sind durchweg sehr kritische und pessimistische Deutungen, sehr oft verzerrend, kli‐ scheehaft und ungerecht. Die Reihe der Beispiele reicht von Koeppen, Andersch und Jaspers bis zu Enzensberger und dem späten Günter Grass, bezieht aber auch Ost‐ deutsche wie Heiner Müller und Christoph Hein ein. Klar wird die erhebliche Dis‐ krepanz zwischen gesellschaftlich-politischer Realität und intellektuell-künstleri‐ schem Diskurs, die für die Öffentlichkeit freier, auf Kritik höchsten Wert legender liberal-demokratischer Systeme konstitutiv ist, aber in Deutschland aufgrund der notwendigerweise hochmoralischen Auseinandersetzungen „nach der Katastrophe“ besonders ausgeprägt war und immer noch ist. Die besondere Stärke des Autors be‐ steht darin, dass er behutsam und eindringlich nach den rationalen Kernen dieser übertreibenden Vorbehalte, alarmierenden Kritiken und fehlgehenden Prognosen fragt. Vorsichtig nähert er sich den meist ehrenwerten Motiven und Maßstäben der Kritiker mit ihrer anspruchsvollen Moral, ihrer empfindsamen Sensibilität und ihrem gleichzeitigen Desinteresse für die konkrete Analyse der immer sehr differenzierten historischen Wirklichkeit. Dass diese überschießende und aus der Rückschau oft ge‐ radezu gespenstisch irreal anmutende Kritik letztlich doch, wenn auch in einer von den Kritikern nur selten intendierten Weise, zu Verbesserungen und in diesem Fall: zum Gelingen der Bundesrepublik beitrug, wäre ein Gedanke, der sich zumindest als Hypothese anschließen ließe. Soviel zur kritischen Funktion historischen Wissens beim Versuch, auch in aufge‐ regten Zeiten den Sinn für Proportion zu verteidigen. Doch ergibt die Lektüre dieser bis in die 1990er Jahre reichenden Geschichte der Bundesrepublik auch andere, zum Teil gegenläufige Einsichten in Bezug auf das Verhältnis von Vergangenheit und Ge‐ genwart heute. Vieles, was uns derzeit umtreibt, konnte Kielmansegg vor zwanzig Jahren weder wahrnehmen noch behandeln oder voraussehen. In mancher Hinsicht

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liest sich sein Buch wie die Bilanz einer mittlerweile zu Ende gegangenen Epoche deutscher Geschichte. Mit dem Ende des großen, nicht nur machtpolitisch ausgetragenen, sondern auch ideologisch-programmatisch überhöhten Ost-West-Konflikts und der damit ermög‐ lichten Wiedervereinigung Deutschlands fiel eine der Grund-Herausforderungen und Basis-Konstanten deutscher Politik- und Gesellschaftsgeschichte weg, die Kielman‐ segg zurecht zu einer Säule seiner Interpretation gemacht hatte. Die Weltordnung ei‐ nes halben Jahrhunderts begann sich aufzulösen, die seitdem stattfindende Suche nach einer neuen war wenig erfolgreich. Viele neue Faktoren kamen ins Spiel, dar‐ unter der Aufstieg Chinas, die Vertiefung, Ausdehnung und verschärfte Krisenhaf‐ tigkeit der EU, die Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens zum weltpoliti‐ schen Pulverfass und das zuletzt erheblich beschleunigte Abrücken der USA vom lange verfolgten Ziel, hegemoniale Gestaltungsmacht zu sein, die die Welt ordnen und nicht nur militärisch und ökonomisch dominieren will. Damit fand und findet ein radikaler Wandel des weltpolitischen Zusammenhanges statt, von dem deutsche Geschichte bis ins Innerste beeinflusst wird. Verstärkt muss die jüngste deutsche Ge‐ schichte als globale Geschichte geschrieben werden. Neue Koordinaten werden be‐ nötigt, in der Geschichtswissenschaft wie in der Wirklichkeit. Seit den 1980er Jahren findet ein Strukturwandel des Kapitalismus statt, den Kiel‐ mansegg in seiner Darstellung noch kaum zur Kenntnis nehmen musste, zumal er in der Bundesrepublik zeitverschoben und nur sehr abgeschwächt auftrat. Die Stich‐ worte sind Globalisierung, Finanzialisierung, Deregulierung, Privatisierung, Zurück‐ drängung sozialstaatlicher Elemente zugunsten erhoffter Selbstregelungsfähigkeit der Märkte. Die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 ließ die Insta‐ bilität dieser manchmal als „neoliberal“ bezeichneten Wirtschaftsform klar hervor‐ treten. Diese Krise wurde in Deutschland erstaunlich rasch und erfolgreich bewäl‐ tigt, auch dank des hierzulande kraftvoll weiter bestehenden Sozialstaats auf der Ba‐ sis eines Kapitalismusmodells, das Markt und Staat relativ erfolgreich ausbalanciert und verknüpft. Doch auch in Deutschland hat die Digitalisierung begonnen, die Ar‐ beits- und Lebenswelt umzugestalten und Unsicherheit zu verschärfen. Die Vertei‐ lung der Vermögen und Einkommen ist auch hierzulande ungleicher geworden. Der zunehmend grenzüberschreitend funktionierende Kapitalismus entzieht sich der Re‐ gulierung und Zähmung mit politischen Mitteln, da diese weiterhin primär national‐ staatlich organisiert sind. Kapitalismus wird kontrovers diskutiert, Kapitalismuskri‐ tik liegt im Aufwind, sehr viel mehr als In den 1990er Jahren, als Kielmansegg seine Darstellung schrieb. Auch in der alten Bundesrepublik gab es Wellen von Zuwanderung, Asylbewer‐ ber, fehlschlagende Integration, Ressentiments und Fremdenfeindlichkeit. Deutsch‐ land war Ende der 1980er Jahre zu einem Einwanderungsland geworden, ohne es sein zu wollen. „Die alte Bundesrepublik“, heißt es in Kielmanseggs Buch, „hat das

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ganze Problembündel ungelöst an die neue weitergegeben.“ Doch im zweiten Jahr‐ zehnt des neuen Jahrhunderts hat die Zunahme von Flüchtlingen und anderen Mig‐ ranten ein bis dahin unbekanntes Ausmaß erreicht. Teils ist dies Folge von Kriegen, teils Folge und Ausdruck einer weltweit bestehenden, eklatanten Ungleichheit, die im Zuge der Globalisierung nicht mehr durch verhüllende Aufspaltung in sich ge‐ genseitig kaum zur Kenntnis nehmende Weltregionen ruhig gestellt werden kann, sondern voll transparent geworden ist und über neu entstandene globale Vernetzun‐ gen zu massenhaften Reaktionen geführt hat, zu Wanderungen, die den einen die oft einzige Hoffnung, den anderen eine tiefe Herausforderung und Bedrohung bedeuten. Es hängt zweifellos mit der Erinnerung an Verfolgung, Vertreibung und Asylsuche in der Zeit des Nationalsozialismus und mit der kritischen Bearbeitung dieses belas‐ tenden Erbes in den Jahrzehnten „nach der Katastrophe“ zusammen, dass sich Deutschland in der „Flüchtlingskrise“ von 2015/16 – und in abnehmendem Maß auch danach – als großzügiger und aufnahmebereiter, aber wohl auch als hilfloser und kurzsichtiger erwies als jedes andere europäische Land. Der Umgang mit Flüchtlingen und anderen Migranten ist in der Bundesrepublik wie in vielen anderen Ländern zum Testfall für die Fähigkeit des demokratischen Rechts- und Sozialstaats geworden, mit neuen, globalisierungsbedingten Herausforderungen umzugehen. Der Test ist noch im Gang, sein Ausgang ist offen. Die damit verbundenen Konflikte wurden zum wichtigsten Kristallisationspunkt neuer rechtspopulistischer, anti-libe‐ raler, globalisierungs- und fremdenfeindlicher, oft auch nationalistischer und protek‐ tionistischer Bewegungen, deren Aufstieg allerdings auch andere Gründe hat. Ob‐ wohl dieser Prozess in Deutschland – vor allem als Folge des jahrzehntelangen Be‐ mühens, aus der nationalsozialistischen Katastrophe zu lernen und jeden Ansatz zur Wiederholung zu vermeiden - bisher moderater verläuft als in manchem anderen Land, rücken damit auch für jede Geschichte der Bundesrepublik Probleme und Ge‐ sichtspunkte nach vorn, die Kielmansegg in den 1990er Jahren weder berücksichti‐ gen musste noch voraussehen konnte. Gegenwärtig findet ein gravierender Strukturwandel der Öffentlichkeit statt. Dazu trägt entscheidend die Digitalisierung bei, die neuartige Kommunikationschancen für wachsende Teile der Bevölkerung eröffnet und zugleich politischen Führergestal‐ ten neue Möglichkeiten bietet, sich populistisch-autoritär über intermediäre Struktu‐ ren wie Parteien, etablierte Medien und Expertengruppen hinwegzusetzen, um direkt mit ihrer tatsächlichen oder noch zu gewinnenden Basis in Verbindung zu treten. Der Manipulation eröffnen sich ganz neue Möglichkeiten. Politik als Theater, als Kampf, als Unterhaltung – die Öffentlichkeit verändert sich. Die Partizipationsmög‐ lichkeiten der vielen schrumpfen nicht, sondern nehmen zu. Große Teile der Bevöl‐ kerung nehmen heute mehr an den allgemeinen Dingen teil als früher, ihr Partizipati‐ onswillen und ihre Partizipationsressourcen haben zugenommen. Die neuen „sozia‐ len Medien“ spielen dabei eine große Rolle. In ihnen kommen verbreitete, aber oft

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entgegengesetzte Stimmungen, Emotionen, Vorurteile und Überzeugungen nicht nur zum Ausdruck, sondern sie gewinnen eben dadurch oft erst Profil und Kraft. Auch die klassischen Medien bleiben mächtig und kämpfen um Aufmerksamkeit, u.a. in‐ dem sie zuspitzen, dramatisieren und übertreiben. Über diese und andere Wege be‐ einflussen die Präferenzen, Erwartungen und Ängste der vielen die Politik, deren Personal heute stärker als früher von medial aufbereiteten öffentlichen Stimmungen beeinflusst, ja bisweilen getrieben wird. Dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit enthält zweifellos Momente von Demo‐ kratisierung. Aber – einerseits - er fragmentiert und spaltet, enthält in sich nur we‐ nig, was zu Verständigung, Ausgleich und Einigung drängt. Andererseits: Er steht in wachsender Spannung zur repräsentativen Demokratie, zur sich rechtsstaatlich be‐ grenzenden, liberalen Werten verpflichteten, parlamentarischen Politikform. Diese erscheint als zu langsam, zu blutleer, zu abgehoben und elitär, als überkorrekt und oft auch hoffnungslos überfordert. Sie enttäuscht mit Notwendigkeit die über die Jahrzehnte immer höher geschraubten Ansprüche an die Politik. Sie tut sich schwer angesichts der neuen Herausforderungen von Globalisierung und Digitalisierung, für die sie nicht erfunden worden ist. Sie steht in zunehmender Kritik. Diese äußert sich als anti-elitäre Verdrossenheit, als anti-liberales Ressentiment, als mangelnder Sinn für den Wert von Institutionen und Formen, als Entfremdung von einer Politik, die in Deutschland, EU-Europa und versuchsweise auch international auf vereinbarten Re‐ geln, rationalen Abwägungen, mühsamem Interessenausgleich und der Bereitschaft fußt, mit zweitbesten Lösungen zu leben. Denn nur solche sind über Kompromisse erreichbar. Schließlich: Es ist sicher verfehlt, vom Ende des liberalen Zeitalters zu sprechen. Aber sowohl in der internationalen Politik wie im Innern vieler, auch westlicher Gesellschaften sind illiberale bis antiliberale Alternativen derzeit heraus‐ fordernder, mächtiger und für viele auch anziehender geworden als je zuvor seit dem Ende der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, wobei sich klare Zuordnungen nach „links“ und “rechts“ verbieten. Die äußere wie die innere Verletzlichkeit liberaler Demokratie ist unübersehbar. Die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts verbreitete Überzeugung, dass sich mittel-und langfristig die Demokratie auch weltweit durch‐ setzen werde, ist tief erschüttert.

3. Die 1990er Jahre waren kein sorgloses Jahrzehnt: im Osten des Landes kam es zur Erfahrung massenhafter Entwurzelung und Fremdbestimmung; es war unklar, wohin die Wiedervereinigung das Land sozial und politisch treiben würde; ökonomisch wurde Deutschland allmählich zum „kranken Mann“ Europas. Aber die fundamenta‐ len Veränderungen und Erschütterungen, deren Folgen das gegenwärtige Krisenbe‐

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wusstsein begründen, waren, wenn überhaupt, dann nur in schwachen Ansätzen zu spüren. Sie prägten den zeitgenössischen Erfahrungshorizont noch nicht, aus dem heraus Historiker ihre leitenden Fragestellungen formulierten, wenn sie sich an eine Geschichte zurückliegender Jahrzehnte machten. Die Fragestellungen, die Kielmanseggs souveräne Darstellung leiteten, befanden sich auf der Höhe ihrer Zeit. Einerseits: wieweit und wie arbeiteten sich die beiden Deutschlands aus den tiefen Katastrophen von Diktatur, Weltkrieg und Niederlage heraus, wie beeinflussten dieses Erbe und der Umgang mit ihm die deutsche Ge‐ schichte der folgenden Jahrzehnte? Und andererseits: Was bedeutete die Teilung des Landes in zwei entgegengesetzte, wenn auch verflochtene Gesellschaften und Staa‐ ten, für die deutsche Geschichte im Innern, in Europa und der Welt? Damit erschloss Kielmansegg absolut zentrale Dimensionen der deutschen Zeitgeschichte im europä‐ ischen Zusammenhang, damit strukturierte er das schier überwältigend komplexe Material, damit formte er eine vieldimensionale historische Darstellung, die – was so kurz nach der Wiedervereinigung noch nicht selbstverständlich war – die Ge‐ schichte von Bundesrepublik und DDR überzeugend verknüpfte. Diese Fragestellun‐ gen und Argumentationen sind auch gegenwärtig relevant, und sie werden auch die zukünftige Beschäftigung mit der deutschen Geschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mitprägen. Doch wird Neues und Anderes hinzukommen. Denn die Erfahrungen der Gegen‐ wart und die zukunftsgerichteten Erwartungen, Hoffnungen und Befürchtungen be‐ einflussen die Fragen, mit denen Historiker auf die Vergangenheit blicken. Wie wer‐ den sich die Umwälzungen der jüngsten Vergangenheit, die die Gegenwart umtrei‐ ben, auf die Geschichte der vorangehenden Jahrzehnte auswirken? Dazu sind derzeit nur Vermutungen – oder Empfehlungen – möglich. Vor allem wird man die globalgeschichtlichen Bedingungen und Dimensionen der deutschen Geschichte stärker herausarbeiten. Man wird noch deutlicher betonen, wie sehr die inneren Entwicklungen – einschließlich der bundesrepublikanischen Er‐ folgsgeschichte – von einer internationalen Konstellationen bedingt waren, in der der umfassende Gestaltungsanspruch und die Macht – auch die soft power – der Amerikaner den wichtigsten Einflussfaktor darstellten. Je weniger selbstverständlich oder auch nur wahrscheinlich der Siegeslauf der liberalen Demokratie weltge‐ schichtlich erscheint, desto bohrender dürfte die Frage werden, welche gesellschaft‐ lichen, kulturellen und ökonomischen Faktoren die Durchsetzung und das Überleben dieser Politikform in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch ermöglicht haben. Unter dem Eindruck der Probleme der jüngsten Zeit wird man bei der historischen Rekonstruktion der vorausgehenden Jahrzehnte auch die Frage ver‐ folgen, wie diese Probleme damals gelöst wurden, oder: warum sie noch nicht viru‐ lent wurden. Umgekehrt wird man nach Spuren und Anzeichen fragen, die auch schon vor 1990 auf die Umwälzungen der folgenden Jahrzehnte hindeuteten, sie an‐

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gekündigten oder vorbereiteten. Das lässt sich erst rückblickend in Kenntnis der Fol‐ gen rekonstruieren. Kielmanseggs leitende Fragen – die nach dem Umgang mit der Katastrophe und die nach der Bedeutung der deutsch-deutschen Teilung, hierbei auch nach dem Ver‐ hältnis von Demokratie und Diktatur - bleiben zentral. Es ist auch keineswegs aus‐ geschlossen, dass unter dem Einfluss politischer Veränderungen in der Gegenwart geschichtspolitisch sehr relevante Grundfragen nach Verantwortung, Schuld und Er‐ innerung in der deutschen Geschichte wieder kontrovers aufbrechen und dazu beitra‐ gen, dass die oben erwähnte Konsensphase der deutschen Zeitgeschichte zu Ende geht. Aber vermutlich werden sozialökonomische, sozio-kulturelle und zivilisations‐ geschichtliche Dimensionen an Gewicht gewinnen, die über die deutsche Geschichte hinausweisen, sie grenzüberschreitend einbetten und damit verändern. Wandel steht an. Wohin er führt, wird sich erst in der geschichtswissenschaftlichen Praxis und in zukünftigen öffentlichen Diskursen ergeben.

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Eckhard Jesse Peter Graf Kielmansegg zwischen Geschichtswissenschaft und Politikwissenschaft

1. Geschichtswissenschaftler oder Politikwissenschaftler? Peter Graf Kielmansegg, geboren 1937, ist einer der bedeutendsten Geisteswissen‐ schaftler Deutschlands. Zahlreiche Preise, etwa der Sigmund-Freud-Preis und der Schader-Preis, sowie mehrere Ehrungen zeugen von hoher Reputation.1 Kaum ein Gelehrter hat in den letzten Jahrzehnten als Gastautor in der „Frankfurter Allgemei‐ nen Zeitung“ so viele (über 50!) und so lange Artikel verfasst wie er. Seine wissen‐ schaftliche Laufbahn verlief anfangs verschlungen. Welcher Profession gehört(e) er an? Peter Graf Kielmansegg ist zunächst ausgebildeterJurist – 1961 legte er das Erste Juristische Staatsexamen in Kiel ab. In seinen Studien spielt der juristische Aspekt jedoch so gut wie keine Rolle – Bezugnahmen auf das Staatsrecht fehlen nahezu gänzlich. Die Antwort auf die Frage nach dem juristischen Ansatz fällt daher einfach aus: Mit Fug und Recht lässt sich sein Werk nicht der Rechtswissenschaft zurech‐ nen, wiewohl ihm die im Jurastudium gelernte konsistente Argumentation später von Vorteil war. Peter Graf Kielmansegg ist ferner ausgebildeter Historiker. 1964 an der Universi‐ tät Bonn mit einem Thema über das frühe 19. Jahrhundert promoviert, verfasste er vier Jahre später ein so dickes wie gelehrtes Werk über den Ersten Weltkrieg. Zudem kam 2000 eine ebenfalls mehr als 700-seitige Arbeit über die Geschichte des geteil‐ ten Deutschland heraus. Peter Graf Kielmansegg ist überdies, last not least, Politikwissenschaftler. 1971 erfolgte an der TU Darmstadt die politikwissenschaftliche Habilitation mit einer de‐ mokratietheoretischen Studie. Er nahm von 1971 bis 1985 sowie von 1985 bis 2002 politikwissenschaftliche Professuren in Köln und Mannheim wahr. Im Allgemeinen gilt Graf Kielmansegg daher als Politikwissenschaftler. Aber ist die Fixierung auf die Politikwissenschaft, und hier auf die Demokratie‐ theorie, nicht eine Verkürzung? Leicht fällt die Antwort keineswegs. Die Kernfrage dieses Beitrages lautet: Ist Kielmansegg in erster Linie Historiker oder in erster Li‐ 1 Vgl. Gallus/Thümmler 2014; Münkler 2018; Stein 2018; Cavuldak 2018. Von Sandra Wirth er‐ scheint 2019 ihre an der TU Chemnitz angefertigte Dissertation, eine Werkbiographie über Peter Graf Kielmansegg.

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nie Politikwissenschaftler – und zwar bezogen auf die Studien, die gemeinhin als „historisch“ gelten? Dafür sollen insbesondere seine zwei umfangreichsten Werke als Referenz herangezogen werden: auf der einen Seite die Arbeit über den Ersten Weltkrieg, auf der anderen Seite die über das geteilte Deutschland. Handelt es sich bei ihnen in erster Linie um historische oder um politikwissenschaftliche Studien? Stehen Akteure im Vordergrund oder Strukturen? Sind die Grenzen fließend? Wer diese Fragen beantworten will, muss Unterschiede zwischen Geschichts- und Politikwissenschaft ausmachen. Dies ist wegen der schwammigen Übergänge zwi‐ schen beiden Fächern nicht einfach. Die oft in der Bevölkerung vernehmbare Mei‐ nung, die Geschichtswissenschaft behandle Fragen der Vergangenheit, die Politik‐ wissenschaft solche der Gegenwart, greift zu kurz. Abgesehen von der schwierigen Zeitfrage (Was ist Vergangenheit, was Gegenwart?) trifft das insofern nicht zu, als es ja auch „Zeitgeschichte“ gibt; und ebenso erörtert die Politikwissenschaft Fragen zu Komplexen, die in der Vergangenheit wurzeln. Allerdings nährt die Politikwissen‐ schaft dieses Vorurteil, wenn sie sich bei zurückliegenden Vorgängen kaum zu Worte meldet und der Geschichtswissenschaft das Feld überlässt. Um das an der DDR-For‐ schung zu belegen: Diese „bedarf stärker der Ergänzung durch politikwissenschaftli‐ che Ansätze, die systematisieren, strukturieren, typologisieren, vergleichen.“2 Peter Graf Kielmansegg gehört zu den Ausnahmen.3 Vielleicht lässt sich doch ein Zeitbezug herstellen. Idealtypisch gesprochen: Die Geschichtswissenschaft fragt eher danach, wie „es“ war, die Politikwissenschaft da‐ nach, wie „es“ wurde. Im ersten Fall steht somit der historische Verlauf im Vorder‐ grund, also das Vergangene, im zweiten Fall das Ergebnis, also die Gegenwart. Pau‐ schal formuliert: Die Geschichtswissenschaft ist stärker narrativ ausgerichtet, die Politikwissenschaft stärker analytisch. Eine chronologische Vorgehensweise ist mehr in der Geschichtswissenschaft verbreitet, eine systematische mehr in der Politikwis‐ senschaft. Das eine Fach will das Besondere erfassen, das andere das Allgemeine. Der Vergleich hat damit eher in der Politikwissenschaft seinen Platz als in der Ge‐ schichtswissenschaft.4 Die Theoriebildung ist stärker in der Politikwissenschaft ent‐ wickelt, wenngleich gerade Sozialhistoriker auch hier ihren Beitrag geleistet haben.5 Der Begriff der „historischen Sozialwissenschaft“ bürgerte sich dafür ein.6 In Deutschland gab es lange Doppellehrstühle für Politikwissenschaft und für Ge‐ schichtswissenschaft, etwa in Bonn mit Karl Dietrich Bracher, in Kiel mit Michael Freund und in Mannheim mit Hermann Weber. Die historischen Grundlagen fristen heute im Zuge der fortschreitenden Szientifizierung der Politikwissenschaft ein stiefmütterliches Dasein. Was sich verbietet: die eine Disziplin gegen die andere 2 3 4 5 6

Vgl. Jesse 2016, S. 121. Vgl. Kielmansegg 2014. Vgl. Beyme 2013. Vgl. Kocka 1986; Kocka 2002. Vgl. Wehler 1974.

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auszuspielen, wie das früher in Deutschland der Fall war7, als die Zunft der Ge‐ schichtswissenschaft etwas herablassend auf das als neu geltende Fach Politikwis‐ senschaft schaute oder später, als Teile der „modernen“ Politikwissenschaft die als “theoriearm“ geltende Geschichtswissenschaft belächelten. Und ebenso verbietet sich „Geschichtspolitik“ wie „Volkspädagogik“, jedenfalls in der Wissenschaft: mit Hilfe der Geschichte Politik zu betreiben, wie es beim Kampf um kulturelle Hege‐ monie nicht selten der Fall ist. Alexander Gallus, der zu den Wissenschaftlern ge‐ hört, die beide Disziplinen zusammenführen möchten8, plädiert dafür, ein Gespür für die jeweils unterschiedlichen Sichtweisen zu entwickeln. „Gelungene Interdiszipli‐ narität kann dabei nicht darin bestehen, dass die beteiligten Fächer nur die Erkennt‐ nisse des jeweils anderen reproduzieren und als die eigenen ausweisen.“9 Zum Aufbau dieses Beitrages: Das folgende Kapitel stellt das demokratietheoreti‐ sche Werk Peter Graf Kielmanseggs in nuce vor. Hier besteht Konsens über die poli‐ tikwissenschaftliche Konzeption. Das dritte Kapitel zielt auf die Dissertation und vor allem das Weltkriegsbuch, auf Studien aus den 1960er Jahren, das vierte insbe‐ sondere auf die große Studie über das geteilte Deutschland und die „langen Schat‐ ten“, jeweils unter der erwähnten Fragestellung. Im letzten Kapitel erfolgt zum einen eine Antwort auf die Frage „Historiker und/oder Politikwissenschaftler?“, zum ande‐ ren eine Einordnung des Werkes von Peter Graf Kielmansegg unter prinzipiellen Ge‐ sichtspunkten.

2. Peter Graf Kielmansegg als Demokratietheoretiker Peter Graf Kielmansegg analysiert in seinen Publikationen wiederholt das komplexe Gefüge des demokratischen Verfassungsstaates, die spannungsreiche Synthese aus dem Demokratie- und dem Verfassungsprinzip. Mit dem „Experiment der Freiheit“ ist der demokratische Verfassungsstaat gemeint.10 Ein anderer Buchtitel – Die Gram‐ matik der Freiheit“11 – spielt auf eine Formel Thomas Paines an, einen der Gründer‐ väter der Vereinigten Staaten. „Ohne Kenntnis der Grammatik der Freiheit“, so Kiel‐ mansegg unter Berufung auf ihn, „gibt es kein Leben in Freiheit.“12 Sein „Nachden‐ ken über die Demokratie“, dies der Titel einer Aufsatzsammlung,13 ist von dem Wil‐ len geprägt, ihre Wurzeln und freiheitlichen Strukturprinzipien zu verdeutlichen. In der ideengeschichtlichen Habilitationsschrift wandte sich Kielmansegg der Frage 7 8 9 10 11 12 13

Zu den Ausnahmen zählt der konstruktive Beitrag von Hans Mommsen: Mommsen 1962. Vgl. auch Marx 2007. Gallus 2016, S. 222. Vgl. Kielmansegg 1988. Vgl. Kielmansegg 2013a. Ebd., S. 7. Vgl. Kielmansegg 1980.

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nach der Legitimität politischer Herrschaft zu.14 Er votierte hier, und nicht nur hier, entschieden gegen eine Absolutsetzung der Volkssouveränität.15 Wohl kaum eine Kategorie spielt für ihn eine derart zentrale Rolle wie Legitimität16, die für ihn eine normative und analytische Dimension besitzt.17 In den beiden jüngsten Sammelbänden – zur Demokratie- (2013) und zur EuropaThematik (2015) – kommt die Quintessenz des Kielmanseggschen Werkes gut zum Tragen. Die „acht Versuche“ aus der „Grammatik der Freiheit“18 sind wahre Lektio‐ nen: zum Begriffspaar Demokratie und Wahrheit (mit einem Votum für Wertgewiss‐ heit), zur „Quadratur des Zirkels“ (dem Spannungsverhältnis von Volkssouveränität und Amtsprinzip), zur Unentbehrlichkeit der Parteien, zur Kritik an der direkten De‐ mokratie, zur Akzeptanz der Verfassungsgerichtsbarkeit, der „Instanz des letzten Wortes“ (Josef Isensee), zum Zusammenhang von Demokratie und Marktwirtschaft, zur Einordnung des Schlüsseljahres 1989 sowie zur Zukunft des Verfassungsstaates. Die scharfsinnigen Überlegungen regen zum Nachdenken an, wie die drei letzten Essays zeigen mögen. Erstens: Hieß es noch in den 1980er Jahren, Demokratie kön‐ ne auch mit einer Planwirtschaft funktionieren, so ist davon heute fast nichts mehr zu lesen.19 Die Diagnose Kielmanseggs, die Demokratie sei auf Marktwirtschaft an‐ gewiesen, diese nicht unbedingt auf Demokratie, hat viel für sich, wenngleich der Autor bezweifelt, ob Diktaturen die Einflüsse der Marktwirtschaft auf Dauer steuern können. Für ihn bedeutet diese ein Stück an Gewaltenteilung, höhere Leistungsfä‐ higkeit, die Demokratien benötigen, sowie Entlastung der Politik durch den Markt, etwa bei der Einkommensverteilung. „Der demokratische Verfassungsstaat und die Marktwirtschaft stehen als Komponenten einer freiheitlichen Gesellschaftsordnung in einem Verhältnis der Komplementarität zueinander, das nicht angemessen als Über- oder Unterordnung beschrieben werden kann. […] Wenn man eine Metapher sucht: Es ist eine Ehe, eine alles andere als einfache Ehe, aber wenn sie denn gelingt, eine beiden Partnern sehr bekömmliche Ehe. Auch für eine Ehe ist die Frage nach dem Primat nicht hilfreich.“20 Zweitens: Das Epochendatum 1989 signalisiert den Sieg über ein anderes Epochendatum. Der Autor interpretiert die Oktoberrevolution 1917 „als ein gewaltiges Demokratieexperiment“.21 Gewiss, Kielmansegg stellt auf das Selbstverständnis der Revolutionäre ab, aber wäre der Terminus „gewalttätiges 14 Vgl. Kielmansegg 1977. Die Studie über Volkssouveränität wurde in dem von Steffen Kailitz herausgegebenen Band „Schlüsselwerke der Politikwissenschaft“ aufgenommen. Die Würdi‐ gung stammt von Tine Stein; Stein 2007. 15 Vgl. Kielmansegg 1990a. 16 Vgl. Kielmansegg 1971. 17 Vgl. Kielmansegg 1978, S. 14 f. 18 Vgl. Kielmansegg 2013a. 19 Heute wird dagegen die Frage der Vereinbarkeit von Diktatur mit Marktwirtschaft erörtert, et‐ wa am Beispiel von China. 20 Kielmansegg 2013a, S. 198. 21 Ebd., S. 215.

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Diktaturexperiment“ nicht treffender? Schließlich hat Wladimir I. Lenin ebenso wie Rosa Luxemburg die „Diktatur des Proletariats“ propagiert. Der eine plädierte für die Rolle einer Avantgardepartei, die andere für Massenspontaneismus. Der Begriff des „emanzipatorischen Experiments“ provoziert Missverständnisse, auch wenn es heißt, die Revolution sei bruchlos in eine „totalitäre Gewaltherrschaft“22 überführt worden. Drittens. Die Perspektiven zur Zukunft des demokratischen Verfassungs‐ staates fallen zu Recht vorsichtig aus – der Druck durch Immigration, Demographie und ökonomischen Wettbewerb bietet Raum für verschiedene Szenarien. Kielman‐ segg unterscheidet zwischen der horizontalen Dimension (der Ausbreitung der De‐ mokratie in den Staaten der Welt), der vertikalen (des „Regierens jenseits des Natio‐ nalstaates“ [Michael Zürn]) und der Binnendimension (dem inneren Wandel der „al‐ ten“ Demokratien angesichts zahlreicher Herausforderungen). In einem Punkt tritt der Autor aus der Deckung: „Je weiter wir uns vom Nationalstaat entfernen, desto mehr an demokratischer Substanz geht verloren“.23 Kosmopolitischen Visionären, die in Deutschland weiter verbreitet sind als anderswo in Europa, dürfte dies nicht gefallen. Vor allem das Demokratiedefizit der Europäischen Union problematisiert Kiel‐ mansegg in sieben Aufsätzen seines jüngsten Sammelbandes.24 Die Geschichte der Europäischen Union ist eine Geschichte ihrer Krisen. Das Votum im Juni 2016 über den „Brexit“ dürfte ein ebenso gravierender, wenn nicht ein noch größerer Rückfall sein als das Scheitern des Europäischen Vertrages im Mai und Juni 2005 durch die Referenden in Frankreich und in den Niederlanden, also in zwei Gründungsstaaten der EWG. In seinen „Beiträgen zu einer überfälligen Debatte“ bemängelt er das Feh‐ len einer offenen Auseinandersetzung über die europäische Einigung und ihrer Zu‐ kunft. Es ist sogar von einem „Konsenskartell der politischen Klasse“ die Rede, „ein Kartell, das nicht nur dem Wähler in europäischen Angelegenheiten kein wirkliches Mitentscheidungsrecht zugestand, sondern auch den Raum öffentlicher Auseinan‐ dersetzung über Europapolitik eng eingrenzte.“25 Bei den Beiträgen, ob sich die Eu‐ ropäische Union demokratisch verfassen lässt, inwiefern „Demokratie und Integrati‐ on“ im Widerstreit stehen und wie es um die Zukunft der Demokratie angesichts der Eurokrise bestellt ist, weiß sich der Demokratietheoretiker in seinem Element. Sein zentrales Monitum: Die Bürger der Europäischen Union könnten ihre Regierung nicht abwählen. Europa sei keine Kommunikationsgemeinschaft und auch keine Er‐ innerungsgemeinschaft, am ehesten eine Erfahrungsgemeinschaft. Zwischen Demo‐ kratie und Integration bestehe ein Spannungsverhältnis. Kielmanseggs Kernthese: Die fortschreitende Integration gehe auf Kosten demokratischer Legitimität. Integra‐ 22 23 24 25

Ebd., S. 215, S. 220. Ebd., S. 254. Vgl. Kielmansegg 2015. Ebd., S. 8.

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tion habe einen Preis, der „partiell mit der Münze Demokratie zu zahlen ist.“26 Der Autor plädiert für realistische Nüchternheit, nicht so sehr für „das visionäre Hinaus‐ denken über das Wirkliche und Mögliche.“27 Die Währungskrise stifte nicht Ein‐ tracht, sondern säe Zwietracht. Allerdings sieht er keinen rechten Ausweg aus der Krise. Die Demokratie in ihren verschiedenen Ausprägungen steht im Mittelpunkt sei‐ nes Werkes,28 die Zahl der Beiträge, in denen im Titel „Demokratie“ vorkommt, ist Legion. Zu Recht haben die beiden Herausgeber der ihm zugeeigneten Festschrift den Titel „Demokratietheorie und Demokratieentwicklung“ gegeben.29 Alexander Gallus und Ellen Thümmler ordnen ihn in ihrem Porträt auch klar der Demokratie‐ theorie zu.30 Und in den (höchst umstrittenen) Ranglisten zur Reputation im Fach Politikwissenschaft tauchte Graf Kielmansegg bei der Frage nach den wichtigsten Fachvertretern 1985 unter „Politischer Theorie“ an fünfter und unter „Politscher Phi‐ losophie/Ideengeschichte“ an siebter Stelle auf31, 1996 unter „Politischer Philoso‐ phie und Ideengeschichte“ an sechster Stelle.32

3. Historische Arbeiten Die Dissertation über „Stein und die Zentralverwaltung 1813/14“, das Thema war ihm von seinem Doktorvater Walther Hubatsch gegeben worden, ist eine konventio‐ nelle historische Arbeit.33 Deskription überlagert weithin Analyse. Juristische An‐ klänge finden sich ebenso wenig wie politikwissenschaftliche. Kielmansegg begrün‐ det die Bearbeitung des Themas damit, dass es durch die Geschichtswissenschaft vernachlässigt worden ist. Diese durch Karl Freiherr vom und zum Stein ins Leben gerufene Zentralverwaltung war eine Art überstaatliche Organisation Preußens, Ös‐ terreichs, Englands, Russlands und Schwedens, die sich mit ihren Verwaltungsein‐ richtungen gegen Napoleon richtete. Der Autor beschränkt sich dabei weithin auf die Arbeit der obersten Behörde, des Zentraldepartments, dessen bisher kaum herange‐ zogene Akten er intensiv ausgewertet hat. Wie Kielmansegg zeigt, konnte Stein un‐ geachtet aller Versuche sein Ziel, eine deutsche Zentralverwaltung zu schaffen, an‐ gesichts des „diplomatischen Zusammenspiel[s] der großen Mächte und der kleinen Fürsten“34 nicht erreichen. 26 27 28 29 30 31 32 33 34

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Ebd., S. 92. Ebd., S. 94. Vgl. zusammenfassend Cavuldak 2018. Vgl. Kaiser/Zittel 2004. Vgl. Gallus/Thümmler 2014. Vgl. Honolka 1986, S. 50. Vgl. Klingemann/Falter 1998. Vgl. Kielmansegg 1964. Beim Verfassernamen war seinerzeit ein „von“ hinzugefügt. Ebd., S. 28.

Die Arbeit, welche die Bemühungen des Freiherrn vom und zum Stein sehr wür‐ digt, ist chronologisch angelegt. Sie geht in die Details, und mitunter hat der Leser Mühe, den Wald vor lauter Bäumen zu erkennen. Systematische Überlegungen feh‐ len fast vollständig. In der einzigen größeren Besprechung durch Kurt von Raumer heißt es: „Was aus der sorgfältig geführten Untersuchung vor allem deutlich wird, bestätigt und belegt, erweitert und vertieft unsere bisherige Vorstellung von den Schwierigkeiten, mit denen die Zentralverwaltung zu ringen hatte, und die so groß waren, dass gemessen an den Zielen, die sie sich steckte, das Gelingen weit hinter dem Wollen zurückblieb.“35 Der Rezensent bemängelt, „der soziale, kulturelle und atmosphärische Hintergrund der Zeit“ werde „nicht recht spürbar“.36 In der Tat ist das sachlich ergiebige Erstlingswerk etwas trocken geschrieben. Die Idee zu seiner zweiten historiographischen Arbeit stammt ebenfalls von Hubatsch. Die Motivation war eine andere. Beim ersten Mal gab Hubatsch eine Stein-Edition heraus, beim zweiten Mal trat er die Aufgabe an Kielmansegg ab, einen Handbuch-Beitrag über den Ersten Weltkrieg zu aktualisieren. Die Studie, der wegen der ursprünglichen Konzeption als Handbuch ein Anmerkungsapparat fehlt, wuchs sich jedoch zu einem eigenständigen Mammutwerk aus, das vor 50 Jahren, 1968, herauskam, 1980 in zweiter unveränderter Auflage.37 Sie versteht sich als eine Art Gesamtdarstellung zur Rolle Deutschlands im Ersten Weltkrieg. Kielmansegg ging es darum, „sich den großen Entwicklungslinien des militärischen Geschehens, der Außen- und Innenpolitik“38 intensiv zu widmen. Es handelt sich weithin um Er‐ eignisgeschichte, ohne dass die Vor- und Nachgeschichte groß zur Sprache kommt. Die Chronologie wird strikt eingehalten, übergreifende Reflexionen, etwa zur Sozi‐ algeschichte des Krieges, fehlen ganz. Das Buch umfasst fünf Abschnitte mit insge‐ samt 35 Kapiteln, der zweite Abschnitt („Das militärische Gleichgewicht in der ers‐ ten Phase des Krieges“) enthält neun Kapitel über den Vormarsch im Westen, die Abwehrschlachten im Osten, das Scheitern der deutschen Offensive im Westen, die militärische Führungskrise 1914/15, den Feldzug gegen Russland 1915, die Abwehr‐ schlachten an der Westfront 1915, die Nebenfronten der ersten Kriegsphase, die Hochseeflotte und der Krieg in Übersee, das Ringen um den U-Boot-Krieg. Im Mit‐ telpunkt steht die Person des bis 1917 amtierenden Reichskanzlers Bethmann-Holl‐ weg, dessen Politik mit viel Empathie nachgezeichnet wird. Kielmanseggs Anliegen: die Ereignisse einerseits so zu präsentieren, wie sie die Akteure vor Augen hatten; andererseits zielt die Studie darauf, im Wissen um die Folgen Distanz zu den Akteuren zu gewinnen. Das ist nicht bloß eine löbliche Ab‐ sicht, sondern beständige Praxis. „Zur Distanz gehört das Durchdenken der Alterna‐ 35 36 37 38

Raumer 1968, S. 421. Ebd., S. 423. Vgl. Kielmansegg 1980. Ebd., S. XI.

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tiven, das als spekulativ abzuwerten, eine unfruchtbare und in sich widerspruchsvol‐ le Selbstbeschränkung der Wissenschaft wäre. Es gilt den Horizont der objektiven Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Zeit zu bestimmen.“39 In der Tat spielen Fragen nach den Entscheidungsspielräumen eine große Rolle. Kielmansegg ist damit weder Historist noch Historizist: Historist nicht, weil er keiner rein individualisie‐ renden Perspektive huldigt; Historizist nicht, weil seine Position jeder Form histo‐ rischer Gesetzmäßigkeiten widerstreitet und stets die Offenheit der jeweiligen Kon‐ stellationen betont. Die kontrafaktische Sichtweise, die in gewisser Weise den Über‐ gang vom Historiker zum Politikwissenschaftler andeutet, ist ihm auch später eigen. Die Rezeption des Bandes fiel eher bescheiden aus – jedenfalls gilt das für die erste Auflage. Die beträchtliche Diskrepanz zwischen der – hohen – Qualität des Werkes und der – minderen – Aufmerksamkeit lässt sich wohl mit dem denkbar un‐ günstigen Zeitpunkt des Erscheinens erklären. Es wirkte 1968 wie aus der Zeit ge‐ fallen. Zudem ging Kielmansegg auf die mit dem Namen von Fritz Fischer verbun‐ dene Kontroverse um den Ausbruch des Ersten Weltkrieges kaum ein. Seine Studie hielt sich mit Bewertungen ohnehin stark zurück, nicht nur mit Blick auf die Kriegs‐ schuldfrage. Die zweite Auflage, obwohl unverändert, fand mehr Resonanz. Der Wert der keineswegs überholten Arbeit, die den Streit der Historiker weithin igno‐ riert hatte, wurde jetzt stärker geschätzt. Alle anderen kleineren Beiträge in den 1960er Jahren sind mehr oder weniger his‐ torisch angelegt. Das gilt für die noch als Student verfasste Miszelle über das Hoß‐ bach-Protokoll40, den Literaturbericht über die marxistisch-leninistische Geschichts‐ schreibung41 sowie den Beitrag zu außenpolitischen Konzeptionen im organisierten Rechtsextremismus.42 In dieser umfangreichen Abhandlung wies der Autor bei al‐ lem Lavieren den zumeist nationalneutralistischen Kurs der rechtsextremistischen Parteien nach. Nur so glaubten sie einer Wiedervereinigung, ihrem Hauptziel, näher zu kommen. Diese außenpolitische Perspektive, die zu der von links(-außen) eine er‐ staunliche Affinität aufwies, biss sich mit der strikt antikommunistisch ausgerichte‐ ten innenpolitischen. Dieser Zwiespalt spiegelte sich auch in einem anderen Punkt wider: auf der einen Seite ein klares Plädoyer für das Soldatentum im Allgemeinen und die Bundeswehr im Besonderen, auf der anderen Seite eine strikte Ablehnung der Konzeption des „Staatsbürgers in Uniform“. Mit der Dissertation, bezogen auf die Zeit des 19. Jahrhunderts, und mit der Ar‐ beit über den Ersten Weltkrieg, die in der Qualität einer Habilitationsschrift gleich‐ kam43, hätte Kielmansegg alle Voraussetzungen für eine Geschichtsprofessur erfüllt. Allerdings war er, bereits vor Abschluss seiner Dissertation, wissenschaftlicher As‐ 39 40 41 42 43

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Ebd., S. XI f. Vgl. Kielmansegg 1960. Vgl. Kielmansegg 1969a. Vgl. Kielmansegg 1969b. Lediglich ein Anmerkungsapparat wäre zu erstellen gewesen.

sistent bei Eugen Kogon, der in Darmstadt einen politikwissenschaftlichen Lehrstuhl besaß, in der Praxis freilich mehr als Publizist in Erscheinung trat. Kielmanseggs Habilitationsschrift über Volkssouveränität hinterließ eine Duftmarke im für ihn neu‐ en Fach, in dem er sich fortan heimisch fühlte. Noch 1971, dem Jahr seiner Habilita‐ tionsschrift, hieß es bei ihm: „Dass Geschichtswissenschaft möglich sei […] – das ist in der Tat die Prämisse, an der jedes einzelne unserer Argumente hängt.“44 Doch mit der Art und Weise, wie Kielmansegg sich mit den Schwierigkeiten auseinander‐ setzte, über deutsche Geschichte zu schreiben, ging indirekt sein Abschied von der Geschichtswissenschaft einher. Reflexion überlagert(e) die Darstellung des Gesche‐ henen.

4. Politikwissenschaftliche Arbeiten zu historischen Themen Das große Werk über das geteilte Deutschland45, der Abschlussband in der SiedlerReihe „Die Deutschen und ihre Nation“, nimmt im Vergleich mit dem Weltkriegs‐ buch, das 32 Jahre zuvor auf den Markt kam, einen mindestens ebenbürtigen Platz ein.46 Der doppelsinnige Titel „Nach der Katastrophe“ ist Programm. „Nach“ hat nicht nur eine temporale, sondern auch eine kausale Dimension. Für Kielmansegg lässt sich die Geschichte der zweiten deutschen Demokratie nicht ohne den Natio‐ nalsozialismus verstehen. Diese Fixierung auf die Vergangenheit ist mit Händen zu greifen – sie kann sowohl positiv als auch negativ sein. „Wenn ein durch eine selbst‐ verschuldete historische Katstrophe traumatisiertes Volk sich mit der Demokratie vertraut macht – mögen die Bedingungen auch vergleichsweise günstig sein –, dann ist zu erwarten, dass vernünftiges Lernen aus der Vergangenheit und neurotische Prägung durch die Vergangenheit eine eigentümliche Verbindung eingehen, und das nicht nur vorübergehend.“47 Kielmansegg konnte seinen Wunschtitel „Diesseits der Katastrophe“, der das Ge‐ meinte noch stärker akzentuiert hätte, gegenüber dem Verlag nicht durchsetzen.48 Sein Leitmotiv illustriert er an zahlreichen Beispielen: der Diskussion über „Berufs‐ verbote“ ebenso wie an Spezifika der Studentenbewegung mit der bärbeißigen Kritik an der halbherzigen Vergangenheitsbewältigung. „Die Herkunft aus der Katastrophe hat also sehr intensiv auf den Prozess des Wandels, in den die westdeutsche Gesell‐ schaft wie andere auch jetzt eintrat, eingewirkt.“49 44 Kielmansegg 1980c, S. 170. 45 Vgl. Kielmansegg 2000. 46 Der Verfasser greift in einigen Formulierungen auf zwei seiner Rezensionen zurück (Süddeut‐ sche Zeitung v. 27. März 1990, S. 13; Süddeutsche Zeitung v. 24./25. März 2001, S. 11). 47 Kielmansegg 2000, S. 358. 48 Vgl. ebd., S. 677. 49 Ebd., S. 330.

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Wie bereits an der Gliederung erkennbar, wählt Kielmansegg in den vier Teilen mit den 16 Kapiteln einen systematischen Zugang. Der erste Teil umfasst die Zeit zwischen 1945 und 1949, der zweite die außenpolitischen Konstellationen, der dritte – der umfangreichste – die innenpolitischen, der vierte die Deutschlandpolitik sowie die legitimitätsschwache DDR. Eingerahmt wird die Darstellung von zwei Daten, die den Beginn der Teilung und ihr Ende symbolisieren: 8. Mai 1945 und 3. Oktober 1990. Der Verfasser, Anhänger von Adenauers Politik der Westbindung und Brandts Politik der Ostverbindung, hat weder eine Parallelgeschichte der beiden deutschen Staaten geschrieben (wie der Historiker Christoph Kleßmann50) noch eine Bezie‐ hungsgeschichte (wie der Publizist Peter Bender51). Beides lässt sich gut rechtferti‐ gen: Die DDR, der Bundesrepublik machtpolitisch und moralisch nicht ebenbürtig, kann schwerlich gleichgewichtig neben der Bundesrepublik stehen, und eine Bezie‐ hungsgeschichte litte unter ihrer Asymmetrie: Die DDR (die politische Elite ebenso wie die Masse der Bürger) war auf die Bundesrepublik fixiert, diese nicht auf jene. Allerdings beschreitet der Verfasser bei seinen Überlegungen zur Geschichte der DDR keinen leichten Weg, beurteilt er sie doch nicht in erster Linie von ihrem Ende her. „Der Nationalsozialismus hat dem Kommunismus noch einmal eine Rechtferti‐ gung verschafft, die der Stalinismus eigentlich bereits verspielt hatte.“52 Doch weder die antifaschistische noch die sozialistische noch die friedenspolitische noch die wohlfahrtsstaatliche Dimension verfing.53 Nach dem inneren, „von oben“ ausgehen‐ den Wandel in der Sowjetunion in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre war es um ihren westlichen Vorposten mehr oder weniger geschehen. Kielmansegg betont immer wieder die Vielfalt historischer Optionen, Ursachen und Wirkungen jeweils erörternd. Es musste nicht so kommen, wie es gekommen ist. In kontrafaktischen Gedankenspielen schlagen alternative Sichtweisen durch. Die 16 Kapitel enden vielfach mit Reflexionen, die sich durch Urteilskraft auszeich‐ nen, keineswegs durch Unentschiedenheit. Nicht historische Details stehen im Vor‐ dergrund, sondern strukturelle Überlegungen. Vor allem: Von ihm abgelehnte Posi‐ tionen, so zum Komplex eines dritten Weges in der deutschen Frage, erfahren eine korrekte Wiedergabe. In den Kapiteln zumal zur deutschen Innenpolitik „geht der Politikwissenschaftler mit dem Zeithistoriker gleichsam eine ideale Verbindung ein, wie sie allzu selten ist. Einerseits erzählt er anschaulich und quellennah, andererseits legt er Strukturen offen, verdeutlicht Mechanismen und die Funktionsweise des de‐ mokratischen Verfassungsstaates, wie er sich im Westen Deutschlands rasch etabliert hat.“54 Kielmansegg, nach eigenem Verständnis „ein zum Politikwissenschaftler ge‐

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Vgl. Kleßmann 1991; Kleßmann 1997. Vgl. Bender 2007. Kielmansegg 2000, S. 562. Ebd., S. 561 f. Gallus 2001, S. 326.

wordener Historiker“55, hat ein Werk zu einem Feld vorgelegt, auf das sich deutsche Politikwissenschaftler selten verirren. Er selbst sieht die ganz auf Reflexion und Pro‐ blembewusstsein angelegte politikgeschichtliche Studie durch ihre „Grundentschei‐ dungen“ als eine politikwissenschaftliche an: „in der Entscheidung, beispielsweise, für eine systematische, gegen eine chronologische Gliederung; in der Organisation fast aller Abschnitte um Leitfragen, Leitthesen herum; in der Unterordnung der nar‐ rativen unter die analytische Perspektive.“56 Der Essay “Lange Schatten“ im Umfang von knapp 100 Seiten erörtert die Aufar‐ beitung der NS-Vergangenheit in Deutschland.57 Auch hier ist der Titel Programm, finden sich doch bereits Überlegungen, die der Verfasser später in seinem Werk über das geteilte Deutschland vertieft vorgetragen hat, so den problematischen Befund der Gegenwärtigkeit der Vergangenheit: Die Bewertung aktueller Vorgänge vor dem Hintergrund des Dritten Reiches könne zu Fehlinterpretationen führen. Wie Kiel‐ mansegg am Beispiel des „Historikerstreites“ ausführt, „hat sich das Verhältnis von Wissenschaft und Politik umgekehrt“.58 Diese Kritik zielt gegen Jürgen Habermas, der vor einer derartigen Versuchung nicht gefeit ist. „Zu den Folgen der Katastrophe gehört eben auch, dass Demokratie und Verfassungsstaat, zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, Gemeingut linker und rechter Demokraten geworden sind. Die politische Kultur der Republik nimmt Schaden, wenn Vergangenheitsbeschwö‐ rung in den Dienst einer ‚La démocratie c‘est nous‘-Attitüde gestellt wird – auch das ist eine der Regeln für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, die gelernt werden müssen.“59 Kielmansegg heißt die Integration ehemaliger Nationalsozialisten nach 1945 gut, schon deshalb, um sie nicht ins antidemokratische Abseits zu treiben, teilt also im Kern die Position Hermann Lübbes.60 Er übt allerdings Kritik an einer Entwicklung, die es ihnen ermöglichte, wieder in höchste Positionen zu gelangen. Hingegen macht sich der Autor nicht die Auffassung zu eigen, die DDR habe einen besseren Weg ge‐ funden. Die neue Führungsschicht halfterte zwar ehemalige Nationalsozialisten ab, baute aber eine neue Diktatur auf. Der Essay präsentiert keine unbekannten Fakten, jedoch originelle Einsichten zu einem für die politische Kultur Deutschlands nach wir vor zentralen Thema. Dem Autor ging es weniger darum, die Geschichte der Aufarbeitung nachzuzeichnen. Kielmansegg hat nie über den Nationalsozialismus gearbeitet. Vielmehr stand für ihn die Frage nach dem angemessenen Umgang mit der desaströsen Hinterlassenschaft

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Kielmansegg 2000, S. 677. Kielmansegg 2001, S. 7. Vgl. Kielmansegg 1990b. Ebd., S. 93. Ebd., S. 94. Vgl. Lübbe 1983.

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im Vordergrund.61 Dieser Aspekt zählt zum Aufgabenfeld einer sich nicht auf „Ver‐ sozialwissenschaftlichung“ beschränkenden Politikwissenschaft. In der Summe gilt: Beide Studien bearbeiten zwar historische Themen, aber in überwiegend politikwissenschaftlicher Anlage, nicht narrativ. Das gilt ebenso für an‐ dere neuere Studien des Autors, deren Titel einen historischen Ansatz vermuten las‐ sen.62 Freilich hat diese Politikwissenschaft wenig gemein mit jener Politikwissen‐ schaft, die methodische Outriertheit mit quantifizierender Detailverliebtheit verbin‐ det.

5. Resümee Das Urteil fällt eindeutig aus: Nicht nur die Arbeit über „Stein und die Zentralver‐ waltung 1813/14“ ist ein historisches Buch, sondern auch das über den Ersten Welt‐ krieg, ungeachtet gewisser Anklänge an politikwissenschaftliche Fragestellungen. Hingegen muss, wie erwähnt, die Geschichte des geteilten Deutschland als politik‐ wissenschaftliche Studie gelten, ebenso der Essay zu den „langen Schatten“. Der Verfasser teilt daher weder die Position Herfried Münklers noch die von Klaus von Beyme. Für Münkler ist „Kielmanseggs Buch ‚Deutschland und der Erste Weltkrieg‘ ein vorzügliches Beispiel dafür, was die Politikwissenschaft aus der Be‐ schäftigung mit historischen Themen lernen kann und worin genuin politikwissen‐ schaftliche Fragestellungen dazu beitragen, dass historische Debatten aus ihren fest‐ gefahrenen Frontlinien herausgeholt und wieder produktiv gemacht werden kön‐ nen.“63 Tatsächlich überlagert in diesem Band, wie gezeigt, die historische Betrach‐ tungsweise deutlich die politikwissenschaftliche. Beyme urteilt mit Blick auf „Nach der Katastrophe“ wie folgt: „Über die Bundes‐ republik zu schreiben, hat die Politikwissenschaft seit ca. 1980 ihren Primat verlo‐ ren. Auch Politologen wie Peter Graf Kielmansegg haben das Thema eher historisch angefasst.“64 Dieser hat zwar einen „historischen Stoff“ bearbeitet, jedoch in einer Weise, die klar auf „genuin politikwissenschaftlichen Fragestellungen“ basiert, um Münkler zu zitieren. Hingegen folgt der Verfasser der Einschätzung Ellen Thümmlers und Alexander Gallus‘: „Während dieses erste Opus magnum – ungeachtet politikwissenschaftli‐ cher Einsprengsel – einer im Kern erzählenden Geschichtswissenschaft verpflichtet bleibt, lässt das zweite historische Hauptwerk […] eine Verschiebung in Richtung Politikwissenschaft erkennen. Die erzählerische Dimension tritt darin gegenüber 61 62 63 64

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Vgl. besonders prononciert Kielmansegg 1980c. Vgl. etwa Kielmansegg 1999. Münkler 2018, S. 57. Beyme 2013, S. 154.

einer analytisch aufgebrochenen, gleichsam argumentierten Geschichte in den Hin‐ tergrund.“65 Deswegen sollte mit Blick auf das Buch über das geteilte Deutschland nicht von einem „zweiten historischen Hauptwerk“ die Rede sein, wenngleich die historische Dimension sich hier stärker niederschlägt als die politikwissenschaftliche im Band über den Ersten Weltkrieg. Der „reife“ Kielmansegg ist Politikwissen‐ schaftler, wiewohl der (allerdings nicht historisch ausgerichtete) Abschlussvortrag auf dem 34. Deutschen Historikertag 1982 in Münster von ihm gehalten wurde. Im Übrigen bedarf die Relevanz der Frage „Historiker oder Politikwissenschaft‐ ler?“ einer Relativierung. „Revierverhalten“ ist einigermaßen unangebracht. Wichti‐ ger als die Frage, ob jemand in dieses oder jenes Fach einzuordnen ist, sollte die Frage danach sein, ob die zutage geförderten Erkenntnisse weiterführend sind. Mit Blick auf das politikwissenschaftliche Werk „Nach der Katastrophe“ lässt sich mit Fug und Recht behaupten, dass die klassische, aus dem vorletzten Jahrhundert stam‐ mende Aussage John R. Seeleys – History without Political Science has no fruit; Po‐ litical Science without History has no root“66 – durch und durch zutrifft, mit Blick auf das historische Werk “Deutschland und der Erste Weltkrieg“ freilich weniger. Beide Bücher sind neben der Habilitationsschrift sein Vermächtnis. Peter Graf Kielmansegg nimmt gegnerische Ansichten ernst, macht sie gar stark, baut mithin keinen Popanz auf, wendet seine Argumente hin und her, um sie nach‐ vollziehbar zu machen. Das gilt für die politikwissenschaftlichen wie für die histori‐ schen Studien. Die Zahl der (Schlüssel-)Fragen, keine suggestiven, keine rhetori‐ schen, ist Legion. Oft ist von „teils, teils“ die Rede, von „mehr oder weniger“, von „sowohl als auch“. Die Relativierung wird relativiert, die Differenzierung differen‐ ziert. Umso überzeugender ist dann Kielmanseggs von Urteilskraft getragene Posi‐ tion, die zudem durch ihre begriffliche Klarheit gewinnt.67 Dass ein Befund so ist, wie er ist, bedeutet für ihn nicht, er muss gut sein. Zuweilen bringt bereits der erste Satz den jeweiligen Sachverhalt auf den Punkt: „Der demokratische Verfassungs‐ staat, inzwischen etwa 200 Jahre alt, ist die erfolgsreichste Institutionalisierung poli‐ tischer Freiheit in der Geschichte der Menschheit, die wir kennen.“68 Dieser ist als repräsentative Demokratie eben nicht die zweitbeste Lösung, wie Kritiker der „ge‐ mischten Verfassung“ meinen. Der Beitrag zur „Quadratur des Zirkels“ (aus dem Jahr 1985), aus dem dieses Zitat entnommen ist, gehört mit seiner Rehabilitierung der verfassungsstaatlichen Komponente in ein politikwissenschaftliches Lehrbuch. Kielmansegg, vom nüchternen Skeptizismus Tocquevilles geprägt69, nicht vom nai‐ ven Optimismus Rousseaus, was etwa das Menschenbild betrifft, steht in der Traditi‐

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Gallus/Thümmler 2014, S. 421. Seeley 1898, S. 4. Ein Musterbeispiel dafür ist: Kielmansegg 2014b. Kielmansegg 1985, S. 9. Vgl. Kielmansegg 1983; Kielmansegg 2013b.

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on der amerikanischen Verfassungsväter70 und damit jedem populistischen Furor fern. Der Fluchtpunkt des Autors: das Regelwerk der Freiheit zu erhellen. Seinerzeit, als der „real existierende Sozialismus“ eine große Gefahr für die Freiheit bildete, machte sich Kielmansegg nicht die pessimistische Diagnose Jean François Revels zu eigen, wonach die Demokratie nur ein Zwischenspiel sei.71 Heute, nach dem Zusam‐ menbruch des „real existierenden Sozialismus“, ist er keineswegs „siegestrunken“, von Francis Fukuyamas optimistischer Prognose weit entfernt.72 Die Anfälligkeit für Schwächen der Demokratie sei erkennbar. Kielmansegg, kein Mann des wetterwen‐ dischen Zeitgeistes, mischt sich in die öffentliche Debatte ein, ohne das Feld der Wissenschaft zu verlassen. Der Autor trägt seine Argumente in geschliffener Sprache differenziert vor, relati‐ viert die eigenen Relativierungen, wartet, typisch für sein Vorgehen in den meisten Publikationen, mit Fragen auf, nicht mit rhetorischen und suggestiven. Auf diese Weise kann der Leser an seinen Überlegungen teilhaben. Eine Stärke Kielmanseggs besteht darin, dass die Auseinandersetzung mit anderen Positionen höchst differen‐ ziert erfolgt. Er ist mehr ein analytischer „Problemaufspürer“ als ein fixer „Problem‐ löser“. Obwohl anekdotische Trouvauillen fehlen, ist der Leser von der Argumenta‐ tionskraft der Texte gefesselt. Die Entwicklung vom Historiker zum Politikwissen‐ schaftler war bei seinem methodischen Vorgehen nahezu folgerichtig.

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70 Vgl. Kielmansegg 2007. 71 Vgl. Revel 1984. 72 Vgl. Fukuyama 1992.

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Edgar Wolfrum Paradoxien der Erinnerung. Die NS-Vergangenheit der Deutschen und die Gegenwart

1. Die Fragen sind Dauerbrenner der Zeitgeschichte: Was bedeutet überhaupt, wie Theodor Adorno in seinem Radiobeitrag 1959 fragte, „Aufarbeitung der Vergangen‐ heit“?1 Wie gingen die Deutschen in Politik und Gesellschaft nach 1945 mit der na‐ tionalsozialistischen Vergangenheit um und wie wurden die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus moralisch aufgeladen und das eine um das andere Mal politisch aktualisiert? Letzteres gipfelte bekanntlich in Außenminister Joschka Fischers be‐ rühmter Brandrede zum Kosovo-Krieg auf der Bielefelder Sonderbundesdelegierten‐ konferenz von Bündnis 90/Die Grünen in brenzliger Lage vom Mai 1999. Den völ‐ kerrechtswidrigen Kriegseinsatz begründete Fischer mit dem Verweis auf Ausch‐ witz: „… ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“2 Die Pointe, die jeder verstand und die pazifistische Partei in heftige Turbulenzen brachte, war, dass Krieg nötig sein könne, um ein „neues Auschwitz“ zu verhindern. Ein „gerechter Krieg“ war mit Verweis auf die deutsche NS-Vergangenheit somit scheinbar möglich geworden. Die Geschichtsbilder über den Nationalsozialismus und dessen Menschheitsverbrechen sind jedoch nicht nur an der Jahrtausendwende, sondern oft davor und noch öfter danach ins Formelhafte getrieben worden, so dass Kritiker fragten, ob damit das historische Ereignis „Auschwitz“ nicht drohte, „bana‐ lisiert“ zu werden. Wenn überall Auschwitz lauerte, dann profanisierte sich diese Chiffre für alles und jedes. War dies wirklich die logische Folge der jahrzehntelan‐ gen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus? Dominierte in der Bundesre‐ publik seit 1949 eine Mischung aus Verdrängen, Verschweigen und Abwehr, womit die Westdeutschen gleichsam eine Art „zweite Schuld“ auf sich geladen haben?3 Und war der spätere Reflex – siehe Fischer als Beispiel – aus dieser Schuld geboren und führte von der Schuldvergessenheit zur „Schuldversessenheit“4? Oder war alles 1 Adorno 1977, S. 555-572. 2 Rede Joschka Fischers auf der 2. Außerordentlichen Bundesdelegiertenkonferenz in Bielefeld, 13.05.1999. In: AGG, DVD-Mitschnitt, VK-201 und VK-202; vgl. Wolfrum 2013, S. 77. 3 Giordano 1987. 4 Schwarz, Hans-Peter, 1985: Die gezähmten Deutschen. Von der Machtbesessenheit zur Macht‐ vergessenheit. Stuttgart.

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gänzlich anders und kann à la longue der Umgang mit der NS-Vergangenheit als ein großer demokratischer Erfolg, ja, in historischer Perspektive als ein geradezu einma‐ liger Erfolg gewertet werden, weil noch nie in der Weltgeschichte ein Nachfolgere‐ gime so umfassend mit der Vergangenheit gebrochen hatte? Zynisch gewendet: Führte der Weg vom größten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte zur besten Vergangenheitsbewältigung? Es lohnt sich Graf Kielmannseggs Schriften zu Rate zu ziehen. In „Nach der Katastrophe“ fragt er: „Hat die frühe Bundesrepublik sich tat‐ sächlich ihrer wichtigsten Aufgabe verweigert? Ist ihr Neuanfang misslungen, weil sie den Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht wirklich vollzogen hat?“ (Nach der Katastrophe, künftig: NK, 638)

2. Stets plädierte Graf Kielmansegg dafür, die ebenso gängige wie im Duktus der An‐ klage daherkommende These von der Kontinuität der Eliten differenziert zu betrach‐ ten. Nie bestritt er dabei die Versäumnisse, die groß waren, doch immer gab er zu bedenken, dass es schwerlich möglich gewesen wäre, das Volk der Deutschen ein‐ fach auszutauschen. „Wenn man denn Demokratie wollte, war es undenkbar, die Deutschen, eine Minderheit von ihnen oder auch nur eine einigermaßen beträchtli‐ che Minderheit für längere Zeit unter politische Quarantäne zu stellen.“ (Lange Schatten, künftig: L,18) Wo wäre eine „Gegenelite“ zu finden gewesen? Das „Mo‐ dell“ der DDR hielt er für untauglich, denn dort hingen die personellen Veränderun‐ gen aufs engste mit der fortdauernden Geltung des Prinzips der Diktatur zusammen“ (L, 26) Freilich: Die hohen Kosten dieser Politik in der Adenauerzeit, die Integration an die erste Stelle setzte, und Aufarbeitung der Vergangenheit weit abgeschlagen veror‐ tete, sind jüngst von Kristina Meyer am Beispiel der SPD genauer herausgearbeitet worden.5 Enthusiasmus und Enttäuschung wechselten sich bei den Sozialdemokra‐ ten, die auf einen Neuanfang hofften, bereits während der Jahre der Besatzung von 1945 bis 1949 ab und mündeten sodann in der Zeit zwischen bis 1959 in Opposition und Opportunismus. Ja, die Autorin schreibt Opportunismus – ein hartes Verdikt, das jedoch genau den Umstand der Kontinuität des Volkes betont. Wie sollte man mit der deutschen Gesellschaft nach zwölf Jahren NS-Diktatur umgehen? Die Nazis waren ja nicht weg; sechs Millionen ehemalige PGs, eine hochgradig infizierte und in den NS verstrickte Gesellschaft machte sich auf in die Friedenszeit, die sofort der Presskraft des Kalten Krieges unterlag. Niemand konnte sich das Volk neu erfinden, es war da und blieb da und es war das alte. Und in der Demokratie konnte man nur

5 Meyer 2016.

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mit der Mehrheit der Bevölkerung an die Macht kommen und nicht gegen sie – so sehr man sich bewusst war, wie viele Verrenkungen dies bedurfte, wie ekelhaft es manchmal für die aus Haft und Emigration zurückkehrenden Politiker war, die Mil‐ lionen ehemaliger „Volksgenossen“ gewinnen zu müssen. Dieses Dilemma ließe sich als Moral gegen Pragmatismus bezeichnen. Das war die Zeit. Wer wollte sich da schlicht eindeutig auf die eine oder auf die andere Seite schlagen? Gerade für die Gegner des Nationalsozialismus bedeutete die Neubegründung der Demokratie unter diesen Auspizien eine Zumutung: Sie hatten aufopfernden Widerstand gegen das „Dritte Reich“ geleistet, dann mussten sie auf Versöhnungskurs mit den Deutschen gehen, Brückenschläge vornehmen, wo Brückenabbrüche gefordert gewesen wären, halbherzige Wiedergutmachung akzeptieren, die politische Vernachlässigung der ei‐ genen Verfolgten des Naziregimes hinnehmen, einen überbordenden Antikommunis‐ mus ertragen, eine Anbiederung an die ehemaligen Kriegsverbrecher aushalten und so weiter und so fort. Es kam einem Pakt mit dem Teufel gleich. In keiner anderen westdeutschen Partei, die unbedeutende KPD ausgenommen, wurden nach 1945 so viele Gegner und Verfolgte des Nationalsozialismus aktiv wie in der SPD. Aber die SPD durfte in der Demokratie keine Partei nur der NS-Verfolg‐ ten und Remigranten werden, sondern musste sich öffnen – ein Höllenritt für all je‐ ne, die gelitten hatten. Aussöhnung mit den ehemaligen Tätern? Konnte dies erträg‐ lich sein? Sollte man Zugeständnisse machen und Kompromisse eingehen – oder sich von Wahl zu Wahl in einem 20 bis 30 Prozentturm einkapseln? Das letztere wä‐ re bequem gewesen, die Reinheit der Wahrheit, die erste Variante war schwierig, die Wahrheit wurde eingetrübt. Der „schwierige Deutsche“ Kurt Schumacher verkörper‐ te geradezu diese deprimierende Ausganglage.6 Wie er da in den politischen Ver‐ sammlungen in Trümmerlandschaften stand, ein Krüppel des Ersten Weltkrieges und gezeichnet von zehnjähriger Haft im Konzentrationslager, bald nicht nur ohne Arm, sondern auch ohne Bein, und mit seiner aggressiven Stimme zu den Zuhörern sprach. Die SPD sei die einzige wahrhaft „nationale Partei“ Deutschlands, Adenauer der „Kanzler der Alliierten“ und die Kommunisten rotlackierte Faschisten. Viele stieß sein Duktus und sein Habitus ab. Aber wird die Größe dieses Mannes nicht dann sichtbar, wenn man die Alternative bedenkt? Wie viel einfacher wäre es gewe‐ sen, dem Bedürfnis nach Rache nachzugeben? Aber man wollte in der zweiten deut‐ schen Demokratie dazugehören. Und die Anwürfe von links seit der Revolution von 1918 „Wer hat uns verraten, Sozialdemokraten“ und die ebenso schäbigen Anwürfe von rechts „Vaterlandslose Gesellen“ widerlegen. Deshalb plädierten führende Sozi‐ aldemokraten für eine Aussöhnung, contre coer. Keiner von uns Nachgeborenen, die wir Wohlstandskinder sind und keine existenziellen Krisen kennen, zum Glück nicht, kann nachvollziehen, was das bedeutete: Schmerz, Selbstverleugnung sind

6 Merseburger 1995.

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noch das wenigste. Die sozialdemokratischen Widerstandskämpfer, die sich und ihre Familien in Gefahr brachten, viele wurden ermordet, sahen in der jungen Bundesre‐ publik einen Hans Globke im Kanzleramt und 1966 Kurt Georg Kiesinger als Bun‐ deskanzler und mussten sich auf die Lippen beißen. Hier überschritt die frühe Bun‐ desrepublik für nicht wenige die Grenzen zum Unerträglichen. Es war dabei „eines der gravierenden Versäumnisse der jungen Bundesrepublik“, so Graf Kielmansegg, „dass sie ihren Richtern, hohen Ministerialbeamten und Di‐ plomaten erspart hat, was sie ihren Offizieren vernünftigerweise zumutete (…) Am schwersten wiegt vermutlich, dass die Republik darauf verzichtete, sich von den Richtern zu trennen, die zu Handlangern des nationalsozialistischen Terrors gewor‐ den waren.“ (NK, 639). Dies hatte weit über den Berufsstand hinauswirkende Fol‐ gen.7 Bis zum Jahrtausendwechsel wurden von der westdeutschen Justiz Ermittlungsund Vorermittlungsverfahren gegen etwa 106.500 potentielle NS-Täter eingeleitet, von denen lediglich 6.495 rechtskräftig verurteilt wurden – eine Prozentzahl von 6,4.8 Besonders auffällig ist die Relation zwischen Täterschaft und Beihilfe; vorwie‐ gend wurden Täter als Gehilfen verurteilt. Man könnte überspitzt formulieren: „Ein Täter, nämlich Hitler, und 60 Millionen Gehilfen“. Wie ist die Strafverfolgungsbi‐ lanz zu werten? War sie ein Erfolg, wie man in den 1960er Jahren glaubte? Oder war sie, wie Bundesjustizminister Schmidt-Jorzig (FDP) 1996 meinte: Kein Ruhmesblatt für die bundesdeutsche Justiz?9 Fehlten der Wille und die Bereitschaft in der Bun‐ desrepublik, Nazi-Verbrechen gründlich zu verfolgen? Jedenfalls: Der nach dem Un‐ tergang des „Dritten Reiches“ gezeigte Elan zur schonungslosen Aufdeckung, Ver‐ folgung und Bestrafung der NS-Verbrechen flaute zu Beginn der 1950er Jahre ab und so entstand der Eindruck, dass sich die bundesdeutschen Strafverfolgungsbehör‐ den am Rande einer „Justizverweigerung“ bewegten – eine Folge der Kontinuität der „furchtbaren Juristen“.10 Stichworte müssen hier genügen: Straffreiheitsgesetze, Re‐ integration von Tätern, von der Politik demonstrierte Solidarität mit den von der Nürnberger „Siegerjustiz“ verurteilten „Kriegsverbrechern“.11 Das änderte sich mit der Einrichtung der Zentralen in Ludwigsburg Stelle 1958. Auch müssen die Rah‐ menbedingungen beachtet werden: der Kalte Krieg, der Korea-Krieg, die Wiederbe‐ waffnung. Die Strafverfolgung der NS-Verbrechen vollzog sich in einem tendenziell auf Verdrängung und Schuldabwehr ausgerichteten gesellschaftlichen Klima, in dem oft die Solidarität mit den Tätern stärker ausgeprägt war als die mit den Opfern. Und die meisten Deutschen empfanden sich ja selbst als Opfer: „Über dem, was die zer‐ störende Gewalt des Krieges am Ende ihnen selbst antat, vergaßen die meisten Deut‐ 7 8 9 10 11

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Wolfrum 2007, S. 119-139. Greve 2001, S. 11. Ebda., S. 13. Siehe auch Perels 2006. Müller, 1987. Frei 1996, S. 133ff.

schen, sich zu fragen, was jeder einzelne zur großen Maschinerie nationalsozialisti‐ scher Herrschaft beigetragen hatte.“ (NK, 641)

3. Die Funktionalisierung der Vergangenheitsbewältigung hat Graf Kielmansegg im‐ mer kritisch ins Feld geführt und dabei betont, dass viele in der „68er-Bewegung“ sich auf die Aufarbeitung der verbrecherischen Vergangenheit beriefen, und dann in die Irre gingen. So behinderte der vergangenheitspolitische Furor etwa mit Blick auf die Notstandsgesetze einen rationalen Diskus. Historische Vergleiche sind wichtig, und meistens hinken sie. Besonders hinkte der Vergleich der Notstandsgesetze von 1968 mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933. Hier wollten einige die Schlachten, die längst verloren gegangen waren, nachträglich doch noch gewinnen. Der Gegen‐ stand war indes nicht geeignet. Ob nun allerdings der „Historikerstreit“ von 1986 als Beleg für die Instrumentali‐ sierung des Vergangenheitsarguments heranzogen werden kann, wie Graf Kielman‐ segg meint, scheint durchaus fraglich. Steckte nicht doch mehr hinter diesem merk‐ würdigen Konflikt, in dem es auch um die kulturelle Hegemonie in der Bundesrepu‐ blik ging? Angesichts der generationellen Veränderungen barg das Thema „NS-Ver‐ gangenheit“ ja besondere Brisanz. Die Angehörigen der „zweiten Generation“ hatten ihre Mütter und Väter mit Vorwürfen und Anwürfen konfrontiert. Doch mit der „dritten Generation“ verschob sich das Problem, denn für sie stellte sich ein beson‐ derer Bezug zur nationalsozialistischen Vergangenheit nur gleichsam als nationale Verstrickung her. Sie haben mit dem Nationalsozialismus nur deswegen in besonde‐ rer Weise zu tun, weil sie Deutsche sind. Dies war der mitzubedenkende Hintergrund des „Historikerstreits“. Die konserva‐ tive Seite fuhr dabei schweres Geschütz gegen die vorherrschende „Vergangenheits‐ bewältigungs-Identität“ der linksliberalen Seite auf. In dieser erkannte sie eine nur schwer zu übersteigende Barriere für ein positives Nationalbewusstsein, denn der ständige Verweis auf das „Dritte Reich“ und auf die weltgeschichtliche Singularität des Holocaust führe zu einer mangelnden Zukunftsfähigkeit der Deutschen, die nichts dringender bräuchten als eine „Normale-Nation-Identität“. Das bedeutete für sie, dass die „selbstquälerische Schuldbesessenheit“, die zu einer „verletzten Nation“ geführt habe, überwunden werden musste. An ihre Stelle sollte ein zustimmungsfä‐ higes Geschichtsbild treten, das die eigene Nationalgeschichte nicht beständig als Unheilsgeschichte überlieferte. Linksliberale Kritiker fürchteten, dass die Konserva‐ tiven den Bundesbürgern die „Schamröte“ über Auschwitz austreiben und dessen moralische Bindung kappen wollten. Nach dem „Historikerstreit“ änderte sich eines

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nicht: Konstitutiv für den bundesdeutschen Rechtsstaat und dessen geistige Westbin‐ dung war und blieb der Erinnerungsimperativ an den Nationalsozialismus.12 Wenn man, wie jüngste Untersuchungen es tun, vergleichende Perspektiven ein‐ schlägt, differenzieren sich die vergangenheitspolitische Gemengelange und die Identitätskonstruktionen erheblich. Alle drei Nachfolgestaaten des „Dritten Rei‐ ches“, die Bundesrepublik, die DDR und Österreich, verschränkten sich um Umgang mit der NS-Vergangenheit miteinander, es kam zu einer trans“nationalen“ Memoria‐ lisierung, die am Ende in eine Verschmelzung der Diskurse mündete.13 Anders ge‐ sagt: jeweils lernende Geschichtskulturen führten zu triangulären Zäsuren, die dann Normierungsprozessen unterlagen. Konkretisieren wir dies knapp. Die frühen gründungsmythischen Narrative, die offiziellen Verlautbarungen, aber auch die medialen Darstellungen zur NS-Zeit lassen sich unter dem Rubrum „Schul‐ dige Opfer“ zusammenfassen. Die selektive Wahrnehmung von NS-Opfern führte in allen drei Staaten zu einer gewissen „Externalisierung“ des Nationalsozialismus. Da‐ bei entwickelte sich das westdeutsche Geschichtsbild weit dynamischer als die Nar‐ rative der beiden anderen Staaten. „In der DDR und in Österreich blieben die Ge‐ schichtsbilder bis in die 1980er Jahre hinein relativ statisch“ (Hammerstein 2017, S. 95). Ein Bereich, in dem am frühesten Bewegungen wahrgenommen werden konnten, war die Geschichte des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Hier näherten sich die Bundesrepublik und die DDR tendenziell an und es kam zur Re‐ zeption des Arbeiterwiderstandes in Westdeutschland und zur Rezeption des militä‐ rischen Widerstandes des 20. Juli 1944 in Ostdeutschland. Österreich verharrte hin‐ gegen viel stärker im Modus einer „Verdrängungsgemeinschaft“ (122). So hieß es beispielsweise in einer Broschüre über die österreichische Widerstandsbewegung: „Hitlers Geburtsort liegt zwar in Österreich, in seinem Heimatland Karriere zu ma‐ chen, gelang Hitler allerdings nicht“ (123). Österreich sah sich, wie im Staatsvertrag von 1955 niedergelegt, als „erstes Opfer“ des deutschen Nationalsozialismus. Um 1978 herum begann eine neue Phase der österreichischen „Vergangenheitsbewälti‐ gung“, gekennzeichnet durch Transformationen und Transfers. Verschiedene Jubilä‐ en standen vor der Tür; die amerikanische Serie „Holocaust“ am Ende der 1970er Jahre wirkte wie ein Schock; verschiedene Skandale um Politiker, die in der NS-Zeit schuldig geworden waren (insbesondere die Waldheim-Affäre) rüttelten auf; der bundesdeutsche „Historikerstreit“ von 1986 zeitigte Wirkungen in allen drei Län‐ dern. Im Gedenkjahr 1988 hatte sich eine Art „Connected Memories“ herausgebil‐ det. Spannend zu sehen ist, wie an allen diesen Kulminationspunkten „nationale“ Er‐ innerungskulturen aufweichten. Es fanden Blicke über die Grenzen statt, was ge‐ schichtspolitische „Übernahmen“ bewirkte (172). Man konnte der NS-Vergangen‐ heit gar nicht mehr entrinnen. In den 1980er Jahren standen u.a. die 50. Jahrestage 12 Augstein 1987; von Hehl 1997, S. 406-436. 13 Hammerstein 2017.

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der „Machtergreifung“ (1983), der „Kristallnacht“ (1988), des „Anschlusses“ Öster‐ reichs an das Deutsche Reich (1988) und der Beginn des Zweiten Weltkrieges (1989) an, ebenso wie 40 Jahre Überfall auf die Sowjetunion (1981), die WannseeKonferenz (1982), die Schlacht um Stalingrad (1983), das Attentat auf Hitler (1984) und das Ende des Krieges (1985). Der „Fall Waldheim“ zerriss die bis dahin kom‐ mode Erinnerungskultur in Österreich, er zog, in den Worten der Filmemacherin und Historikerin Helene Maimann, „den Stöpsel aus der Flasche (…), in der sich der Geist der österreichischen Vergangenheit befand“ (277). Mit einem Male war das Land außenpolitisch isoliert. Der Bundespräsident wurde während seiner Amtszeit zu keinem offiziellen Staatsbesuch eingeladen und auch nicht besucht. Er wurde so, als Gefangener seiner Vergangenheit, zum „Inlandspräsidenten“ (283). Gleichzeitig kam es zum Bruch mit der Opferthese. Dies wiederum hatte massive Auswirkungen auf die DDR, die bis dahin Österreich immer als „erstes Opfer des Hitlerfaschismus“ bezeichnet hatte. Es entstand in diesen Jahren eine „Erinnerung als Trialog“ (339). Die Vergangenheitsdiskurse transzendierten zunehmend die „nationalen“ Grenzen und ebenso die Erinnerung selbst. Für die Bundesrepublik Deutschland war nun der 8. Mai 1945 mehr und mehr ein „Tag der Befreiung“, die DDR stieg vom hohen Ross des „Siegers der Geschichte“ herab und war, was Westdeutschland schon längst war, nämlich ein Nachfolgestaat des Nazi-Reiches, und Österreich relativierte zumindest seine Opfertheorie. Insgesamt wurde in allen drei Ländern die NS-Ver‐ gangenheit auch als „gemeinsame Geschichte“ wahrgenommen (398). Damit war die Dynamik noch nicht vorbei. Wie sich die Gedächtnislandschaften zwischen Österreich und Deutschland nach der deutschen Wiedervereinigung „syn‐ chronisierten“, es also zu einer „Verflechtung des Gedenkens“ kam, das widerlegt die These von einer nur noch ritualisierten Erinnerung. Anhand der Errichtung von Denkmälern (in Wien und Berlin) und den Konflikten um sie wird dies deutlich, und auch der „Faktor Europa“ spielt nun massiv hinein, also die geschichtspolitischen Initiativen des Europäischen Parlaments.14

4. Ist es denkbar, dass so etwas Großes wie Vergangenheitsbewältigung misslingt? Antwort: Ja, gewiss. Aber kann nicht auch eine bestimmte Form des Umgangs mit der Vergangenheit einen „Überdruss an den Ritualen öffentlichen Gedenkens“ pro‐ vozieren, wie Graf Kielmansegg mit Blick auf die alte Bundesrepublik fragte? (96). Antwort: Möglicherweise, aber nicht notwendigerweise. Skepsis erscheint ange‐

14 Hammerstein/Hofmann 2009, S. 190-194.

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bracht, denn der Vorwurf ist so alt wie das Bestreben, ins Reine zu kommen. Und haben wir nicht gelernt? Nach der Epochenwende 1989/91, nach dem Untergang des Kommunismus, aber auch der lateinamerikanischen Militärdiktaturen und dem südafrikanischen Apart‐ heid-Regime stellte sich die Frage nach einem Umgang mit der diktatorischen Ver‐ gangenheit und ihren Hinterlassenschaften so dringend und weltumspannend wie nie zuvor.15 Größte Anstrengungen waren geboten. Das „past-beating“, die Vergangen‐ heitsbewältigung, wurde zu einer weltweiten Aufgabe in Gesellschaften, die den Weg von einer Diktatur zur Demokratie zurücklegen. Das war nach 1945 mit Blick auf die nationalsozialistische Diktatur der Fall gewesen und seit 1989 mit Blick auf die kommunistische. Man nennt dies heute „Transitional justice“. Beschrieben wer‐ den hierbei die Prozesse, Praktiken und Organisationsformen, die darauf zielen, Ver‐ brechen einer gewaltsamen Vergangenheit nach einem gesellschaftlichen Umbruch aufzuarbeiten und so den Übergang von der Diktatur zur Demokratie zu gewährleis‐ ten. Die Aufarbeitung von Regimeverbrechen und Bürgerkriegserfahrungen nahm die Gestalt einer „zweiten Geschichte“ der Diktatur an. „Wahrheits-“ und „Versöh‐ nungskommissionen“ begleiteten die Schritte aus der Diktatur in die Demokratie. Am bekanntesten waren die südafrikanischen, die unter der Ägide Nelson Mandelas und des Bischofs Tutu ihre schwierige Arbeit aufnahmen. Ähnliche Einrichtungen gab es in Lateinamerika, dort jedoch war es allein die Zivilgesellschaft, die diese Vergangenheitsbewältigung vorantrieb.16 Die Suche nach Wahrheit scheiterte vieler‐ orts am Widerstand der Täter. Absprachen hatten den südamerikanischen Militärs in der Regel eine Amnestie, manchmal völlige Straffreiheit trotz Verbrechen, zugestan‐ den. In Ostmitteleuropa, wo es vergleichbare Kommissionen gab, war dies zumeist anders. Das größte Problem war hier, dass es sich um Diktaturen handelte, die sich seit 40 Jahren oder noch länger an der Macht gehalten und somit Gesellschaft, Poli‐ tik und Rechtssystem massiv imprägniert hatten. Es gab vor diesem komplizierten Hintergrund eine ganze Reihe von Zielen der Vergangenheitsbewältigung, die wiederum auf vielfältigen Wegen erreicht werden konnten. Und der wechselvolle Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit diente oftmals in einem solchen Ausmaß als „Vorbild“, dass das auch gehässig ge‐ meinte Wort von der „DIN“-Norm seine Runde machte. Gleichwohl: Man hatte ge‐ lernt, dass Aufarbeitung ungeheuer vielgestaltig sein muss. Das wichtigste Ziel war zu versuchen, Wahrheit und Gerechtigkeit wieder herzustellen. Dazu mussten Ver‐ antwortung und Schuld benannt und anerkannt werden. Erforderlich war, dass sich demokratische Verhältnisse konsolidierten, was Zeit bedurfte, und dass nicht aufs Neue Menschenrechte verletzt wurden. Darüber hinaus war die „Heilung“ ein uner‐ lässliches Ziel, was man durchaus im psychologischen, individuellen Sinn auffassen 15 Siehe Wolfrum 2017, S. 67ff. 16 Ruderer 2010, S. 334.

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konnte. Auf der kollektiven Ebene zielte Vergangenheitsbewältigung auf eine Reini‐ gung, eine gesellschaftliche Katharsis, vielleicht am Ende auf das Schwierigste über‐ haupt: den Hass zu überwinden und langfristig Opfer und Täter zu „versöhnen“. Die Wege, die zu diesen anspruchsvollen Zielen führten, waren so zahlreich, dass sie einer ziemlich unübersichtlichen Straßenkarte einer Stadt glichen. Die breiteste Stra‐ ße darauf trug den Namen „Säuberung“, wie etwa durch die Entnazifizierung nach 1945 in Deutschland oder die Wahrheitskommissionen in Südafrika oder Chile nach 1989. Archive mussten geöffnet, zugänglich gemacht und ausgewertet werden, um die Untaten der Diktatur aufzuarbeiten. Wenn Verbrechen geleugnet wurden, musste dies – eine weitere breite Straße – die Justiz auf den Plan rufen. Überhaupt waren Gerichtsverfahren zur Aufarbeitung unabdingbar. Täter mussten bestraft werden, Entschädigungen, Reparationen und Wiedergutmachungen mussten die überleben‐ den Opfer erreichen. Ein nicht zu unterschätzender, unerlässlicher Weg war mit sym‐ bolischen Akten gepflastert – dazu gehörte die Etablierung einer Memorialkultur in Form von Friedhöfen und Museen, von Gedenkstätten und Gedenktagen. Das Ziel dieses Umgangs mit der Geschichte bestand und besteht darin, einen Bruch mit der negativen Vergangenheit der Diktatur herbeizuführen. Um die Aufar‐ beitung zu bewerten, muss sie sich daran messen lassen, ob sie ihre Aufgaben auf lange Sicht erfüllt hat: eine Beseitigung der verbrecherischen Organisationen des überwundenen Regimes, eine Demokratisierung des politischen Gefüges, eine Be‐ strafung der Täter, eine Entschädigung der Opfer sowie eine moralisch-intellektuelle Aufarbeitung, um die politische Kultur zu demokratisieren. Dies sind beträchtliche Aufgaben, die auf verschiedenen Ebenen und durch verschiedene Akteure stattfin‐ den. Ganz oben steht dabei die offizielle Ebene der Politik, hier geht es im Wesentli‐ chen um die Gesetze. Darunter folgt die Ebene der Öffentlichkeit, in der verschiede‐ ne gesellschaftliche Gruppen agieren. Schließlich muss die Ebene der politisch-kul‐ turellen Mentalitäten bedacht werden, auf der die Einstellungen, Meinungen und Verhaltensweisen der Menschen zu finden sind. Das alles erscheint überaus kom‐ plex, und es ist in der Tat so: Vergangenheit kann nicht ein für alle Mal „bewältigt“ werden, Vergangenheitsbewältigung bleibt vielmehr ein ständiger Prozess und ein Lebenselixier für die Demokratie, die so ihren Triumph über die Diktatur tagtäglich erneuern muss. Ist das, was hier international zum vorbildhaften Modell avancierte, nicht die essentielle Lehre aus dem Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bun‐ desrepublik?

5. Von der Kehrseite her betrachtet: Das moralische Dilemma der Deutschen zeichnet sich ebenso ab, und Graf Kielmansegg hat es das eine um das andere Mal benannt,

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ohne die letzten Volten in unseren Tagen bereits gekannt zu haben. So lesen wir bei ihm: „Wenn ein durch eine selbstverschuldete historische Katastrophe traumatisier‐ tes Volk sich mit der Demokratie vertraut macht – mögen die Bedingungen auch ver‐ gleichsweise günstig sein – dann ist zu erwarten“, so lautet seine Diagnose, „dass vernünftiges Lernen aus der Vergangenheit und neurotische Prägung durch die Ver‐ gangenheit eine eigentümliche Verbindung eingehen, und das nicht nur vorüberge‐ hend. Eine Tendenz zu übertreiben wird für ein solches Volk charakteristisch sein. Eine Tendenz, es mit dem Bedürfnis nach Ruhe, Sicherheit, Stabilität, ungestörten Lebensgenus ebenso zu übertreiben wie mit dem Bedürfnis, allen anderen, was die Moral in der Politik angeht, voraus zu sein.“(NK, 130) Bekanntlich mündete dies aktuell in einen neuen deutschen Sonderweg. Im Au‐ gust 2015 setzte Deutschland das Dublin-Verfahren für Syrer aus. Dies bedeutete, dass Flüchtlinge aus der Bürgerkriegsregion nicht mehr in das Land zurückgeschickt wurden, in dem sie zuerst EU-Boden betraten. Wenige Tage später entschieden Deutschland und Österreich, Tausende von Flüchtlingen und Migranten aufzuneh‐ men, die sich, häufig völlig erschöpft bis nach Ungarn, wo sie unerwünscht waren, hatten durchschlagen können. Immer mehr Menschen, die Zahl ging in die Millio‐ nen, hatten sich auf die Flucht begeben. Anfang März 2016 schloss nach Slowenien, Kroatien und Serbien auch Mazedonien seine Grenze für Flüchtlinge, womit die „Westbalkanroute“ faktisch dicht war und wieder mehr Menschen mit kleinen, oft seeuntauglichen Booten etwa auf die griechische Insel Lesbos flüchteten. Bis dahin waren über eine Million Menschen nach Deutschland und Österreich gekommen. Die EU und die Türkei darauf, Migranten, die illegal in Griechenland ankamen, in die Türkei zurückzuschicken. Im Gegenzug sollte für jeden zurückgeschickten syri‐ schen Flüchtling ein anderer Syrer legal und direkt von der Türkei aus in die EU ge‐ langen. Deutschland bildete in seiner Flüchtlingspolitik einen Sonderweg aus, der mora‐ lisch begründet und als „Lehre aus der Vergangenheit“ ausgegeben wurde.17 Bei den meisten europäischen Partnern stieß dieses „Moralmonopol“ auf heftigen Wider‐ spruch. Bilder von angeschwemmten Kinderleichen auf griechischen Inseln oder der Fund von 71 Leichen in einem Schlepper-LKW an der Grenze zu Österreich beför‐ derten in Deutschland eine moralische Politik, die in der deutschen Gesellschaft gro‐ ßen Widerhall fand. Bundeskanzlerin Angela Merkel sah sich nach eigenen Worten vor der größten Herausforderung ihrer gesamten Amtszeit. „Wir schaffen das“ laute‐ te ihr zentraler Satz am 31. August 2015, mit dem sie zwei Festlegung der Bundes‐ regierung begründete. Die erste: Für Syrer wurde das Asylverfahren grundsätzlich in Deutschland eingeleitet, auch wenn sie fast immer über andere Staaten in die EU eingereist waren. Rechtlich war dies möglich, es sollte die Verfahren beschleunigen.

17 Winkler 2015, S. 4; Münkler/Münkler 2016, S. 173-177.

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Allerdings verstanden nicht wenige dies als eine „Einladung“, nach Deutschland zu kommen; die Zahlen schwollen an und erreichten über eine Million Menschen. Zweitens: An der Grenze zu Österreich wurde wieder kontrolliert, doch ließen die Beamten jeden hinein, der um Schutz bat. Diese deutschen Festlegungen – und dies war das Dilemma der Moralpolitik – waren allerdings ohne europäische Absprachen getroffen worden, weshalb heftige Kritik aufbrandete und zum Argwohn gegenüber Deutschland führte. Deutschland, so lautete der Vorwurf, habe mit seinem Vorgehen die unkontrollierte Einwanderung völlig unbedacht, aber vorsätzlich angeheizt und die umliegenden Länder ohne Kon‐ sultationen in Mitleidenschaft gezogen. Diese Sicht war nicht gänzlich unbegründet, doch die Bunderegierung wollte mit der Aufnahme der Flüchtlinge auch Zeit für die Aushandlung einer gesamteuropäischen Lösung gewinnen. Vor allem ostmitteleuro‐ päische Länder sahen in der Flüchtlingskrise indessen gar keine Herausforderung, die Gesamteuropa betraf, sondern meinten, es sei ein spezifisch deutsches Problem, Resultat eines fortwährenden schlechten Gewissens infolge der NS-Vergangenheit. Durch die deutschen Entscheidungen, so argumentierten sie, sei eine Sogwirkung entstanden, die noch mehr Menschen zur Flucht nach Europa veranlasst habe. Die Flüchtlingskrise entzweite Europa zutiefst. Besonders die östlichen „V4-Staaten“, die sich in der Visegrad-Gruppe zusammengeschlossen hatten, Polen, Ungarn, die Slowakei und Tschechien, lehnten das deutsche Vorgehen und auch die von der EU hinterher geschobenen Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen ab und verlangten statt dessen eine strenge Kontrolle der EU-Außengrenzen. Für Ungarns Regierungs‐ chef Victor Orban bedeutete die Flüchtlingskrise keine humanitäre Frage, sondern war Teil seines machtpolitischen Spiels. Im Europäischen Parlament gab er die Er‐ klärung ab, die Flüchtlingslage sei „kein europäisches, sondern ein deutsches Prob‐ lem“. Aus den Reihen der rechtsnationalen polnischen Partei PiS („Recht und Ge‐ rechtigkeit“) hörte man, dass der polnische Steuerzahler nicht für die Folgen der ehemaligen Kolonial- und Verbrechenspolitik einiger EU-Mitgliedsstaaten aufkom‐ men dürfe.18 Menschen, die von Krieg und Gewalt betroffen waren, galt es zu helfen. Das war ein starkes Signal der Humanität. Es entsprach den europäischen Werten, und es wurzelte auch im Christentum. Aber es musste sich nicht eine „Willkommenskultur“ wie in Deutschland ausbreiten, diese war auch ein Stück weit blauäugig. Deutsch‐ land alleine konnte die Welt nicht retten, und auch Europa konnte das nicht. Man muss erwähnen, dass auch bei dem Brexit-Votum der Briten 2016 diese deutsche Haltung während der Flüchtlingskrise eine Rolle spielte, manche auf der Insel spra‐ chen angesichts der multikulturellen Auswüchse von einem „Hippie-Staat“ Deutsch‐ land, der ihnen genauso fremd und bedrohlich erschien wie die Furcht vor einem

18 Inotai 2015, S. 43; Frelak 2015, S. 45.

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„deutschen Europa“ groß war, einem Europa, das einer deutschen Sondermoral un‐ terworfen werden sollte, nachdem der „Griff nach der Weltmacht“ im 20. Jahrhun‐ dert zwei Mal am britischen Widerstand zerbrochen war.

6. Ob er ein zum Politikwissenschaftler gewordener Historiker sei, wurde Graf Kiel‐ mansegg in einem Interview einmal gefragt.19 Der Zufall, so erwiderte er, habe eine Rolle gespielt, ebenso seine Begegnung mit Eugen Kogon, der seinerzeit sein wich‐ tiges Buch „Der SS-Staat“ veröffentlichte, aber letztlich auch die Vorstellung, dass die Politikwissenschaft, die damals ein sehr junges, gänzlich neues Fach in Deutsch‐ land war, „eine größere Freiheit der Entfaltung“ bieten würde. „Ich versprach mir einfach eine größere Freiheit in der Wahl meiner Gegenstände, in der Wahl der Per‐ spektiven und vielleicht auch einen besseren Zugang zu aktuellen Fragen (...) Das alles erschien mir, obwohl ich das natürlich nicht so planmäßig angegangen bin, in dem Fach Politikwissenschaft näher zu liegen als im Fach Geschichte. Ich bin aber immer wieder einmal ganz bewusst für eine gewisse Periode meiner Arbeit komplett in die Geschichtswissenschaft zurückgekehrt.“ Ein historisch ausgebildeter Politik‐ wissenschaftler – oder ein sozialwissenschaftlich geschulter Historiker, man kann es so oder so wenden. Die bundesdeutsche Zeitgeschichte ging jedenfalls nicht allein aus dem Geist der Vergangenheitsbewältigung hervor, sondern ihre frühen Vertreter waren das, was man seinerzeit Politikwissenschaftler nannte. Regelmäßig befasst sich Graf Kielmansegg, das sollten auch diese kleinen Betrachtungen zum Umgang mit der Vergangenheit zeigen, mit dem Lernen aus der Geschichte, mit der „lernen‐ den Demokratie“ in Deutschland und in Europa. Er widmet sich historischer Aufklä‐ rung, denn Geschichtswissenschaft richtig verstanden ist: Aufklärung. Und beileibe nicht das Kramen im Schatzkästlein monumentaler historischer Erbauung. Dass Ge‐ schichte Bildungsmacht sei und nicht klug für ein andermal, sondern weise für im‐ mer mache, hat der große Basler Historiker des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Jacob Burckhardt, einmal gesagt. Graf Kielmansegg hat das Diktum frohgemut zeitgemäß umgedreht: Warum sollte man nicht aus der Geschichte lernen und gegenüber aktu‐ ellen Problemen klüger werden können? Dabei denkt Graf Kielmansegg, was beson‐ ders fruchtbar ist, stets in Paradoxien und nicht in „Rettung“ oder „Untergang“ und anderen schlichten binären Zugängen. „Vielleicht“, so formuliert er zu unserem The‐ ma, „lässt sich der Neubeginn im Westen Deutschlands in seinen Widersprüchen nur als Paradoxon verstehen: Die Demokratiegründung gelang trotz der ‚Unfähigkeit zu

19 Gespräch mit Lindenmeyer, 19.9.2007.

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trauern‘, und sie gelang in gewissem Sinn auch wegen der ‚Unfähigkeit zu trauern‘“. (NK, 642).

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III. Demokratie

Birgit Enzmann Schlechtwetterdemokratie. Peter Graf Kielmansegg zur Souveränität und Herrschaft des Volkes

Sorge um die Zweite Republik Eine gute Verfassung allein macht noch keine stabile Demokratie. Deren Gedeihen bleibt von vielen Unwägbarkeiten abhängig, metaphorisch gesprochen vom Wetter. Wirtschaftskrisen, soziale Spannungen, die Bedrohung der inneren und äußeren Si‐ cherheit, politische Skandale, kulturell oder ideologisch motivierte Konfrontationen, das Aufleben obrigkeitsstaatlicher Gesinnung oder andere schwer kalkulierbare Störfaktoren können einen Autokratisierungsprozess einleiten. Eine gelungene Rechts- und Verfassungsordnung kann die Störanfälligkeit verringern, aber nicht be‐ seitigen. Bei der Konzeption der Bundesrepublik wurden Angriffspunkte, die die Weimarer Republik antidemokratischen Kräften geboten hatte, soweit wie möglich vermieden. Dennoch bekannte die langjährige FDP-Politikerin Hildegard HammBrücher 2009 in einem Interview, sie sei stets in Sorge gewesen, „dass wir recht ei‐ gentlich eine Schönwetterdemokratie sind, die noch keine wirklichen Bewährungs‐ proben bestanden hat.“1 Man mag es als einen regelrechten „Weimar-Komplex“2 be‐ zeichnen, dass bis heute bei größeren Änderungen und Herausforderungen der sozio‐ ökonomischen und politischen Ordnung Bedenken laut werden, die Bundesrepublik könne sich wie ihre Vorgängerin als nicht krisenfest erweisen. Ein Kommentator der ZEIT urteilte 1974: „Es war ein Glücksfall deutscher Geschichte, daß der Aufbau einer neuen parlamenta‐ risch-rechtsstaatlichen Demokratie einherging mit wirtschaftlicher Prosperität. Vor allem daraus erklärt sich die Stabilität, die Normalität dieser Republik, und auch deswegen ist Bonn kein Weimar geworden...“.3

Die Charakterisierung der Bundesrepublik als Schönwetterdemokratie basiert somit auf der Einschätzung, sie habe ihr langjähriges Bestehen lediglich dem wirtschafli‐ chen Wohlstand und seiner Verteilung zu verdanken. Sollte dieses Befriedungsmittel wegfallen, drohe sie das Bevölkerungsvertrauen zugunsten extremistischer und po‐ pulistischer Kräfte zu verlieren. Artikuliert wurde diese Sorge zunächst anlässlich 1 Gerste 2001. 2 Ullrich 2009. 3 Janßen 1974b.

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der Wirtschafts- und Ölkrisen.4 Später gaben Kalter Krieg, Klimawandel, Europäi‐ sche Integration, Wiedervereinigung und Migration Anlass zu ähnlichen Mahnungen und der Frage nach Lösungen. Die Sorge um den Bestand und die Zukunftsfähigkeit der bundesdeutschen De‐ mokratie prägt auch die Demokratieschriften Peter Graf Kielmanseggs. Er ist über‐ zeugt, dass die Bundesrepublik nur deshalb eine reelle Überlebenschance hat, weil sie nicht nur Demokratie, sondern auch Verfassungsstaat ist.5 Dadurch sind Einzelne und Minderheiten nicht einer unumschränkten Mehrheitsherrschaft unterworfen, sondern verfügen über einen durch Grundrechte, allgemeine Gesetze, unabhängige Gerichtsbarkeit und Gewaltenteilung geschützten Freiheitsraum. Die Idee der Selbstregierung der Bürger wird mit der Idee der Rechtsgebundenheit und Verant‐ wortlichkeit von Regierung verbunden.6 Umso mehr beunruhigen Graf Kielmansegg alle Tendenzen, die Demokratie aus solchen Schranken zu lösen. Er verfolgt in sei‐ nem Werk verschiedene Strategien um nachzuweisen, dass der demokratische Ver‐ fassungsstaat einer reinen Demokratie überlegen ist: theoretisch durch eine überzeu‐ gendere Legitimationsbasis (I) und praktisch durch ein komplexeres, weniger wet‐ teranfälliges Institutionengefüge (II). In einem weiteren Argumentationsstrang the‐ matisiert Peter Graf Kielmansegg aber auch Schwachstellen des demokratischen Verfassungsstaats, die besondere Sorgfalt in der praktischen Umsetzung erfordern (III).

Legitimation durch gleiche Teilhabe Die Auseinandersetzung Peter Graf Kielmanseggs mit den Legitimationsgrundlagen moderner Demokratie beginnt im Rahmen der in den 1960-er und 70-er Jahren ge‐ führten Debatte um eine Verbreiterung und Vertiefung der Partizipationsmöglichkei‐ ten. Bundeskanzler Willy Brandt gab dafür in einer Regierungserklärung das Leit‐ motiv aus „Mehr Demokratie wagen“. Die Herrschaft des Volkes sollte sich nach Ansicht der politischen Linken nicht in der periodischen Wahl der politischen Füh‐ rung erschöpfen, sondern durch geeignete Formen der Selbstverwaltung und Mitbe‐ stimmung in allen gesellschaftlichen Bereichen verwirklicht werden, insbesondere in der Wirtschaft und dem Bildungswesen. Durch eine konsequente Einbeziehung gesellschaftlicher Gruppen sollte sich zudem der Staat gegenüber den Bürgern öff‐ nen; politische Prozesse sollten transparenter werden. So sollten die Voraussetzun‐ gen für eine neue Form mündiger Bürgerschaft geschaffen werden, die neben erwei‐ 4 Vgl. Janßen 1974a, 1974b. 5 Prägnant herausgearbeitet am Verhältnis von Demokratie und Verfassungsgerichtsbarkeit in Kielmansegg 2005. 6 Kielmansegg 1988, S. 7.

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terten Rechten eine erhöhte Bereitschaft zur Mitverantwortung des Einzelnen be‐ inhaltete.7 Graf Kielmansegg versucht in seinen frühen Demokratieschriften gravie‐ rende Fehler in den theoretischen Konzepten aufzuzeigen, die den Forderungen der politischen Linken zugrundeliegenden. Im Mittelpunkt steht dabei das Konzept der Volkssouveränität. Die Volkssouveränität ist ein theoretisches Konstrukt, das einerseits dem Herr‐ schaftsanspruch absolutistischer Fürsten einen ebenso umfassenden Anspruch auf Selbstbestimmung des Volkes entgegenstellt und andererseits ein Legitimationsdi‐ lemma überwinden soll. Angesichts der zentralen Prämisse der Aufklärungsphiloso‐ phie „Alle Menschen sind frei und gleich geboren“ konnte legitime Staatsgewalt fortan weder auf Abstammung noch Tradition, sondern nur auf die Einwilligung der Herrschaftsunterworfenen gegründet werden. Zu Ende gedacht würde dies aber die fortgesetzte Einwilligung jedes Einzelnen erfordern. Ein einzelner Vetospieler könn‐ te der besten Ordnung die Legitimation entziehen. Einen Ausweg aus diesem Anar‐ chiedilemma weist das Konzept der Volkssouveränität. Es ersetzt das Erfordernis fortgesetzter Zustimmung jedes Einzelnen durch die gleichberechtigte Teilhabe an einem Kollektivsubjekt „Volk“. Dieses trifft mit Stimmenmehrheit alle grundlegen‐ den Entscheidungen und erteilt einer Regierung die widerrufliche Ermächtigung zur Ausübung von Staatsgewalt. Durch seine Mitbestimmungsrechte kann sich der Ein‐ zelne zugleich als Adressat und Autor staatlicher Befehle betrachten.8 Jean Jacques Rousseau, zentraler Vertreter des Volkssouveränitätskonzepts, erwartet zudem, dass sich in der Mehrheitsabstimmung nur Vorschläge durchsetzen, die jeder vernünftige Bürger wollen kann. Deshalb bleibe der Bürger trotz gesetzlicher Beschränkungen unter der Volkssouveränität im Staat „ebenso frei“ wie zuvor.9 Peter Graf Kielmansegg fasst die Idee der Volkssouveränität zusammen: „In der Idee der Souveränität des Volkes verwandelt sich die ursprüngliche, außergesell‐ schaftliche Autonomie eines jeden Einzelnen in das gesellschaftliche Verfügungsrecht al‐ ler über alle. Man könnte auch sagen: Volkssouveränität ist die gesellschaftliche Erschei‐ nungsform jeder ursprünglichen Autonomie“.10

Obwohl die Volkssouveränität selbst in Artikel 20 Abs. 2 des Grundgesetzes zur zen‐ tralen Legitimationsbasis demokratischer Staatsgewalt erklärt wird, zweifelt Graf Kielmansegg an ihrer Tragfähigkeit, wie er 1977 in einer auf seiner Habilitations‐ schrift aufbauenden Publikation ausführlich darlegt.

7 8

Vgl. Schönhoven 2006. In der programmatischen Schrift „Student und Politik“ hält Jürgen Habermas es sogar für denkbar, dass individuelle und kollektive Selbstbestimmung zur Deckung kommen und da‐ durch Herrschaft aufgehoben wird. Habermas 1961, S. 15. Graf Kielmansegg nutzt die Text‐ stelle wiederholt zur Entwicklung seiner Gegenthesen, z.B. in Kielmansegg 1988, S. 62. 9 Rousseau 2000, I 6, S. 26. 10 Kielmansegg 1977, 230.

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(1) Schon die Annahme eines gänzlich freien, nicht vergesellschafteten Menschen sei falsch. Zur Bildung einer eigenständigen, der Selbstbestimmung fähigen Persön‐ lichkeit bedürfe jeder Mensch der Beziehung zu anderen. Von der Utopie eines un‐ vergesellschafteten Individuums auszugehen, belaste die Demokratie mit der Hypo‐ thek, sich als Annäherung an Herrschaftsfreiheit rechtfertigen zu müssen.11 (2) Diesen Anspruch könne sie aber nicht erfüllen. Denn individuelle Autonomie, „verstanden als das uneingeschränkte, allen gesellschaftlichen Abhängigkeiten vor‐ ausgehende Verfügungsrecht eines jeden Menschen über sich selbst“12 sei nie mit demokratischer Teilhabe gleichzusetzen. Denn wer an kollektiven Entscheidungs‐ prozessen teilnehme, übe nicht primär Selbstbestimmung aus, sondern Mitverfügung über andere – mithin Herrschaft. 13 Besonders drückend ist diese Diskrepanz zwi‐ schen Anspruch und Wirklichkeit für die überstimmte Minderheit und noch mehr für alle Nicht-Stimmberechtigten sowienachfolgende Generationen, die die Folgen frü‐ herer Entscheidungen ungefragt tragen müssen. Somit bleibt stets ein „legitimatori‐ scher Rest“, der auf andere Weise gerechtfertigt werden muss, etwa durch Vetomög‐ lichkeiten oder Kompetenzbeschränkungen. Das, so Graf Kielmansegg, ist im Kon‐ zept der Volkssouveränität aber ausgeschlossen. Weil die vorgesellschaftliche Frei‐ heit des Einzelnen als ungebunden und absolut verstanden wurde, werde auch die Volkssouveränität als schrankenlos und umfassend betrachtet. Das Volk könne mit einfacher Mehrheit tief in die Privatsphäre des Einzelnen eingreifen. Deshalb wohne dem Volkssouveränitätskonzept eine totalitäre Tendenz inne. Es trete mit seinen ei‐ genen individualistischen Prämissen in Widerspruch und könne die originäre Inten‐ tion der Freiheitssicherung des Einzelnen nicht erreichen 14. (3) Um das Problem des legitimatorischen Rests, d.h. die Überstimmung der Min‐ derheit und die Verfügung über Nicht-Stimmberechtigte zu verdecken, gelte im Konzept der Volkssouveränität eine Art „prästabilisierte Harmonie“ zwischen den Mehrheitsentscheidungen des Volkes und dem Gemeinwohl. Graf Kielmansegg be‐ trachtet dies als einen terminologischen Trick: Es gehe gar nicht um freie Willensbil‐ dungsprozesse, sondern um die „Erkenntnis“ einer vorab feststehenden, qua Ver‐ nunft erfassbaren Gemeinwohlvorstellung. Der Einzelne werde durch seine Teilhabe am kollektiven Entscheiden damit nicht zum autonomen Autor staatlicher Befehle, sondern konsentiere das Notwendige. 15 Für Graf Kielmansegg steht deshalb fest: Die Volkssouveränität ist als Legitima‐ tionskonzept gänzlich gescheitert.16 Allerdings bringt er seine Argumente gegen eine radikale Lesart von Volkssouveränität vor, die selbst Rousseau nicht in dieser Form 11 12 13 14 15 16

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Kielmansegg 1977, S. 231. Vgl. Kielmansegg 1977, S. 230. Kielmansegg 1977, S. 233. Kielmansegg 1977, S. 235, 244, 247. Kielmansegg 1977, S. 233, 246-247. Vgl. eine Kurzfassung der Problemdiagnose in Kielmansegg 1980b, S. 49-58.

vertritt. So behauptet Rousseau nicht, dass der Einzelne im Staat dieselbe Freiheit wie im vorstaatlichen Zustand genießt, weil individuelle und kollektive Selbstbe‐ stimmung deckungsgleich wären. Er behauptet lediglich eine gleichwertige Freiheit vor und nach der Staatsgründung, da der Einzelne durch die Teilhabe an der Gesetz‐ gebung einen fairen Ausgleich für die Beschränkungen seiner persönlichen Freiheit findet.17 Auch geht Rousseau nicht in Analogie zu mittelalterlichem Weistum von einer a priori feststehenden Gemeinwohllösung aus, die durch das kollektive Verfah‐ ren „erkannt“ werden kann. Zwar trifft der Genfer in seinem Staatsmodell eine Rei‐ he von Vorkehrungen, die Fehlentscheidungen verhindern sollen. Aber diese dienen im Wesentlichen dazu, diskriminierende gruppendynamische Prozesse und Abspra‐ chen zu verhindern. Zu solchen Vorkehrungen gehören das alleinige Initiativrecht ei‐ nes weisen Legislateurs, das Verbot einer der Abstimmung vorausgehenden Aus‐ sprache, das einfache Mehrheitsprinzip, die Trennung von Legislative und Exekutive und die strikte Allgemeinheit der Gesetze.18 Diese Vorkehrungen genügen aus heuti‐ ger Sicht natürlich nicht als Schutz vor Mehrheitstyrannei. Dennoch zeigen sie an, dass es sehr wohl um einen echten Willensakt geht.19 Und dass gut konzipierte de‐ mokratische Verfahren auch bei freier Entscheidung häufig sachgerechte Ergebnisse hervorbringen, ist kein Rettungsversuch einer haltlosen Theorie, sondern eine zen‐ trale These in prozeduralen Demokratietheorien. Sie schreiben demokratischen Ent‐ scheidungsverfahren eine Richtigkeitsgewähr zu, solange diese eine Reihe von An‐ forderungen erfüllen. Dazu gehören eine breite Streuung des Initiativrechts ebenso wie offene Debatten und mehrere Beratungsstufen. So soll der Einfluss emotionaler und rein subjektiver Entscheidungsgründe zugunsten vernünftiger Argumentation verringert werden. Wie im Konzept der Volkssouveränität handelt es sich m.E. nicht um einen Erkenntnis-, sondern einen Verhandlungs- und Überzeugungsprozess, der in einen Willensakt der Stimmberechtigten mündet. Die Vielfalt der Beteiligten und die Deliberation gelten dabei als wesentliche Gründe für die Überlegenheit der De‐ mokratie gegenüber der Autokratie. Sie tritt umso deutlicher zutage, je mehr Perso‐ nen in demokratische Entscheidungsverfahren einbezogen werden und je mehr hierarchische Prozesse durch demokratische ersetzt werden. So erläutert der Politik‐ wissenschaftler John S. Dryzek 1996: “If democracy is a good thing (as almost everyone everywhere now seems to believe), then more democracy should presumably be an even better thing. Today there is a wide‐ spread sense, among political theorists at least, that democracy is an unfinished project, not just in terms of the spread of liberal democratic institutions to more and more corners of the world but also in terms of deepening of the democratic qualities of all societies.”20

17 18 19 20

Vgl. Enzmann 2009, S. 46-49. Vgl. Enzmann 2009, S. 266-270. So betont auch Priester 1995, S. 29,33. Dryzek 1996, S. 475.

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Selbst im liberalen Denken findet sich die Vermutung der Richtigkeitsgewähr, dort jedoch nur bezogen auf den vielstufigen repräsentativen Entscheidungsfindungspro‐ zess, kombiniert mit der durch Wahlen erzwungenen Rückbindung an die Bürger. Zusammen sichern sie, dass die Vielfalt der Interessen gehört, gewichtet, gebündelt und zu einer sachgerechten Kompromissentscheidung verarbeitet wird.21

Alternativmodell Verantwortung Nicht von der Hand zu weisen sind aber Graf Kielmanseggs Einwände gegen den „legitimatorischen Rest“ sowie den mangelnden Schutz individueller Freiheit. Als Lösung schlägt er ein alternatives Legitimationskonzept moderner Demokratie vor, das nicht mehr allein auf dem Input (gleiche Teilhabe), sondern zusätzlich auf dem Throughput (Einhaltung zuvor festgelegter Zuständigkeiten und Verfahren) sowie vor allem dem Output des politischen Systems basiert. Gemessen an ihrer eigenen Prämisse natürlicher Freiheit und Gleichheit sei eine Demokratie legitim, wenn sie die Voraussetzungen für ein Handeln der Menschen gemäß ihrer selbstgewählten Ziele schaffe. 22 Graf Kielmansegg bezeichnet dies auch als „Humanisierung der Be‐ dingungen menschlicher Existenz“, wobei die inhaltliche Bestimmung dessen, was als humane Bedingung gilt, von jeder Gesellschaft und jeder Generation selbst zu klären ist. „Die Humanisierung der Bedingungen menschlicher Existenz ist das – jeweils konkret zu interpretierende – Ziel, auf das jedenfalls die neuzeitliche Demokratie hingeordnet ist, von dem sie ihre Legitimität empfängt. Demokratie ist die Antwort auf die Frage, welche Form der Organisation von Kollektiven dieser Zielsetzung adäquat sei. Sie ist gegründet auf die Überzeugung, daß es für eine humane Gesellschaft von konstitutiver Bedeutung sei, grundsätzlich allen Individuen Chancen der Mitwirkung an den Entscheidungspro‐ zessen des Kollektivs einzuräumen – oder, negativ formuliert, grundsätzlich niemanden als bloßes Objekt gesellschaftlicher Verfügungsgewalt zu behandeln.“23

Angesprochen sind hier die zwei zuweilen widerstreitenden Dimensionen der Frei‐ heit: Die positive Dimension ist die Freiheit zur Teilhabe an politischen Entschei‐ dungsprozessen; die negative meint die Freiheit, solchen Entscheidungen gar nicht unterworfen zu sein.24 Während die negative Freiheit im Konzept der Volkssouverä‐ nität nach Ansicht Graf Kielmanseggs vollständig zur Disposition der positiven Frei‐ heit gestellt ist, soll sein eigenes Modell beide ins Gleichgewicht bringen. Dies ge‐ lingt mithilfe des Amtsprinzips, das sich m.E. als Schlüssel zu Graf Kielmanseggs 21 22 23 24

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Bleckmann 1998, S. 122 f, 117-121. Kielmansegg 1977, S. 257-266. Kielmansegg 1980a, S. 18. Kielmansegg 1988, S. 78.

Verständnis demokratischer Legitimation erweist. Er betont in seiner Schrift „Das Experiment der Freiheit“ von 1988 erneut, dass demokratische Teilhabe in erster Li‐ nie nicht Selbstbestimmung, sondern Mitverfügung über andere sei. Der dadurch er‐ littene Freiheitsverlust für die unterlegene Minderheit lasse sich rechtfertigen, indem man das Teilhaberecht als ein Amt verstehe, für dessen Ausübung sich der Inhaber vor der Gesamtheit verantworten muss. Zusätzliche Rechte gehen also mit erweiter‐ ten Pflichten einher. Gut institutionalisieren lässt sich das in einer repräsentativen Demokratie. Das Volk bindet als Verfassungsgeber alle zentralen Entscheidungsbe‐ fugnisse an das Innehaben eines Amtes und vergibt anschließend die Ämter durch Wahl. Klare Zuständigkeiten und die Mechanismen der Ab- oder Neuwahl, ggf. auch Klageverfahren, erlauben die Zuschreibung der Verantwortung. Selbst die Teil‐ nahme an Wahlen und Abstimmungen wird über die Festlegung der Verfahren und Stimmrechte zu einem Amt im ideellen Sinne, das – wenn auch nicht sanktionsbe‐ währt – zur gewissenhaften Stimmabgabe verpflichtet. Diese Figur des ideellen Am‐ tes dürfe man nicht überstrapazieren, meint Graf Kielmansegg. Legitimation besitze eine Demokratie nur, wenn die politischen Entscheidungsbefugnisse primär und ganz überwiegend in Ämtern mit formeller Verantwortlichkeit institutionalisiert sei‐ en. Wenige direktdemokratische Elemente im Rahmen einer überwiegend repräsen‐ tativen Demokratie seien aber mit dem Amtsgedanken durchaus vereinbar, zumal ja auch die Wähler für ihre Entscheidung nicht rechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. 25 Graf Kielmanseggs Alternativmodell demokratischer Legitimation basiert somit nicht auf dem Ideal „simultaner Massenpartizipation“, sondern auf den Gegebenhei‐ ten arbeitsteiliger und damit ungleichgewichtiger Teilhabe am politischen Prozess. Das Ziel der Herrschaftsfreiheit ist zugunsten effektiver staatlicher Durchsetzungs‐ organe aufgegeben. Diesen Organen wird ein gewisser politischer Freiraum einge‐ räumt. Sie sind durch das Amtsprinzip aber eingebettet in einen festgesetzten Rah‐ men aus Verfahren, Institutionen, Zielen und Grenzen der Staatsgewalt.26 Aus einer Demokratie ist so ein demokratischer Verfassungsstaat geworden. Die ursprüngli‐ chen demokratischen Rechtfertigungsgründe – Volkssouveränität und gleiche Teilha‐ be – spielen darin eine nachgeordnete Rolle. Souverän im Sinne ungebundener Au‐ tonomie ist das Volk nur im vorstaatlichen Akt der Verfassungsgebung. Das Recht gleicher Teilhabe ist einem Nebeneinander differenzierter Partizipationsrechte und Entscheidungsbefugnisse gewichen. Wie wenig Bedeutung der Legitimationsinput durch gleiche Teilhaberechte in Graf Kielmanseggs Konzept noch hat, zeigt eine Randbemerkung: Er erwägt, in einigen Bereichen das gleiche Teilhaberecht durch ein Partizipationsrecht nach Betroffenheit zu ersetzen. Nach herrschender Verfas‐ sungsrechtslehre ist das nicht nur mit der klassischen Lesart der Volkssouveränität, 25 Kielmansegg 1988, S. 61-70. 26 Kielmansegg 1977, S 257-266.

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sondern auch mit dem grundgesetzlichen Demokratieprinzip unvereinbar. Ausnah‐ men vom allgemeinen und gleichen Stimmrecht sind dort nur aufgrund von Staats‐ angehörigkeit, Wohnort oder Alter zulässig. Graf Kielmanseggs Vorschlag ist damit keine Marginalie, sondern rührt an die Grundfesten des Demokratieprinzips und un‐ terstreicht seine generellen Einwände gegen dessen legitimatorische Tragfähigkeit. Dem Grundproblem von Legitimation, das das klassische Volkssouveränitätskon‐ zept lösen sollte, kann aber auch Graf Kielmansegg nicht entkommen: Output-Legi‐ timation ist nur rückblickend möglich. Um in der Zeit bis zur ersten Bewährung einer Regierung oder Verfassung allgemeine Beachtung einfordern zu können, muss eine Instanz mit originärer Entscheidungsbefugnis vorausgesetzt werden. Auch Graf Kielmansegg hält deshalb zwangsläufig an der Idee der Volkssouveränität als Basis der verfassunggebenden Gewalt des Volkes fest. Zudem erreicht auch der demokrati‐ sche Verfassungsstaat das Ziel einer Humanisierung der Lebensbedingungen nicht ohne das Zutun von Politikern und Bürgern. Da eine Krähe einer anderen bekannt‐ lich keinen Schaden zufügt, versagt das Prinzip Verantwortung, wenn sie nicht aktiv eingefordert wird. Peter Graf Kielmansegg ist sich dieser Schwierigkeit durchaus bewusst. Gelin‐ gende Demokratie erfordere „Tugend“ der Teilhabeberechtigten, wie er in seiner erstmals 1972 erschienenen Schrift „Demokratie und Tugend“ eingesteht. Wenn je‐ der den gleichen Anspruch auf menschenwürdige Existenz habe, dann könnten als humane Qualitäten nur noch solche gelten, „die die Lebenschancen der andern nicht nur nicht zerstören, sondern nach Möglichkeit erweitern.“27 Deshalb sei die Forde‐ rung linker Gesellschaftskritik nach einer Emanzipation des Individuums aus allen Bindungen völlig verfehlt. Vielmehr sei zu unterscheiden zwischen Bindungen, die einen Menschen erniedrigen und solchen, die ihn zur verantwortlichen Teilhabe be‐ fähigen. Erneut verweist der Autor auf die Bedeutung zwischenmenschlicher Bin‐ dungen zur Ausbildung von Identität und Willensfreiheit. Eine ihrem Ziel der Huma‐ nisierung der Bedingungen menschlicher Existenz genügende Demokratie setze des‐ halb die Bindungsfähigkeit und Bindungsbereitschaft seiner Bürger voraus, nicht eine vollständige Befreiung davon.28 An diese Argumentation schließen sich Überle‐ gungen zu den weiteren „Tugenden“ an, über die Bürger in einer gelingenden De‐ mokratie verfügen müssten. Nüchternheit, Gewissenhaftigkeit, Empathie, Solidari‐ tät, Fairness, Selbstkritik und Lernfähigkeit gehören für Graf Kielmansegg dazu. Das von der Studentenbewegung zum Dogma erhobene „kritische Bewusstsein“ er‐ achtet er dagegen als sekundär, teils sogar als kontraproduktiv. Die darin enthaltene Tendenz zu Zynismus und Selbstüberschätzung stehe einer für verantwortliches Handeln erforderlichen Fähigkeit zu Selbstkritik und Toleranz entgegen.29 Ebenso 27 Kielmansegg 1980a, S. 22. 28 Kielmansegg 1980a, S. 23-27. 29 Kielmansegg 1980a, S. 27-29; Kielmansegg 1980c, S. 11.

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lehnt der Autor die Propagierung spezifisch bürgerschaftlicher Tugenden ab, wie sie Vertreter partizipatorischer Demokratietheorien, etwa Benjamin Barber oder Mark E. Warren unterstellen.30 Diejenigen menschlichen Qualitäten, die eine Person im Privaten zu einem Leben nach selbstgesteckten Zielen befähigen, ermöglichen ihr nach Graf Kielmansegg auch die verantwortliche Teilhabe in der öffentlichen Sphä‐ re. Sie finden nur in beiden Bereichen verschiedene Ausdrucksformen. Die für parti‐ zipatorische Demokratietheorien so wichtige Spaltung des Menschen in den selbst‐ süchtigen Bourgeois und den gemeinwohlorientierten Citoyen sowie die damit in ra‐ dikalen Konzepten verbundene Forderungen nach einer Umerziehung zum wahren Bewusstsein31 wird damit zurückgewiesen.32 Tatsächlich würde Graf Kielmanseggs Absage an die Input-Legitimation von Demokratie unglaubwürdig, wenn er auch in seinem through- und output-orientierten Modell noch spezielle Bürgertugenden for‐ derte. Selbstverständlich bedürfe es, so der Autor, in einer Demokratie der Internali‐ sierung politischer Spielregeln. Diese sei aber „nicht anders denkbar als in einem Gesamtzusammenhang der Einübung von Tugenden rationaler Selbstdisziplin“.33 Der Studentenbewegung und politischen Linken wirft er vor, die Aneignung der er‐ forderlichen Tugenden gezielt zu bekämpfen und dadurch einen rein destruktiven, verantwortungslosen Gebrauch von Teilhaberechten zu fördern.34 Der Benennung der Anforderungen bürgerschaftlicher Teilhabe stellt Graf Kielmansegg eine nüch‐ terne Analyse der Realität entgegen: Dem empirischen Forschungsstand entspre‐ chend verweist er in der Schrift „Das Experiment der Freiheit“ von 1988 auf geringe Beteiligungsquoten v.a. bei zeitaufwendigeren Partizipationsformen, auf hohe sozia‐ le Selektivität, auf geringes Politikwissen der Bürger und auf wenig Einfluss rationa‐ ler Erwägungen auf die Wahlentscheidung.35 Dies leitet über zu einem weiteren wichtigen Argumentationsstrang in den Demokratieschriften Peter Graf Kielman‐ seggs: der Diagnose von Problemen des demokratischen Verfassungsstaats in Deutschland.

Reformbedarf des Parteienstaats Der Parlamentarische Rat hat die Bundesrepublik bestmöglich auf schlechtes Wetter vorbereitet. Das modifizierte Verhältniswahlrecht und die Fünf-Prozent-Klausel stär‐ ken die Arbeitsfähigkeit des Bundestags. Direktdemokratische Elemente sind ver‐ schwindend gering. Die Exekutive unterliegt umfänglicher parlamentarischer Kon‐ 30 31 32 33 34 35

Barber 1988, S. 210; Warren 1992, S. 11. Rousseau 2000, Kap. VII 2. Kielmansegg 1980a, S. 27-29. Kielmansegg 1980a, S. 26. Kielmansegg 1980c, S. 11. Kielmansegg 1988, S. 82-.

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trolle. Ein starker Föderalismus sorgt für regionalen Ausgleich und Machtstreuung. Grundrechte gelten unmittelbar und werden durch ein machtvolles Verfassungsge‐ richt geschützt. Spezielle Instrumente „streitbarer Demokratie“ dienen einer frühzei‐ tigen Abwehr verfassungsfeindlicher Aktivitäten. Die Einbindung in die Westeuro‐ päische Union und später die NATO sorgen für äußere Sicherheit. Die soziale Marktwirtschaft zielt auf eine gerechtere Wohlstandsverteilung und den Abbau so‐ zioökonomischer Spannungen. Die Bundesrepublik gilt nicht nur als ein besonders gelungenes Beispiel demokratischer Verfassungsstaatlichkeit; sie lieferte ab 1989 auch wichtige Anregungen für das konstitutionelles Design postsozialistischer Staa‐ ten. Und auch im Inneren erfreut sich die Bundesrepublik einer hohen allgemeinen Demokratiezufriedenheit ihrer Bürger. Fragt man allerdings nach spezifischen Zu‐ stimmungswerten zur Performanz von Politikern, Parteien, konkreten Politikfeldern und auch Teilhabemöglichkeiten, sind die Werte deutlich geringer. Auch bei Peter Graf Kielmansegg führt seine engagierte Verteidigung des demokratischen Verfas‐ sungsstaats im Allgemeinen keineswegs zu einer unkritischen Haltung gegenüber politischem Alltagsgeschäft und Verfassungswirklichkeit. Die bundesdeutschen Po‐ litiker haben sich nach seinem Dafürhalten allzu bequem hinter den Wällen einer Parteiendemokratie eingerichtet. Seit den 1980-er Jahren mahnt er beharrlich, dass die zweite deutsche Republik an „Zukunftsverweigerung“ des politischen Systems zugrunde gehen könnte36 oder – um im Bilde zu bleiben – nicht an schlechtem Wet‐ ter, sondern an der Weigerung, frische Luft herein zu lassen und Herausforderungen beherzt anzugehen. Anfang der 1980er befindet sich die bundesdeutsche Demokratie nach Ansicht Graf Kielmanseggs im Zustand einer erstarrten Konfliktkonstellation. Die politi‐ schen Debatten des vorhergehenden Jahrzehnts hätten nicht zu der erforderlichen politischen Reife geführt, um die ideologisch verhärteten Fronten aufzubrechen. So gingen die Ansichten darüber, was Demokratie sein könnte, was das Grundgesetz fordere und wie der Stand der bundesdeutschen Demokratie sei noch immer weit auseinander. Der Konsensbereich und der Spielraum für Kompromisse seien nicht geklärt worden. Deshalb werde die Debatte zwangsläufig weiter wirken, auch wenn die Streitparteien gerade ermattet hoffen mögen, dass sich in der Zuwendung zu den Aufgaben des Tages das Grundsätzliche von selbst erledigen möge. Damit fehle der deutschen Demokratie zu Beginn der 1980er Jahre die Fähigkeit, neue Herausforde‐ rungen an die Spitze der Agenda zu setzen, sie zu bewältigen und Zukunft aktiv zu gestalten. 37 Graf Kielmansegg fordert deshalb eine Wiederaufnahme der Demokra‐ tiediskussion, nun aber mit dem Ziel und dem Willen, einen Konsens zu erreichen. „Man mag es ganz natürlich finden, daß Demokratie immer jenseits der vorgefundenen Institutionen und Regeln des Zusammenlebens gesucht werde. Man mag es umgekehrt 36 Kielmansegg 2003. 37 Kielmansegg 1980c, S. 7-10.

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für evident halten, daß wir, wenn alle vorliegende Erfahrung zu Rate gezogen wird, we‐ nig Grund zu der Annahme haben, politische Freiheit könne wesentlich anders und we‐ sentlich besser institutionalisiert werden, als es im freiheitlichen Verfassungsstaat in einem Prozeß langen geschichtlichen Wachstums geschehen ist. Offenkundig ist jeden‐ falls, daß ein freiheitliches Gemeinwesen gefährdet ist, wenn der Dissens über diese Fra‐ ge unter seinen Bürgern unüberbrückbar wird. Nachdenken über Demokratie muß des‐ halb, sehr praktisch, immer auch Bemühung sein, diesem Dissens entgegenzuwirken.“38

Wenngleich Graf Kielmansegg sein eigenes Votum für die verfassungsstaatlich ein‐ gehegte Demokratie vehement vertritt, will er das offenbar nicht als normatives Pos‐ tulat, sondern als sachgerechte Schlussfolgerung aus einer Situationsanalyse verstan‐ den wissen. Diese hat gegenüber jener den Vorzug intersubjektiver Überprüfbarkeit und beansprucht Gültigkeit nur innerhalb eines konkreten sachlichen-historischen Zusammenhangs. Damit ist eine prinzipielle Gesprächs- und Lernbereitschaft gege‐ ben, die Graf Kielmansegg in der Demokratiedebatte seit Ende der 1960er Jahre ver‐ misst. Neben einer neuen ideologieentlasteten Streitkultur fordert der Politik- und Ge‐ schichtswissenschaftler eine Abkehr von einer reinen, den Gesetzen des Macht‐ kampfes folgenden Wettbewerbsdemokratie. „Demokratische Politik ist noch immer, beherrscht von den Gesetzen des Machtkampfes unter Wettbewerbsbedingungen, mit blindem Eifer darauf fixiert, hier und heute das Füll‐ horn über die Bürger auszuschütten (mag ihr das gelingen oder nicht). Die Erwartungen des Augenblicks, die vermeintlichen oder wirklichen, sind ihr Gebot; sie zu befriedigen, werden dem Gemeinwesen immer neue Lasten aufgebürdet. Anders ausgedrückt: demo‐ kratische Politik hat es noch nicht gelernt, die Rechte zukünftiger Generationen so ernst zu nehmen, als wären sie Wähler von heute.“39

Bislang orientiere sich demokratische Politik ausschließlich an den Wohlstandsinter‐ essen der aktuellen Wählerschaft, statt Verantwortung auch gegenüber nachfolgen‐ den Generationen zu übernehmen. Die vordringlichen Langfristaufgaben wie die Si‐ cherung natürlicher Existenzgrundlagen und des Weltfriedens würden vernachläs‐ sigt.40 Graf Kielmansegg erkennt darin eine Missachtung des von Regierung und Mandatsträgern zu erwartenden Amtsethos, das zu einer fairen Abwägung zwischen Gemeinwohlbelangen und drückenden Partikularinteressen befähige.41 Dies ist aber kein personenbezogenes, sondern ein systemimmanentes Problem: Die dem Wettbe‐ werb um die Stimmenmehrheit mit Zwangsläufigkeit entspringenden Parteien er‐ bringen unverzichtbare Leistungen für die Demokratie. Doch um der eigenen Macht‐ erhaltung willen erzeugen sie bei den Bürgern die falsche Vorstellung, sie seien le‐ diglich zur Umsetzung der Wählerinteressen da. Die freilich erwarten beides: 38 39 40 41

Kielmansegg 1980c, S. 9–10. Kielmansegg 1980c, S. 11. Kielmansegg 1980c, S. 11. Kielmansegg 1988, S. 73.

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Interessenvertretung und Gemeinwohlvorsorge und reagieren auf enttäuschte Erwar‐ tungen mit abnehmender Parteiidentifikation und immer größerer Volatilität. Infol‐ gedessen versuchen sich die Parteien gegen den Wankelmut der Wähler zu immuni‐ sieren, indem sie die Zugänge zu öffentlichen Ämtern monopolisieren und sich eine staatliche Grundfinanzierung sichern. Die Parteiendemokratie entwickelt sich zum Parteienstaat. Vor allem aber vermeiden es Parteien, so Graf Kielmansegg, unbeque‐ me Probleme aufzugreifen, die zu Stimmenverlusten führen könnten: „Die oberste Maxime der Politik wird es, jedes Risiko des Verlustes von Wählerstimmen zu vermeiden. Man tut das, indem man Probleme, die aufzugreifen riskant sein könnte, vor sich her schiebt und Lasten auf die Zukunft überwälzt. Die Demoskopie wird zum Hauptkompass für die Politik.“42

Parteienkritik und –schelte sind in der Bundesrepublik fast eine eigene Profession. Graf Kielmansegg erfindet sie nicht neu, sondern fasst den Forschungs- und Diskus‐ sionsstand prägnant zusammen. Seine persönliche Note tragen die Lösungsvorschlä‐ ge: Wissenschaftliche Appelle an Parteifunktionäre, Amts- und Mandatsträger reich‐ ten nicht aus. Auch die Bürger müssten ihre Haltung überdenken. Sie könnten eine Verbindung zwischen Interessenvertretung und Gemeinwohlorientierung – repraes‐ entatio singulariter und in toto – nicht erwarten, wenn sie die Gemeinwohlverant‐ wortung nicht auch gegen sich gelten zu lassen bereit seien. Sie müssten den politi‐ schen Entscheidungsträgern den für die Überwindung von Augenblicks- und Parti‐ kularinteressen nötigen Handlungsspielraum auch gewähren. Politik in der Demo‐ kratie sei deshalb immer auch ein „Prozess der Aufklärung aller Beteiligten durch alle Beteiligten über die Verantwortung, die sie in einem freiheitlichen Gemeinwe‐ sen tragen“. 43 Außerdem sollen erweiterte Beteiligungsmöglichkeiten die Erstarrung des Parteienstaates lösen. Sie müssen sich aber, wie Peter Graf Kielmansegg stets betont, schadlos in die Logik der repräsentativen Demokratie einfügen. Als Beispie‐ le nennt er die Direktwahl einzelner Amtsträger oder gezieltere Wahl- und Abwahl‐ möglichkeiten durch eine Reform der Listenwahl. Zudem votiert er für eine Rück‐ übertragung von Gesetzgebungskompetenzen des Bundes an die Länder. Damit wür‐ de sich auch der Einflussbereich der dort bestehenden direktdemokratischen Verfah‐ ren erweitern.44 Der Einführung nennenswerter direktdemokratischer Elemente auf Bundesebene steht Peter Graf Kielmansegg dagegen sehr kritisch gegenüber. Die Zunahme ent‐ sprechender Forderungen in der Bevölkerung betrachtet er eher als Begleiterschei‐

42 Siehe hierzu das „Braucht die Demokratie Parteien?“ überschriebene Kapitel in Kielmansegg 2013, hier S. 91, 79-98. Als Beispiele solcher Vermeidung riskanter Themen nennt der Autor die Anpassung der Sozial- und Gesundheitssysteme an den demographischen Wandel, die Steuerung der Zuwanderung und die Kontrolle der Gentechnik, Kielmansegg 2003. 43 Kielmansegg 2013, S. 98, in diese Richtung auch Kielmansegg 2016, S. 48. 44 Kielmansegg 2000.

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nung der Parteienverdrossenheit, denn als echten Wunsch nach Sachabstimmun‐ gen.45 Er diskutiert in einer Reihe von Schriften die gängigen Argumente gegen die Integration dieser Instrumente: etwa den Verweis auf die „Weimarer Erfahrungen“, den bei einigen Verfahren starken Effekte in Richtung Konsensdemokratie, die so‐ ziale Selektivität oder die speziell für parlamentarische Demokratien schädliche Machtverschiebung zugunsten der Opposition im Fall eines Volksinitiativrechts. Sein zentrales Argument ist jedoch erneut das Problem der Zuweisung von Verant‐ wortlichkeit. Kernfrage sei, wie Sachentscheidungen am besten getroffen werden: von beauftragten und rechenschaftspflichtigen Repräsentanten oder von anonym bleibenden Stimmbürgern. Direktdemokratische Verfahren seien zudem „monolo‐ gisch“, weil durch die frühzeitige Festlegung einer Ja-Nein-Alternative kein echter öffentlicher Deliberationsprozess stattfände. Sie seien „disjunkt“, weil sie sich dem für repräsentative Verfahren typischen Zwang zu Entscheidungskontinuitäten entzö‐ gen, einer Passung zu früheren Entscheidungen etwa. Sie stehen damit planvoller Politik entgegen, was insbesondere Volksabstimmungen über Haushaltsfragen ver‐ biete.46 Ein pauschales Nein zur Verträglichkeit direktdemokratischer und repräsentativer Verfahrensformen hält Graf Kielmansegg aber zumindest in seinen neueren Schrif‐ ten nicht mehr für opportun. Trotz ihrer typologischen und normativen Eigenstän‐ digkeit seien direktdemokratische und repräsentative Verfahren kombinierbar. Aller‐ dings müsse für jedes Repräsentativsystem gesondert untersucht werden, welche speziellen direktdemokratischen Verfahren sich einpassen lassen. Dies gelingt mit‐ hilfe diverser Stellschrauben wie der Wahl der zulässigen Abstimmungsgegenstände, der Gestaltung des Initiativrechts, der Quoren und Fristen.47 Auf eine für die Bun‐ desrepublik passende Ergänzung direktdemokratischer Verfahren will sich Graf Kielmansegg allerdings nicht festlegen. Der von der rot-grünen Koalition 2002 vor‐ gelegte Entwurf einer dreistufigen Gesetzesinitiative vertrage sich mit dem parla‐ mentarischen und föderalen System aber definitiv nicht. Erwägenswert erscheint ihm immerhin ein obligatorisches Verfassungsreferendum zu weitreichenden Fragen, etwa zu Kompetenzabtretungen an die Europäische Union. Denn letztlich besäßen direktdemokratische Verfahren „faktisch ein überlegenes legitimatorisches Potenzi‐ al“ (sic!)48 Seiner früheren Argumentation zur Volkssouveränität treu bleibend sieht Peter Graf Kielmansegg das aber nicht als Folge der naturrechtlich begründeten ori‐ 45 Kielmansegg 2001, Graf Kielmansegg orientiert sich dabei an der engen Definition direktde‐ mokratischer Verfahren als Abstimmungen über Sachfragen. Alle Abstimmungen über Perso‐ nalfragen (Wahlen) sind dagegen der repräsentativen Demokratie zuzuordnen. Auch bei der Direktwahl von Staats- und Regierungsoberhaupt handelt es sich somit nicht um direktdemo‐ kratische, sondern um Verfahren repräsentativer Demokratie, vgl. Kielmansegg 2013 S. 103-104. 46 Kielmansegg 2001, Kielmansegg 2013, S. 109-110. 47 Vgl. zu den Formen und Anpassungsmöglichkeiten Jung 2001. 48 Kielmansegg 2013, S. 139, 123-130, 137-138.

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ginären Rechtsetzungsbefugnis des Volkes, mithin des Inputs, sondern im Output solcher Entscheidungen: Sie hätten den Vorzug der Letztinstanzlichkeit. „Haben die Bürger entschieden, gibt es im demokratischen Prozess keine weitere aufrufbare In‐ stanz mehr“.49 Zwar spricht m. E. die Weigerung mancher Politiker, das Bürgervo‐ tum über den Brexit oder im Münchner Startbahnstreit anzuerkennen eine andere Sprache; aber in der Tendenz vermutet Graf Kielmanseggs wohl richtig, dass Volks‐ entscheide bei scharfen Konflikten eher eine dauerhafte Befriedung erreichen kön‐ nen als Parlamentsbeschlüsse. Außerdem könnten direktdemokratische Ergänzungen angesichts der geringen Fähigkeit der Parteiendemokratie zur Selbstkontrolle und Selbstkorrektur ein wirksames Korrektiv darstellen.50

Resümee In Peter Graf Kielmanseggs Auseinandersetzung erscheint die Bundesrepublik nicht als Schön-, sondern als Schlechtwetterdemokratie. Seine Haltung dazu ist ambiva‐ lent. Einerseits begrüßt er den Verzicht auf direktdemokratische Elemente auf Bun‐ desebene und rechtfertigt die starke verfassungsstaatliche Einhegung des demokrati‐ schen Prozesses. Andererseits kritisiert er die fehlende Diskursfähigkeit der Parla‐ mentarier und Parteien, rügt ihre mangelnde Gemeinwohlorientierung und die Schließungstendenzen des Politischen Systems gegenüber den Bürgern. In der Zu‐ sammenschau ergibt sich für Graf Kielmansegg daraus ein Verlust an Problemlö‐ sungs- und Gestaltungsfähigkeit. Seine Lösungsvorschläge bleiben einer liberalen Haltung verpflichtet: Sie zeigen ein hohes generelles Vertrauen in die repräsentative und rechtsstaatliche Demokratie, aber nur ein geringes Entgegenkommen für den seit Ende der 1960-er Jahre gestiegenen Partizipationswunsch der Bürger und zivil‐ gesellschaftlichen Akteure. Der Mensch ist für Graf Kielmansegg zwar ein auf so‐ ziale Bindungen angewiesenes, aber kein politisches Wesen, das erst in der politi‐ schen Partizipation seine eigentliche Bestimmung findet. Dem Menschen angemes‐ sen ist die Möglichkeit, sein Leben nach selbstgesteckten Zielen zu gestalten, ob als Politikprofi oder Wahlmuffel. Eine Demokratie, die von ihren Bürgern eine fortge‐ setzte Auseinandersetzung mit Politik verlangt, ist deshalb genauso problematisch wie eine, die Interessierten zu wenige Partizipationsmöglichkeiten bietet. Graf Kiel‐ mansegg fordert deshalb, Anliegen der Bürger und Argumente einer deliberativen Öffentlichkeit verstärkt zu hören. Darin wie diese Stimmen verarbeitet werden sol‐ len, zeigt sich ein konservativer Zug im liberalen Gesamtkonzept Graf Kielman‐ seggs: Er fordert eine Revitalisierung des Parlamentarismus gemäß klassischer Vor‐ stellungen der Repräsentation des Volksganzen. Die Abgeordneten sollen nicht ein‐ 49 Kielmansegg 2013, S. 139. 50 Kielmansegg 2013, S. 140.

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fach aus der Vielfalt widerstreitender Interessen praktikable kollektive Entscheidun‐ gen generieren. Sie sollen in Ausübung eines freien Mandats gemeinwohlorientierte und nachhaltige Politik machen. Wachsende Dringlichkeit misst der Autor der Ver‐ antwortung gegenüber nachfolgenden Generationen und der Umwelt bei. Peter Graf Kielmansegg hat den Nachweis der Vorzugswürdigkeit des demokrati‐ schen Verfassungsstaats gegenüber einer reinen Demokratie seit den 1970-er Jahren wieder und wieder geführt und damit zur Selbstvergewisserung der bundesdeutschen Republik entschieden beigetragen. Im heutigen Demokratiediskurs ist unumstritten, dass eine Volksherrschaft ohne verfassungsstaatliche Kompetenzschranken und gesi‐ cherte Grundrechte ihre eigenen Prämissen verfehlt. Moderne Kriterienkataloge zur Bestimmung der Demokratiequalität von Staaten verlangen für gute Bewertungen heute neben allgemeinen, freien, gleichen, geheimen und regelmäßig durchgeführten Wahlen auch zahlreiche rechts- und verfassungsstaatliche Garantien. Diese reichen von Gewaltenteilung und unabhängiger Justiz bis zu wirksamer Korruptionsbekämp‐ fung und Grundrechtsschutz. Das frühere Leitbild der elektoralen Demokratie ist dem einer embedded democracy gewichen. Viel Überzeugungsarbeit steht Peter Graf Kielmansegg aber noch mit seinen kritischen Essays bevor. Sie sind nicht nur erhel‐ lend, sondern auch erschreckend: Viele seiner Problemdiagnosen aus den 1980-er Jahren zu Schließungstendenzen, zur fehlenden Streitkultur und Dialogfähigkeit der Politik und zu Mängeln bürgerschaftlicher Beteiligung haben nichts an Aktualität verloren.

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Philipp Erbentraut Souveränität ohne Souverän? Kielmanseggs Kritik der Volkssouveränität im Vergleich mit Jürgen Habermas und Ingeborg Maus1

Wer Volkssouveränität sagt, meint gewöhnlich, dass das Volk als Quelle der Herr‐ schaftslegitimation dient und zugleich Inhaber der Staatsgewalt ist.2 Nun ist man sich heute zwar ganz überwiegend einig, dass alle Staatsgewalt „vom Volke aus‐ geht“ (Art. 20 GG, Abs. II), aber „wo sie dann hingeht und was das ,Ausgehen’ im‐ pliziert“3 – darüber herrscht ziemliche Ratlosigkeit. So ist die Volkssouveränität fast so etwas wie das Sorgenkind der deutschen Verfassungs- und Demokratiediskussion geworden. Die Idee einer vorstaatlichen, undomestizierten Gewalt, die außerhalb der Rechtsordnung verbleibt, scheint dem überwiegend konservativen Mainstream der Staatsrechtslehre nicht ganz geheuer.4 Schon früh ist die Volkssouveränität daher als ein rein „polemisches Prinzip“5 bezeichnet worden, gewendet gegen die Vorstellung der Fürstensouveränität und mit wenig eigenem Profil. Es fehlt somit auch nicht an Versuchen, die Volkssouveränität einzuhegen oder der Verfassungsstaatlichkeit und Supranationalität wegen überhaupt für „obsolet“6 zu erklären. Dies gilt nicht nur für den Begriff im Ganzen. Auch seine Bestandteile „Souveränität“ und „Volk“ unterlie‐ gen in der bundesrepublikanischen Diskussion einem „kollektiven Verdrängungspro‐ zeß“7 und scheinen in der gegenwärtigen Gesellschaft keine mögliche Realität mehr zu bezeichnen.8

1 Der Beitrag beruht auf der Magisterarbeit des Verfassers (vgl. Erbentraut 2009). Die betreffenden Abschnitte aus dem Buch wurden für die Veröffentlichung leicht überarbeitet, aktualisiert und in Teilen neu gefasst. 2 Vgl. Schmidt 2004, S. 770f. 3 Abromeit 1995, S. 50. 4 Vgl. stellvertretend für viele Kriele 2003, S. 237ff. 5 Heller 1934, S. 247. 6 So kritisch Haltern 2007, S. 11. 7 Maus 1991, S. 137. 8 Vgl. Maus 2011, S. 22. Was die Zukunft des Souveränitätsbegriffs anbelangt, ist man in der USamerikanischen Debatte optimistischer. Vgl.: Jackson 2007, S. 112f.: “There is no teleological terminus, no determinate and final destination, and no end of history in the evolution of sover‐ eignty. At some time in the future, probably later rather than sooner, state sovereignty will be abandoned and replaced by a different arrangement of political and legal authority on the planet. But there is no end in sight early in the twenty-first century.” Zu den Realisierungschancen radi‐ kaler Demokratie jenseits des Nationalstaates vgl. Eberl 2011.

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Der Mannheimer Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg gehört zu den prominentesten zeitgenössischen Kritikern der Volkssouveränität. Seine 1977 vorge‐ legte Habilitationsschrift gilt als ein Schlüsselwerk der Politikwissenschaft.9 Nach Ansicht von Tine Stein hat der Verfasser darin die vermeintliche Unzulänglichkeit der Volkssouveränitätsdoktrin „begrifflich in höchstem Maße präzise und mit einer ihresgleichen suchenden analytischen Schärfe dargelegt“. Damit sei es ihm gewis‐ sermaßen gelungen, den Leser „von Rousseau zu befreien“10. In der Tat ist die Volkssouveränität für Kielmansegg ein Muster ohne Wert. Schließlich gebe es unter den fast 200 Staaten der Welt nicht einen, in dem das Volk im blanken und einfachen Sinne des Wortes als Souverän herrsche. Mehr noch: „Nicht einmal ein schlüssiger Entwurf findet sich in der politischen Theorie, der uns Auskunft darüber gäbe, welche Praxis dem Anspruch der Volkssouveränitätsformel denn genügen könnte.“ Der Autor stellt deshalb grundsätzlich in Frage, „ob das Prinzip der Volkssouveränität als eine brauchbare Umschreibung der Bedingungen demokratischer Legitimität gelten kann“.11 Vor allem die „prästabilierte Harmo‐ nie“12 zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten erweise sich als ein hölzer‐ nes Eisen. Kielmansegg tendiert deshalb dazu, die Figur des Souveräns zu suspen‐ dieren und den historischen Gegensatz zwischen Fürsten- und Volkssouveränität in einem entpersonalisierten System verfassungsmäßiger Kompetenzen theoretisch auf‐ zuheben – in einer staatlichen Souveränität ohne Souverän. Gegen Kielmanseggs Fundamentalkritik haben namhafte Vertreter der prozedura‐ len Demokratietheorie eingewendet, dass Volkssouveränität und Menschenrechte einander keineswegs ausschließen, sondern sich unter bestimmten Voraussetzungen sogar gegenseitig bedingen. Jürgen Habermas hat in diesem Zusammenhang sogar von einer „intuitiv einleuchtenden Gleichursprünglichkeit“ von Volkssouveränität und Menschenrechten gesprochen.13 Seiner Meinung nach kann die Vermittlung bei‐ der Prinzipien gelingen, wenn sie sich auf ein kommunikatives Arrangement stützt, das aufgrund gleich verteilter Partizipationschancen die Vermutung auf Vernünftig‐ keit für sich hat. Herrschaft legitimiere sich demnach an den Gesetzen, die sich Staatsbürger in einer diskursiv strukturierten Meinungs- und Willensbildung („die ideale Sprechsituation“) selber geben. Die Bürger sollen sich auf diese Weise zu‐ gleich als Adressaten und Urheber ihrer Rechte verstehen können und in die Rolle 9

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Vgl. Kielmansegg 1977. Der Autor hat sich auch in späteren Arbeiten immer wieder mit der Problematik der Volkssouveränität, insbesondere mit deren Verhältnis zum Verfassungsstaat, auseinandergesetzt. Zu erwähnen sind hier vor allem Kielmansegg 2013 sowie Kielmansegg 1988. Als Hauptwerk, in dem alle zentralen Aussagen getroffen werden, kann jedoch weiterhin seine 1977 vorgelegte, erweiterte Habilitationsschrift gelten, auf die ich mich im Folgenden ausschließlich beziehe. Stein 2007, S. 213. Kielmansegg 1977, S. 9. So kritisch Kielmansegg 1977, S. 162. Vgl. Habermas 1993a; Habermas 1996, S. 293–305.

eines Verfassungsgesetzgebers schlüpfen.14 Habermas knüpft hierbei an die Überle‐ gungen des vormärzlichen Radikaldemokraten Julius Fröbel15 an, der das Wesen der Demokratie in einer „permanenten und legalen Revolution“ verwirklicht sah. Habermas’ Versuch, die Volkssouveränität zu „retten“, wird von Ingeborg Maus in zahlreichen Schriften grundsätzlich begrüßt.16 Allerdings ist sie der Meinung, dass sich eine diskursive Verschränkung von Volkssouveränität und Menschenrech‐ ten bereits bei Kant und Rousseau selbst nachweisen lässt. Sie plädiert deshalb da‐ für, die Volkssouveränität weiterhin als praktisch relevantes Prinzip moderner De‐ mokratietheorie ernst zu nehmen und fordert deren Rekonstruktion in Form einer „dezentralisierten Gesetzgebung“, die den Parlamentarismus ergänzen und somit die ursprüngliche Idee der Selbstgesetzgebung gegen die von ihr nicht zuletzt im Werk Kielmanseggs diagnostizierte „Refeudalisierung“ des Verfassungs- und Demokratie‐ denkens neu beleben soll.17 Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, (1.) die Überlegungen Peter Graf Kiel‐ manseggs zur Volkssouveränität rund 40 Jahre nach ihrer erstmaligen Formulierung einer erneuten kritischen Würdigung zu unterziehen und sein Demokratieverständnis sodann (2.) mit dem diskursethischen Prozeduralismus Jürgen Habermas‘ und (3.) dem radikaldemokratischen Programm von Ingeborg Maus zu vergleichen. Den (4.) Ausblick bilden ein paar eigene Gedanken dazu, wie staatsbürgerliche Autonomie unter den heute gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt gedacht wer‐ den könnte?

1. Ein obsoletes Konzept? Kielmanseggs Kritik der Volkssouveränität wiedergelesen Sein Forschungsvorhaben versteht Kielmansegg ausdrücklich als einen Beitrag zur normativen Demokratietheorie. Nicht die „Beschwörung des Gegeneinanders von unerfülltem Postulat und mißlungener Wirklichkeit, sondern eben die Analyse der Demokratienormen selbst“18 soll Gegenstand der Untersuchung sein. Aus einer um‐ fangreichen, ideengeschichtlichen Betrachtung im ersten Teil des Buches extrahiert der Autor deshalb drei Thesen, die aus seiner Sicht für die Idee der Volkssouveräni‐ tät konstitutiv sind. Anschließend macht er gegen alle drei Thesen grundlegende

14 Vgl. Habermas 1993a, S. 160ff. 15 Vgl. Fröbel (1847)/1975. 16 Neben der zusammenfassenden Darstellung in Maus 2011 seien von den früheren besonders einschlägigen Einzelbeiträgen vor allem erwähnt: Maus 1995 sowie Maus 1994. 17 Vgl. Maus 1994, S. 224. 18 Kielmansegg 1977, S. 11f.

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Einwände geltend, um so das Konzept autonomer Selbstbestimmung als Ganzes ad absurdum zu führen:19 Volkssouveränität beruhe demnach auf einer starken Autonomieprämisse. Gesell‐ schaftliche Verfügungsgewalt über Menschen müsse letztlich auf diese vorgesell‐ schaftliche Autonomie zurückgeführt werden (1). Weiterhin setze Volkssouveränität die Denkfigur eines kollektiven Souveräns voraus, mit deren Hilfe individuelle Selbstbestimmung in gesellschaftliche Verfügungsgewalt umgewandelt werden soll (2). Und schließlich werde zwischen der Souveränität des Kollektivs als Ordnungs‐ prinzip und dem Zweck gesellschaftlicher Organisation – vor allem dem Schutz der Menschenrechte – eine „prästabilierte Harmonie“ vorausgesetzt (3).20 Sein erster Kritikpunkt zielt auf die „ethische und anthropologische Unzuläng‐ lichkeit“ des Volkssouveränitätskonzepts ab. Da der Mensch sich erst in seinen Be‐ ziehungen zu anderen Menschen konstituiere, müssten alle Versuche, diese existen‐ zielle und gegenseitige Angewiesenheit aufzulösen, in die Irre führen. Zumal in den Verhältnissen der modernen Zivilisation sei das Netz der Beziehungen so dicht, dass menschliches Verhalten niemals nur den Handelnden selber treffe. Selbstbestim‐ mung sei, auf eine einfache Formel gebracht, immer auch Fremdbestimmung. Politi‐ sche Beteiligung könne daher unter keinen Umständen mit Selbstbestimmung iden‐ tisch sein, weil, „wer an kollektiven Entscheidungsprozessen teilnimmt, nicht primär über sich selbst, sondern über Dritte verfügt“.21 So müssten Selbstbestimmung und Verfügung über Dritte von vornherein als unauflöslich ineinander verwoben gedacht werden. Dagegen beruhe nun aber gerade das Volkssouveränitätsprinzip auf der Prämisse individueller Autonomie und somit auf der Unvereinbarkeit von Selbstbestimmung und Herrschaft. Damit erweise sich das Konzept als „prinzipiell untauglich, die Möglichkeit von Entscheidungen in Kollektiven zu begründen; also zu leisten, was eine Legitimitätsdoktrin zu leisten hat“.22 Denn da Teilhabe an der Entscheidungs‐ macht des Kollektivs nicht identisch mit individueller Selbstbestimmung sei, führe keine Brücke von der Autonomieprämisse zur verbindlichen Geltung von Regeln – außer der der Zustimmung. Für Kielmansegg steht jedoch fest, dass „wer Herrschaft allein und ganz auf Zustimmung gründet, die Anarchie proklamiert“.23 Der zweite Fundamentaleinwand richtet sich gegen die Figur des kollektiven Sou‐ veräns. Der Schluss von der Souveränität auf den Souverän sei das Ergebnis der konkreten historischen Konstellation an der Schwelle zur Neuzeit. In den Wirren des 16. und 17. Jahrhunderts habe der Gedanke nahe gelegen, die Monopolisierung der

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Vgl. zum Folgenden auch den Beitrag von Birgit Enzmann in diesem Band. Kielmansegg 1977, S. 234. Kielmansegg 1977, S. 235. Kielmansegg 1977, S. 236. Kielmansegg 1977, S. 237.

Befugnis zu verbindlicher Entscheidung könne nur in einer absolutistisch verfassten Monarchie gelingen. Hingegen sei es heute durchaus möglich, „Kompetenzsysteme zu entwerfen, in denen die Befugnis zu verbindlicher Entscheidung monopolisiert ist, ohne daß einem Herrschaftsträger Allkompetenz zugewiesen wird; Kompetenzsysteme also, die dem Souveränitätsprinzip Genüge tun, ohne einen Souverän zu kennen“.24

Von dieser Art seien die modernen Verfassungsstaaten. Dass dennoch an der Idee des Souveräns festgehalten werde, lasse sich vor allem aus der Überzeugung erklären, die Legitimitätstheorie könne nicht auf sie verzich‐ ten. Diese Ansicht sei jedoch falsch und ebenfalls ein geschichtliches Rudiment. Mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer höchsten Herrschaftsgewalt habe der Fürst seinen Herrschaftsanspruch gegen die konkurrierenden Gewalten gerechtfertigt und in die Legitimitätsdoktrin der absolutistischen Monarchie eingehen lassen. Die Volkssouveränitätsdoktrin sei dann der Legitimitätsdoktrin des monarchischen Ab‐ solutismus einfach nachgebildet, dem alten ein neuer Souverän entgegengesetzt wor‐ den. So sei die Figur des Souveräns aus angebbaren historischen Gründen in die de‐ mokratische Legitimitätsdoktrin „hineingeraten“.25 Sie müsse nun aber wieder hi‐ naus, denn sie versöhne nicht das Postulat individueller Selbstbestimmung mit der Notwendigkeit gesellschaftlicher Entscheidungsmacht, schließlich seien – dieser Einwand ergibt sich bereits aus der Kritik der Autonomieprämisse – die Bestim‐ mung eines jeden über sich selbst und die Verfügungsgewalt aller über alle zwei ver‐ schiedene Dinge.26 Für Kielmansegg hat der Begriff des Souveräns weitere höchst bedenkliche Im‐ plikationen. Die Redeweise vom Kollektiv als Souverän suggeriere unausweichlich organizistische Vorstellungen. Damit werde die individualistische Prämisse aufgeho‐ ben. Zudem läge der Figur des Souveräns die Vermutung zugrunde, die Herrschafts‐ gewalt stehe ihrem Träger als Eigentum zu. Aus der Demokratieprämisse, die dem Menschen einen Anspruch auf Selbstbestimmung zuspreche, folge dagegen, dass die Befugnis für andere verbindlich zu entscheiden, nicht als apriorisches Recht irgend‐ eines Subjektes verstanden werden dürfe. „Im Gegensatz zu älteren Legitimitätsdoktrinen konstituiert die Demokratieprämisse ge‐ rade nicht unmittelbar ein Herrschaftsrecht, sondern gibt die Bedingungen an, denen rechtmäßige Herrschaft zu genügen hat.“27

In diesen Überlegungen sei bereits das Argument angelegt, Herrschaft müsse gegen‐ über Dritten verantwortet werden. Hingegen sei der Souverän niemandem rechen‐ 24 25 26 27

Kielmansegg 1977, S. 240. Kielmansegg 1977, S. 245. Vgl. Kielmansegg 1977, S. 243. Kielmansegg 1977, S. 244.

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schaftspflichtig. Was den vorgetragenen Einwänden zudem doppeltes Gewicht ver‐ leihe, sei die Tatsache, dass ein kollektiver Souverän nie als Gesamtheit, sondern im‐ mer nur als Mehrheit begriffen werden könne. Diese Gleichsetzung verschärfe noch den Widerspruch zwischen Demokratieprämisse und der Idee des kollektiven Souve‐ räns.28 Von den drei Thesen, die Kielmansegg als konstitutiv für die Volkssouveränitäts‐ idee beschrieben hat, verwirft er schließlich auch die dritte, und zwar die auf Rousseau zurückgehende Annahme, zwischen der Souveränität des Kollektivs als Organisationsprinzip und dem Zweck gesellschaftlicher Organisation, nämlich dem Schutz der Grundrechte, herrsche eine „prästabilierte Harmonie“. Dieser Schluss sei nur dann zwingend, wenn zuvor die Annahme akzeptiert werde, kollektive Souverä‐ nität sei nichts anderes als die Summierung individueller Selbstbestimmung. Da die‐ se Annahme nicht haltbar sei, müsse auch der Schluss verworfen werden. Es gebe daher keinerlei Grund zu der Hoffnung, das Volkssouveränitätsprinzip garantiere in irgendeiner Weise, dass „Herrschaft bestimmte Grenzen nicht überschreite oder be‐ stimmten Zwecken diene“.29 Da Volkssouveränität letztlich doch nur auf die Mehr‐ heitsregel hinauslaufe, seien Rechtsverletzungen der Minderheit prinzipiell nicht auszuschließen. Von prästabilierter Harmonie könne da keine Rede sein. Vielmehr stünden Regeln, die Entscheidungsbefugnis verleihen, und Regeln, die Schutz vor Machtmissbrauch gewähren sollen, in einem Spannungsverhältnis zueinander. Die Idee der Volkssouveränität habe sich – so lässt sich der Befund zusammenfas‐ sen – als Kampfruf gegen die Monarchie zwar unbestreitbare Verdienste erworben. Ihre historische Mission sei jedoch beendet. Damit ist die Ausgangsfrage für Kiel‐ mansegg beantwortet: Die Bedingungen demokratischer Legitimität lassen sich sei‐ ner Meinung nach mit Hilfe der Volkssouveränitätsdoktrin nicht angemessen be‐ schreiben. Zwar fehle es in der zeitgenössischen Theorie von Schumpeter über Rad‐ bruch und Kelsen bis hin zu Luhmann nicht an analytischen Bemühungen um die normativen Fundamente der Demokratie. Diesen Ansätzen seien auch zahlreiche Anregungen zu entnehmen. Doch löst nach Kielmansegg keine der analysierten Ar‐ beiten das Problem einer „rationale[n] Formulierung der Bedingungen demokrati‐ scher Legitimität“.30 So steht man mit den Worten von Wolfgang Jäger kurz vor dem Ende des Buches vor einem „Scherbenhaufen“.31 Weil Kielmansegg in der Einleitung freilich eine „al‐ ternative Formulierung der Bedingungen demokratischer Legitimität“32 angekündigt hat, konfrontiert er den Leser auf den letzten Seiten gleichsam in Form eines Nach‐ wortes mit einer „Vorarbeit“ für „das normative Fundament, auf dem der freiheitli‐ 28 29 30 31 32

166

Vgl. Kielmansegg 1977, S. 245. Kielmansegg 1977, S. 246. Kielmansegg 1977, S. 229. Jäger 1979, S. 11. Kielmansegg 1977, S. 15.

che Verfassungsstaat letzten Endes ruht“.33 Obwohl ihm der Versuch, dieses Funda‐ ment in eine Formel zu fassen selbst „unbestreitbar fragwürdig“ erscheint, nennt er eine solche Formel, „da nun einmal die Argumentation von einem Punkt ausgehen“ muss. Als „Demokratieprämisse“ wird ein abgewandelter Kantischer Satz vorge‐ schlagen: „Legitim ist der Staat, der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt.“34 Der Vorteil dieser Vorschrift bestehe darin, dass sie Legitimität im Unterschied zur Volkssouveränitätsdoktrin final und nicht kausal begründe. „Die Rechtmäßigkeit von Institutionen und Regeln ergibt sich nicht aus ihrem Ursprung, sondern aus ihrer Zweckdienlichkeit.“35 Und somit ließen sich Kielmansegg zufolge die drei für den freiheitlichen Verfassungsstaat zen‐ tralen Fragen beantworten, „welches das Verfahren der Entscheidung sein solle, wel‐ che Grenzen herrschaftlicher Verfügungsgewalt zu ziehen seien und was Herrschaft zu leisten habe“.36 Laut Jäger enthüllt das Schlusskapitel „die ganze Misere des Kielmanseggschen Unterfangens“. Die Demokratieprämisse erweise sich als eine „Leerformel“, da sie inhaltlich nicht zu füllen sei. Fairerweise muss man jedoch einräumen, dass Kiel‐ mansegg selbst seine Schlussbetrachtungen zurückhaltend als „Argumentationsver‐ such“ einordnet. Er nimmt für sich lediglich in Anspruch, eine „Vielzahl von Ge‐ sichtspunkten für die Beurteilung von Institutionen“37 beigesteuert zu haben. Dies allein wäre im Rahmen einer wissenschaftlichen Qualifikationsarbeit sicherlich kei‐ ne zu geringe Leistung. Insofern schießt die Kritik von Jäger über ihr Ziel hinaus. Gleichwohl hat der Rezensent Recht, wenn er moniert, Gesichtspunkte dieses Ran‐ ges gebe es auch bei den von Kielmansegg kritisierten Theoretikern „in Hülle und Fülle“. Kielmansegg verabsolutiere und überhöhe das Konzept der Volkssouveräni‐ tät als Urformel des demokratischen freiheitlichen Verfassungsstaates, um es an‐ schließend der Untauglichkeit zur Beschreibung der Bedingungen der Rechtmäßig‐ keit von Herrschaft überführen zu können. Es sei aber nicht einzusehen, warum das längst mit anderen Doktrinen verwobene Konzept der Volkssouveränität „in seiner Reinheit wiederhergestellt und für obsolet erklärt werden soll“.38 Diese Bedenken werden sich noch vergrößern, wenn wir die drei Fundamentalan‐ griffe Kielmanseggs nun mit den Überlegungen von Habermas, Fröbel und Maus konfrontieren. So lässt sich mit Hinweis auf Julius Fröbels Volkssouveränitätsver‐ ständnis zeigen, dass sehr wohl (1) eine Brücke von der Autonomieprämisse zur ver‐ bindlichen Geltung von Regeln führt, ohne dass die Gesellschaft deshalb in Anar‐ chie zerfällt. Auch ist nicht einzusehen, warum sich (2) mit der Figur des Volkssou‐ 33 34 35 36 37 38

Kielmansegg 1977, S. 257f. Kielmansegg 1977, S. 258. Kielmansegg 1977, S. 259. Kielmansegg 1977, S. 264. Kielmansegg 1977, S. 266. Jäger 1979, S. 12.

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veräns notwendig organizistische Vorstellungen verbinden sollen, die dem Totalita‐ rismus Vorschub leisten. Vor allem aber wird deutlich werden, dass (3) die prästabi‐ lierte Harmonie zwischen Volkssouveränität und Menschenrechten keine Fiktion ist.

2. Zur Gleichursprünglichkeit von Volkssouveränität und Menschenrechten – Habermas’ diskursethischer Prozeduralismus im Anschluss an Julius Fröbel Im dritten Kapitel seines rechtsphilosophischen Hauptwerks Faktizität und Gel‐ tung39 unternimmt Jürgen Habermas den Versuch, den internen Zusammenhang von Freiheitsrechten und Volkssouveränität in einem System der Rechte zu erläutern. Dabei geht er überraschenderweise ähnlich wie Kielmansegg zunächst einmal von der Annahme aus, dass „bei Rousseau zwischen den moralisch begründeten Men‐ schenrechten und dem Prinzip der Volkssouveränität eine uneingestandene Konkur‐ renzbeziehung besteht“.40 Zwar gesteht Habermas seinem Vorgänger den Versuch einer symmetrischen Verschränkung beider Prinzipien durchaus zu, im Ergebnis je‐ doch wird eine einseitig republikanische Lösung unterstellt, die eine wechselseitige Ergänzung ausschließe.41 Zudem habe der von ihm selbst im Folgenden vorgestellte Prozeduralismus im Vergleich zu der moralisch und ethisch angeblich anspruchsvol‐ leren Konzeption von Rousseau den Vorteil, dass „die Kosten der angesonnenen staatsbürgerlichen Tugenden gering bleiben können und nur in kleiner Münze erho‐ ben werden müssen“.42 Eine wirkliche Vermittlung von Volkssouveränität und Men‐ schenrechten kann laut Habermas nur gelingen, wenn sie sich auf ein „kommunikati‐ ves Arrangement“ stützt. Deshalb gelte es, die Denkfigur der Selbstgesetzgebung diskursethisch zu entschlüsseln. „Die Substanz der Menschenrechte steckt dann in den formalen Bedingungen für die rechtliche Institutionalisierung jener Art diskursiver Meinungs- und Willensbildung, in der die Souveränität des Volkes rechtliche Gestalt annimmt.“43

Erst dann, wenn sich die Bürger zugleich als Autoren der Rechte verstehen und betä‐ tigen, denen sie sich als Adressaten unterwerfen wollen, erlangen sie Autonomie als Rechtssubjekte. Die überragende Bedeutung des Diskursprinzips für die Versöhnung von Volkssouveränität und Menschenrechten liegt für Habermas nun darin, dass den Bürgern als Rechtssubjekten die Wahl des Mediums, in dem sie ihre Autonomie ver‐ wirklichen, nicht mehr freisteht.

39 40 41 42 43

168

Habermas 1993a. Habermas 1993a, S. 123. Vgl. Habermas 1993a, S. 129f. Habermas 1993a, S. 165. Habermas 1993a, S. 135.

„Sie können nicht mehr darüber disponieren, welcher Sprache sie sich bedienen wollen. Der Rechtskode ist Rechtssubjekten vielmehr als die einzige Sprache, in der sie ihre Au‐ tonomie ausdrücken können, vorgegeben. Die Idee der Selbstgesetzgebung muß sich im Medium des Rechts selbst Geltung verschaffen.“44

Deshalb müssten die Bedingungen, unter denen die Bürger im Lichte des Dis‐ kursprinzips beurteilen können, ob das Recht, das sie setzen, legitimes Recht ist, ih‐ rerseits rechtlich garantiert werden. Dazu dienen die politischen Grundrechte auf Teilnahme an den Meinungs- und Willensbildungsprozessen des Gesetzgebers. Die an anderer Stelle als „intuitiv einleuchtende Gleichursprünglichkeit“45 von Volkssouveränität und Menschenrechten beschriebene Verschränkung beider Prinzi‐ pien wird in einem Dreischritt genauer erläutert. Zuerst stellt Habermas den diskurs‐ theoretischen Grundsatz auf, dass „genau die Normen Geltung beanspruchen“ dür‐ fen, „die die Zustimmung aller potentiell Betroffenen finden könnten, sofern diese überhaupt an rationalen Diskursen teilnehmen“. Näher bestimmt wird dieses Prinzip zweitens durch das Postulat einer idealen Sprechsituation, in der „die kommunikati‐ ve Freiheit eines jeden, zu kritisierbaren Geltungsansprüchen Stellung zu nehmen, gleichmäßig zum Zuge kommen kann“.46 Dies setzt einen normativen Begriff der Öffentlichkeit voraus, in der die Offenheit der gleichberechtigten und freien Rede für alle Beteiligten gilt, in der mit anderen Worten „interessenfrei, vernunftgeleitet und fair argumentiert wird, um zu einer gerechten und problemadäquaten Lösung politischer Konflikte zu gelangen“.47 In einem dritten und letzten Argumentations‐ schritt leitet Habermas schließlich die gleichen politischen Grundrechte für jeder‐ mann aus einer „symmetrischen Verrechtlichung der kommunikativen Freiheit aller Rechtsgenossen“ ab. Diese erfordere wiederum „Formen diskursiver Meinungs- und Willensbildung, die eine Ausübung der politischen Autonomie in Wahrnehmung der staatsbürgerlichen Rechte ermöglicht“.48 Die Menschenrechte stehen der Volkssou‐ veränität also nicht entgegen, sondern ermöglichen erst deren Ausübung. Beide Prin‐ zipien bedingen einander, ohne dass „die Menschenrechte vor der Volkssouveränität oder diese vor jenen einen Primat beanspruchen könnten“.49 Die Menschenrechte werden dem Souverän also nicht gleichsam paternalistisch übergestülpt. Sie sind von Habermas als ermöglichende Bedingungen gedacht und können folglich dem, was sie konstituieren, keine Beschränkungen auferlegen. Dies widerspräche auch der rechtlichen Autonomie der Staatsbürger, die sich ja gleichzei‐ tig als Adressaten sowie Autoren der Gesetze verstehen können sollen. Vielmehr

44 45 46 47 48 49

Habermas 1993a, S. 160. Habermas 1996, S. 299. Habermas 1993a, S. 161. Buchstein 2006, S. 256. Habermas 1993a, S. 161. Habermas 1996, S. 301.

169

schlüpfen die Bürger nun selbst in die „Rolle eines Verfassungsgesetzgebers“,50 dem nichts vorgegeben ist, außer dem Diskursprinzip und der daraus sich ergebenden Rechtsförmigkeit interaktiver Beziehungen. Habermas hebt so die Kommunikationsund Teilhaberechte innerhalb des liberalen Grundrechtekanons deutlich vor anderen – etwa dem Recht auf Eigentum – hervor.51 Damit verbunden ist die Kritik am libe‐ ralen Rechtsparadigma, das den Bürger einseitig in der Rolle eines rationalen, nut‐ zenmaximierenden Marktteilnehmers wahrnimmt und glaubt, soziale Gerechtigkeit stelle sich allein durch die Freiheit des Haben- und Erwerbenkönnens ein. Aufgrund der wachsenden Ungleichheit von ökonomischen Machtpositionen seien die Voraus‐ setzungen für eine „chancengleiche Nutzung gleich verteilter rechtlicher Kompeten‐ zen tatsächlich immer weiter zerstört worden“.52 Während also die Stärkung sozialer Grundrechte zu den Ermöglichungsbedingungen politischer Teilhabe gezählt werden muss, lässt sich Gleiches für ein unverletzliches, vor dem Souverän abgeschirmtes Eigentumsrecht nur schwerlich behaupten. Aus dem Selbstbestimmungsrecht der Bürger ergibt sich für Habermas noch eine weitere bedeutende Konsequenz im Hinblick auf die Verfassung. Zwar suggeriere der Charakter von Verfassungsgründungen, etwa am Ende einer erfolgreichen Revo‐ lution, „das täuschende Bild einer Feststellung statischer, der Zeit entrissener und der historischen Veränderung standhaltender Normen“. In Wahrheit bedeute der rechtstechnische Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen aber „nur eine relative Fixierung des Gehaltes der Verfassungsnormen“. Im Gegensatz zu Kielman‐ segg, bei dem die Verfassung nach dem einmaligen souveränen Schöpfungsakt des pouvoir constituant nahezu sakrosankt erscheint, bleibt sie für Habermas ein „Pro‐ jekt, das nur im Modus einer fortgesetzten, auf allen Ebenen der Rechtsetzung konti‐ nuierlich vorangetriebenen Verfassungsinterpretation Bestand haben kann“.53 Damit schließt Jürgen Habermas an eine Sichtweise an, die bereits 1847 im zwei‐ bändigen System der sozialen Politik54 prominent durch den späteren demokrati‐ schen Paulskirchen-Abgeordneten Julius Fröbel vertreten wurde. Dieser erklärt ein Jahr vor der Revolution in Deutschland Staat und Demokratie für „gleichbedeutende Begriffe“. Das „Staatsrechtsprinzip der Demokratie“55 und damit gleichzeitig Fun‐ damentalnorm der Verfassung sei die Volkssouveränität. Die Rechtskräftigkeit einer Verfassung gründe sich deshalb unter anderem darauf, dass sie nicht durch die „Fest‐ setzung ihrer Unveränderlichkeit ihre eigne Entwicklung und Verbesserung unmög‐ lich“56 macht. Wo dieses Erfordernis verletzt wird, da beginnt laut Fröbel das Recht 50 51 52 53 54 55 56

170

Habermas 1993a, S. 160f. Vgl. Buchstein 2006, S. 257. Habermas 1996, S. 302. Habermas 1993a, S. 163. Fröbel (1847)/1975. Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 7. Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 114f.

zur Revolution. „Das heißt, richtig verstanden: die Revolution hat Recht, die Reac‐ tion hat Unrecht; die Revolution ist rechtmäßig, die Reaction ist unrechtmäßig.“57 Ziel seiner politischen Theorie ist es deshalb, den Rousseauschen Akt des Gesell‐ schaftsvertrags in Form einer „legalen und permanenten Revolution“58 auf Dauer zu stellen. Zwar galt Fröbels Werk unter Kennern schon länger als wegweisend für die Idee der Volkssouveränität im 19. Jahrhundert. Neu belebt wurden die hierin dargelegten Grundsätze aber erst von Jürgen Habermas in einem Gedenkartikel anlässlich des 200. Jahrestages der Französischen Revolution.59 Ausgehend von der These, die Re‐ volution habe trotz einer gewissen Kontinuität der kulturellen Dynamik an „utopi‐ scher Sprengkraft wie an Prägnanz eingebüßt“,60 gelangt Habermas nun zu der Grundsatzfrage, „wie denn heute eine radikal-demokratische Republik überhaupt ge‐ dacht werden müßte“.61 Auf den folgenden Seiten schlägt er eine viel beachtete Um‐ deutung des Volkssouveränitätsbegriffs vor, der „den normativen Gehalt dieser ein‐ zigartigen Revolution in unsere Begriffe übersetzen“62 und somit gleichzeitig die weltweit explodierte Dialektik zwischen Liberalismus und radikaler Demokratie har‐ monisch auflösen soll. Kernpunkt ist der Verzicht auf eine „konkretistische Lesart des Prinzips der Volkssouveränität“ zugunsten einer Prozedur der Meinungs- und Willensbildung, die „die Vermutung der Vernunft für sich hat“.63 Ausdrücklich wird dabei an Rousseaus Intention der gleichen Teilnahme aller an der Praxis der Selbstgesetzgebung festge‐ halten. Allerdings soll die angebliche moralische Überfrachtung des tugendhaften Staatsbürgers beendet und zugleich der klassisch liberalen Kritik an der Tyrannei der Mehrheit der Wind aus den Segeln genommen werden. Den Schlüssel zur Lösung dieses fundamentalen Problems der politischen Ideengeschichte glaubt Habermas im System der sozialen Politik gefunden zu haben, in dem Fröbel „das Prinzip der freien Diskussion mit dem Mehrheitsprinzip auf eine interessante Weise verbindet“.64 Genau wie Habermas hält auch Fröbel strikt an Rousseaus Autonomiekonzept fest. „Kurz gesagt: ein Gesetz gibt es immer nur für den der es selbst gemacht oder der ihm beigestimmt hat; für jeden Anderen ist es ein Gebot oder ein Befehl.“65 Ob‐ wohl Gesetze theoretisch also der Zustimmung aller betroffenen Individuen bedür‐ fen, beschließt der demokratische Gesetzgeber mit Stimmenmehrheit. Vereinbar ist beides nur miteinander, wenn die Mehrheitsregel eine interne Beziehung zur Wahr‐ 57 58 59 60 61 62 63 64 65

Fröbel (1847)/1975, Bd. 1, S. 110f. Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 274. Vgl. Habermas 1993b. Habermas 1993b, S. 608. Habermas 1993b, S. 609. Habermas 1993b, S. 610. Habermas 1993b, S. 614. Habermas 1993b, S. 613. Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 97.

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heitssuche behält. Eine Mehrheitsentscheidung soll daher nur so zustande kommen, dass ihr Inhalt als das rational motivierte, aber fehlbare Ergebnis einer unter Ent‐ scheidungsdruck vorläufig beendeten Diskussion über das, was das Richtige ist, gel‐ ten darf.66 Tatsächlich verlangt Fröbel von der überstimmten Minderheit nicht etwa, dass sie ihre Meinung für irrig erklärt, sondern nur, dass sie „auf die praktische An‐ wendung ihrer Überzeugung so lange verzichte bis es ihr gelungen ist, ihre Gründe besser geltend zu machen und sich die nöthige Zahl von Beistimmenden zu ver‐ schaffen“.67 Dem Argument Kielmanseggs – die Mehrheit könne sehr wohl im Unrecht, die Minderheit im Recht sein – stimmt Fröbel ohne weiteres zu. In der Funktionsbestim‐ mung der im Gegensatz zum Mehrheitswillen stehenden Opposition erblickt er je‐ doch gerade die Stärke demokratischer Herrschaftsorganisation und überwindet da‐ mit nach Einschätzung von Rainer Koch „nicht nur überzeugend den neuralgischen Punkt der politischen Theorie Rousseaus, nämlich die Problematik einer möglichen Diskrepanz zwischen volonté générale und volonté de tous“, sondern erklärt und be‐ gründet gleichzeitig ein für den modernen demokratischen Staat schlechterdings konstitutives Element: „Das Bemühen der Opposition, die Mehrheit zu überzeugen, selbst also die Majorität zu werden, Herrschaft auszuüben.“68 Mit Hinweis auf die derart vorgenommene Verknüpfung von Mehrheitsregel und freier Diskussion ließe sich freilich auch Kielmanseggs erster Fundamentaleinwand gegen die Volkssouveränität abwehren, das Konzept sei prinzipiell untauglich, die Geltung von Entscheidungen zu begründen, da die Teilhabe an der Entscheidungs‐ macht des Kollektivs keine verkürzte Form individueller Selbstbestimmung sei.69 Wenn der Majoritätsbeschluss – wie von Fröbel gefordert – eben nicht das endgülti‐ ge, gewaltsame, sondern lediglich das vorläufige, pragmatische Zwischenresultat einer später wieder aufnehmbaren Debatte darstellt und sich jeder Bürger aufgrund der fairen Verfahrensbedingungen berechtigte Hoffnungen machen darf, die anderen beim nächsten Mal durch das bessere Argument zu überzeugen, ist nicht recht einzu‐ sehen, warum von der Autonomieprämisse zur verbindlichen Geltung von Regeln angeblich keine Brücke führen soll. Vermittelnde Instanz zwischen Willen und Ver‐ nunft ist der öffentliche Diskurs. Die von Fröbel vorgeschlagene Prozedur hat somit die Vermutung der Vernünftigkeit für sich. Vernünftige Bürger sollten diesem Ver‐ fahren der Selbstgesetzgebung also zustimmen und die derart entstandenen Rechts‐ sätze akzeptieren können, ohne sich in ihrer Autonomie verletzt zu fühlen. Insofern ist Kielmanseggs Vorwurf, im Volkssouveränitätsprinzip sei eine „Tendenz zur An‐ archie“70 angelegt, nicht aufrechtzuerhalten. Die normative Spannung zwischen 66 67 68 69 70

172

Vgl. Habermas 1993b, S. 613. Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 109. Koch 1978, S. 97. Vgl. Kielmansegg 1977, S. 236f. Kielmansegg 1977, S. 237.

Gleichheit und Freiheit ist auflösbar, wenn man lernt, Volkssouveränität als Verfah‐ ren zu verstehen. Der permanente öffentliche Diskurs fordert von den Bürgern allerdings ein hohes Bildungsniveau. Fröbel setzt sich deshalb vehement für ein umfangreiches Volksbil‐ dungsprogramm sowie für die „vollkommene Freiheit der persönlichen Meinungsäu‐ ßerung und die Freiheit der theoretischen Propaganda“71 ein. Als einer der ersten er‐ kennt er auch die verfassungspolitische Bedeutung der Parteien und des Wahlkamp‐ fes um die Mehrheit der Stimmen. In einer auch stilistisch beeindruckenden Passage unterscheidet er zwischen Parteien „verfassungsmäßiger Existenz“ und politischen Sekten, die den staatszersetzenden Teilgesellschaften bei Rousseau ähneln: „Die Partei will ihren Separatzweck im Staate geltend machen, die Secte den Staat mit ihrem Separatzweck überwinden. Die Partei will im Staate zur Herrschaft kommen, die Secte den Staat ihrer Existenzform unterwerfen. Indem sie im Staate zur Herrschaft kommt will die Partei sich in ihm auflösen, die Secte will indem sie den Staat in sich auflöst zur Herrschaft kommen“.72

Der Entwurf eines Parteiensystems stellt für das politische Denken der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland ein Novum dar.73 Die Anerkennung von Partei‐ en als Verfassungsbestandteile mit dem Charakter politischer Handlungseinheiten – Fröbel spricht von „freien Personen“, die unter allen Umständen „die Rechtsfähig‐ keit zum Abschlusse aller beliebigen Verträge haben“74 – offenbart einen ausgespro‐ chen modernen und zukunftsgerichteten Blick.75 Auch wenn Julius Fröbels Beitrag zur Theorie des modernen Parteienstaates an dieser Stelle nicht abschließend geklärt werden kann, entscheidend für unser Interesse ist hier vor allem, dass Habermas in Fröbels Definition des Parteibegriffs die wesentlichen Merkmale sogenannter „frei‐ williger Assoziationen“ zu erkennen glaubt, die nur einen minimalen Grad an Insti‐ tutionalisierung aufweisen und darauf spezialisiert sind, auf den Prozess der öffentli‐ chen Meinungs- und Willensbildung in erster Linie durch Argumente Einfluss zu nehmen. Zwar sei der ursprünglich anarchistische Entwurf einer Gesellschaft, die komplett in der horizontalen Vernetzung von Assoziationen aufgeht, „immer schon utopisch“ – angesichts des Steuerungs- und Organisationsbedarfs moderner Gesell‐ schaften heute erst recht. Gleichwohl meint Habermas, den anarchistischen Traum einer herrschaftsfreien Ordnung ins Methodische wenden zu können. Dazu unterscheidet er zwischen einer „kommunikativ erzeugten und der adminis‐ trativ verwendeten Macht“. Wie sich die beiden durchdringen, „und wer wen über‐

71 Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 114. 72 Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 277. 73 Siehe dazu: Erbentraut 2008/2009 sowie grundsätzlich zum vormärzlichen Parteiendiskurs in Deutschland Erbentraut 2016. 74 Fröbel (1847)/1975, Bd. 2, S. 91. 75 Vgl. Koch 1978, S. 108.

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wältigt, ist eine empirische Frage“.76 Ganz chancenlos scheint die kommunikativ er‐ zeugte legitime Macht, die den von Fröbel genannten Bedingungen genügen, also diskursiv zustande gekommen sein muss, jedenfalls nicht zu sein. Sie kann auf das politische System in der Art einwirken, dass „sie den Pool von Gründen, aus dem die administrativen Entscheidungen rationalisiert werden müssen, in eigene Regie nimmt“.77 Die normative Erwartung vernünftiger Ergebnisse gründet sich letztlich auf das „Zusammenspiel zwischen der institutionell verfaßten politischen Willens‐ bildung mit den spontanen, nicht-vermachteten Kommunikationsströmen einer nicht auf Beschlußfassung programmierten, in diesem Sinne nicht-organisierten Öffent‐ lichkeit“.78 Die Volkssouveränität, die sich in solchen öffentlichen Diskussionen äu‐ ßert, wird damit entsubstanzialisiert. Selbst die Vorstellung, ein Netz von freiwilli‐ gen Assoziationen nehme den vormaligen Platz des verabschiedeten Volkssouveräns ein, scheint Habermas nun zu konkretistisch. Die „subjektlos und anonym geworde‐ ne, intersubjektivistisch aufgelöste Volkssouveränität zieht sich in die demokrati‐ schen Verfahren und in die anspruchsvollen kommunikativen Vorraussetzungen ihrer Implementierung zurück“. Derart „kommunikativ verflüssigte Souveränität“ wird ausgeübt im Modus der Belagerung. „Sie wirkt auf die Prämissen der Urteils- und Entscheidungsprozesse des politischen Sys‐ tems ohne Eroberungsabsicht ein, um in der einzigen Sprache, die die belagerte Festung versteht, ihre Imperative zur Geltung zu bringen: sie bewirtschaftet den Pool von Grün‐ den, mit denen die administrative Macht zwar instrumentell umgehen kann, ohne sie aber, rechtsförmig verfaßt wie sie ist, ignorieren zu können.“79

Auf diese Weise prozeduralisierte Volkssouveränität bedarf laut Habermas des Reso‐ nanzbodens einer breiten und aktiven, zugleich zerstreuenden Partizipation. Und die‐ se wiederum erfordert ähnlich wie bei Fröbel den „Hintergrund einer egalitären, von allen Bildungsprivilegien entblößten, auf ganzer Breite intellektuell gewordenen po‐ litischen Kultur“.80 Die diskurstheoretische Reformulierung des Selbstbestimmungsprinzips sowie die These der Gleichursprünglichkeit von Volkssouveränität und Menschenrechten sind auf einige Bedenken gestoßen.81 Was die Details seines Deutungsversuchs an‐ belangt, ist auch Ingeborg Maus keineswegs in allen Punkten mit Habermas einig. 76 77 78 79 80 81

174

Habermas 1993b, S. 622. Habermas 1993b, S. 623. Habermas 1993b, S. 625. Habermas 1993b, S. 626. Habermas 1993b, S. 630. Vgl. dazu besonders die sehr instruktiven Ausführungen von Gosepath 1998. Statt Menschen‐ rechte und Demokratieprinzip als gleichrangig einzustufen, vertritt Gosepath die These, den Menschenrechten gebühre vom moralischen Standpunkt betrachtet der Vorrang (S. 218ff.). Zur Kritik des prozeduralistischen Programms vgl. Reese-Schäfer 1994, S. 88f. Demnach stehe die von Habermas angesonnene Neubestimmung von räsonierender Öffentlichkeit und politischem System quer zur bisherigen Demokratietheorie. Es sei z. B. nicht klar, ob das Parlament, das

Doch speisen sich ihre kritischen Überlegungen offenkundig nicht aus einer generell skeptischen Grundhaltung, sondern im Gegenteil aus der Perspektive eines radikale‐ ren Verstandes von Volkssouveränität, der sich eindeutig zu Rousseau bekennt und den Schutz der Menschenrechte durch die im Contrat social beschriebene Ausübung des Gemeinwillens gewährleistet sieht. Insofern steht Maus hier für eine radikalde‐ mokratische Überbietung Habermas’. Ihre Konzeption ist das eigentliche Gegenmo‐ dell zu Kielmansegg.

3. Mit Rousseau zurück in die Zukunft – Ingeborg Maus und das radikaldemokratische Experiment einer dezentralisierten Gesetzgebung Hinsichtlich der Volkssouveränitäts-Diskussion gesteht Ingeborg Maus Habermas ausdrücklich zu, einige „Unzulänglichkeiten“ der Aufklärungsphilosophie überwun‐ den zu haben. In der Tat könnten die ausbuchstabierten Lösungsvorschläge des 18. Jahrhunderts nicht umstandslos auf die völlig veränderten Strukturen der heutigen Gesellschaft projiziert werden. Vielmehr gehe es um die Wahrnehmung der funda‐ mentalen demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien, die jenen Optionen da‐ mals zugrunde lagen. Diese müssten in gegenwärtige Problemhorizonte übersetzt werden. Ihr Gehalt werde in der aktuellen Volkssouveränitätsdebatte jedoch vielfach verkannt. Ein Indiz für diese Überlagerung oder Verdrängung der ursprünglichen Demokratie- und Rechtsstaatsprinzipien sieht Maus darin, dass selbst Habermas, „der den größtmöglichen Kontakt zur Aufklärung unterhält [...], das erreichte Kom‐ plexitätsniveau der Theorien des 18. Jahrhunderts gelegentlich unterschätzt“.82 Konkret geht es Maus darum, die Behauptung zu widerlegen, es gebe im Werk Rousseaus ein Spannungsverhältnis zwischen Volkssouveränität und Menschenrech‐ ten. Zwar stelle Habermas’ diskurstheoretischer Ansatz eine gelungene Vermittlung zwischen den beiden Extrempositionen her, die entweder den Menschenrechten als Ausdruck moralischer Selbstbestimmung oder umgekehrt der Volkssouveränität als Ausdruck ethischer Selbstverwirklichung Priorität zuschrieben. Den abstrakten Ent‐ gegensetzungen der aktuellen Kontroverse bleibe er jedoch insoweit verhaftet, als er sie überhaupt als Ordnungsschemata seines ideengeschichtlichen Rückblicks auf die Klassiker der modernen Demokratietheorie gelten lasse.83 Das Problem der Verstän‐

doch gerade darum bemüht sei, den Diskurs zu institutionalisieren „innerhalb der belagerten Festung liegt oder ob es zu den Belagerern der Administration gehört“. Fundamentalkritik an Habermas’ Souveränitätskonzept übt Brumlik 1999, S. 80f. Die Verlagerung der Souveränität vom Staat in die Gesellschaft stelle alle herkömmlichen Theorien auf den Kopf und führe zur faktischen Aufgabe des Begriffs. Angesichts dieses Umstandes bleibe unerfindlich, aus wel‐ chem Grund man überhaupt „noch das Sprachspiel der Souveränität benötigt“. 82 Maus 1995, S. 539. 83 Vgl. Maus 1995, S. 540.

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digung zwischen Demokratietheorien des 18. und 20. Jahrhunderts wird laut Maus besonders am Beispiel Rousseaus sichtbar, dem „verkanntesten und am meisten ver‐ folgten Theoretiker der politischen Ideengeschichte“. Habermas werde diesem Den‐ ker zwar dadurch noch am ehesten gerecht, dass er ihn nicht als republikanisch-kom‐ munitaristisches Gegenstück zu Kant installiere, sondern die große Nähe der beiden Aufklärer betone. Gleichwohl unterstelle er Rousseau, dass dieser die Menschen‐ rechte nur als Modus des Vollzugs der Volkssouveränität in demokratischen Gesetz‐ gebungsverfahren kenne. Dagegen erinnert Maus noch einmal an den genauen Argumentationsgang des Contrat social: Der Mensch sei erstens frei geboren. Seine angeborene Freiheit wer‐ de zweitens zum unaufgebbaren Menschenrecht erklärt. Und schließlich nehme Rousseau die Gewährleistung dieses Menschenrechts zum Maßstab einer legitimen politischen Herrschaftsform. Erst als Ermöglichungsbedingung von Freiheit gewinne das Prinzip der Volkssouveränität Rechtmäßigkeit. Das Menschenrecht ist also kein – wenn auch erfreuliches – Nebenprodukt der Selbstbestimmungspraxis der Bürger, sondern von „überpositiver naturrechtlicher Qualität“.84 Weiterhin bringe Habermas die Konzeption von Rousseau ganz zu Unrecht in Verbindung mit einer Überfrachtung staatsbürgerlicher Gesinnung. Dagegen erbrin‐ ge ein Vergleich der Verfahrensbegriffe ein umgekehrtes Verhältnis. So setzt Rousseau nach der Lesart von Ingeborg Maus gerade deshalb mit so großer Intensi‐ tät auf die rigide Strenge rechtsstaatlicher Verfahrensordnungen, weil er die Tugend der Staatsbürger nirgends voraussetze. Er wünsche sie sich, baue aber nicht darauf. „Auch die radikale Volkssouveränitätstheorie mißtraut nicht nur den Staatsapparaten, sondern auch dem Volk und widerlegt en passant die gängige These der politischen Ide‐ engeschichte, daß demokratische Theoriebildung ein positives Menschenbild vorausset‐ ze.“85

Zur Bestätigung lässt sich Folgendes anführen: im Contrat social werden „die Men‐ schen genommen, wie sie sind“;86 ihre durch die bürgerliche Gesellschaft, vor allem durch Eigentum, Geld und Luxus hervorgerufenen Laster und Schlechtigkeiten zieht Rousseau bei der Konstruktion seiner politischen Ordnung ausdrücklich ins Kalkül. Aus dieser realistischen Anthropologie speist sich wahrscheinlich auch seine ambi‐ valente Haltung gegenüber der Demokratie als Regierungsform, die einerseits sein politisches Ideal verkörpert, andererseits aber so viel Tugend verlangt, dass sie ein „Volk von Göttern“87 erfordert. Anders als Habermas annimmt, werden die Kosten staatsbürgerlicher Tugend also bereits anno 1762 nur in kleiner Münze erhoben.

84 85 86 87

176

Maus 1995, S. 548. Maus 1995, S. 562. Rousseau (1762)/2004, S. 5. Rousseau (1762)/2004, S. 74.

Dass Rousseau seine politische Konstruktion auf einer existenziell bereits voraus‐ gesetzten homogenen Gemeinschaft basieren lässt – so ein anderer Vorwurf Haber‐ mas’ –, ist aus der Sicht Ingeborg Maus’ ebenfalls kaum zu halten. Eine gewisse ge‐ sellschaftliche Homogenität sei im Contrat social nicht etwa die Voraussetzung des politischen Prozesses, sondern im Gegenteil, dessen eher minimalistisches Produkt. Rousseau sei jedenfalls weit entfernt davon, kulturelle Heterogenität zu beargwöh‐ nen. Vielmehr beklage er die sich durchsetzende Uniformität der gesellschaftlichen Verhaltensmuster als Negativbilanz einer freigesetzten instrumentellen Rationalität in der Entwicklung von Künsten und Wissenschaften. Zwar sei die Divergenz parti‐ kularer gesellschaftlicher Interessen bei Rousseau genauso unbeliebt wie bei den meisten seiner Zeitgenossen. Sie werde jedoch pragmatisch in einem Verallgemeine‐ rungstest des demokratischen Gesetzgebungsverfahrens bearbeitet, das lediglich den kleinsten gemeinsamen Nenner der pluralistischen Gesellschaft eruiert. Rousseau schreibt: „Das Gemeinsame nämlich in diesen unterschiedlichen Interessen bildet das gesellschaft‐ liche Band, und wenn es nicht einen Punkt gäbe, in dem alle Interessen übereinstimmen, könnte es keine Gesellschaft geben. Nun darf aber die Gesellschaft nur gemäß diesem Gemeininteresse regiert werden.“88

Maus versteht den letzten Satz dahingehend, dass „alles Nicht-Gemeinsame außer‐ halb staatlicher Regelung bleibt. Divergierende Interessen werden so nicht etwa eli‐ miniert, sondern bilden den Engpaß für Verrechtlichung“.89 Entsprechend dazu hängt Rousseau der Idealvorstellung an, wonach eine Gesellschaft mit möglichst wenigen Gesetzen auskommen sollte.90 Ähnlich parieren ließe sich derart auch der zweite Kritikpunkt Kielmanseggs, der die gesamte Volkssouveränitätstheorie des 18. Jahrhunderts „pauschal verdächtigt, mit einem mystischen Kollektivsubjekt zu operieren“.91 Der damit verbundene Vor‐ wurf der unterschwelligen Affinität zu den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts sitzt Maus zufolge jedoch dem Missverständnis auf, der Monismus der Volkssouve‐ ränität enthalte in sich selbst schon jenen Absolutismus, der die späteren „volksde‐ mokratischen“ Systeme antizipierte. Kielmansegg verwechsle „eine verfassungs‐ rechtliche Allokation politischer Macht mit einer Aussage über gesellschaftliche Strukturen“. Daraus resultiere dann die Vorstellung, monistische Volkssouveränität setze ein kollektives Entscheidungssubjekt voraus, könne nicht dezentral ausgeübt werden und sei inkompatibel mit einer pluralistischen und multikulturellen Gesell‐ schaft.92 Dabei enthalte die Idee der Unteilbarkeit die schlichte Forderung, dass Sou‐ 88 89 90 91 92

Rousseau (1762)/2004, S. 27. Maus 1995, S. 549. Vgl. Rousseau (1762)/2004, S. 112. Maus 1994, S. 188. Vgl. Maus 1994, S. 29.

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veränität ausschließlich denen zukomme, die von Entscheidungen selbst betroffen sind, und nicht etwa den Verwaltern delegierter, rechtsanwendender Macht.93 Kielmansegg spreche dem Konzept demokratischer Volkssouveränität jene Proze‐ duralität ab, „die Einheitsbildung stets als Prozeß begreifen muß, und versteht die Einheit des souveränen und zugleich vernünftigen Volkswillens als eine immer schon substantiell vorausgesetzte“.94 Auch wenn Rousseau eine ausgesprochen dis‐ kurstheoretische Fundierung des demokratischen Verfahrens noch nicht zugänglich gewesen sei, läuft seine subjektphilosophische Begründung nach Maus’ Ansicht dennoch nicht auf einen Zielkonflikt zwischen Volkssouveränität und Menschen‐ rechten hinaus. Schließlich liege es bereits in der Struktur demokratischer Verfah‐ rensbeteiligung selbst, dass ein politischer Wille nicht schon besteht, sondern erst gebildet werden muss. Und dies erkläre, dass Rousseau auf diskursive Momente die‐ ses Verfahrens rekurrieren müsse, auch wenn er diese nicht theoretisch begründen kann. Wenn das richtig ist, wofür gute Gründe sprechen, wäre der auf den ersten Blick so diskursfeindliche Rousseau – man denke an seine Skepsis hinsichtlich langer De‐ batten in der Volksversammlung – gar kein Gegner, sondern ein früher Vertreter der deliberativen Demokratietheorie, in dessen politischer Konstruktion sich die Glei‐ chursprünglichkeit von Volkssouveränität und Menschenrechten bereits verwirklicht. Die von Kielmansegg in seiner dritten Fundamentalkritik in Abrede gestellte „präs‐ tabilierte Harmonie“ zwischen beiden Prinzipien würde demnach doch existieren. Maus glaubt denn auch, Rousseau habe den Problemen des Redens und Überredens deshalb so große Aufmerksamkeit gewidmet, „um die demagogische Beredsamkeit im Dienste partikularer Interessen von Diskussionen zu unterscheiden, die demokra‐ tischen Prozessen inhärent sind“.95 Auf letztere könnten sich Rousseaus Überlegun‐ gen beziehen, wonach sich mit dem Abstimmungsrecht der Bürger ein weiterer Grundsatz verbinden müsse, und zwar „das Recht, seine Meinung zu äußern, Vor‐ schläge zu machen, einzuteilen und zu diskutieren, welches nur ihren Mitgliedern zu überlassen die Regierung immer sehr bemüht ist“.96 Insofern richtet sich Habermas – von Kielmansegg ganz zu schweigen –, was die Reformulierung des Volksouveränitätsprinzips betrifft, eher gegen eine Karikatur des aufklärerischen Modells als gegen dieses selbst. Die Bestimmung des Ortes der Volkssouveränität in den Theorien des 18. Jahrhunderts ist keineswegs – worauf die genannten Autoren trotz mancher Unterschiede allesamt insistieren – auf die Verkör‐ perung der Volkssouveränität in einer „anschaulich identifizierbaren Versammlung autonomer Bürger“97 angewiesen. Auch kann Volkssouveränität nicht, das erklärt 93 94 95 96 97

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Vgl. Maus 1994, S. 218. Maus 1994, S. 203. Maus 1995, S. 549. Rousseau (1762)/2004, S. 114. Habermas 1993a, S. 170.

Maus, „konkretistisch“98 im Volk lokalisiert werden, weil der Begriff des Volkes im 18. Jahrhundert ein höchst abstrakter ist, der weder ethnisch, kulturell oder sozial bestimmte Entitäten bezeichnet, „sondern lediglich die Summe derer, die keine Posi‐ tion in den Staatsapparaten hatten, die Nicht-Funktionäre“. Dieser abstrakt-verfas‐ sungsrechtliche Begriff des Volkes sei nur aus der Entgegensetzung zum staatlichen Gewaltmonopol verständlich. Die Forderung, alle Souveränität ungeteilt im Volk zu konzentrieren, ist darum sogar „mit der Forderung der Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Exekutive identisch: Sie soll Regressionen zu absolutistischen Systemen, in denen Souveränität und Gewaltmonopol zusammenfielen, verhin‐ dern“.99 Aus diesem Grund lehnt Maus auch alle Versuche ab, den Schutz von Freiheit und Menschenrechten durch eine dem direkten Zugriff der Bürger entzogene Verfas‐ sung zu gewährleisten. Ihrer Meinung nach gilt die gesamte Rechts- und Verfas‐ sungsordnung allein deshalb, „weil der demokratische Souverän sie noch nicht geän‐ dert hat“100 – eine Überlegung, die auch Teilen der älteren deutschen Staatsrechts‐ lehre vertraut ist. So räumt etwa Paul Laband bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein, dass die Rechtssätze der Verfassung in der Regel zwar „nur unter erschwerten Bedingungen“ änderbar seien, „aber eine höhere Autorität als anderen Gesetzen kommt ihnen nicht zu. Denn es gibt keinen höheren Willen im Staate als den des Souveräns [...] Die Verfassung ist keine mystische Gewalt, welche über dem Staat schwebt, sondern gleich jedem anderen Gesetz ein Willensakt des Staates und mithin nach dem Willen des Staates veränderlich.“101 Was Laband von der Verfassung des Deutschen Kaiserreiches behauptet, gilt nach Einschätzung von Maus – bezüglich der verfassunggebenden Gewalt des Volkes – auch noch für das Grundgesetz. Auch für Rousseau sind nicht die jederzeit änderbaren Gesetze oder die Verfas‐ sung, sondern die gesetz- bzw. verfassunggebende Gewalt Angelpunkt des demokra‐ tischen Rechtsstaates. Die Herrschaft des Rechts und die Volkssouveränität erschei‐ nen somit als die zwei Seiten derselben Medaille. Und letztere bezeichnete schon immer „die Herrschaft des demokratischen Gesetzes und implizierte die Suprematie der gesetzgebenden Instanz über alle rechtsdurchsetzenden Staatsapparate“.102 Wäh‐ rend ursprünglich also alle Rechts- oder Verfassungsinnovationen an der Basis mo‐ nopolisiert worden seien, wird nach Ansicht von Ingeborg Maus gegenwärtig „alles bestehende Recht gegen jeden Änderungsdruck von unten verfestigt, aber zum Zwe‐ cke innovativen Gebrauchs durch die Staatsapparate interpretativ dynamisiert“.103

98 99 100 101 102 103

Habermas 1993a, S. 365. Maus 1995, S. 555. Maus 1994, S. 40. Laband 1911, S. 39. Maus 1995, S. 554. Maus 1994, S. 235.

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Die „Überordnung des Rechts über den rechtsetzenden Souverän“104 sei das Resultat der „herrschenden justizstaatlichen Doktrin“,105 die, flankiert vom überwiegend kon‐ servativen Mainstream der Staatsrechtslehre – Kielmansegg und Kriele werden aus‐ drücklich genannt – und von den autoritären Interpretationen der Verfassungsge‐ richtsbarkeit, die Verfassung selbst als einzig möglichen Souverän konzeptualisiert. Dieser unvermittelte Rückgriff auf vordemokratische Integrationsmuster in der Wie‐ derbelebung des mittelalterlichen Gedankens der Souveränität des Rechts kommt für Maus einer „Refeudalisierung des gegenwärtigen Demokratieverständnisses“106 gleich. Dieser Prozess werde noch verstärkt, indem sich ausgerechnet die basisdemokra‐ tischen Bewegungen zur Artikulation ihrer Verweigerungen – etwa mit der Verfas‐ sungsbeschwerde – Aktionsformen bedienten, die im Ergebnis die justizstaatliche Entwicklung nur bestätigten. Auf diese Weise werde die Idee, dass nur demokratisch gesetztes Recht legitim ist, verabschiedet und die Initiative der Rechtsentwicklung an die Gerichte zurückgegeben. „Hatte die europäische Demokratietheorie des 18. Jahrhunderts noch darauf bestanden, daß dies Aufgabe der permanenten verfassunggebenden Gewalt des Volkes sei, so ist die‐ ser wesentliche Aspekt von Volkssouveränität heute durch die Verfassungsgerichtsbarkeit usurpiert.“107

Demgegenüber insistiert Maus darauf, der Souveränität des Volkes nach wie vor einen zentralen Platz in der modernen Demokratietheorie zuzuweisen, die Idee als praktisch relevantes Prinzip ernst zu nehmen und das Volk daran zu erinnern, nur solche Gesetze anzuerkennen, die es sich selbst gegeben hat. Ihre Forderung läuft damit auf die Rekonstruktion von Volkssouveränität „unter den heute gegebenen ge‐ sellschaftlichen Bedingungen“ in Form einer „dezentralisierten Gesetzgebung“108 hi‐ naus, die die parlamentarische ergänzen soll, deren Programm aber noch recht un‐ deutlich skizziert ist. Maus’ Grundüberlegung leuchtet jedoch ein. Sie besteht darin, dass angesichts der fortgeschrittenen Partikularisierung der Gesellschaft und der Spezialisierung des Rechts die Identität der Gesetzgebenden und der Gesetzesadressaten (nicht die Iden‐ tität von Herrschenden und Beherrschten!), mit anderen Worten Selbstgesetzgebung, „ganz überwiegend nur noch in den Binnenräumen gesellschaftlicher Teileinheiten herzustellen“ ist. Während die Demokratietheorie der Aufklärung noch von einem relativ geringen rechtlichen Regelungsbedarf ausging – wenige, stark generalisierte Gesetze als Gütekriterium – sei heute vor dem Hintergrund weit getriebener staatli‐ 104 105 106 107 108

180

Maus 1994, S. 65. Maus 1991, S. 138. Maus 1994, S. 32. Maus 1991, S. 140. Maus 1994, S. 224.

cher Feinsteuerung aller gesellschaftlichen Teilbereiche das Ausmaß quantitativer Verrechtlichung so enorm, dass die klassische Forderung nach Bindung der Staats‐ apparate an die Gesetze des demokratischen Souveräns prekär geworden sei. Die noch von Hermann Heller im Sinne der Freiheitssicherung propagierte „Herrschaft des Volkes als Einheit über das Volk als Vielheit“109 sei nahezu in ihr Gegenteil ver‐ kehrt. Aktuell könne nicht einmal mehr im symbolischsten Sinne die Rede davon sein, dass „alle über alle das Gleiche beschließen, sondern es entscheiden wenige über wenige Besonderes“.110 Allein durch plebiszitäre Verfahren ließen sich nach Meinung von Ingeborg Maus diese Schwierigkeiten nicht in den Griff bekommen, da auch die so entstandenen Gesetze unter den angegebenen Bedingungen die Staatsapparate nicht binden könn‐ ten. Vor allem aber seien Plebiszite ungeeignet, das am schwersten wiegende Prob‐ lem der modernen Demokratie zu korrigieren: „Die relevantesten Sektoren der technisch-ökonomischen Entwicklung stehen außerhalb jeder rechtlich vermittelten gesellschaftlichen Kontrolle bzw. politischer Steuerung. Auf diese Weise wird das partikularste aller gesellschaftlichen Interessen dominant“.

Gegenwärtig bildeten die Gesellschaften in aller Welt nur noch Anhängsel ihrer je‐ weiligen militärisch-industriellen Komplexe. Was in diesen Kernzonen geschehe, verhalte sich „zu jeder demokratischen Anstrengung wahrhaft autopoietisch“.111 Mit dem „Experiment“ einer ergänzenden dezentralisierten Gesetzgebung hofft Maus nun, die derart verselbständigten Machtzentren der Gesellschaft wieder einzu‐ fangen und einer demokratischen Verrechtlichung unterziehen zu können – freilich ohne einer „Fetischisierung politischer Dezentralisierung als solcher“112 das Wort zu reden. Allein durch Entmachtung der parlamentarischen Zentrale zugunsten ge‐ richtsförmiger Entscheidungen sei eine Demokratisierung der Politik nicht zu haben. Allerdings erweise sich heute angesichts der explosionsartigen Vermehrung hoch‐ speziellen Wissens in den genannten gesellschaftlichen Teilbereichen und der infor‐ mationellen Unterlegenheit zentraler Instanzen das auf einheitliche Steuerung bau‐ ende konkrete Volkssouveränitätsprojekt des 18. Jahrhunderts als „vollends illuso‐ risch“. Kontrollen und Steuerungen der ausdifferenzierten gesellschaftlichen Subein‐ heiten seien deshalb gegenwärtig nur noch aus der Binnenperspektive, „durch einge‐ baute Gegenmacht“, möglich. Nur hier könnten noch Detailregelungen von solcher Präzision ausgearbeitet werden, die die staatlichen Apparate wieder zu „anwenden‐ den Instanzen“ machten.113

109 110 111 112 113

Heller 1927, S. 76. Maus 1994, S. 222. Maus 1994, S. 223. Maus 1991, S. 146. Maus 1994, S. 224.

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Ihr schwebt dabei offenbar eine Art Arbeitsteilung zwischen parlamentarischer und dezentralisierter Gesetzgebung vor, die noch nicht bis ins Detail ausbuchstabiert ist. Im Allgemeinen gelte jedoch: Je begrenzter der Regelungsbereich einer Norm, desto eher eigne er sich zur Beratung und Verabschiedung in „Rechtssetzungsarran‐ gements, in denen die betroffenen konfligierenden Interessen einander direkt kon‐ frontiert werden“. Dagegen seien allgemeine Rechtsnormen für einen weiten Kreis von Adressaten nach wie vor für parlamentarische Verfahren oder Plebiszite ad‐ äquat. Die „legislative Zentrale“ soll außerdem für die Setzung der Verfahrensnor‐ men verantwortlich zeichnen, nach denen sowohl in den zentral-plebiszitären Recht‐ setzungsprozessen selbst, als auch in den dezentralen, die inhaltlichen Normen erst zustande kommen. Von solch einer Differenzierung zwischen „Normierungen der Normsetzung“ und den Normsetzungen selbst erhofft sich Maus unter anderem die Funktion, dass die Konfliktparteien in den dezentralisierten Gesetzgebungsprozessen mit symmetrischen Verhandlungspositionen ausgestattet werden, „die die Asymme‐ trien gesellschaftlicher Macht rechtlich kompensieren“.114 Beliebige Diskriminierun‐ gen und willkürliche Durchgriffe auf einzelne Personen und Gruppen könnten nur dadurch verhindert werden, dass die Verfahrensnormen für unbestimmt viele zu‐ künftige Fälle formuliert sind, und der jeweils konkrete gesellschaftliche Interessen‐ konflikt noch nicht bekannt ist.115 Der hier skizzierte Vorschlag zur Demokratisierung der Gesetzgebung macht vor allem deutlich, dass Maus nicht mehr daran glauben mag, eine Allgemeinheit des gesellschaftlichen Interesses noch im Inhaltlichen finden zu können. Was letztlich an Einheit gegenüber der Vielheit und an Allgemeinem gegenüber dem Besonderen be‐ stehen könne, sei – so das leicht resignative vorläufige Ende ihrer Überlegungen – „weniger, als die Demokratietheorie der Aufklärung annahm. Das Allgemeine der heutigen Gesellschaft kann angesichts ihrer extremen inhaltlichen Parzellierung nur noch ein prozedurales sein“.116

4. Volkssouveränität heute: Gedanken zu ihrer Aktualisierung Bereits 1927 spottete Hermann Heller über die „Unfähigkeit der deutschen Staats‐ lehre, ein geeignetes Souveränitätssubjekt festzustellen“.117 In der Tat pflegt man seit Hegel hierzulande die Frage nach dem Träger von Souveränität auszuklammern und den Gegensatz zwischen Fürsten- und Volkssouveränität im Begriff der entper‐ sonalisierten „Staatssouveränität“ theoretisch aufzuheben. Deshalb hat sich unter 114 115 116 117

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Maus 1994, S. 225. Vgl. Maus 1991, S. 149. Maus 1994, S. 226. Heller 1927, S. 70.

den meisten Verfassungsrechtlern die Auffassung durchgesetzt, juristisch konstruier‐ bar sei das Konzept der Volkssouveränität einzig durch die in der Französischen Re‐ volution geprägte Unterscheidung des souveränen, über seinen politischen Status, d. h. seine Verfassung frei entscheidenden Volkes (pouvoir constituant) und dem Staatsvolk, das wie die anderen Staatsorgane innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung verbleibt (pouvoir constitué).118 Ganz in diesem Sinne zielt auch Peter Graf Kielmanseggs Strategie darauf ab, die höchste Entscheidungsgewalt einzuhegen, indem sie ihres potentiellen Trägers be‐ raubt wird. Souveränität sei denkbar als „Entscheidungsmonopol eines konsistenten Kompetenzsystems“, das ohne Träger einer „Allkompetenz“ auskommt. Wo aber kein Souverän ist, steht auch niemand außerhalb von Recht und Verfassung. Rousse‐ aus Konzept der Selbstgesetzgebung der Bürger hält Kielmansegg für prinzipiell un‐ tauglich, die Bedingungen demokratischer Legitimität angemessen zu beschreiben. Weder sei die strenge Autonomieprämisse mit der generellen Geltung gesellschaftli‐ cher Regeln in Einklang zu bringen noch lasse sich die angeblich erforderliche Denkfigur eines kollektiven Souveräns gemeinsam mit der Demokratieprämisse denken. Schließlich stünden die Volkssouveränität als Ordnungsprinzip und der Schutz der Menschenrechte in einem Zielkonflikt, da die letztinstanzliche Entschei‐ dungsgewalt eines Kollektivs schlussendlich doch nur auf die einfache Mehrheitsre‐ gel und damit potenziell auf Rechtsverletzungen von Minderheiten hinauslaufe. Gegen diese Anschauung wurde im Beitrag zunächst auf Jürgen Habermas’ Ver‐ such verwiesen, den internen Zusammenhang von Volkssouveränität und Menschen‐ rechten in einem System der Rechte näher zu erläutern. Sein diskursethischer Ret‐ tungsversuch läuft vereinfacht gesagt darauf hinaus, das Prinzip der Volkssouveräni‐ tät nicht länger konkretistisch, sondern prozeduralistisch zu lesen. Derart verstande‐ ne „kommunikativ verflüssigte Souveränität“ ist nicht einfach als letztinstanzliche Entscheidungsgewalt irgendeines Trägers substanziell immer bereits vorhanden, sondern bringt sich erst in der Macht öffentlicher Diskurse zum Ausdruck. Die große Nähe dieser Ideen zu Julius Fröbels Volkssouveränitätstheorie einer „legalen und permanenten Revolution“ wurde im Text ausführlich erläutert. Schließlich vertritt Ingeborg Maus gegen Kielmansegg die These, wonach die in der Aufklärungsphilo‐ sophie des 18. Jahrhunderts entworfene Idee der Volkssouveränität Hand in Hand mit der Bewahrung der Menschenrechte geht. Mit dem Experiment einer „dezentra‐ lisierten Gesetzgebung“ möchte sie die Bürger zudem daran erinnern, nur diejenigen Gesetze als legitim anzuerkennen, die sie sich selbst gegeben haben. Damit aktuali‐ siert Maus die schwierige Frage, wie Rousseaus Postulat der staatsbürgerlichen Selbstbestimmung, das ursprünglich nur für kleine Gemeinwesen gedacht war, unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt zu realisieren wäre.

118 Vgl. Quaritsch 1995, Sp. 1108.

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Möglicherweise liegt der Schlüssel zu diesem Rätsel tatsächlich in der Überant‐ wortung von Regelungsautonomie an kleinere Segmente der Gesellschaft. Die derart gewonnene Handlungsfreiheit dürfte aber nicht auf bloße Zustimmungsverweige‐ rung begrenzt bleiben – wie dies etwa die Darmstädter Politikwissenschaftlerin Hei‐ drun Abromeit immer wieder gefordert hat119 –, sondern müsste sich als ein Projekt der Aufklärung an der Praxis der Selbstgesetzgebung der Staatsbürger orientieren. Herrschaft über Menschen abzubauen und durch die Selbstbestimmung des Indivi‐ duums zu ersetzen, ist seit jeher auch der Grundgedanke aller rätedemokratischen Experimente. Sieht man einmal vom Grundsatz des ursprünglich proletarischen Cha‐ rakters der Basisorganisationen ab, ließen sich die Elemente eines Rätesystems – Ar‐ tikulation des politischen Willens von unten nach oben, geringer Institutionalisie‐ rungsgrad von Parteien und Verbänden, imperatives Mandat etc. – ohne weiteres auch als Maßnahmenkatalog einer auf dem Prinzip der Volkssouveränität basieren‐ den direkten Demokratie verstehen. In dieser Weise forderte etwa der russische Politikwissenschaftler Moisei Ostro‐ gorski bereits 1902 die generelle Abschaffung permanenter und damit zur Oligarchie neigender Parteiorganisationen und deren Ersetzung durch spontane ad hoc-Bünd‐ nisse („Nieder mit den Parteien, hoch die Ligen.“).120 Auch in Teilen der deutschen Arbeiterbewegung gab es zu Beginn der Weimarer Republik Überlegungen, die Rä‐ tedemokratie mit dem parlamentarischen Repräsentativsystem zu kombinieren. Ru‐ dolf Hilferding, Rudolf Breitscheid und Hugo Haase entwickelten etwa den Plan, eine oberste Rätekörperschaft als zweite Kammer neben dem Reichstag zu errich‐ ten.121 In der Bundesrepublik sind die Elemente staatsbürgerlicher Selbstbestim‐ mung bekanntlich zugunsten der Regierungsstabilität und mit Verweis auf angebli‐ che Konstruktionsfehler der Weimarer Reichsverfassung zurückgedrängt worden. Dabei ist die alte These, der Aufstieg der NSDAP verdanke sich in erster Linie der Existenz direktdemokratischer Instrumente, heute längst widerlegt. Die wenigen Versuche, Gesetze über den Weg von Volksbegehren und Volksentscheid durchzuset‐ zen, sind in Weimar allesamt gescheitert. Wenn der politische Wille wirklich da wä‐ re, „mehr Demokratie zu wagen“, ließe sich also durchaus mit einigem Gewinn an die Räte- und Parteiendiskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts anschließen, indem die Entscheidungskompetenzen an der Basis gestärkt würden. Es müsste sich allerdings noch zeigen, wie dezentralisierte Formen der Legislati‐ ve mit den aus der Volkssouveränität fließenden Postulaten vereinbart werden kön‐ nen. Sie stoßen sich zum Beispiel mit dem überkommenen Monismus der Souverä‐ nität, mit der schon die traditionelle Föderalismustheorie zu kämpfen hatte. „Obso‐

119 Vgl. Abromeit 2002; Abromeit 1999; Abromeit 1995. 120 Vgl. Ostrogorski 1902. 121 Vgl. Kuhn 2004, S. 265ff.

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let“ würde durch derartige Überlegungen aber nicht die Volkssouveränität, sondern allenfalls deren Unteilbarkeit.

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Oliver Hidalgo Volkssouveränität und Demokratie – eine konstruktive Auseinandersetzung mit Kielmanseggs ,Quadratur des Zirkels‘ im Spiegel von Rousseaus Contrat social

1. Befreiung von Rousseau? Peter Graf Kielmanseggs Buch Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedin‐ gungen demokratischer Legitimität, das auf seine 1971 an der TU Darmstadt einge‐ reichte Habilitationsschrift zurückgeht, um sodann in stark überarbeiteter Fassung 1977 im Ernst Klett Verlag zu erscheinen, zählt längst zu den ,Schlüsselwerken‘ der deutschen und internationalen Politikwissenschaft.1 Dabei zeigen Kielmanseggs his‐ torische und systematische Ausführungen, warum die Doktrin der auf Gleichheit ba‐ sierenden Volkssouveränität für sich genommen nicht ausreicht, die „Bedingungen demokratischer Legitimität“ bzw. „rechtmäßiger Herrschaft“ zu erfassen und ratio‐ nal zu rechtfertigen. Im Anschluss an sein Werk ist infolgedessen nach „konstituti‐ ven Demokratieprämissen jenseits des Volkssouveränitätskonzeptes zu suchen“ und das Legitimitätsgefüge des demokratischen Rechtsstaates folgerichtig „anders und neu zu formulieren“.2 Im Kern läuft Kielmanseggs Kritik darauf hinaus, dass das ei‐ gentlich Spezifische an der Idee eines ,souveränen Volkes‘, wie es sich in den früh‐ neuzeitlichen Revolutionen sowie im modernen Kontraktualismus herausgebildet hatte – die „Inthronisation des autonomen Individuums“3 –, in der theoretischen Doktrin selbst nicht ausreichend ausbuchstabiert sei, da sich die Volkssouveränität rational betrachtet eben nicht als Summe individueller Autonomien (bzw. als Mehr‐ heitsherrschaft) denken lasse und demokratische Partizipation demnach auch kein politisches Pendant zur Selbstbestimmung des Einzelnen bedeute.4 Analog tendiere die empirische Demokratietheorie der Gegenwart (z. B. Schumpeter, Mayo, Cassi‐ nelli, Berelson) dazu, die normativ nach wie vor ungelöste Begründungsproblematik der Volkssouveränität auszuklammern und so die Verfassungswirklichkeit in West‐ europa zu unkritisch als ,Demokratie‘ zu rechtfertigen. Die normative Demokratie‐ theorie (z. B. Bachrach, Agnoli, Stojanović, Macpherson, Habermas) sei hingegen auch fürderhin nicht über die begründungstheoretischen Grenzen hinausgekommen, 1 2 3 4

Vgl. Kailitz 2007. Kielmansegg 1977, S. 14f. Ebd., Kap. 3. Ebd., Kap. 5.

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die bereits den Ansatz Rousseaus markierten, und stelle die historisch gewachsene Realität der ,demokratischen Verfassungsstaaten‘ somit auf Basis unsicherer Prämis‐ sen in Frage.5 Nach Tine Stein ist Kielmanseggs Studie zur Volkssouveränität insgesamt dazu angetan, „den Leser gewissermaßen von Rousseau zu befreien“6 und ihn dadurch einem Verständnis zuzuführen, das die Normativität der repräsentativen Demokratie wie der historischen Verwirklichung des demokratischen Rechtsstaates nicht länger als defizitär im Sinne eines abstrakten Ideals der Volksherrschaft (das auf das Volk als konkreten Inhaber der Staatsgewalt pocht) bzw. der Volkssouveränität (die als Quelle aller rechtmäßigen Herrschaft fungiert) begreift. In „Die Quadratur des Zir‐ kels“ (1985)7 führt Kielmansegg diese Überlegungen fort und stellt eine normative Theorie der repräsentativen Demokratie vor, die den demokratisch gewählten (und dadurch temporär bevollmächtigten sowie periodisch abberufbaren) Amtsinhaber als institutionalisierte Form verantwortlichen Entscheidens legitimiert, welches sich in den gesetzlichen Grenzen abspielt, mit dem der Rechtsstaat die Verfügungsgewalt der Politik beschneidet. Wie der Titel dieses Aufsatzes andeutet, ist Kielmansegg al‐ lerdings wohlbewusst, dass die Aporien der Demokratie auch durch seine eigenen Anstrengungen nicht gänzlich zu beheben sind. Eben hier will der vorliegende Bei‐ trag ansetzen, indem er daran erinnert, dass die zentrale Aussage, das „Prinzip [der Volkssouveränität kann] allein kein tragfähiges normatives Fundament für ein frei‐ heitliches Gemeinwesen [abgeben]“,8 nicht mit einer generellen Absage an dieses Prinzip gleichzusetzen ist, sondern in erster Linie auf dessen Ergänzungsbedarf bzw. die parallele Geltung von einschlägigen Gegenprinzipien insistiert. Entsprechend geht es Kielmanseggs Theorie der repräsentativen Demokratie explizit darum, die dichotomische Auffassung von Siegfried Landshut: „entweder Volksherrschaft oder Repräsentation“9 zu umgehen, indem er sich an der „Quadratur des Zirkels“ über‐ haupt versucht.10 Im Ergebnis bleibt für Kielmansegg indes ein Spannungsverhältnis zwischen ,Demokratieprinzip‘ und ,Amtsprinzip‘ bestehen, was die repräsentative 5

Ebd., Kap. 4. Auch die Versuche von Austin Ranney und Willmoore Kendall, Robert A. Dahl, Ralf Dahrendorf, Tomas Thorson, Niklas Luhmann, Amitai Etzioni u. a., zwischen empirischer und normativer Dimension der Demokratietheorie eine Brücke zu schlagen, habe bislang kein überzeugendes Modell hervorgebracht (vgl. Kielmansegg 1977, S. 196ff.). 6 Stein 2007, S. 213. 7 An dieser Stelle wird im Folgenden nicht aus der ausführlichen Version des Aufsatzes zitiert, wie sie 1985 in einem von Ulrich Matz herausgegebenen Sonderheft der Zeitschrift für Politik erschienen ist, sondern in der Fassung von 2013, das den „zweiten Versuch über den demokra‐ tischen Verfassungsstaat“ aus der Sammlung „Die Grammatik der Freiheit“ (Bonn: BpB) be‐ nennt. Dieser ist bis auf leichte Modifikationen identisch mit dem zweiten Kapitel des Buches „Das Experiment der Freiheit. Zur gegenwärtigen Lage des demokratischen Verfassungsstaa‐ tes“ (Stuttgart: Klett-Cotta), worin der Aufsatz allerdings den Titel „Die zweitbeste Lösung?“ trägt. 8 Kielmansegg 1977, S. 255 (Herv. d. Verf.). 9 Landshut 1968, S. 482. 10 Kielmansegg 2013, S. 41.

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Demokratie am Ende als „historisches Werk der praktischen Vernunft“ anstatt als „dogmatische Konstruktion“ belegt und wenigstens „auf theoretischer Ebene“ „eine sichere Antwort“ unmöglich mache.11 Dies lässt uns danach fragen, ob Kielman‐ seggs Kritik an der Volkssouveränität sowie seine Theorie der (repräsentativen) De‐ mokratie überhaupt als ,Befreiung‘ von Rousseau zu deuten sind oder ob sich nicht vielmehr die eigentliche Charakteristik von Rousseaus politischem Werk, Wider‐ sprüche, Gegensätze und Aporien der Moderne aufzuzeigen,12 in Kielmanseggs Werk prominent niederschlägt. Wie im Anschluss demonstriert werden soll, ist eher Letzteres der Fall, was aber nicht etwa auf ein Manko hindeutet, sondern umso eher die Angemessenheit des theoretischen Bemühens von Kielmansegg reflektiert, das Verständnis für die Komplexität der Demokratie zu erhöhen.

2. Die Genealogie der Volkssouveränität Kielmanseggs Werk über die Volkssouveränität beeindruckt nicht zuletzt durch seine akribisch historische Vorgehensweise. Damit grenzt es einerseits die Idee des souve‐ ränen Volkes von traditionellen Legitimitätsvorstellungen ab, die bereits auf alterna‐ tive Weise eine ,Partizipation‘ der Bevölkerung an der politischen Herrschaft vorsa‐ hen, während es andererseits nichtsdestoweniger die Kontinuitäten transparent macht, die die Souveränität des Volkes als sukzessiv gewachsene Idee belegen. Kon‐ stitutive Bedeutung wird dabei dem Problem der Herrschaftsbegründung zugeschrie‐ ben, das sich im Kontext der Politischen Ideengeschichte bekanntlich bis hin zu Ma‐ chiavelli in dieser Form überhaupt nicht stellte, insofern der dafür auschlaggebende Übergang zum modernen individualistischen Denken beim Autor des Principe und der Discorsi allenfalls sehr implizit verläuft.13 Gleichwohl begann sich schon in der Ära der Renaissance bei italienischen Humanisten wie Marsilio Ficino (1433–1499) oder Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) die Vorstellung eines ,Individu‐ ums‘ herauszukristallisieren, das theoretisch unabhängig von seinen Bezügen zum Gemeinwesen zu denken war. Höchst wahrscheinlich wurden diese Humanisten nicht unwesentlich von einem Denker beeinflusst,14 der auch in der Interpretation Kielmanseggs eine Schlüsselrolle bekleidet: Nikolaus von Kues (1401–1464). Nach Kielmansegg kann das Werk von Cusanus geradezu als Meilenstein gelten, welcher das ,neue‘, vom Individuum ausgehende Denken der politischen Neuzeit erst auf den Weg gebracht hat.15 Anders als spätmittelalterliche Autoren wie Wilhelm von Ock‐ ham oder Marsilius von Padua, deren von Aristoteles geschulte Sicht auf die ,Volks‐ 11 12 13 14 15

Ebd., S. 67. Vgl. Hidalgo 2013 und Marti 2015. Folgerichtig zählt Machiavelli auch zu den großen Leerstellen in Kielmanseggs Studie. Vgl. Flasch 2001, S. 149-152. Kielmansegg 1977, S. 65ff.

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herrschaft‘ zwar bereits starke säkularistische Tendenzen aufwies,16 die aber trotz al‐ lem bekennende Gewährsmänner des ,sozialen Ganzen‘ – der universitas civium – blieben,17 läutete Cusanus im Übergang zur Neuzeit ein Denken ein, das aus der ge‐ meinsamen und gleichen „Geschöpflichkeit aller Menschen“ ihren analogen Status als Träger von ebenso gleichen Rechte deduzierte. Und obwohl diese Rechtsgleich‐ heit bei Cusanus noch unmissverständlich vom Gott der Schöpfung verliehen und daher ,vormodern‘ war, öffnete sich damit das Tor hin zu einer politischen Ordnung, die ganz auf der paritätischen Entscheidungsgewalt der Individuen beruhen sollte, wie es sich in der Folge in Form des Majoritätsprinzips manifestierte. Der Pfad, der von Cusanusʼ Ansatz zu den politischen Rechten des Individuums und somit zur Mehrheit als der Trägerin politischer Entscheidungen führt, wie es später vor allem in John Lockes Second Treatise18 oder Condorcets Esquisse des progrès de l’esprit humain19 ausformuliert wurde, war insofern bis zu einem gewissen Grad vorge‐ zeichnet, auch wenn er alles andere als geradlinig verlief.20 In jedem Fall entzog das Paradigma der natürlichen Gleichheit (und Freiheit) der Individuen der bis dato vor‐ herrschenden Idee einer naturgewachsenen Herrschaft ihr Fundament. Neben der „Herrschaftsteilhabe der Gesamtheit“ des Volkes, die sich bereits bei Marsilius abge‐ zeichnet hatte, sowie der Assoziation rechtmäßiger Herrschaft mit der Figur freiwil‐ liger Anerkennung, die Cusanus mit zahlreichen früheren Theoretikern des Konzilia‐ rismus teilte, war es daher vor allem der Fokus auf die Voraussetzungen der Herr‐ schaft, der Cusanus weit über die mittelalterliche Tradition hinausführte und der schließlich in den neuzeitlichen Kontraktualismus mündete. Erst aus dem bis dato unterbliebenen Bezug der (stoischen und christlichen) Idee der Menschen als freie und gleiche Wesen auf deren „soziale Existenz“ konnte bei Cusanus der Gedanke entspringen, „daß es keine natürlich begründete, begründbare Herrschaft von Men‐ schen über Menschen gibt, mithin, da Gewalt Unrecht ist, nur freiwillige Anerken‐ nung, Zustimmung, Vereinbarung rechtmäßige Herrschaft zu stiften vermag“.21 Mit der von Cusanus ausgehenden (kontraktualistischen) Frage nach der Herr‐ schaftsbegründung begann nach Kielmansegg auch „die neuzeitliche Volkssouverä‐ 16 Bei Marsilius mutete es vor allem höchst fortschrittlich an, dass er – unter Verweis auf die aris‐ totelische Politik (1281a–b) – die „Wahrheit“ des Ursprungs des Gesetzes im Volk verortete (Def. Pac. I 12 § 3). Dazu auch Kielmansegg 1977, S. 59ff. 17 Allgemein zu den „mittelalterlichen Grundlagen“ der Volkssouveränität, die sich in der Rekon‐ struktion von Kielmansegg freilich gleichermaßen als Kontrast darbieten, siehe das erste Kapi‐ tel seines Buches (Kielmansegg 1977, S. 16-58). 18 Vgl. Locke 1977, § 96. 19 Vgl. Condorcet 1963, S. 258ff. 20 Von der Vielzahl der von Kielmansegg diesbezüglich mit enormer analytischer Präzision und Schärfe behandelten Etappen sei hier nur die Reformation (Luther und v. a. Calvin) erwähnt, des Weiteren Johannes Althusius, der nach Kielmansegg (1977, S. 98) allerdings „eher Reprä‐ sentant der Tradition als des Durchbruchs“ zur Moderne war, die Leveller-Bewegung (ebd., S. 120-136) oder auch James Harrington (ebd., S. 132-135). 21 Kielmansegg 1977, S. 69.

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nitätsidee Gestalt anzunehmen“.22 Aus der anthropologischen und sozialen Prämisse der Freiheit und Gleichheit aller Individuen, leiteten Vertragstheoretiker wie Hobbes, Spinoza, Pufendorf, Locke oder Rousseau im Anschluss nicht nur ihre Pro‐ blemstellung ab, Herrschaft künstlich legitimieren zu müssen. Das von ihnen prokla‐ mierte rationale Naturrecht antizipierte auch die Idee des ,herrschenden‘ Volkes als Lösung aller einschlägigen Bemühungen, erwies sich doch die von Hobbes zunächst angedachte (aber noch verworfene), von Spinoza und Locke kurz darauf konkreti‐ sierte sowie von Rousseau letztlich ausformulierte Idee der Volkssouveränität als al‐ lein kompatibel mit dem vernünftigen Interesse des Individuums. Kielmanseggs prä‐ zise Rekonstruktion vermeidet dabei den Anachronismus, der andere Autoren zu vorschnell von einer ,vorneuzeitlichen‘ Volkssouveränität sprechen lässt.23 Er erfasst nicht nur den modernen Kern des Souveränitätskonzepts, das von Bodin und Hobbes als Synonym für das staatliche Gewaltmonopol sowie die Erzwingung von Frieden und Einheit angesetzt wurde und das zumindest langfristig dazu geeignet war, die Konstituenden der Ständegesellschaft zu überwinden;24 sondern er verortet das Problem auch in die historische Konfliktsituation, die – angesichts der vorrevolutio‐ nären Realität des Absolutismus zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert – alsbald auf ein „antithetisches Gegeneinander von Fürstensouveränität und Volkssouveränität“ hinauslief.25 Von dort aus war es ein im Grunde logischer Schritt, die moderne, von Bodin theoretisch begründete und von Hobbes vom Individuum her gedachte Souve‐ ränität im Namen dieses Individuums in die Hände des Volkes legen zu wollen,26 wie es sich bei Spinoza, Locke und Rousseau dann auch vollzog. 22 Ebd. 23 Besonders auffällig ist dies bei Mittermaier/Mair (1995, S. 71, 73), die bereits Marsilius’ Affi‐ nität zur aristotelischen Politie mit einer Antizipation der modernen parlamentarischen Demo‐ kratie sowie der Idee der Volkssouveränität gleichsetzen. Zuvor wurde die Volkssouveränität bei ihnen als ein Begriff vorgestellt, der sich (der Sache nach) schon bei Aristoteles, Polybios und Cicero nachweisen lasse (ebd., S. 31, 56). 24 Vgl. Kielmansegg 1977, S. 86-89, 102-105. Demgegenüber hatte gerade Marsilius noch eine ständische Gesellschaft propagiert, was insbesondere die bis heute verbreitete Übersetzung sei‐ nes zentralen Begriffs valencior pars als „Mehrheit“ irreführend erscheinen lässt. Mit dem ,ge‐ wichtigen Teil‘ der Bürgerschaft, der in der Praxis die Entscheidungsfindung durch die Ge‐ samtheit der Bürger/das Volk anleitete, war weit weniger ein quantitatives als vielmehr ein qualitatives Kriterium gemeint, das in aristotelischer Manier die Ungleichverteilung politischer Kompetenz innerhalb der Bürgerschaft indizierte (vgl. Koch 2005, S. 78, Anm. 41). Auch für Sternberger (1981, S. 104) ist die Annahme einer (Volks-)Souveränitätslehre bei Marsilius durch nichts zu erhärten. 25 Kielmansegg 1977, S. 89. 26 Als entscheidendes Zwischenglied ist dabei Althusius (siehe Anm. 20) anzusehen, der jenen Ortswechsel der Souveränität allerdings noch im Namen einer ständischen Versammlung un‐ ternahm. In den Worten Kielmanseggs (1977, S. 89): „Für die Gegner des fürstlichen Absolu‐ tismus bedeutete die neue Konstellation: Wollten sie nicht die These Bodins, daß die Herr‐ schaftsgewalt in einem Gemeinwesen ungeteilt und unverkürzt an einem Punkt zusammenge‐ faßt sein müsse […], in Frage stellen, dann mußten sie diese Souveränität vorbehaltlos dem Volk zusprechen. Der erste, der diese Konsequenz […] gezogen hat, ist Johannes Althusius ge‐ wesen.“

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Jedoch macht Kielmansegg parallel auf die fundamentalen Widersprüche auf‐ merksam, die mit dieser skizzierten Entwicklung verbunden waren. Nicht nur, dass die auf Freiheit und Gleichheit aller Individuen basierende Idee der Volkssouveräni‐ tät mit der Hierarchie der Repräsentativverfassungen (wie sie sich in den damaligen politischen Gemeinwesen zunehmend etablierte) im Grunde unvereinbar war,27 be‐ gründete der Individualismus der Vertragstheorie ein ebenso offenkundiges Span‐ nungsfeld zwischen der Auffassung eines frei entscheidenden Einzelnen und der souveränen Verfügungsgewalt des Volkes. Galt auf der einen Seite, dass niemand au‐ ßer ,dem Volk‘ herrschen durfte, weil alle Individuen gemeinsam das Volk bildeten, stellte eben diese Gemeinschaft des Volkes andererseits eine klare Antithese zum au‐ tonomen Individuum dar. In dieser Hinsicht zeugen insbesondere die Federalist Pa‐ pers (1787/1788) davon, wie die revolutionäre Epoche Ende des 18. Jahrhunderts die explizierte Skepsis gegenüber dem traditionellen Demokratiebegriff mit einer neuen theoretischen Position verband, die den evidenten Widerspruch zwischen Volkssouveränität und Repräsentation, Gleichheit, Freiheit und Hierarchie gleichsam inkorporierte.28 Hatten vor allem die von Madison verfassten Art. 10 und 14 im Hin‐ blick auf das für große Flächenstaaten unumgängliche Repräsentationsprinzip zwi‐ schen „Demokratie“ und „Republik“ einerseits noch strikt unterschieden und den ge‐ wählten Vertretern in der Republik im Gegensatz zur (direkten) Demokratie der An‐ tike die Kompetenz zugetraut, das ,wahre Interesse des Landes‘ zu treffen, so findet sich bei den Federalists andererseits doch schon eine modifizierte Auffassung, die Volkssouveränität, Repräsentation und Gewaltenteilung amalgamierte.29 Kurz darauf sollte in Europa diese spannungsgeladene Mischung als Konzept der repräsentativen Demokratie reüssieren – zunächst in Thomas Paines Rights of Man (1791), danach auch bei den französischen Revolutionären.30 Der Sache nach aber war sogar in der Virginia Bill of Rights (1776) das Legitimitätsverständnis der neu zu implementie‐ renden Ordnung bereits mit der Formel der ,Volkssouveränität‘ verwoben. Im Ge‐ gensatz zu Rousseaus Contrat social erforderte dies jedoch keine völlige Entäuße‐ rung (aliénation totale) der individuellen Autonomie zugunsten der 27 Vgl. Kielmansegg 1977, S. 70f. 28 Zur dezidierten Auseinandersetzung mit den Federalists siehe Kielmansegg 1977, S. 165f. 29 Siehe dazu insbesondere die Artikel 9, 10, 14 sowie 47-51 der Federalist Papers. Manfred G. Schmidt (2010, S. 98) erkannte die intellektuelle Leistung der Federalists entsprechend in der „Zügelung der Demokratie mit Hilfe von Repräsentation, Konstitutionalismus und Föderalis‐ mus“. In ihrer Reflexion verlieren die Relikte der alteuropäischen Vorstellung ständischer Re‐ präsentation endgültig ihre Bedeutung und führen Freiheit und Selbstregierung zur Idee einer politischen Ordnung, in der die Regierungsgewalt ganz vom Volk abgeleitet wird (vgl. Geb‐ hardt 2007). 30 Dazu Palmer 1953. Zu den demgegenüber auffälligen Schwierigkeiten des Begriffs einer rep‐ resentative democracy, sich im amerikanischen Sprachgebrauch durchzusetzen, siehe Blanke 1956. Exemplarisch steht hierfür etwa William Corbetts History of the American Jacobins Commonly Denominated Democrates (1796), welche die ,Demokratieʻ mit der Terreur nach 1793 gleichsetzte.

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Gemeinschaft/des politischen Körpers, sondern stattdessen ein Verständnis der Volkssouveränität als Summe der Willensentscheidungen selbstbestimmter Individu‐ en, die gemäß der Souveränitätsdoktrin ein Subjekt (das Volk) bildeten.31 Erst diese neue, die Radikalität Rousseaus verwässernde Idee der ,Volkssouveränität‘, die in der Diktion des Genfer Philosophen mit der von ihm abgelehnten volonté de tous zusammenfiel, ermöglichte es, die Repräsentativverfassungen, die sich in der Alten und Neuen Welt historisch herausgebildet hatten, als Zeichen der sovereignty of people umzudeuten und somit die Praxis der gewählten Volksvertreter als „Realisati‐ onsschema“ des Volkssouveränitätspostulats zu interpretieren.32 Erst dieser Fokus, der die Summe der Einzelautonomien an die Stelle der kollektiven Legislativgewalt des Volkes rückte, machte es gegen Rousseau plausibel, das Volk als ,souverän‘ zu bezeichnen, obwohl es sich in seiner Willensbekundung vertreten ließ. Anders als es zuvor Bodin und Hobbes befürworteten, traten dadurch Souverän und Repräsentant auseinander. Dass sich im Anschluss an die Vorstellung, einzig die vom (gesamten) Volk ge‐ wählten Personen oder Körperschaften seien zur Regierungsgewalt legitimiert, auch der Begriff der ,Volksherrschaft‘, das heißt die ,Demokratie‘ zur Bezeichnung jener widersprüchlichen Vermengung von Volkssouveränität und Repräsentation durchset‐ zen konnte, leuchtet unmittelbar ein. In Frankreich war es vor allem die politische Theorie des Abbé Sieyès, die diesbezüglich federführend wirkte. Bei ihm verlagerte sich der gesamte Konstitutionsprozess in die Hände von Dritten, den Repräsentan‐ ten, ohne die das Volk angeblich gar nicht sprechen und seinen Willen artikulieren konnte, was selbstredend eine Konzession an die normative Kraft des Faktischen darstellte. So waren Sieyès’ Pamphlete von 1789 in erster Linie dazu angetan, im Namen der individuellen Freiheit den Anspruch der französischen Nationalver‐ sammlung als verfassungsgebendes Organ zu unterstreichen und zu diesem Zweck die Theorie (den Widersprüchen) der Praxis anzupassen – unabhängig von der Tatsa‐ che, dass die erste Konstituante noch aus einer ständischen Repräsentativkörper‐ schaft bestand. Damit erweist sich gerade der Fall der sich seinerzeit formierenden repräsentativen Demokratie in Frankreich im Grunde als eine „Fortentwicklung vor‐ demokratischer Repräsentativordnungen“,33 was vor allem eines adressiert: das theo‐ retisch nach wie vor ungelöste Problem der Volkssouveränität.

31 Vgl. Kielmansegg 1977, S. 156f. 32 Ebd., S. 160. 33 Ebd., S. 161.

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3. Demokratietheorie im Anschluss an Rousseau und Kielmansegg Kielmanseggs Ansatz, das „Wechselspiel zwischen der ideellen und materiellen Di‐ mension von Politik“ am Beispiel von Volkssouveränität, Repräsentation und Demo‐ kratie nachzuzeichnen, führte ihn gemäß den Ausführungen aus dem vorherigen Ab‐ schnitt dazu, die historische und ideengeschichtliche Ausformung einer demokrati‐ schen Verfassungsordnung insgesamt als Entwicklung wahrzunehmen, die „auf wi‐ derstreitenden Geltungsprinzipien“ beruht.34 Gleichzeitig vermochte er auf dieser elaborierten Basis auf die historisch gewachsenen Kontinuitäten zu pochen, die das Verfassungsprinzip der Volkssouveränität bzw. der Mehrheit von vornherein an das Recht/den Rechtsstaat binden und unmittelbare Volksentscheide nur in Ausnahme‐ fällen zulassen.35 Dass der Demokratiebegriff nach Kielmansegg seit den revolutionären Prozessen im 18. Jahrhundert „Antwort auf die Frage anbot, wie denn die Souveränität des Vol‐ kes zu verwirklichen sei“, schien dabei selbst „bei näherer Überlegung“ einigerma‐ ßen „erstaunlich“ zu sein.36 Schließlich blieb der Terminus ,Demokratie‘ weiterhin an seinen Ursprung als „städtische Versammlungsdemokratie“ gekoppelt und schien insofern als „Norm“ oder „Urbild auch für jenes neuzeitliche Verfassungsgebilde“, das die widersprüchlichen Prinzipien der Volkssouveränität und Repräsentation in einem Flächenstaat zusammenführte, überaus unpassend zu sein – zumal bekannt‐ lich „die antike Stadtdemokratie auf Sklavenwirtschaft beruht hatte“. Bemerkens‐ wert für Kielmansegg in diesem Zusammenhang jedoch ist, dass eben derjenige, der die (demokratische) „Antwort“ auf das Realisierungsproblem der Volkssouveräni‐ tätsidee gegeben hatte, nämlich Jean-Jacques Rousseau, diesen Umstand „selbst nicht verschwieg“.37 Schauen wir auf die einschlägige Stelle im Contrat social, se‐ hen wir sogar, dass Rousseau diesen Hinweis geradezu als Absage an die Verwirk‐ lichbarkeit seines revolutionären Staatsrechts, sprich: der Volkssouveränität verstan‐ den wissen wollte.38 Dies deutet darauf hin, dass Rousseau die theoretische und 34 35 36 37 38

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Zittel/Kaiser 2004, S. 12f. Vgl. ebd., S. 13. Kielmansegg 1977, S. 164. Ebd. „Bei den Griechen übernahm das Volk alle Verrichtungen, die ihm oblagen, selbst; Sklaven verrichteten seine Arbeiten, im Mittelpunkt seiner Betätigung stand seine Freiheit […]. Wie? Kann sich Freiheit nur erhalten, wenn sie durch Knechtschaft gestützt wird? Vielleicht. Die beiden Extreme berühren sich […]. Es gibt so unglückliche Lagen, in denen man seine Freiheit nur auf Kosten der Freiheit eines anderen bewahren und der Bürger nur dadurch völlig frei sein kann, dass der Sklave sich in uneingeschränkter Sklaverei befindet […]. Ihr Völker der Neu‐ zeit, ihr habt keine Sklaven, doch ihr seid Sklaven; ihr bezahlt ihre Freiheit mit der eurigen. […] Ich will durch das Gesagte nicht behaupten, daß man Sklaven haben müsse, noch daß das Recht zur Sklaverei rechtmäßig sei: schließlich habe ich das Gegenteil bewiesen. Ich führe nur die Gründe an, aus denen die Völker der neueren Zeit, die sich für frei halten, Repräsentanten haben, und warum die alten Völker keine hatten. Wie dem auch sei, sobald sich ein Volk Re‐ präsentanten gibt, ist es nicht mehr frei; es ist nicht mehr.“ (Rousseau 1996, S. 351f.)

praktische Unzulänglichkeit seines eigenen Entwurfs, mit dem er das Problem der (individuellen) Freiheit zu lösen beabsichtigte,39 vollkommen bewusst war. Gehen wir noch weiter, dann stoßen wir darauf, dass auch Kielmanseggs Feststel‐ lung, die Volkssouveränität sei nicht als Summe individueller Autonomien aufzufas‐ sen, offenbar viel eher als Fortführung (denn Ablehnung) von Rousseaus Gedanken aufzufassen ist. Dies liegt primär daran, dass bei Rousseau die volonté générale ex‐ akt das umschreibt, was sich vom Willen der Individuen unterscheidet. Transparent wird Letzteres zunächst anhand des paradoxen Zwanges, „frei zu sein“,40 der – an‐ ders als oft vermutet – eben keine Unterdrückung des Einzelnen durch das Kollektiv signalisiert.41 Stattdessen wird das Individuum gegebenenfalls als gleichberechtigter Teil der kollektiven Rechtsperson ,frei‘, sofern es von dieser ,gezwungen‘ wird, von seinen persönlichen Begierden abzulassen. Der Zwang, frei zu sein, findet ergo im‐ mer dann statt, wenn der Einzelne „als Mensch einen besonderen Willen“ besitzt, „der dem Gemeinwillen, den er als Staatsbürger hat, widerspricht oder sich doch von ihm unterscheidet“ und „sein besonderes Interesse“ etwas „anderes von ihm verlangt als das Gemeininteresse“.42 Analog kann die volonté générale, die sich über gar nichts anderes definiert, als das öffentliche Wohl zu bezwecken, mitnichten aus dem Aggregat einzelner Willensentscheidungen zusammengesetzt werden, sondern muss sich im Gegenteil auf „die Summe der Unterschiede“, „das Mehr oder Weniger“ stützen, „das sich gegenseitig aufhebt“.43 Das bedeutet, jeder Bürger muss sich auf je eigene Art von seinen egoistischen Interessen distanzieren, damit sich der Ge‐ meinwille als „Summe von kleinen Differenzen“ ergeben kann. Mithin ist es auch nicht die individuelle Autonomie, die bei Rousseau in die kollektive Verfügungsge‐ walt des Volkes übergeht und dadurch gleichsam absorbiert wird. Dagegen spräche allein schon die totale Selbstveräußerung, die den Vertragspartnern abverlangt wird. Infolge der „Überantwortung ohne Vorbehalt“ hat kein Mitglied des Gemeinwesens gegenüber der vollkommenen Vereinigung des politischen Körpers etwas zu for‐ dern.44 Umgekehrt aber kann der Wille des politischen Kollektivs durch gar keine Stimmenzählung abgebildet werden, indem in der Partizipation der Individuen an Wahlen und Abstimmungen stets ungewiss bleibt, ob ihr operationalisierbares Vo‐ tum eine Differenz oder eine Übereinstimmung zu den partikularen Einzelwillen 39 „Wie findet man eine Form des Zusammenschlusses, welche die Person und die Habe jedes Mitglieds mit der ganzen gemeinschaftlichen Stärke verteidigt, und durch die gleichwohl jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und ebenso frei bleibt, wie er es war?“ (Rousseau 1996, S. 280). 40 Rousseau 1996, S. 283. 41 Dazu bereits Plamenatz 2000. 42 Rousseau 1996, S. 283. 43 Ebd., S. 291. Rousseau ergänzt an gleicher Stelle: „Es besteht oft ein großer Unterschied zwi‐ schen dem Willen aller und dem Gemeinwillen; dieser zieht nur das Gemeininteresse in Be‐ tracht, jener das Privatinteresse und ist nur die Summe der Einzelabsichten.“ 44 Ebd., S. 280.

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aufweist. Und weil die Willensbekundung des Individuums faktisch wiederum der einzig denkbare Transmissionsriemen ist, der zur Ermittlung der volonté générale zur Verfügung steht, ist die Aporie nicht zu lösen. Mit anderen Worten, Rousseau selbst bezweifelt die Möglichkeit einer angebbaren Methode, um den Inhalt der vo‐ lonté générale objektiv oder auch nur intersubjektiv nachvollziehbar zu ermitteln. Der Allgemeinwille sei zwar an sich unfehlbar,45 doch bleibt jedem normalsterbli‐ chen Individuum die Einsicht verschlossen, wann es sich in concreto um eine Be‐ kundung der volonté générale handelt und wann nicht. Aus diesem Paradoxon resul‐ tiert folgerichtig die nach menschlichen Maßstäben nicht mehr fassbare Aufgabe des législateur, die (egoistische) „Natur“ der Menschen zu verändern und sie in gemein‐ wohlorientierte Bürger zu verwandeln.46 Doch nicht allein aus der evidenten Diskrepanz zwischen volonté générale und volonté de tous folgt unbedingt, dass Rousseau keineswegs blind dafür war, wie leicht die Partizipation der Individuen an kollektiven Entscheidungsprozessen mit der Unterdrückung Einzelner (im Sinne der später von den Federalists oder Tocque‐ ville befürchteten) ,Tyrannei der Mehrheit‘ einhergehen kann. Zwar schlägt sich der Contrat social unter der wie gesehen paradoxen Prämisse der Unfehlbarkeit des Ge‐ meinwillens unmissverständlich auf die Seite des Kollektivs. Doch bleibt (wie es vor allem der Émile offengelegt hat) das Individuum wenigstens so lange die entschei‐ dende moralische Instanz, wie die (utopische) Perfektionierung des Gemeinwillens der alltäglichen Verlängerung partikularer Interessen in den Bereich der Politik zum Opfer fällt. Nehmen wir nun die Äußerungen im Émile ernst, die eine Absage Rous‐ seaus an das eigene politiktheoretische Projekt der Volkssouveränität erhärten,47 ver‐ stärkt dies zugleich die anzunehmende Nähe zur oben rekapitulierten Position Kiel‐ manseggs. In jedem Fall aber ist Rousseau bewusst, dass mit dem vorprogrammier‐ ten Scheitern einer moralischen Läuterung des egoistischen Bourgeois zum gemein‐ nützigen Citoyen die politische Freiheit, die durch die Idee der Volkssouveränität verbürgt werden soll, verloren geht. In dieser Hinsicht schreibt er: „Je weniger also

45 Ebd., S. 291ff. 46 Ebd., S. 300ff. 47 „Diese beiden Wörter Vaterland und Bürger müssen aus den modernen Sprachen ausgemerzt werden […]. Das politische Recht muss erst geschaffen werden; es ist anzunehmen, daß es nie geschaffen wird. […] Der einzig Neuere, der in der Lage gewesen wäre, diese große und nutz‐ lose Wissenschaft aufzubauen wäre der berühmte Montesquieu gewesen. Aber er hat sich ge‐ hütet, über die Grundzüge des politischen Rechts zu schreiben. […] Freiheit gibt es in keiner Regierungsform; sie lebt nur im Herzen des freien Mannes“ (Rousseau 1998, S. 13, 504f., 523). Dass die Skepsis des Émile am Ende die Einsichten des Contrat social relativiert und womöglich sogar konterkariert, suggeriert in jedem Fall auch die folgende Parallele: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Men‐ schen“ (ebd., S. 9). „Alles, was nicht zur Natur gehört, hat seine Nachteile, und die bürgerliche Gesellschaft mehr als alles übrige“ (Rousseau 1996, S. 351).

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die Einzelwillen mit dem Allgemeinwillen übereinstimmen, d. h. die Sitten mit den Gesetzen, umso größer muß die Unterdrückung werden.“48 Derartige Einsichten modifizieren selbstredend die in Aussicht gestellte ,Unbe‐ grenztheit‘ der volonté générale. Denn die Befugnisse des souveränen Volkskörpers können und sollen ja nur deshalb prinzipiell unbegrenzt sein, weil der Gemeinwille „immer im Recht“ ist und „der Bürger dem Staate“ „alle Dienste“, die er ihm „leis‐ ten kann“, auch „schuldig“ ist, „sobald der Souverän sie fordert“. Rousseau ging hier davon aus, dass das souveräne Volk „den Untertanen keinen Zwang auferlegen“ könne, „der dem Gemeinwesen nichts nützt“, ja dieses „nicht einmal wollen“ kann.49 Unter dieser Voraussetzung wären verfassungsmäßige Grenzen der souverä‐ nen Verfügungsgewalt des Volkes per definitionem widersinnig. Gegen eine auf po‐ sitivem Recht basierende Begrenzung der Herrschaft der volonté de tous, die sich aus den partikularen Willensquanta der Mehrheit konstituiert, aber hätte der Genfer Philosoph wohl kaum etwas einzuwenden gehabt. Implizit scheint daher die direktdemokratische Legislativgewalt des Volkes, die der Contrat social eigentlich zu installieren bestrebt ist, demselben Verdikt zu unter‐ liegen, wie es Rousseau explizit nur für die demokratische Exekutive einräumte: als „vollkommene Regierung“ für den unvollkommenen „Menschen“ nicht geeignet zu sein.50 Die Widersprüche und Aporien, die Kielmansegg im Hinblick auf Idee und Praxis der Volkssouveränität feststellte, sind in Rousseaus Theorie daher zumindest vorgezeichnet. Analog zeigte sich der Autor des Contrat social auch deutlich kom‐ promissbereiter bezüglich der Unvermeidlichkeit von Repräsentativorganen, als es ihm häufig unterstellt wurde. In der Schrift selbst lässt er die Repräsentation immer‐ hin auf dem Feld der Exekutive und Judikative zu51 und zählt obendrein einen über‐ schaubaren räumlichen Kontext zu den operativen Voraussetzungen für seine staats‐ rechtlichen Prinzipien;52 in seinen praxisnäheren Ausführungen in den Lettres de la Montagne oder den Considérations sur le gouvernement de Pologne (die seine Vor‐ schläge nicht umsonst auf einen größeren Flächenstaat applizieren) legt er zudem ein sichtbares Bemühen um Kompromisse und Konzessionen im Hinblick auf die prak‐ tische Gestaltung der Legislativgewalt an den Tag. Was folgt nun aus dieser Inanspruchnahme, dieser kursorischen Nachzeichnung der Widersprüche und Aporien, die bereits das Werk Rousseaus charakterisieren? Nichts anderes, als dass sich keineswegs zufällig erst im Anschluss an Rousseau das Verständnis durchzusetzen begann, legitime Herrschaft benötige beides, Volkssouve‐ ränität und Repräsentation, und dass die Demokratie der geeignete Begriff sei, dieses offensichtlich paradox bleibende Amalgam zu benennen. Schließlich hatte sich der 48 49 50 51 52

Rousseau 1998, S. 512. Rousseau 1996, S. 293. Ebd., S. 326. „[D]ie Macht kann wohl übertragen werden, nicht aber der Wille“ (Rousseau 1996, S. 288). Vgl. Buch II, Kap. 9 des Gesellschaftsvertrages.

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Begriff der repräsentativen Demokratie wörtlich schon deutlich früher beim Mar‐ quis d’Argenson gefunden, der in seinen Considérations sur le gouvernement de la France53 eine verfehlte (fausse) und eine statthafte (légitime) Form der Demokratie einander gegenüberstellte. Dabei assoziierte dʼArgenson erstere mit der direkten Volksherrschaft im antiken Athen, die ihrem Wesen nach gewalttätig, revolutionär und anarchisch sei, wohingegen er in der zweiten, „wahren“ Fassung ein Synonym für die Repräsentation politischer Macht durch gewählte Volksdeputierte erkannte.54 Und obwohl sich Rousseau von dieser Position in doppelter Hinsicht abhob, indem sein eigener, auf die Exekutive konzentrierter Demokratiebegriff55 der ,fehlerhaften‘ Demokratie bei d’Argenson ähnelte und sich sein Gesellschaftsvertrag grundsätzlich gegen eine Repräsentation der Legislative wandte, trug die von ihm erhobene kom‐ promisslose Forderung der Volkssouveränität doch viel dazu bei, den vormals als anachronistisch desavouierten Begriff des „herrschenden Volkes“, das heißt der ,De‐ mokratie‘ zu reanimieren. Im Verlauf der weiteren ideengeschichtlichen Entwick‐ lung mutierte Rousseau – wiewohl er dieses Konzept selbst nie bemüht hatte – da‐ durch einerseits zum Verfechter einer utopischen Direktdemokratie, dessen strikte Formulierung der volonté générale andererseits die heute gängige Unterscheidung zwischen der direkten und repräsentativen Demokratie erst provozierte.56 Bei d’Ar‐ genson war hingegen unklar geblieben, worin die ,wahre‘ „Herrschaft des Volkes“ eigentlich bestehen sollte, wenn die legislative Macht doch wie zuvor in Lockes „Oligarchie“57 an Deputierte delegiert wird. Auch spätere Demokratietheorien bewegen sich offensichtlich ganz innerhalb der hier konturierten widersprüchlichen Pole – Volkssouveränität und Repräsentation –, deren ungelöster Gegensatz von Rousseau auf die Spitze getrieben und von Kiel‐ mansegg genealogisch rekonstruiert und präzisiert wurde. Bei Tocqueville lässt sich etwa vor dem Hintergrund der sozialistisch geprägten Revolution von 1848 eine diesbezüglich sehr relevante semantische Verschiebung konstatieren. Hatte er in sei‐ ner zweibändigen Studie De la démocratie en Amérique (1835/1840) noch zwei For‐ men der Demokratie – die freiheitliche und die despotisch-bürokratische – unter‐ 53 Die Considérations d’Argensons kursierten etwa seit den 1730er Jahren in Frankreich. Vgl. Palmer 1953, S. 205. 54 D’Argenson 1764, S. 7f. Eine ähnliche, jedoch längst nicht so strikte Distinktion findet sich in der Zeit vor der Französischen Revolution in der Deutschen Encyclopädie von 1783. Nach 1789 waren es dann explizit Thomas Paines Rights of Man (1791/1992), die die zuvor von Ed‐ mund Burke lancierte Vorstellung attackierten, Demokratie und repräsentative Regierung seien inkommensurabel. 55 Siehe den Contrat Social Buch III, Kap. 4. 56 Für eine umfassende Genealogie der demokratischen „Wiederentdeckung“ der Repräsentation, die von Rousseau über Sieyès, Kant und Condorcet zu Paine führt, siehe Urbinati 2006. 57 Siehe dazu den Second Treatise § 132, wo Locke die (vollkommene) Demokratie mit der ge‐ setzgebenden Gewalt der politischen „Gemeinschaft“ gleichsetzt, während er die Regierung, in der „die Gewalt der Gesetzgebung in die Hände einiger auserwählter Männer“ gelegt ist, als „Oligarchie“ bezeichnet.

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schieden und die Mixtur von (lokal und regional angesiedelten) direktdemokrati‐ schen und (gesamtstaatlich) repräsentativen Institutionen in den USA der basisfer‐ nen Ordnungspolitik der Bourgeoisie während der Julimonarchie gegenübergestellt, will er nach der Februarrevolution den Begriff der Demokratie von jeder sozialisti‐ schen Fortschreibungsoption dispensieren. Die Demokratie als nunmehr angeblich genuin liberale Gesellschaftsordnung wird so zum unversöhnlichen Gegensatz des Sozialismus stilisiert, auch, um einem sozialistischen Bürokratismus den zuvor in Aussicht gestellten Nimbus als mögliche Form der Demokratie zu entziehen.58 In sehr ähnlicher Manier sind ebenso John Stuart Mills Considerations on Representa‐ tive Government (1861) als unmissverständlicher Versuch zu bewerten, den Begriff der Demokratie mit den in England bis dato etablierten Formen der parlamentari‐ schen Repräsentation gleichzusetzen und damit eine radikale, basisdemokratische oder sozialistische Deutung der ,Volksdemokratie‘ von vornherein zu unterhöhlen. Schon in On Liberty hatte Mill in dieser Hinsicht gegen die Rede von der ,Selbstre‐ gierung‘ bzw. der ,Macht des Volkes über sich selbst‘ polemisiert und darauf bestan‐ den, dass die Volkssouveränität nicht „die Regierung jedes Einzelnen über sich selbst“ bedeute, sondern vielmehr „jedes Einzelnen durch alle übrigen“.59 Damit hat Mill die These von Kielmansegg, die Volkssouveränität bzw. die Macht der Gemein‐ schaft über das Individuum sei lediglich in unzulänglicher Weise als Verlängerung der privaten Autonomie zur politischen Autonomie zu verstehen,60 augenscheinlich vorweggenommen. Bemerkenswerterweise knüpft selbst ein demokratisches ,Minimalkonzept‘ wie das von Joseph Schumpeter bei näherem Hinsehen an den von Rousseau geprägten Diskurs an. So sehr sich Schumpeter auch versteift, die politische ,Macht des Vol‐ kes‘ darauf zu reduzieren, qua Repräsentation und Majoritätsprinzip einen faktisch organisierbaren Willen zur Sicherung kollektiver Handlungsfähigkeit zu fabrizieren und der numerisch größten Gruppe die Regierungsgewalt zuzuschanzen, stellt er doch nicht in Abrede, dass das Volk jedweder politischer Autorität als Legitimati‐ onsquelle zu dienen hat.61 Strittig zwischen Rousseau und Schumpeter ist damit ver‐ einfacht gesagt nur, was die Souveränität des Volkes tatsächlich umfassen soll und was nicht. Und wenngleich Schumpeter das demokratische Gegenprinzip der Reprä‐ sentation im Vergleich zu Rousseau radikalisiert/zu seinem eigenen Extremum führt, unternimmt er doch nicht einmal einen Versuch, das Prinzip der Volkssouveränität als solches loszuwerden. Seine ablehnend gehaltene Darstellung der „klassischen Lehre der Demokratie“ operiert insofern zwar mit den Kategorien Rousseaus – dem Gemeinwohl, dem allgemeinen Willen bzw. dem Volkswillen (volonté générale)62 –, 58 59 60 61 62

Vgl. Tocqueville 1990, S. 175. Mill 2006, S. 9. Vgl. Kielmansegg 1977, S. 230-233. Vgl. Schumpeter 1993, S. 429f., 433. Ebd., S. 397-401.

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vermeidet aber in auffälliger Weise den direkten Bezug auf den Gesellschaftsver‐ trag. Stattdessen knöpft er sich lieber den „Utilitarismus“ vom Schlage Jeremy Benthams vor, der sich den Begriff „des Volkswillens oder der volonté générale zu eigen machte“, um die „Existenz eines eindeutig bestimmten Gemeinwohls“ zu ru‐ brizieren, das auf Basis des bekannten Greatest Happiness Principle zudem eindeu‐ tig berechenbar sein sollte. Nicht zufällig sind daher auch die Spuren der Paradoxien Rousseaus bei Schumpeter offenkundig zu entdecken, wenn dieser etwa schreibt, dass das Votum der Mehrheit keineswegs als Wille des Volkes zu interpretieren sei,63 dass überhaupt ein (objektiver) Maßstab für eine gemeinwohlorientierte Gesetzge‐ bung fehle sowie dass insbesondere eine Regierung für das Volk als Widerspruch zur Regierung durch das Volk bewertet werden müsse,64 was mit Rousseaus irritierender Skepsis bezüglich der ,realen‘ politischen Kompetenz des ,Volkes‘ augenfällig kor‐ respondiert.65 Des Weiteren wird Rousseau von Schumpeter implizit Relevanz zuge‐ standen, wenn er einen entscheidenden Gegensatz zwischen den „Romantikern“ und den „Utilitariern“ in der Frage der volonté générale beschwört. Denn während letz‐ tere gar „keine Vorstellung dieses halb-mystischen, mit einem eigenen Willen begab‐ ten Wesens – dieser Volksseele“– besessen hätten und daher unzulässigerweise den „Volkswillen“ vom „Willen der Individuen“ ableiteten, sei dem – zweifellos von Rousseau geprägten – nicht-utilitaristischen Begriff zugute zu halten, dass er auf eine „Realität“ bzw. auf „sozialpsychologische Tatsachen“ anspiele, die für jede Analyse der modernen Demokratie als „Vorbedingung“ unerlässlich sind: dass näm‐ lich eine ,Demokratie‘ nicht unabhängig von der Annahme eines kollektiven bzw. kollektiv verbindlichen Willens zu denken ist.66 Einen solchen titulierte Schumpeter seinerseits als „Willen einer Nation“ und macht durchaus den Eindruck, sich mit einer derartigen Fiktion arrangieren zu können. Nicht gegen die Existenz eines wol‐ lenden und handelnden „Demos“ bzw. die Möglichkeit und Notwendigkeit kollekti‐ ver Entscheidungsmethoden wollte Schumpeter demnach argumentieren, sondern er war lediglich dagegen, die Ergebnisse demokratischer Prozesse und Verfahren „mit Öl aus Krügen des achtzehnten Jahrhunderts zu salben“.67 Das heißt, Schumpeter riet deswegen von der Applikation eines Begriffs des Volkswillens ab, da er – in An‐ lehnung an die Eliten- und Massentheoretiker Le Bon und Pareto – befürchtete, der Terminus suggeriere den Ergebnissen demokratischer Entscheidungsprozesse ein Maß „an rationaler Einheit“ oder „auch an rationaler Sanktion“, welches ihm 63 Ebd., S. 432. 64 Ebd., S. 406. 65 „Wie kann eine blinde Menge, die oft nicht weiß, was sie will, weil sie selten erkennt, was ihr guttut, aus sich selbst heraus ein so großes und so schwieriges Unternehmen durchführen, wie es ein System der Gesetzgebung ist?“ (Rousseau 1996, S. 300) Zum strengen Gegensatz, den Rousseau zwischen einem zur Selbstgesetzgebung fähigen, politisch reifen Volk (peuple) und einer gewalttätigen und gesetzlosen Menge (multitude) annahm, siehe Llanque 2013, S. 32ff. 66 Schumpeter 1993, S. 401. 67 Ebd., S. 402.

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schlicht nicht zukäme68 – womit er sich in weit größerer Nähe zu Rousseaus eigenen Zweifeln in dieser Frage befand, als es meist registriert wird. Der empirisch-pragma‐ tische Zugang, den Schumpeter wählt, um am Ende nichtsdestoweniger doch eine Art „Prüfstein einer Regierung für das Volk“ zu extrapolieren69 – die konkludente Zufriedenheit der Wähler mit der Politik der gewählten Repräsentanten – erinnert daher nicht von ungefähr an die kantische Modifikation des Rousseauschen Kontrak‐ tualismus, wonach der Vertrag als hypothetischer Maßstab für das Regierungshan‐ deln herhalten solle.70 Dieser Umstand illustriert, dass Schumpeter im Grunde nur die lange Tradition der Aufweichungen des Volkssouveränitätsprinzips im Contrat social fortsetzt, die spätestens mit Kant und Fichte eingesetzt hatte, eine Tradition, die Schumpeter zu ihrem Höhepunkt brachte, ohne dass er sich von dessen Grundlo‐ gik sowie den davon imprägnierten Dilemmata befreien konnte. Insofern reduziert sich bei ihm die Demokratie auf das, was Rousseau einst als Selbstbetrug des parla‐ mentarischen Systems in England schilderte: „Das englische Volk glaubt frei zu sein; es täuscht sich sehr; frei ist es nur während der Wahl der Parlamentsmitglieder; sobald sie gewählt sind, ist es Sklave, es ist nichts. Der Gebrauch, den es in den kurzen Augenblicken seiner Freiheit von dieser macht, zeigt, dass es nichts anderes verdient, als sie zu verlieren.“71

Die Feststellung eines „Paradoxons“ der „historischen Situation“ am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Politische Theorie eine höchst vorder‐ gründige Harmonie zwischen dem Volkssouveränitätsprinzip und dem Gemeinwohl auf der einen sowie dem naturrechtlich definierten Staatszweck des Rechtsschutzes für das Individuum auf der anderen Seite konstruierte, indem sie die Staatsgewalt in die Hände derer legte, deren Rechte geschützt werden sollten, und indem sie nicht zuletzt die historisch gewachsenen funktionalen Repräsentativverfassungen in Euro‐ pa und den USA normativ anerkannte,72 ist gemäß den Ausführungen in diesem Ab‐ schnitt also fürwahr nicht als eine ,Befreiung‘ von Rousseau zu deuten. Das angel‐ sächsische Denken, das zuvorderst jene spannungsgeladene Mixtur aus herrschafts‐ begründender Volkssouveränität und herrschaftsbegrenzendem Individualrecht prä‐

68 Ebd. 69 Ebd., S. 406. 70 In einer Fußnote zum ersten Definitivartikel des Ewigen Friedens bezeichnet es Kant (1992, S. 60) als rechtliche Freiheit des Bürgers, „keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als denen [er] [s]eine Beistimmung habe geben können.“ Vor dem Hintergrund des parallelen Plädoyers pro Repräsentation und Gewaltenteilung (ebd., S. 62f.) ist damit folgerichtig eine indirekte Be‐ rücksichtigung des Volkswillens durch die staatlichen Repräsentativorgane sowie ein allgemei‐ ner Respekt vor der öffentlichen Meinung gemeint. Mit diesem ,kantianischen‘ Rousseauismus geht im Übrigen auch Kielmansegg (1977, S. 258) konform: „Legitim ist der Staat, der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht als Mittel behandelt“. 71 Rousseau 1996, S. 350. 72 Vgl. Kielmansegg 1977, S. 158.

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zisierte,73 steht infolgedessen durchaus in der Tradition Rousseaus und wendet sich von ihm in erster Linie nur dadurch ab, dass es die Widersprüche, die der Genfer Philosoph schonungslos benannte, bis zu einem gewissen Grad zu kaschieren trach‐ tete. Jene Widersprüche und Aporien, die Rousseaus Werk adressiert hatte, bilden seit‐ dem eine Art ,antinomisches‘ Kontinuum der modernen Demokratietheorie, in des‐ sen Konturen sich zwar gegensätzliche Pole herauskristallisiert haben, das aber un‐ verändert um dieselben Problemstellungen kreist.74 Gerade dieses Kontinuum hat Kielmanseggs Buch über die Volkssouveränität in einer analytischer Schärfe nachge‐ zeichnet, wie sie in der politikwissenschaftlichen Literatur ansonsten ihresgleichen sucht. Das größte Verdienst der Studie aber liegt zweifelsohne nicht in ihrer histori‐ schen Präzision, sondern eben darin, mit den identifizierten Fragen und ideenge‐ schichtlichen Antagonismen zugleich die ,Claims‘ abgesteckt zu haben, die auch noch für die zeitgenössische Demokratietheorie ausschlaggebend sind – vier Jahr‐ zehnte nach Erscheinen des Werks!

4. Fazit Laut Kielmansegg ist die ,Identitätskrise‘ der repräsentativen Demokratie solange nicht zu lösen, wie sie sich als „der zum System erhobene Widerstreit zweier mitein‐ ander unvereinbarer Prinzipien“ verstehe.75 Gleichzeitig räumt er allerdings selbst ein, dass die politische Ordnung der repräsentativen Demokratie „auf das Span‐ nungsverhältnis zweier Prinzipien gegründet ist“, nämlich der (unlösbaren) Span‐ nung zwischen Demokratie- und Amtsprinzip, die auch in ihrer praktischen „Ver‐ knüpfung“ „ständig neu deutlich gemacht werden“ müsse.76 In den „Bedingungen demokratischer Legitimität“ fördert Kielmansegg entspre‐ chend ein Verständnis der Demokratie, das sich entlang der Antinomie zwischen Volkssouveränität und Repräsentation bzw. zwischen kollektiver Entscheidungsge‐ walt und individuellen Rechten manifestiert.77 Die dort erwähnten Komponenten – die finale Argumentation nach dem Zweck statt eine kausale Argumentation über die Herkunft politischer Legitimität (I); die Rechtfertigung von begrenzter Herrschaft und Verfügungsgewalt (II); das Recht aller Bürger auf die Chance, als Subjekt (und nicht als Objekt) am Prozess der Politik teilzuhaben (III und IV); die Rechtmäßig‐ keit der Institutionen (V); die Verweigerung einer Entweder-Oder-Entscheidung im Hinblick auf die Input- und Output-Dimension der Demokratie (VI); schließlich die 73 74 75 76 77

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Vgl. ebd., S. 160. Ausführlich dazu Hidalgo 2014, S. 117-156, 255-271. Kielmansegg 2013, S. 41. Ebd., S. 67. Kielmansegg 1977, S. 259-267.

Akzeptanz eines offenen Spielraums, in welchem sich diese eher vagen Legitimitäts‐ bedingungen verwirklichen können (VII) – bilden allesamt Bausteine, welche die Legitimität der historisch gewachsenen Repräsentativverfassung versichert, ohne das Prinzip der Volkssouveränität/der Volksherrschaft im Gegenzug wirksam verab‐ schieden zu wollen. Das zentrale Ergebnis der Studie, dass die Volkssouveränität „allein“ nicht geeignet ist, um die Legitimität der Demokratie zu garantieren,78 wächst sich insofern zu der Einsicht aus, dass die Unlösbarkeit des Demokratiepro‐ blems womöglich den entscheidenden Schritt markiert, ihre eigentümliche Charakte‐ ristik zu begreifen. In einem späteren Beitrag hat Kielmansegg zusätzlich eine eigenspezifische ,Un‐ lösbarkeit‘ des Demokratieproblems auf EU-Ebene konstatiert. Als problematisch wird von ihm vor allem deklariert, dass es dort unverändert einer kollektiven Identi‐ tät sowie eines gesamteuropäischen politischen Diskurses ermangele, weshalb die EU derzeit „keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemein‐ schaft und nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft“ sei.79 Damit reiht er sich einerseits in die Gilde derjenigen ein, die auf vergleichbare Weise ein gravierendes Demokratiedefizit der Europäischen Union monieren.80 Auf der anderen Seite schimmert in Kielmanseggs Respekt für die generellen historischen Kontextbedin‐ gungen der Demokratie eine Position durch, die – anders als etwa bei Robert A. Dahl81 – von keiner prinzipiellen Begrenzung des demokratischen Raumes auszuge‐ hen scheint. Wenn sich schon die repräsentativen Demokratien, die sich in den mo‐ dernen Nationalstaaten Europas etablierten, im Vergleich zum Ideal direkter Volks‐ herrschaft in den griechischen Stadtstaaten der Antike kein normatives Defizit nach‐ sagen lassen müssen, dann müssen auch die gegenwärtigen, durch nichts zu beschö‐ nigenden empirischen Grenzen der Demokratie in Europa in punkto ,Volkssouverä‐ nität‘ und ,Repräsentation‘ nicht das Ende der Fahnenstange bedeuten. Wohin die Geschichte der Demokratie in Europa führt, ist allen Unkenrufen zum Trotz offen.

78 Ebd., S. 255. 79 Vgl. Kielmansegg 2003, S. 58. Ähnlich Kielmansegg 2009. 80 Zum Problem des strukturellen Mankos, dass in Europa nachweislich kein einheitliches Staats‐ volk existiert, das die Organe und Entscheidungsprozesse der EU vergleichbar demokratisch legitimieren könnte, wie dies in nationalen Demokratien der Fall ist, siehe z. B. Greven 2000. Weil die europäischen Politiker und Wähler sich in ihren Argumenten/ihrem Abstimmungsver‐ halten in Wahlen und Referenden daher unverändert auf nationale Interessen konzentrieren, ist auch das Europäische Parlament bislang eher als „Staatenvertretung“ und kaum als „Volksver‐ tretung“ anzusehen (vgl. Dreier 2006, S. 50). Sofern deswegen der politische Willensbildungs‐ prozess in den Mitgliedstaaten als Maßstab für die EU herangezogen wird, ist deren Demokra‐ tiedefizit trotz vorhandener demokratischer Strukturen wie den Wahlen zum Europäischen Par‐ lament als „gigantisch“ einzustufen (Dahl 1998, S. 115). Einen Überblick zu dieser seit Lan‐ gem schwelenden Debatte liefert Schmidt 2010, S. 399-411. 81 Vgl. Dahl 1998, S. 114ff.

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Tine Stein Menschenrechte und die Grenzen des demokratischen Verfassungsstaats – eine Auseinandersetzung mit Peter Graf Kielmanseggs Demokratietheorie vor dem Hintergrund der Flüchtlingskrise

„Der demokratische Verfassungsstaat ist kein Gebilde aus einem Guß. Seine Regeln gehorchen nicht einer bestimmten und nur einer Logik. Die Prinzipien, die in ihm Gestalt gewonnen haben, lassen sich nicht spannungsfrei verknüpfen.“1 Diese Er‐ kenntnis über den demokratischen Verfassungsstaat ist ein Schlüssel zu dem Werk Peter Graf Kielmanseggs, der in zahlreichen ideenhistorischen wie systematisch ori‐ entierten politiktheoretischen Studien immer wieder die spannungsvolle Balance herausgearbeitet hat, welche den demokratischen Verfassungsstaat als Typus politi‐ scher Ordnung wesentlich bestimmt – sei es die Spannung von Demokratieprinzip und Verfassungsprinzip oder sei es die Symbiose von Repräsentation und popular government, die die „Selbstregierung unter der Bedingung moderner Staatlichkeit erst möglich gemacht hat“.2 Dass wir überhaupt heute in der Politikwissenschaft in der Regel vom ‚demokratischen Verfassungsstaat‘ sprechen und nicht bloß von ‚De‐ mokratie‘, wenn wir westliche politische Systeme im Blick haben, dazu haben die demokratietheoretischen Schriften Graf Kielmanseggs ganz entscheidend beigetra‐ gen. Seit dem Buch Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen demo‐ kratischer Legitimität ist die an Demokratietheorie interessierte Leserschaft von ihm mit immer wieder neue Facetten aufgreifenden Analysen versorgt worden. Dadurch hat das in Gefolge von 1968 bestimmende Paradigma der Demokratie als Identitäts‐ demokratie und die damit verbundene politische Forderung nach Demokratisierung an Glanz verloren. Insbesondere die Abhandlung ‚Quadratur des Zirkels‘ als ideen‐ geschichtliche und systematische Untersuchung der Vorzugswürdigkeit der repräsen‐ tativen Demokratie, wonach Demokratie nicht als die Realisierung von Selbstbe‐ stimmung zu verstehen ist, sondern Mitbestimmung heißt, im Sinne des gleichen Rechts auf Regelung der öffentlichen Angelegenheiten und dass sich dieses Recht in dem Zusammenspiel von demokratisch gewählten Amtsinhabern und Repräsentier‐ ten realisiert, hat dazu einiges beigetragen.3 Die Repräsentation ist es, die in der De‐ 1 Kielmansegg 1988, S. 411. 2 Kielmansegg 2016a, S. 8 f. FN 6. 3 Kielmansegg 1985, S. 9-42.

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mokratie die Idee institutionalisiert, dass die öffentliche Gewalt als rechtlich einge‐ hegte, zeitlich befristete, gemeinwohlgebundene und rechenschaftspflichtige Macht ausgeübt wird. Dabei ist Graf Kielmansegg weit davon entfernt, ein unkritischer Apologet dieser Ordnung zu sein. Gerade in den achtziger Jahren hat es manche Erklärer des demo‐ kratischen Verfassungsstaat gegeben, die unter dem Eindruck von Bürgerinitiativen und einer neu aufkommenden Partei in diesem Ordnungstypus das Mehrheitsprinzip gegen dissentierende Minderheiten ganz besonders stark gemacht haben – diese Tex‐ te lesen wir heute im Licht der zeitgenössischen populistischen Bewegungen mit ihrem fehlgeleiteten Anspruch, die einzigen Vertreter der wahren Mehrheit, des wah‐ ren Volkes zu sein, anders. Dagegen hat Graf Kielmansegg immer schon darauf auf‐ merksam gemacht, dass diese Ordnung nicht durch das Prisma des einen Prinzips zu sehen ist, insbesondere nicht das der Volkssouveränität – das, wie er gezeigt hat, eine unzulängliche Antwort auf die Frage nach der Legitimitätsdoktrin der Demo‐ kratie bietet, wenn man sie denn als Transformation individueller Selbstbestimmung in ein Kollektivsubjekt deutet. Die Anhänger der identitären Demokratie befinden sich hier in einer denkwürdigen Übereinstimmung mit den zeitgenössischen populis‐ tischen Bewegungen. Beide Richtungen wollen nicht wahrhaben, dass im demokra‐ tischen Verfassungsstaat als komplexe Ordnung gerade Differenz institutionalisiert ist, indem sie das eine Volk „in Repräsentation und Repräsentierte auseinandertreten lässt“, wie Peter Graf Kielmansegg jüngst in seinem bevorzugten Publikationsorgan für Essays zur Analyse des Populismus ausgeführt hat und dass sie „an die Stelle des einen, mit sich selbst einigen Volkes die Anerkennung der Vielheit der Gruppen, der Weltanschauungen und der Interessen setzt, in die das eine Volk sich gliedert“.4 Graf Kielmansegg hat auch auf die Grenzen dieser Ordnung aufmerksam ge‐ macht: beispielsweise die Grenzen der Problemlösungsfähigkeit, die mit den Funkti‐ onsbedingungen der Wettbewerbsdemokratie einhergehen, mit ihrer strukturellen Privilegierung von kurzfristigen gegenüber langfristigen und allgemeinen Interessen wie denen des Umweltschutzes.5 Er hat auch sehr grundsätzlich auf die Grenzen der Freiheitsgarantie von Institutionen hingewiesen, wenn diese nicht von Personen ge‐ staltet werden, die ein Bewusstsein ihres Amtes haben und entsprechend der ethi‐ schen Verpflichtung, die ihnen das Amt auferlegt, handeln – Demokratie braucht Tu‐ genden, wie es in dem Gemeinsamen Wort von EKD und Bischofskonferenz heißt, dessen Mitautor er gewesen ist, und gerade die Repräsentanten bedürften eines Ethos der Wahrhaftigkeit, der Ernsthaftigkeit und des Mutes.6 Auch wenn er also keinen Zweifel an der vergleichsweise normativen Überlegenheit des demokrati‐ schen Verfassungsstaat aufkommen lässt, so heißt dies für ihn andererseits nicht, 4 Kielmansegg 2017, siehe auch ders. 2016b. 5 Kielmansegg 1980, S. 69-92. 6 Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland/ Deutsche Bischofskonferenz 2006, S. 26.

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dass es nicht zugleich Grenzen dieser Ordnungsform zu gewärtigen gibt – ja, dass es gerade gilt, die Grenzen des Legitimitätsanspruchs, die Grenzen der Leistungsfähig‐ keit und die Grenzen der Reichweite des Handlungsanspruchs zu beachten, um den demokratischen Verfassungsstaat als freiheitliche und demokratische Ordnung erhal‐ ten zu können. Das soll im folgenden anhand der Flüchtlingskrise verdeutlicht werden, zu der sich Graf Kielmansegg – wie im übrigen zu vielen anderen relevanten Themen der Zeit – als public intellectual mehrfach geäußert hat. Dazu wird zunächst einführend die Spannung zwischen universalen Menschenrechten und partikularen Bürgerrech‐ ten kurz gekennzeichnet.

1. Das Paradox Es kommt ja nicht oft vor, dass eine radikale Forderung, die in dem geschützten Raum der akademischen politischen Philosophie und Theorie geäußert wird, eine Entsprechung in der politischen Praxis findet. Innerhalb eines Jahres sind rund eine Million Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland eingereist – im Herbst 2015 waren es täglich mehrere tausende Menschen, die über faktisch offene Grenzen in die Bundesrepublik kamen. Eine Politik der offenen Grenzen entspricht der Position des in Toronto lehrenden Politiktheoretikers Joseph Carens. Carens argumentiert, dass die durch kontrollierte Staatsgrenzen bewirkte Exklusion von Menschen, die in ein anderes Land einreisen und dort auch bleiben möchten, nicht mit den Menschen‐ rechten vereinbar sei.7 Das ist eine in der Migrationsethik häufig zu vernehmende Argumentation: Menschenrechte begründen nicht nur für Menschen in Not einen Anspruch auf Hilfe, sondern Freiheit und Gleichheit der Menschen begründen auch das universelle Recht auf globale Bewegungsfreiheit. Von anderer Seite hat die Poli‐ tik der offenen Grenzen genau entgegengesetzt zu einer scharfen Kritik geführt. Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo di Fabio hat in einem Gutachten für die bayerische Landesregierung der Regierung Merkel vorgeworfen, mit dem Verzicht auf Grenzkontrollen im Grunde die Bedingung der Staatlichkeit preisgegeben zu ha‐ ben, was zudem nicht mit dem Demokratieprinzip vereinbar sei, da das Staatsvolk hier keine Gelegenheit hatte, über die Bevölkerungszusammensetzung zu entschei‐ den. Peter Graf Kielmansegg hat hierzu ein anthropologisches und ein demokratie‐ theoretisches Argument beigesteuert: das Bedürfnis nach Grenzen, so hat er in einem Beitrag für die FAZ argumentiert, bildet eine tief verwurzelte anthropologi‐ sche Konstante, das die Politik jedenfalls nicht mit Verachtung oder Disqualifizie‐

7 Carens 1987, S. 251-273.

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rung als Dunkeldeutschland strafen darf, was im Ergebnis nur den Populismus be‐ feuert.8 Tritt in der Flüchtlingskrise ein Widerspruch zwischen universalen Menschen‐ rechten und partikularen Bürgerrechten zu Tage, oder liegt hier ein der modernen li‐ beral-demokratischen Tradition immer schon enthaltener begrifflicher Zusammen‐ hang vor, der allerdings zu einer dramatischen internen Herausforderung für die kon‐ stitutionelle Demokratie werden kann?9 Ist hier gar ein Paradox für den demokrati‐ schen Verfassungsstaat als Typus politischer Ordnung zu erkennen, der ja hinsicht‐ lich seines Legitimationsgefüges sowohl auf die Menschenrechte als auch auf die Souveränität des Volkes zurückgeführt werden kann, wie Graf Kielmansegg gezeigt hat? Seyla Benhabib spricht in diesem Zusammenhang von einer dialektischen Spannung zwischen universellen Menschenrechten und Staatsbürgerrechten, die ge‐ genwärtig nicht nur an den Grenzen des „demos“ (wie es bei ihr mehrdeutig heißt) sichtbar werde.10 In einer theoretischen Untersuchung dient die Analyse von Paradoxien dem tiefe‐ ren Verständnis des untersuchten Gegenstands beziehungsweise Konzepts, und diese Untersuchung kann im besten Fall dazu führen, den vermuteten Widerspruch aufzu‐ lösen, mindestens die Spannung transparent werden zu lassen. Dazu soll nun in einem ersten Schritt die menschenrechtlich orientierte Position für offene Grenzen und eine weitgehende Aufnahme von Flüchtlingen und MigrantInnen mit Argumen‐ ten aus der Migrationsethik vorgestellt werden. Dann wird die Position der unhinter‐ gehbaren Notwendigkeit staatlicher Grenzen und damit verbunden der Exklusivität und Partikularität der demokratischen Bürgerschaft geprüft. Der letzte Schritt wid‐ met sich dann der Vermittlung mit Blick auf die grundgesetzliche Verfassungsord‐ nung und der politischen Praxis des Umgangs mit den ankommenden Flüchtlingen in der Bundesrepublik – einem Paradebeispiel für den Ordnungstypus des demokra‐ tischen Verfassungsstaats. Zunächst also zu der menschenrechtlichen Position als Argumentation für Hilfspflichten und offene Grenzen.

2. Menschenrechte als Begründung für offene Grenzen Menschenrechten ist ein doppelter Geltungsanspruch eigen: ein moralischer und ein juridischer Anspruch auf Geltung.11 Der juridische Geltungsanspruch richtet sich auf die Staatenwelt. Hier verleihen die Menschenrechte bekanntlich zum einen, in Ge‐ stalt ihrer Positivierung in nationalstaatlichen Verfassungen als Grundrechte, den In‐ 8 9 10 11

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Kielmansegg 2017. Wellmer 1993, S. 74. Vgl. Benhabib 2016, S. 10. In den folgenden zwei Absätzen greife ich auf Ausführungen zurück, die ich ausführlich in Stein 2015 veröffentlicht habe.

dividuen Rechte, die sie gegenüber der jeweiligen Staatsgewalt geltend machen kön‐ nen. Zum anderen schlagen sich Menschenrechte im Völkerrecht und auch in regio‐ nalrechtlichen Verträgen wie der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) nieder: die Adressaten des rechtlichen Anspruchs sind auch hier die Staaten, nämlich die jeweiligen Signatarstaaten, die sich verpflichten, die Rechte, die in den Pakten beziehungsweise Verträgen kodifiziert sind, in ihrem Herrschaftsbereich zu gewähr‐ leisten. Mit der Ratifizierung als einer eben völkerrechtlich und nicht bloß verfas‐ sungsrechtlich eingegangenen Bindung erklärt sich ein Staat damit einverstanden, dass die Gewährleistung der Menschenrechte in seinem Herrschaftsbereich auch zu einer Angelegenheit werden kann, bei der „von außerhalb kommende Kritik seiner Rechtspraxis nicht mehr unter Berufung auf seine ausschließliche Eigenzuständig‐ keit für seine inneren Angelegenheiten abwehren.“12 Die Menschenrechte und die völkerrechtliche Verpflichtung auf sie relativieren mithin das staatliche Souveräni‐ tätsprinzip. Der moralische Geltungsanspruch der Menschenrechte ist von anderer Art – die für juridische Rechte typische dreistellige Relation zwischen dem Rechtsträger als Berechtigtem, dem Adressaten, der durch das Recht verpflichtet wird, und dem Staat als Garanten dieser Rechtsbeziehung, lässt sich zwar hier auch rekonstruieren: jeder einzelne Mensch ist Berechtigter und zugleich gegenüber dem Anderen Verpflichte‐ ter und der Garant dieser Beziehung ist die Menschheit als Gemeinschaft. Die Menschheit ist Garant in dem Sinne, dass sie den notwendigen Dritten darstellt, den notwendig außerhalb dieser Beziehung liegenden Maßstab, um die moralische Wechselseitigkeit einzulösen.13 Die Menschheit ist aber nur in einem moralisch nor‐ mativen Sinn ein Faktor; sie ist keine Garantiemacht wie der Staat es sein kann, da sie bekanntlich nicht über eine institutionell handlungsfähige Struktur verfügt. Das heißt nun wiederum nicht, dass der moralische Geltungsanspruch der Menschen‐ rechte vollkommen bedeutungslos wäre, denn je stärker die Idee der Menschheit als einer weltumspannenden Gemeinschaft in den Auffassungen, Solidaritätsgefühlen und sozialen Praktiken der Menschen verankert ist, desto größer ist die Chance, dass sich der Geltungsanspruch der Menschenrechte auch praktisch realisieren kann. Die‐ ser Zusammenhang ist schon in Kants nicht nur in dieser Hinsicht bahnbrechenden Schrift ‚Zum ewigen Frieden’ thematisch relevant, in der er die Idee eines Weltbür‐ gerrechts entfaltet und davon ausgeht, dass es ein gemeinschaftliches Band zwischen den Menschen gibt, das die „Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen“

12 Preuß 2004, S. 615. 13 In den Worten von Ulrich K. Preuß: ohne den „diese beiden Menschen keine Beziehung der moralischen Wechselseitigkeit eingehen können, weil sie sich auf keinen außerhalb dieser Be‐ ziehung existenten Maßstab einigen können“ (ebd.).

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fühlen lässt.14 Es bedurfte zweier Weltkriege und des Zivilisationsbruchs, den die Nationalsozialisten mit dem Holocaust begangen haben, bis dann in der Allgemei‐ nen Erklärung der Menschenrechte dieses Verständnis der einen Menschheit, deren Angehörige gleiche und freie Menschen sind, sich auch in einem politisch konsen‐ tierten Text niedergeschlagen hat. Nicht nur heißt es in Artikel 1 so einmalig formu‐ liert: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ In der Präambel wird zudem auch explizit von der Gemeinschaft der Menschen und dem Gewissen der Menschheit gesprochen. Vor diesem Hintergrund des Geltungsanspruchs der Menschenrechte auf Aner‐ kennung gleicher Rechte wird in der Migrationsethik die Exklusivität der Staatsbür‐ gerrechte und die Zurückweisung von MigrantInnen durch kontrollierte Staatsgren‐ zen als eine Art zeitgenössisches Feudalsystem kritisiert. So heißt es bei dem schon zitierten Joseph Carens: „In a world of relatively closed borders like ours, citi‐ zenship is an inherited status and a source of privilege. Being born a citizen of a rich country in North America or Europe is a lot like being born into the nobility in the Middle Ages.”15 Kaum eine Tatsache ist für die Lebenschancen und das Wohlerge‐ hen so vorentscheidend wie die Frage, wo man geboren wird. Ayelet Shacher hat für dieses das weitere Leben prägende Schicksal der Geburt das eingängige Bild der Birthright-Lottery geprägt, wobei sie allerdings anders als Carens keine open-bor‐ der-Position vertritt und auch nicht für einen Weltbürgerrechtsstatus votiert, wohl aber für die Notwendigkeit einer gerechtigkeitstheoretischen Überprüfung staatlicher Grenzregime und einen wie auch immer zu gestaltenden „international welfarism“.16 Die Intuition einer grundlegenden Ungerechtigkeit kann man auch mit Hilfe des Rawls’schen Gedankenexperiment des Urzustands theoretisch einfangen, denn be‐ zieht man diesen auf alle Individuen in einer Weltgesellschaft, wird ein Individuum unter dem Schleier des Nichtwissens kaum strikte Staatsgrenzen als eine gerechte institutionelle Struktur für den Weltgesellschaftsvertrag befürworten, wenn man das 14 „Da es nun mit der unter den Völkern der Erde einmal durchgängig überhand genommenen (engeren oder weiteren) Gemeinschaft so weit gekommen ist, daß die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird: so ist die Idee eines Weltbürgerrechts keine phan‐ tastische und überspannte Vorstellungsart des Rechts, sondern eine notwendige Ergänzung des ungeschriebenen Kodex, sowohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Menschenrech‐ te überhaupt, und so zum ewigen Frieden, zu dem man sich in der kontinuierlichen Annähe‐ rung zu befinden nur unter dieser Bedingung schmeicheln darf.“ (Kant 1977, S. 215). 15 “These advantages and disadvantages are intimately linked to the restrictions on mobility that are characteristic of the modern state system, although the deepest problem is the vast inequali‐ ty between states that makes so many people want to move. This is not the natural order of things. It is a set of social arrangements that human beings have constructed and that they maintain.” (Gutting/ Carens 2014). 16 “Unlike advocates of world citizenship who seek to abolish bounded membership altogether, I believe that greater promise lies in diminishing the extreme inequities in life prospects that are presently attached to ascribed membership status under the existing birthright regime.” (Shachar 2009, S. 22.).

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Risiko vor Augen hat, in einem Staat geboren zu werden, in dem noch nicht einmal die basalen Grundbedürfnisse befriedigt werden. Vielmehr wird man ein Recht auf globale Bewegungsfreiheit befürworten, wie es Andreas Cassee in seinem kosmopo‐ litischen Kontraktualismus argumentativ ausbuchstabiert hat.17 Und schließlich, um dieser sehr knappen Übersicht von Positionen noch eine reli‐ giös begründete hinzuzufügen, mit der eine kritische Sicht auf das gegenwärtige System der auf exkludierenden Grenzen basierenden Staatenwelt verbunden werden kann, läßt sich mit Papst Franziskus auch argumentieren, dass die universelle Gleichheit aller Menschen impliziert, dass die Erde und ihre Früchte der Menschheit als gemeinschaftliches Erbe gegeben sind. Mit diesem Argument hat bekanntlich be‐ reits John Locke in seiner ersten Abhandlung ‚Über die Regierung’ die feudalisti‐ sche Eigentumstheorie Robert Filmers zurückgewiesen und ausgeführt, dass Gott Adam, dem Menschen, stellvertretend für alle anderen, die Erde als Eigentum gege‐ ben habe und keinesfalls einem privilegierten Geschlecht. Die aktuellen Stellung‐ nahmen des Papstes in der Flüchtlingskrise zeugen von dieser Position, wenn Fran‐ ziskus etwa betont, dass die „die gerechte Verteilung der Früchte der Erde und der menschlichen Arbeit (...) nicht nur Philanthropie, sondern eine moralische Pflicht (ist)“.18 Menschenrechtliche, gerechtigkeitstheoretische und auch religiöse Auffangposi‐ tionen bilden also heute den moralphilosophischen Hintergrund in der Flüchtlingsde‐ batte. Die Forderungen reichen von dem Ruf nach offenen Grenzen aufgrund eines Menschenrechts auf Bewegungsfreiheit über die Zurverfügungstellung umfassender Leistungen in den Flüchtlingslagern an den Rändern der Bürgerkriegsgebiete auf‐ grund moralisch zwingender Hilfspflichten bis zu Forderungen nach einem grundle‐ gend anderen Weltsicherheits- und Weltwirtschaftssystem aufgrund von internatio‐ nalen Gerechtigkeitsvorstellungen. Peter Graf Kielmansegg hat in einem sehr kontrovers aufgenommenen Artikel, in dem er auf Navid Kermani geantwortet hat, zwar den Aufschrei anerkannt, den das Sterben der Flüchtlinge im Mittelmeer auslöst, aber zugleich auch gesagt, dass der „Aufschrei moralischer Empörung über Europas Versagen angesichts der Flücht‐ lingstragödie (…) als Empörungsschrei nur möglich ist, weil er es sich erspart, zu Ende zu denken, was zu Ende gedacht werden muss“ und er kennzeichnet diese Po‐ sition als Gesinnungsethik.19 Was ist damit gemeint? Das gesinnungsethische Moment kann darin ausgemacht werden, dass die unter Umständen politisch problematischen Folgen der moralischen Folgerungen nicht miteinbezogen und gewichtet werden.20 Vielmehr wird das ausreichende Vorhanden‐ 17 18 19 20

Cassee 2016. Franziskus 2016. Kielmansegg 2015. Vgl. ausführlich zur Kritik der gesinnungsethischen Grundhaltung vieler migrationsethischer Beiträge Ott 2016.

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sein von Ressourcen – an ökonomischen Ressourcen, an Solidarressourcen gegen‐ über Nicht-Staatsangehörigen, an Infrastrukturleistungen und so weiter – schlicht unterstellt, um eine Politik offener Grenzen zu rechtfertigen und einer Sichtweise der Legitimität von Grenzen mit einem Rassismus-Vorwurf gekontert. Das hat dann in der Tat ein gesinnungsethisches Moment: Moral trumpft so einfach nur gegenüber Politik auf. Aber auf der anderen Seite muss der moralische Geltungsanspruch der Menschenrechte doch auch politisch für den demokratischen Verfassungsstaat be‐ deutungsvoll sein. Denn so wie es für diesen eine ‚Grammatik der Freiheit’ gibt,21 so sind Menschenrechte und die sie begründende Menschenwürde so etwas wie die ge‐ meinsame Sprache der Menschheit, auf die sich die Staatengemeinschaft nach der Katastrophe des 20. Jahrhunderts politisch verständigt hat. Diese Sprache ist univer‐ sal, weil mit ihr der Mensch als Person verstanden wird, von der ein unbedingter Anspruch auf Anerkennung ihrer Würde ausgeht. Das schlägt sich im Legitimitäts‐ gefüge des demokratischen Verfassungsstaats auch nieder. Graf Kielmansegg hat dies in Anlehnung an Kant in seinem Buch über Volkssouveränität in einer Prämisse pointiert formuliert: „Legitim ist der Staat, der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt.“22 Dann folgt daraus eine un‐ hintergehbare normative Verpflichtung auch für die partikularen politischen Ge‐ meinschaften der Staatenwelt, damit Menschenrechte nicht nur Rhetorik sind. Und dann sind die Menschenrechte für die Politik doch Trümpfe. Auf der anderen Seite impliziert jedes aus moralphilosophischer Perspektive noch so gut begründete Sollen ein Können. Dies gilt für die Individualethik wie für die Gerechtigkeitstheorie, die kollektive Akteure bindet: wer nicht kann, ist auch nicht verpflichtet. Wie man das Vorhandensein der Faktoren beurteilt, die im Ergebnis ein Können ermöglichen, basiert auf empirischen Einschätzungen. Aus einer theoreti‐ schen Perspektive können allerdings immerhin diese Faktoren in einem ersten Schritt für die empirische Analyse herausdestilliert werden. Damit kommt die Argu‐ mentation zu der Frage, inwiefern das hier geforderte Können, nämlich den Ansprü‐ chen, die aus universellen Rechten erwachsen, zu entsprechen, wesentlich auf der Funktionsbedingung von staatlichen Grenzziehungen aufruht – Grenzen räumlicher Art, die wiederum politische Grenzen erst ermöglichen.

3. Zur Legitimität der Grenzen des demokratischen Verfassungsstaats Die Behauptung der Legitimität von Grenzen liegt im Kern in der Aussage, dass mit ihrer Hilfe die Existenzbedingungen einer politischen Einheit gesichert werden. Sie

21 Kielmansegg 2013. 22 Kielmansegg 1977, S. 258.

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verhelfen dazu, Inklusion und Exklusion zu definieren.23 Das ist von Carl Schmitts Verständnis des Politischen als einer exklusiven, auf das Grundkriterium der Fähig‐ keit einer Freund-Feind-Bestimmung aufruhenden Gemeinschaft zu unterscheiden. Es geht vielmehr um die Sicherung von Staatlichkeit. Für den modernen Staat ist die Staatsgrenze das konstituierende Merkmal einer auf Territorialität, Monopolisierung der Gewaltsamkeit und einer definierten Gemeinschaft basierenden politischen Ord‐ nung, in der die formalen Zurechnungskriterien der Personalität und Territorialität verklammert wurden. In den Worten von Klaus Gärditz: „Der moderne Staat als ter‐ ritoriale Macht- und Entscheidungseinheit verklammert ein personales Substrat (Staatsvolk) auf einem stabilen Herrschaftsraum (Staatsgebiet) durch wirksame Herrschaft (Staatsgewalt), verbindet also die formalen Zurechnungskriterien der Per‐ sonalität und Territorialität“.24 Die Funktion der Grenze besteht dann darin, die staatliche Souveränität nach innen und außen zu markieren.25 Grenzen sind danach nicht nur in territorialer Dimension zu verstehen, sondern stehen für den Staat als Container, der seinen Angehörigen Schutz durch Ordnung, als Wohlfahrtsstaat sozia‐ le Sicherheit und als demokratischer Verfassungsstaat Freiheit und politische Selbst‐ bestimmung garantiert. Man kann hier mit Herfried und Marina Münkler von einer Grenzbündelung sprechen, von der Grenze als einer Codierung des Raumes in drei‐ facher Hinsicht: „Sie markierte den Geltungsbereich einer Rechtsordnung mit politi‐ schen Loyalitätserwartungen, den einer Wirtschaftsordnung und den der nationalen Zugehörigkeit.“26 In diesem idealtypischen Modell fusioniert also in den Worten von Ulrich K. Preuß „geographischer Raum, politisches Herrschaftsgebiet, ökonomi‐ scher Binnenmarkt und kulturelle Heimat zu einem geschlossenen Gehäuse“.27 Die anspruchsvolle Form des demokratischen Verfassungsstaates ist dabei in be‐ sonderer Weise auf klar umrissene Zugehörigkeitskriterien angewiesen, die es den Mitgliedern des politischen Verbands überhaupt ermöglichen, sich einander als zu‐ gehörig zu erkennen, oder, in Anlehnung an Ernst-Wolfgang Böckenförde, als relativ homogene politische Gemeinschaft verstehen zu können. Er versteht unter Homoge‐ nität einen „soziopsychologischen Zustand, in welchem die vorhandenen politi‐ schen, ökonomischen, sozialen, auch kulturellen Gegensätzlichkeiten und Interessen

23 24 25 26

Gosewinkel 2016, S. 630ff. Gärditz 2016, S. 105. Vgl. Preuß 2017, S. 62. Münkler/ Münkler 2016, S. 50; Herfried Münkler spricht in Bezug auf die Konzentration ver‐ schiedener Aufgaben von Grenzbündelung im modernen Staat und rekonstruiert, wie unter dem Eindruck der französischen Revolution im 19. Jahrhundert sich der Staat als Nationalstaat herausgebildet hat, nämlich indem die Grenzen des Staates mit denen der Nation durch kriege‐ rische Grenzverschiebungen und einer Politik der inneren Nationalisierung von Bevölkerungs‐ gruppen zur Deckung gebracht worden seien, siehe Münkler 2007. 27 Preuß 2017, S. 62.

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durch ein gemeinsames Wir-Bewußtsein, einen sich aktualisierenden Gemein‐ schaftswillen gebunden erscheinen.“28 Wenn man das betont, kann es zu Mißverständnissen kommen. Ist damit etwa die Idee der Nation in den kulturellen Grenzen der ‚autoritären Hochphase des moder‐ nen Nationalstaats’ (Dieter Gosewinkel) gemeint, gegründet auf Herkunft, Abstam‐ mung oder Ethnie? Bei Böckenförde gerade nicht, denn der Nationalstaat ist ein his‐ torisch kontingentes Produkt der west- und mitteleuropäischen Staatswerdung – kei‐ nesfalls kann dessen Entstehungsbedingung demokratietheoretisch verallgemeinert werden, erst recht nicht im Sinne einer sozio-kulturell-substanzhaft bestimmten Wunschvorstellung vom Volk als einem naturwüchsigen Organismus. Homogenität bei Böckenförde hebt nicht auf eine irgendwie geartete ethnische Gleichartigkeit ab und ist auch kein Gegenbegriff zu Pluralismus. Vielmehr bedarf die Demokratie als einer ihrer Funktionsvoraussetzungen, dass in der sie tragenden Bürgerschaft eine – in den Worten Adolf Arndts, den Böckenförde häufig zitiert – Einigkeit über das Unabstimmbare herrscht.29 Dieser Aspekt wird auch von Peter Graf Kielmansegg betont, wenn er ausführt, dass gerade freiheitliche Gemeinwesen darauf angewiesen sind, dass „ihre Bürgerschaft durch das Bewußtsein einer gemeinsamen politischen Identität zusammengehalten wird“.30 Dieser sense of belonging, dieses Wir-Bewußt‐ sein, motiviert dann nicht nur das Gefühl der Verantwortlichkeit des Einzelnen für das Gemeinwesen, sondern sichert auch die Akzeptanz der Mehrheitsentscheidungen durch die Minderheit sowie den reziproken Respekt der Mehrheit vor den Rechten der Minderheiten und schließlich drittens die Übernahme von Solidarpflichten auch in materieller Hinsicht.31 Die Ressource der Solidarität hängt mit der Bedingung eines wechselseitigen Ver‐ trauens in der Bürgerschaft zusammen. Gerade in den Demokratien, die mit hohen Sozialleistungen und Umverteilungsquoten einhergehen, die zudem unabhängig der Staatsangehörigkeit auch an jene ausgezahlt werden, denen ein Gebietszugang ge‐ währt wird, werden die Solidarpflichten nur dann konfliktfrei erfüllt werden, wenn diejenigen, die davon profitieren, langfristig in die auf Reziprozität angelegte Ge‐ meinschaft aufgenommen werden. Nun zahlen zwar auch Nicht-Staatsangehörige, wenn sie im Arbeitsmarkt integriert sind, Steuern und Beiträge in die Sozialversi‐ cherungen und damit in den Sozialvertrag ein. Aber demokratietheoretisch begrün‐ 28 Böckenförde 2004, S. 473. 29 Siehe etwa Gosewinkel/ Böckenförde 2011, S. 477. Die Frage, aus welchen Quellen dieses Ge‐ fühl der Gemeinschaftlichkeit sich jeweils konkret speist, ist letztlich durch eine empirische Rekonstruktion der Faktoren, die sich in einer spezifischen Demokratie diesbezüglich als rele‐ vant erwiesen haben, zu beantworten; diese Faktoren setzen sich mehr oder weniger aus einem je unterschiedlich zusammengesetzten Mix aus Bürgerbewusstsein, Erinnerungsgemeinschaft, Kultur, sozialer Praxis, Sprachgemeinschaft/en und gerade auch einer aus Konflikt und Plurali‐ tät sich speisenden Gemeinschaftsidentität zusammen. 30 Kielmansegg 2013, S. 51. 31 Vgl. ebd.

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det der dauerhafte Wohnsitz ein Recht auf Mitgliedschaft in der Bürgerschaft – die Adressaten des Rechts müssen langfristig gesehen auch seine Autoren sein. Klaus Gärditz spricht hier von einem demokratischen spill-over der Gebietszulassung: „Sind nämlich alle Menschen, denen auf unbestimmte Zeit Gebietszugang gewährt wird, potentielle Neustaatsbürgerinnen und -bürger, geht es beim Gebietszugang um demokratiepolitisch wesentliche Fragen“, welche im politischen Raum in einem de‐ mokratischen Prozeß mit öffentlicher Diskussion entschieden werden müssen – be‐ kanntlich etwas, für das die Kanzlerin unter dem Druck der Ereignisse meinte keine Zeit zu haben.32 Ulrich Di Fabio geht über den Vorwurf, dass keine demokratisch-politische De‐ batte im Parlament stattgefunden hat, noch hinaus. Die faktische Politik der Grenz‐ öffnung durch die Bundesregierung hat die grundlegenden Bedingungen demokrati‐ scher Staatlichkeit nicht beachtet, so der Vorwurf des ehemaligen Bundesverfas‐ sungsrichters: „Kann ein Staat die massenhafte Einreise von Menschen in sein Terri‐ torium nicht mehr kontrollieren, ist ebenfalls seine Staatlichkeit in Gefahr, schon weil das Staatsvolk und seine für es handelnden Organe (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) Gefahr laufen, ihre personelle und territoriale Schutzverantwortung zu überspannen und die Funktionsfähigkeit als sozialer Rechtsstaat zu verlieren.“33 Auch wenn man die Bundesregierung nicht wie Ulrich di Fabio dafür kritisiert, die staatliche Gemeinschaft mit der Politik offener Grenzen grundlegend überlastet zu haben, muss man doch analysieren, was der tiefere Grund gewesen ist, dass ne‐ ben der Willkommenskultur und dem Engagement der Zivilgesellschaft so viele Menschen die Aufnahme von Flüchtlingen abgelehnt haben, obwohl sie selbst wo‐ möglich gar keine Einschränkungen in ihrem Alltag durch belegte Turnhallen und andere Unannehmlichkeiten mehr erlebt haben mögen oder überhaupt je einen Flüchtling zu Gesicht bekommen haben. Gewiss: aus sozialpsychologischer Per‐ spektive kann angeführt werden, dass es Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in modernen Gesellschaften immer gibt. Aber nicht alle, die für eine Begrenzung der Zugangs sind, sind Rassisten. Analytisch schärfer ist in sozialwissenschaftlicher Per‐ spektive vielmehr die folgende Überlegung, die Peter Graf Kielmansegg vorgetragen hat: die wahrgenommene Fremdheit der Hinzukommenden löst Angst und Unsicher‐ heit aus, weil hier ein Kontrollverlust durch Entgrenzung befürchtet wird.34 Dieser speist sich nicht allein aus der Öffnung von Staatsgrenzen, sondern gerade aus der Wahrnehmung des Zerfalls der Grenzbündelung im Zuge der Globalisierung, wenn „Territorium, politischer Herrschaftsraum und damit demokratische Selbstbestim‐ mung, ökonomische Handlungssphäre und kulturelle Heimat (...) zunehmend ausein‐

32 Gärditz 2016, S. 110. 33 di Fabio 2016, S. 52. 34 Kielmansegg 2017.

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ander (fallen)“,35 wie auch Ulrich K. Preuß analysiert hat. Der EU kommt eine Vor‐ reiterrolle zu, da mit der Durchsetzung des Binnenmarktes in der EU bereits ein Pro‐ zess der Deterritorialisierung eingesetzt hat, der den Nationalstaat in grundlegender Weise verändert hat und der von vielen Bürgern als politischer Kontrollverlust erlebt wird, im übrigen nicht nur in Deutschland. Die beiden wichtigsten Slogans der BREXIT-Befürworter waren „We want our country back“ und „Take back con‐ trol“.36 Die EU hatte nach der Phase der Nationalisierung und nationalen Segregati‐ on im Modell des container-Staats eine historische Wende eingeleitet und mit ihrer einzigartigen Konstruktion eines gemeinsamen Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts auf Grenzkontrollen verzichtet und sogar mit der Einführung des kommunalen Wahlrechts für Unionsbürger den für unlösbar gehaltenen Zusammen‐ hang von nationaler Staatsbürgerschaft und demokratischem Wahlrecht gelockert. Die Außengrenzen der EU wurden damit in gewisser Weise zu den neuen Außen‐ grenzen eines jeden einzelnen Mitgliedsstaats.37 Aber die politischen Mechanismen, um die damit verbundenen Implikationen, vor allem eine faire Kostenverteilung, in gemeinsam getragene Kompromisse zu überführen, haben sich als nicht belastbar genug erwiesen. Wie kann zwischen diesen beiden Positionen: der menschenrechtlich orientierten Position für tendenziell offene Grenzen oder doch mindestens für echte Hilfestellun‐ gen gegenüber Flüchtlingen einerseits und der Notwendigkeit staatlicher Grenzen und damit verbunden der Exklusivität demokratischer Bürgerschaft andererseits eine Vermittlung versucht werden? Das soll in einem letzten Schritt mit Blick auf die grundgesetzliche Verfassungsordnung geschehen.

4. Bekenntnis zu den Menschenrechten im Grundgesetz und der Umgang mit Flüchtlingen Tatsächlich kann man im Grundgesetz einen Brückenschlag zwischen universellen Menschenrechten und demokratischen Bürgerrechten als den beiden hier gegenüber‐ gestellten Aspekten erkennen. Als grundlegendes Merkmal einer demokratischen Republik wird festgehalten, dass das Volk sich diese Verfassung gegeben hat, dass es 35 Preuß 2017, S. 63. 36 Vgl. dazu die Einschätzung des Kolumnisten der New York Times, Traub 2017: „The answer to xenophobia cannot be xenophilia. For mobile, prosperous, worldly people, the cherishing of di‐ versity is a cardinal virtue; we dote on difference. That’s simply not true for many people who can’t choose where to live, or who prefer the familiar coordinates of their life. That was the bitter lesson that British cosmopolites learned from Brexit. If the answer is to insist that the arrival of vast numbers of new people on our doorstep is an unmixed blessing, and that those who believe otherwise are Neanderthals, then we leave the field wide open to Donald J. Trump and Geert Wilders and Marine Le Pen.”. 37 Vgl. Preuß 2017, S. 60.

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die Quelle der Staatsgewalt ist und diese – durch beauftragte demokratische Institu‐ tionen – selbst ausübt. Als Mitglieder des Volkes gelten diejenigen, die über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen; ihnen kommt der volle Katalog der Grund‐ rechte zu. Die Bedingungen der Zugehörigkeit knüpfen hier nicht an Ethnie oder Kultur an, sondern sind rechtlich definiert: die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten Kinder deutscher Eltern und weitere Personen auf einen Einbürgerungsantrag hin, wobei für den Rechtsanspruch auf Einbürgerung die Schwelle in der Vergangenheit erheblich verändert wurde, indem seit der großen Reform Ende der neunziger Jahre nun beim Vorliegen einer „verfestigten Einwanderung“, d.h. eines Aufenthalts von acht Jahren und einiger weiterer Bedingungen wie Sprachkenntnisse, der Anspruch auf Einbürgerung besteht.38 Auf der anderen Seite kennt das Grundgesetz nicht nur Bürgerrechte, sondern auch Menschenrechte. Die allgemeine Handlungsfreiheit, die Meinungsfreiheit und insbesondere Religions- und Gewissensfreiheit – um nur eini‐ ge zu nennen – sind als sogenannte Jedermannsrechte verfasst, stehen also auch Nicht-Deutschen zu, wohingegen das Wahlrecht, der Zugang zu öffentlichen Äm‐ tern, die Versammlungsfreiheit, die Koalitionsfreiheit, die Berufsfreiheit und das Wi‐ derstandsrecht als Bürgerrechte verfasst sind. Und schließlich und vor allem heißt es in Artikel 1, dass die Würde des Menschen (nicht des Bürgers) unantastbar ist und dass das deutsche Volk sich „darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Men‐ schenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft des Friedens und der Gerechtigkeit der Welt“ bekennt, was eine innere Haltung einfordert. Die Verfas‐ sung, die ihren Geltungsanspruch aus dem Willen des demokratischen Souveräns, nämlich dem Volk als verfassunggebender Gewalt, herleitet, weist damit gleich im ersten Artikel über die Exklusivität und Partikularität der politischen Gemeinschaft hinaus. Auch die Akten des Parlamentarischen Rats zu Artikel 1 machen deutlich, dass die Menschenrechte in diesem Sinn gemeint sind. Der Abgeordnete Mangoldt verweist nämlich in einer Diskussion im Grundsatzausschuss auf die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, woraufhin der Ausschuss dann schließ‐ lich zu der Formulierung des Absatz 2 gefunden hat, in der die Präambel nach‐ klingt.39 Im Grundgesetz als staatlicher Verfassung kommt also sehr deutlich eine normati‐ ve Selbstbindung an die Menschenrechte zum Tragen, die sich nicht im juridischen Sinn in dem Niederschlag in den Grundrechten erschöpft, sondern die auch einen moralischen Anspruch transportiert – wie anders könnte man sonst den Begriff des Bekenntnisses verstehen, mit dem ja eine innere Haltung zum Ausdruck kommen soll. Moralische Pflichten können zwar nicht in der Münze einer Rechtspflicht aus‐ 38 Vgl. als nachvollziehbare Darstellung des überaus komplizierten Staatsangehörigkeitsrechts in der Bundesrepublik die Broschüre der Bundesregierung für Einwanderer: Beauftragte der Bun‐ desregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration 2015. 39 Vgl. Rensmann 2007, S. 27ff.

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gedrückt werden, weswegen der womöglich sympathisch erscheinende Vorschlag, der nach der Wiedervereinigung in Kontext der Gemeinsamen Verfassungskommis‐ sion zu vernehmen war, nämlich in die Verfassung den Satz aufzunehmen, dass jeder zu Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn verpflichtet ist, so nicht in Verfassungsrecht zu gießen war. Aber ein moralischer Anspruch kann durchaus auch in einem Rechts‐ text formuliert werden. Der moralische Geltungsanspruch richtet sich allerdings wie oben ausgeführt nicht auf die rechtlich verfasste Institutionenwelt, sondern auf das zwischen‐ menschliche Verhältnis. Tatsächlich haben ja im vergangenen und vorvergangenen Jahr zahlreiche Bürger in Ansehung der konkreten Hilfsbedürftigkeit der Flüchtlinge diesem Anspruch Folge geleistet und Initiativen ergriffen, für die üblicherweise in der modernen Welt staatliche Institutionen zuständig sind. Man kann darüber disku‐ tieren, ob die Willkommenskultur als ein Akt der Barmherzigkeit zu deuten ist – mit all der religiösen Semantik, die der Begriff transportiert, der einem Gefühl des MitLeidens entspringt – oder ob die ehrenamtliche Flüchtlingsarbeit als ein Akt der Ge‐ rechtigkeit zu verstehen ist, also von der Wahrnehmung einer geschuldeten Pflicht motiviert ist, etwa aufgrund einer ungerechten Weltordnung, die durch die Außenpo‐ litik der Bundesrepublik bestätigt wird, aufgrund des in den alten Industriegesell‐ schaften wesentlich verursachten Klimawandels, aufgrund von Kriegen, an denen ‚der Westen‘ beteiligt war. Wie auch immer also motiviert – dieser positive Ausnah‐ mezustand einer Aufnahme und Versorgung von hunderttausenden Flüchtlingen, die durch offene Grenzen in unkontrollierter Weise in das Land gekommen sind, konnte nur von zeitlich begrenzter Dauer sein. Herfried und Marina Münkler haben die hier eigentlich relevante Belastungsgrenze nicht an physischen Kapazitäten festgemacht, sondern Sozialvertrauen als soziomoralische Voraussetzung im Sinne einer gesell‐ schaftspolitischen Identität herausgestellt – eine Ressource freilich, die, wie sie auch selbst betonen, elastisch ist und in die auch investiert werden kann.40 Das führt dann mitten in eine innenpolitische Debatte, wie denn diejenigen, die sich durch Fremde in ihren Heimatidentität bedroht fühlen, politisch ernst genommen werden können, ohne einerseits Fremdenfeindlichkeit oder gar einem rassistischen Ressentiment nachzugeben und andererseits der Redeweise des Ernstnehmens von Sorgen dann auch ein ernstes Gespräch in der Bürgerschaft folgen zu lassen. Die jüngste Kontro‐ verse in Bayern, ob den Hinzugekommenen eine Achtung der Leitkultur abzuverlan‐ gen sei, wie es die CSU zunächst für die Landesverfassung, jetzt für das Integrati‐ onsgesetz gefordert hat, oder ob es nicht stattdessen um ein Bekenntnis zu Verfas‐ 40 Vgl. Münkler/Münkler, S . 72; Auf das Spannungsverhältnis zwischen Aufnahmekapazität und ethischer Verpflichtung und dass hieraus keine starren Größen erwachsen, hat auch Bundesprä‐ sident Joachim Gauck auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsdebatte hingewiesen: „Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten, sie sind endlich. (...) Unser Asyl- und Flüchtlingsrecht be‐ misst sich nicht nach Zahlen, und doch wissen wir unsere Aufnahmekapazität ist begrenzt, auch wenn wir nicht genau wissen, wo die Grenzen liegen.“ (Der Bundespräsident 2015).

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sungspatriotismus gehen muss, das dann aber auch von den Altbürgern einzufordern sei, kann als eine solche Identitätsdebatte verstanden werden. Verfassungspatriotismus bietet nun aber gerade keinen Ausweg in eine kosmopo‐ litische und grenzüberwindende Weltgesellschaft an. Vielmehr kann mit diesem Konzept verstanden werden, dass es gerade auf die Komplementarität von partikula‐ rer Zugehörigkeit und universellen Werten, wie sie in der Verfassung niedergelegt sind, und die dem Reflexionsniveau und normativen Horizont der Moderne entspre‐ chen, ankommt. Denn Zugehörigkeit ist es, was der Begriff des Patriotismus ver‐ langt und Zugehörigkeit setzt als Dimension personaler Identität Grenzziehungen voraus – „wir bleiben anthropologisch darauf angewiesen, unsere Identität in parti‐ kularen Zugehörigkeiten auszubilden“.41 Und erst in der Verwurzelung in eine kon‐ krete, das heißt historisch situierte Bürgerschaft übernehmen die Bürger Mitverant‐ wortung für das Ganze und das öffentliche Wohl – und erhalten zugleich die norma‐ tiven Impulse für ihr Engagement aus den universalistischen Werteorientierungen.42 So bestimmt jedenfalls Graf Kielmansegg die Komplementarität von universellen Menschenrechten und partikularer demokratischer Bürgerschaft im Konzept des Verfassungspatriotismus – eine Komplementarität, die die Verfassungsordnung des Grundgesetzes selbst aufweist und die sich in dem Engagement der Bürgerschaft in den Jahren 2015/16 in besonderer Weise realisiert hat. Die Frage, die uns freilich dann zu beschäftigen hat und die Peter Graf Kielmansegg explizit den weiteren Dis‐ kussionen mit auf den Weg gibt, ist die nach den Modi politischer Integration und der Herausbildung einer kollektiven politischen Identität. Vor dem Hintergrund an‐ haltender Migration im 21. Jahrhundert kann diese wohl nicht mehr vornehmlich aus der Erinnerungsgemeinschaft erwachsen, und die Herausbildung politischer Identität durch eine Kommunikations- und Erfahrungsgemeinschaft hat in einer neuen Weise kulturelle Vielfalt zu verarbeiten. Wie hier die Chancen stehen, wird derjenige zu‐ rückhaltender einschätzen, der auch ansonsten eher zu skeptischen Urteilen neigt, was die Bereitschaft zu Solidarverhalten in einer Demokratie angeht und diejenige optimistischer, die die republikanischen Potentiale der Bürgerschaft als immer wie‐ der neu aktivierbar versteht.

5. Ausblick Es sind letztlich also politische Debatten, die in der Bürgerschaft geführt werden müssen, um zu klären, was die normative Selbstbindung an die Menschenrechte heute in der Praxis bedeuten kann. An dieser Stelle kann dies nur angerissen werden. So wäre einmal mit Blick auf die ja auch in Zukunft andauernde Migration und 41 Kielmansegg 2013, S. 48f. 42 Vgl. ebd., S. 54.

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Flucht über eine grundlegende Weiterentwicklung von Grenzregimen als Zugangs‐ kontrollen zu diskutieren und mit Blick auf die Arbeitsmigration über die in einem Einwanderungsgesetz rechtlich zu regelnden Kriterien des Zugangs politisch zu streiten. Im letzteren Fall liegt eine andere Konstellation als bei Flucht und Vertrei‐ bung vor, denn im Grunde ist die Arbeitsmigration ein Tauschgeschäft, dessen Be‐ dingungen seitens des aufnehmenden Staates definiert werden: die Staaten gewähren Migranten Einlass und gegebenenfalls nach einiger Zeit auch Mitgliedschaft in der Bürgerschaft für das, was die Migranten mitbringen und was für die aufnehmende Gesellschaft beziehungsweise von ihr als Gewinn eingeschätzt wird. Dabei ist ein besonderes Augenmerk auf die Deterritorialisierung von Grenzen zu legen, was für einen Mitgliedsstaat der EU heißt, dass dieser Kernbereich staatlicher Souveränität auch zu einem Gegenstand supranationaler Politik und auch Rechtsbindung gewor‐ den ist. Dazu hat der Europäische Gerichtshof im Frühjahr 2017 entschieden, dass die Ausstellung humanitärer Visa durch Botschaften und Konsulate außerhalb des Territoriums der EU in der Souveränität der Mitgliedsstaaten liegt, da kein entspre‐ chendes EU-Recht vorliege, auf das die Grundrechtscharta und die EMRK mit ihrem Asylrecht und dem Refoulement-Verbot anzuwenden sei.43 Wäre der Antrag des Ge‐ neralanwalts Paolo Mengozzi erfolgreich gewesen, hätte er das europäische Asylsys‐ tem revolutionieren können: dann hätten Flüchtlinge nicht mehr mit Hilfe von Schlepperbanden den gefährlichen und oft tödlich verlaufenden illegalen Weg wäh‐ len müssen, um die Außengrenzen der EU zu überwinden, sondern hätten mit einem Visum legal in ein EU-Land einreisen können und dort Asyl beantragen können. Zwar hätte dieses Regime von „Shifting Borders“44 wiederum Folgeprobleme mit sich gebracht, aber es hätte die ethisch problematische Abschottung der Außengren‐ zen gemindert. Auch dann wären natürlich nicht alle Anträge positiv beschieden worden, weil dies politisch in Demokratien so nicht durchsetzbar wäre. Wenn also die europäischen Bürgerschaften der Auffassung sind, dass sie nicht jedes Jahr so viele Flüchtlinge aufnehmen können, wie in Schweden, Österreich und Deutschland im Sommer und Herbst 2015 geschehen, zugleich aber die moralisch und rechtlich begründete Verpflichtung, die aus den Menschenrechten folgt, nicht bloße Rhetorik sein soll, dann müssen die Regierungen erheblich größere und auch andere Anstren‐ gungen unternehmen, die Ursachen von Flucht und Migration zu bekämpfen – dies reicht von humanitären Interventionen über eine andere Art der Entwicklungshilfe, die nicht länger insbesondere korrupte Regierungen afrikanischer Staaten stabili‐ siert, bis hin zu fairen Handelsverträgen, die die Chance der Wertschöpfung auch au‐

43 EUGH 2017, C 638 16 PPU. 44 Shachar 2009.

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ßerhalb der EU zulässt.45 Offensichtlich ist hierfür nicht allein eine moralische De‐ batte, sondern eine intensive politische Debatte gefordert. Die eingangs gestellte Frage nach einem paradoxalen Spannungsverhältnis kann also am Ende nicht zu der einen oder anderen Seite aufgelöst werden: eine aus‐ schließliche Betonung der universalen Menschenrechte würde die Schutz- und Frei‐ heitsfunktion staatlicher Ordnung ignorieren und umgekehrt würde die ausschließli‐ che Betonung der Rechte des demokratischen Souveräns und seinem Bedürfnis nach Grenzziehung den schon vorhandenen Stand von Entgrenzung aufgrund funktionaler Verflechtung verkennen und die in den Verfassungen erkennbare normative Selbst‐ bindung in Form der Bindung nicht nur an Bürgerrechte, sondern auch an Men‐ schenrechte ignorieren.

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45 Die normative Wirkung der Menschenrechte als Selbstbindung soll also auch für die Gestal‐ tung der Außenpolitik einen wichtigen Aspekt abgeben. David Miller spricht in diesem Zu‐ sammenhang von einer Outcome-Verantwortung, d.h. einer Verantwortung für die Folgen und Wirkungen unserer politischen Entscheidungen auf andere auch jenseits der Staatsgrenzen (Miller 2007).

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Hans Vorländer Populismus und die repräsentative Demokratie

Keiner hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder so präzise und nachdrücklich die Entstehung, die Prinzipien und Funktionsbedingungen der repräsentativen De‐ mokratie herausgearbeitet wie Peter Graf Kielmansegg. Wissend um die Labilität dieses Typus politischer Ordnung, getragen von der Sorge, dass sich Veränderungen vollziehen, die diesem Modell bürgerlicher Selbstregierung die Grundlagen entzie‐ hen könnten, hat er nicht nachgelassen, die Grammatik der Freiheit auszubuchstabie‐ ren. In den – wie er allzu bescheiden formulierte – „Versuchen über den demokrati‐ schen Verfassungsstaat“ wird eine historische, eine zivilisatorische Errungenschaft sichtbar gemacht, die die Ausübung von Volkssouveränität und den Schutz der grundlegenden Menschen- und Grundrechte in einem Arrangement von politischen Institutionen, Ämtern und Verfahren miteinander vereinbar werden ließ.1 Dass eine solche gleichermaßen freiheitliche und demokratische Ordnung auf Voraussetzungen und Bedingungen aufruhte, bei denen ein System der Meinungs-, Willens- und Ent‐ scheidungsbildung besonders wichtig zu sein scheint, musste nicht extra betont wer‐ den, wenngleich gerade der Verlust von Vertrauen zwischen den Bürgern und der Politik besonderen Anlass zu sorgenvollen Überlegungen zur Zukunft dieser Regie‐ rungsform bot. Entscheidend aber ist für Graf Kielmansegg immer die Überzeugung gewesen, dass es sich beim Modell der repräsentativen Demokratie um eine Ord‐ nung eigenen Rechts und spezifischer Herkunft handelt, welche das Bedürfnis einer kollektiven Gemeinschaft, sich selbst zu regieren, und die Notwendigkeit verant‐ wortlichen politischen Entscheidens in ein institutionelles Gleichgewicht zu bringen versucht. Dass es dabei Spannungen gibt, dass Partizipation und Repräsentation ei‐ genen Logiken, vor allem unterschiedlichen Dynamiken gehorchen, dass repräsenta‐ tive Ämterordnungen und direktdemokratische Bürgeraktivitäten kollidieren können, ist Teil historischer Erfahrung und politischen Alltags. Und doch kann ein so labiles Gebilde auch kollabieren. Die Gründe für den Niedergang demokratischer Ordnun‐ gen, die Lektionen, die daraus zu ziehen sind und die Chancen demokratischer Sta‐ bilisierung hat Peter Graf Kielmansegg stets in einer bemerkenswert unaufgeregten und abwägenden, klaren und unmissverständlichen Weise darzustellen gewusst. Nun aber scheint die repräsentative Demokratie in eine Situation geraten zu sein, in der genau die Funktionsbedingungen bedroht sind, die für eine Ordnung der poli‐

1 Graf Kielmansegg 2013; 2016; grundlegend schon Graf Kielmansegg 1977.

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tischen Stellvertretung konstitutiv sind: Das Verhältnis zwischen dem Bürger und der institutionalisierten Politik ist gestört. Mit den Strömungen des Populismus sind Bewegungen und Parteien in der politischen Arena entstanden, die die Vertretung des „wahren“ Volkswillens reklamieren und die Institutionen und Amtsträger der Repräsentation der Korruption zeihen. Mit Schmähungen „der“ Politik und „der“ Politiker wird das „Establishment“ angegriffen und die Legitimität stellvertretender Willens- und Entscheidungsbildung bestritten. Eine solche Situation macht die Klä‐ rung des Verhältnisses von Populismus und repräsentativer Demokratie notwendig. Jüngste Studien zeigen wichtige Ansätze auf.2

Repräsentative Demokratien sind robuste Systeme – mit einer Bruchstelle Repräsentative Demokratien sind relativ robuste politische Systeme. Sie haben sich historisch infolge der Revolutionen des 18. Jahrhunderts herausgebildet und basieren auf vermittelnden, stellvertretenden Formen der Entscheidungsbildung. Ein ausge‐ klügeltes institutionelles Arrangement politischer Ordnung hat den Willensbildungsund Entscheidungsprozess auf verschiedenen Ebenen organisiert und dabei weniger die direkte Beteiligung der Bürger – jenseits von Wahlen – als vielmehr die stellver‐ tretende Erledigung von Entscheidungs- und Kontrollaufgaben präferiert. Ein kom‐ plexes System wechselseitig aufeinander einwirkender Institutionen sucht der De‐ mokratie Stabilität, Legitimität und Effizienz zu geben. Die repräsentative Demokra‐ tie war historisch auch die Antwort auf die Frage, wie bürgerschaftliche Selbstregie‐ rung und effizientes politisches Willensbildungs- und Entscheidungssystem unter den veränderten Bedingungen der Moderne demokratisch verfasst werden kann. Nicht zuletzt das Problem eines brüchig gewordenen gesellschaftlichen Zusammen‐ haltes sollte durch die repräsentative Form der Demokratie gelöst werden. Gegenüber den aus der Antike, dem oberitalienischen Stadtrepublikanismus und der schweizerischen Eidgenossenschaft bekannten – überwiegend direkten – Formen demokratischer Selbstregierung beruht die moderne Demokratie auf ganz anderen sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die sich nicht zuletzt durch ihre flächenstaatliche Ausdehnung und die große Zahl ihrer Bürger ergeben. Der Umbruch erfolgte paradigmatisch in der Mitte des 18. Jahrhunderts und zeigte sich exemplarisch in zwei Denkschulen. Hatte noch der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau Mitte des 18. Jahrhunderts von der Erforderlichkeit weitgehender sozio‐ ökonomischer Gleichheit, einer Gleichgerichtetheit der Meinungen und öffentlichen Ansichten sowie der Tugendhaftigkeit des Bürgers als den entscheidenden Vorrau‐ 2 Vgl. so auch schon Taggart 2000; Mény/Surel 2002; Decker 2003, 2005; Mudde/Kaltwasser 2012; Hartleb 2012; de la Torre 2015; Diehl 2016; Müller 2016; Mudde/Kaltwasser 2017; Jör‐ ke/Nachtwey 2017 und Graf Kielmansegg 2017.

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setzungen einer starken Demokratie gesprochen,3 bestritten die Schöpfer der ameri‐ kanischen Verfassung von 1787 das Vorhandensein dieser Annahmen, sahen hinge‐ gen in Ungleichheit, Gruppenbildungen und einer Pluralität von Interessen die Kennzeichen der modernen, kommerziellen Gesellschaft und folgerten daraus den strukturellen Umbau des alten, antiken Systems „reiner Demokratie“.4 Thomas Pai‐ ne, der aus England stammende Revolutionär in Nordamerika, brachte es in seiner viel gelesenen Schrift Rights of Man von 1791/92 auf einen einfachen Nenner: „Simple democracy was society governing itself without the aid of secondary means. By engrafting representation upon democracy, we arrive at a system of go‐ vernment capable of embracing and confederating all the various interests and every extent of territory and population”.5 Damit schien auch der Annahme Rechnung getragen zu sein, dass moderne Ge‐ sellschaften nicht mehr so ohne weiteres einen stabilen gesellschaftlichen Zusam‐ menhalt voraussetzen können, weil sich in ihnen unterschiedliche Werte, Interessen und Vorstellungen finden, die nicht miteinander homogenisierbar sind. Dahinter standen die Erfahrungen religiöser Konflikte, pluraler Lebensweisen und aufeinan‐ derprallender ökonomischer Interessen. Die repräsentative Demokratie war dann das politische System der Wahl, welches damit am ehesten umzugehen verstand, weil es Freiheit, Interessenausgleich und politische Entscheidungsnotwendigkeiten zu ver‐ einbaren versprach und dabei immer noch den Anspruch der Selbstregierung eines politischen Volkes aufrechterhalten konnte – allerdings in mediatisierter Form. Zudem schien die repräsentative Demokratie auch ein Instrument zu sein, die Lei‐ denschaften der Massen zu zähmen. Durch die Institution der Stellvertretung sollten die politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse ‚rationaler‘, nicht rein emotional und unter dem Druck der öffentlichen Meinung, von statten gehen. John Stuart Mill und Alexis de Tocqueville, beides liberale Denker der Mitte des 19. Jahr‐ hunderts, zeigten sich besorgt über eine mögliche „Tyrannei der Mehrheit“, die aus dem Konformitätsdruck der öffentlichen Meinung zu entstehen und in einer neuen Form der Willkürherrschaft zu enden drohte.6 Die repräsentative Demokratie schien hier am ehesten in der Lage zu sein, Emotionen und Leidenschaften, Meinungen und Stimmungen ihrer unmittelbaren Durchschlagskraft zu berauben und durch Mecha‐ nismen institutioneller Filterung entschärfen zu können. Gerade weil die repräsenta‐ tive Demokratie ihre Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse im Widerspiel

3 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts, herausge‐ geben von Hans Brockard, Stuttgart 1977. 4 Alexander Hamilton/James Madison/John Jay, The Federalist Papers, eingeleitet von Clinton Rossiter, New York 1961. 5 Thomas Paine, Rights of Man, (Penguin Books), New York 1984, S. 180. 6 John Stuart Mill, Über die Freiheit, Köln 2009; ders., Betrachtungen über die repräsentative De‐ mokratie, hrsg. von Kurt L. Shell, Paderborn 1971. Alexis de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, München 1984.

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unterschiedlicher Institutionen, also mit den Mitteln der Kontrolle und Verschrän‐ kung der Gewalten von Legislative, Exekutive und Judikative, organisierte, ließen sich die verschiedenen Affekte durch Affekte hemmen, politischer Ehrgeiz konnte durch Ehrgeiz selber balanciert und die „Flammen der Empörung“7 vermochten rechtzeitig erstickt zu werden. Die repräsentative Demokratie war somit zu einem Modell politischer Ordnung geworden, welches in ihrer repräsentativen Verfassung das – schon aus der Antike bekannte und immer wieder als Schwäche der Demokra‐ tie identifizierte – Problem emotionalisierter Massen und Meinungen zu neutralisie‐ ren versuchte. Gegenwärtige Entwicklungen lassen den Eindruck entstehen, dass die repräsenta‐ tive Demokratie, die angetreten war, das Problem des prekären Zusammenhaltes in der modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft produktiv zu wenden, nunmehr selber zu einem Problem geworden ist. Vor allem wird ihre Bruchstelle deutlich: Das Sys‐ tem der Stellvertretung von Willens- und Entscheidungsbildung scheint sich weitge‐ hend verselbständigt, den Kontakt zu den Vertretenen verloren zu haben. In der Wahrnehmung vieler Bürger hat sich eine „gefühlte“ Distanz zu den Repräsentanten herausgebildet, politische Entfremdung wächst, die Unzufriedenheit mit der Demo‐ kratie ebenfalls. In die Bruchstelle strömen Populismen ein, die sich einer dichoto‐ men Weltsicht von ‚oben‘ und ‚unten‘, von Volk und Elite, bedienen und damit die Legitimität der repräsentativen Demokratie bestreiten.

Was ist Populismus? In Analogie zu einem bekannten Film könnte von „the good, the bad, and the ugly“ geschrieben werden, um die Populismen und ihr vielschichtiges, ambivalentes Ver‐ hältnis zur Demokratie unterscheiden zu können.8 Es ist zu prüfen, ob eine solche Heuristik fruchtbar ist, um gegenwärtige Phänomene – von Trump, über Orban, den Brexit bis zu den „Patriotischen Europäern“ und der „Alternative für Deutschland“ – einordnen zu können. Es sollte indes nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass es über den schlechten Populismus, der die Demokratie gefährdet und den häss‐ lichen, der die Demokratie zerstört, hinaus populistische Strömungen und Akteure geben könnte, die den Finger in eine Wunde der Demokratie legen und auf Fehlent‐ wicklungen und Defizite aufmerksam machen, und damit auch einen Beitrag zur de‐ mokratischen Erneuerung leisten. Populismen sind gewiss Symptome einer Krise

7 John Millar, The Advancement of Manufactures, Commerce, and the Arts; and the Tendency of this Advancement to diffuse a Spirit of Liberty and Independence, zit. n. Albert Hirschman, Lei‐ denschaften und Interessen, Frankfurt a. M. 1980, S. 100. 8 Vorländer 2011a. Im Folgenden beziehe ich mich immer wieder auf diese Überlegungen.

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der Demokratie. Das Problem ist indes, dass sie diese Krise zugleich auch verstärken und damit freiheitliche Systeme enorm unter Stress setzen. Populismus und Demokratie enthalten beide eine zentrale Referenz zum Begriff des Volkes. Das macht das Verhältnis beider problematisch. Populismus könnte so gelesen werden, als verwirkliche sich in ihm erst die Demokratie. Diese beruht be‐ kanntlich auf der Souveränität des Volkes. Von daher ist der Populismus der Demo‐ kratie eingeschrieben, ein intrinsisches, kein von außen herangetragenes Phänomen. Mehr noch: Populismus kann eine Herausforderung an die Demokratie sein, ihr ei‐ genes Versprechen, nämlich das der ‚wahren‘ und ‚wirklichen‘ Herrschaft des Vol‐ kes, einzulösen. Anders jedoch, und geläufiger, ist die Wahrnehmung, dass der Po‐ pulismus die Demokratie in ihrem Kern gefährdet und letztlich auch zerstört. Hier bildet der Populismus die pathologische Seite der Demokratie ab, ist Ausdruck ihrer Krisenhaftigkeit, womöglich auch ihrer Übersteigerung. Von daher ist es nicht ver‐ wunderlich, dass Populismus für eine Hydra gehalten wird, die in unterschiedlichen Kontexten ihr immer neues Haupt bedrohlich erhebt. Wer mag, kann schon in der Demokratie der Athener die Ambiguitäten der Volksherrschaft studieren, die beein‐ druckende Praxis direkter und unmittelbarer Ausübung von Herrschaft durch den Demos auf der einen Seite und ihre demagogische Entgleisung durch politische Ver‐ führer, die Stimmungen zu erzeugen wussten. Die Athener behalfen sich, als sie des angerichteten Schadens ansichtig wurden, mit dem Ostrakismos. Sie verbannten die Verführer des Volkes aus ihrer Stadt. In neuerer Zeit gehört zur Rede über den Populismus der Verweis auf den rechten oder rechtsextremen Populismus in Europa.9 Bisweilen werden auch einzelne Politi‐ ker, egal, auf welcher Seite des politischen Spektrums, Populisten genannt. Aber das ist nicht die ganze Geschichte. Historische Studien haben den Begriff des Populis‐ mus auch auf andere Zusammenhänge bezogen, in denen Bewegungen oder Parteien in Erscheinung traten, denen ein „populistischer“ Charakter attestiert wurde. Es las‐ sen sich demnach – zumindest – drei „Wellen des Populismus“ unterscheiden: der agrarische Populismus, der lateinamerikanische Populismus und der zeitgenössische Populismus der neuen Rechten. Der agrarische Populismus geht zum einen auf amerikanische Entwicklungen in den 1830er Jahre zurück, als der amerikanische Präsident Andrew Jackson die Far‐ mer, Handwerker und kleinen Geschäftsleute in einer Protestbewegung gegen die Kaufleute, Banken und entstehende industrielle Großstrukturen zu sammeln ver‐ stand und mit der Ausweitung politischer Beteiligungsrechte eine (Massen-)Demo‐ kratisierung des politischen Systems der USA einleitete. Ähnlich gelagert war dann der überwiegend, wenngleich nicht ausschließlich, aus den sozialen Verwerfungen des Industriekapitalismus gespeiste Protest von Farmern, Arbeitern und sog. Green‐

9 Mudde 2007; Decker/Henningsen/Jakobsen 2015; Kriesi/Pappas 2015.

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backers in den 1890er Jahren, eine Bewegung, die dann als sog. Populist Party, spä‐ ter als People’s Party unter William Jennings Bryan bei Wahlen erheblichen Zulauf erhielt und sich unter anderem gegen die industriellen Monopole der sog. Robber Barons und eine expansive nationale Geldpolitik richtete.10 Zum anderen kann auch die russische intellektuelle Bewegung der Narodniki in der Zeit des 19. Jahrhunderts zu den Formen des agrarischen Populismus gerechnet werden. Die zweite Welle des Populismus wird mit den lateinamerikanischen Varianten angesetzt, die vor allem ab den 1940er und 1950er Jahren ihre Blütezeit hatten und mit den autoritären Regimen von Perón in Argentinien und Vargas in Brasilien ver‐ bunden werden.11 Sodann zeigte sich der lateinamerikanische Populismus bis in un‐ sere Zeit in unterschiedlichem, auch linkem Gewande, immer aber verkörpert in starken Führungsfiguren: Meném, Collor, Fujimori bis hin zu Chavez, Morales und Maduro. Seit den 1970er Jahren sind Bewegungen der neuen Rechten in verschiede‐ nen europäischen Staaten und in der angloamerikanischen Welt entstanden. Seitdem wird Populismus mehr und mehr mit rechten Parteien in Verbindung gebracht. Eini‐ ge von ihnen sind offen antidemokratisch, andere verbergen ihre antidemokratische Haltung hinter einer Fassade bürgerlicher Wohlanständigkeit. Einige rechte Parteien positionieren sich als Anti-Migranten- und zunehmend auch als Anti-Islam-Parteien, viele inszenieren sich als Protestparteien und können einen relativ breiten Anteil des Elektorates auf sich vereinigen. Die meisten dieser Parteien, beispielsweise die Schweizerische Volkspartei SVP, die FPÖ Österreichs, die Lega Nord Italiens, die Liste Pim Fortuyn, die Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders in den Niederlan‐ den, der Front National von Vater und Tochter Le Pen in Frankreich, die neuen skan‐ dinavischen Populisten, UKIP im Vereinigten Königreich, besaßen oder besitzen charismatische Führer, die die Anhängerschaft zu mobilisieren und hinter der jewei‐ ligen Partei zu integrieren verstanden bzw. verstehen. Zugleich spricht der Populis‐ mus der neuen Rechten xenophobe, rassistische oder nationalistische Einstellungen an und stützt sich auf Themen wie Migration, Steuern oder Kriminalität.12 Zuletzt zeigte sich der Populismus auch erfolgreich, er griff nach der Macht und eroberte sie, in Lateinamerika sowieso, dann aber auch in Nordamerika, in den Ver‐ einigten Staaten von Amerika, zuletzt in Tschechien. In Österreich wird die FPÖ zum zweiten Mal an der nationalen Regierung beteiligt. In Italien regiert eine panpo‐ 10 Goodwyn 1978. 11 de la Torre/Arnson 2013. 12 Die begriffliche Kategorisierung dieser und anderer Parteien schwankt in der internationalen und deutschen Literatur zwischen (Populist) Radical Right, Right Wing, Extremist oder Fa‐ scist. Dahinter stehen Abgrenzungsprobleme, wie sie hier im Begriff des Populismus zu erfas‐ sen versucht werden (dabei indes die offensichtlich rechtsextremen bzw. rechtsextremistischen beiseite lassend). Festgehalten und empirisch jeweilig zu untersuchen sind die oftmals fließen‐ den Übergänge, die rechtspopulistische Gruppierungen als Brückenbauer und Partner in rech‐ ten Allianzen zu erkennen geben. Zur Diskussion Mudde 2007; zuletzt Finchelstein 2017; Minkenberg 2017.

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pulistische Allianz aus rechter Lega und linker 5Sterne-Bewegung. Im Vereinigten Königreich verstanden es die Populisten, nicht nur die von UKIP, die Wähler zum „Brexit“ zu mobilisieren. In Mittel- und Osteuropa verfolgen Populisten, die sich an der Regierung befinden, mit beharrlicher Konsequenz ein Demokratiekonzept, wel‐ ches der ungarische Regierungschef Orban „illiberale Demokratie“ genannt hat13 und das als ein Gegenmodell zum westlichen, pluralistischen und konstitutionell-ge‐ waltenteiligen Verständnis profiliert wird. Und, um Deutschland nicht ganz aus dem Blick zu verlieren: hierzulande ist mit Pegida, mit der AfD der Anschluss an die rechtspopulistische Internationale hergestellt. Sind diese gegenwärtigen Phänomene noch Teil der dritten Welle von Populismen oder handelt es sich hier um eine neue Konstellation, eine vierte Welle, die den Totalangriff auf die Demokratie, wie wir sie kennen, führt? Und schließlich: Wie verhält es sich mit dem Linkspopulismus, von Intellektuellen wie Laclau und Mouffe geadelt,14 um die vermeintliche Hegemonie des „Neoliberalismus“ zu brechen, und in Frankreich von Mélenchon und seiner Be‐ wegung „La France Insoumise“ bei der Präsidentenwahl 2017 praktiziert. Auch die spanischen Los Indignados, Podemos oder die griechische Syriza, alle Bewegungen und auch Parteien, können zu den Linkspopulisten gerechnet werden.

Die modi operandi der Populismen Jede Definition in generalisierender Absicht – und sei es nur eine Minimaldefinition – stößt sehr schnell an ihre empirischen Grenzen. Die Frage, ob Populismus eine Ideologie oder „nur“ ein Stil, eine Doktrin oder eine Rhetorik, eine feste Einstellung oder eine polemische Figur ist, worin sich Oppositions- von Regierungspopulismus, Bewegungs- von Politikerpopulismus, vorübergehender von persistentem, legitimer von illegitimem Populismus unterscheidet – kann so oder anders beantwortet wer‐ den, je nachdem, mit welcher (Vorab-)Definition populistische Phänomene identifi‐ ziert werden und in welchen Kontexten die Strömungen, Gruppen und Bewegungen agieren. Das spricht sehr dafür, auf General- oder Minimaldefinitionen zu verzichten und eine heuristische Beschreibungssemantik zu wählen, die historisch offen und zu‐ gleich kontextsensibel ist. Deshalb sollte lieber von Populismen gesprochen werden, weil sie sich in Inhalten, Strukturen und – historischen, kulturellen, und institutionel‐ len – Rahmungen unterscheiden. Die Gemeinsamkeiten der Populismen liegen, so scheint es, in einer spezifischen politischen Mobilisierungsstrategie, die sich (wieder-)erkennbarer Semantiken, sym‐ bolischer Verweisungen und politischer Konstruktionen bedient. Fünf Merkmale las‐ 13 Orbán 2014. 14 Laclau 2005; Mouffe 2005; Mouffe/Errejón 2016; vgl. zur Einschätzung: Priester 2014; Möller 2017.

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sen sich als modi operandi angeben, die den Populismen ein spezifisches Aussehen und eine bestimmte Binnenstruktur geben. Erstens rekurrieren alle Populismen se‐ mantisch explizit auf das „Volk“ und/oder auf den „kleinen Mann“, manchmal auch schlicht auf den „einfachen Bürger“. Sie konstruieren ein Volk und bedienen sich da‐ bei der Mechanismen von Inklusion und Exklusion. Deshalb konstituieren sich die Populismen, zweitens, mittels scharfer Leitdifferenzen, ihre Rhetorik strukturiert sich in Grundunterschieden: „wir“ und „sie“, „oben“ und „unten“, „innen“ und „au‐ ßen“; triadisch werden die Differenzsetzungen, wo sich ein Populismus der classes moyennes gegen „oben“ und „unten“ 15 oder ein rechter Populismus gegen das Esta‐ blishment und die Fremden abgrenzt. Drittens: Mit „sie“, „oben“, „unten“ und „au‐ ßen“ werden kollektive Entitäten konstruiert, deren Funktion es ist, mittels Stereoty‐ pisierungen Sinn und Identität für die Institutionalisierung des eigenen „wir“ zu stif‐ ten. Die Konstruktion der sozialen oder politischen Entität, zumeist als „das Volk“ bezeichnet, korrespondiert mit dem – absichtlich hergestellten – Effekt der Exklusi‐ on, der Separierung des Anderen und der Differenz von „denen“ und „uns“, von ingroup und out-group. Viertens arbeiten Populismen mit Homogenitätsbehauptungen: Unterschiede sozialer, ökonomischer, kultureller oder politischer Art gehen in den Kollektivsingularen von „dem Volk“ und „dem kleinen Mann“, von „wir“, „sie“ usw. unter. Nach dieser Logik untergräbt Vielfalt den unverstellten Ausdruck des vermeintlich „wahren“ Willens der Entität. Fünftens etablieren Populismen eine Mo‐ bilisierungsstruktur von politischer Unternehmerschaft, zumeist einer charismati‐ schen Leitfigur, und einer Anhängerschaft, der Bewegung, von, zugespitzt formu‐ liert, Führer und Gefolgschaft. Der Führer ist der Sprecher des homogen und exklu‐ siv vorgestellten Willens des Volkes. Er oder sie ist das Medium, durch welches die Bewegung sich selbst erkennt, ihre Identität findet. Diese heuristisch zu verstehenden Merkmalsbeschreibungen, die modi operandi des Phänomens Populismus, sagen indes noch nichts aus über das Verhältnis von Po‐ pulismus und Demokratie. Sie könnten neutral wirken, innerhalb des Rahmens de‐ mokratischer Strukturen und Politik eingesetzt werden, sie könnten indes auch, nicht zuletzt wegen der in ihnen wirksamen Grundvorstellungen und Dynamiken, die Grenzen des Demokratischen sprengen und zu einer Transformation oder Zerstörung demokratischer Strukturen und Praktiken führen.

15 Vor allem die Arbeiten von Karin Priester (2007) zeigen die doppelte Stoßrichtung des – mo‐ dernen, zeitgenössischen – Populismus der Mittelklasse. Eine andere interessante Frage wäre, ob sich hierin auch der Unterschied zwischen einem populisme des modernes und einem popu‐ lisme des anciens festmacht. Vgl. hier die Arbeiten von Guy Hermet (2001).

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Populismus als Erneuerung der Demokratie? Es ist vor allem Margaret Canovan gewesen, die mit ihren Studien über die histori‐ schen Erscheinungsformen des Populismus zu einer Veränderung der Einschätzung beigetragen hat, dass Populismus per se eine Gefahr für die Demokratie, ein Sym‐ ptom ihrer Degeneration ist. Für Canovan16 ist Populismus eine positive Herausfor‐ derung der Demokratie. Sie argumentiert, dass der Demokratie ein Spannungsver‐ hältnis von Statik und Bewegung zugrunde liegt, welches von populistischen Bewe‐ gungen von Zeit zu Zeit aufgelöst wird. Dort, wo Demokratien erstarren, werden sie von Populismen wieder „flott“ gemacht. Den institutionellen Stabilisierungsmecha‐ nismen stehen dynamisierende Bewegungselemente, populare Strömungen, gegen‐ über. Damit schiebt sich eine alternative Interpretation in den Vordergrund, die den Populismus aus seiner konservativ-reaktionären, nativistischen oder rassistischen Ecke herausholt. Populismus gewinnt den Charakter einer radikalen politischen Be‐ wegung, einer Graswurzel-Strömung, die einer erstarrten Demokratie neues Leben einhaucht. Populismus wird zum vitalen, belebenden Element von Demokratie und lässt sich kategorial, in Anlehnung an Michael Oakeshott, als „redemptive politics of faith“17 verstehen. Populismus „reinigt“ eine Demokratie, die in ihren Strukturen un‐ beweglich geworden ist. Populismus wäre demnach als Demokratie in Bewegung zu verstehen. Canovan hat damit ohne Zweifel einen frischen Blick auf das Phänomen des Po‐ pulismus geworfen. Gleichwohl bleibt ihr theoretischer Ansatz genau so ambivalent wie es die Populismen selber sind. Indem Canovan den Populismus zu einer Kraft der demokratischen Erneuerung deklariert, zeigt sie sich inspiriert von seinen pro‐ gressiven Varianten. Das ist zwar historisch nicht falsch, wie ein Blick auf die Peop‐ le’s Party der USA an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, auch auf das Bull Moose Movement von Theodore Roosevelt zeigt, auch könnte man Formen des in‐ klusiven Populismus in Lateinamerika aus jüngerer Zeit dazu rechnen, aber daraus die prinzipielle Konsequenz abzuleiten, dass der Populismus generell ein Element demokratischer Erneuerung ist, kann nur um den Preis der Ausblendung aller ande‐ ren Populismen behauptet werden. Schließlich zeigt ja gerade die Geschichte popu‐ listischer Bewegungen, nicht zuletzt aus allerjüngster Zeit, dass Populisten sich nicht gerade durch hohen Respekt gegenüber den Institutionen und Strukturen der Demo‐ kratie auszeichnen – um es unter Aufbietung aller nur denkbaren Euphemismen aus‐ zudrücken. Canovan ebnet den Unterschied zwischen Demokratie und Populismus mit ihrer – sicherlich durch die Rezeption Hannah Arendts beförderten – Lektüre fortschrittlicher, populistischer Bewegungsdemokratie zu schnell ein.

16 Canovan 1981;1999. 17 Oakeshott 1996.

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Gleichwohl eröffnet Canovans Blickwechsel eine wichtige analytische Perspekti‐ ve, um das Entstehen und die Funktion von Populismen im Rahmen moderner De‐ mokratien erklären und deuten zu helfen. Moderne Demokratien des westlich ge‐ prägten Typs haben ein spannungsvolles Geflecht von Institutionen und Prozessen, von repräsentativen Entscheidungsverfahren und unmittelbaren Teilhabeformen der Bürger ausgebildet, welches in einer historischen Konstellation, in der zweiten Hälf‐ te des 18. Jahrhunderts, „erfunden“ wurde und das die Souveränität des Volkes mit der Wahrung von Grund- und Menschenrechten zu vereinbaren und auch zu be‐ schränken sucht. Die liberale oder auch konstitutionelle Demokratie bindet die Aus‐ übung von Herrschaft, auch die des Volkes, an die Geltung und Gewährleistung von individuellen Rechten und sieht Mechanismen der Gewaltenbalance vor, um Macht einzuhegen. Zugleich vollzieht sich der politische Entscheidungsprozess in den In‐ stitutionen und Verfahren der repräsentativen Demokratie auf dem Wege der Stell‐ vertretung. Das Problem ist, dass dieses Modell, welches Selbstbestimmung, Frei‐ heit und Stabilität in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Ausdifferenzierung zu versprechen schien und darin die Überlegenheit gegenüber der „reinen“, direkten Ausübung von Volksherrschaft für sich zu reklamieren wusste, störungsanfällig ist. Es hat ganz den Anschein, als wenn in die Bruchstellen zwischen der Demokratie als institutionellem Entscheidungssystem und der Demokratie als politischer Lebens‐ form genau jene Populismen einströmen, die aus dem – realen oder gefühlten – Ge‐ gensatz von Establishment und Volk, von „denen da oben“ und „uns hier unten“ ihr spezifisches Momentum erzeugen.18 So lässt sich beispielsweise die vor mehr als drei Jahren entstandene Bewegung der „Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes“ (Pegida) als eine rechtspopulistische Empörungsbewegung beschreiben, die neben Islamkritik, Fremdenfeindlichkeit und Widerstand gegen die Flüchtlingszuwanderung alle Arten von Enttäuschung und Frustration als Schmähungen „der Politik“, „der Politiker“ und „der Medien“ öffentlich in Szene gesetzt hat.19 In den Parolen von „Lügenpres‐ se“ und „Volksverräter“ einerseits und „Wir sind das Volk“ andererseits spiegelt sich eine grundlegende politische Entfremdung zwischen der eigenen Lebenswelt und der politisch-medialen Ebene wider. Zum einen fühlt man sich in der medial vermittel‐ ten Öffentlichkeit nicht heimisch und empfindet ihre politischen Institutionen nicht als die „eigenen“, sondern als Instrumente einer „Scheindemokratie“. Die Repräsen‐ tanten und Entscheidungsfindungsprozesse dieses „Systems“ gelten wahlweise als „verkrustet“, „verblendet“ oder „korrupt“. Zum anderen wird nach direkter Demo‐ kratie gerufen, in der der das Volk das Sagen hat und Politiker als schwache, abhän‐ gige und unmittelbare Rechenschaft schuldige „Angestellte des Volkswillens“ agie‐ ren. Dieses „vulgärdemokratische“ Verständnis (Ernst Fraenkel) leugnet die Kom‐ 18 Vorländer 2011b, 2016. 19 Vorländer/Herold/Schäller 2016; Dies. 2017.

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plexität, Zeitintensität und Kompromissbedürftigkeit politischer Meinungsbildungsund Entscheidungsprozesse in einem repräsentativdemokratischen System und sieht die Remedur im plebiszitären Stil der Unmittelbarkeit, der Durchsetzung des „un‐ verfälschten“ Volkswillens. Es identifiziert folglich das gewählte Anforderungsprofil an gewählte Verantwortungsträger mit dem simplen Schema von „unten“ und „oben“, von „wir fragen und bestellen“ – „ihr antwortet und liefert“. „Und wer nicht liefert, wird entlassen“, so formulierte ein Anhänger von Pegida. Ein Volk kündigt somit seinen Repräsentanten.

Populismen als Ausdruck demokratischer Repräsentationsdefizite? Angesichts der gegenwärtigen Populismen ist nunmehr die Frage zu stellen, ob sie gut, schlecht oder hässlich zu nennen sind. Lässt sich etwa eine positive Deutung der gegenwärtigen Strömungen vertreten? Wenn es so ist, dass populistische Einstellun‐ gen und Bewegungen dann entstehen, wenn die repräsentative Demokratie ihre Ba‐ lance zwischen den beiden Pfeilern, der Demokratie als Entscheidungssystem und der Demokratie als Lebensform verloren hat, dann könnte in der Tat das Argument des Repräsentationsdefizits verfangen, also der mangelnden oder völlig unzureichen‐ den Vertretung von Teilen der Bevölkerung in den Institutionen und Kanälen öffent‐ lich sichtbarer Willens- und Entscheidungsbildung, in Parteien, Parlamenten und Medien. Die sich abgehängt, ausgeschlossen oder unzureichend gehört Fühlenden sind dann das Segment, welches von politischen Unternehmern mit den modi ope‐ randi des Populismus eingefangen und mobilisiert werden, um gegen die Erstarrung der Demokratie, gegen Ausschluss und Benachteiligung aufzustehen. Trump und Farage machten sich – mit beträchtlichem Erfolg – zu den Sprechern von sozioökonomisch benachteiligten oder kulturell dominiert fühlenden Bevölke‐ rungsgruppen. Marine Le Pen wie zuvor schon ihrem Vater war es lange Zeit gelun‐ gen, aus den sozialen, kulturellen und religiösen Spannungen, die nicht zuletzt aus der Zuwanderung von Angehörigen frankophoner Magreb-Staaten, ehemaligen Ko‐ lonialgebieten, erwuchsen, eine nationale Front des Widerstands zu schmieden. Pe‐ gida gab (auch) dem schwelenden Ressentiment eines sich seit der Vereinigung von 1990 zurückgesetzt fühlenden Teils Sachsens eine Stimme, wie es der „Alternative für Deutschland“ (und Pegida) gelang, die in weiten Teilen Deutschlands verbreite‐ ten, aber öffentlich nicht abgebildeten Ängste vor dem Verlust der Kontrolle über Migrationsströme in Wählerstimmen umzusetzen. Alle diese Bewegungen, so scheint es, brachten etwas zum Vorschein, was zwar latent vorhanden, aber nicht sichtbar gewesen war. Populisten traten in das Rampenlicht und sammelten die Un‐ zufriedenen, nicht öffentlich Repräsentierten ein, gaben ihnen eine Stimme, klagten

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die vermeintliche Korruptheit der Elite an, bezichtigten die Politiker des Verrates und ließen die Empörung als „Wille des Volkes“ erscheinen. Nun fällt es schwer, solche Strömungen des Populismus als „gute“ zu kennzeich‐ nen, zumal sie sich, wie zu beobachten ist, mit rechtsextremen und extremistischen Gruppierungen gemein machen und in ihrer Stoßrichtung weit über die Sichtbarma‐ chung von Repräsentationsproblemen hinaus die Grundlagen der freiheitlichen De‐ mokratie angreifen. Gleichwohl lässt sich nicht bestreiten, dass die zeitgenössischen rechtspopulistischen Bewegungen Konfliktlinien der Gegenwart markieren, die zur Spaltung westlicher Gesellschaften und zu Verwerfungen innerhalb der europäischen und transatlantischen Gemeinschaft geführt haben. Man kann diese cleavages als kulturelle und/oder als sozioökonomische interpretieren, als Kampf um kulturelle Identitäten, wo sich ethnozentrische und kosmopolitische Einstellungen und Grup‐ pen gegenüberstehen oder als sozioökonomische, wo, verkürzt gesagt, Globalisie‐ rungsgewinner und Globalisierungsverlierer aufeinandertreffen.20 Zumeist vermögen es die Rechtspopulisten, kulturelle mit sozialen und ökonomischen Befindlichkeiten sowie antieuropäische mit nationalistisch-identitären Sentiments zu verschweißen und so das Maximum an politischem Momentum zu erzeugen. Als gut könnten sich diese Populismen allenfalls von ihren Effekten her beschrei‐ ben lassen, nämlich dann, wenn sie als Seismographen von Defiziten des Repräsen‐ tationssystems ernst genommen werden und die anderen, demokratischen Kräfte da‐ rauf zu reagieren wissen. Dann könnten Populismen als Sammelbecken des Protes‐ tes eine inklusive und transformative Funktion haben für eine Demokratie, die in ihrer Responsivität nachgelassen hat. Wenn Nicht-Wähler, die sich resigniert von den etablierten Parteien abgewendet haben, wieder in den politischen Prozess inte‐ griert werden, stellt dies einen Gewinn für das demokratische System dar. So wäre zu konzedieren, dass ein solcher – situativer, vorübergehender – Empörungspopulis‐ mus ‚am Ende des Tages‘ nicht notwendig eine Bedrohung für die Demokratie dar‐ stellen muss, sondern auch als Frischzellen-Kur wirken kann - vorausgesetzt, er hat nicht zuvor die Gräben in der Gesellschaft in antagonistischer Weise vertieft sowie die institutionelle Grundstruktur und das Vertrauen in die Demokratie nachhaltig be‐ schädigt.

Der populistische Angriff auf die repräsentative Demokratie Das aber ist doch vielfach der Fall. Denn Populismen rekurrieren in ihren Mobilisie‐ rungsstrategien auf ein Set von Ideologemen, die den Grundsätzen moderner, libera‐ ler Demokratie widersprechen. In Orbans Rede von der „illiberalen Demokratie“ 20 Zu den Diskussionen um Gründe, Konfliktlinien etc. vgl. etwa Eribon 2016; Hochschild 2016; Merkel 2017; Lilla 2017; Rodrik 2017; Bertelsmann-Stiftung.

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wird ein Gegenbild zur offenen, pluralistischen Gesellschaft gezeichnet. Es basiert auf Vorstellungen, die sich als die drei Phantasmen von Homogenität, Authentizität und Unmittelbarkeit beschreiben lassen und deren imaginative Potenziale auf die Zerstörung der Institutionen, Prinzipien und Verfahren der modernen, repräsentativ verfassten und konstitutionell eingehegten Demokratie gerichtet sind. Sie lassen die Übergänge von einem guten Populismus zu seinen schlechten oder hässlichen Brü‐ dern fließend werden. Populismen misstrauen Einrichtungen, die eine gewisse institutionelle Autonomie und damit auch Widerständigkeit besitzen, wie Justiz, Verfassungsgerichten, Medien oder auch Zentralbanken. In ihnen wird in den Augen von Populisten und ihren An‐ hängern der Volkswille verfälscht. Genauso verhält es sich auch mit territorialen Aufteilungen von Macht, wie es sie in föderal organisierten Staaten gibt. Einher geht mit diesem Misstrauen gegenüber den Institutionen der liberalen und konstitutionel‐ len Demokratie auch eine Beschneidung und bewusste Verwehrung der verfassungs‐ mäßig garantierten Rechte von ethnischen, nationalen, kulturellen und religiösen Minderheiten. Diversität erscheint als Übel, weil sie den als unverbrüchliche Einheit vorgestellten Willen des Volkes bricht. Aushandlungsprozesse, Kompromissbildung, Deliberation erscheinen dann als Manöver von Ablenkung und Verschleierung und stören die Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen Führer und Volk. Kommuniziert wird ebenfalls unmittelbar, direkt zwischen Gefolgschaft und Führer – neuerdings und bevorzugt mittels Tweets –, regiert wird auf dem Weg des Dekretes – beides be‐ vorzugte Führungsmittel des amerikanischen Präsidenten. Das Prinzip der Unmittel‐ barkeit tritt damit an die Stelle der für die repräsentative Demokratie kennzeichnen‐ den zivilgesellschaftlichen, intermediären Willens- und mediatisierten Entschei‐ dungsbildungsprozesse. In der repräsentativen Demokratie werden politische Kom‐ promisse ausgehandelt, und Balancen und Kontrollen zwischen den politischen Ge‐ walten verhindern, dass Macht willkürlich ausgeübt wird. Populisten hingegen su‐ chen all das zu umgehen, um den Willen des Volkes unmittelbar und direkt – in der Verkörperung und im Vollzug des Führers – wirksam werden zu lassen. Der proklamierte Wille des Volkes ist auch der einzig legitime, und das deshalb, weil er für authentisch gehalten wird – und dies in einem doppelten Sinne: als Aus‐ druck einer sozialen Einheit und als Ausdruck eines bestimmten politischen Willens. Dabei wird die soziale Einheit zumeist als historisch tradierte und lokal oder regio‐ nal verortete begriffen, als „Heimat“ einer vermeintlich intakten Vergangenheit, die es zu erhalten oder wieder herzustellen gilt. Authentisch ist der politische Wille auch, weil er dem Kollektivsingular Volk entspringt und unverstellt im Medium des Führers verkörpert wird.

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Populismen basieren im Kern auf der Illusion einer Einheit in sich selbst. Die Vorstellung einer homogenen Entität des politischen Gemeinwesens21 besitzt den Vorzug, die Identität eines klar und eindeutig definierten politischen Kollektivs be‐ haupten und gegen die Faktizität des anstrengenden und langwierigen demokrati‐ schen Prozesses in Stellung bringen zu können. Sie gebiert eine Logik, die die Idee der Differenz und des Anderen aus dem Vorstellungshaushalt der Demokratie elimi‐ niert. Die Imaginationen von Einheit, Identität und politischer Gemeinschaft, im deutschen Kontext zumal historisch als „Volksgemeinschaft“ semantisch kodiert, werden dann auch zur Schnittstelle zwischen Populismus und Totalitarismus.22 Mo‐ derne Demokratien aber müssen darauf bestehen, dass die Pluralität von Werten und Interessen nur auf dem Wege notwendig konfliktiver Willensbildungs- und Entschei‐ dungsprozesse zu einem Ausgleich pro tempore gebracht werden kann. Die Demo‐ kratie basiert auf der Idee einer offenen Gesellschaft, die über die politische Ebene von Fall zu Fall integriert wird, während der Populismus auf der Imagination einer geschlossenen, homogenen kollektiven Einheit beruht, die historisch oder ethnisch begründet wird und im vermeintlich einheitlichen Volkswillen ihren unmittelbaren Ausdruck findet. Aus der Warte der modernen, repräsentativen Demokratie ist den Populismen also nicht zu trauen. Ob sie gut, schlecht oder hässlich sind, ob sie positive Effekte für eine Erneuerung und Befestigung der Demokratie erzeugen oder das demokratische Legitimationsgefüge erschüttern oder gar die autoritär-totalitäre Transformation ein‐ leiten, lässt sich meist erst post festum sagen. In welchem Stadium wir uns gegen‐ wärtig befinden, lässt sich schwer diagnostizieren. Die Befunde werden unterschied‐ lich ausfallen, in den Vereinigten Staaten wird die Robustheit der demokratischen Institution einem Lackmustest unterzogen, mit ungewissem Ausgang. In Mitteleuro‐ pa, in Ungarn, Polen und Tschechien, lassen sich Tendenzen zur semi-autoritären Überformung demokratischer Strukturen erkennen. In Westeuropa ist noch nicht ausgemacht, ob die Flut der Populismen eingehegt werden kann. Auch könnten die gegenwärtigen Metamorphosen westlicher Demokratien Anlass zur Vermutung ge‐ ben, dass der Populismus zu einem langen Schatten23 wird, weil die zeitgenössi‐ schen Demokratien selber Entwicklungen erkennen lassen, die als schleichende po‐ pulistische Transformation gedeutet werden können.24

21 Vgl. Lefort 1991. 22 Die Berührungspunkte, aber auch die großen Unterschiede zwischen Faschismus und Populis‐ mus werden in überzeugender Weise herausgearbeitet von Finchelstein 2017. 23 Arditi 2003: 20. 24 Vorländer 2011a; 2013.Ähnlich auch Mair 2002; Decker 2003; Urbinati 2014.

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Populistische Transformationen der repräsentativen Demokratie? Es sind vor allem drei Entwicklungen, die hier – abschließend – genannt werden müssen: Die neuen sozialen Medien bewirken eine grundlegende Transformation der Öffentlichkeit. War bislang der öffentliche Meinungs- und Willensbildungsprozess stark von den audiovisuellen und den Print-Medien geprägt, so treten nun die For‐ men der Internetkommunikation in den Vordergrund. Diese operieren schneller und vermögen anlassbezogen politische Artikulation und Protest zu organisieren und eruptive Aufwallungen politischer Stimmungslagen zu erzeugen. Zugleich bilden sich hermetisch geschlossene Netzwerke heraus, die als geteilte Echoräume Gemein‐ schaften Gleichgesinnter entstehen lassen, die den Widerspruch ausschließen. Wo Wut, Zorn und Aggression, Skandalisierung und Verschwörungstheorien das Mei‐ nungsbild bestimmen, scheint das digitale Zeitalter einen neuen politischen Typus, den der Empörungsdemokratie hervorzubringen. Die „vernetzten Vielen“ (Bernhard Pörksen) besitzen Macht, besitzen aber keine institutionelle Anbindung an das poli‐ tische Entscheidungssystem. Sie setzen aber die repräsentativen Prozesse unter Zeit-, Reaktions- und Entscheidungs- und Legitimationsdruck. Die neuen populisti‐ schen Bewegungen, linke wie rechte, sind zumeist zuerst im Netz entstanden und haben in einem zweiten Schritt dann Straßen und Plätze besetzt. Die sozialen Medi‐ en werden hier zu Mobilisierungsgeneratoren von Populismen. Dem gegenüber steht, auf der anderen Seite, ein ähnlich tiefgreifender Wandel der Institutionen der verfassten Demokratie, die sich heute viel stärker an medialen Auf‐ merksamkeitsmomenten ausrichten und versuchen, im Minutentakt, also in ‚Echt‐ zeit‘ auf aktuelle Entwicklungen zu reagieren. Das lässt schnelle und einsame Ent‐ scheidungen präferieren und führt zu einem präsidialen, bisweilen fast autokratisch anmutenden Führungsstil, der den zeitaufwendigen Beratungs- und Aushandlungslo‐ giken repräsentativer Willens- und Entscheidungsbildungsprozessen ebenso wider‐ spricht wie den Beteiligungsnotwendigkeiten demokratischer Gremien und Institu‐ tionen und damit Gegenreaktionen der „nicht mehr Gehörten und Repräsentierten“ erzeugt. Elitendemokratie und populistische Revolten sind die zwei Seiten dieser Entwicklung. Schließlich sind es die fortschreitenden Auflösungserscheinungen des politischen Vorfeldes, der sozialen Infrastruktur der Demokratie, die als Störungen im Vermitt‐ lungsprozess zwischen Bürger und politischem Entscheidungsprozess die Populis‐ men strukturell begünstigen. Parteien, Gewerkschaften, Stammtische und Vereine verlieren immer mehr ihren politisch bindenden, organisierenden, aber auch integrie‐ renden Charakter. Damit verliert die Zivilgesellschaft wichtige soziale, intermediäre, zwischen der politischen und der lebensweltlichen Ebene vermittelnde Institutionen. Zugleich sorgt die Transformation des Parteiensystems, die Lockerung beziehungs‐ weise die Auflösung enger Milieubindung, zu einer nahezu uneingeschränkten Per‐

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sonalisierung des politischen Prozesses. Das ist die Stunde der populistischen Füh‐ rerfiguren, die es verstehen, durch unmittelbare, über die (sozialen) Medien perfekt inszenierte Ansprache die Wählerschaft für sich zu gewinnen. Auswirkungen dieser strukturellen Veränderungen lassen sich bereits seit länge‐ rem beobachten: Aus der Implosion der tradierten Parteienkonstellation in Italien, die sich in der Nachkriegszeit gebildet hatte – eine starke christlich-demokratische Säule auf der einen, eine ebenso starke sozialistisch-kommunistische Formation auf der anderen Seite – begründete in den 1990er Jahren den Aufstieg Berlusconis und seiner Partei „Forza Italia“ wie auch in letzter Zeit der Sammlungsbewegung der „Cinque Stelle“ unter der Führung von Beppe Grillo. Die rechtspopulistische „Frei‐ heitliche Partei Österreichs“ profitierte von der Versäulung des österreichischen Par‐ teiensystems, welche sich in der Verstetigung einer großen Koalition von konservati‐ ver Österreichischer Volkspartei und Sozialistischer Partei Österreichs zum Aus‐ druck brachte. Eine nationale Mehrheitsposition der FPÖ wiederum konnte zuletzt nur verhindert werden, indem sich der Spitzenkandidat der ÖVP populistischer Stra‐ tegien bediente und sich zur „Liste Kurz“ erklärte und damit das Image eines jun‐ gen, unverbrauchten Kandidaten, der sich demonstrativ von der alten Partei distan‐ zierte, als Marke werbewirksam und erfolgreich zu inszenieren verstand. Und in Frankreich konnte eine ganz neue Formation „En marche“, wohlgemerkt: eine Be‐ wegung, entstehen, die den erschöpften Links-Rechts-Parteien den Todesstoß ver‐ setzte. Nicht von ungefähr bediente sich der Macronisme aus dem populistischen Werkzeugkasten und verstand es, die Hyperpersonalisierung des Erneuerers charis‐ matisch zu inszenieren. Ob sich diese Beobachtungen bereits zu der These einer grundlegenden populistischen Transformation der modernen, repräsentativen Demo‐ kratie verdichten lassen, muss vorerst noch offen bleiben.

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Frank Decker Brauchen wir mehr direkte Demokratie? Begründungslinien einer skeptischen Position

1. Der lauter werdende Ruf nach mehr direkter Demokratie Für einen Demokratietheoretiker, der sich nicht scheut in öffentliche Debatten einzu‐ greifen, ist es seit Ende der 1980er Jahre nahezu eine Pflicht gewesen, sich (auch) mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die vorhandenen repräsentativen Entschei‐ dungsverfahren unserer Demokratie(n) durch direktdemokratische Elemente ergänzt werden können oder müssen. Seit dieser Zeit hat das Thema „Konjunktur“, was an der wissenschaftlichen Publikationsflut sowie am tatsächlichen Vormarsch der direk‐ ten Demokratie ablesbar ist. In diesem Vormarsch verbinden sich wiederum zwei miteinander zusammenhängende Entwicklungen: In den (konsolidierten) demokrati‐ schen Verfassungsstaaten finden mehr Volksabstimmungen statt und es schreiten die verfassungsrechtliche Einführung beziehungsweise der Ausbau der direktdemokrati‐ schen Verfahren voran, wobei die Gemeinden und Gliedstaaten sich in der Regel als Vorreiter der nationalen Ebene entpuppen. Ein Rückblick auf die Geschichte der Demokratisierung im 20. Jahrhundert zeigt, dass die Einführung von Elementen direkter Demokratie in den seltensten Fällen freiwillig erfolgte. Fast immer handelte es sich um Konzessionen der herrschenden Eliten an die Bevölkerung, die nur unter massivem Druck zustande kamen. Für das Vordringen der Plebiszite lassen sich zwei Haupterklärungen anführen. Zum einen kann die Demokratisierung als Ausdruck eines generell gestiegenen Partizipations‐ bedürfnisses betrachtet werden, das an der Zunahme des politischen Interesses fest‐ zumachen ist und dessen Ursachen im verbesserten Bildungs- und Informationsni‐ veau der Bürger liegen. Zum anderen handelt es sich um eine spezielle Reaktion auf die Krise der demokratischen Vermittlungsinstitutionen.1 Beide Erklärungen sind miteinander verwoben, bildet das gestiegene Selbstbe‐ wusstsein der Bürger doch die Kehrseite ihres Vertrauensverlusts in die etablierten demokratischen Institutionen. Während Gerichte, die Polizei, die öffentliche Verwal‐ tung oder der sich als „überparteilich“ verstehende Bundespräsident hohes Ansehen genießen, ist das Vertrauen in Parteien, Parlament und Regierung stark gesunken. Empirischen Niederschlag findet das in der auf Wahlen bezogenen Partizipation. Die 1 Vgl. Luthardt 1994, S. 167.

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Organisationskraft der Parteien sinkt, die Wahlbeteiligung ist auf allen Ebenen des politischen Systems rückläufig, die soziale Ungleichheit der politischen Beteiligung wächst, und die Wähler neigen vermehrt zu „abweichendem“ Stimmverhalten, was sich in Wahlerfolgen rechts und -linkspopulistischer „Protestparteien“ ausdrückt. Als selbst erklärte „Anti-Establishment“- oder „Anti-Parteien-Parteien“ sprechen diese offensichtlich vielen enttäuschten Bürgern aus der Seele. Dies gilt auch für ihre For‐ derung nach mehr direkter Demokratie. Über die Ursachen der Repräsentationsschwäche der Parteien existiert eine um‐ fangreiche Literatur. Sie liegen zum einen im gesellschaftlichen Bereich, wo die Plu‐ ralisierung und Neuformierung der Konfliktlinien (cleavages) dafür gesorgt hat, dass die natürlichen Bindungen der Parteien an ihre typischen Wählerklientelen schwä‐ cher geworden sind. Standen zumal die Volksparteien früher für die Wert- und Inter‐ essenlagen ganz bestimmter Bevölkerungsgruppen, so lässt sich die Vielfalt der heu‐ tigen Interessen ideologisch und sozialstrukturell kaum noch auf einen Nenner brin‐ gen. Für die politischen Eliten hat das zur Folge, dass sie mit der Aktualisierung der alten Konflikte immer weniger Menschen dauerhaft erreichen können. Stattdessen müssen sie um eine zunehmend wechselbereiter werdende Wählerschaft buhlen, die bei der Stimmabgabe keine Gewissheiten mehr kennt. Die soziologischen Funkti‐ onsbedingungen des repräsentativen Prinzips werden dadurch unterminiert.2 Auf der anderen Seite haben sich die Rahmenbedingungen und Anforderungen des Regierens im Zuge der beschleunigten Globalisierung so verändert, dass die Par‐ teien ihre bisherige Vorrangstellung unter den demokratischen Institutionen einbü‐ ßen. In der staatlichen Sphäre sind sie gezwungen, einen Teil ihrer repräsentativen Funktionen an unabhängige Behörden oder Verfassungsgerichte abzutreten, die über bessere „reflexive“ Fähigkeiten verfügen und sich eher an Grundprinzipien und Langfristzielen orientieren als die nach verbreiteter Meinung nur auf ihren eigenen Machtvorteil bedachten gewählten Vertreter. In der elektoralen Sphäre fällt es ihnen schwerer, klar unterscheidbare politische Alternativen zu entwickeln und den Wäh‐ lern als Angebot zu unterbreiten. Und in der gesellschaftlichen Sphäre werden sie mit der Tatsache konfrontiert, dass die Beteiligung vermehrt außerhalb der Parteien – in Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen oder Nichtregierungsorganisationen – stattfindet, die Bürger also andere Formen und Kanäle der Einflussnahme vorziehen. Die Einführung von zusätzlichen Formen der Abstimmungsdemokratie in der staatlichen Sphäre erscheint vor diesem Hintergrund folgerichtig. Fragt man die Bür‐ ger selbst, ob sie mehr direkte Demokratie wollen, liegt die Zustimmung in der Re‐ gel bei um die 80 Prozent.3 Dass die Verfahren dort, wo sie bereits bestehen, häufig gar nicht genutzt werden, steht dazu nur scheinbar in Widerspruch. Ihre hohe Wert‐ schätzung lässt sich erklären, wenn man sie auf der einen Seite mit weiteren, nicht2 Vgl. Decker 2011, S. 43 ff. 3 Vgl. Decker / Lewandowsky / Solar 2013, S. 55 ff.

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verfassten Formen der politischen Partizipation und auf der anderen Seite mit Wah‐ len und Parteien vergleicht. Im Vergleich zu den anderen Partizipationsformen haben die direktdemokratischen Verfahren aus der Sicht der Bürger den Vorzug, dass mit ihnen nicht nur Einfluss auf politische Entscheidungen genommen werden kann, sondern sie selbst diese Entscheidungen unmittelbar und verbindlich herbeiführen. Darüber hinaus handelt es sich wie bei den Wahlen um ein niedrigschwelliges, ein‐ fach zu nutzendes Instrument. Im Vergleich zu Wahlen und Parteien rührt die Wert‐ schätzung der direkten Demokratie aus ihrer Umgehungsfunktion. Die Entscheidun‐ gen werden anstelle der repräsentativen Institutionen beziehungsweise an diesen vorbei getroffen, wobei das Attribut „direkt“ zugleich suggerieren soll, dass es sich um eine höherwertige, ja die eigentliche Form der Demokratie handelt.

2. Direkte Demokratie versus repräsentative Demokratie Spätestens hier muss die Kritik einhaken. Peter Graf Kielmansegg hat sich dem The‐ ma direkte Demokratie in mehreren Beiträgen gewidmet, am ausführlichsten in dem 2006 im Jahrbuch für Extremismus und Demokratie publizierten Aufsatz „Über di‐ rekte Demokratie“, den er mit dem für ihn typischen Understatement als „Anmer‐ kungen“ deklariert.4 Wird das Thema hier in begrifflicher, ideengeschichtlicher und systemvergleichender Hinsicht umfassend entfaltet, so nimmt ein kürzerer, bereits Mitte der 1990er Jahre erschienener Beitrag vor allem auf das Verhältnis von direk‐ ter Demokratie und parlamentarischer Regierungsform Bezug.5 Der letztgenannte Aspekt wird wiederum in der parallel entstandenen Dissertation von Kielmanseggs Schülerin Sabine Jung vertieft6, die zum ersten Mal den Versuch macht, die direkt‐ demokratischen Verfahren in die gängigen Typologien demokratischer Systeme – Mehrheits- versus Konsensdemokratie und parlamentarisches versus präsidentielles Regierungssystem – einzuordnen. Diese Schrift ist in der deutschsprachigen Zunft breit rezipiert worden und hat weitere Arbeiten zur „Systemverträglichkeit der direk‐ ten Demokratie“ inspiriert.7

4 Kielmansegg 2006. Der Beitrag wurde in erweiterter Form in den Aufsatzband „Die Grammatik der Freiheit“ wiederaufgenommen (Kielmansegg 2013). Auf diese Fassung wird nachfolgend Bezug genommen. Publizistisch hatte Kielmansegg das Thema schon 2001 in einem Zeitungs‐ beitrag aufgegriffen. 5 Kielmansegg 1998. Eine deutsche Fassung war zwei Jahre vorher erschienen. 6 Jung 2001. Eine Vorab-Studie wurde von derselben Autorin in der „Zeitschrift für Politikwis‐ senschaft“ veröffentlicht (Jung 1996). 7 So der Titel eines vom Verfasser ebenfalls in der „Zeitschrift für Politikwissenschaft“ veröffent‐ lichten Aufsatzes, der neben der parlamentarischen Regierungsform auch das Verhältnis der di-

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Begriffssystematisch plädiert Kielmansegg dafür, die Unterscheidung zwischen repräsentativer und direkter Demokratie ausschließlich am Unterschied zwischen Wahlen und Abstimmungen festzumachen. Abstimmungs- und Wahldemokratie hät‐ ten nicht nur ihre je eigene Rationalität, sondern auch ihre je eigene Geschichte. Die Unterscheidung zwischen beiden Formen müsse „an die Differenz zwischen Wahlen und Abstimmungen als zwei grundverschiedene Modi der Bürgerbeteiligung an‐ knüpfen. Repräsentative Demokratie ist Wahldemokratie, direkte Demokratie ist Ab‐ stimmungsdemokratie, die vormodern Versammlungsdemokratie war und sich mo‐ dern durch Abstimmungen an der Urne verwirklicht.“8 Kielmanseggs strikte Unterscheidung zwischen Wahl- und Abstimmungsdemo‐ kratie widerspricht dem Begriffsverständnis von „repräsentativ“ und „plebiszitär“, das Ernst Fraenkel seiner berühmten Abhandlung über „(d)ie repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat“9 zugrundegelegt hat. Nach Fraenkel verkörpert das repräsentative Prinzip den angenommenen „wahren“ Volkswillen, während das plebiszitäre Prinzip den „empirischen“, also tatsächlichen Volkswillen zum Ausdruck bringe. Sofern sie dem tatsächlichen Volkswillen zur Wirkung verhelfen, fallen damit auch Wahlen unter die plebiszitäre Demokratie. Kielmansegg kritisiert dies als unzulässige Gleichsetzung von „plebiszitär“ und „de‐ mokratisch“. In der Tat besteht das Problem von Fraenkels Definition darin, dass sie nicht klar sagen kann, wo das repräsentative Prinzip endet und das plebiszitäre be‐ ginnt. So möchte Fraenkel nur bestimmten Arten von Wahlen das Attribut „plebiszi‐ tär“ zubilligen, etwa den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen oder den briti‐ schen Unterhauswahlen, aus denen faktisch der Premierminister hervorgehe. Kielmanseggs Begriffsbestimmung schafft Klarheit, erscheint aber zu apodik‐ tisch. Denn die ihr zugrunde gelegte Annahme, „dass Repräsentation nicht in jeder Gestalt, sondern dann und nur dann legitim das Gemeinwohl zur Geltung zu bringen vermag, wenn sie aus allgemeinen Wahlen hervorgeht“10, spricht den Abstimmun‐ gen jedwede repräsentative Qualität von vornherein ab. Versteht man unter „Reprä‐ sentation“ in einem formalen Sinne11 die Ausübung von Herrschaft im Auftrag oder Namen des Volkes, mithin das stellvertretende Entscheiden, lassen sich plebiszitäre Sachentscheidungen darunter aber genauso subsumieren wie Parlaments- oder Re‐ gierungsentscheidungen. Auch das Volk trifft ja, wenn es zum Plebiszit aufgerufen ist, seine Entscheidung immer stellvertretend für jene, die daran nicht teilnehmen wollen, dürfen oder können. Zu den beiden letztgenannten Gruppen gehören zum rekten Demokratie zum Föderalismus und zur Verfassungsgerichtsbarkeit behandelt (Decker 2005). 8 Kielmansegg 2013, S. 106 f. 9 Fraenkel 1958. 10 Kielmansegg 2013, S. 106. 11 Dies schließt an die begriffliche Differenzierung von Hannah Pitkin (1967) an, die zwischen formaler, deskriptiver, symbolischer und substanzieller Repräsentation unterscheidet.

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Beispiel Kinder oder die künftigen Generationen. Die Abstimmungsdemokratie stellt so gesehen nur eine Variante der repräsentativen Demokratie dar, bei der die Gesetzgebung nicht den gewählten Vertretern, sondern den Wählern selbst obliegt, die dadurch in den Status einer Verfassungsinstitution hineinwachsen. Die Trennlinie würde nach dieser Lesart zwischen parlamentarischer und plebiszitärer Repräsentati‐ on verlaufen, nicht zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie.12 Gegen einen so erweiterten Repräsentationsbegriff lässt sich natürlich einwenden, dass er das Prinzip nur vom Ende – der Entscheidung – aus betrachtet, während der Modus der Repräsentation – die Wahl – ausgeblendet bleibt. Dennoch hat er den Vorteil, dass er die Gemeinwohlvermutung nicht ausschließlich bei den parlamenta‐ risch, also von gewählten Vertretern getroffenen Entscheidungen verortet. So wie sich das plebiszitäre Prinzip bei den Wahlen Bahn bricht, so kann sich das repräsen‐ tative Prinzip umgekehrt auch in einem plebiszitären Verfahren entfalten, wenn die‐ ses der Ermittlung des wahren Volkswillens genügend Raum gibt. Zusätzlich untermauern lässt sich das letztgenannte Argument, wenn man die – in Pitkins Terminologie – deskriptive Bedeutungsebene der Repräsentation einbezieht. Diese besagt, dass die Regierenden in ihren Eigenschaften ein möglichst getreues Abbild der Regierten darstellen. Zugrunde gelegt werden können dabei sozialstruk‐ turelle Merkmale wie regionale Herkunft, Alter, Geschlecht, Beruf oder Schichtzu‐ gehörigkeit, aber auch Einstellungen und politische Überzeugungen. Schaut man sich die empirische Forschung zur direkten Demokratie unter diesem Gesichtspunkt an, so fällt auf, dass die Abstimmungsbürger sehr viel häufiger mit den Wählern ver‐ glichen werden als mit den gewählten Vertretern. In der deutschen Diskussion ist in diesem Zusammenhang in den letzten Jahren vor allem die vermeintlich größere so‐ ziale Selektivität der Abstimmungen als Problem ausgemacht worden.13 Wechselt man die Perspektive und betrachtet man die Abstimmungsbürger als Repräsentati‐ onsorgan, die anstelle der gewählten Vertreter über ein Gesetz entscheiden, würden die im Vergleich zu den Wahlen niedrigere Abstimmungsbeteiligung aber ebenso wenig ein Problem darstellen wie der potenziell höhere Bildungsgrad und die besse‐ re Informiertheit der Abstimmenden. Das gilt erst recht, wenn man die dem Volks‐ entscheid vorgelagerte Initiativphase mit berücksichtigt, die in der Regel eine noch sehr viel größere elitäre Schlagseite aufweisen.14

12 In diese Richtung argumentiert der Fraenkel-Schüler Winfried Steffani (1999, S. 774). 13 Vgl. Schäfer / Schoen 2013. Maßgeblich befördert wurde die Diskussion durch das Ergebnis des Volksentscheids über die Schulreform in Hamburg im Jahre 2010, mit dem die Bürger die geplante Einführung einer sechsjährigen Primarschule zu Fall brachten. Dort hatte es in der Beteiligung eine starke Spreizung zwischen den reichen und armen Stadtteilen gegeben, die den Eindruck aufkommen lassen konnte, eine gut organisierte Minderheit der Privilegierten ha‐ be ihr Interesse gegen eine schweigende Mehrheit durchgesetzt. 14 Zur elitären Begründung der repräsentativen Demokratie vgl. Linden 2017, S. 65 ff.

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Ob direktdemokratisch getroffene Entscheidungen dem Gemeinwohl abträglicher sind als die Entscheidungen gewählter Vertreter, ist von daher zunächst und in erster Linie eine empirische Frage. Kielmansegg geht auf die hierzu in der international vergleichenden Forschung vorliegenden Befunde leider kaum ein. Stattdessen be‐ schränkt er sich darauf, seine These einer normativen Höherwertigkeit der repräsen‐ tativen gegenüber der direkten Demokratie mit zwei in der Tat gewichtigen theoreti‐ schen Argumenten zu untermauern. Das erste Argument fußt auf dem mit der repräsentativen Demokratie untrennbar verbundenen Amtsprinzip, das Kielmansegg15 an folgenden Maximen festmacht: – Die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, wird nicht aus eigenem, ur‐ sprünglichem Recht ausgeübt, sondern als übertragene Vollmacht. – Die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, ist rechtlich eingegrenzt. Die Idee des Amtes ist mit unbegrenzter Handlungsfreiheit unvereinbar. – Die Befugnis, für andere verbindlich zu entscheiden, hat eine Bestimmung, die nicht zur Disposition des Amtsinhabers steht, sondern ihm vorgegeben ist. Die Bestimmung des Amtes ist das Gemeinwohl. – Wer befugt ist, für andere verbindlich zu entscheiden, muss sich verantworten. Verantwortlichkeit ist möglicherweise das konstitutive Element des Amtes über‐ haupt. Zwar ist es für Kielmansegg durchaus vorstellbar, dass sich der einzelne den anderen Bürgern gegenüber verantwortlich fühle, wenn er bei einer Abstimmung über diese mitentscheide, doch sei seine Verantwortlichkeit nirgends institutionalisiert und da‐ mit auch nicht – wie bei den repräsentativen Vertretern – sanktionierbar. Die durch Wahl bestellten Abgeordneten können von den Wählern wieder abgewählt und so zur Verantwortung gezogen werden. Für das Abstimmungsvolk gibt es dagegen, wie es der Staatsrechtler Josef Isensee ausdrückt, „kein Gegenüber, vor dem es sich rechtfertigen müsste und für das es Verantwortung trüge; der Teilnehmer entscheidet geheim und braucht nicht öffentlich für sein Votum einzustehen.“16 Der Begründungs- und Rechtfertigungszwang ist in diesem Argument der stärke‐ re Teil. Hinter der Sanktionierbarkeit muss man wegen der komplexen Entschei‐ dungsabläufe und -realitäten gewaltenteiliger Regierungssysteme gewisse Fragezei‐ chen setzen und sich hüten, dies als Vorteil der repräsentativen Demokratie zu über‐ höhen. Tatsächlich sind die Entscheidungen ihren Urhebern oft nur schwer zure‐ chenbar, während sich die Repräsentanten gleichzeitig durch Wahlrechtsregelungen und die Modalitäten der Koalitions- und Regierungsbildung vor der Abwahl schüt‐ zen können. Andere politische Akteure wie die Verfassungsrichter sind der Sanktio‐

15 Kielmansegg 1988, S. 59. Das Kapitel wurde in den 2013 erschienenen Band übernommen. 16 Isensee 2009, S. 311.

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nierbarkeit sogar ganz enthoben, obwohl sie durch ihre letztverbindlichen Entschei‐ dungen ebenfalls Regierungsgewalt ausüben.17 Das zweite Argument, das Kielmansegg für die Überlegenheit der repräsentativen Demokratie ins Feld führt, setzt bei eben dieser komplexen Entscheidungsrealität an. Zum einen entzögen sich die direktdemokratischen Entscheidungen dem Zwang zur Kohärenz, weil sie disjunkt fielen. „Jede Abstimmungsmehrheit trifft als solche eine und nur eine Entscheidung. Als einmalige Mehrheit kann sie diese Entscheidung zu keiner anderen Entscheidung bewusst in Beziehung setzen.“18 Zum anderen seien Deliberation und Entscheidung im repräsentativen Verfahren kontinuierlich ver‐ knüpft, während im direktdemokratischen Verfahren eine bestimmte Entscheidungs‐ frage als Ja-Nein-Option frühzeitig fixiert werden müsse. Dies mindere den Spiel‐ raum für Kompromisse. Auch hier steht der zweite Teil des Arguments auf schwächeren Füßen als der ers‐ te. Mit Blick auf die Bundesrepublik übersieht er zum Beispiel die starke institutio‐ nelle Verschränkung von parlamentarischer und Volksgesetzgebung in sämtlichen Länderverfassungen. In der Praxis führt das dazu, dass das Gros der Volksinitiativen und -begehren bereits während des Verfahrens durch Kompromisse mit dem Parla‐ ment zum Erfolg geführt werden kann, ohne dass es zum Volksentscheid kommt.19 In der Schweiz zeigt sich dieser Effekt in Gestalt der sprichwörtlichen Vorab-Wir‐ kungen noch sehr viel ausgeprägter. Hier hat die Drohwirkung des fakultativen Re‐ ferendums zur Folge, dass die Deliberation in den gouvernementalen und parlamen‐ tarischen Prozess vorverlagert wird, in dem die Regierenden für eine möglichst brei‐ te Interessenberücksichtigung sorgen. Und wenn es doch zum Referendum kommt, führen die in der Regel mehrmonatigen Fristen bis zur Abstimmung dazu, dass der öffentlichen Diskussion und Kommunikation häufig mehr Raum gegeben wird als im parlamentarischen Verfahren.20 Während der Parteienwettbewerb im repräsentati‐ ven System die politischen Akteure in Versuchung bringt, bestimmte Themen – je nach Stimmungslage – kurzfristig „hochzuziehen“, wenn sie sich davon Gewinn versprechen21, müssen die Konfliktparteien in einen plebiszitären Verfahren damit rechnen, dass sich die Stimmungen rasch abkühlen und ihre Anliegen nicht die er‐ hoffte Resonanz bringen. 17 Ein beliebter Einwand gegen direkte Demokratie lautet, dass sich die gewählten Vertreter mit Hilfe der plebiszitären Verfahren vor ihrer Entscheidungsverantwortung im repräsentativen System „drücken“ würden. Werden Entscheidungen an das Verfassungsgericht „weiterge‐ reicht“, was gerade in der Bundesrepublik häufig vorkommt, hört man denselben Vorwurf eher selten. 18 Kielmansegg 2013, S. 111. 19 Vgl. Decker 2016, S. 102 ff. 20 Vgl. Schneider 2003. 21 Ein Beispiel aus der deutschen Politik ist die nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im unmittelbaren Vorfeld der Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz im März 2016 hastig beschlossene „Energiewende“.

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Wesentlich triftiger ist das Kohärenzargument. Es greift vor allem dort, wo die Volksabstimmungen mit finanziellen Folgen verbunden sind, also den Haushalt be‐ treffen. In der Bundesrepublik gibt es über die Reichweite des bereits in der Weima‐ rer Reichsverfassung festgeschriebenen sogenannten „Finanztabus“, das Steuern, Besoldungsregelungen und das Haushaltsgesetz von der Volksgesetzgebung aus‐ nimmt, eine breite verfassungsrechtliche und -politische Debatte, bei der selbst die Befürworter der direkten Demokratie, die die Anwendungsbedingungen der Verfah‐ ren im Prinzip verbessern wollen, inzwischen vor einer zu starken Lockerung war‐ nen. „Eine Arbeitsteilung dergestalt, dass eine Initiative bestellt und die Politik nachher die Rechnung bezahlt, ist in Zeiten der Schuldenbremse nicht mehr hin‐ nehmbar.“22 Fasst man die demokratie- und repräsentationstheoretischen Argument zusam‐ men, so stellen sie eine eindrucksvolle Zurückweisung der von den Befürwortern der direkten Demokratie gelegentlich insinuierten Vorstellung dar, die Repräsentativver‐ fassung sei nur eine Art Notbehelf, weil die Demokratie in ihrer ursprünglichen, „wahren“, eben direkten Form unter den Bedingungen eines modernen Flächenstaa‐ tes nun einmal nicht praktizierbar sei. So überzeugend die Begründung des Reprä‐ sentationsprinzips ausfällt, schließt sie jedoch keineswegs aus, dass Plebiszite unter bestimmten Voraussetzungen helfen könnten, die Repräsentationsbasis politischer Entscheidungen zu verbreitern – in manchen Fällen, etwa bei grundlegendenden Verfassungsentscheidungen, ist ihr Legitimationspotenzial der repräsentative Demo‐ kratie sogar überlegen, wie Kielmansegg ausdrücklich selbst betont23. Bei der Frage nach der Sinnhaftigkeit einer Ergänzung des vorhandenen Repräsentativsystems um direktdemokratischen Verfahren geht es insofern weniger um das Ob als um das Wie und das Wieviel. Damit sind drei Aspekte angesprochen: die institutionelle Ausge‐ staltung der Verfahren, ihre Verträglichkeit mit den bestehenden Systemstrukturen und ihre gesellschaftlichen und politisch-kulturellen Grundlagen.

3. Direkte Demokratie und parlamentarische Regierungsform Kielmansegg bleibt nicht bei einer demokratie- und repräsentationstheoretischen Be‐ trachtung der direkten Demokratie stehen, sondern erweitert diese um eine institutio‐ nelle und ländervergleichende Analyse, die diese Fragen sorgfältig adressiert. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei dem zweiten Aspekt – der Systemverträglichkeit. Die politisch-kulturellen Kontextbedingungen werden am Beispiel Kaliforniens und der

22 Dressel 2017, S. 38, der das Hamburger Beispiel bemüht. Zur generellen Reichweite des Fi‐ nanztabus vgl. Waldhoff / von Aswege 2012. 23 Kielmansegg 2013, S. 138 f.

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Schweiz nur kurz gestreift24, während die zugebenermaßen äußerst facettenreichen Modalitäten der Ausgestaltung, die in der Praxis freilich erhebliche Bedeutung er‐ langen können, von kurzen Hinweisen auf das Quorenproblem und mögliche The‐ menausschlüsse abgesehen, sogar ganz außen vor bleiben. Mit Blick auf die Systemverträglichkeit sind drei Bereiche anzusprechen: die ver‐ fassungsgerichtliche Normenkontrolle, die territoriale Herrschaftsorganisation und die Organisation des Verhältnisses von Parlament und Regierung. Die geringsten Probleme sieht Kielmansegg im ersten Bereich. Die unter Demokratiegesichtspunk‐ ten missliche nachträgliche Aufhebung eines Volksentscheides lasse sich umgehen, wenn man die aus rechtsstaatlicher Sicht gebotene verfassungsgerichtliche Überprü‐ fung volksbeschlossener Gesetze prophylaktisch anlege, „als Kontrolle der Zulässig‐ keit von Initiativen also.“25 In der deutschen Debatte gibt es hierüber inzwischen einen weitgehenden Konsens. Skeptischer bleibt Kielmansegg beim zweiten Punkt: dem Föderalismus. Die von den Befürwortern einer Einführung der Volksgesetzge‐ bung auf Bundesebene empfohlene Übertragung des Schweizerischen „doppelten Mehrs“, die die Beteiligung des Bundesrates an der parlamentarischen Gesetzge‐ bung durch die Zustimmung der „Ländervölker“ ersetzen möchte, hält er zu Recht für nicht gangbar.26 Kielmanseggs Hauptaugenmerk liegt auf dem dritten Punkt: der Vereinbarkeit der direkten Demokratie mit der parlamentarischen Regierungsform. Ausgangspunkt seiner institutionellen Analyse ist die kategoriale Unterscheidung zwischen den „von oben“, also den Regierenden, und den „von unten“, vom Volk selbst ausgelösten Verfahren, der eine Schlüsselbedeutung für die direktdemokratische Verfassungsge‐ bung zukomme. Bei den von unten ausgelösten Verfahren sei zusätzlich noch danach zu differenzieren, ob sich die Initiative auf einen vom Parlament bereits getroffenen Gesetzesbeschluss bezieht, der einem plebiszitären „Nachentscheid“ unterworfen und dort gegebenenfalls zu Fall gebracht wird, oder ob das Volk auch die Entschei‐ dungsinhalte festlegt, das heißt die Gesetze selber vorschlägt. In Deutschland hat sich für die letztgenannte Form der allgemeinen oder „positiven“ Initiative der Be‐ griff der „Volksgesetzgebung“ eingebürgert. Diese ist auf der Länderebene heute überall eingerichtet. In der Schweiz konzentriert sich die direkte Demokratie dage‐ gen im „fakultativen Referendum“ gegen bereits beschlossene Gesetze. Die positive Initiative ist hier auf nationaler Ebene nur als Verfassungsinitiative zulässig.27 Weitsichtiger als andere Autoren (einschließlich des Verfassers) hat Kielmansegg erkannt, dass beide Formen der Initiative in einem parlamentarischen Regierungs‐ system fehl am Platze sind, weil sie dessen auf dem Gegenüber von regierender 24 Ebd., S. 130 ff. 25 Ebd., S. 128. An den Beispielen der Schweiz und Kaliforniens ausführlich untersucht wird das Problem von Christmann (2012). 26 Vgl. Estel 2006. 27 Zur Typologisierung der Verfahren vgl. Decker 2016, S. 52 ff.

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Mehrheit und Opposition beruhende „gewaltenfusionierende“ Funktionslogik durch‐ kreuzen.28 Diese weist der Regierung die Gestaltungshoheit über die Gesetze zu, während die Opposition als parlamentarische Minderheit ganz auf ihre Kritik- und Alternativfunktion zurückgeworfen bleibt, die sie mit dem Ziel wahrnimmt, die Re‐ gierung nach der nächsten Wahl abzulösen. Ein Gesetzesinitiativrecht des Volkes würde dieses Wechselspiel unterlaufen. Bemächtigt sich die Opposition des Instru‐ ments, könnte sie von der Regierung geplante oder beschlossene Gesetze schon im Vorfeld einer Wahl zu Fall bringen oder im eigenen Sinne wenden. Die parlamenta‐ rische Minderheit würde dadurch zu einer Art Mit- oder Gegenregierung, die es dem Wähler unmöglich macht, eine klare Zuweisung politischer Verantwortung vorzu‐ nehmen. Im Extremfall kommt es zu einer langfristigen Transformation des beste‐ henden Wettbewerbs- in ein Konkordanzsystem, die das Gegenüber von Regierung und Opposition auch institutionell aufhebt. Unproblematischer erscheint die Einführung der von unten ausgelösten Verfahren dagegen in den gewaltentrennenden präsidentiellen Systemen, zu denen systemlo‐ gisch auch die Schweiz gehört. „Wenn die Regierung in ihrer Existenz nicht vom Vertrauen des Parlaments abhängig ist, entfällt der Zwang zur Ausbildung einer sta‐ bilen Mehrheitsstruktur im Parlament. Und das wiederum bedeutet, dass es im Parla‐ ment keine Minderheit gibt, der als solcher in einer auf Zeit fixierten Konstellation die Oppositionsrolle zufiele. Mit einer solchen Struktur lassen sich direkt-demokrati‐ sche Interventionsrechte offensichtlich viel spannungsfreier verbinden.“29 Wie der Vergleich der Schweiz mit den US-Gliedstaaten zeigt, ist dabei ein breites Spektrum von Arrangements denkbar. Während in der Schweiz das Damoklesschwert des fa‐ kultativen Referendums zur Institutionalisierung einer Allparteienregierung geführt hat, koexistieren die Volksrechte in den USA mit einem stark polarisierten Zweipar‐ teiensystem, was sich in Gliedstaaten wie Kalifornien, die ein breit ausgebautes und leicht zugängliches direktdemokratisches Instrumentarium vorhalten, mittlerweile als zunehmend dysfunktional erweist. Andererseits ist der Volkgesetzgeber in den USA genauso der verfassungsgerichtlichen Kontrolle unterworfen wie der parlamen‐ tarische Gesetzgeber – auch bereits gefällte Volksentscheide können nachträglich an‐ nulliert werden. Die Schweizer Referendumsinitiative weist das Letztentscheidungs‐ recht über die Gesetze dagegen ausdrücklich dem Volk zu. Die verfassungsgerichtli‐ che Kontrollfunktion des Bundesgerichts erstreckt sich hier nur auf die kantonalen Gesetze, nicht das Bundesrecht. Das logische Argument wird durch die tatsächliche empirische Verteilung der Verfahren bekräftigt. Während die Initiative in den Ländern mit präsidentiell ver‐ fassten Regierungssystemen auf der nationalen und/oder – wie in den USA – glied‐ staatlichen Ebene weit verbreitet ist, gibt es unter den parlamentarischen Systemen 28 Kielmansegg 2013, S. 125 f. 29 Ebd., S. 127.

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in Westeuropa nur ein Land – Italien –, das die Initiative in Form des gesetzesaufhe‐ benden („abrogativen“) Referendums kennt. Allerdings wurden die von unten ausge‐ lösten Verfahren in den 1990er Jahren von mehreren mittelosteuropäischen Ländern in die Verfassungen aufgenommen, was Kielmansegg auf die Stimmungslage nach dem demokratischen Systemumbruch zurückführt. Die Erfahrungen, die man mit den Instrumenten in diesen Ländern machen würde, waren zum Entstehungszeit‐ punkt seines Beitrags noch nicht absehbar. Aus heutiger Sicht sind sie ernüchternd und bestätigen Kielmanseggs Skepsis gegenüber der potenziell systemunverträgli‐ chen Initiative. Symptomatisch dafür ist, dass das Land mit der lebhaftesten Nut‐ zungspraxis – Slowenien – die Anwendbarkeit der Volksrechte inzwischen deutlich beschnitten und das von der Opposition unmittelbar einsetzbare minoritäre Referen‐ dum sogar ganz abgeschafft hat.30 Welche Folgen ergeben sich daraus für die deutsche Diskussion? Kielmansegg kritisiert den von der rot-grünen Bundesregierung im Jahre 2002 unternommenen Vorstoß für die Einführung der Volksgesetzgebung in das Grundgesetz mit Recht als letztlich unverantwortliches „avantgardistisches Verfassungsexperiment“, das einer weitgehenden Unkenntnis der eben dargstellten systemischen Zusammenhänge ent‐ springe. Woher diese Unkenntnis rührt, wird allerdings in seiner Argumentation nicht genau deutlich. Das eigentliche Rätsel der direktdemokratischen Verfassungs‐ gebung in Deutschland ist ihre – auch im internationalen Vergleich merkwürdige – Fixierung auf die Initiative. Um sie zu verstehen, muss man real- und ideenge‐ schichtlich weiter zurückgehen als auf die Weimarer Reichsverfassung, die die von unten ausgelösten Verfahren 1918 zeitgleich mit dem parlamentarischen Regierungs‐ system eingeführt hatte.31 Kielmanseggs Darstellung der „Weimarer Erfahrungen“, die sich vor allem auf die Gründe für die Nicht-Einführung der plebiszitären Verfah‐ ren in das Grundgesetz bezieht, greift hier zu kurz. Verwunderlich ist auch, warum Kielmansegg in seiner Analyse der Länderebene so wenig Beachtung schenkt. Die flächendeckende (Wieder)einführung der Volksge‐ setzgebung in sämtliche deutsche Länderverfassungen, die den in Weimar einge‐ schlagenen Weg fortgeschrieben hat, scheint in das von ihm gezeichnete Bild der systemunverträglichen Initiative nicht recht hineinzupassen. Kielmansegg begnügt sich hier mit dem lapidaren Hinweis, die Länder seien angesichts ihres nachgeordne‐ ten Status und ihrer sehr begrenzten Gesetzgebungskompetenzen „kein wirklicher Testfall.“32 Dies übersieht freilich zweierlei: Erstens sind es gerade die Erfahrungen auf der Länderebene, die die Zweifel an der Volksgesetzgebung empirisch stützen und dazu führen, dass deren vornehmlich aus dem linken Lager stammende Befür‐ 30 Zur Ausgestaltung und Nutzung der Verfahren in den mittelosteuropäischen Ländern vgl. Vos‐ pernik 2014. 31 Vgl. Hsu 2014. 32 Kielmansegg 2013, S. 127 (Fußnote 26).

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worter ihren Enthusiasmus für die von unten ausgelösten Verfahren allmählich ver‐ lieren.33 Und zweitens orientieren sich die Vorschläge für eine plebiszitäre Ergän‐ zung des Grundgesetzes, soweit sie von den Parteien mit Ausnahme der CDU bisher eingebracht wurden34, mehr oder weniger eins-zu-eins an dem in den Ländern flä‐ chendeckend eingeführten „Modell“, das als Blaupause insofern gesetzt ist und auch im Lichte möglicher Alternativen nicht weiter hinterfragt wird. Der einzige Unter‐ schied ist, dass auf der Bundesebene zusätzliche Vorkehrungen für die Mitwirkung der Länder an den volksbeschlossenen Gesetze und deren verfassungsgerichtliche Kontrolle getroffen werden müssen.

4. Verfassungspolitische Folgerungen Kielmansegg hält sich mit konkreten Empfehlungen zur direktdemokratischen Ver‐ fassungsgebung zurück. Seine Haltung zu den von unten ausgelösten Verfahren ist skeptisch bis abwehrend, bedeutet aber keine generelle Absage an die direkte Demo‐ kratie. Der Möglichkeit, das Legitimierungspotenzial der direkten Demokratie für elementare Verfassungsentscheidungen zu nutzen, steht er sogar ausdrücklich positiv gegenüber, während andere, von den Regierenden auszulösende Referenden zu legi‐ timatorisch wichtigen Fragen nach seiner Argumentation zumindest nicht ausge‐ schlossen sind. Diese Position deckt sich im Kern mit derjenigen des Verfassers.35 Auch bei den von unten ausgelösten Verfahren ist Kielmanseggs Argumentation nicht hermetisch. Zu Recht wirft er die Frage auf, was passiert, wenn der Wettbe‐ werb zwischen den Parteien, die die Funktionsweise des parlamentarischen Systems umschreibt, nicht mehr funktioniere. Der Gedanke liege nahe, dass es dann „eines externen Akteurs als Kontroll- und Korrekturmacht bedarf. Kann das Volk, die Bür‐ gerschaft diese Rolle spielen? Manche Kritiker des Parteienstaates sind sich an die‐ sem Punkt sehr sicher, vermutlich zu sicher.“36 Kielmansegg macht die Schwächen der repräsentativen Parteiendemokratie vor allem dort aus, wo die Parteien gemeinsame Interessen verfolgten und deshalb zur Kartellbildung neigten – in Fragen der Parteien- und Politikfinanzierung, der Ämter‐ patronage und der Kontrolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das Wahlrecht wäre als weiterer Bereich hinzuzufügen. Anders als der von ihm zitierte notorische

33 Zur neuesten Entwicklung vgl. Decker 2018. Spektakuläre Fälle wie der bereits erwähnte Hamburger Schulentscheid oder der nicht umsetzbare Berliner Volksentscheid für einen Wei‐ terbetrieb des Flughafens Tegel im Jahre 2017, die diesen Umdenkungsprozess beförderten, konnte Kielmansegg natürlich nicht vorausahnen. 34 Vgl. Decker 2016, S. 137 ff. 35 Vgl. Ebd., S. 161 ff. 36 Kielmansegg 2013, S. 139.

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Parteienkritiker Hans Herbert von Arnim37 dürfte Kielmansegg – ohne das aus‐ drücklich zuzugeben – einverstanden sein, dass die Korrektivfunktion in diesen Fra‐ gen hierzulande überwiegend in den Händen der Verfassungsgerichte liegt und nicht in den Händen der Bürger. Die Richter haben aus dem Fehlen anderer Gegengewich‐ te für sich sogar die Pflicht abgeleitet, bei den Entscheidungen des Parlaments in ei‐ gener Sache einen besonders strengen Prüfmaßstab anzulegen.38 Ob das der Weisheit letzter Schluss ist, lässt sich durchaus bezweifeln. Geht es um die institutionellen Grundlagen des Gemeinwesens, kann es nicht schaden, die Entscheidungen auf eine breitere Repräsentationsbasis zu stellen, statt die Rolle des vorbereitenden oder Ersatzgesetzgebers einseitig den Verfassungsgerichten zu über‐ lassen. Was spräche zum Beispiel gegen die Einführung einer unverbindlichen Agenda-Initiative, mit der der Bundestag aufgefordert werden könnte, ein bestimm‐ tes Thema auf die Tagesordnung zu setzen und zu beraten? Aus der Beratungspflicht selbst ergäben sich für den Gesetzgeber keine weiteren Konsequenzen; ob und wie‐ weit er dem Anliegen der Initiative Rechnung trägt, kann er frei entscheiden. Eine andere, noch grundlegendere Funktionsschwäche des parlamentarischen Systems wird von Kielmansegg interessanterweise nicht thematisiert, nämlich der Fall, dass das Prinzip der „alternierenden“ Regierung durch ein hegemoniales Partei‐ ensystem oder eine auf Dauer gestellte Große Koalition grundlegend gestört ist und die Opposition aufgrund der parlamentarischen Kräfteverhältnisse wesentliche Min‐ derheitenrechte nicht einsetzen kann. Zu den letzteren gehört in der Bundesrepublik zum Beispiel das Recht, ein Gesetz vom Verfassungsgericht überprüfen zu lassen oder einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten, die im Bundes‐ tag jeweils an ein Quorum von 25 Prozent der Abgeordneten gebunden sind. In der 17. Wahlperiode (2013 bis 2017) wurde dieses Quorum von den beiden Oppositions‐ parteien verfehlt, in der laufenden 18. Wahlperiode kann es nur übersprungen wer‐ den, wenn mindestens drei der vier Oppositionsparteien über Lagergrenzen hinweg einen gemeinsamen Antrag einreichen. Anders als Kielmansegg hat sich der Verfasser vor diesem Hintergrund bis vor wenigen Jahren noch die Einführung einer Referendumsinitiative als verfassungspo‐ litische Option vorstellen können. Von dieser Position ist er inzwischen zwar weitge‐ hend abgerückt.39 Die Frage, wie unter den Bedingungen eines sich auffächernden und polarisierenden Parteiensystems die Funktionsfähigkeit der parlamentarischen Regierungsform gesichert werden kann, stellt sich aber heute akuter denn je. Peter Graf Kielmanseggs Analysen zur repräsentativen und direkten Demokratie liefern in dieser Diskussion wichtige und wertvolle Orientierungsmarken. Seine Skepsis ge‐ 37 Vgl. stellvertretend für zahlreiche weitere Buchtitel mit derselben Zielrichtung von Arnim 2001. 38 Vgl. Wieland 2011. 39 Vgl. Decker 2016, S. 166 ff.

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genüber den von unten ausgelösten Verfahren muss man nicht in allen Punkten tei‐ len. Sie fordert uns aber umso dringlicher auf, darüber nachzudenken, wie das beste‐ hende Repräsentativsystem seine Schwächen aus eigener Kraft und im Rahmen sei‐ ner eigenen Logik überwinden kann.

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Hartmut Rosa Versuch über das Gemeinwohl

Peter Graf Kielmanseggs ebenso reichhaltiges wie differenziertes und oft nuancier‐ tes politisches Denken zentriert sich, so scheint es mir, um eine Kernidee, einen Be‐ griff, der in vielen seinen Schriften auch an zentralen Stellen immer wieder auf‐ taucht, dem er aber vielleicht gerade deshalb nie eine eigenständige Abhandlung ge‐ widmet hat, weil um diesen Begriff im Grunde alle seine Abhandlungen kreisen: Ich meine den Begriff des Gemeinwohls.1 Graf Kielmansegg ist sich dabei stets und sehr wohl der Tatsache bewusst, dass dieses Gemeinwohl sich hartnäckig allen Versuchen widersetzt, es eindeutig und scharf zu fassen; dass die dreifache Unschärfe, was dieses Wohl sei, wessen Wohl es sei und wie das Gemeine dabei zu verstehen sei, konstitutiv zu diesem Begriff zu ge‐ hören scheint; und mehr noch: dass das Gemeinwohl gerade deshalb als regulative Idee des Politischen dienen kann und dienen muss, weil es notorisch unscharf, viel‐ leicht kann man auch sagen ‚essentially contested‘ bleibt.2 Der Streit um das Ge‐ meinwohl ist dann gerade das, was den Kern des Politischen ausmacht, und er ist es auch dort noch, wo für andere Konzepte des Politischen – etwa den Interessensbe‐ griff oder das Wettbewerbsprinzip – in Anspruch genommen wird, das Funktionie‐ ren des (demokratischen) politischen Betriebes am besten zu garantieren. Ebendas ist eine Erkenntnis, die sich aus dem Werk Graf Kielmanseggs als eine zentrale Ein‐ sicht gewinnen lässt. Vielleicht ist er auch ihretwegen davor zurückgescheut, diesem Begriff eine systematische Ausarbeitung oder gar ein Buch zu widmen. Seine Schriften aber lassen auf beinahe jeder Seite deutlich werden, dass die begriffliche Unterscheidung zwischen Politik und Interessenverfolgung ohne die regulative Idee des Gemeinwohls nicht aufrechtzuerhalten ist, dass mithin der Begriff der Politik als solcher mit jener Idee konstitutiv verknüpft ist. Wer Politik betreibt, muss in seinem

1 Im Herbst 2006 hatte ich das große Vergnügen, mit Peter Graf Kielmansegg gemeinsam ein Se‐ minar zu Begriff und Idee des Gemeinwohls auf einer Sommerakademie der Studienstiftung des deutschen Volkes leiten zu dürfen. Dieses Seminar hat sich für mein Denken als ungemein fruchtbar erwiesen, und ich bedaure es sehr, dass wir, vermutlich nicht unerheblich meinem übervollen Zeitplan geschuldet, nie dazu gekommen sind, die gewonnenen Einsichten in eine gemeinsame Publikation münden zu lassen. Ich verstehe diesen kleinen Beitrag daher auch als einen Versuch, das damals Versäumte in bescheidenem Maße nachzuholen. 2 Dies ist der Grund dafür, weshalb wir jenes Seminar (Fn 1) – wenn ich mich recht erinnere, auf Graf Kielmanseggs Vorschlag hin – „Das Gemeinwohl – ein Phantom?“ – betitelten. Zum Be‐ griff der essentially contested concepts vgl. Gallie 1956, S. 167-198.

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Handeln einen Gemeinwohlbezug zumindest implizit behaupten, wer (nur) seine In‐ teressen verfolgt, muss eben das nicht. Das heißt indessen nicht, dass sich über das Gemeinwohl demokratietheoretisch nichts weiter sagen ließe. Kielmansegg streitet sein ganzes bisheriges Forscherleben lang für die moderne repräsentative Demokratie westlichen Typs, weil ihm diese De‐ mokratie am besten dazu geeignet scheint, das Gemeinwohl zu definieren, zu schüt‐ zen und zu verfolgen, und es ist zweifellos dieser Zusammenhang, der ihn dazu bringt, die Kardinalfrage danach, was einer politischen Herrschaft Legitimität ver‐ leiht,3 mit dem Verweis auf die verfassungsmäßig verankerte, repräsentative Demo‐ kratie zu beantworten. Legitimität und Gemeinwohl verweisen nach Kielmanseggs Überzeugung notwendig und konstitutiv aufeinander: Eine Herrschaftsform kann dann und nur dann Legitimität beanspruchen, wenn sie gute und überzeugende Gründe dafür angeben kann, dem Gemeinwohl zu dienen – auch wenn die Antwort auf die Frage, was dafür gute Gründe sind, historisch variabel bleiben mag. Für moderne Gesellschaften ist das Demokratieprinzip an dieser Stelle schlechter‐ dings unhintergehbar: Ohne demokratische Legitimierung scheint der Anspruch auf Gemeinwohldienlichkeit uneinlösbar, was impliziert, dass jenes Wohl immer nur prozesshaft, eben: politisch zu ermitteln ist. Aber Demokratie verstanden als politi‐ scher Mehrheitswille alleine ist nicht hinreichend für den Schutz oder die Realisie‐ rung des Gemeinwohls – das ist eine weitere Kerneinsicht Graf Kielmanseggs, der das Demokratieprinzip daher konstitutiv um das Verfassungsprinzip4 und um das Amtsprinzip5 ergänzt wissen möchte. Denn erstens impliziert das Gemeinwohl auch und notwendig das Wohl der Minderheiten und der im demokratischen Wettbewerb Unterlegenen. Während in der demokratischen Auseinandersetzung partikulare In‐ teressen eine unverzichtbare Rolle spielen, darf das Gemeinwohl niemals aus‐ schließlich durch partikulare Gruppen bestimmt werden – dem Schutz vor dem un‐ verhohlenen und uneingeschränkten Zugriff von Mehrheiten dient daher eine rechtli‐ che und verfassungsförmige Absicherung und Begrenzung dieses Zugriffs. Die Idee des Gemeinwohls umfasst dabei aber, zweitens, stets auch einen historischen Hori‐ zont, der über die punktuelle Gegenwart einer politischen Entscheidung „im Hand‐ gemenge“ hinausgeht: Sie impliziert nicht nur die Berücksichtigung der Interessen nachfolgender, zukünftiger Generationen, sondern auch die der Verpflichtungen und darüber hinaus auch der Erfahrungen, die sich aus der Geschichte, aus der Vergan‐ genheit eines Gemeinwesens ergeben. In Graf Kielmanseggs Denken schlägt sich dies auf faszinierende Weise in seinem ausgeprägten Interesse an rechtlichen und verfassungsmäßigen Rahmenbedingungen 3 Zur Identifikation dieser Frage als Leitfrage in Kielmanseggs Werk vgl. Zittel/Kaiser 2004, S. 9-18. 4 Vgl. dazu insbesondere Kielmansegg 1977; Kielmansegg 2013, sowie jüngst: Kielmansegg 2016. 5 Vgl. dazu neben dem letztgenannten Beitrag auch Kielmansegg 1985, S. 9-41.

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einerseits und an historischen Entwicklungen und den sich aus ihnen ergebenden Verpflichtungen und Konsequenzen andererseits nieder. Recht und Geschichte sind die beiden zentralen Nebenschauplätze, oder Nachbardisziplinen, die seine politik‐ wissenschaftlichen Analysen flankieren. Über die zeitliche Dimension hinaus wei‐ sen Gemeinwohlkonzeptionen in aller Regel aber auch eine räumliche Dimension auf: Von der griechischen Polis bis zum modernen Staat geht es dabei eben nicht nur um das abstrakte Wohl einer politischen Gemeinschaft, sondern auch um die Gestal‐ tung eines gemeinsamen Territoriums, um die ‚Anverwandlung‘ einer materiell und institutionell geteilten Welt. Gemeinwohl meint immer auch eine bestimmte gelin‐ gende Beziehung zu einem politisch gestalteten und historisch entwickelten Raum – was nicht ausschließt, dass sich diese zu gestaltende Welt auch bis zur globalen Sphäre ausdehnen lässt. Diese letztere Idee begegnet uns etwa dort, wo der Schutz der Eisbären oder der Tiefseeflora als Gemeinwohlaufgaben verstanden werden. Versucht man trotz der genannten Schwierigkeiten ernsthaft, das ‚Phantom‘ Ge‐ meinwohl begrifflich zu bestimmen – das heißt gleichsam den Pudding an die Wand zu nageln –, so liegt es im Lichte der genannten Überlegungen aus meiner Sicht na‐ he, es als eine bestimmte Form der Beziehung zu verstehen. Die Idee des Gemein‐ wohls so lautet meine These, wird dann am greifbarsten, sie gewinnt dort substanti‐ ellen Gehalt, wo man sie über eine bestimmte Form der Beziehung zur Vergangen‐ heit und Zukunft der politischen Gemeinschaft, zu einer institutionell und materiell geteilten (und daher immer auch räumlich verfassten) Lebenswelt und zu den ande‐ ren Mitgliedern dieses Gemeinwesens zu fassen versucht. Diese Form der Bezie‐ hung will ich im Folgenden auf der Basis und mit den Mitteln des von mir selbst entwickelten ‚Resonanzkonzeptes‘6 genauer bestimmen. Eben darüber lässt sich dann auch der normative Charakter dieser regulativen Idee begründen: Das Gemein‐ wohl wird dann verfolgt und dort verwirklicht, wo es einem politischen Gemeinwe‐ sen gelingt, Resonanzbeziehungen, oder genauer: Resonanzachsen erstens zwischen seinen Mitgliedern, zweitens zu den geteilten Institutionen und Praktiken der kollek‐ tiven Lebenswelt und drittens zur Vergangenheit und Zukunft zu etablieren. Der Vorschlag, den ich in diesem Beitrag und im Anschluss an die Überlegungen Graf Kielmanseggs also machen will lautet, dass das Gemeinwohl als ein Resonanz‐ verhältnis zu verstehen sei. Was kann das bedeuten? In der Geschichte des politischen Denkens wurde seit jeher und bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder danach gefragt, was das ‚soziale Band‘ zwischen den Bür‐ gerinnen und Bürgern eines Gemeinwesens ist beziehungsweise was ein solches Band zu stiften vermag. Diese Frage wird in jüngster Zeit nicht nur von kommunita‐ ristisch, republikanisch oder neo-durkheimianisch gesinnten Denkerinnen gestellt,7

6 Rosa 2016a. 7 Etwa Adloff/Leggewie 2014.

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sondern auch und gerade von ‚poststrukturalistisch‘ inspirierten Autoren.8 Die reso‐ nanztheoretische Antwort auf sie lautet, dass dieses Band nicht aus einer vorgegebe‐ nen Substanz – etwa geteilten Werten, Bräuchen, Traditionen oder Geschichten – be‐ steht, sondern durch ein bestimmtes Verhältnis der Menschen zueinander gebildet wird, und dieses Verhältnis lässt sich als eine Beziehung des Hörens und Antwortens beschreiben. Hören und Antworten bilden die konstituierenden Pole eines Resonanz‐ verhältnisses. Dieses umfasst vier charakterisierende Merkmale: Erstens die Bereit‐ schaft und Fähigkeit, sich von den Stimmen der Anderen (oder von anderen Stim‐ men) affizieren und berühren zu lassen. Dies bedeutet: Eine erste Bedingung des Gemeinwohls besteht darin, dass die Bürgerinnen sich in der Grundannahme und mit der Grundhaltung begegnen, einander etwas zu sagen zu haben. Diese Bedin‐ gung wird etwa dort unterlaufen, wo sich die politischen Akteure wechselseitig als Rassisten und Faschisten bzw. als Volksverräter wahrnehmen, von denen sie sich gar nichts sagen lassen wollen und wo sie sich stattdessen niederzubrüllen oder zum Verstummen zu bringen versuchen. Zweitens also erschöpft sich das so verstandene Band nicht in reiner Rezeptivität, sondern wird ebenso konstitutiv in der und durch die Erfahrung gebildet, dass jeder und jede die eigene Stimme ebenfalls hörbar zu machen und einzubringen vermag: Hierin liegt das Grundversprechen der Demokra‐ tie, dass jeder eine Stimme erhält, die er oder sie nicht einfach abgibt, sondern auf antwortende, agierende und reagierende Weise einbringt. Es erscheint mir gerade‐ wegs als hanebüchenen Unsinn, dieses Einbringen der Stimme als Kosten zu verbu‐ chen, die dem Einzelnen beim Versuch entstehen, seine Interessen zu verfolgen, wie das jene Rational (oder Public) Choice Theorien tun, die sich dann darüber wundern, dass Menschen überhaupt wählen gehen.9 Denn es ermöglicht den Bürgerinnen und Bürgern die durch nichts zu ersetzende Erfahrung politischer Selbstwirksamkeit: Durch ihre Stimme sind sie mit den anderen und mit dem Gemeinwesen verbunden und haben Anteil an der kollektiven Gestaltung der Welt. Die Stimme ist nicht ein‐ fach ein (sehr beschränktes) Mittel, über das wir etwas erreichen können im Sinne des Durchsetzens eigener Interessen, sondern ein Instrument (im durchaus musikali‐ schen Sinne), mit dessen Hilfe wir Andere erreichen und zu ihnen in Beziehung tre‐ ten. Die zweite Bedingung des Gemeinwohls ist damit also, dass der politische Pro‐ zess so organisiert ist, dass er diese qualifizierte Erfahrung von Selbstwirksamkeit erlaubt und ermöglicht. Drittens aber, und dieser Punkt scheint mir von entscheidender Bedeutung, ist die Konsequenz solchen resonanten In-Beziehung-Tretens die unausweichliche Trans‐ formation der beteiligten Stimmen: Resonanz bedeutet, sich von einem Anderen so ‚anrufen‘ oder berühren zu lassen, dass man sich im Antworten und Reagieren selbst

8 Vgl. dazu etwa Bedorf/Herrmann 2016. 9 Vgl. etwa Caplans 2008 und Wittman 1997.

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verwandelt.10 Resonanz ist ein dialogischer Prozess wechselseitiger ‚Anverwand‐ lung‘, in dem die Beteiligten nicht bleiben, wer sie waren. Das ist eine Grund- und Kerneinsicht republikanischen Denkens seit jeher: Das Gemeinwohl setzt nicht vor‐ aus, dass die Bürger bestimme Werte oder Ziele ‚immer schon‘ teilen, sondern ba‐ siert darauf, dass sie sich so aufeinander einlassen, dass sie sich auf ein Gemeinsa‐ mes (bzw. ein gemeinsames Projekt) hin zu transformieren in der Lage sind. Dass dieses Gemeinsame unaufhebbar auch Streit und Konflikt beinhaltet, ja gerade da‐ rauf basiert und daraus entsteht, ist unabweisbar. Deshalb ist es ein völliges Missver‐ ständnis des Resonanzkonzeptes, Resonanz einfach als Konsonanz oder Harmonie aufzufassen: Tatsächlich setzt sie Differenz und damit auch Dissonanz konzeptuell immer schon voraus, weil nur dadurch die Begegnung mit einem genuin Anderen und die Transformation des Eigenen möglich wird. Resonanz bewegt sich also konstitutiv zwischen Identität und Differenz, zwischen Konsonanz und Dissonanz; sie überwindet die Gräben dazwischen über das Prinzip der Transformation.11 Die dritte Voraussetzung des Gemeinwohls in diesem Sinne ist also die substantielle Verwandlungsfähigkeit und ‑bereitschaft des Gemeinwesens und seiner Mitglieder. Sie wird unterlaufen, wo die Strukturen dieses Gemeinwesens durch substantielle Festlegungen oder sozial erzeugte und naturalisierte ‚Sachzwän‐ ge‘ erstarren oder versteinert werden.12 Das vierte Kernmerkmal eines Resonanzverhältnisses aber ist seine prinzipielle Unverfügbarkeit. Dies besagt, dass sich Resonanzbeziehungen institutionell oder in‐ strumentell weder erzwingen noch garantieren lassen und mehr noch, dass sich das Ergebnis von Resonanzprozessen niemals vorhersagen, kontrollieren oder vorausbe‐ rechnen lässt. Für den gegebenen Zusammenhang bedeutet dies, dass es keine Mög‐ lichkeit gibt, demokratische Resonanz institutionell sicherzustellen; dass es mithin unmöglich ist, verfassungs- oder prozessrechtliche oder sonstige Garantien dafür zu schaffen, dass der politische Prozess sich im Resonanzmodus vollzieht. Erstarrung, Entfremdung, Instrumentalisierung und Verdinglichung als alternative Modi politi‐ scher Beziehungen bleiben immer eine Möglichkeit und eine Gefahr. Allerdings be‐ deutet es zum Leidwesen autoritärer und totalitärer Herrscher umgekehrt immerhin auch, dass es keine Möglichkeit gibt, das Auftreten politischer Resonanzen garan‐ tiert zu unterdrücken oder zu verhindern. Indessen bedeutet Unverfügbarkeit nicht, dass es nicht möglich wäre, auf soziale, rechtliche und organisatorische Weise die dispositionalen und institutionellen Vor‐ aussetzungen für die Möglichkeit von Resonanzbeziehungen zu schaffen. Die Auf‐ gabe verfassungsrechtlicher und verfassungspolitischer Institutionen und der Prinzi‐ 10 Vgl. dazu neben Rosa 2016a Latour 2014, vor allem S. 614-616, und dazu wiederum ausführ‐ lich Rosa 2016b, S. 552-560. 11 Siehe dazu: Rosa 2017. 12 Vgl. dazu erhellend Sörensen 2016.

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pien demokratischer Partizipation und Repräsentation sowie amtsförmiger oder treu‐ händerischer Verwaltung, wie sie Graf Kielmansegg so detailliert wie trennscharf herausgearbeitet hat, besteht dann darin, gleichsam die Beziehungskanäle oder eben Resonanzachsen zu stiften und zu schützen, entlang derer sich lebendige Resonanz‐ beziehungen ausbilden können. Unverfügbarkeit als Kernmerkmal von Resonanz impliziert damit auch, dass die Gemeinwohlqualität sich nicht und niemals über a priori definierte Outputkriterien messen und ermitteln lässt. Das Ergebnis von Reso‐ nanzprozessen ist mit Notwendigkeit substantiell offen. Wenn es plausibel ist, das Gemeinwohlkonzept mittels der Resonanzidee auf die‐ se Weise als eine bestimmte Form der Beziehung der Bürgerinnen und Bürger unter‐ einander zu fassen, so gewinnt dieser Versuch an Attraktivität dadurch, dass sich ebendiese Beziehungsform nun auch auf das Verhältnis zur Vergangenheit und zur Zukunft des Gemeinwesens übertragen lässt. In zeitlicher Hinsicht wird das Ge‐ meinwohl demnach dann und dort verwirklicht, wo ein Resonanzverhältnis zur Ge‐ schichte ebenso wie zur Zukunft entsteht. Im Blick auf erstere bedeutet dies: Das Gemeinwohl impliziert, dass uns als Bürger die Geschichte des Gemeinwesens ‚et‐ was angeht‘ und ‚etwas zu sagen hat‘, dass wir zu ihr in einem Antwortverhältnis stehen. Auch hier sind alle vier Prinzipien einer Resonanzbeziehung involviert: Das historische Geschehen berührt oder affiziert uns. Das muss keineswegs eine ange‐ nehme oder positive Affizierung sein. Wenn Menschen etwa in einer KZ-Gedenk‐ stätte oder an einem Holocaustmahnmal eine aus der lebendig werdenden Erinne‐ rung an die Vergangenheit hervorgehende existentielle Verpflichtung erfahren, so re‐ agieren sie darauf mit einer transformativen Antworthaltung, die auch ihr gegenwär‐ tiges Sein und zukünftiges Handeln berührt, auch wenn sie nicht genau werden an‐ geben können, welche Verpflichtung ihnen daraus erwächst (Unverfügbarkeit). Sol‐ che Resonanz aber stiftet eine Verbindung, oder eben: eine Resonanzachse zwischen Vergangenheit und Zukunft. Wer sich auf lebendige, responsive Weise nicht nur mit vergangenen, sondern auch mit zukünftigen Generationen verbunden fühlt, nimmt die Relevanz seines Handelns für die nach ihm oder ihr Kommenden gewissermaßen unmittelbar, das heißt: affektiv und leiblich, wahr. Einmal mehr verliert dann die Berücksichtigung zukünftiger Bedürfnisse und Interessen den Charakter lästiger Pflicht oder nutzenre‐ duzierender Kosten und stiftet stattdessen die Erfahrung erreichender und transfor‐ mierender Selbstwirksamkeit. Deshalb, so meine ich, lässt sich die Gemeinwohlqua‐ lität durchaus an der Beschaffenheit der transhistorischen Verbundenheit ‚messen‘: Das Gemeinwohl ist tendenziell dort realisiert, wo sich eine pulsierende Resonanz‐ achse zwischen Vergangenheit und Zukunft aufspannt, welche das je gegenwärtige Handeln nicht determiniert, sondern inspiriert und motiviert.

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Was daraus aber entsteht ist eine aus dem politischen Zusammenhandeln im Sin‐ ne Hannah Arendts hervorgehende geteilte Welt:13 Weil die Menschen in der west‐ lich geprägten Moderne sich in aller Regel nicht mehr als eingefügt in eine geist‐ durchwirkte oder gottgewollte kosmische Ordnung (‚the great chain of being‘) er‐ fahren, sondern als hineingestellt in eine mehr oder weniger willkürlich gewordene, historisch zufällige Welt, die ihnen als das kontingente Ergebnis zahlloser historisch‐ er (Interessens-)Konflikte begegnet, stehen ihnen die Regeln und Institutionen der Lebenswelt und mit ihnen auch der sozio-territoriale Raum zunächst als etwas Äu‐ ßerliches, Fremdbestimmtes gegenüber, das sie begrenzt und allerhand Zwängen un‐ terwirft. Und doch gibt ihnen diese Moderne in den Modi demokratischer Repräsen‐ tation und Partizipation ein mächtiges Instrument zur Anverwandlung dieser Lebens‐ welt an die Hand. Darin liegt die Grundidee des neuzeitlichen politischen Republi‐ kanismus und das Grundversprechen der Demokratie: Gemeinsame politische Ge‐ staltung ist das Instrument, mittels dessen die soziale Welt und der öffentliche Raum für die Bürgerinnen und Bürger zu einer ‚Resonanzsphäre‘ werden kann, die auf ihre Wünsche, Wertvorstellungen und Bedürfnisse ‚antwortet‘ und in der sie sich wieder‐ erkennen können, so dass die soziopolitische Ordnung zu ihrer eigenen Ordnung wird. Einmal mehr bedeutet hier ihre eigene Ordnung nicht, dass sie sich in völliger Übereinstimmung oder Harmonie mit allen ihren Wünschen, Bedürfnissen und In‐ teressen befindet, sondern dass die Institutionen und Praktiken, die Plätze und Ge‐ bäude, die Regeln und Bräuche in einem konstitutiven Antwortverhältnis zu ihnen stehen. (Wider-)Streiten ist dabei eine durchaus wichtige und unverzichtbare Form solchen Antwortens – ohne Widerspruch, so gilt auch hier, sind Transformation und Begegnung nicht möglich, ohne den Widerstand eines Anderen gibt es keine Reso‐ nanzerfahrungen. Rekonstruiert man die Gemeinwohlidee auf solche Weise als ein mehrdimensio‐ nales Resonanzverhältnis, so bleibt ein Grundproblem jener Idee zunächst allerdings erhalten: Wo verlaufen die Grenzen des Gemeinwesens, um dessen Wohl es geht, wie verhält es sich zu seinem sozialen oder materialen Außen? Meine These (und meine Hoffnung) lautet hier, dass ein Gemeinwesen nach außen nicht ungerecht, ge‐ walttätig, repressiv oder destruktiv sein kann, wenn es nach innen resonanzfähig bleiben will. Bestimmt man das Gemeinwohl über den Resonanzbegriff, so bezeich‐ net Resonanz ein Weltverhältnis im Ganzen, eine Form des In-der-Welt-Seins. Re‐ pression, Gewalt und Unterdrückung aber zwingen nicht nur die Opfer, sondern auch und gerade die Täter in einen verdinglichenden, repulsiven Modus der Weltbe‐ ziehung, in dem es gilt, Resonanzbeziehungen dispositional zu unterdrücken und die entsprechenden Regungen ‚mitleidlos‘ auszumerzen; sie oktroyieren ein Weltver‐ hältnis, in dem das transformative Hören auf das (genuin) Andere und den (genuin)

13 Arendt 1958, sowie Arend 1994, dazu auch ausführlich: Sörensen 2016.

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Anderen systematisch erschwert oder verunmöglicht, die echoförmige Verstärkung des immer gleichen Eigenen aber systematisch befördert oder erzwungen wird.14 Interessanterweise gilt ebendies auch für das Naturverhältnis: Wer die stoffliche (und erst recht die belebte) Umwelt nur als zu extrahierende und zu bearbeitende, instrumentell zu nutzende und zu gestaltende Ressource behandelt, kann sie nicht als Resonanzsphäre erfahren, als ein lebendiges Anderes, das mit uns Menschen in einer fortwährenden, responsiven Wechselbeziehung steht. Umgekehrt gilt: Wer mit der Natur (wie immer man sie genau fassen und konzipieren mag) in einem stabilen Re‐ sonanzverhältnis lebt, muss sich nicht zwingen, sie zu schonen oder nachhaltig zu bewirtschaften, er wird dies gleichsam von selbst tun, um die Stimme jenes Anderen nicht unhörbar zu machen und gerade dadurch seine eigene Stimme zu verlieren.15 Versucht man das Gemeinwohl auf diese Weise als die Etablierung von Reso‐ nanzachsen in sozialer Hinsicht (als Form der Beziehung zwischen den Menschen), in materialer Hinsicht (als Form der Beziehung zur geteilten Lebenswelt) und in ver‐ tikaler Hinsicht (als Form der Beziehung zur Welt, zur Geschichte, zur Natur oder zum Leben als umgreifenden Totalitäten) zu begreifen, dann erweisen sich Gemein‐ wohl und Gemeinsinn in der Tat als komplementäre wechselseitige Voraussetzun‐ gen:16 Gemeinsinn bezeichnet dann die Resonanzfähigkeit und ‑willigkeit der Bür‐ gerinnen und Bürger, das Gemeinwohl aber verwirklicht sich dort, wo die sozialen und materialen, zeitlichen und räumlichen Verhältnisse die Etablierung und Erhal‐ tung sozialer, materialer und vertikaler Resonanzachsen erlauben. Resonanz, verstanden als die Kunst der Balance zwischen der Fähigkeit, sich ‚an‐ rufen‘ zu lassen und die Stimmen des und der Anderen zu vernehmen, und dem Ver‐ mögen, die je eigene Stimme hörbar zu machen und antworten zu lassen, kann auf diese Weise als Leitidee für die Bestimmung des Gemeinwohls sowohl nach innen wie nach außen, sowohl im Blick auf die sozialen wie auch hinsichtlich der zeitli‐ chen, räumlichen und materialen Dimensionen des Weltverhältnisses dienen. Das ist die sicherlich reichlich wagemutige und vielleicht tollkühne Hoffnung, der ich in diesem Beitrag im Anschluss an die überaus fruchtbaren Überlegungen Graf Kiel‐ manseggs Ausdruck verleihen wollte. Mir ist bewusst, dass ich sie damit auch nicht ansatzweise schon konzeptuell einzulösen verstanden habe: Der Pudding lässt sich auch resonanztheoretisch nicht an die Wand nageln. Wenn Unverfügbarkeit aber ein Kernelement jeglicher Resonanzverhältnisse darstellt, dann muss man sich dadurch nicht entmutigen lassen. Dass es sich lohnen kann, trotzdem oder gerade deswegen immer wieder neuen Anlauf zu nehmen – davon legt das Oeuvre Graf Kielmansegg ein beeindruckendes Zeugnis ab.

14 Dazu ausführlich: Rosa 2016c, S. 97-108. 15 Rosa 2014, S. 123-141. 16 Vgl. dazu Münkler/Bluhm/Fischer 2002.

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Literaturverzeichnis: Adloff, Frank/Leggewie, Claus (Hrsg.), 2014: Das konvivialistische Manifest. Für eine neue Kunst des Zusammenlebens. Bielefeld. Arendt, Hanna, 1958: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken. München. Ahrend, Hanna, 1960/1994: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München. Bedorf, Thomas/Herrmann Steffen (Hrsg.), 2016: Das soziale Band: Geschichte und Gegen‐ wart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs. Frankfurt am Main und New York. Caplan, Bryan, 2008: The Myth of the Rational Voter: Why Democracies Choose Bad Poli‐ cies. Princeton. Gallie, Walter B., 1956: Essentially Contested Concepts. In: Proceedings of the Aristotelian Society, Jg. 56, S. 167-198. Kielmansegg, Peter Graf, 1977: Volkssouveränität. Eine Untersuchung der Bedingungen de‐ mokratischer Legitimität. Stuttgart. Kielmansegg, Peter Graf, 2013: Die Grammatik der Freiheit. Acht Versuche über den demo‐ kratischen Verfassungsstaat. Baden-Baden. Kielmansegg, Peter Graf, 2016: Repräsentation und Partizipation. Überlegungen zur Zukunft der repräsentativen Demokratie. Sitzungsbericht der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang-Goethe-Universität Frankfurt am Main; Band LIII, Nr. 3, Stuttgart. Kielmansegg, Peter Graf, 1985: Die „Quadratur des Zirkels“. Überlegungen zum Charakter der repräsentativen Demokratie. In: Matz, Ulrich (Hrsg)., Aktuelle Herausforderungen der repräsentativen Demokratie. Köln, S. 9-41. Latour, Bruno, 2014: Existenzweisen. Eine Anthropologie der Modernen. Berlin. Münkler, Herfried/Bluhm, Harald/Fischer, Karsten (Hrsg.), 2002: Gemeinwohl und Gemein‐ sinn, 4 Bände. Berlin. Rosa, Hartmut, 2014: Die Natur als Resonanzraum und als Quelle starker Wertungen. In: Har‐ tung, Gerald/Kirchhoff, Thomas (Hrsg.), Welche Natur brauchen wir? Analyse einer an‐ thropologischen Grundproblematik des 21. Jahrhunderts. Freiburg/München, S. 123-141. Rosa, Hartmut, 2016a: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin. Rosa, Hartmut, 2016b: Einem Ruf antworten. Bruno Latours andere Soziologie der Weltbe‐ ziehung. In: Soziologische Revue, Jg. 39, H.4, S. 552-560. Rosa, Hartmut, 2016c: Politik ohne Resonanz. Wie wir die Demokratie wieder zum Klingen bringen. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg 61, S. 97-108. Rosa, Hartmut, 2017: Für eine affirmative Revolution. Eine Antwort auf meine Kritiker_in‐ nen. In: Peters, Christian Helge/Schulz, Peter (Hrsg.), Resonanzen und Dissonanzen. Hart‐ mut Rosas kritische Theorie in der Diskussion, Bielefeld, S. 311-329. Sörensen, Paul, 2016: Entfremdung als Schlüsselbegriff einer kritischen Theorie der Politik. Eine Systematisierung im Ausgang von Karl Marx, Hannah Arendt und Cornelius Casto‐ riadis. Baden-Baden. Wittman, Donald A., 1997: The Myth of Democratic Failure: Why Political Institutions. Are Efficient. Chicago.

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Zittel, Thomas/Kaiser, André, 2004: Demokratietheorie und Demokratieentwicklung: Frage‐ stellungen im Werk von Peter Graf Kielmansegg. In: Dies. (Hrsg), Demokratietheorie und Demokratieentwicklung, Festschrift für Peter Graf Kielmansegg. Wiesbaden, S. 9-18.

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Uwe Backes Gegenentwurf zum demokratischen Verfassungsstaat: Totalitäre Ordnungen als durchherrschte Ideokratien

Wenn das Totalitarismuskonzept nach seiner Renaissance in den 1990er Jahren1 in der vergleichenden Autokratieforschung der vergangenen zwei Jahrzehnte merklich an Bedeutung verloren hat2, so ist dies nicht zuletzt eine Folgewirkung des Nieder‐ gangs der Sowjetunion und der Veränderungen der Regimequalität der Volksrepublik China infolge der von Deng Xiao-ping eingeleiteten Wirtschaftsreformen – mit ihrer Ausstrahlung auf eine Vielzahl von Satellitenregimen weltweit. Die Zahl der politi‐ schen Systeme, deren Herrschaftscharakteristika anhand von Totalitarismusmodellen einigermaßen trennscharf zu bestimmen waren, ging infolge dessen stark zurück. Die demokratischen Verfassungsstaaten sahen sich keiner „machtvollen totalitären Herausforderung“3 mehr gegenüber. Und eine oft sehr gegenwartsfixierte Politikwis‐ senschaft nutzte verstärkt Typologien politischer Herrschaft, die deren legitimatori‐ sche Aspekt ausblendeten.4 Stattdessen hatte die Erforschung der Herrschaftsmecha‐ nismen einer Vielzahl „hybrider“, „defekter“, „semi-kompetitiver“ und „illiberal-de‐ mokratischer“ Regime Konjunktur. Dieser Trend bewegte sich im Strom von Entwicklungen, die bereits lange vor der Zeitenwende der Jahre 1989 bis 1991 zu einem partiellen Bedeutungsverlust des To‐ talitarismusansatzes geführt hatten. Um nur einen besonders wichtigen Erklärungs‐ faktor herauszugreifen: Die in den 1970er und 1980er Jahren einflussreiche Konver‐ genztheorie sah die Industriegesellschaften und „bürokratischen Systeme“ in Ost und West auf dem Weg der Annäherung. Die realsozialistischen Staaten hatten sich demnach vom Modell des Totalitarismus entfernt, während die „Realität des Rechts‐ staates“ in den „entwickelten Gesellschaften des Westens gefährdet“ sei, schrieb Ralf Dahrendorf 1986 in einem Beitrag für die Wochenzeitung „Die Zeit“. Zwar stünden die „westlichen Gesellschaften“ dem „Bild moderner offener Gesellschaften näher als die des Ostens; aber die Unterschiede sind graduell, nicht (mehr) total.“5 Graf Kielmansegg widersprach dieser Diagnose in seiner Entgegnung entschie‐ den. Er sah in Dahrendorfs Betonung der Übergänge und Grauzonen eine Nivellie‐ 1 2 3 4

Vgl. Backes/Jesse 1985, S. 47-102; dies. 1992; Backes 2016. Siehe die umfassende Forschungsbilanz bei: Kailitz/Köllner 2013. Kielmansegg 2014, S. 125. Vgl. Kailitz 2009. Natürlich trifft dies nur auf einen Teil der Forschung. Siehe dagegen Gallus/ Jesse (Hrsg.), 2004; Lauth 2010; Merkel 2010, S. 40-54. 5 Dahrendorf 1986.

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rung kategorialer Unterschiede, die „Urteilskraft“ und „lebenswichtiges politisches Orientierungswissen“ erst begründeten. Den Wandel des Kommunismus seit Chruschtschow müsse keineswegs ignorieren, wer den weiter bestehenden Antago‐ nismus der Systeme betone. Drei „grundlegende und einfache Wahrheiten“ hätten ihre Bedeutung nämlich keineswegs eingebüßt: Erstens könnten die „Regierenden in den westlichen Demokratien […] durch ein einfaches Votum der Bürger ihr Amt und ihre Macht verlieren“. Zweitens hätten sie sich dem „Forum einer freien Öffentlich‐ keit“ zu stellen. Und drittens gebe es „unabhängige Gerichte, die dem Bürger auch gegen den Staat selbst Schutz gewähren“. Wenn Dahrendorf ohne genauere Begrün‐ dung von Gefährdungen des Rechtsstaates spreche, könne er doch kaum meinen, „bei einer vergleichenden Betrachtung seien die Unterschiede zwischen den Staaten, die Rechtsstaaten sind, und denen, die es nicht sind, nicht mehr deutlich auszuma‐ chen. Sie sind es.“6 Das Problem der typologischen Einordnung politischer Systeme und der ange‐ messenen Grenzziehung angesichts fließender Übergänge und sich wandelnder Sys‐ temmerkmale stellte sich damals wie heute. Und ebenso konstant erscheint die poli‐ tisch-konjunkturelle Abhängigkeit der Einordnungen in einen normativen Horizont, dessen Koordinaten von Interessenlagen und dem jeweiligen Bedürfnis nach Annä‐ herung oder Abgrenzung mitbestimmt werden. Dennoch haben die wichtigsten Bausteine der geläufigen Totalitarismuskonzepte7 ihre grundsätzliche Bedeutung für die Analyse autokratischer Herrschaft keineswegs verloren, auch wenn die Zahl der Systeme, auf die sie sinnvoll angewendet werden können, ohne Zweifel abgenommen hat. Dies gilt insbesondere für zwei zentrale Herrschaftsmerkmale, deren Kombination die Hochphasen totalitärer Mobilisierung und Regimeformierung prägte: erstens ihre spezifische ideokratische Herrschaftsle‐ gitimation, d.h. ihre Ideologiegetriebenheit mit dem Anspruch, in der Gesellschaft ein neues, umfassendes, absolute Geltung beanspruchendes, exklusives und für alle verbindliches Wertesystem zu etablieren; und zweitens das daraus resultierende Be‐ streben, alle Lebenssphären zu durchdringen und verbindlich zu normieren – und zu‐ gleich Abweichendes jeglicher Art zurückzudrängen oder gar zu eliminieren. Da‐ durch erreichen sie eine im Vergleich zu anderen autokratischen Regimen ins Auge springende Herrschaftsintensität. Zu beiden Säulen totalitärer Herrschaft hat Peter Graf Kielmansegg in verschiede‐ nen Phasen seines wissenschaftlichen Wirkens wegweisende Beiträge geleistet. Aus der Beschäftigung mit ihnen lassen sich wertvolle Einsichten für die Analyse der Autokratien in Geschichte und Gegenwart gewinnen.

6 Kielmansegg 1986. 7 „Das“ Totalitarismuskonzept gibt es bekanntlich nicht. Vgl. nur Jesse 1998.

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Herrschaftszentrum mit unbegrenzter Entscheidungs- und Sanktionsgewalt Der erste der zu würdigenden Beiträge stammt aus den frühen 1970er Jahren, als der Totalitarismusansatz wieder einmal in die intellektuelle Defensive geraten war und auch auf wissenschaftlichem Feld einen konjunkturellen Rückgang erlebte.8 Eines der wichtigsten Argumente der Fundamentalkritiker lautete, der Ansatz sei kaum in der Lage, die Wandlungen innerhalb der Sowjetunion und ihrer Satelliten zu erfas‐ sen. Und auch Kielmansegg meinte in seiner Entgegnung auf die in der DDR-For‐ schung prominent von Peter Christian Ludz vorgetragenen Einwände, die Vertreter des Totalitarismusansatzes hätten in der Vergangenheit nicht selten den Fehler ge‐ macht, „die Eindrücke, Erfahrungen des Augenblicks unmittelbar in Typenbegriffe und generalisierende Konzepte umzusetzen“.9 Stattdessen müsse der Versuch unter‐ nommen werden, Konzepte der vergleichenden Regierungslehre „aus allgemeinen Kategorien“ zu deduzieren, um sie so auf eine „Vielfalt verschiedener Phänomene“10 anwendbar zu machen. Kielmanseggs skizzenhafte Ausführungen boten wichtige Anregungen für die Einbettung des Totalitarismuskonzepts in eine allgemeine Herr‐ schaftslehre. Sein Vorschlag knüpfte in einigen zentralen Punkten an Max Webers Herrschafts‐ soziologie und die Systemtheorie an. Politische Systeme seien generell als „Institu‐ tionalisierungen von Entscheidungskapazität“ aufzufassen. Sie unterschieden sich aber insbesondere unter drei Aspekten: in der „Verteilung der Chancen der Einfluss‐ nahme auf die Entscheidungsprozesse“, in der „Reichweite der Entscheidungen“ und auch in ihrem „Sanktionsinstrumentarium, mit dessen Hilfe die Geltung der Ent‐ scheidungen gesichert wird“. Das Besondere der totalitären Herrschaft im Vergleich mit anderen politischen Systemen zeige sich bezüglich der genannten Dimensionen in der Verknüpfung dreier Merkmale, nämlich (1) der „monopolistischen Konzentra‐ tion der Chancen der Einflussnahme in einem Führungszentrum“, (2) der „prinzipi‐ ell unbegrenzten Reichweite der Entscheidungen des politischen Systems“ und (3) der „prinzipiell unbeschränkten Intensität der Sanktionen“. Das erste Merkmal erinnert an Karl Löwensteins kategoriale Unterscheidung zwi‐ schen den Staatsgattungen der Autokratien und der Verfassungsstaaten mit dem Vor‐ handensein oder Fehlen effektiver Gewaltenkontrolle als differentia specifica.11 Die totalitäre Autokratie benötigt darüber hinaus die Merkmale (2) und (3). Zum einen also eine „Regelungs- und Eingriffskompetenz“, die sich auf alle Bereiche gesell‐ 8

Siehe zu den – nicht zuletzt auch politischen – Konjunkturen der Totalitarismusdiskussion: Bruneteau 2010; Gleason 1995; Söllner (Hrsg.), 1997; Todorov 2010; Torney 1995; Traverso (Hrsg.), 2001. 9 Hier zitiert nach dem Wiederabdruck des 1995 in der Zeitschrift für Politik erschienenen Bei‐ trags in dem Band von: Jesse (Hrsg.), 1999, S. 298. 10 Ebd. 11 Vgl. Loewenstein 2000.

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schaftlichen Lebens, auf alle Sphären individueller Existenz“12 erstrecke. Der völli‐ ge Verlust geschützter Freiheitsräume und das Nichthaltmachen des Staates selbst vor der individuellen Intimsphäre sind zentrale Aspekte dessen, was mit dem Kon‐ zept totalitärer Herrschaft meist zum Ausdruck gebracht werden soll. Hinzu kommt nach Kielmansegg das dritte Merkmal, die „prinzipiell unbegrenzte Intensität der Sanktionen“. Doch dabei sei – anders als bei Hannah Arendt – keineswegs „primär an Terror gedacht“. Überhaupt komme es weniger auf eine „bestimmte Form der Sanktionspraxis“ an als auf „das Sanktionspotential“. Hierbei sei „diesseits des Ter‐ rors“ in erster Linie die „unbegrenzte Verfügungsgewalt über die Gesamtheit der Le‐ benschancen des Einzelnen“ entscheidend, „über Bildungschancen und Berufschan‐ cen, über die Chancen der Befriedigung materieller Bedürfnisse und Kommunikati‐ onschancen“ etwa: „Wer die unspezifische, das heißt nicht an kontrollierbare Bedin‐ gungen gebundene Macht besitzt, über diese Chancen zur Sanktionszwecken zu ver‐ fügen, dessen Sanktionspotential kann mit gutem Grund totalitär genannt werden.“13 Die drei Merkmale sah Kielmansegg in einer dynamischen Wechselbeziehung. Die Konzentration der Staatsgewalt sei die Voraussetzung für die Aufrechterhaltung eines unbegrenzten Entscheidungs- und Sanktionspotentials. Und umgekehrt könne sich ein solches Potential nur entfalten, wo das Entscheidungsmonopol des Füh‐ rungszentrums nicht von außen in Frage gestellt werde. Ein Jahr nach dem Erschei‐ nen von Kielmanseggs Aufsatz erschien die empirisch breit abgestützte Untersu‐ chung von Juan J. Linz, der ausgehend vom spanischen Franco-Regime die Unter‐ schiede zwischen autoritären und totalitären Systemen systematisch herausarbeitete und dabei die unterschiedlichen Formen der Konzentration von Entscheidungsge‐ walt in autokratischen Exekutiven vor Augen führte.14 Spielte die Ideologie als zentrales Definitionsmerkmal bei Linz eine entscheiden‐ de Rolle, stand bei Kielmansegg die Herrschaftsstruktur im Vordergrund. Die Herr‐ schaftsziele verlören durch die extreme Konzentration der Entscheidungskompetenz im Laufe der Entwicklung totalitärer Herrschaft ihre Bedeutung, so dass es bald nur noch darum gehe, das Entscheidungsmonopol aufrecht zu erhalten.15 Erst gegen En‐ de seiner Skizze trat die Notwendigkeit des Führungszentrums zur Motivation und sozialen Verhaltenssteuerung stärker in den Blick. Der Ideologie maß er in diesem Zusammenhang zwei Aufgaben zu: Sie müssen das Führungszentrum zum einen „in den Stand setzen, ausschließlich und verbindlich über die sozialrelevanten Werte und Normen zu entscheiden“, und zum anderen, „der Gesellschaft verbindliche Schemata für die Deutung der Wirklichkeit vorzugeben.“ Die Leistungsfähigkeit der

12 13 14 15

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Kielmansegg 1974, S. 299. Ebd. Vgl. Linz 1975, S. 175-411. Kielmansegg 1974, S. 300.

Ideologie in diesen beiden Bereichen bestimme letztlich die „Steuerungskapazität des Führungszentrums“.16

Ideologie als Primärphänomen totalitärer Herrschaft Wird die Rolle der Ideologie in der frühen Skizze zur Totalitarismustheorie aus den Eigenschaften der totalitärer Herrschaftsstruktur deduziert, fasste Kielmansegg sie in einem vier Jahrzehnte später erschienenen Beitrag im Rückgriff auf den Totalitaris‐ musansatz Martin Draths17 als „Primärmerkmal“18 totalitärer Herrschaft. Dabei knüpfte er in vielen Punkten an das Opus magnum zur „Geschichte des geteilten Deutschland“19 an. Demnach ist der Herrschaftsaufbau des Totalitarismus angemes‐ sen nur zu verstehen, wenn er aus dem Versuch heraus gedeutet wird, ein neues Wer‐ tungssystem politisch durchzusetzen und sozial zu verankern – notfalls mit brachia‐ ler Gewalt. Um die Beschaffenheit dieses Wertungssystems zu erfassen, kann zum einen auf den Ansatz der „politischen Religionen“ („Neuschaffung“, „Erlösung der Welt“, „neuer Mensch“20), zum anderen auf die ideologie- und erkenntniskritischen Arbeiten Hannah Arendts zurückgegriffen werden, etwa ihre mit unüberhörbarer Ironie vorgetragenen Reflexionen über die „Emanzipation des Denkens von erfahre‐ ner und erfahrbarer Wirklichkeit“.21 Kielmansegg schließt daran die Beobachtung an: Die totalitären Programme schreiten im Gewand der Wissenschaft einher, ob‐ wohl es sich „dem Wissenstyp nach um Offenbarungswissen“ handelt. Und das „Wissen um die Wahrheit legitimiert diejenigen, die sich selbst mit der Exekution des totalitären Programms beauftragen, ihre Selbstbeauftragung freilich als einen Auftrag der Geschichte verstehen“.22 Geht man vom ideologischen Antrieb als Primärphänomen aus, gewinnt der Tota‐ litarismusansatz eine dynamische Komponente insofern, als er einen „typischen Le‐ benszyklus“ erfasst. Denn der totalitäre Anspruch ist prinzipiell unerfüllbar23, so dass die totalitäre Herrschaft den Keim des Zerfalls in sich trägt. Der Versuch, eine „neue Welt zu schaffen, scheitert unausweichlich an der Widerständigkeit der Wirk‐ lichkeit, die nie vollständig zur Disposition der Politik steht, welcher Zwänge oder 16 Ebd., S. 301. 17 Vgl. Drath 1958, S. IX-XXXIV. Siehe zum Forschungspotential dieses Ansatzes vor allem: Patzelt 1998. 18 Kielmansegg 2014, S. 129. 19 Kielmansegg 2000. Siehe dazu die Würdigung von: Gallus 2001. 20 Kielmansegg 2000, S. 130. Kielmansegg nimmt Bezug auf die von Hans Maier initiierten For‐ schungen, vor allem die beiden Bände: Maier/Schäfer (Hrsg.) 1996/97. 21 Arendt 2005, S. 965. Siehe dazu auch die Kontroverse: Arendt/Voegelin 2015. 22 Kielmansegg 2014, S. 131. 23 Kielmansegg zitiert Hans Buchheim, der diesen Aspekt bereits 1962 hervorhob: Ders. 1962, S. 127.

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Anreize sie sich auch bedienen mag.“24 Wird dieser Aspekt konzeptionell systemati‐ siert, lassen sich etwa grundlegende Wandlungen in der Sowjetunion und ihren Sa‐ tellitenstaaten nach dem Tod Stalins plausibel deuten: „Die Mittel verselbständigen sich gegenüber den Zielen, bis schließlich die Sicherung, die Verteidigung einer be‐ stimmten Herrschaftsstruktur, des Herrschaftsmonopols der Partei nämlich, die als Träger des totalitären Programms angetreten ist, zum Selbstzweck wird.“25 Frühe Beiträge zur Beschreibung dieses Prozesses fand Kielmansegg in den Arbeiten Ri‐ chard Löwenthals und Zbigniew Brzezinskis aus den späten 1960er Jahren.26 Linz knüpfte daran später mit dem Konzept des „Posttotalitarismus“ an, mit dem er die Verfallsprozesse totalitärer Herrschaft und die Annäherung der Systeme an eher „au‐ toritäre“ Formen der Autokratie systematisch zu erfassen suchte.27 Angesichts der Verlaufsformen totalitärer Herrschaft formulierte Kielmansegg die grundsätzliche Frage, ob totalitäre Autokratien grundsätzlich in der Lage seien, den Anforderungen „moderner Gesellschaften“ mit ihrer funktionalen Differenzierung zu genügen. Einerseits erwiesen sie sich als im Ansatz außerstanden, neben der eige‐ nen „Herrschaftlogik“ eine „andere Sachlogik“ gelten zu lassen. Denn opferten sie die „Unbedingtheit und Unbegrenztheit ihres Herrschaftsanspruchs“, gäben sie sich „über kurz oder lang selbst auf“.28 Das damit verknüpfte Diktatorendilemma dürfte indes nicht nur für totalitäre Herrschaft, sondern für jedes autokratische Regime von Bedeutung sein, das – beispielsweise – gewisse rechtsstaatliche Mechanismen im ökonomischen Bereich einführt, um damit Investitionen zu erleichtern und seine po‐ litische Monopolstellung durch wirtschaftlichen Erfolg zu sichern.29

Ideologiegetriebene Herrschaft mit unbegrenzter Entscheidungs- und Sanktionsgewalt Was Peter Graf Kielmansegg in den zitierten Beiträgen im Abstand von vierzig Jah‐ ren umrissen hat, sind die tragenden Pfeiler, ohne die totalitäre Herrschaft wohl nicht sinnvoll entworfen und analysiert werden kann. Die erste Säule ist in jüngster Zeit vermehrt unter der Bezeichnung „Ideokratie“ beschrieben worden. Sie besitzt gegen‐ über dem deutschen Wort „Weltanschauungsdiktatur“ den Vorzug, leichter Eingang

24 Kielmansegg 2014, S. 133. 25 Ebd., S. 34. 26 Brzezinski 1999; Löwenthal 1974. Zur Entwicklung von Löwenthals Totalitarismuskonzept siehe: Backes 2007. 27 Vgl. neben der bereits erwähnten Grundlagenstudie aus dem Jahr 1975 das gemeinsam mit Al‐ fred Stepan verfasste Werk: Linz/Stepan 1996. Siehe zur Einordnung in die Forschung: Backes 2009. 28 Kielmansegg 2014, S. 135. 29 Vgl. zuletzt nur Dickson 2016.

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in die romanische und angelsächsische Sprach- und Wissenschaftskultur zu finden.30 Doch sie öffnet auch den Blick auf ein weites historisches Areal. Längst vergessen ist, dass der Ideokratiebegriff schon im 19. Jahrhundert Eingang in die deutsche Staatsformenlehre fand.31 Von dem Hallenser Historiker Heinrich Leo geprägt, nahm ihn Johann Caspar Bluntschli in seine zur damaligen Zeit weitverbreitete und als Standardwerk geltende „Allgemeine Staatslehre“ auf, indem er das aristotelische Sechserschema um zwei Typen erweiterte: die „Ideokratie“ für jene Staaten, in de‐ nen ein Gott oder eine Idee verehrt wird und die Herrschenden „zur Wohlfahrt der Regierten dienen“, und die „Idolokratie“32 als deren Entartungsform. Die Ideokratie sah er vor allem in den Theokratien des Altertums verwirklicht, erkannte aber in der Jakobinerherrschaft – wie schon zuvor Leo – eine moderne Ausprägung. Unter Ro‐ bespierre und Saint-Just seien „der abstracten Vorstellung der Gleichheit, welche als oberstes Staatsprincip verehrt wurde, eine Menge vorzüglicher Menschen wie einem erzürnten Götzen hingeopfert“ worden: Wer durch Gesinnung, oder Geburt, oder Vermögen sich über das Niveau der Mittelmäßigkeit emporhob, der wurde wie ein Majestätsverbrecher gegen die Herrschaft der Gleichheit verurtheilt und hingerich‐ tet.“33 In den frühen Totalitarismusdiskussionen der 1920er bis 1950er Jahre rekurrierten vor allem exilrussische Autoren auf den Ideokratiebegriff, um das bolschewistische Regime in eine historische wie aktuelle Vergleichsperspektive zu rücken.34 Der radi‐ kal-freiheitszerstörende Charakter der Ideokratie beruhte diesen Interpretationen zu‐ folge auf einer Reihe von Besonderheiten, welche sie von allen anderen Formen der Autokratie unterschied: Ideokraten herrschen weder aus reinem Eigeninteresse, noch berufen sie sich in erster Linie auf ererbte Autorität und Tradition. Vielmehr sehen sie sich im Besitz einer unanfechtbaren Lehre, die Antworten auf alle Lebensfragen verspricht, die zuverlässige Deutung und Erklärung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erlaubt und einen Schlüssel für die Lösung aller politischen Probleme liefert. Sie dulden neben sich keine anderen Sichtweisen, treten in Konkurrenz sogar zu den Weltreligionen und zeichnen sich durch mangelnden Respekt gegenüber den individuellen Glaubensüberzeugungen des Einzelnen aus. Gleichzeitig sind sie daran interessiert, „Ungläubige“ zu bekehren und begeisterte Anhänger für die Realisie‐ rung großer Ziele zu mobilisieren. Ideokratische Politikentwürfe enthalten wenig Raum für schrittweise Veränderung, vorsichtiges Vorantasten, Versuch und Irrtum, Kompromissbildung und Konsenssuche. Sie leben vom großen Wurf und von Heils‐ versprechungen, propagieren die Tabula rasa, wollen die bisherige Geschichte zu‐

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Vgl. nur Piekalkiewicz/Penn 1995; Becker 2011, S. 148-169. Vgl. Backes 2014, S. 19-45. Bluntschli 1851, S. 240. Ebd., S. 263. Vgl. Backes 2014; Luks 2017; Luks 2011.

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gunsten zwischenmenschlicher Beziehungen und Ordnungsformen „neuer Qualität“ hinter sich lassen und ihre Grundideen „mit letzter Konsequenz“ umsetzen. Die ideokratische Elite stützt ihren Herrschaftsanspruch auf den Besitz unanfecht‐ barer Wahrheiten. Diese begründen auch den Schlüsselmechanismus für Kooptation und soziale Integration. „Fanatische“ Hingabe ist das wichtigste Selektionskriterium für den Aufstieg in Führungspositionen. Wer es an ideologischer Zuverlässigkeit fehlen lässt, ist für wichtige Funktionsbereiche disqualifiziert. Meist entscheiden „alte, bewährte Mitglieder“, wer „als neues Mitglied aufzunehmen ist“.35 Die Elite beruft sich auf den theoretischen Volkswillen, nicht auf den empirischen. Wo Wah‐ len stattfinden, entscheidet die Gläubigkeit über die Kandidatenzulassung. Soziale Integration erfolgt über die Organisationen glühender Gläubiger und durch die Be‐ währung in ihnen. Anders als autoritäre Regime sind ideokratische nicht nur be‐ strebt, Menschen zum Gehorsam und zur Unterlassung illoyaler Handlungen zu ver‐ anlassen: Diese werden vielmehr genötigt, als „aktive und enthusiastische Unterstüt‐ zer“36 zu fungieren. Ideokratien lassen besondere Formen von Gewaltherrschaft und Unterdrückung erkennen. Die Erhabenheit der ideologischen Ziele rechtfertigt jedes Mittel. Wer sich der rechten Sache widersetzt oder ihr im Wege steht, gilt „nicht mehr als wür‐ dig, vom Erdboden getragen zu werden“.37 Wer durch „Gesinnung“, „Geburt“ oder „Vermögen“38 herausragt, fällt der Vernichtung anheim. Vor allem die Jakobiner‐ herrschaft bildet das Anschauungsmaterial, das der Beschreibung ideokratischer Ge‐ waltherrschaft von Seiten der konservativen und liberalen Staatslehre des 19. Jahr‐ hunderts zugrunde liegt. Das Ideokratiekonzept des 20. Jahrhunderts fügt dieser Quellenbasis einen erschreckend reichen Belegfundus aus der Herrschaftspraxis to‐ talitärer Regime hinzu. Die Verfolgung „objektiver Feinde“ ist bereits den Ideokratietheoretikern des 19. Jahrhunderts dem Sinn nach bekannt. Denn die Vorläufer der modernen totalitären Bewegungen unterscheiden sich von diesen keineswegs durch ein höheres Maß an Toleranz oder ein weniger hartnäckiges Bestreben, alle abweichenden Denk- und Lebensformen auszumerzen, sondern durch den Nichtbesitz der neuen Techniken der Massenlenkung und -beherrschung, die es überhaupt erst erlauben, den ideokra‐ tischen Anspruch über lokale Zentren hinaus großräumig in die Tat umzusetzen: die pseudodemokratischen Plebiszite und Volkswahlen, die akklamierenden Parlamente, die modernen Massenkommunikationsmittel, die nach militärischen Vorbildern orga‐ nisierten Monopolparteien mit ihnen angeschlossenen Massenorganisationen, die wuchernden Verfolgungsapparate der Geheimpolizeien etc. Robespierre hätte – weit 35 Timaschew 1928, S. 602. 36 „Men and groups […] are forced to be active and enthusiastic supporters.“ Gurian 1953, S. 128. 37 Leo 1833, S. 150. 38 Bluntschli 1851, S. 263.

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mehr noch als der russische Zar, Ludwig XIV. oder Alexander der Große – „allen Grund, die Geschwindigkeit und Wirksamkeit zu beneiden, mit der Andersdenkende liquidiert, Zweifler durch Säuberungen beseitigt und Verdächtige in Konzentrations‐ lager gesammelt werden.“39 Der ideokratische Antriebsmechanismus jedoch ist in seinen wesentlichen Elementen der gleiche geblieben. So kann die erste der Kielmansegg’schen Säulen totalitärer Herrschaft historisch noch weitläufiger eingeordnet werden, als dies in der Totalitarismusforschung meist geschehen ist. Die zweite Säule hat vor allem die DDR-Forschung der letzten Jahr‐ zehnte unter einem anderen Etikett, dem der „Durchherrschung“, intensiv beschäf‐ tigt. Die von den Sozialhistorikern Alf Lüthke und Jürgen Kocka stammende Be‐ zeichnung meint eine „ubiquitäre politische Herrschaft“, welche die Gesellschaft „bis in ihre feinsten Verästelungen hinein“40 prägte. Die prinzipiell unbegrenzte Ent‐ scheidungs- und Sanktionsgewalt zeigte sich etwa darin, dass „primär politische Eingriffe“ in den Jahren 1949 bis 1961 „Flucht, Vertreibung und Enteignung“ und die „Zerstörung des Wirtschaftsbürgertums“ zur Folge hatten. Und es waren „geziel‐ te politische Maßnahmen“, die einen „Austausch der Eliten“41, die „Zerstörung her‐ kömmlicher und der Aufbau neuer Strukturen“ in Partei und Staat bewirkten. Eine „rechtlich unbegrenzte Herrschaftsmacht von Staat und Partei“ veränderte die „Scheidelinie zwischen öffentlich und privat in der DDR“, die zudem von ständiger „Überschreitung“42 bedroht war. Das alles schließt keineswegs aus, dass sich Areale der Durchherrschung entzogen, „Restbestände des Bürgertums“ fortexistierten, alte deutsche Traditionen – etwa der protestantischen Theologie – in Rückzugsräumen überlebten, Jugendsubkulturen sich verselbständigten und die Arbeiter Wege fanden, um den Alltag zu entschleunigen und sich der „Kommandowirtschaft“43 ein Stück weit zu entziehen. Solche Abweichungen vom Modell totalitärer Herrschaft widerle‐ gen dessen analytischen Nutzen indes nicht, sondern bestätigen ihn, auch wenn der Eindruck entstehen kann, die „Durchherrschung“ mit ihren Grenzen laufe der Dia‐ gnose „totalitärer Herrschaft“ zuwider. Denn totalitäre Herrschaft „ist ja immer nur der Versuch, ein mehr oder minder brutaler Versuch, dem sich die Wirklichkeit mehr oder minder erfolgreich wider‐ setzt.“44 In der DDR hinderte die Staatspartei ihre Untertanen nach dem Mauerbau mit zunehmendem Erfolg am Verlassen ihres Landes (und ein „Staat, der seine Bür‐ ger als Gefangene hält – wie er sich auch mit ihnen arrangiert, er behält immer einen totalitären Zug“45), sie scheiterte aber bei dem Versuch, den Empfang des Westfern‐ 39 40 41 42 43 44 45

Hayes 1974, S. 98. Kocka 1994, S. 548. Siehe auch Lüdtke 1974. Kocka 1974, S. 548. Ebd., S. 549. Ebd., S. 551. Kielmansegg 2000, S. 576. Ebd.

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sehens zu unterbinden. Das angestrebte Kommunikationsmonopol blieb unerreich‐ bar: „Moderne Technik, ursprünglich einmal als Bedingung der Möglichkeit totalitä‐ rer Herrschaft verstanden, begegnet uns hier als Grund ihrer Unmöglichkeit“.46 Gleichzeitig prägte der totalitäre Anspruch die Herrschaftswirklichkeit auch dort, wo sich die Herrschaftsunterworfenen eine „begrenzte Alltagsfreiheit“ ertrotzten. Denn die „gewisse Ungestörtheit“ erforderte die Einhaltung der „vorgeschriebenen Loyali‐ tätsrituale“, wodurch es notwendig wurde, „eine Art von Doppelleben zu führen, das sichtbare, systemkonforme, und eines, das einem selbst gehörte, in dem man anders dachte und sprach.“47 Hier bewegte man sich auf einem schmalen Grat, den zu ver‐ fehlen bedeuten konnte, in die Mühlen der politischen Justiz und des bis zum Ende der DDR immer weiter ausgebauten Überwachungs- und Unterdrückungsapparats zu geraten. Daneben verfügte das System über die Macht, „Lebenschancen nach politi‐ schem Gutdünken zuzuteilen und zu verweigern“ und sich auf diese Weise die Men‐ schen gefügig zu machen: „die Willkürmacht, zum Abitur, zum Studium zuzulassen oder nicht zuzulassen, einen Arbeitsplatz zuzuweisen oder nicht zuzuweisen, eine Wohnung zuzuteilen oder nicht zuzuteilen, einen Reiseantrag zustimmend oder ab‐ lehnend zu bescheiden. Vom Recht auf Arbeit, vom Recht auf Bildung als Errungen‐ schaften des Sozialismus war – und ist immer noch – viel die Rede. Aber was Recht genannt wurde, war in Wahrheit obrigkeitliche Gewährung, abhängig von politi‐ schem Wohlverhalten.“48 Ein System, das in so hohem Maße über das Alltagsleben der Menschen (in nahe‐ zu allen gesellschaftlichen Bereichen, am Arbeitsplatz wie in der Freizeit, auf Reisen wie am Wohnort, in Bildung und Kultur) zu bestimmen vermag, besitzt jedenfalls viele Züge dessen, was Totalitarismuskonzepte einzufangen versucht haben. Von to‐ talitärer Herrschaft im strengen Sinne sollte aber nur dann die Rede sein, wenn der totalitäre Anspruch der Bewegung in hohem Maße eingelöst wird. Das Ausmaß der Zerstörung des politischen, sozialen und kulturellen Pluralismus ist dafür der wich‐ tigste Gradmesser. Wenn ideologiegetriebene Bewegungen den Versuch unterneh‐ men, einer Gesellschaft ihr ideokratisches Wertesystem aufzuzwingen, von diesem Ziel aber mehr oder weniger weit entfernt bleiben, kann von ideokratischer, nicht aber von totalitärer Herrschaft die Rede sein. Wo die Grenzen verlaufen, ist nur im Vergleich unterschiedlicher Formen der Autokratie mit ihrer jeweiligen Herrschafts‐ reichweite und -intensität sinnvoll zu bestimmen. Die Einzelfallbetrachtung birgt die Gefahr, dass der Forscher vor lauter Wald die Bäume nicht mehr sieht. Der Aus‐ druck „totalitäres Regime“ sollte auf die durchherrschten Formen der Ideokratie be‐ schränkt bleiben.

46 Ebd., S. 579. 47 Ebd., S. 580. 48 Ebd.

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Vincent August Von ›Unregierbarkeit‹ zu Governance: Neoliberale, teleologische und technologische Staatskritik

1. ›Unregierbarkeit‹: Katalysator eines Strukturwandels Durch die Linse des Regierens kann man die historischen Aushandlungsprozesse um die Reichweite von Politik und ihrem Verhältnis zur Gesellschaft besonders gut nachgehen: Über Regieren kann man schlecht sprechen, ohne zumindest implizit eine Selbstbeschreibung der Gesellschaft zu formulieren und eine Vorstellung von Politik, ihren Aufgaben, ihrer Stellung in der Gesellschaft zu entwickeln. Daher kön‐ nen Debatten über das Regieren als ein Seismograf für die Stabilität und Wandlungs‐ prozesse einer Gesellschaft dienen. Die Krisendebatte der 1970er Jahre, die unter dem Titel ›Unregierbarkeit‹ geführt wurde, nimmt hierbei eine Sonderstellung für die westlichen Demokratien ein. Sie war, wie ich zeigen will, ein Katalysator für eine große Transformation, in der die Beschaffenheit und das Verhältnis von ›Politik‹ und ›Gesellschaft‹ grundsätzlich neu austariert wurden.1 In dieser Transformation hat der klassische Institutionalismus, wie er auch von Peter Graf Kielmansegg vertreten wurde, analytisch und normativ an Einfluss verloren. Gleichzeitig büßte auch der typische Gegenspieler des Institu‐ tionalismus, der Neomarxismus, seine vorherrschende Stellung als kritisches Para‐ digma ein. Die Staats- und Modernekrisen der 1970er Jahre räumten damit ein Spiel- und Konfliktfeld ab, das spätestens seit 1945 nicht nur die intellektuellen Dis‐ kurse, sondern auch die politische Landschaft geregelt hatte. Die ›Unregierbarkeit‹ der 1970er Jahren ist aber nicht nur von archivarischem In‐ teresse. Denn zum einen scheinen hier die Themen auf, die die politischen Debatten am Anfang des 21. Jahrhunderts prägen, wie zum Beispiel die (Un)Fähigkeit des Parteiensystems, sich an quantitativ und qualitativ neue Partizipationsbedürfnisse anzupassen, oder die (Un)Fähigkeit des politischen Systems, die ökologische Frage zu lösen – beides bekanntermaßen Themen, die auch Peter Graf Kielmansegg um‐ trieben. Zum anderen verdrängten (neo-)liberale und technologische Rationalitäten 1 Die 1970er Jahre haben erst kürzlich wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Federführend waren dabei zeithistorische Untersuchungen, in Deutschland insbesondere die These eines öko‐ nomischen Strukturbruches. Von der Politikwissenschaft ist diese fundamentale Transformation bisher kaum beachtet worden. Aus den vielen Einzel- und wenigen Überblicksstudien vgl. z. B. Bösch 2013; Jarausch 2008; Leendertz, Meteling 2016; Doering-Manteuffel, Raphael, Schlem‐ mer 2016; aus der internationalen Forschung etwa Chabal 2015.

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nun die ›alten‹ Deutungsmuster und transformierten die Vorstellungen von Staatlich‐ keit durch Markt- und Netzwerk-Logiken. Diese Transformation soll den Zielpunkt des vorliegenden Beitrags bilden. Dafür werde ich zunächst das Staatsverständnis der Nachkriegszeit als Voraussetzung für die Krisendiskurse umreißen (2.), bevor ich im Detail die vier großen Kritikstränge der Debatte vorstelle (3. und 4.). Als Folge der Debatte lässt sich abschließend der Wandel des Regierungs- und Staatsverständnisses skizzieren, wie er sich in den neu‐ en Deutungsmustern bereits abzeichnete (5.). Denn über die ›Unregierbarkeit‹ zu sprechen heißt, die Genese der Gegenwart zu beobachten.

2. Voraussetzungen: Aufstieg und Krise des Nachkriegsstaates Die beiden Bände über Regierbarkeit, die von Peter Graf Kielmansegg, Ulrich Matz und Wilhelm Hennis herausgegeben wurden, erschienen 1977 und 1979 mitten in einer erhitzten Situation, in der die gängigen Kennzahlen der Stabilität demokrati‐ scher Gemeinwesen nichts Gutes ahnen ließen: Die Wachstumsraten waren ab 1973, als man noch über vier Prozent in Deutschland und sogar über sechs Prozent in Frankreich und Großbritannien erreichte, zeitweise ins Negative gestürzt. Gleichzei‐ tig waren Inflationsrate und Arbeitslosigkeit massiv angestiegen.2 Dies provozierte eine Sinnkrise, in deren Verlauf immer mehr glaubten, die westlichen Demokratien seien entweder an ihrem Ende angekommen oder sie stünden zumindest vor einer Umwälzung, wie man sie seit dem Übergang vom Mittelalter in die Moderne nicht erlebt hatte.3 Man kann diese Sorgen als eine Reflexion auf die durchaus anspruchsvolle Re‐ gierungskonzeption der Nachkriegszeit verstehen. In ihrem Zentrum standen zwei Begriffe: auf der einen, eher gesellschaftstheoretischen Seite der Begriff der Moder‐ nisierung; auf der anderen, eher politiktheoretischen Seite der Begriff der Souveräni‐ tät. Beide Begriffe waren allerdings aufs Engste miteinander verknüpft.4 Denn ›Sou‐ veränität‹ stand für die Suche nach einem Steuerungszentrum, das Modernisierung organisiert und gleichzeitig unter den Bedingungen dieser beschleunigten Moderni‐ sierung Individuum und Gesellschaft zusammenhält. In dieser doppelten Integrati‐

2 Vgl. die Daten von World Bank (GDP Growth, annual %), OECD.Stat (Consumer Prices – An‐ nual Inflation) und AMECO (Unemployment ZUTN). 3 Zu den zeitgenössischen Niedergangsvisionen siehe z. B. Brittan 1975, S. 129; Crozier, Hun‐ tington, Watanuki 1975b, S. 2; King 1975, S. 294-295; zum Tenor der Unregierbarkeitsdebatte vgl. auch Metzler 2008, S. 242-243. 4 Hartmut Rosa hat dies, wenn auch in einem historisch weiteren Sinne, auf den Punkt gebracht: »Modernisierung lässt sich […] als zentralstaatliches Beschleunigungsprogramm verstehen« (Rosa 2005, S. 313; Kursivierung entf.).

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onsbedürftigkeit sahen die Zeitgenossen der Nachkriegsjahre genau das Problem, an dem die Zwischenkriegszeit gescheitert sei. Eine Variante dieser Diagnose präsentierte zum Beispiel Karl Polanyis Buch über die »Große Transformation«, in der er die liberale laissez-faire-Politik für den Zer‐ fall des gesellschaftlichen Zusammenhalts verantwortlich machte: Während der Markt durch sie aus der gesellschaftlichen Einbettung (embeddedness) herausgelöst worden sei, seien auch die Individuen von ihren gesellschaftlichen Bindungen frei‐ gesetzt worden und unter die Räder radikaler Ökonomisierung und Beschleunigung geraten. Die fehlende soziale Integration sei dann zum Nährboden totalitärer Ideolo‐ gien geworden.5 Nach 1945 versuchte man daher, Integration durch den Staat zu schaffen. Dabei stützte man sich auf einen ausgesprochenen Optimismus, dem man den ungeheuerli‐ chen Erfahrungen der Kriegszeit abtrotzte: So wie die Welt von Menschen zerstört werden kann, könne sie auch von Menschen gemacht werden. Stabilität und Wachs‐ tum seien demnach planbar, wenn man die notwendigen Instrumente zur Anwen‐ dung brachte und sie an einen Wertehorizont zurückband. Daher folgte das westeu‐ ropäische Regierungsdenken der Nachkriegszeit oft teleologischen Staatsverständ‐ nissen, die humanistische Zwecksetzungen und rationale Mittelwahl als wesenshafte Aufgabe des Staates bzw. der Regierung ansahen.6 Unter den Verfechtern eines teleologischen Staatsverständnisses war auch Wil‐ helm Hennis, einer der Herausgeber der Regierbarkeitsbände. Er argumentierte im Anschluss an Aristoteles und Hegel, dass der Mensch nur in der (staatlichen) Ge‐ meinschaft seine volle Verwirklichung finden könne.7 Dies setze allerdings voraus, dass die Souveränität des Staates nicht nur eine formale Rechtsdimension ist. Die von juristischer Seite seit Friedrich Julius Stahl über Georg Jellinek bis hin zur Hans Kelsen betriebene Formalisierung des Souveränitätsverständnisses hätte die politi‐ sche Ethik verdrängt, die dem Staat sein Ziel setzte und damit der Willkür entzog.8 Demgegenüber brachte Hennis einen materialen Souveränitätsbegriff ins Spiel: Sou‐ veränität sei die dem Menschen aufgegebene Pflicht, seinen eigenen Lebensbereich mit anderen teilen und gestalten zu müssen. Auch christliche Vertreter wie Bertrand de Jouvenel oder Emil Brunner entwickelten eine ähnliche Ethik der Souveränität.9 Im Unterschied zu ihnen bezog Hennis das télos von Mensch und Staat aber nicht aus der Theologie, sondern aus einer Anthropologie. Daher wird die ›verantwortli‐

5 Siehe Polanyi 2010 [1944]. 6 Exemplarisch für das Staatsverständnis auch Drath 1966; eine ausführliche Darstellung der ähn‐ lichen, aber durchaus konkurrierenden Staatsverständnisse ist hier freilich nicht möglich. 7 Hennis 2003 [1951]. Sein Konzept prägte auch die maßgeblich von ihm geschriebene Verfas‐ sungsbeschwerde im Lüth-Fall, einem der wichtigsten Fälle des jungen Bundesverfassungsge‐ richts. 8 Zur Kritik der Souveränitätslehren siehe Hennis 2003 [1951], S. 14-31. 9 Siehe Brunner 1945; Jouvenel 1963 [1955].

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che‹ Gestaltung normativ auf dem Wesen des Menschen begründet und historisch durch Menschen evaluiert: »Souverän sein heißt – ohne Exculpationsmöglichkeit – geschichtlich verantworten zu müssen.«10 Der Gestaltungsauftrag an den Staat umfasste in der Nachkriegszeit drei zentrale Bereiche: Erstens erhielt er einen umfassenden Bildungsauftrag, damit nicht nur der Staat, sondern auch der Staatsbürger zu souveränem Denken und Handeln befähigt wurde. Man kann hierin eine Variante der Verwirklichung des Menschen im Staate sehen, wie es Hennis geforderte hatte.11 Zweitens musste der Staat den äußeren Frie‐ den sichern. Dazu wurden zahlreiche internationale Organisationen wie die United Nations oder die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ins Leben gerufen, auf deren Kongresse sich die ›Persönlichkeiten‹ des Staates trafen und verständigten. Die per‐ sonale Symbolik der Souveränität schlägt sich dabei bis heute in den Fotos auf den Gipfeltreffen der Organisationen nieder.12 Schließlich musste nicht nur der äußere, sondern auch der innere Frieden gesi‐ chert sein. Dafür war zwar auch die Integration über Wertebindung zuständig; infol‐ ge der Großen Depression hatte man aber ›gelernt‹, dass ökonomische Stabilität eine politische Funktionsbedingung war. Daher wurde das Planungsdenken zu dem wohl charakteristischen Zug der Nachkriegspolitik: Durch Planung und mithilfe techni‐ scher Planungsinstrumente wie Szenario-Studien oder Delphi-Analysen sollte es möglich werden, die Ressourcen der Gesellschaft zu steigern und gerecht zu vertei‐ len (wobei die Gerechtigkeitsvorstellungen freilich variierten).13 Mit dem Keynesia‐ nismus stand dabei eine ökonomietheoretische Antwort auf die Große Depression zur Verfügung, die nun angewandt werden konnte.14 Zusammen führten diese drei Bereiche zu einer Expansion der Staatstätigkeiten, die durch das Versprechen ge‐ samtgesellschaftlicher Balance normativ (Input-Legitimation) wie effektiv (OutputLegitimation) abgesichert wurde. Diese Konstruktion des Regierungsdenkens war der eigentliche Grund dafür, dass die Krisenwahrnehmungen der 1970er Jahre derart fatalistisch ausfielen. In den Au‐ gen der Zeitgenossen versagten die Regierungen nämlich in diesen drei Bereichen: Spätestens mit dem Vietnam-Krieg, dem Jom-Kippur-Krieg und dem NATO-Dop‐ pelbeschluss wurde die äußere Friedensfähigkeit der Staaten von ihren Bürgerinnen und Bürgern lautstark infrage gestellt.15 Paradoxerweise hatten die Staaten zugleich Schwierigkeiten, ihr Gewaltmonopol im Inneren aufrecht zu erhalten. Dieser Ein‐ 10 Hennis 2003 [1951], Zitat S. 113, dazu auch S. 70-79, 97-100. 11 Siehe Hennis 2003 [1951], S. 98-117; ähnlich auch Jouvenel 1963 [1955], S. 117-119. Beide argumentieren auf dieser Basis auch für die besondere Rolle der Politikwissenschaft für die Bildung der Bürger. 12 Zur Ikonographie gegenwärtiger »Familienfotos« vgl. Belafi 2013. 13 Vgl. Metzler 2005; Seefried 2015. Die Technokratiedebatte diskutierte dann den eingebauten Konflikt von humanistischer Zielsetzung und technisch-instrumenteller Umsetzung. 14 Vgl. dazu auch Nützenadel 2005. 15 Vgl. Gassert 2011; Metzler 2005, S. 277-284.

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druck vermittelte sich jedenfalls den Zeitgenossen durch die massiv steigende An‐ zahl terroristischer Angriffe durch organisierte Gruppen wie den Roten Brigaden (Italien), der IRA (Irland) oder auch der RAF (Deutschland).16 Auch wenn in der Regierbarkeitsdebatte kaum jemand dies letztlich als Ursache eines Staatszerfalls be‐ trachtete, so war der Extremismus doch ein Indiz dafür, dass der Staat auch seine Aufgabe, die innergesellschaftlichen Interessen auszubalancieren, effektiv nicht er‐ füllte. Dieser Umstand zeigte sich in abgemilderter Form, aber dafür quantitativ um‐ so deutlicher in den Konflikten des Staates mit Gewerkschaften und Neuen Sozialen Bewegungen. Dass der Staat über gemeinschaftliche Werte integrieren könnte, schien immer fragwürdiger, was sich auch in der These des Wertewandels nieder‐ schlug.17 Besonders deutlich scheiterte der Staat in den Augen der Zeitgenossen an der ökonomischen Integration durch Wohlstandsproduktion und -verteilung. Die keyne‐ sianische Wirtschaftspolitik hatte zwar bis zum Ende der 1960er Jahre funktioniert, die gesellschaftliche Planung geriet aber schon Anfang der 1970er Jahre immer wie‐ der mit Fehlprognosen in die Kritik.18 Als 1973 dann Bretton Woods scheiterte und der Jom-Kippur-Krieg den ersten Ölpreisschock auslöste, schossen Inflation und Ar‐ beitslosigkeit in die Höhe, während das Wirtschaftswachstum sank. Dabei boten we‐ niger die sozialen Folgen der Wirtschaftskrise Anlass zur Sorge, als dass die damali‐ gen Akteure etwas beobachteten, das theoretisch nicht vorkommen dürfte: Der Keynesianismus der Nachkriegszeit beruhte auf einer Prämisse über den Zusammen‐ hang der drei Indikatoren. Wenn das Wirtschaftswachstum stieg, musste auch die In‐ flation steigen und die Arbeitslosigkeit infolgedessen sinken. Genau dies trat jetzt aber nicht ein: Während das Wirtschaftswachstum stagnierte, stiegen Inflation und Arbeitslosigkeit. Stagflation war eine Situation, die es nicht geben dürfte, und je län‐ ger sie andauerte, je mehr Steuerungsversuche scheiterten, desto mehr waren die Zeitgenossen überzeugt, dass die politikönomomische Wissensordnung der Nach‐ kriegszeit am Ende war. Auch Peter Graf Kielmansegg stellte die Kompetenz der Regierung in Frage: »Man setzt voraus, daß die Regierung für die Höhe des Brutto‐ sozialprodukts, die Inflationsrate und die Arbeitslosenquote verantwortlich sei […]. Aber wer kann erklären, auf welche Weise und in welchen Grenzen Regierungen die

16 Zum Aspekt des Terrorismus siehe Hennis 1977b, S. 15, sowie, im zweiten Band (Hennis, Kielmansegg, Matz 1979), die Beiträge von Allemann, Lill und dem international einflussrei‐ chen Wilkinson. 17 Die berühmteste Formulierung ist Inglehart 2015 [1977]; für die Regierbarkeitsdebatte siehe zum Beispiel Scheuner 1979, S. 111, oder der Report der Trilateralen Kommission, dessen Au‐ toren allerdings sehr unterschiedliche Bewertungen dieses Sachverhalts abgeben: Crozier be‐ fürwortete eine beschleunigte Abkehr von alten Werten und Organisationsformen, Huntington forderte hingegen eine Rückkehr. Die massiven Differenzen zwischen den Autoren sind bisher in der Forschung vernachlässigt worden. 18 Nützenadel 2005, S. 344-345.

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Höhe des Bruttosozialprodukts, die Inflationsrate, die Arbeitslosenquote wirklich zu beeinflussen vermögen?«19 Diese Beobachtungen lassen sich zu der These bündeln, dass die westeuropäi‐ schen Gesellschaften der 1970er Jahre in eine epistemologische Krise gerieten. Sie gewinnt ihren Charakter daraus, dass die gerade erst eingesetzten Ideen (Souveräni‐ tät und Modernisierung) und Instrumente (Bildung, Internationale Beziehungen, wohlfahrtsstaatliche Planung) systematisch versagten. Weil die Regierungskonzepti‐ on der Nachkriegszeit zum Ziel hatte, eine Wiederholung der Zwischenkriegszeit zu verhindern, hing in den Unregierbarkeitsdebatten auch der Topos Weimar in der Luft – und zwar nicht nur in Deutschland.20 Die tiefe Verunsicherung entstand, weil die alten Probleme schon wieder aufrissen: Wie könnte man eine politische Ordnung aufsetzen, wenn die staatlich geführte Ausbalancierung der Interessen versagte? Den Antworten auf diese Frage soll im Folgenden mit Fokus auf die deutsche Debatte nachgegangen werden.

3. Die klassische Debatte: Der Konflikt zwischen ›Konservativen‹ und ›Progressiven‹ Welche typischen Krisennarrative lassen sich in der Debatte ausmachen? Bis in die aktuelle Forschung zu den Krisen der 1970er Jahre findet sich die Unterscheidung in Konservative und Progressive, wie sie von bestimmten Akteursgruppen in der Kri‐ senzeit getroffen wurde.21 Aus methodischer Perspektive ist es aber problematisch, den zeitgenössischen Labels der Akteure zu folgen. Denn damit übersieht man, dass die Landschaft der Krisennarrative gerade nicht der Spaltung ›Konservative‹ und ›Progressive‹ folgte. Außerdem waren auch die Gruppen weder inhaltlich noch per‐ sonell unbedingt so beschaffen, wie sie von den Akteuren in dieser Konfrontationsli‐ nie konstruiert wurden. Deshalb schlage ich für die Historisierung der Debatte vor, vier Krisennarrative zu unterscheiden: institutionalistische, neomarxistische, neoli‐ berale und technologische Ansätze. In diesem Kapitel stelle ich die Konfrontation zwischen institutionalistischen und neomarxistischen Interpretationen der Krise vor. Sie bilden im engeren Sinn den Kern der Konservative-Progressive-Gegenüberstellung. Daneben standen aber 19 Kielmansegg 1977a, S. 124; siehe auch Crozier, Huntington, Watanuki 1975a, S. 164, oder Rueff 1979 [1976], der als Mitglied der Mont Pèlerin Society das Ende des Keynesianismus begrüßte. 20 Z. B. Crozier, Huntington, Watanuki 1975b, S. 4; Hennis 1977a; für Großbritannien vgl. Geppert 2002, S. 202. 21 Vgl. Schäfer 2009. Obwohl Gabriele Metzlers Arbeiten (2005, S. 392-408, und 2008) einen sehr fundierten Überblick bieten, ist auch hier die Differenzierung zwischen den unterschiedli‐ chen Positionen nicht ganz überzeugend, weil der neoliberale Ansatz nicht präzise abgegrenzt wird und der System- und Netzwerk-Ansatz fehlt.

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(neo-)liberale und technologische Krisennarrative, die sich in ihren Argumenten er‐ kennbar von den anderen beiden Gruppen unterscheiden. Sie werden im 4. Kapitel thematisiert. Nur wenn man diese Unterschiede berücksichtigt, so meine These, lässt sich die ›Erneuerung‹ des Regierungsdenkens in den Krisen verstehen. Denn sie speist sich aus der zunehmenden Deutungshoheit der ›neuen‹ Krisennarrativen.

3.1. Das ›konservative‹ Krisennarrativ und seine ›linken‹ Kritiker In allen vier Krisennarrativen spielt der Konflikt zwischen unterschiedlichen gesell‐ schaftlichen Interessen eine Rolle – sie wurden jedoch in je unterschiedliche Plots eingebaut. Die Konflikte lassen sich zunächst heuristisch in zwei Kategorien ordnen: den ›klassischen‹ Konflikt zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern und daneben den ›neuen‹ Konflikten um die sozialen Bewegungen, die sich seit den späten 1960er Jahren formierten. Diese Konflikte deuteten aus der ›progressiven‹ Perspek‐ tive darauf hin, dass der Staat sein Versprechen der Partizipation nicht einlöste, wäh‐ rend sich aus der ›konservativen‹ Perspektive zweifeln ließ, ob der Staat seine eige‐ ne Souveränität gegenüber den Interessebekundungen unter diesen Umständen noch wahren konnte. So befürchtete zum Beispiel Thomas Schieder eine »Refeudalisierung« des Staa‐ tes, mit der dieser in mittelalterliche Zustände zurückfallen könnte. Er versah diese Vision mit einer Spitze gegen die marxistische Interpretation dieser Möglichkeit, denn weniger die Kapitalisten als die Gewerkschafter kämen als Schattenregierung infrage: »Die Frage liegt nahe, ob das Ergebnis der Entwicklung im modernen In‐ dustriestaat etwas Ähnliches wie eine neue ›Feudalisierung‹ des Staates zu werden droht, der dann zu einem nur noch formal wirksamen Instrumentarium gesellschaft‐ licher Kräfte wird, die ihn faktisch beherrschen. Damit ist nicht nur das von marxis‐ tischer Seite hervorgehobene Phänomen der indirekten Herrschaft der wirtschaftlich führenden Elite im Dienste des Kapitalismus gemeint […], sondern noch ganz ande‐ re Formen wie der Gewerkschaftsstaat.«22 Das Verhältnis der ›organisierten Interessen‹ zum Staat war auch eines der Kern‐ themen von Peter Graf Kielmansegg. Dabei untersuchte er die Pluralismus-Debatte der Politikwissenschaft und kam zu einem überaus skeptischen Urteil. Die Freude über den »Pluralismus als konstitutives Prinzip der westlichen Demokratie«23 sei schnell verflogen, weil man festgestellt habe, dass die Interessen nicht in gleichem Maße mobilisierbar und durchsetzungsfähig seien. Dadurch gerieten Gleichheitsund Partizipationspostulat in Konflikt. Die ›organisierten Interessen‹ entwickelten außerdem laut Kielmansegg eine so starke Stellung im Nachkriegsstaat, dass sie ne‐ 22 Schieder 1977, S. 35; ähnlich argumentierten auch die Beiträge von Matz und Böckenförde. 23 Kielmansegg 1979, S. 139.

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ben dem Staat eine Gegen- oder Nebenregierung bildeten. Die »innere Souveränität« des Staates löse sich auf, was im Rahmen eines teleologischen Staatsverständnisses gefährlich war: »Die Institutionen des Staates brauchen, um ihrer Bestimmung genü‐ gen zu können, Entscheidungsspielräume gegenüber allen Gruppen«.24 Die Diagnose von Graf Kielmansegg und seinen Mitherausgebern ging aber über eine Kritik des refeudalisierten ›Verbände-Staates‹ hinaus. Sie gaben den Institutio‐ nen des Staates eine historische Tiefendimension und argumentierten, dass der neu‐ zeitliche Staat stets zur Utopie tendiere.25 Die »Vorstellungen seiner Allzuständig‐ keit und Allmacht«26 bilden demnach ein normatives Muster des neuzeitlichen Staa‐ tes, das von Politik und Bürgern gleichermaßen anerkannt werde. Das führe zu einer immer weiteren Ausweitung der Staatsziele und zu einem Anwachsen der Erwartun‐ gen an den Staat. Schließlich habe der technische Fortschritt die Hindernisse aus dem Weg geräumt, die die Expansion des Staates bisher begrenzt hätten.27 Das utopischen Dilemma der Souveränität hatte sich laut dieser Diagnose auch in den Institutionen der Nachkriegsdemokratie eingenistet. Dadurch sei der Staat zum einen auf Kooperation angewiesen, um seine expandierenden Aufgaben erfüllen zu können. Der Staat und die Verbände gewinnen daher notwendig an Einfluss, was zu der geschilderten Blockade führen könne und zudem die Freiheit des Einzelnen ein‐ schränke. Zum anderen führe der Stimmmaximierungsmechanismus der demokrati‐ schen Wahl dazu, dass die Parteien ihre weltanschauliche Rückbindung aufgeben und nur noch den schwankenden Stimmungen der Bürgerinnen und Bürger hinter‐ herlaufen, statt eigenverantwortlich für eine Zielvorstellung (télos) einzutreten.28 Demokratisierung wurde hier zur Gefährdung der repräsentativen Demokratie. Diese Deutung der Krise musste natürlich für ›linke‹ Positionen eine Provokation sein. So heißt es in einer Rezension zu den Regierbarkeitsbänden in scharfem Ton über den »durchweg konservative[n] Autorenkreis«: Hier werde Selbstbestimmung zum »Störfaktor«, um dann »Zucht statt eigener Meinung, Disziplin anstelle kriti‐ schen Denkens« einzufordern. Die »Andeutung, Gehorsam erzwingen zu können kann [sic] […] kaum etwas anderes bedeuten als die Propagierung eines autoritären Staatswesens des Rechts.«29 Die hier als ›konservativ‹ bezeichneten Autoren hatten allerdings einen anderen Autoritätsbegriff. In ihrer Vorstellung beruhte die Autorität der Institutionen nicht auf Zwang, sondern auf anerkannter Hierarchie. Hennis machte sich daher weniger um ein Absterben des Staates Sorgen als um »die Möglichkeit des Absterbens der 24 25 26 27 28 29

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Kielmansegg 1979, S. 145. Siehe Matz 1977, S. 99. Matz 1977, S. 90. Siehe Matz 1977, S. 99. Siehe Kielmansegg 1977a, S. 127-130, noch schärfer: Hennis 1977b, S. 13, 190-191. Alle Zitate bei Dreier, Uthmann 1980, S. 226-229. Für eine zur Gegenüberstellung von ›Lin‐ ken« und ›Konservativen‹ distanzierten Rezension vgl. Bermbach 1979.

spezifisch abendländischen Weise des Regierens, die auf das Wort, Gespräch, Rat und Überzeugung freier Menschen abgestellt war«.30 Das teleologische Regierungs‐ denken zielte hier auf »die Konvergenz von zweckentsprechenden Institutionen und systemkonformen Tugenden« bei Bürgern und Herrschenden.31 In dieser autoritati‐ ven Problemstellung unterscheiden sich die deutschen ›Konservativen‹ von den amerikanischen Neokonservativen, die tatsächlich Zwang als Begründung von Auto‐ rität ins Spiel brachten.32 Die Diagnose der deutschen Institutionalisten orientierte sich aber gerade nicht am Obrigkeitsstaat, sondern an der Westminster-Demokratie. Dies dürfte auch der Grund sein, warum sie intensiv auf die britische Krisenlitera‐ tur zurückgriffen. Denn auch in Großbritannien gab es eine Gruppe, die den Wert der Institutionen als Ausgangspunkt ihrer Krisendiagnose nahm. Zu dieser Gruppe gehörten der überaus prominente Parteienforscher Anthony King und John P. Mack‐ intosh, Autor des Standardwerks The Government and Politics of Britain. So wenig wie dem deutschen ging es dem britischen Institutionalismus um eine Abschaffung der Demokratie. Die Frage war vielmehr, welche Art der Demokratie man wollte: eine repräsentative Demokratie, in der die Repräsentationsrolle des Parlaments und der Regierung mit autoritativem Rang einhergehen – oder eine plebiszitäre Demo‐ kratie.33 Vor diesem Hintergrund kann man auch Kielmanseggs Buch über Volkssouveräni‐ tät verstehen. In diesem Buch verabschiedete er die Idee der Souveränität grundsätz‐ lich. Gleichzeitig versuchte er aber am Schluss, eine Grundlage für Herrschaft im Sinne von responsible government zu legen, indem er an der humanistischen Zweck‐ setzung des Regierens festhielt und die Konzepte Amt und Verantwortung stärkte.34 Wie Birgit Enzmann überzeugend argumentiert, gelang es ihm dabei aber nicht, die Idee der Souveränität vollends abzulegen, weil er sie für die Begründung der Verfas‐ sung weiter benötigte. Dem sei noch hinzugefügt, dass auch die humanistische Ver‐ antwortungsrhetorik eng an eine Theorie des souveränen Subjekts gekoppelt war, der Kielmansegg zugleich kritisch gegenüberstand. Daher steht am Ende ein gewis‐

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Hennis 1977b, S. 20. Matz 1979, S. 214. Siehe etwa Huntington 1975, S. 75; zu den neo-conservatives vgl. Birch 1984, S. 136-139. Vgl. Mackintosh 1978; King 1975. Ihr Krisennarrativ ist nahezu identisch: Sie kritisierten die Überlastung des britischen Staates, der durch Allmachtsvorstellungen und Stimmmaximie‐ rungsdemokratie zu einer Versicherung mit unbegrenzter Haftung geworden sei. Seine Steue‐ rungsversuche perforieren demnach nicht nur den Privatraum der Bürger, sondern scheitern au‐ ßerdem an den Abhängigkeiten von organisierten Interessen. 34 Kielmansegg 1977b, S. 257-258: »Dies also sind unsere Ausgangsannahmen: daß es auch bei der Suche nach den Bedingungen demokratischer Legitimität um die Rechtfertigung, nicht um die Aufhebung von Herrschaft gehe und daß Legitimierung von Herrschaft Rechtfertigung von Institutionen bedeute«. Und: »Legitim ist der Staat, […] der die Menschheit in jeder einzelnen Person als Zweck und nicht bloß als Mittel behandelt«.

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ser Widerspruch zwischen der Kritik der Souveränität und ihrer legitimatorischen Funktion für das eigene Konzept.35 Bei Hennis fällt diese Problematik noch dramatischer aus, denn seine mäandernde Parteienstudie brach er abrupt ab, ohne einen systematischen Lösungsansatz zu ha‐ ben. Auch der dritte Herausgeber, Ulrich Matz, brachte eine gewisse Ratlosigkeit an‐ gesichts der aktuellen Situation zum Ausdruck und erwartete eine grundsätzliche Wende: »Es gibt also keine ›Lösungen‹. Was bleibt, ist jene Geduld, die aus dem Wissen um die Dimensionen epochaler geschichtlicher Entwicklungen erwächst und uns lehrt, auf […] nichts Geringeres als eine neue ›Weltanschauung‹ […] zu war‐ ten«.36

3.2. Die Krise des Neomarxismus Angesichts dieser widersprüchlichen und eher skeptischen Ausblicke in einer Situa‐ tion der Krise wird Claus Offes Vorwurf verständlich, dass die ›konservativen‹ Theoretiker der Unregierbarkeit nur zusammenhanglose und beliebig anmutende Therapievorschläge hätten.37 Offes eigene, neomarxistische Krisendiagnose baute auf der Theorie des Spätkapitalismus auf und verschob so den Schwerpunkt von dem Konflikt zwischen Führung und Bürgern auf den Konflikt von Arbeit und Kapi‐ tal. Bei dem Versuch, diesen Konflikt zu entschärfen, überlaste sich der Staat, weil er sich »zum Subjekt sämtlicher für die Stabilität des Systems relevanter Reformund Anpassungsstrategien« mache.38 An diesem Grundproblem kann man sehen, dass die Motive der Krisennarrative sich nicht besonders unterscheiden: Auch für die ›linken‹ Positionen führte die Überdehnung des Wohlfahrtsstaates in die Krise. Dabei sei die Expansion des Staa‐ tes zunächst für Kapitalisten, Lohnarbeiter und Staat vorteilhaft gewesen, weil sie Arbeitskraft permanent verfügbar machte, eine grundsätzliche Existenzsicherung si‐ cherstellte und kurzfristige ökonomische Krisen auffing. Langfristig produziere die‐ ses Arrangement aber massive Funktionsstörungen, weil es die Kapitalakkumulation unterlaufe: Unternehmen machen weniger Profit und die Arbeitsbereitschaft der Lohnabhängigen sinke. Da man nun seine Interessen aber nicht mehr nur mit ökono‐ mischen Mitteln, sondern eben auch durch politisches Entscheiden durchsetzen konnte, steige die Konfliktbereitschaft organisierter Interessen. In dieser Falle gefan‐ 35 Vgl. Enzmann in diesem Band. 36 Matz 1977, S. 102. Hennis Rat, auf die »Kraft der Institutionen, die Qualität der Herrscher und die Tugend der Bürger« zu vertrauen, wirkte ratlos, weil er ihn als Schlusssentenz ohne Be‐ gründung präsentierte, nachdem er seine Untersuchung mit dem Ausblick auf den prognosti‐ zierbaren Suizid aller Demokratien abgebrochen hatte (Hennis 1977a, S. 194-195). 37 Offe 1979, S. 311. 38 Offe 1970, S. 162.

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gen, erschöpfen sich die staatlichen Ressourcen: Dem Staat fehlen letztlich die fi‐ nanziellen Kapazitäten ebenso wie die politische Steuerungsfähigkeit. Schließlich reiche auch die Integrationskraft der Symbolik nicht mehr aus, um die Konflikte zu regulieren. Der soziale Zusammenhalt kollabiert mit der Selbstorganisationsfähig‐ keit des Staates.39 Offe diagnostizierte damit eine »Rationalitätskrise«,40 für die es im Kapitalismus keine Lösung gebe. Allerdings blieb auch er eine plausible Antwort darauf schuldig. Nachdem er in seinem Aufsatz die Theoretiker der »Unregierbarkeit« nicht nur des Ideendiebstahls, sondern auch der Einfallslosigkeit bezichtigt hatte, fehlte der An‐ satz einer eigenen Lösungsstrategie.41 Als er in knappen Skizzen eine Theorie des Aktivismus entwarf, kritisierte selbst sein Kollege Jürgen Habermas diese »experi‐ mentierende[n] Überlegungen« mit scharfen Worten als »inkonsistent« und in dieser Form »überflüssig«.42 Habermas selbst kam zu dem Schluss, dass es im Neomarxismus keine adäquaten Lösungsansätze mehr gebe. Daher wendete er sich nach der noch neomarxistisch ge‐ färbten Diagnose der Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus schon dort libera‐ len Moraltheorien zu, aus denen man eine zivilgesellschaftliche Erneuerung der Le‐ gitimation gewinnen könnte.43 Mit dieser Abkehr vom Marxismus stand Habermas nicht alleine: Zahlreiche ehemalige Maoisten und Neomarxisten wie etwa Chantal Mouffe entdeckten nun liberale Theorien der Aufklärung, insbesondere Tocquevil‐ le.44

4. Die neuen Deutungsmuster: Neoliberale und technologische Staatskritik Möchte man den Ausgang der Debatte zwischen Institutionalisten und Neomarxisten etwas überzeichnen, könnte man sagen, dass sich manche Opponenten in einem Katz-und-Maus-Spiel verfangen hatten. Dadurch entging vielen, und Peter Graf Kielmansegg ist hier dezidiert ausgenommen, dass beide Interpretationen rasant an Überzeugungskraft verloren. Das dürfte auch daran liegen, dass ihre Angebote schon seit Kriegsende aufgerufen wurden und selbst als Ursache der Krise gewertet werden konnten. Das jedenfalls machten sich zwei Ansätze zunutze, die jetzt massiv an Ein‐

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Siehe Offe 1973; vgl. zur Rekonstruktion Borchert, Lessenich 2004; Klenk, Nullmeier 2010. Habermas 1973, S. 68 (Kursivierung entf.). Siehe dazu Offe 1979. Habermas 1973, S. 195-196. Siehe Habermas 1973, S. 123-125. Zu Mouffe vgl. Rzepka, Straßenberger 2014; zur Abkehr in Frankreich vgl. Chabal 2015 und Sawyer, Stewart 2016, von denen ich im Folgenden auch den Begriff des ›liberalen Moments‹ übernehme und konkretisiere.

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fluss gewannen. Sie wandten sich explizit gegen die vorangegangene Politikkonzep‐ tion und forderten eine Erneuerung des Regierungsdenkens.

4.1. Die neoliberale Rhetorik und ihr politisches Angebot Wie bereits zu sehen war, generierten die Krisen der 1970er Jahre ein starkes libera‐ les Moment. Mit Blick auf den Liberalismus lässt sich präziser formulieren: Wäh‐ rend die eher sozialdemokratischen und christlichen Varianten des Liberalismus ver‐ blassten (der Keynesianismus und Bertrand de Jouvenel z. B.), traten andere Varian‐ ten des Liberalismus an ihre Stelle. Einerseits war dies die wiederentdeckte Idee einer liberalen Zivilgesellschaft, die dem administrativen Handeln mit kritischem Korrekturanspruch gegenübersteht. Andererseits trat schon früh in den 1970er Jah‐ ren eine Gruppe selbsterklärter Neoliberaler auf, die eine ökonomische Kritik formu‐ lierte. Sie teilte mit den Zivilgesellschaftstheorien erkennbar die Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft, bei der die Gesellschaft moralisch überhöht wurde und einen Steuerungsanspruch gegen den Staat einforderte.45 Die neoliberale Kritik un‐ terscheidet sich vom Zivilgesellschaftsliberalismus allerdings auch deutlich, und zwar sowohl in der Begründung als auch in ihrem Verständnis der Gesellschaft, die hier vor allem als Marktgesellschaft auftritt. Die neoliberale Begründung der Krise beruhte auf der Rational- und PublicChoice-Theorie. Neben ihren bekannten Vertretern aus den USA, wie etwa James Buchanan und Gary Becker, waren es vor allem zahlreiche kleinere Veröffentlichun‐ gen, die dieses Narrativ in Stellung brachten. In Frankreich versammelte zum Bei‐ spiel der Band L’économique retrouvée die Verfechter einer neoliberalen Erneuerung des Regierungsdenkens.46 In Großbritannien arbeitete etwa der Financial-TimesJournalist Samuel Brittan an einer Verbreitung des Neoliberalismus, und in den bei‐ den Regierbarkeitsbänden bilden britische und deutschsprachige Vertreter des Neoli‐ beralismus neben den Institutionalisten eine zweite große Gruppe, zu der sich Nevil Johnson, Christian Watrin und Joachim Starbatty rechnen lassen. Die neoliberale Rhetorik trat mit revolutionärem Gestus auf: Die »herkömmli‐ che[] Betrachtungsweise«47 und die »verkrusteten Denkgewohnheiten«48 seien wie ein weltanschaulicher Dogmatismus, der durch eine liberalökonomische Regierungs‐ weise ersetzt werden müsse. Dabei stellte der permanente Verweis auf eine liberale Tradition, die von Tocqueville, Smith und Mill ausgehen und über Zwischenkriegs‐ autoren wie Hayek bis hin zu Buchanan und Friedman reiche, eine rhetorische Stra‐ 45 Diese typische Konstellation findet man bereits bei Jeremy Bentham (vgl. Rzepka 2013). 46 Rosa, Aftalion 1977, das auch Michel Foucault für seine kritische Rekonstruktion des Neolibe‐ ralismus nutzte. 47 Johnson 1979, S. 381 (Kursivierung entf.). 48 Starbatty 1977, S. 207.

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tegie dar.49 Denn auf diese Weise ließ sich behaupten, dass die Fehler des Keynesia‐ nismus von diesen Autoren vorausgesehen worden wären. Man hätte sie daher ver‐ hindern können, hätte man von Beginn an auf die liberalen Ökonomen gehört. Die Argumentation der Neoliberalen analysierte dann zunächst das Dilemma der Gegenwart in den Begriffen der rationalen Wahl.50 Auf der einen Seite wählen dem‐ nach die Bürgerinnen und Bürger die Partei mit den größten Versprechen, weil sie nie genügend Informationen für eine tatsächlich rationale Wahlentscheidung hätten. Auf der anderen Seite sei es aber auch für die Politiker rational, einfach nur eine Maximierung der Ausgaben zu versprechen, weil damit die meisten Stimmen bei der nächsten Wahl zu gewinnen seien. Man sei also in einer Situation der rationalen Ir‐ rationalität gefangen. Das funktioniere aber nur unter den Rahmenbedingungen des Keynesianismus, der die Steuerungskapazitäten beim Staat allokiere, ohne angemessene Kontrollme‐ chanismen einzusetzen, weil er einfach von einer Gemeinwohlorientierung von Poli‐ tik und Verwaltung ausgehe.51 Wie die Lage nun laut der Neoliberalen zeige, erfüllt die Politik diese Hoffnung aber nicht. Auch Politiker und Gewerkschaftsfunktionäre versuchen nur, in jeder Situation ihren Nutzen zu maximieren. Daher entscheiden sie sich stets für die Option, die ihnen weiterhilft. Insbesondere Kollektivgüter (public goods) verfallen dann, weil zwar alle an ihnen interessiert seien, zugleich gerade deswegen aber alle davon ausgehen, dass andere die Verantwortung dafür überneh‐ men.52 Der keynesianische Wohlfahrtsstaat habe sich zu sehr auf die »eudämonisti‐ schen« Prinzipien der Menschen verlassen.53 Das Vertrauen in die Gemeinwohlori‐ entierung der Politik sei fehlplatziert. Demgegenüber ging der neoliberale Gegenentwurf von einem grundsätzlichen Misstrauen in die Verantwortungsbereitschaft und -fähigkeit von Funktionären aus. Daraus leiteten die Neoliberalen eine neue Institutionenordnung ab, die permanente Kontrolle nutzt, um Effektivität und Rationalität sicherzustellen. Entsprechend der Public-Choice-Theorie empfahl dieser Kritikstrang, den Staat auf zwei Funktionen zurückzuschneiden, nämlich den Schutz von Verträgen zwischen den Menschen und die Bereitstellung der Kollektivgüter. Man müsse von »autonome[n] Selbstverwal‐ tungssystem[en]«54 ausgehen, um dann »die Staatstätigkeit auf die Lösung jener 49 Dabei ist die Einordnung einiger Referenzautoren in diese Tradition mehr als fragwürdig: So kann Tocqueville etwa für ein marktbasiertes Ordnungsdenken kaum in Anspruch genommen werden. Ebenso ist die stark verkürzende Smith-Lektüre, die die Eigenständigkeit der sympa‐ thy ausblendet, bereits des Öfteren kritisch angemerkt worden. Demgegenüber zählte sich Hayek zweifelsohne prinzipiell zu dieser Autorengruppe; allerdings lehnte er die mathema‐ tisch-kalkulatorischen Implikationen der neoliberalen Rational-Choice-Ansätze weitgehend ab‐ lehnt. 50 Brittan 1975, S. 135-140. 51 Z. B. Watrin 1979, S. 239-240. 52 Vgl. dazu etwa Watrin 1979; Brittan 1975. 53 Johnson 1977, S. 67. 54 Watrin 1979, S. 245.

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Probleme zu konzentrieren, die vom Markt nicht oder nur unzureichend bewältigt werden können und bei denen auch nicht mit der Bildung freiwilliger Vereinigungen zu rechnen ist, um die vorhandenen Schwierigkeiten zu meistern.«55 Nachdem sich die Gesellschaft einmal auf verbindliche Aufgaben geeinigt habe, könne eine Regel‐ mechanik die Interessen der Funktionäre so steuern, dass sie den Interessen der Ge‐ sellschaft entsprechen. Auf diese Weise werde das Verhalten der Eliten kalkulierba‐ rer und ein effektives Regieren gewährleistet, versprachen die liberalökonomischen Theoretiker.56 Dies ist freilich eine ganz typische Annahme der liberalökonomischen Theorietradition, die bis auf ihren Gründer Jeremy Bentham zurückgeht.57

4.2. Von der Kybernetik zur technologischen Kritik des Regierens Während die beiden deutschsprachigen Bände zur Regierbarkeit Krisendeutungen aus der institutionalistischen und der neoliberalen Perspektive enthalten, wurde nicht nur die neomarxistische Perspektive aus ihnen ausgeschlossen. Es fehlt außerdem eine vierte Sichtweise auf die Krisen, die auch die Forschungsliteratur bisher über‐ gangen hat.58 Das dürfte daran liegen, dass hinter ihr weder eine so klar erkennbare Personengruppe stand wie bei den anderen drei Narrativen, noch waren die intellek‐ tuellen Grundlagen dieser Intervention ohne Weiteres zu identifizieren. Die Deutun‐ gen, wie sie zum Beispiel von Michel Crozier, Niklas Luhmann oder auch Michel Foucault vorgetragen wurden, wurden daher oft ohne genauere Prüfung anderen Gruppierungen zugeordnet (als Neoliberale oder Konservative zum Beispiel) oder sie wurden als nicht-verortbare Theorien sui generis gehandelt. Das ändert an der immensen Wirkmächtigkeit dieser Krisendeutungen nichts: Sie prägten die heute ubiquitäre Diagnose einer unüberschaubaren Komplexität, die gezielte Steuerung durch den Staat kaum zulässt und stattdessen auf die Autonomie und Diversität der Systeme und Akteure verweist. Die Basis der technologischen Krisenanalyse legten kybernetische Theoriefigu‐ ren. Dabei handelte es sich nicht um technokratische Steuerungsideen, wie es manchmal mit dem Begriff der ›Kybernetik‹ verbunden wird.59 Zwar wurde die Ky‐ bernetik nach 1945 stark durch die modernistische Regierungspraxis gefördert und 55 56 57 58

Watrin 1979, S. 250. Siehe Watrin 1979, S. 206, 212-213. Vgl. zu Geschichte und Aktualität dieses Denkens August 2018. Eine Ausnahme ist Leendertz 2016, die allerdings nicht in erster Linie die Unregierbarkeitsde‐ batte untersuchte. In den Regierbarkeitsbänden taucht dieser Strang nur in teils heftigen Ab‐ grenzungen auf (etwa bei Hennis). 59 Diese Deutung ›der‹ Kybernetik stammt aus dem Kontext der Technokratiedebatte und schreibt sich teilweise bis zu gegenwärtigen Rekonstruktionen dieser Zeit fort (vgl. Seefried 2015, S. 55). Dagegen haben Detailstudien die Vielfalt, Konflikte und Missinterpretationen der Ky‐ bernetik herausgearbeitet (vgl. Kline 2015; Dupuy 2000).

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in ihre Steuerungsideen integriert; in der Fachdiskussion der Kybernetik aber entwi‐ ckelte sich paradoxerweise bald eine Kritik dieser Moderne, die sich spätestens mit der second order cybernetics voll entfaltete. Es gehörte auch zu den Paradoxien die‐ ser Geschichte, dass die Fachdisziplin ›Kybernetik‹ in dem Moment verschwand, als kybernetische Ideen immer mehr Einfluss gewannen. Auf ihren Grundlagen machte Anfang der 1970er Jahre die Technologiebranche große Sprünge. Die Mikroelektro‐ nik wurde weiterentwickelt und hielt durch die Kommerzialisierung der Computer‐ technologie zugleich Einzug in private Haushalte.60 Dabei baute die Firmenphiloso‐ phie der Silicon-Valley-Akteure oft selbst auf kybernetische Prämissen auf, wie etwa von Steve Jobs bekannt ist. Das kybernetische Gedankengut beeinflusste also nicht nur die Artefaktproduktion, sondern auch die Organisation, Zielstellung und Marke‐ tingstrategie der Unternehmen.61 Auch in den Krisendiskursen der 1970er Jahre traten Vertreter der Geistes- und Sozialwissenschaften auf, die explizit oder implizit kybernetische und informations‐ theoretische Positionen verarbeiteten, deren Kritik sehr grundsätzlich bei den Bedin‐ gungen von Steuerung ansetzte: Die gesamte moderne Steuerungstheorie – sei es in der Newton’schen Mechanik oder in der Staats- und Regierungslehre – beruhe laut der Kybernetik auf einer unterkomplexen Vorstellung von Regulierungsprozessen.62 Die unzureichende Komplexität käme daher, so die Kritik der Kybernetik, dass ein‐ fache, lineare Kausalannahmen Wissenschaft und Herrschaftstheorien seit dem An‐ bruch der Moderne dominieren. Lineare Kausalität reiche aber schlechterdings nicht aus, um die vielfältigen Beziehungsstrukturen der Wirklichkeit angemessen zu be‐ schreiben. In dem berühmten Report der Trilateral Commission machte Michel Crozier die‐ se Kritik zur Grundlage seiner Diagnose: »Western Europe […] has lived during the last two or three centuries with a certain model of rationality which has had a decisi‐ ve influence on values […]. This kind of rationality […] is founded upon a clear dis‐ tinction between ends and means and an analytical fragmentation of problems within a world that could be considered infinite. […] Every problem can be redefined in such a way that ends and means may be clearly separate and so that a rational soluti‐ on could easily be found. […] The system has worked well enough […]. But once the explosion of communication and social interaction has disturbed the necessary barriers that made societies more simple and therefore more manageable, this basic pattern of rationality disintegrates.«63 60 Zur Mikroelektronik vgl. Rid 2016; Rödder 2016, S. 21-23. 61 Vgl. Rid 2016, S. 229–234; Turner 2010. 62 Diese Kritik findet sich schon in der frühen first order cybernetics (siehe z. B. Beer 1959, S. 37; Ashby 1956, S. 5). Um die oft betriebene steuerungsaffine Vereinfachung dieser Konzep‐ te zu unterbinden, radikalisierte die second-order cybernetics dann diese Kritik; dazu gehörten z. B. Foerster, Maturana und Varela oder Bateson. Für eine Einführung vgl. Scott 2004. 63 Crozier 1975, S. 40, Kursivierung hinzugefügt.

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Der Kern des technologischen Krisennarrativs ist in erster Linie eine Gesell‐ schaftskritik. Sie bestand darin, die Rationalität der Moderne als eine veraltete Ra‐ tionalität darzustellen, die auch der ökonomischen und der politischen Theorie ein‐ geschrieben sei. Die Moderne habe aber zu einem derartigen Wachstum von Optio‐ nen geführt, dass ihre eigenen Institutionen nun an den Folgen der Moderne schei‐ tern. Um die alte, mechanistische Steuerungsrationalität doch noch aufrechterhalten zu können, würde man jetzt immer mehr Zwang anwenden müssen, ohne aber letzt‐ lich der ›Komplexität‹ der Welt entkommen zu können. Von dieser These aus ließ sich eine grundsätzliche Kritik der modernen politischen Theorie formulieren, ein‐ schließlich ihrer Souveränitäts-, Kontinuitäts- und Identitätszumutungen. Die tech‐ nologischen Krisennarrative haben deshalb eine recht große Variationsbreite mit un‐ terschiedlichen Schwerpunktsetzungen. Michel Croziers Krisenanalyse fokussierte zunächst besonders die Bürokratie. Diese sei nicht in der Lage, die Informationsverarbeitungskapazität bereitzustellen, weil ihre Methode einer Dekomposition politischer Probleme in isolierte Faktoren scheitere. In sachlicher Hinsicht sei es aufgrund der Komplexität der Probleme un‐ möglich, sie in unabhängige Faktoren zu zerlegen und diese einzeln zu verarbeiten. Hierarchische Organisationen können daher nicht die notwendigen Kapazitäten zur Problembearbeitung aufbringen, und zwar nicht, weil sie nicht effizient genug seien, sondern weil sie einen veralteten Blick auf die Beschaffenheit der Gesellschaft und die ›Lösbarkeit‹ von Problemen hätten.64 Die Folgen werden dabei auch in der Sozi‐ aldimension sichtbar: Nach innen verfangen sich Bürokratien immer weiter in Kon‐ flikten zwischen den Zuständigkeiten und Positionen; nach außen haben sie immer größere Probleme, Zustimmung für ihre Problemlösungen zu generieren. Infolgedes‐ sen, argumentierte Crozier, bedienen sie sich repressiver Maßnahmen. Die immer weiter steigende Unfähigkeit der Problemlösung ziehe immer mehr Zwangsmaßnah‐ men nach sich.65 Im Zuge solcher Kritik an den hierarchischen Steuerungs- und Planungsmodellen ist die Formulierung berühmt geworden, dass alle sozialen Probleme wicked pro‐ blems seien.66 Es handele sich erstens um Probleme, so die Stadtsoziologen und De‐ signtheoretiker Melvin Webber und Horst Rittel, bei der schon die Problemformulie‐ rung selbst nicht neutral ist. Jedes Problem sieht aus jeder Perspektive anders aus und jede Perspektivierung nimmt zudem die Mittel der Bearbeitung vorweg. Es han‐ dele sich zweitens um Probleme, die keine Stoppregel kennen: Sie stecken in einem unabschließbaren Netzwerk zusammenhängender Probleme und Lösungen. Die Steuerung durch ein Zentrum ist daher eine völlig unzureichende Konzeption von

64 Crozier 1975, S. 16-17. 65 Crozier, Thoenig 1976, S. 556-558. 66 Rittel, Webber 1973.

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Politik, der eine Gesellschaftskonzeption zugrunde liegt, die Eigendynamiken und Ausdifferenzierung völlig ignoriere. Ausgehend von diesen Diagnosen lautete die Forderung im technologischen Kri‐ sennarrativ, dass man den gesamten Begriffsapparat radikal neu fassen müsse. Erst dann könnte man überhaupt ein angemessenes Verständnis der ›komplexen‹ Pro‐ blemlage bekommen. Die Konflikte zwischen ›Konservativen‹ und ›Progressiven‹ erscheinen daher als gleichermaßen gefährliche wie lächerliche Scharmützel, deren Ideen sämtliche innovative Kraft verloren haben, wie etwa Niklas Luhmann und Mi‐ chel Foucault mit teils ironischen, teils scharfen Kommentaren immer wieder her‐ ausgestellt haben.67 Die technologischen Krisennarrationen boten infolgedessen eine alternative Lesart der Realität an, die Politik und Gesellschaft um den Begriffsappa‐ rat von systemischen Netzwerken vollständig neu konzipierte. Ideengeschichtlich zeichnet sich der Aufstieg dieses Netzwerk-Denkens bei‐ spielsweise dadurch ab, dass neue Machtkonzeptionen entworfen wurden, die sich grundsätzlich von klassischen Theorien abgrenzten: Die bei ›Konservativen‹ und ›Linken‹ gestellte Frage ›Wer hat Macht?‹ wird durch die technologische Frage ›Wie funktioniert Macht?‹ ersetzt. Während die ›veraltete‹ Theorie stets nach dem Besit‐ zer von Macht gesucht und ihre hierarchische Verteilung unterstellt habe, fragen die systemischen Machtverständnisse nach der Operationsweise der Macht und behaup‐ ten, dass Macht diffus verteilt sei und in einem gesellschaftlichen Netzwerk zirkulie‐ re. Infolgedessen seien soziale Beziehungen stets als gegenseitige Bedingungsver‐ hältnisse zu verstehen: A und B verfügen über eine Vielzahl von Alternativen, aus der sie auswählen müssen, und durch diese autonome Selbst-Organisation üben sie gleichzeitig Macht aufeinander aus. Macht ist immer eine mehrseitige Machtbezie‐ hung.68 Politisch gesehen machten die technologischen inspirierten Interpretationen – bei allen freilich vorhandenen Unterschieden – immer wieder drei zentrale Vorschläge. Zum einen empfehlen sie, die Struktur und Kultur von Organisationen auf Diversität bzw. Differenz umzustellen, statt Identität zu unterstellen, die sich im Zweifel nur er‐ 67 Siehe zum Beispiel Luhmann 1981 [1974]. In Politische Theorie im Wohlfahrtsstaat machte Luhmann sogar den Code progressiv/konservativ für das Leerlaufen des politischen Systems verantwortlich. Grundlage dafür ist seine Erfahrung in der Reformkommission zum Öffentli‐ chen Dienst. Hier hatte er erlebt, wie das »Schattenboxen« des alten Ideenguts eine tatsächli‐ che Reform verhinderte. Siehe dazu seine Abrechnung Luhmann 1982 [1974], Zitat S. 335. Für Foucaults harrsche Kritik an der Ideenlosigkeit (neo-)marxistischer und institutionalistischer Ansätze siehe z. B. Foucault 2002, Bd. III, S. 753-757, und Bd. IV, S. 448-449. Die kyberneti‐ schen Figuren bei Foucault sind bisher – jenseits knapper Anmerkungen – nicht herausgearbei‐ tet worden. Siehe dazu aber demnächst meine Dissertationsschrift über den Aufstieg des Netz‐ werk-Denkens, auf der der Artikel insgesamt beruht. 68 Die wohl bekanntesten Ausformulierungen einer solchen Machttheorie, einschließen der Kritik der ›traditionellen‹, ›veralteten‹ oder ›alteuropäischen‹ Machtideen, finden sich bei Foucault 2001, S. 23-57, und bei Luhmann 1969; Luhmann 1972. Zur Ähnlichkeit der beiden Macht‐ theorien vgl. auch Bublitz 2003.

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zwingen ließe. Die Komplexität der Gesellschaft hat zweitens zur Folge, dass man Lösungen nicht mehr als rationale Wahl oder universale Norm – also nach dem Mus‐ ter des one best way – konzipieren könne. Daher sollten usability und die Zufrieden‐ heit des Nutzers in den Vordergrund treten. Dabei birgt freilich jeder Versuch das Ri‐ siko, an neuen Konstellationen in der komplexen Umwelt zu scheitern. Um daher hierarchische Verkrustungen zu vermeiden, plädiert dieser Ansatz schließlich dafür, permanente Selbstkritik, Kreativität und Innovationsfähigkeit zu kultivieren, statt Kontinuität zu institutionalisieren. In diesem Sinne wird Offenheit zur Leitidee.

5. Die Folge: Der neue Zuschnitt von Regierung und Staatlichkeit Dieser Artikel hat die Unregierbarkeitsdebatte als Indikator einer großen Transfor‐ mation in den westlichen Demokratien vorgestellt, die sich in den 1970er Jahren er‐ eignet hat. Die Debatte verarbeitete, dass das gerade erst etablierte Regierungskon‐ zept an genau den Problemen scheiterte, die es eigentlich lösen sollte. Dass dabei ökonomische Einbrüche, Konflikte zwischen den gesellschaftlichen Gruppen und die Rückkehr der Gewalt in die Lebensrealität der Menschen gleichzeitig auftraten, ermöglichte es, die Probleme zu einer zusammenhängenden Krise der modernen Po‐ litik- und Gesellschaftsideen zu verdichten. Die Krise gewann so einen epistemi‐ schen Charakter. Die Rekonstruktion hat aber auch gezeigt, dass die Unregierbarkeitsdebatte nicht nur Indikator eines Niedergangs war. Sie war auch Katalysator für den folgenden gesellschaftlichen und politischen Umbau. Dass man heute einen Strukturwandel der Moderne konstatieren kann, liegt maßgeblich daran, dass die Akteure der Zeit die Krisenphänomene verbanden, alte Konzepte als unzureichend markierten und zu‐ gleich neue Vorschläge in Stellung brachten. Der Strukturwandel ist also nur durch die politische und konzeptionelle Verarbeitung der Phänomene zustande gekommen. Dementsprechend ist die Ausgestaltung seiner Folgen kontingent und veränderbar. Gesellschaftstheoretisch gesprochen führte die Krise zu einer reflexiven Wende der Aufklärung, politiktheoretisch zum Abschied von Souveränitäts- und Steue‐ rungsglauben. In allen vier Narrativen wurde der souveräne Staat – als Träger von Modernisierung und Integration – einer grundlegenden Kritik unterzogen, die die Überdehnung des Staates und die konzeptionellen Dilemmata der Nachkriegsord‐ nung hervorhoben. Peter Graf Kielmanseggs Studien, insbesondere die beeindru‐ ckende Studie über Volkssouveränität, gehörten dabei zu den analytisch reichhaltigs‐ ten Beiträgen zur deutschen Krisendebatte, weil sie historisch-komparativ vorgingen und zugleich neue Themen (Ökologie) und neue Theorieansätze (Systemtheorie) of‐ fen diskutierten. Während sowohl institutionalistische als auch neomarxistische An‐ sätze durchaus bemerkenswerte Analysen hervorbrachten, verfügten sie – teils ein‐

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gestandenermaßen – über keine Antwortstrategien, die der wahrgenommenen Dras‐ tik der Situation entsprachen. Infolgedessen gelang es den technologischen und neo‐ liberalen Analysen, die mangelnde oder die veraltete Rationalität dieser Ansätze an‐ zuprangern und ihre eigenen Lösungsvorschläge ins Spiel zu bringen. Entgegen vielfältiger jüngerer Spekulationen um ein Ende des Staates zeigt eine Rekonstruktion der Unregierbarkeitsdebatte aber auch, dass – bei aller Kritik am Staat – keines der Narrative auf eine politische Ordnung ohne Staat setzte. In den neuen Deutungsmustern neoliberaler und technologischer Provenienz zeichnete sich vielmehr eine Rekalibrierung des Regierungs- und des Staatsverständnisses ab.69 Die ›neuen‹ Ansätze lehnten das teleologische Staatskonzept der Nachkriegszeit ab, das den Staat als ›Steuerungszentrum‹ oder ›Kopf‹ der Gesellschaft sah, und im sel‐ ben Zug lockerten sie die Gleichsetzung von Regieren, Politik und Staat und führten einen erweiterten Regierungsbegriff ein. In der Politikwissenschaft hat sich dies in dem Schlagwort Von Government zu Governance niedergeschlagen, und zwar teils als Unterstützung, teils als Effekt der Transformation. Mit der analytischen Governance-Perspektive wurde der Gegen‐ standsbereich deutlich erweitert, indem jetzt soziale Koordinationsmechanismen und Regulationsmuster in ihrer Breite in den Blick kamen. Das bedeutete eine analyti‐ sche Dezentrierung des Staates.70 Gleichzeitig verlor auch der normative Aspekt des klassischen Institutionalismus an Überzeugungskraft. Die neuen Governance-Kon‐ zepte wurden nicht ohne Grund oft gegen das alte Westminster-Modell der Demo‐ kratie abgegrenzt.71 Institutionen legitimieren sich demnach weder durch ihre tra‐ dierten Werte noch durch ihre inhärente Zwecksetzung. Gegen das starke Amts-, Präzedenz- und Protokollethos des Westminster-Modells hob man die Kontingenz der Institutionen hervor, die Effekt von Selektions- oder Transaktionsakten seien. Diese Kritik am ›Stehenden und Ständischen‹ traf ganz offensichtlich auch die nor‐ mative Seite der politischen Theorie von Peter Graf Kielmansegg, die eine besonde‐ re Wertschätzung für die Bewährungsdauer politischer Ordnungen mit einem Verant‐ wortungsethos des politischen Amtes und einer humanistischen Zwecksetzung des Staates verband.72 Im Unterschied zu einem solchen teleologischen Staats- und Regierungsdenken, das man bei ›konservativen‹ und ›progressiven‹ Theorien der Nachkriegszeit findet, wird im neoliberalen Ansatz ein instrumentelles Staatsverständnis durchgesetzt. Der Staat hat hier eine Schutzfunktion (protective state) und eine Kollektivgutfunktion (productive state) zu erfüllen, damit die individuellen Transaktionen gesichert 69 Der Neo-Institutionalismus, dessen Spielarten an die neuen Deutungsmuster anschlossen, hat auf den Fortbestand von Staatlichkeit daher immer wieder mit Recht hingewiesen. Einen Über‐ blick bietet Hasse, Krücken 2015. 70 Vgl. Bevir 2013b, S. 1. 71 Exemplarisch Rhodes 2010, S. 4-7; vgl. Bevir 2010, S. 124-125. 72 Vgl. auch Zittel, Kaiser 2004, S. 12-17.

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sind.73 Diesem Staatskonzept entspricht seit den 1980er Jahren ein administratives Reformprogramm, das New Public Management. Hier soll einerseits alles Über‐ schüssige aus dem Bereich der staatlichen Organisation ausgeschieden werden (Pri‐ vatisierung), während der Staat selbst hierarchisch durch Principal-Agent-Beziehun‐ gen restrukturiert wird. Dadurch, so das Argument, könne jede einzelne Stelle die notwendige Handlungsfreiheit zur Funktionserfüllung besitzen, gleichzeitig aber di‐ rekt sanktionierbar sein (accountability). Auf diese Weise wird in der neoliberalen Rationalität die Spaltung von Staat und Gesellschaft aufrechterhalten, das Hierar‐ chieverhältnis aber umgedreht: Nicht der Staat hat Steuerungskompetenz, sondern die Marktgesellschaft. Der immense Erfolg des neoliberalen Narrativs ist auch darauf zurückzuführen, dass es in der Unregierbarkeitsdebatte Krisenerklärung und Alternativprogramm aus einem Guss lieferte, dem der Rational-Choice-Theorie. Genauso schwer dürfte wie‐ gen, dass das Narrativ Anschlusspunkte für unterschiedlichen Interessen bereithielt: Der Zivilgesellschaftsdiskurs, der insbesondere auf der ›linken‹ Seite neomarxisti‐ sche Positionen verdrängte, konnte ebenso andocken wie ›konservative‹ Positionen, die im neoliberalen Programm die Wertschätzung von Hierarchie und Herrschaft wiederentdecken konnten. Denn der neoliberale Staat unterliegt einer strikten Regel‐ hierarchie und garantiert zugleich law and order in der Gesellschaft. Darüber ließ sich nicht nur vergessen, dass die Argumentationslogik der Public-Choice-Theorie selbst aus dem eigenen Lager als widersprüchlich überführt wurde,74 sondern auch dass die neoliberale Therapie des ›kranken Staates‹ (wie es dort oft hieß) die Parla‐ mentssouveränität des Westminster-Modells kassierte.75 Die Betonung von Hierar‐ chie und Sanktionen sollte sich als eine Gratwanderung erweisen, bei der einige Ver‐ treter über den Rand des Liberalen in einen reaktionären Neokonservatismus mit li‐ bertärem Anstrich kippten. Während dieser libertäre Neokonservatismus zunächst für ein amerikanisches Phänomen gehalten wurde, zeigt er sich seit der Jahrtausend‐ wende auch in Europa. Mit der Betonung von Selbstregulation und ökologischer Abhängigkeit ging die technologische Rationalität einen anderen Weg. In diesem Modell steht die Politik nicht der Gesellschaft gegenüber, sondern ist selbst nur ein Teil der Gesellschaft. Deren Akteure und Funktionsbereiche regulieren sich, sind aber zugleich von ihrer Umwelt abhängig, mit der sie im Netzwerk verbunden sind. Weil diese gesellschaft‐ liche Ordnung einen derartig hohen Grad an Autonomie und Verflechtung aufweist, muss jedes unilaterales Steuerungshandeln scheitern und einen zerstörerischen Druck ausüben. Dieser Ansatz war sowohl für die alternativen Bewegungen der 1970er Jahre als auch für eine liberalkonservative Haltung anschlussfähig. 73 Zum Staat in der Ideengeschichte des Neoliberalismus vgl. auch Biebricher 2014. 74 Behnke 2016, S. 151-152. 75 Siehe Johnson 1979, S. 410-411.

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Das Staatsverständnis verschiebt sich hier in doppelter Hinsicht. Einerseits wird der Staat selbst als ein Effekt vielfältiger, divergierender Praktiken und Rationalitä‐ ten verstanden, der nicht den ganzen Bereich des Politischen einfängt.76 Anderer‐ seits behält der Staat entscheidende Aufgaben für die gesellschaftlichen Aushand‐ lungsprozesse. Erstens soll sein Gewaltmonopol die Diversität und Autonomie der gesellschaftlichen Selbstregulation schützen, und dazu gehört auch ein Schutz vor den diskriminierenden Praktiken des Staates selbst.77 Zweitens übernimmt der Staat eine bestimmte Rolle als Adressat von Problemen, die er allerdings nicht im Allein‐ gang lösen kann.78 Seit den Krisendebatten hat sich diese Intuition im Programm des network governance weiterentwickelt. In diesen Netzwerken können, so die Annah‐ me, Verhandlungen über policies stattfinden und die Komplexität der Probleme durch die Diversität der Perspektiven besser verarbeitet werden. Der Staat über‐ nimmt hier das metagovernance und diversity management der Netzwerke.79 Unter den vier Krisennarrativen hat die Netzwerk-Perspektive die Kritik des Steuerungsdenkens, die Kritik klassischer Repräsentationsansprüche und die Kritik an einer universellen Wertebindung am konsequentesten formuliert. Ganz fraglos wurden vor allem durch das Netzwerk-Denken Autonomie, soziale Minderheiten und ein neues demokratisches und ökologisches Problembewusstsein gestärkt. Aller‐ dings entfallen zugleich Legitimations- und Identifikationsangebote, die die ›klassi‐ schen‹ Demokratietheorien bereitgehalten hatten. Einerseits unterliefen (neo-)libera‐ le und technologische Ansätze das parteipolitische Spektrum der Nachkriegszeit. Je mehr Regierungen auf die neuen Beschreibungen von Politik und Gesellschaft zu‐ rückgriffen, desto stärker verwischten die alten Cleavages zwischen ›Konservativen‹ und ›Progressiven‹. Andererseits scheint es in den neuen Selbstbeschreibungen der Gesellschaft – auch im Netzwerk-Denken – wenig Raum für einen emphatischen Begriff politischen Handelns und gesellschaftlicher Selbstbestimmung zu geben. Es stellt sich daher die Frage, ob dieses doppelte Defizit an Orientierungsleistun‐ gen – neben der manifesten Sanktionsmentalität des Neoliberalismus – ein Steigbü‐ gel für den neuen Rechtspopulismus war, der sich nun der Rhetorik der Souveränität und dem Pathos des Machbaren bedient. Dass man hierauf antworten könnte, indem man die vermeintlich heile Welt der Souveränität reaktiviert, lässt sich nach einer Lektüre der Krisendiskurse aber ebenso bezweifeln.

76 Bei Luhmann äußert es sich in der Binnendifferenzierung des politischen Systems; bei Fou‐ cault (2006) wird dies intensiv in der zweibändigen Geschichte der Gouvernementalität disku‐ tiert. 77 Darauf hat Luhmann 1986 [1965] schon vor der Krise hingewiesen. 78 In der zugehörigen Governance-Literatur hat sich dafür der Begriff stateless state (Bevir, Rho‐ des 2013) oder – mit Referenz auf Luhmann – der differentiated polity (Rhodes 2010) einge‐ bürgert. 79 Vgl. Bevir 2013a, S. 55–61; Sørensen, Torfing 2008.

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IV. Europa, Politikberatung, Öffentlichkeit

Marcus Höreth Der Voraussetzungsreichtum einer europäischen Demokratie

„Das ist nicht so kritisch gemeint, wie es klingt“ (Kielmansegg 2016, 49)

1. Einleitung Es wäre vermessen anzunehmen, dass es im Leben eines so vielschichtigen Denkers wie Peter Graf Kielmansegg die eine „Fragestellung“ gibt, die ihn Zeit seines Le‐ bens umgetrieben hätte.1 Und doch gibt es ein Problem, das ihn seit über einem Vierteljahrhundert immer wieder beschäftigt. Seine Frage lautet: „Lässt sich die Eu‐ ropäische Gemeinschaft demokratisch verfassen?“2 Als er diese Frage erstmals ge‐ stellt hat, die Maastrichter Verträge waren gerade ausgehandelt und befanden sich im Ratifizierungsprozess, war dies eine völlig neue Problemstellung, denn die europäi‐ sche Integrationsgemeinschaft war von Anfang an mit einem Demokratiedefizit ver‐ bunden, ohne dass dies bis dato als ein Legitimationsproblem galt.3 Die Frage oder gar Forderung nach einer demokratischen Verfasstheit der Integrationsgemeinschaft wurde deshalb bis Anfang der 90er Jahre nicht ernsthaft gestellt. Mit der im Maas‐ trichter Vertrag beschlossenen Vertiefung des Integrationsprojekts kam jedoch zu Bewusstsein, dass sich die EU zu einem Herrschaftsverband eigener Art entwickelt hat, der der (demokratischen) Legitimität bedarf. Doch besitzt die EU überhaupt De‐ mokratiefähigkeit? Oder, um es in Anlehnung eines berühmten Diktums von ErnstWolfgang Böckenförde zu formulieren, beruht die – postulierte – Demokratie der EU auf Voraussetzungen, die sie selbst nicht bereitstellen und erst recht nicht garan‐ tieren kann? Das damals konstatierte Grundproblem der Ermöglichungsbedingungen supranationaler Demokratie hat sich wegen des fortgesetzten Aufgabenzuwachses der EU bei gleichzeitiger Erosion des „permissiven Konsenses“4 bis heute noch deutlich verschärft. Es herrscht ein wachsendes diffuses Unbehagen am europä‐ ischen Einigungsprojekt: „Der Ton ist düster, Ratlosigkeit herrscht allerorten“5 – so hat es Kielmansegg jüngst beschrieben. Mit „welchen guten, zustimmungsfähigen 1 Vgl. Hennis‘ Versuch über Max Weber (1987). 2 Kielmansegg 1992. Eine stark überarbeitete, deutlich ausführlichere und aktualisierte Fassung dieses Aufsatzes erschien später in Decker/Höreth 2009 und Kielmansegg 2016. 3 Höreth/Mann 2013; Höreth 1999, S. 29. 4 Lindberg/Scheingold 1970. 5 Kielmansegg 2016, S. 41.

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Gründen“ lässt sich dann rechtfertigen, „dass die EU-Rechtsetzungsmacht über der‐ zeit fast 400 Millionen Europäer ausübt?“6 Es ist evident, dass es für die von Peter Graf Kielmansegg aufgeworfene Frage, wie sich die EU demokratisch verfassen lie‐ ße, nach wie vor keine einfachen Antworten gibt. Im Folgenden wird zu zeigen sein, dass nach wie vor drei zentrale Hindernisse einer Demokratisierung der EU im Wege stehen (2). Allerdings ist es nach wie vor offen, ob diese Hindernisse durch geeignete Reformen möglicherweise doch aus dem Weg geräumt oder aber zumindest entschärft werden könnten. Entscheidend hierbei ist – wie ich exemplarisch anhand dreier Reformkonzepte zu zeigen ver‐ suchen werde – wie bei diesen Reformvorschlägen mit dem Problem der „Demokra‐ tiefähigkeit“ umgegangen wird (3). Sind sich – so die entscheidende Frage – die ver‐ schiedenen Konzepte zur politischen Einheitsbildung Europas über den Vorausset‐ zungsreichtum einer europäischen Demokratie bewusst und tragen sie diesem Fak‐ tum Rechnung oder sind sie es nicht und sind daher nur bedingt brauchbar? Diese Frage gilt es abschließend zu diskutieren (4).

2. Die Debatte um die Demokratiefähigkeit der EU Solange die frühere Europäische Gemeinschaft (EG) jene Politikbereiche, die euro‐ päische Lösungen verlangten, erfolgreich meisterte, konnte der Integrationsprozess aus legitimationstheoretischer Sicht kaum in Frage gestellt werden. Die zumeist auf Einstimmigkeit angelegten Kooperationsmechanismen auf europäischer Ebene hat‐ ten auch keinen die demokratische Legitimität der politischen Institutionen der Mit‐ gliedstaaten gefährdenden Einfluss.7 Diese Einschätzung galt grosso modo noch bis weit in die 80er Jahre hinein. Wer dennoch Zweifel an der Rechtfertigung der europäischen Einigung äußerte, dem wurden damals überzeugende Argumente ent‐ gegengehalten: „Dass das Integrationsprojekt die fälligen Konsequenzen aus einer langen und leidvollen Konfliktgeschichte zog; dass es die gebotene Reaktion Westeuropas auf die Bedrohung aus dem Osten war; dass der gemeinsame Markt im Besonderen den europäischen Volks‐ wirtschaften gut bekam – war das nicht alles offensichtlich? Und wenn es offensichtlich war, dass die Einigung Europas dem Frieden und der Wohlfahrt diente, war dann die Le‐ gitimitätsfrage nicht auf das Überzeugendste beantwortet?“8

Spätestens mit dem Vertrag von Maastricht 1992 stellte sich die Frage nach den de‐ mokratischen Legitimationsgrundlagen für die EU jedoch in aller Deutlichkeit. Die 6 Kielmansegg 2015, S. 60. 7 Vgl. Scharpf 1993, S. 180. 8 Kielmansegg 1996, S. 47. Vgl. die ähnliche Einschätzung 20 Jahre später in Kielmansegg 2015, S. 57.

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Beschäftigung mit dem Post-Maastricht-Europa ließ erkennen, dass das demokrati‐ sche Prinzip, wonach „die Gesamtheit der Bürger bei gleichem Mitentscheidungs‐ recht eines jeden einzelnen als letzte politische Entscheidungsinstanz zu gelten“ hat und „als Instanz insbesondere, die regelmäßig wiederkehrend die Möglichkeit haben muss, die Regierungsgewalt zuzuweisen und zu entziehen und damit zu kontrollie‐ ren“9, im EU-Regierungssystem nicht umgesetzt ist. Es ist vor allem dieser Befund, der als Demokratiedefizit und – seit Maastricht – auch als Legitimationsproblem wahrgenommen wird. Damals wie heute leiten manche Forscher daraus die nahelie‐ gende Forderung ab, dass in der EU die gleichen demokratischen Standards gelten müssten wie in den westlichen (nationalen) Demokratien. Ihre These ist damals10 wie heute11 denkbar einfach: je mehr das institutionelle Arrangement der EU dem seiner Mitgliedstaaten oder auch dem der oft als Vorbild herangezogenen USA ent‐ spricht, desto eher gelingt es, die Legitimationsprobleme europäischer Politik zu lö‐ sen. Stellt man auf eine rein formale demokratietheoretische Betrachtungsweise ab, kommt dem Europäischen Parlament in der Frage der Legitimationsbeschaffung eine Schlüsselrolle zu. Indessen wirft gerade diese Art des Blaupausendenkens die kriti‐ sche Frage nach der generellen „Demokratiefähigkeit“12 der Union auf. Damit rü‐ cken jene soziokulturellen und strukturellen Bestimmungsgrößen der Demokratie in den Blickpunkt, die sich aufgrund der historischen Verknüpfung dieser Herrschafts‐ form mit Staat und Nation vornehmlich im Nationalstaat verwirklicht haben. Woran es also gerade auch im Zusammenhang mit der europäischen Integration zu erinnern gilt, ist der Voraussetzungsreichtum der Demokratie, denn es ist fraglich, ob jene Voraussetzungen auf europäischer Ebene als hinreichend erfüllt betrachtet werden können.13

2.1 Gibt es ein europäisches Volk? Die No Demos-These Begrifflich sind in „Demokratie“ demos und kratia zusammengesetzt – das meint dem Wortsinne nach Volksherrschaft. Gebräuchlicher ist der Begriff der „Volkssou‐ veränität“14, der die Rückführung und Rückführbarkeit der politischen Herrschaft auf den Willen des Volkes verlangt. Doch wer ist in der EU „das Volk“?15 In Teilen der Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft wird das Fehlen eines europäischen

9 10 11 12 13 14 15

Kielmansegg 2015, S. 61. Europäische Strukturkommission 1995, S. 34. Vgl. z.B. Simms / Zeeb 2016; Sonnicksen 2014; Grimm 2016, S. 71. Grimm 1993, S. 15. Vgl. Kaufmann 1997, S. 48. Kielmansegg 1977. Von Simson 1991.

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Volkes als Kardinalproblem für eine weitergehende Demokratisierung der Union ge‐ sehen. Kielmansegg erklärt warum: „Demokratie gründet sich immer auf eine der Verfassung vorgegebene konsensuale Be‐ stimmung ihres kollektiven Subjektes, auf eine die Individuen verbindende kollektive Identität. (…) In dem jeder demokratischen Verfassung zugrundeliegenden Axiom der Volkssouveränität steckt begrifflich und gedanklich die Prämisse, dass die Antwort auf die Frage, wer das Volk sei, vom dem ‚alle Gewalt ausgeht‘, immer schon gegeben ist, bevor Staatsgewalt demokratisch organisiert werden kann. (…) Nur eine gemeinsame, übergreifende Identität aller Entscheidungsbetroffenen macht die Unterscheidung zwi‐ schen dem zustimmungsfähigen Entscheidungsrecht der Mehrheit und der nicht zustim‐ mungsfähigen Fremdherrschaft möglich.“16

Kielmansegg hat diese oft zitierte These an anderer Stelle noch weiter erläutert, wenn er schreibt, dass das demokratische Prinzip voraussetzt, „dass die Bürger des Gemeinwesens sich als einer ihnen allen gemeinsamen politischen Identität teilha‐ bend begreifen.“17 Es muss mithin ein Selbstverständnis der Bürger vorausgesetzt werden, „das Gemeinwesen gemeinsam als das Ihre anzusehen.“18 An anderer Stelle heißt es: „Die legitimitätsstiftende Wirkung von demokratischen Entscheidungsre‐ geln (…) hat zur Voraussetzung ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit unter denen, für die diese Regeln gelten sollen, das Bewusstsein einer gemeinsamen poli‐ tischen Identität.“19 Trotz der lange währenden affektiven Unterstützung des europä‐ ischen Einigungsprozesses durch die Völker Europas hat sich bis heute keine euro‐ päische politische Identität gebildet. Im Ergebnis führt das Fehlen eines europä‐ ischen Staatsvolks zur Schlussfolgerung, dass sich die Errungenschaften des demo‐ kratischen Verfassungsstaates nur auf nationaler Ebene wahren lassen und demge‐ mäß eine weitergehende Demokratisierung der EU-Ebene abgelehnt werden müsse. Kielmansegg hat ein knappes Vierteljahrhundert nach seiner ersten Annäherung an seine Frage die zwei Bedingungen präzisier benannt, die erfüllt sein müssten, damit europäische Integrationspolitik demokratisch gelingen kann: Zum einen benötigte es hierfür hinreichender „Legitimitäts-“ aber auch „Solidaritätsressourcen“, die aber nur „den Nationalstaaten zu Gebote stehen.“20 „In einem demokratischen Gemeinwesen beruhen die Legitimitäts- und Solidaritätsres‐ sourcen, welche die Politik voraussetzen darf, auf einem ganz bestimmten Selbstver‐ ständnis der Bürgerschaft. Die Bürger nehmen sich wahr als durch eine gemeinsame poli‐ tisch-kulturelle, kollektive Identität verbunden (…): Sie nehmen sich als Nation wahr. Auf dieser Selbstwahrnehmung beruht die Bereitschaft, die Mehrheitsregel zu respektie‐ ren; beruht, genauer, die Bereitschaft der jeweils unterliegenden Minderheit, Mehrheits‐ 16 17 18 19 20

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Kielmansegg 1992, S. 23. Kielmansegg 2015, S. 61. Kielmansegg 2015, S. 61. Kielmansegg 2015, S. 67. Kielmansegg 2016, S. 45.

entscheidungen nicht als Fremdbestimmung, sondern als Modus der Selbstregierung gel‐ ten zu lassen. Auf dieser Selbstwahrnehmung beruht auch die habituelle Bereitschaft, sich – nicht grenzenlos, aber doch ziemlich weitreichend – in politisch verordnete Solida‐ ritätszumutungen zu fügen.“21

Kollektive Identität bildet sich somit nicht von selbst, sie folgt jedenfalls auch nicht automatisch auf den institutionellen Fortschritt, der im Laufe der europäischen Inte‐ gration bis heute erzielt worden ist. Warum das so ist, hat Kielmansegg wie folgt auf den Punkt gebracht: „Es sind Kommunikations-, Erfahrungs- und Erinnerungsgemeinschaften, in denen kol‐ lektive Identität sich herausbildet, stabilisiert, tradiert wird. Europa, auch das engere Westeuropa ist keine Kommunikationsgemeinschaft, kaum eine Erinnerungsgemein‐ schaft und noch immer nur sehr begrenzt eine Erfahrungsgemeinschaft.“22

Als Kommunikationsgemeinschaft kann Europa nicht gelten, weil es ein vielsprachi‐ ger Kontinent ist; eine Erinnerungsgemeinschaft ist Europa nicht, weil die europäi‐ sche Geschichte „nur zum geringen Teil als eine gemeinsame europäische Vergan‐ genheit“23, sondern national erinnert wird. Lediglich bei der dritten Kategorie, der „Erfahrungsgemeinschaft“, kann man etwas optimistischer in die Zukunft blicken, auch dank der gemeinsam durchlebten Krisen der letzten Jahrzehnte.

2.2 Der Mangel an Homogenität Der Ansicht, es fehle der EU ein gemeinsames „Volk“ ließe sich noch mit dem for‐ malen Argument begegnen, dass das Volk lediglich eine „durch das rechtliche Band der Staatsangehörigkeit“ bestimmte „Gesamtheit von Menschen“ ist24 – und diese Voraussetzung mit der Unionsbürgerschaft bereits erfüllt sei. Dieses Argument über‐ zeugt aber vor allem jene nicht, die darauf insistieren, dass das Volk auch von sub‐ stantieller Homogenität gekennzeichnet sein müsse.25 Anhänger der pluralistischen Demokratie tun sich schwer mit diesem Diktum – in der harten Carl Schmitt-Varian‐ te wird diese These daher von den meisten abgelehnt. Doch das Homogenitätspro‐ blem lässt sich auch von der Frage nach Existenz oder Nicht-Existenz eines europä‐ ischen Volkes lösen und ganz nüchtern von der anderen Seite her betrachten. Dann lässt sich kaum bestreiten, dass das Ausmaß an wirtschaftlicher, kultureller und so‐ zialer Heterogenität legitime, d.h. anerkennungswürdige und zustimmungsfähige de‐ mokratische Mehrheitsentscheidungen auf europäischer Ebene schwierig bis unmög‐ 21 22 23 24 25

Kielmansegg 2016, S. 44. Kielmansegg 2015, S. 68. Kielmansegg 2015, S. 69. Böckenförde 2004, S. 445. Von Simson, 1991.

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lich macht.26 Fritz Scharpfs Einschätzung vor über einem Vierteljahrhundert lässt auch heute noch kaum Raum für eine positivere Einschätzung: „Im gegenwärtigen Europa (…) sind weder die negativen noch die positiven Vorausset‐ zungen einer auf politische Integration gestützten demokratischen Legitimation schon er‐ füllt. Die ethnischen und kulturellen Unterschiede zwischen den Staaten der Gemein‐ schaft sind vermutlich größer als in irgendeinem funktionierenden Vielvölkerstaat; das gemeinsame Bekenntnis zu Menschenrechten und Demokratie überdeckt vielfältige Dif‐ ferenzen in den Organisations- und Verfahrensweisen und im praktizierten Grundver‐ ständnis der staatlichen Willensbildung, der Verwaltung und des Rechtswesens.“27

Aus dieser Sicht sind die für eine funktionsfähige Demokratie notwendigen europa‐ weiten Homogenitätserfordernisse nicht erfüllt. Inzwischen ist die europäische Inte‐ gration weiter voran geschritten, doch der Befund scheint wie in Stein gemeißelt. Noch immer würden demokratische Reformen des europäischen Institutionensys‐ tems nicht automatisch einen Zugewinn an demokratischer Legitimität nach sich zie‐ hen. Formal würde sich die Legitimationsbasis z.B. durch die Stärkung des Europä‐ ischen Parlaments zwar erhöhen, die tatsächliche Belastbarkeit einer europäischen Demokratie bliebe jedoch aufgrund des Mangels an Homogenität äußerst zweifel‐ haft. Warum das so ist, lässt sich recht einfach erklären: Die mit dem Demokratieprin‐ zip verbundene Einführung der Mehrheitsprinzips setzt voraus, dass in einer politi‐ schen Gemeinschaft die ständige Bereitschaft vorhanden ist, sich in Einzelfragen überstimmen zu lassen und die Entscheidung gleichwohl als verbindlich zu akzeptie‐ ren, ohne die Gesamtordnung in Frage zu stellen.28 Es muss zudem gewährleistet sein, dass die Mehrheit grundsätzlich bereit ist, die Rechte und berechtigten Interes‐ sen der Minderheit zu achten. Sie ist dazu nicht alleine aus rationaler Einsicht bereit, sondern auch weil sie sich mit der Minderheit trotz allem Dissens in Einzelfragen durch ein relatives ‚Wirbewusstsein‘ verbunden fühlt. Voraussetzung jeder Demo‐ kratie, auch und gerade in der europäischen Variante, ist daher ein gewisses Maß an sozialer Homogenität, die im Gegensatz zu ‚Identität‘ lediglich eine gewisse Gleich‐ artigkeit, Gleichgerichtetheit und Vereinbarkeit von Überzeugungen und Institutio‐ nen bezeichnet. Demokratische Mehrheitsentscheidungen können also nur dann ak‐ zeptabel und insofern legitim sein, wenn zwischen den Gewaltunterworfenen eine elementare Gemeinsamkeit besteht, die das Überstimmtwerden erträglich sein lässt.29 Nach Hermann Heller bestimmt sich das notwendige Maß an relativer Ho‐ mogenität darin, ob „die stets vorhandenen Gegensätzlichkeiten und Interessen‐ kämpfe gebunden erscheinen durch ein Wir-Bewusstsein und -Gefühl, durch einen 26 27 28 29

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Kielmansegg, 1996; Höreth 1999, S. 56 ff. m.w.N. Scharpf 1992, S. 296. Heller 1933, S. 424, Heun 1983. Scharpf 1992, S. 296.

sich aktualisierenden Gemeinschaftswillen.“30 Ernst Fraenkel weist im Anschluss an Heller auf die Notwendigkeit eines nicht-kontroversen Sektors hin, unter den die de‐ mokratischen Verfahrensregeln, aber auch gewisse basale Zielsetzungen und Wert‐ vorstellungen des Gemeinwesens fallen.31 Wo die – immer relative – soziale oder sozialpsychologische Homogenität vorhanden ist, wird durch das daraus resultieren‐ de Wir-Bewusstsein die Funktionsfähigkeit der Mehrheitsentscheidung und damit die demokratisch und rechtsstaatlich definierte politische Einheit gesichert; wo sie hingegen fehlt, büßt die Mehrheitsentscheidung ihre alle Bürger verpflichtende Kraft und damit ihre Legitimität ein. Auf die europäische Ebene übertragen, wirken diese Überlegungen ernüchternd. Allerdings kann gegen sie eingewendet werden, dass sie zu leicht in eine Sackgasse führen.32 Vorschnell wird geschlussfolgert, dass demokratische Reformen in der EU schon deshalb zum Scheitern verurteilt seien, da alle unter dem Begriff der Homoge‐ nität zusammengefassten einheitsstiftenden Faktoren europaweit (noch) nicht in aus‐ reichendem Maße existieren. Und doch ist die Homogenitätsproblematik nicht von der Hand zu weisen. Mit der jüngsten Ausweitung der EU ist das europäische Ho‐ mogenitätsniveau noch weiter gesunken, während der Anteil zentrifugaler Kräfte zu‐ genommen hat, wie jüngst schon der Brexit, aber auch die Entwicklung der sich zu‐ nehmend vom acquis communitaire entfernenden Visegrad-Staaten gezeigt haben. Dieser Negativtrend hatte schon zur Folge, dass auch mit superqualifizierter Mehr‐ heit zustande gekommene Entscheidungen – beispielsweise in der Frage der Kontin‐ gentierung von Flüchtlingen auf die einzelnen Mitgliedstaaten – aus Sicht der Über‐ stimmten keine Anerkennungswürdigkeit besitzen. Aufgrund des offenkundigen Mangels an Homogenität wird die weitere Demokratisierung europäischer Institutio‐ nen kaum zu einer gestärkten Legitimität majoritären Regierens führen können.33 Das Problem mangelnder Homogenität zeigt sich nicht nur in identitätspolitischer Hinsicht, sondern auch ganz ‚technisch‘ in zu ungleichen Wirtschaftskulturen, die dazu führen, dass etwa die Währungsunion, „so wie sie im ersten Anlauf konstruiert worden ist, nicht funktionsfähig ist.“34

2.3 Das Fehlen intermediärer Vermittlungsstrukturen Selbst wenn die Nicht-Existenz eines europäischen Volks sowie der Mangel an rela‐ tiver Homogenität nicht als absolute Hindernisse für die Demokratisierung der EU angesehen werden, so stellt doch der Mangel an intermediären Vermittlungsstruktu‐ 30 31 32 33 34

Heller 1932, S. 428. Fraenkel 1968, S. 46. Bryde 1994. So schon Scharpf 1999, S. 9. Kielmansegg 2016, S. 42.

321

ren ein objektives Problem dar. Europäische Medien, europäische Parteien, Verbän‐ de und Bürgerbewegungen existieren nicht in einem Maße, dass sie eine europäische Demokratie zu tragen vermögen. Sie sind es, die in einer funktionsfähigen national‐ staatlichen Demokratie die Aufgabe haben, unterschiedliche politische, wirtschaftli‐ che und soziale Interessen in der Gesellschaft zu integrieren. Sie leisten dies, indem sie den Raum zwischen der Gesellschaft einerseits und den legislativen und exekuti‐ ven Entscheidungsinstanzen andererseits strukturieren und zwischen diesen beiden Ebenen vermitteln. Zur demokratischen Infrastruktur gehört daher die Möglichkeit gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und der organisierten Interessenvertre‐ tung.35 Ohne diese Vermittlungsinstanzen ist legitimes (demokratisches) Regieren kaum möglich. Wolfgang Merkel hat das zugrunde liegende Problem auf den Punkt gebracht: „Wo aber ein Parlament nicht auf einer solchen Struktur beruht, welche die beständige wechselseitige Verbindung zwischen Volk und Staat, Regierten und Re‐ gierenden sichert, bestehen zwar demokratische Formen, doch fehlt ihnen die demo‐ kratische Substanz.“36 Für Kielmansegg sind es insbesondere die Massenmedien, die, weil „national‐ staatlich organisiert und notwendig auf Sprachgemeinschaften ausgerichtet“37, jene Vermittlungsleistungen nicht zu erbringen vermögen. Ein von den Massenmedien getragener europaweiter Diskurs findet nicht statt, so dass sich eine Europäisierung der öffentlichen Meinung oder gar eine europäische Öffentlichkeit nicht entwickeln kann. Hierfür sind die „Trägheitsmomente“38 zu groß. Politische Parteien können diese Vermittlungsleistungen nur schwer erbringen, weil sie von der Wählerschaft nicht als europäische Parteien wahrgenommen werden. Noch immer folgen die poli‐ tischen Parteien den Imperativen der im nationalen Rahmen bestehenden Konfliktli‐ nien, weil sich ihr organisatorischer Unterbau und ihre Wählerschaft innerhalb der Mitgliedstaaten konstituiert. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass Euro‐ pawahlen für die Bürger eine nachrangige Bedeutung haben und eher durch auf na‐ tionaler Ebene angesiedelte innenpolitische Konflikte und weniger durch die Ein‐ stellung der Bevölkerung zu europapolitischen Themen bestimmt werden. Wie schon in den 90er Jahren in vielen Studien empirisch belegt wurde, nutzen die europäischen Wähler Europawahlen zumeist, um ihren nationalen Regierungen Zu‐ stimmung oder Protest für ihre nationale Politik zu signalisieren.39 Nichts deutet da‐ rauf hin, dass sich dies bis heute geändert haben könnte. Ein letztes kommt hinzu: Staaten können kaum die demokratischen Vermittlungs‐ instanzen für andere Staaten sein. Dieses Problem wird immer dann sichtbar, wenn das noch immer wichtigste Gesetzgebungsorgan der EU, der Ministerrat, mit qualifi‐ 35 36 37 38 39

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Vgl. nur BVerfGE 44, S. 125 (S. 139 f.). Merkel 1996. Kielmansegg 2015, S. 69. Gerhards 1993, S. 100. Vgl. nur m. w. N. Höreth 1999, S. 60.

zierter Mehrheit entscheidet: „Mehrheitsentscheidung im Ministerrat heißt ja: Eine Mehrheit von Staaten verfügt über eine Minderheit von Staaten – Staaten können aber nicht für andere Staaten Gremien der EU demokratische Legitimität übertra‐ gen.“40 Unter diesen Bedingungen bleibt die demokratische Legitimation europäi‐ scher Politik eine knappe Ressource. Für die Vermittlung, d.h. konkret: die Diskussi‐ on, Erklärung und Rechtfertigung europäischer Politik sind nach wie vor national ausgerichtete Medien, Parteien und Verbände unverzichtbar – und es sind die natio‐ nalen und subnationalen Verfassungs- und Verwaltungsorgane, die die Inhalte euro‐ päischer Politik in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten überführen und für ihr diesbezügliches Handeln juristisch und politisch auch zur Verantwortung gezogen werden (können).

3. Wie demokratisch kann die EU sein? Konzepte politischer Einheitsbildung Beim Nachdenken darüber41, wie es mit der EU weitergehen soll, stellt ihre man‐ gelnde Demokratiefähigkeit eine schwere Hypothek dar. Manche Autoren meinen, die EU müsse sich darauf konzentrieren, „gute Ergebnisse“ in einer reduzierten An‐ zahl von Politikfeldern zu präsentieren. Sie setzen auf der policy-Ebene an, denn sollte die EU eine bessere Politik machen, dann stiege auch ihre Anerkennung. An‐ dere mahnen an, die politischen Akteure müssten anders miteinander umgehen – entweder stärker nach Konkordanz und Konsens streben, oder aber sich untereinan‐ der einem intensiveren Wettbewerb unterziehen, damit sich für die europäische Bür‐ gerschaft sichtbar die beste Lösung am Ende durchsetzen möge (politics-Dimensi‐ on). Einer dritten Gruppe, die an der polity-Dimension ansetzt, reicht dies nicht mehr aus, denn sie will, dass sich die EU neu konstituiert, konsequent Abschied nimmt von fehlgeleiteten Pfaden der Vergangenheit, und einen Sprung nach vorne wagt. Brendan Simms/Benjamin Zeeb, Claus Offe und Ulrike Guérot stehen stell‐ vertretend für diese letztgenannte Gruppe.42 Ihre Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU-Polity müssen sich aber daran messen lassen, wie sie mit dem Problem der mangelnden Demokratiefähigkeit der EU umgehen.

3.1 Vereinigte Staaten von Europa? Brendan Simms und Benjamin Zeeb postulieren, dass sich die EU zu einer Art „Ver‐ einigte Staaten von Europa“ entwickeln müsste, aber ohne Großbritannien. Vorge‐ 40 Kielmansegg 2015, S. 64. 41 Vgl. zum Folgenden bereits Höreth 2017. 42 Simms/Zeeb 2016; Offe, 2016; Guérot, 2016.

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schlagen wird ein europäischer Bundesstaat mit einem direkt gewählten europä‐ ischen Präsidenten (wie in den USA, aber ohne Wahlkollegium) und einem Parla‐ ment mit zwei Kammern: einer „Bürgerkammer“ und einem „Senat“. Geradezu auf einem Schlag ließe sich so eine Reihe von fundamentalen Problemen lösen: „Eine solche politische Struktur […] würde die Ressourcen der gesamten Eurozone, ins‐ besondere das Potenzial Deutschlands, bündeln und für gemeinsame Projekte mobilisie‐ ren. Die Unionsbonds würden zu einem Ende der Eurokrise führen, indem sie tragfähige Gemeinschaftsanleihen schaffen, hinter denen die produktive Kraft der gesamten Union steht […]. Eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Militärstreitmacht wür‐ den Russland im Zaum halten können.“43

Das zentrale Motiv der beiden Autoren scheint die Domestizierung Deutschlands zu sein: „Durch die Einbettung Deutschlands in einen größeren Rahmen, die sein Po‐ tenzial für das Wohl des Ganzen besser nutzbar macht, würde eine politische Union der Eurozone nach anglo-amerikanischem Muster auch die einzige Möglichkeit der Verhinderung einer strukturellen Dominanz Deutschlands darstellen.“44 In diesem europäischen Bundesstaat soll es zu ökonomischer Umverteilung im großen Stil kommen – und zwar offensichtlich primär durch vertikalen Finanzausgleich, organi‐ siert über den Unionshaushalt.45 Der Verweis auf das „anglo-amerikanische“ Vorbild, das Europa nur übernehmen müsste, erscheint unhistorisch. Auch die USA sind nicht über Nacht zu dem gewor‐ den was sie heute sind, nämlich ein voll ausgebildeter Bundesstaat – um das zu er‐ kennen, braucht man nur auf den Bürgerkrieg und die jahrhundertelange, föderal be‐ dingte Ungleichverteilung von Grund- und Menschenrechten verweisen, der durch die Verfassung gerade nicht verhindert werden konnte. Auch in den USA stand zu Anfang ein in die Zukunft gerichtetes Integrationsprogramm, niedergeschrieben in der Präambel der Verfassung selbst und adressiert an die zukünftigen Träger politi‐ scher Verantwortung: „(…) to form a more perfect Union“. Mit der Inkraftsetzung der Verfassung im 18. Jahrhundert war es also noch lange nicht getan.46 Alleine die Etablierung eines US-Binnenmarktes ohne nicht-tarifäre Handelshemmnisse dauerte viele Jahrzehnte, vorangetrieben durch den regulierenden Kongress und den recht‐ sprechenden US Supreme Court. Europa war auf diesem Feld – vor allem durch die expansive Judikatur des EuGH – effizienter, schneller und in gewisser Weise sogar erfolgreicher als die USA, ohne dem Stadium „echter“ Verfassungsstaatlichkeit je nahe gekommen zu sein.47 Problematisch in diesem Konzept ist aber vor allem die Rolle, die die nationalen Demokratien in ihm spielen sollen. Zwar insistieren beide

43 44 45 46 47

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Simms/Zeeb 2016, S. 83. Simms/Zeeb 2016, S. 83. Simms/Zeeb 2016, S. 84. So aber Simms/Zeeb 2016, S. 57. Höreth 2008.

darauf, dass es keine „Option“ sei, „die nationale Demokratie abzuschaffen […], so‐ lange es keine Institutionen gibt, die als funktionelles Äquivalent an ihre Stelle tre‐ ten können.“48 Auch erkennen sie an, dass es keine die nationalen Identitäten tran‐ szendierende und durch gemeinschaftliche Identität zusammengehaltene kosmopoli‐ tische Bürgergesellschaft in Europa gibt, wie sie Intellektuellen wie Jürgen Haber‐ mas und Robert Menasse vorschwebt.49 Wie aber kann dann der Sprung zu den Ver‐ einigten Staaten Europas gelingen? Man müsse, so die beiden Autoren, „hinarbeiten auf einen wohl vorbereiteten, konzentrierten Augenblick einer ‚parlamenta‐ rischen Verschmelzung‘, die das Fortbestehen der Repräsentation sicherstellt und garan‐ tiert, dass die demokratische Verantwortung […] aufrechterhalten wird. […] Mit anderen Worten, wir brauchen gleichzeitige Volksabstimmungen in allen Mitgliedstaaten und Re‐ gionen der Eurozone, durch die entschieden wird, ob ein Land oder eine Region sich der neuen föderalen Union anschließt. Diese neue Union wird sich in jenem Augenblick kon‐ stituieren, in dem sich zwei oder mehr politische Einheiten für den Beitritt entschei‐ den.“50

Um „die Notwendigkeit einer solchen neuen Union“ zu vermitteln, sei es „von her‐ ausragender Bedeutung, all jene zu ermuntern und zu mobilisieren, die sich bereits für das Projekt einer Föderalisierung von Euroland engagieren.“51 Dabei wird einge‐ räumt, dass selbst die europäischen Föderalisten in zentralen Fragen zur Architektur Europas uneins sind. Und auch die nationalen Regierungen – so erkennen die beiden Autoren klarsichtig – werden den „Prozess der Föderalisierung“ kaum anstoßen wol‐ len, schon weil sie dadurch „zu staatlichen Administrationen“ herabsinken würden, „die dem souveränen Unionsparlament unterstehen und ihm als Exekutive verant‐ wortlich sind.“52 Wer aber soll dann beim revolutionären Projekt helfen, den europä‐ ischen Nationalstaat abzuschaffen und wie könnte das ganze Unternehmen demokra‐ tisch legitimiert sein? Es brauche schon „eine proto-föderalistische Bewegung“, de‐ ren „vordringlichste Aufgabe“ die Erzeugung „beträchtlichen öffentlichen Drucks“ sei, um die Menschen davon zu überzeugen, dass zum Beispiel die „Schwächung der nationalen Bürokratie“ ein adäquates Mittel gegen Vetternwirtschaft sei, weil sich die in der Folge etablierende europäische „zentrale Verwaltung“ als geeigneter er‐ weisen wird, „korrupte Elemente aus der Politik fern zu halten.“53 Zugleich soll die‐ se föderalistische Bewegung – unter Einbeziehung der bekanntesten Gelehrten, Poli‐ tiker und Intellektuellen des Kontinents – eine neue Verfassung ausarbeiten und sich dabei an den Federalist Papers orientieren.54 Am Ende dieses Prozesses stünde ein 48 49 50 51 52 53 54

Simms/Zeeb 2016, S. 104. Vgl. Habermas 2012; Menasse 2012. Simms/Zeeb 2016, S. 104. Simms/Zeeb 2016, S. 110. Simms/Zeeb 2016, S. 120. Simms/Zeeb 2016, S. 123. Simms/Zeeb 2016, S. 126.

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Bundesstaat, den die Autoren auf den Namen „Demokratische Union“ 55 taufen – ein „machtvolles Weltreich neben seinen britischen und amerikanischen Verbündeten.“56 Warum die beiden Autoren dieses Konzept für besonders realitätsnah und ohne wei‐ teres für umsetzbar halten57, bleibt rätselhaft.

3.2 Europa als Republik? Ulrike Guérots „Utopie“ einer europäischen Republik fordert nicht weniger, sondern mehr Europa. Nur: Das neue Europa soll ganz anders sein als das alte. Im Grund will sie eine alte europäische Idee auf neuem Wege realisieren, nämlich die Über‐ windung der Nationalstaaten. Das Gebilde, dem dies gelingen soll, ist die Repu‐ blik.58 Sie fragt, ob man sich Europa nicht als Republik vorstellen könne, als eine politische Einheit, die dem Gemeinwohl dient. Das klingt gut, aber: Wo anders als im Rahmen des klassischen Nationalstaates kann denn Republik gelingen? Voraus‐ setzung für eine über das Nationale hinausweisende Republik wäre eine kollektiv belastbare Identität der Europäer als Europäer – solche kollektiven Identitäten haben sich bisher jedoch nur im Rahmen von Nationalstaaten gebildet. Auch in Guérots Republik müsste hierfür extrem viel umverteilt werden, gerade weil das „Wohl‐ standsgefälle in der EU dramatisch gewachsen“59 ist. Es müsste ubiquitär das Soli‐ daritätsprinzip gelten, also ein Prinzip, das sich nicht unmittelbar demokratisch be‐ gründet, sondern republikanisch: die Starken müssten den Schwachen helfen, Trans‐ fers von reichen Regionen zu den armen Regionen Europas müssten organisiert wer‐ den, damit eine Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse hergestellt werden kann (ähnlich wie beim Länderfinanzausgleich in der Bundesrepublik), den Gutverdienen‐ den und Reichen Nord- und Mitteleuropas müssten hohe europäische Steuern abver‐ langt werden, damit den Schlechtverdienenden und Armen der südlichen Peripherie republikanisch geforderte Sozialleistungen zugutekommen könnten. Und all das soll funktionieren ohne kollektiv belastbare Identität, wie sie – historisch gewachsen – nur in Nationalstaaten existiert? Ein schöner Gedanke, doch die Utopie der europä‐ ischen Republik ist problematisch. Die Republik als „Freistaat“ muss sich nach mo‐ dernem Verständnis – verkürzt ausgedrückt – durch folgende vier Faktoren auszeich‐ nen, die im demokratischen, sozialen und föderalen Verfassungsstaat quasi als „ma‐ gisches Viereck der Republik“ miteinander verwoben sind:60

55 56 57 58 59 60

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Simms/Zeeb 2016, S. 128. Simms/Zeeb 2016, S. 129. Simms/Zeeb 2016, S. 109. Guérot 2016, S. 84 ff. Kielmansegg 2015. S. 58. Vgl. Höreth 2016.









Freiheit des Volkes zur Bildung der eigenen Regierung im Sinne kollektiver Selbstbestimmung (positive Freiheit). Das ist nur im Rahmen einer Demokratie möglich. Freiheit des Volkes – und des Individuums – vor staatlicher Bevormundung (ne‐ gative Freiheit). Das ist nur im Rahmen des Rechtstaats möglich, der die Auto‐ nomie des Individuums schützt und nicht zur Disposition des Gesetzgebers stellt. Um die Freiheit des Individuums bestmöglich zu schützen, braucht es – so be‐ gründet in den Federalist Papers – neben der horizontalen Gewaltenteilung eine vertikale Teilung der staatlichen Gewalten, wie sie nur ein Bundesstaat erreichen kann. Der Staat muss den Individuen nicht nur formal Abwehrrechte gegen den Staat zugestehen, sondern sie auch materiell dazu befähigen, Grundrechte auch tat‐ sächlich ausüben zu können. Daher wird die Gestaltung der sozialen Verhältnisse inklusive einer Politik des sozialen Ausgleichs zur zentralen republikanischen Staatsaufgabe. Das ist nur im Sozial- und Wohlfahrtsstaat möglich.

In diesem Sinne müsste eine europäische Republik gleichermaßen gekennzeichnet sein durch Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bundesstaatlichkeit und schließlich So‐ zialstaatlichkeit. Nun mag man Demokratie, verstanden als eine auf dem Mehrheits‐ prinzip basierende Wettbewerbsdemokratie oder eine auf Konkordanz beruhende Konsensdemokratie, im europäischen Rahmen prinzipiell für möglich erachten. Ulri‐ ke Guérot tendiert offensichtlich zu einem politischen System nach US-amerikani‐ schem Vorbild ähnlich wie Simms/Zeeb. Sie präferiert eine Direktwahl des Kommis‐ sionspräsidenten, verwirklicht im Rahmen eines präsidentiellen Regierungssystems mit klassischem Zweikammersystem.61 Bundes- und Rechtsstaatlichkeit dürften im Rahmen der europäischen Republik – technisch – keine unüberwindbaren Probleme darstellen, obwohl schon die heutige Rechtsgemeinschaft brüchig ist, da die EU „in der Krise der Währungsunion den Weg der Relativierung des Rechts eingeschlagen“ hat.62 Die kaum überwindbar erscheinenden Probleme für die Republik liegen woan‐ ders: Sozial- und Wohlfahrtsstaatlichkeit ist auf europäischer Ebene kaum realisier‐ bar, da sie eine Umverteilungsbereitschaft der Besitzenden voraussetzt, die noch nicht einmal im nationalen Rahmen immer unterstellt werden kann. Wie die idiosyn‐ kratischen Sozialsysteme der heutigen Mitgliedstaaten in einen einheitlich wirken‐ den europäischen Wohlfahrtsstaat einmünden könnten, bleibt ein unlösbares Rätsel. Vor allem wird ein Spannungsverhältnis zwischen – auf nationaler Ebene organisier‐ ter – Sozialstaatlichkeit und (postnationaler) Demokratie deutlich, da den Bewoh‐ nern der reicheren Regionen demokratisch nur schwer vermittelbar sein wird, warum sie für Ausgleichszahlungen an ärmere Regionen zur Kasse gebeten werden sollen. 61 Guérot, 2016, S. 121 f. 62 Kielmansegg 2015, S. 28.

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Ein solcher horizontaler Länder- bzw. „Regionen“-Ausgleich ist jedenfalls dann de‐ mokratisch kaum mehr legitimierbar, wenn die unterschiedliche wirtschafts- und fi‐ nanzpolitische Leistungskraft der Regionen auf ebenso unterschiedlicher Leis‐ tungsbereitschaft und Leistungsfähigkeit basiert und auch sonst nicht durch eine übergreifende kollektiv belastbare Identität der Europäer als Europäer unterfüttert wird.

3.3 Die EU als supranationale Demokratie Etwas vorsichtiger präsentiert Claus Offe sein Konzept politischer Einheitsbildung für Europa, wenngleich auch seine Vorschläge, zu Ende gedacht, radikal sind. Auch er plädiert wie Simms/Zeeb und Guérot für den Sprung nach vorne, d.h. für eine er‐ hebliche Vertiefung der europäischen Integration. Zwar fordert Offe weder die euro‐ päische Republik, noch die Vereinigten Staaten von Europa, doch das von ihm pos‐ tulierte europäische Programm massiver Umverteilung und expansiver Sozialpolitik könnte, will man das auch von ihm konstatierte Demokratiedefizit nicht länger ertra‐ gen, ebenfalls nur im Rahmen eines voll ausgebauten, demokratischen Bundesstaa‐ tes organisiert werden. Das sagt er jedoch nicht offen. Bei ihm heißt es lediglich, die EU müsste in eine „supranationale Demokratie verwandelt werden, samt allen dazu‐ gehörigen Mechanismen der territorialen und funktionalen Repräsentation, einer vollwertigen gewählten Legislative und kontrollierbaren supranationalen Regie‐ rungsbehörden.“63 Offe belässt es hier beim Ungefähren, wogegen er auf policyEbene konkreter wird. Er verlangt auf den Feldern der Steuer- und Sozialpolitik eine massive, redistributive europaweite Politikanstrengung, eine „Umverteilung zwi‐ schen Staaten, Klassen und Generationen“.64 Offe erwartet aufgrund der dann eintre‐ tenden Verbesserung der sozialen Sicherheit sowie der Gesundheits- und Bildungs‐ politik, dass sich die Legitimität für die EU insgesamt spürbar erhöhte. Natürlich weiß Offe, dass auch ein solcher Ansatz mit einem massiven Demokratiedefizit ver‐ bunden wäre, zumindest für jene „haves“, die von einer solchen, technokratisch or‐ ganisierten Umverteilung nicht unmittelbar profitieren würden, sondern im Gegen‐ teil eher unter ihr leiden müssten. Auch im europäischen Rahmen lässt sich „Umver‐ teilung“ kaum so organisieren, dass man den einen gibt, ohne dass man den anderen zuvor etwas abnehmen müsste. Jede Politik, gerade wenn sie auf Umverteilung zielt, erzeugt Gewinner und Verlierer. Bei Offes Ausführungen bleibt unklar, wie eine eu‐ ropäische Umverteilungspolitik ohne die in den repräsentativen Organen einer EUweiten Demokratie vermittelten Interessen der Verlierer in deren Augen Anerken‐ nungswürdigkeit besitzen sollte. Hier müssten sich die fehlenden Voraussetzungen 63 Offe 2016, S. 164. 64 Offe 2016, S. 166.

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einer supranational organisierten Demokratie besonders negativ auswirken: Solange eine robuste kollektive Identität der Europäer als Europäer nicht existiert, die eine solidarische Beziehung zwischen Reichen und Armen, Besitzenden und Besitzlosen, Norden und Süden, generiert, wird eine so verstandene output-Orientierung seitens derjenigen Bürger, Regionen und Staaten, die einseitig zur Kasse gebeten werden müssten, kaum akzeptiert werden können. Insbesondere gilt das, wenn sie noch nicht einmal die Chance besitzen, im Rahmen geeigneter input-Mechanismen für eine Korrektur dieser einseitig auf ihre Lasten gehenden Politik zu streiten. Massive Um‐ verteilungspolitik setzt also eine funktionsfähige europäische Demokratie voraus – und nicht umgekehrt, wie Offe insinuiert.

4. Kritische Würdigung Der Durchgang durch einige Konzepte politischer Einheitsbildung Europas zeigt, das überzeugende Lösungen zur Legitimitätsfrage nicht existieren. Möglicherweise ist dies darauf zurückzuführen, dass man die Komplexität des Problems jahrzehnte‐ lang verkannt hat. Lange hat man geglaubt, „dass die EU auf Dauer ohne direkte In‐ put-Legitimation funktionieren würde“65 – zumal sie ja im Vergleich zu den Natio‐ nalstaaten eine überlegene „deliberative“ Qualität besitze.66 Es sollte aber nicht un‐ terschlagen werden, dass nicht alle diese Sichtweise teilten. Bereits in den 90ern gab es kritische Stimmen – Peter Graf Kielmansegg war einer der wichtigsten Mahner seinerzeit und ist es bis heute.67 Er machte wie kaum ein Zweiter darauf aufmerk‐ sam, dass die EU in Ermangelung robuster eigener demokratischer Inputmechanis‐ men und Legitimationsressourcen auf demokratisch intakte Mitgliedstaaten ange‐ wiesen ist. Zwar ist dies nur ein indirekt wirkender Legitimationsstrang europäischer Politik, er ist und bleibt jedoch von zentraler Bedeutung, wie auch das Bundesver‐ fassungsgericht in seiner berühmten Maastricht-Entscheidung festgestellt hat.68 Möglicherweise steckt die EU nach wie vor in einem „Legitimationstrilemma“.69 Dieses Theorem geht davon aus, dass sich die Legitimation europäischer Politik aus drei Quellen speist. Neben der auf europäischer Ebene ansetzenden demokratischen Legitimation durch das Europäische Parlament (input) wird die Legitimität der EUPolity durch ihre Fähigkeit sichergestellt, politische Probleme zu lösen, die von den Nationalstaaten nicht (mehr) alleine gelöst werden können (output). Drittens wird die Legitimation des Regierens im europäischen Mehrebenensystem indirekt durch die Mitgliedstaaten und ihre Parlamente eingespeist. Die Legitimität der EU-Politi‐ 65 66 67 68 69

Guérot 2016, S. 28. Vgl. nur Neyer 2009. Vgl. nur Kielmansegg 1996. BVerfGE 89, S. 155. Höreth 1999.

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ken bleibt daher letztlich angewiesen auf demokratisch intakte Mitgliedstaaten, in denen die Ergebnisse europäischer Politik durch die dortigen Institutionen vermittelt und umgesetzt, in der Landessprache diskutiert, und letztlich durch nationale politi‐ sche Akteure auch verantwortet werden können. Die Bedeutung der Mitgliedstaaten im europäischen Staatenverbund ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass auf ihrer Ebe‐ ne die der EU fehlenden Demokratievoraussetzungen gegeben sind. Das Legitimati‐ onstrilemma wirkt sich nun dahingehend aus, dass die Stärkung einer der drei Legi‐ timationsstränge auf Kosten einer der beiden anderen Stränge geht, so dass die Legi‐ timität des europäischen Regierens in der Summe nicht erhöht werden kann. Die Su‐ che nach Reformen, die die Legitimität des europäischen Mehrebenensystems erhö‐ hen sollen, erscheint dann als ein Nullsummenspiel, weil sich die mehrdimensionale Legitimitätsproblematik gewissermaßen nur verschieben, indessen in der Summe nicht reduzieren lässt. Ein stärker nach Effizienzgesichtspunkten gestaltetes institu‐ tionelles Arrangement verletzt tendenziell demokratische Standards, wie sie in den Mitgliedstaaten üblich und vertraut sind – das ist z.B. eine Erkenntnis, die sich aus der bisherigen Eurorettungspolitik ziehen lässt, die die EU-Politik technokratischer, aber sicher nicht demokratischer gemacht hat. Die formale Aufhebung zahlreicher Demokratie-Mängel auf europäischer Ebene hingegen kann auf Kosten der Entschei‐ dungseffizienz und Handlungsfähigkeit der Union gehen. Wie handlungsfähig wäre denn eine EU, die konsequent nach dem Muster parlamentarischer oder präsidentiel‐ ler Regierungssysteme organisiert wäre? Zudem bleibt, wie hier gezeigt werden konnte, zweifelhaft, ob die EU aufgrund fehlender struktureller Voraussetzungen überhaupt Demokratiefähigkeit besitzt. Fordert man ausgehend von dieser Annahme aus nationaler Perspektive die stärkere Einbeziehung der mitgliedstaatlichen Parla‐ mente an der europäischen Entscheidungsfindung und -kontrolle oder gar die Rück‐ kehr zu einem intergouvernementalen Staatensystem, das auf Einstimmigkeit setzt, ginge auch dies zweifellos auf Kosten der Effizienz der Entscheidungsverfahren und damit der Problemlösungsfähigkeit. Alle hier diskutierten Autoren setzen weder auf Effizienzsteigerung noch Re-Nationalisierung der EU, sondern auf Demokratisie‐ rung auf europäischer Ebene, übersehen dabei aber das Problem der Demokratiefä‐ higkeit, die indessen nur in den Mitgliedstaaten als gegeben unterstellt werden kann.

5. Fazit Graf Kielmansegg gehört einer gerade in Deutschland recht selten anzutreffenden Spezies von Integrationswissenschaftlern an, die die hier geschilderten Probleme einer Demokratisierung Europas schon vor über einem Vierteljahrhundert erkannt hat. Er ist ein skeptischer Pro-Europäer, der bei aller Kritik die europäische „Staa‐ tenföderation“ als „eine der kreativsten politischen Leistungen“ der jüngeren Ge‐

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schichte“70 wertet. Ihn unterscheidet von den „Integrationsenthusiasten“71 jedoch der realistische und erfahrungsgesättigte Blick auf Europa, er weiß als Historiker eben um „das Gewicht der Geschichte, das Europa in den Knochen steckt“72 oder anders formuliert: er weiß um den Voraussetzungsreichtum der Demokratie; anderer‐ seits unterscheidet er sich von den europaskeptischen „Nationalisten“ durch seine Offenheit und sein Wohlwollen gegenüber Europa. Er ist – wie er selber betont – „keineswegs in überholten nationalstaatlichen Vorstellungen befangen“73, aber er weiß als Historiker eben genau, dass kollektive Identitäten historische Phänomene sind, deren Herausbildung Zeit braucht. Kielmansegg bezweifelt daher, „dass sich in der überschaubaren Zukunft bei den Völkern der Europäischen Gemein‐ schaft ein Bewusstsein gemeinsamer Identität entwickeln wird, das stark genug ist, eine europäische Demokratie wirklich zu tragen. Wir haben es beim Aufbau der europäischen Institutionen einerseits und bei der ‚Europäisierung des Bewusstseins‘ andererseits mit zwei ganz verschiedenen, nicht synchronisierbaren historischen Geschwindigkeiten zu tun. Die Europapolitik mit ihrem aktivistischen, konstruktivistischen Impetus will das oft nicht wahrhaben. Aber es ist so.“74

Die Ermöglichungsbedingungen für eine europäische Demokratie existieren nach wie vor nicht. Kielmanseggs Zeit seines akademischen Lebens unternommenen Be‐ mühungen, den demokratischen Verfassungsstaat als eine voraussetzungsreiche Her‐ vorbringung der gesamten europäischen Geschichte zu verstehen und stets in Erin‐ nerung zu rufen, sind gewiss konstitutive Beiträge zur intellektuellen (Neu-)Grün‐ dung Europas. Über sie hinweg zu gehen wäre ein unverzeihlicher Fehler beim Wei‐ terbau an einem Vereinten Europa.

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Kielmansegg 2015, S. 7. Kielmansegg 2016, S. 41. So die schöne Formulierung des Herausgebers. Kielmansegg 2015, S. 67. Kielmansegg 2015, S. 68.

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Felix Wassermann Salus ubi multi consiliarii. Über Heilsversprechen der Politikberatung

Peter Graf Kielmansegg würde sich selbst wohl nicht als Politikberater bezeichnen. Gleichwohl hat er die Politikwissenschaft immer „irgendwie“ als eine praktische Wissenschaft verstanden und „irgendwie“ als eine beratende Disziplin betrieben. Um dieses „Irgendwie“ soll es hier gehen. Denn es ist Kielmanseggs eigenes The‐ ma.1 In seinem wissenschaftlichen und publizistischen Werk erkundet er immer wie‐ der die Bedingungen und Möglichkeiten politischer und gesellschaftlicher Beratung durch Wissenschaft im Allgemeinen und Politikwissenschaft im Besonderen, ihre Chancen, Risiken und Nebenwirkungen, und durch sein wissenschaftspolitisches und ehrenamtliches Wirken in herausgehobenen Ämtern prägt er seit Langem das Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit in Deutschland maßgeblich mit. Ist Kielmansegg womöglich doch ein Politikberater? Im Jahr 2003 inspirierte Kielmansegg, noch bevor er das Präsidentenamt an der Heidelberger Akademie der Wissenschaften übernahm, ebendort eine Konferenz zum Thema „Politikberatung in der Demokratie“, bei der sich die sieben Länderaka‐ demien in Berlin, Düsseldorf, Göttingen, Heidelberg, Leipzig, Mainz und München sowie die Leopoldina über ihre gesellschaftliche Rolle verständigten.2 Von 2004 bis 2007 war er stellvertretender Sprecher einer interdisziplinären Arbeitsgruppe an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, die es sich zur Aufga‐ be machte, „Leitlinien guter wissenschaftlicher Politikberatung“ für die „Wissen‐ schaftliche Politikberatung in der Demokratie“ zu erarbeiten.3 Seither kam Kielman‐ segg wiederholt in Vorträgen und Reden auf dieses Thema zurück, so 2009 anläss‐ lich des 250. Jubiläums der Bayerischen Akademie der Wissenschaften unter der Überschrift „Möglichkeiten und Grenzen der Politikberatung in Deutschland“4 und 2011 anlässlich der Festveranstaltung der Deutschen Akademie der Technikwis‐ senschaften acatech unter dem schönen Titel: „Raten und Entscheiden – Warum das Einfache schwierig ist“.5 Dass das Einfache schwierig ist, liegt bei Kielmansegg nicht daran, dass hier ein Denker Schwierigkeiten damit hätte, das Schwierige zu durchdenken und einfach 1 Vgl. zuletzt Kielmansegg 2016a. 2 Die Vorträge der Konferenz sind veröffentlicht in: Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) 2006; siehe darin insbesondere: Kielmansegg 2006. 3 Der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) 2008. 4 Kielmansegg 2010. 5 Kielmansegg 2011.

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darzulegen. Im Gegenteil: Kielmansegg gelingt es, komplizierte Zusammenhänge in einfachen Worten verständlich zu machen – ohne unverständlichen Fachjargon ei‐ nerseits und ohne falschverstandene Vereinfachung andererseits. Das betrifft nicht zuletzt das Thema der wissenschaftlichen Politikberatung und in diesem Zusammen‐ hang die Frage, welche Schwierigkeiten im Verhältnis zwischen wissenschaftlichem Rat und politischer Entscheidung auftreten und wie mit ihnen umgegangen werden kann. Kielmansegg, der sich theoretisch und praktisch eingehend hiermit beschäftigt hat, durchschaut die unterschiedlichen Systemlogiken der Wissenschaft und der de‐ mokratischen Politik: Die Vertreter der Wissenschaft orientieren sich (idealerweise) an der Wahrheit, die Protagonisten der demokratischen Politik hingegen fühlen sich (idealerweise) dem Gemeinwohl oder zumindest der Mehrheit verpflichtet. Hieraus ergeben sich kommunikative, legitimatorische und organisatorische Spannungen vielfältiger Art, die zusätzlich verkompliziert werden dadurch, dass die Massenme‐ dien über das politisch und gesellschaftlich Beratene berichten und sich dabei an einer weiteren Logik orientieren, derjenigen der Auflagen- und Zuschauerzahlen. Die Spannungen zwischen diesen drei Logiken der Wissenschaft, der Politik und der Medienöffentlichkeit machen die Politikberatung zu solch einem „schwierigen“ Un‐ terfangen. Kielmansegg meistert dieses Unterfangen souverän, gestützt auf seine, auch juristisch und historisch fundierte, Kenntnis unterschiedlicher institutioneller Arrangements, mit denen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten das Problem der Politikberatung angegangen wurde – mit mehr oder weniger großem Erfolg. Angesichts der souveränen „Einfachheit“ des Kielmanseggschen Umgangs mit den „Schwierigkeiten“ wissenschaftlicher Politikberatung kann es hier nicht darum gehen, die von Kielmansegg bereits feinsinnig entworrene Komplexität des Sujets erneut zu verwickeln, nur um einen weiteren Vor- und Ratschlag zu seiner neuerli‐ chen Entwicklung zu formulieren. Stattdessen soll Kielmanseggs PolitikberatungsFaden, der sein Werk und Wirken durchzieht, unter einem besonderen Gesichtspunkt aufgenommen und weitergesponnen werden, ganz so, wie das anlässlich seines 65. Geburtstags im Jahr 2002 bereits Wilhelm Hennis, Hermann Lübbe, Klaus Schönho‐ ven und Martin Thunert in ihren jeweiligen Festschrift-Beiträgen unternahmen, in denen sie allesamt spezifische Aspekte der Kielmanseggschen Politikberatung zum Ausgangspunkt ihrer weiterführenden Überlegungen nahmen.6 Der Gesichts- und Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die Heilsamkeit der Politikberatung: Um welches bzw. wessen Heil geht es den Politikberatern eigentlich? Diese Frage nach der Heilsamkeit der Politikberatung bietet sich deswegen an, weil sie, wo sie überhaupt gestellt wird, oft schon als beantwortet gilt: Politikberater mehren das Heil im Sinne des Wohls der Adressaten. Diese Annahme, die zuweilen 6 Zittel/Kaiser (Hrsg.) 2004; siehe darin: Hennis 2004, Lübbe 2004, Schönhoven 2004 sowie Thu‐ nert 2004.

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die Form eines Heilsversprechens der wissenschaftlichen Politikberatung annehmen kann, durchzieht gerade den jüngeren sozialwissenschaftlichen Beratungsdiskurs und findet nicht zuletzt in den „Leitlinien Politikberatung“ der Berlin-Brandenburgi‐ schen Akademie der Wissenschaften ihren Niederschlag (1. Kapitel). Wenn Skepsis gegenüber Heilsversprechen in der Politik eine Tugend ist, so ist sie es wohl auch in diesem Fall: Haben nicht zuweilen die Politikberater, unter ihnen die wissenschaftli‐ chen Experten, die im Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Zuwendung stehen, ne‐ benbei oder vorrangig ihr eigenes „Heil“ im Blick, und könnten sie nicht versucht sein, sich selbst durch die Beratung Bedeutsamkeit – statt ihren Ratschlägen im Sin‐ ne der Beratenen Heilsamkeit – zu verleihen? (2. Kapitel) Angesichts dieser Be‐ fürchtung, die auch Kielmansegg umtreibt, ist zu fragen, wie und wo die wissen‐ schaftliche Politikberatung in einer von Aufmerksamkeits- und Bedeutsamkeitsim‐ perativen geprägten Öffentlichkeit ihre Heilsamkeit im Sinne der Gemeinwohlför‐ derlichkeit entfalten kann. Kielmanseggs Antwort auf diese Frage nach dem „Ir‐ gendwie“ der Politikberatung kreist um die wissenschaftliche Akademie – und macht verständlich, warum Peter Graf Kielmansegg kein Politikberater sein möchte, und inwiefern er doch einer ist (3. Kapitel).

1. Salus ubi multi consiliarii: Das Heil der Politikberatung „Wo viele Berater sind, da ist Heil.“ – Wie ein Leitspruch überschreibt das Sprich‐ wort die ausufernde sozialwissenschaftliche Diskussion über die wissenschaftliche Politikberatung. Die Erforscher der Politikberatung, darunter Wissens- und Wissen‐ schaftssoziologen, Demokratietheoretiker und Analysten einzelner Politikfelder, ge‐ hen zumeist davon aus, dass in den Wissensgesellschaften des 20. und 21. Jahrhun‐ derts wissenschaftliches Wissen in sämtlichen Bereichen des Sozialen an Bedeutung gewinnt, so auch in der Politik. Staatliche Regierungen können demnach die an sie gerichteten Erwartungen nicht mehr zufriedenstellend erfüllen ohne externen Sach‐ verstand, professionelle Expertise, wissenschaftliche Beratung, Gutachten, Kommis‐ sionen und Beiräte, und das auch deswegen nicht, weil sich die gesellschaftlichen Erwartungen auf immer komplexere Themengebiete ausdehnen und auf immer wei‐ tere, allenfalls noch wissenschaftlich-technisch zu bewältigende Regulierungsberei‐ che erstrecken. Der Ruf nach (mehr) wissenschaftlicher Politikberatung durchdringt da nahezu unisono die sozial- und politikwissenschaftliche Diskussion über die Poli‐ tikberatung: Salus ubi multi consiliarii.7 7 Stellvertretend für die deutschsprachige Politikberatungs-Diskussion seien lediglich genannt: Falk/Rehfeld/Römmele/Thunert (Hrsg.) 2006, sowie Bröchler/Schützeichel (Hrsg.) 2008. Dass die Verwissenschaftlichung der Gesellschaft von einem gegenläufigen Prozess begleitet wird, demjenigen der Politisierung der Wissenschaft, nimmt bereits Weingart 1983 in den Blick; siehe hierzu auch Weingart 2003. Weingart war von 2004 bis 2007 Vorsitzender der Arbeitsgruppe

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Diese Einstimmigkeit kann misstrauisch stimmen. Sind bei den HeilsamkeitsDiagnosen, die gerade Sozial- und Politikwissenschaftler den „vielen Ratgebern“ ausstellen, vielleicht ihre Eigeninteressen mit im Spiel? Mit anderen Worten: Han‐ delt es sich bei dem Heil – salus –, das die wissenschaftlichen Politikberatungs-Er‐ forscher von einer Vielzahl an Beratern – multi consiliarii – erwarten, vielleicht auch um ihr eigenes, ganz profanes „Heil“, das sie als Politikberater in spe von Bera‐ tungsaufträgen erhoffen? Der wissenschaftliche Ruf nach „vielen Ratgebern“ wäre in dieser Sicht vor allem eines: Ausdruck einer rhetorisch-performativen Strategie, mit der die Anbieter wissenschaftlichen Beratungswissens die Nachfrage nach ihrer Expertise auf dem durchaus prestigeträchtigen und lukrativen Politikberatungsmarkt zu steigern versuchen. Die unzähligen Publikationen zum Thema „wissenschaftliche Politikberatung“ – nahezu jede Wissenschaftsakademie hat ihren eigenen Sammel‐ band vorgelegt8 – können in diesem Sinne auch als Ausdruck des Politikberatungs‐ anspruchs der betreffenden Autoren und Institutionen gelesen werden. Sie ver‐ suchen, die Heilsamkeit im Sinne der Gemeinwohlförderlichkeit wissenschaftlichen Rats auch in ihrem eigenen „Heilsinteresse“ nachzuweisen.9 So einig sich die Politikberatungs-Wissenschaft hinsichtlich der Beratungsbedürf‐ tigkeit der Politik und der Beratungsfähigkeit der Wissenschaft zu großen Teilen ist, so vielstimmig werden von außerhalb der Universitäten und Akademien Einwände gegen den wissenschaftlichen Beratungsoptimismus und Beratungsanspruch erho‐ ben. Politiker und Journalisten attestieren dem wissenschaftlichen Beratungswissen mangelnde Praxistauglichkeit. Die „Professoren aus Heidelberg“ und vergleichbare „praxisferne“ Figuren hätten im politischen Tagesgeschäft nichts verloren. Wissen‐ schaftlichen Experten und ihren Beratungsgremien mangele es außerdem an demo‐ kratischer Legitimität – denn anders als die im Parlament versammelten Volksvertre‐ ter seien sie ja nicht gewählt. Die so Kritisierten lassen sich durch diese Zweifel an der Effektivität und der Legitimität ihrer Beratung allerdings nur selten von ihrem Beratungsanspruch abbringen. Stattdessen rechnen sie das „Scheitern“ politischer Beratung, wo auch immer es zu beobachten und wie auch immer es zu messen sein mag, lieber Dritten zu, beispielsweise die Wirkungslosigkeit politischer Beratung den „beratungsresistenten“ Politikern oder das Qualitäts- und Legitimitätsdefizit von Politikberatung jenen „inkompetenten“, „illegitimen“ Beratungsanbietern, die von außerhalb der Wissenschaft auf den Beratungsmarkt drängen: think tanks, Public Af‐ „Wissenschaftliche Politikberatung in der Demokratie“ an der Berlin-Brandenburgischen Aka‐ demie der Wissenschaften, die die „Leitlinien Politikberatung“ erarbeitete. 8 Vgl. über die oben (in den Fußnoten 2-5) genannten Publikationen der Berliner, Heidelberger und Münchner Akademien sowie der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften hinaus den im Namen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen herausgegebenen Band von Kraul/Stoll (Hrsg.) 2011. 9 Zu dieser Annahme, dass Wissenschaftler „keine Heiligen“ sind, vgl. Kirchgässner 2013, der gewitzt und selbstkritisch dafür plädiert, gerade Ökonomen in der Politikberatung – nach deren eigenem Modell des homo oeconomicus – Eigeninteressen zu unterstellen.

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fairs-Agenturen, Unternehmensberatungen und Lobbyorganisationen. Gegen solche halb- und nichtwissenschaftliche Konkurrenten versucht sich die Wissenschaft mit ihrem eigenen Beratungsangebot abzugrenzen, um sich im Beratungswettbewerb zu behaupten. An dieser Stelle kommen die „Leitlinien Politikberatung“ der Berlin-Brandenbur‐ gischen Akademie der Wissenschaften ins Spiel. Die „Leitlinien“ setzen auf eine klare Abgrenzungsstrategie gegenüber den „schlechten“, „schädlichen“, und das heißt für sie vor allem: nichtwissenschaftlichen Beratungsformen und Ratgebern. Man könnte sagen: Sie setzen auf eine Verknappung des Angebots an Rat mittels der Zertifizierung „heilsamen“ wissenschaftlichen Rats. Denn sie zielen darauf ab, unab‐ hängig davon, was sie sonst noch anstreben mögen, die Anbieter und Nachfrager po‐ litischen Rats auf bestimmte, wissenschaftliche Standards „guter“ Politikberatung zu verpflichten. Als solche Standards werden in den „Leitlinien“ vier Prinzipien ge‐ nannt: die „Distanz“, „Pluralität“, „Transparenz“ sowie „Öffentlichkeit“ des wissen‐ schaftlichen Rats.10 Distanz, Transparenz und Öffentlichkeit – das weist der Wissen‐ schaft die Rolle einer überparteilichen, objektiven und verantwortlichen Schlichterin zu. Doch was bedeutet hier „Pluralität des Rats“? Sicherlich ist damit die disziplinä‐ re und methodische Vielfalt der Perspektiven gemeint, die etwa durch Proporzregeln bei der Besetzung von Beratungsgremien gewährleistet werden soll. Doch diese ge‐ forderte Pluralität hat bei genauerem Hinsehen Grenzen. Die Politik soll offenbar, sofern sie „heilsam“ beraten werden will, keineswegs allen Stimmen und Ensembles aus dem Chor der vielen Ratgeber – multi consiliarii – gleichermaßen ihr Ohr lei‐ hen, sondern eben vorrangig jenen, die sich an den von der Akademie formulierten Leitlinien orientieren und deren Standards einhalten. Das läuft auf eine (Selbst-)Pri‐ vilegierung der Anbieter „distanzierten“, „pluralen“, „transparenten“ und „öffentli‐ chen“, vor allem aber eben wissenschaftlichen Rats hinaus, auf den allein sich die „Leitlinien Politikberatung“ beziehen. Der ursprüngliche Sinn des Sprichwortes „Sa‐ lus ubi multi consiliarii“ verkehrt sich damit in sein Gegenteil: Das Heil ist nicht dort zu suchen, wo viele Ratgeber sind, sondern gerade dort, wo wenige Ratgeber sind – vorausgesetzt, es handelt sich bei diesen wenigen um die richtigen Ratgeber, und als deren Heimat präsentiert sich: die Wissenschaft. Kann eine solche Strategie der Verknappung politischen Rats mit dem Ziel seiner Monopolisierung Aussicht auf Erfolg haben? Das Urteil der publizistischen Öffent‐ lichkeit in dieser Frage und über die „Leitlinien Politikberatung“ insgesamt fiel skeptisch aus. Die Leitlinien seien „in höchstem Maße allgemein und vage formu‐ liert“, befand Jens Bisky in der Süddeutschen Zeitung in einem Beitrag mit dem Ti‐ tel „Wissenschaft als Heilsversprechen“, und fügte hinzu: „Die neuen Leitlinien wir‐ ken wie ein Marketinginstrument der Wissenschaft, die ihren Einfluss sichern 10 Vgl. Der Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.) 2008, S. 14f.

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will.“11 „Alles Selbstverständlichkeiten“ und gar „Banalitäten“, urteilte Andreas Sentker in der Wochenzeitung DIE ZEIT.12 Und Jürgen Kaube (Frankfurter Allge‐ meine Zeitung) fand den Versuch „unglaublich naiv“, der Politik die Auswahl ihrer Berater und den Umgang mit Ratschlägen durch Leitlinien vorschreiben zu wollen.13 Der Haupteinwand gegen die Leitlinien lautete: Nicht die Wissenschaft, sondern die Politik verfüge über die Kriterien „guten“ Rats, und folglich habe allein die Poli‐ tik darüber zu befinden, welche Arten des Rats und welche Typen der Berater sie – zu ihrem eigenen Heil – aus dem vorhandenen Beratungsangebot auswählt. Das la‐ teinische Sprichwort gewinnt also, aus dem Blickwinkel der Politik und der publizis‐ tischen Öffentlichkeit betrachtet, seine ursprüngliche Bedeutung zurück, wenn auch nun mit neuem Sinn: Wo viele Berater sind, da ist in der Tat das Heil, jedoch nicht etwa jenes Heil, das die Wissenschaft mit der Beratung verbindet, gleichgültig ob sie in aufklärerischem Optimismus politische Entscheidungen zu rationalisieren hofft oder in strategischem Eigeninteresse ihre eigene Beratungsrolle stärken will. Viel‐ mehr geht es bei der Politikberatung um das „Heil“ – der Politik. Sie wählt, wenn sich ihr viele Ratgeber anbieten, aus der Vielfalt des Rats die ihr heilsamsten Rat‐ schläge aus: Salus ubi multi consiliarii.

2. Crisis ubi multi consiliarii: Die Krise der Politikberatung Angesichts der Deutungsoffenheit des lateinischen Sprichwortes könnte es sich loh‐ nen, die „heilsethisch“ überhöhten Hoffnungen und Versprechen, die sich mit Vor‐ stellungen der „guten“ Politikberatung und Versuchen ihrer Sicherstellung durch wissenschaftliche Standards und Leitlinien verbinden, grundsätzlich zu überdenken. Hierzu bietet es sich an, die Skepsis gegenüber dem wissenschaftlichen Heilsver‐ sprechen der Politikberatung in erkenntnisfördernder Absicht auf die Spitze zu trei‐ ben: Könnte nicht dort, wo viele Berater sind – und seien es auch wissenschaftliche Berater – statt des Heils in Form gemeinwohlförderlicher Aufklärung vielmehr das Unheil lauern? Das zu erwägen, kann dazu beitragen, einen realistischeren Blick auf die Praxis der Politikberatung und den Wettbewerb der Politikberater im Ringen um das Ohr der Macht zu gewinnen. Gerade für die Politik- und Sozialwissenschaft wä‐ re eine solche „Aufklärung der Beratung über sich selbst“14 womöglich heilsam, kann diese sie doch vor überzogenen Erwartungen an ihren politischen Rat und vor wiederkehrenden Enttäuschungen bei Beratungsversuchen bis hin zu disziplinären und persönlichen Identitäts- und Existenzkrisen schützen. Um entsprechenden Kri‐ 11 12 13 14

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Bisky 2008. Sentker 2008. Kaube 2008. Kielmansegg 2016a, S. 74.

sen vorzubeugen, hat Peter Graf Kielmansegg seinerseits „Evidenz für die These an‐ gesammelt, dass die Politikwissenschaft in der wissenschaftlichen Politikberatung nur eine ziemlich bescheidene Rolle spielt.“15 Seine Skepsis auf die Spitze zu trei‐ ben, bedeutet, zu fragen, ob die (Politik-)Wissenschaft, wenn sie sich auf den Wett‐ bewerb mit den vielen anderen wissenschaftlichen und unwissenschaftlichen Ratge‐ bern – multi consiliarii – einlässt, zuweilen nicht vielleicht eine durchaus unbeschei‐ dene, nur eben keinesfalls immer auch heilvolle Rolle spielt. In diesem Sinne wird das lateinische Sprichwort hier variiert: Crisis ubi multi consiliarii – Wo viele Bera‐ ter sind, da ist die Krise. In Zeiten der Krise melden sich besonders viele Ratgeber zu Wort. Denn mit ihren Ratschlägen wollen sie zur Krisenbewältigung beitragen. Das widerspricht noch nicht dem oben angeführten Heilsversprechen der Politikberatung, sei es wis‐ senschaftlich fundiert oder nicht, sondern unterstreicht gerade den Beratungsan‐ spruch jener Berater, die der Politik versprechen, Unheil abzuwenden und Heil zu stiften. Beratungsskeptisch wird die Aussage des variierten Sprichwortes erst dann, wenn die darin unterstellte Korrelation zwischen Krise und vielen Ratgebern als ein Kausalzusammenhang gedeutet wird, und zwar nicht in der Weise, dass die Krise eine Vielzahl an Ratgebern auf den Plan riefe, sondern umgekehrt so, dass die vielen Ratgeber in die Krise führten. Wann und warum wäre das zu erwarten? Zwei Deu‐ tungsmöglichkeiten eröffnen sich. Erstens: Die Vielzahl der Ratgeber stiftet unge‐ wollt Orientierungs- und Ratlosigkeit in den Reihen der Politik, dann nämlich, wenn ihre Ratschläge keine klare, eindeutige Richtung erkennen lassen, sondern wider‐ sprüchliche Wege weisen. Zweitens: Die einzelnen Ratgeber produzieren eine solche Orientierungs- und Ratlosigkeit nicht etwa ungewollt, sondern ganz bewusst, dann nämlich, wenn sie die Krise überhaupt nur deswegen diagnostizieren und dramati‐ sieren, um dann ihre Ratschläge als Heilmittel dagegen zu offerieren. Ersteres ver‐ weist auf die Überforderung der Politik durch ein Überangebot an vielfältigem Rat. Zweiteres verweist auf die rhetorisch-performativen Strategien des Selbstmarke‐ tings, mit denen sich politische Berater im öffentlichen Wettbewerb um das Ohr der Macht gegen die Ratgeber-Konkurrenz zu behaupten versuchen. Beides blendet eine Politik- und Sozialwissenschaft aus, die sich beratungsidealistisch und beratungsop‐ timistisch eher für die heilsamen Effekte und nicht so sehr für die tatsächlichen Praktiken der Politikberatung interessiert. Dass eine Vielzahl an Ratgebern die Politik ungewollt in die Krise führen kann, wird in Beratungssituationen ersichtlich, in denen die vorgebrachten Ratschläge ein‐ ander widersprechen. Zu viele Ratgeber verderben den Rat. Denn sie können die Entscheidungsfähigkeit der Politik verringern statt sie zu erhöhen. Das steht nicht nur in Krisenzeiten zu befürchten. Auch in normalen Zeiten sind es stets viele – und

15 Kielmansegg 2016a, S. 71.

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zumeist zu viele –, die der Politik zu raten versuchen. Sie berufen sich dabei auf un‐ terschiedlichste Wissensbestände als „Heilquellen“ ihres jeweiligen Rats, im Falle wissenschaftlicher Experten-Beratung auf die wissenschaftliche Wahrheit. Doch auch sie kommt ja stets nur im Plural vor. Denn die „Wahrheiten“ der wissenschaft‐ lichen Experten dürften so vielfältig sein wie die Disziplinen, Methoden und Schu‐ len der Wissenschaft, die ihrem Wesen nach vom Widerspruch lebt, von der Debatte und vom Streit. Daher wird „die“ Wissenschaft kaum jemals mit einer einzigen und gar verbindlichen, heilbringenden Stimme sprechen. Vielmehr wird sie sich in ein‐ zelnen Gutachten äußern, zu denen sich stets auch abweichende Expertisen und Ge‐ gengutachten formulieren und einholen lassen. Hier droht die Gefahr, dass die politi‐ sche Logik die wissenschaftliche Logik überlagert, dann nämlich, wenn sich die po‐ litikberatende Wissenschaft im Experten-Streit selbst politisiert. Der deutlichste Ausdruck dessen ist das Gefälligkeitsgutachten, mit dem ein „Experte“ dem politi‐ schen Entscheidungsträger parteiisch dient, statt ihn gemäß bestem wissenschaftli‐ chem Wissen und Gewissen umfassend über den aktuellen Forschungsstand zu in‐ formieren. Einer solchen Parteilichkeit des Rats wollen die „Leitlinien Politikbera‐ tung“ mit ihrer Forderung nach einer pluralen Politikberatung zwar vorbeugen, die gewährleisten soll, dass sich die unterschiedlichen Positionen und Faktionen, wenn sie denn alle Gehör finden, wechselseitig ergänzen und in Schach halten. Doch wird bei diesem Vorschlag nicht jene andere Gefahr unterschätzt, dass zu viele und zu un‐ terschiedliche, also „plurale“ Ratgeber die Politik in die Entscheidungsunfähigkeit und damit in die Krise stürzen können? Offenbar blenden die „Leitlinien“ diese zweite Gefahr nicht vollständig aus, denn sie wollen ja das Überangebot an Rat stan‐ dardisieren und dadurch reduzieren. Nur orientieren sie sich hierbei eben – entgegen ihrer eigenen Forderung nach einer „pluralen“ Politikberatung – nicht an grenzenlo‐ ser Pluralität, sondern operieren ihrerseits mit Parteilichkeit: Sie schränken die Viel‐ falt des Rats auf Kosten der nichtwissenschaftlichen Politikberatung ein. Dass die Begrenzung des Rats auf den wissenschaftlichen Rat im Interesse „der“ Wissenschaft liegen kann, erscheint nachvollziehbar. Doch dient diese Strategie auch der politischen Krisenvorbeugung und ist in diesem Sinne heilsam für die Poli‐ tik? Unabhängig davon, wie – und aus wessen Perspektive – das zu beurteilen ist, geht der Versuch, die Politik auf den wissenschaftlichen Rat zu verpflichten, an der Realität des politischen Beratungsgeschehens vorbei. Denn dieses Beratungsgesche‐ hen ist in der Tat sehr viel „pluraler“. Nicht nur die Wissenschaft bietet der Politik ihren Rat an, und keinesfalls suchen politische Entscheidungsträger nur bei wissen‐ schaftlichen Experten Rat und Orientierung, schon gar nicht immer auf so formelle und institutionalisierte Weise, also öffentlich und transparent, schriftlich und offizi‐ ell, wie das die „Leitlinien“ erwarten, in Form eines wissenschaftlichen Gutachtens also, mit dessen Erstellung die Politik eine öffentlich tagende Expertenkommission beauftragt. Kielmansegg warnt denn auch davor, die Einwirkungschancen institutio‐

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nalisierter Politikberatung zu überschätzen: „Es mag sogar sein, dass die Chancen der Einwirkung auf die Politik da größer sind, wo die Beratung nicht institutionali‐ siert ist.“16 In den Korridoren und Vorzimmern der Macht tummeln sich schließlich seit jeher unterschiedlichste und gerade auch inoffiziell und informell agierende Rat‐ geberfiguren, darunter all jene, die Carl Schmitt einst in seinem „Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber“ antichambrieren ließ:17 Freunde, Wegge‐ fährten, Lehrer, Erzieher, Graue Eminenzen, Fremde, Hofnarren, Ehemänner, Ehe‐ frauen, Seher, Propheten, Mätressen, Beamte, Beichtväter, Schmeichler und Lobby‐ isten.18 Dieser vielstimmige Chor politischer Ratgeber wird leicht überhört – oder versuchsweise zum Schweigen gebracht –, wenn das vielfältige Beratungsgeschehen allein auf die wissenschaftliche, institutionalisierte Expertise verengt wird oder ein‐ gegrenzt werden soll. Dadurch wird dann jene Krise der Politikberatung nicht besei‐ tigt, sondern ignoriert, die sich daraus ergibt, dass viele – für die Politik zumeist zu viele – Ratgeber mit ihren widerstreitenden Ratschlägen um das Ohr der Macht kon‐ kurrieren. In diesem Konkurrenzkampf lassen sich die verschiedenen Ratgeber wohl kaum auf verbindliche Kriterien und Spielregeln „guten“ Rats festlegen, etwa auf den Wahrheitsgehalt des Rats und seine Distanz, Pluralität, Transparenz und Öffent‐ lichkeit. Vielmehr bringen sie davon abweichende Gütekriterien „guten Rats“ ins Spiel, um die Adressaten ihrer Beratung von ihrem jeweiligen Angebot zu überzeu‐ gen, darunter die Loyalität des Ratgebers, seine schnelle Erreichbarkeit und Verfüg‐ barkeit, seine politische Erfahrung, seine Diskretion, die Verständlichkeit und An‐ schaulichkeit seiner Ratschläge, die Praxisnähe seiner Beratung und überhaupt die Entscheidungsförderlichkeit und Umsetzbarkeit des Rats. Weil auch diese Kriterien auslegungsbedürftig und umkämpft sind, führt der Wettbewerb der vielen Ratgeber und ihrer verschiedenen Wissensformen, der schwerlich zu regulieren ist, ungewollt in die politische Ratlosigkeit. Die zweite Deutung des beratungsskeptischen Satzes „Crisis ubi multi consilia‐ rii“ ist ebenfalls erhellend. Ihr zufolge tragen die vielen politischen Ratgeber nicht nur ungewollt in ihrer Gesamtheit, sondern zudem jeder für sich auch ganz bewusst zur Orientierungs- und Ratlosigkeit der Politik bei. Evidenz hierfür liefern die be‐ reits angesprochenen rhetorisch-performativen Strategien des Selbstmarketings, mit denen sich politische Ratgeber Vorteile im Beratungs-Wettbewerb zu verschaffen versuchen. Eine dieser Strategien betrifft die politische Krise ganz unmittelbar: die Strategie, durch eine Krisendiagnose auf sich selbst als Ratgeber aufmerksam zu machen, um sodann eigene Ratschläge als Heilmittel gegen die diagnostizierte Krise vorzubringen. Peter Graf Kielmansegg, der langjährige engagierte und teilnehmende 16 Kielmansegg 2016a, S. 65. 17 Schmitt 1994. 18 Für einen Versuch, diese vielfältigen (ideen-)geschichtlichen Figuren politischen Rats nach der Art ihres – nicht immer wissenschaftlichen – Beratungswissens zu typologisieren, siehe Was‐ sermann 2007.

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Beobachter politischer und gesellschaftlicher Beratungsprozesse, hat diese Strategie mitsamt dem ihr zugrundeliegenden aufmerksamkeitsökonomischen Mechanismus durchschaut. Er fasste sie einmal in die Worte: „Krisendiagnosen machen, wie beim Arzt, den Diagnostiker bedeutsam.“ Es lohnt, den Kontext dieser Äußerung etwas ausführlicher wiederzugeben, weil das dazu beitragen kann, das Beobachtungsfeld von der spezifisch wissenschaftlichen Politikberatung über die allgemeine politische Beratung hinaus bis auf die Gesellschaftsberatung auszuweiten, jene Beratung durch öffentliche Intellektuelle also, die in besonderem Maße den Gesetzen der Aufmerk‐ samkeitsökonomie unterliegt. Dass der Krisendiagnostiker einem Arzt ähnelt, der sich nicht nur an den Regeln seiner hippokratischen Heilkunst, sondern zuweilen auch an den (Bedeutsam‐ keits-)Erfordernissen des Gesundheitsmarktes orientieren mag, bemerkte Kielman‐ segg im September 2015 beim Duisburger Kongress der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW), jener Vereinigung, der er 40 Jahre zuvor als Vize‐ präsident vorgestanden hatte und die sich nun in „Deutsche Vereinigung für Politik‐ wissenschaft“ umbenannte. Kielmansegg reagierte damit auf eine Nachfrage im An‐ schluss an seinen Vortrag, in dem er unter der Überschrift „Duisburg 1975. Ein Rückblick auf die Hennis-Habermas-Debatte“ als ein „Zeitzeuge“, wie er sagte, an das berühmte Streitgespräch erinnerte, das Wilhelm Hennis und Jürgen Habermas an demselben Ort geführt hatten.19 In jenem Streitgespräch war es darum gegangen, ob sich die Bundesrepublik Deutschland und die westlichen Demokratien insgesamt in einer Legitimitätskrise befänden – eine Frage, die Habermas im Anschluss an die von ihm und zuvor schon von Claus Offe diagnostizierten „Legitimitätsprobleme im Spätkapitalismus“ bejahte, wiewohl Habermas nach Ansicht Kielmanseggs keine empirischen Daten für eine tatsächliche Delegitimation vorlegen konnte, während Hennis eine Legitimitätskrise rundheraus verneinte – und wenn es eine solche Krise gäbe, dann müsse man ihre Ursachen woanders suchen als in der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, so resümierte Kielmansegg Hennis‘ Position nach 40 Jahren. Im Rückblick auf diesen „Schlagabtausch“20 der beiden intellektuellen Kontra‐ henten der alten Bundesrepublik, aus dem sich hinsichtlich der Heilsamkeit und Be‐ deutsamkeit sozialwissenschaftlicher Beratung Lehren ziehen lassen, kam der Zeit‐ zeuge Kielmansegg zu der Einschätzung, die Hennis-Habermas-Kontroverse von 1975 habe wenig beigetragen zum Verständnis der damaligen Befindlichkeit der Bundesrepublik in den unruhigen 1970er Jahren und sei außerdem wenig erhellend gewesen für die weitere Erörterung der Legitimitätsthematik, ganz zu schweigen da‐ von, dass sie nicht weiterhelfe bei der Bewältigung der „Legitimitätsfrage, so wie sie sich im 21. Jahrhundert vermutlich stellen wird“:21 als die doppelte Frage nämlich, 19 Kielmansegg 2016b, S. 13. 20 Kielmansegg 2016b, S. 16. 21 Kielmansegg 2016b, S. 22.

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ob sich globale Handlungsfähigkeit mit herkömmlichen Legitimitäts-Vorstellungen vereinbaren lasse und wie darüber hinaus die moderne Zivilisation überhaupt noch politisch zu steuern sei angesichts ihres Ressourcenverbrauchs, ihrer Bevölkerungs‐ dynamik und ihres wissenschaftlichen Fortschritts. Wenn Legitimität heute kein Schlüsselwort mehr in den politischen und politikwissenschaftlichen Debatten sei, so gelte dies doch ganz gewiss weiterhin für den Krisenbegriff. Der Eindruck einer „Vertrauenskrise“, in der sich die repräsentativ verfasste Demokratie befinde und die sich in jungen, defekten Demokratien zu einer „Akzeptanzkrise“ auswachsen könne, sei nur ein Beispiel für die „Fülle von Herausforderungen, die uns politisch bedrän‐ gen“, und für die „Fülle von Fragestellungen, die uns politikwissenschaftlich be‐ schäftigen“, so diagnostizierte Kielmansegg in seinem Vortrag.22 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts besteht also mehr denn je Anlass zu Krisendia‐ gnosen, so urteilt Kielmansegg, der den Krisendiagnosen von Hennis und Habermas aus dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Rückblick wenig abzugewinnen ver‐ mag – und der zugleich einräumt, Krisendiagnosen machten den Arzt bedeutsam. Was bedeutet das nun aber für Kielmanseggs eigene Diagnose, was für sein Ver‐ ständnis von Politik- und Gesellschaftsberatung? Zielte er womöglich selbst auf Be‐ deutsamkeit ab, als er 40 Jahre nach Hennis und Habermas die Diagnosen der beiden aus dem Jahr 1975 für wenig hilfreich und nicht weiterführend befand, nur um sie sogleich durch seine eigene Krisendiagnose für das 21. Jahrhundert zu ersetzen? Folgte er eher der Verheißung denn der Warnung seiner Worte: „Krisendiagnosen machen, wie beim Arzt, den Diagnostiker bedeutsam“?

3. Patria ubi multi consiliarii: Die akademische Heimat der Politikberatung Zu beraten ist somit über die Frage: Trägt Peter Graf Kielmansegg, ob gewollt oder nicht, zur Krise der Politikberatung bei, wenn er die politische Krise des 21. Jahr‐ hunderts beschwört und für ihre Bewältigung die Politikwissenschaft – und sich selbst – gegenüber der Ratgeber-Konkurrenz positioniert? Kielmansegg Bedeutungs‐ drang zu unterstellen, ob für seine Person oder für sein Fach, wäre so abwegig wie der Versuch, die gesellschaftliche Bedeutung seines Werks und Wirkens zu bezwei‐ feln. Seine Leidenschaft gilt der öffentlichen, nicht der eigenen Sache, rei publicae, nicht ambitioni, der gesellschaftlichen Heilsamkeit, nicht der persönlichen Bedeut‐ samkeit, die sich aktivistisch im „Zugang zur Macht“ oder ökonomistisch im Zugriff auf Forschungsmittel ihrer vermeintlichen Relevanz versichern mag oder narziss‐ tisch in Zitationshäufigkeiten, Publikationsindizes und impact-Faktoren bespiegelt. Bedeutung kommt bei Kielmansegg, wie beim guten Arzt, von theorie- und erfah‐

22 Kielmansegg 2016b, S. 21.

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rungsgesättigten, klar formulierten Deutungsangeboten, die heilsam für den und die Beratenen sind. Hiermit hat sich Kielmansegg als aufmerksamer Begleiter und kriti‐ scher Ratgeber in der Politikwissenschaft und über sie hinaus einen Namen gemacht. Hiermit hat er durch sein akademisches, publizistisches und persönliches Wirken die Entwicklung des Faches, sein Erscheinungsbild und seine politische und gesell‐ schaftliche Bedeutung geprägt. Und stets hat er dabei die Bedingungen und Grenzen dieses Wirkens und Bedeutung-Gewinnens von (Politik-)Wissenschaft selbstkritisch mit reflektiert. Wer die zahlreichen Aufsätze und Reden und darüber hinaus die wis‐ senschaftspolitischen Initiativen studiert, die Kielmansegg dem „schwierigen“ Ver‐ hältnis von Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit gewidmet hat, wird bemerken, wie sehr es ihm um die Ausformulierung eines demokratieverträglichen und gemein‐ wohlförderlichen, heilsamen, zugleich aber realitäts- und praxistauglichen Berufs‐ ethos des Wissenschaftlers geht, nicht um die Ausbuchstabierung einer möglichst durchsetzungsfähigen, effektiven Strategie politischer Wissenschaft, die Bedeutsam‐ keit durch Deutungshoheit und Einfluss durch Einflüstern verspricht. Die Namens‐ änderung von „Deutsche Vereinigung für Politische Wissenschaft“ in „Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft“ hat er vermutlich begrüßt. Gleichwohl stellt sich die Frage, wie sich Kielmanseggs Verständnis der Politikund Sozialwissenschaft als einer praktischen, beratenden Wissenschaft mit seiner Skepsis bezüglich der Logik des Beratungsmarktes verträgt, jenes Marktes, der zu‐ weilen Bedeutsamkeit statt Heilsamkeit zu prämieren scheint. Wo hat unter den Be‐ dingungen einer aufmerksamkeitsökonomisch strukturierten bzw. deformierten poli‐ tischen Beratungsöffentlichkeit eine heilsame, gemeinwohlförderliche Politikbera‐ tung eine Heimstätte? Kielmanseggs Suche nach einer Antwort auf diese Frage be‐ wegt sich zwischen Hennis‘ und Habermas‘ Zugängen zur politischen und gesell‐ schaftlichen Beratung. Mit beiden teilt Kielmansegg ja, wie skeptisch auch immer er ihre Krisendiagnosen in inhaltlicher und rhetorisch-performativer Hinsicht einschät‐ zen mag, doch das Anliegen, die Bedingungen des politischen Ratgebens und Rat‐ nehmens in praktischer Absicht zu durchdringen. Hennis durchdachte die Bedingungen des politischen Ratgebens und Ratnehmens mit melancholischem Unterton. In seinem Vortrag „Rat und Beratung im modernen Staat“, den er im Jahr 1962 vor der Jahresversammlung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge in Nürnberg hielt, beklagte er das Vergessen und Verblassen der „fundamentalen Bedeutung des Konsultations- und Deliberations‐ prinzips für die abendländische politische Tradition“23 und damit auch jenes grund‐ legenden Beratungsverständnisses, das seit Aristoteles das gemeinsame Miteinan‐

23 Hennis 2000, S. 161 (unbezifferte Fußnote).

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der-zu-Rate-Gehen der Bürger ausgemacht habe, in der Moderne aber „ortlos“24 ge‐ worden sei. Als Gründe für die moderne Ortlosigkeit des Rats nannte Hennis den modernen Individualismus, der die Autonomie an die Stelle der Beratungsbedürftig‐ keit des Menschen setzte, den Aufstieg des Majoritätsprinzips, das bei politischen Entscheidungen das Beratungsprinzip verdrängte, und die Pluralisierung politischer und ethischer Zwecke, die den vormals verbindlichen Ratgebern und Ratschlägen ihre Autorität nahm. Vor allem aber beklagte Hennis die Abwertung des Rats infolge einer Umdeutung der Beratung, die nur noch als eine Vermittlung technischen, in‐ strumentellen, wissenschaftlichen Fachwissens verstanden wurde und nicht mehr im alten Sinne als wechselseitiges, praktisches, deliberatives Mit-sich-zu-Rate-Gehen der Bürger über gemeinsame politische Zwecke. Habermas hingegen reflektierte die modernen Möglichkeiten der Politikberatung, und zwar gerade in ihrer wissenschaftlich-technischen Variante, mit optimistischem Oberton. In seinem Vortrag „Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung“ konzipierte er ein Jahr nach Hennis, 1963, die wissenschaftliche Politikberatung als ein wechselseitiges, wiederkehrendes, in die politische Öffentlichkeit eingebettetes Gespräch zwischen dem Fachmann und dem Entscheidungsträger. Hierin sah er je‐ nes „pragmatistische“ Deliberationsmodell verwirklicht, das er von dem „dezisionis‐ tischen“ und dem „technokratischen“ Beratungsmodell unterschied und gegenüber beiden als einzig demokratieverträglich auszeichnete.25 Im dezisionistischen Modell dominiert der Entscheidungsträger über den sachverständigen Fachmann, dessen Ex‐ pertise er nur insoweit zu Rate zieht, als sie seine eigenen, souveränen Entscheidun‐ gen unterstützt. Im technokratischen Modell verhält es sich umgekehrt: Der Fach‐ mann dominiert hier über den Politiker, dem er die wissenschaftlich erwiesenen Sachzwänge aufzeigt und die daraus zu ziehenden Schlüsse diktiert. In dem von Ha‐ bermas favorisierten pragmatistischen Modell hingegen stehen beide, der Politiker und der Fachmann, in einem reziproken, öffentlichen Kommunikationsverhältnis. Durch ihre wechselseitige Beratung bzw. Beauftragung und durch ihre Rückbindung an die sie umgebende soziale Lebenswelt tragen sie gemeinsam zur Aufklärung und Bearbeitung der politischen Zwecke und Mittel, Probleme und Lösungen, Fragen und Antworten bei. Inwiefern lässt sich Kielmanseggs Politikberatungs-Verständnis zwischen Hennis‘ und Habermas‘ Positionen verorten? Kielmansegg scheint Habermas‘ Optimismus bezüglich der Rationalisierungspotenziale öffentlicher Deliberation unter Beteili‐ gung wissenschaftlicher Experten nicht in jeder Hinsicht zu teilen. Zu skeptisch ist er gegenüber den beratungsverzerrenden Effekten der aufmerksamkeitsökonomisch 24 Hennis 2000, S. 176; vgl. zu dieser „utopischen“ Ortlosigkeit des politischen Rats in der Mo‐ derne und für einen Versuch, ihr im Anschluss an Thomas Morus das Beratungspotenzial poli‐ tischer Utopie entgegenzustellen, Wassermann 2016. 25 Habermas 1969.

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strukturierten bzw. deformierten (Medien-)Öffentlichkeit. Andererseits teilt er Hen‐ nis‘ Diagnose zwar durchaus, derzufolge das heilsame Sich-Beraten in der modernen Gesellschaft ortlos geworden ist – in Melancholie verfällt er deswegen aber nicht. Stattdessen sucht Kielmansegg, der der Beratungsmelancholie so unverdächtig ist wie der Beratungseuphorie, nach dem institutionellen Ort, von dem aus eine wirk‐ lichkeits- und praxisbezogene Wissenschaft auch unter modernen Bedingungen heil‐ sam in die politische Öffentlichkeit hineinwirken kann, ohne ihre eigene Logik zu untergraben. Bei der Sitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 22. Juli 2017 zu Ehren Kielmanseggs anlässlich seines 80. Geburtstags bekannte sich der Jubilar in seinem Schlusswort als einen „Patrioten der Akademie“. Er knüpfte damit an Dolf Sternberger an. Dieser hatte sich 30 Jahre zuvor, im Jahr 1987, bei einem Symposi‐ um anlässlich seines eigenen 80. Geburtstags, das sich an der Universität Heidelberg dem Thema „Patriotismus“ widmete, als einen „Patrioten der Universität“ bezeich‐ net. Wie damals Sternberger, so verwendete nun Kielmansegg den Begriff des Pa‐ trioten in einem alten Sinne: als Bezeichnung für jemanden, der sich zu einer Institu‐ tion bekennt und für das darin verkörperte Gemeinwohl Verantwortung übernimmt, gleichgültig, um welche Körperschaft es sich dabei handelt, ob um eine Universität, eine Akademie oder ein anderes Gemeinwesen.26 Man darf davon ausgehen, dass Kielmansegg seine Worte – wie stets – mit Bedacht wählte. Schließlich zeichnete er in seinem Schlusswort, für das er sich sogleich bei den Zuhörern damit entschuldig‐ te, dass es allein der „Liturgie“ einer solchen Jubiläumsveranstaltung geschuldet sei, auch das Bild von sich selbst als eines „Wanderers zwischen den Welten“, und zwar nicht allein zwischen den Welten der Rechts- und der Geschichtswissenschaft, in de‐ nen er sich als Politikwissenschaftler gleichermaßen beheimatet und als „Gast“ füh‐ le, sondern auch zwischen den Welten der Wissenschaft und der Literatur. Gerade die Politikwissenschaft, auf deren Gebiet vor allem er seine „Wanderungen zwischen den Welten“ unternommen habe, bringe ihre Gegenstände vielfach überhaupt erst dadurch hervor, dass sie sie sprachlich – oder eben literarisch – in Worte fasse, nicht in irgendwelche Worte, sondern in möglichst treffende, klärende, erhellende. Ein einziger gelungener Satz, womöglich die Frucht eines ganzen Arbeitstages, könne den Autor glücklich machen – und ebenso den Leser und Hörer, wäre dem wohl hin‐ zuzufügen, zumal beide die besagte Frucht ohne eigene Zuarbeit als Geschenk des Sprachkünstlers empfangen. Wenn also die erhellende Sprachkunst Kielmanseggs

26 Zu Kielmanseggs Verständnis von Patriotismus, den er anders als Habermas nicht allein auf die Nation bezieht, um ihn dann wie dieser als eine Antithese zu universalistischen Verfassungs‐ grundsätzen zu konzipieren – und zu delegitimieren –, sondern stattdessen anknüpfend an Sternbergers „Verfassungspatriotismus“ als eine „aktive ‚Verfassungsfreundschaft‘ der Bürger eines demokratischen Verfassungsstaates“ begreift, „die dem Bewusstsein nationaler Zugehö‐ rigkeit zur Seite stehen sollte“, siehe Kielmansegg 2013a, S. 46f.

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beglückendes Metier darstellt, was erhellt dann sein schönes Wort vom „Patrioten der Akademie“? Auf den ersten Blick nicht ohne Weiteres erhellend ist, warum sich hier ausge‐ rechnet ein Politikberatungs-Skeptiker, der von den „vielen Beratern“ keineswegs unter allen Umständen immer das Heil erwartet, als Patriot einer ihrem Selbstver‐ ständnis nach politikberatenden Institution bekennt. Die Eingangsfrage nach dem „Irgendwie“ der Kielmanseggschen Politikberatung rückt damit wieder in den Vor‐ dergrund, die Frage also nach der Art und Weise des politischen Beratens, das Kiel‐ mansegg all seiner Beratungsskepsis zum Trotz doch von der Wissenschaft zu er‐ warten und in der Akademie zu verorten scheint. Um dieses „Irgendwie“ zu erfas‐ sen, kann es helfen, ex negativo zu erwägen, was Kielmansegg mit dem Wort vom „Patrioten der Akademie“ nicht direkt sagte, aber doch auch gemeint haben könnte: dass er sich, anders als noch Sternberger, nicht mehr als einen Patrioten der Univer‐ sität verstanden wissen will und fühlen kann. Offenbar findet Kielmansegg für das spezifische „Irgendwie“ seiner Politikwissenschaft und Politikberatung in der heuti‐ gen Universität keine Heimat mehr. Diese Heimatlosigkeit geht denn auch aus der Einleitung zu seinem Büchlein „Die Grammatik der Freiheit“ von 2013 hervor. An deren Ende beklagt der Verfasser schmerzlich, unter den Bedingungen der „Univer‐ sität von heute“ hätte er seine eigenen Fragestellungen und Forschungsthemen wohl nicht in jener Freiheit entwickeln können, die für das wissenschaftliche Forschen und Reifen doch unabdingbar sei.27 Man kann nur mutmaßen, ohne dafür allerdings allzu viel Phantasie aufbringen zu müssen, welche Entwicklungen an der „Universi‐ tät von heute“ Kielmansegg zu dieser Klage veranlasst haben mögen: die universitä‐ re Spezialisierung der Disziplinen bei abnehmendem intellektuellem Interesse ihrer Fachvertreter an den Forschungen der jeweiligen Nachbarn? Das Eindringen politi‐ scher und gesellschaftlicher Relevanz-Erwartungen in die Universität bei gleichzeiti‐ ger Unterfinanzierung und Drittmittelabhängigkeit der Lehre und Forschung? Die um sich greifende Orientierung an ökonomischen Kriterien der Aufmerksamkeit und Bedeutsamkeit anstelle eines aktiven Lebens und Bekräftigens einer akademischen Kultur der Nachdenklichkeit und des beiläufigen oder auch förmlichen Gesprächs? Vielleicht sind es solche, vielleicht andere Entwicklungen, die in Kielmanseggs Augen die Freiheit an der „Universität von heute“ bedrohen, jene Freiheit, die doch Grundvoraussetzung von Wissenschaft und damit auch Bedingung ihrer potenziell 27 Kielmansegg 2013b, S. 10: „Danksagungen am Ende einer solchen Einleitung sind guter aka‐ demischer Brauch. In diesem Fall ist es ein ganzes universitäres Leben mit seinen Seminaren und Tagungen, seinen Lektüren, seinen beiläufigen Gesprächen und seinen förmlichen Debat‐ ten, das eingegangen ist in die Texte. Aufzählen lassen sich die vielen Namen, die zu diesem Leben gehören, nicht. Wohl aber lässt sich eine Voraussetzung dafür benennen, dass Texte ent‐ stehen können, die Reifezeit brauchen: Die Universität hat mir für meine Arbeit in den Jahren meines akademischen Lebens die Freiheit gelassen, meine eigenen Prioritäten zu setzen. Dafür bin ich dankbar. Ich bezweifle, dass ich in der Universität von heute diese Freiheit noch besä‐ ße.“

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heilsamen Wirksamkeit ist. Angesichts dieser existenziellen Krisendiagnose sucht Kielmansegg nach einem Zufluchtsort für die freie Wissenschaft – und findet ihn in der wissenschaftlichen Akademie. Die wissenschaftliche Akademie bietet jedoch nicht einen weltfremden, praxisfernen Rückzugsort wie jener philosophische Garten des Gottes Akádemos, an den von der Gesellschaft überforderte intellektuelle Aus‐ steiger fliehen mochten. Vielmehr garantiert sie gerade den politisch, gesellschaft‐ lich und öffentlich verantwortlichen wissenschaftlichen Ratgebern eine Heimstätte, an der sie nicht zu Getriebenen – und Vertriebenen – von Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit werden, sondern in aller Freiheit ihre heilsamen Beiträge und Rat‐ schläge reifen lassen können. Diese Deutung des patriotischen Bekenntnisses Kielmanseggs zur Akademie als der Kehrseite seiner Absage an die „Universität von heute“ – und umgekehrt – mag spekulativ erscheinen. Dagegen ließe sich etwa einwenden, es sei doch nicht auszu‐ schließen, sich als Patriot beider Institutionen zugleich, der Akademie und der Uni‐ versität, zu fühlen und zu engagieren, wie denn ja auch Kielmansegg selbst während seiner Mannheimer Universitätsprofessur und Heidelberger Akademieaktivität eine Doppelmitgliedschaft innegehabt habe, was außerdem die Regel sei. Mitgliedschaft allerdings ist für Kielmansegg nicht mit Patriotismus gleichzusetzen. Das bemerkte er nachdrücklich, als er sich als öffentlicher Intellektueller in die Diskussion um die Einführung einer vererbbaren doppelten Staatsbürgerschaft für die Nachkommen der vor allem aus der Türkei nach Deutschland Eingewanderten einmischte. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung kritisierte er im Jahr 2014 unter dem Titel „Doppelte Staatsangehörigkeit. Abschied von uns selbst“ das Staatsbürger‐ schaftsverständnis, das diesem politischen Vorhaben zugrunde liege: „Dass man sich zwei Ländern als Bürger verbunden fühlt, mit dem vollen Bewusstsein der Zugehö‐ rigkeit und der Mitverantwortlichkeit, ist eher unwahrscheinlich.“ Zugehörigkeit und Mitverantwortlichkeit seien jedoch Voraussetzungen für Staatsbürgerschaft, denn „Staatsbürgerschaft, ernst genommen“, bedeute eben nicht nur, „Rechte gegen das Land und in dem Land zu haben, dessen Bürger man ist. Es bedeutet im Kern, Mit‐ verantwortung für dieses Land zu übernehmen.“ Um das zu gewährleisten, seien eine eindeutige Entscheidung für dieses Land und eine ungeteilte Zugehörigkeit zu diesem Land erforderlich. Beides werde durch den Doppelpass erschwert, wenn nicht verhindert.28 Nun ist es zwar gewagt, diese Kielmanseggschen Überlegungen, die das Staatsbürgerrecht betreffen, auf andere Gemeinwesen oder patrias zu über‐ tragen, in diesem Fall auf die Akademie und die Universität. Dadurch lässt sich aber klarer erfassen, welcher Art jene Mitverantwortung ist, die Kielmansegg mit seinem Bekenntnis zur wissenschaftlichen Akademie als einem Beratungsort offenbar ver‐ bindet – und deren Schwinden an der Universität für ihn ein Grund abnehmender

28 Kielmansegg 2014.

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Verbundenheit bis hin zur Aufkündigung seines universitären Patriotismus sein mag. Diese Frage deckt sich, wie es scheint, mit derjenigen nach dem „Irgendwie“ der Kielmanseggschen Politikberatung. Die Art und Weise der Mitverantwortung, die der akademische Patriot Kielman‐ segg von den Akademikern erwartet, ergibt sich aus dem Charakter der Akademie als einer Beratungseinrichtung – und zwar in einem besonderen Sinn. Die wissen‐ schaftliche Akademie ist der Ort, an dem die vielen wissenschaftlichen Ratgeber zu‐ sammenkommen. Sie erfüllt ihre politische und gesellschaftliche Beratungsrolle je‐ doch nicht primär dadurch, dass sie im Namen ihrer Mitglieder der demokratischen Öffentlichkeit expertokratisch oder epistokratisch die Richtung weist. Zwar könnte sich auch ein solches experto- bzw. epistokratisches Akademie- und Politikbera‐ tungs-Verständnis auf jenen frühneuzeitlichen Vordenker der Akademie-Bewegung berufen, auf Francis Bacon, der in seiner 1627 posthum veröffentlichten Wissen‐ schaftsutopie „Nova Atlantis“ die im „Haus Salomon“ versammelten (Natur-)Wis‐ senschaftler anwendungsbezogene Großforschungsprojekte durchführen ließ, damit sie die erzielten Forschungsergebnisse, modernen Philosophenkönigen ähnlich, zur heilbringenden Steuerung der Gesellschaft verwenden sollten.29 Nicht ohne Grund erkennt denn auch Jürgen Habermas in seiner Darstellung der drei Modelle wissen‐ schaftlicher Politikberatung in Francis Bacon, dem Verfasser dieser Wissenschaftsu‐ topie und Vordenker der wissenschaftlichen Akademien, den Ahnherrn des techno‐ kratischen Modells wissenschaftlicher Politikberatung, das wie das dezisionistische Modell mit der Demokratie unvereinbar sei. Peter Graf Kielmansegg will in diesem Sinne ganz gewiss kein Politikberater sein. Kielmanseggs akademischer Patriotismus speist sich aus einem anderen Bera‐ tungs- und Akademie-Verständnis. Eine (Politik-)Wissenschaft, die sich der Vielfalt anderer, auch nichtwissenschaftlicher Politikberatungsweisen in der modernen De‐ mokratie bewusst ist und die die Grenzen ihrer eigenen Beratungsmöglichkeiten an‐ erkennt, gleichwohl aber an ihrem Anspruch festhält, den demokratischen Bera‐ tungsprozess in heilsamer Absicht mitzugestalten, hat demnach zwar durchaus öf‐ fentlich – und auch gegen konkurrierende Ratgeber – verständlich zu machen, wel‐ che denn die drängenden Herausforderungen, Fragen und gar Krisen sind, über die politisch, gesellschaftlich und öffentlich zu beraten und zu entscheiden ist. Um das aber leisten zu können, um also zutreffende Zeitdiagnosen zu formulieren und ihnen dann eigenständige, weiterführende Deutungs- und Orientierungsangebote folgen zu lassen, die die öffentliche Beratung substanziell bereichern, ist die Wissenschaft nicht in erster Linie auf Marketinginstrumente und Beratungsstrategien, sondern zu‐ allererst auf einen geschützten Reflexions- und Deliberationsraum angewiesen, in dem die wissenschaftlichen Berater ihre Vor- und Ratschläge aus den verschiedens‐

29 Bacon 2005a.

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ten Disziplinen, Methodenschulen und Fachtraditionen im akademischen Beratungs‐ gespräch vorberaten können. In diesem Beratungsgespräch geht es nicht sogleich darum, Ratschläge zu formulieren und zu erteilen. Vielmehr dient es dazu, solche Ratschläge zuallererst zu generieren, sie durchzuspielen, auszuprobieren, hin und her zu erwägen, zu prüfen, zu kritisieren, zu verwerfen und zu schärfen. Das wäre eine andere Art der Politikberatung: ein gemeinsames vorberatendes, also probuleu‐ tisches, Mit-sich-zu-Rate-Gehen wissenschaftlicher Experten über die öffentlich zu beratenden und zu entscheidenden Herausforderungen und Alternativen. In dieser akademischen Politikberatung verbinden und verschränken sich damit die zwei Be‐ ratungsweisen einer „im doppelten Sinne beratungsbedürftigen Demokratie“: die fachliche Konsultation der wissenschaftlichen Experten sowie die bürgerschaftliche Deliberation der Laien, die ihrerseits als Demokratie-Experten in der Demokratie Verantwortung für ihr Gemeinwesen übernehmen.30 Die wissenschaftliche Akademie bietet diesem „Irgendwie“ der Politikberatung eine Heimat. Als Ort deliberativer Vorberatung wissenschaftlicher Beiträge zur öf‐ fentlichen Beratung kann sie sich gleichwohl ebenfalls auf den Akademie-Vordenker Francis Bacon berufen, allerdings weniger auf den Verfasser von „Nova Atlantis“, sondern eher auf den in humanistischer Manier mit sich selbst zu Rate gehenden Au‐ tor der „Essays or Counsels, Civil and Moral“ aus dem Jahr 1612. Wilhelm Hennis erinnerte, als er den Verlust des Rats in der Moderne beklagte, an einen dieser Es‐ says mit dem Titel „Of Counsel“, in dem Hennis bei Bacon die alte Wertschätzung für das nicht allein technisch-fachliche, sondern allgemein menschliche Sich-Mitein‐ ander-Beraten noch ausgedrückt fand: „Jedwede Sache will hin und her erwogen sein; will man sie jedoch nicht in der Beratung sozusagen durchrütteln und schütteln lassen, so wird das Schicksal sie auf seinen Wogen durchschütteln; sie hat dann we‐ der Bestand noch Dauer, sondern schwankt einher wie ein Betrunkener.“31 Soll die zu beratende Sache nicht wie ein Betrunkener einher schwanken, so erscheint es al‐ lerdings, anknüpfend an Bacons Überlegung, auch ratsam, Vorsorge dafür zu treffen, dass die Berater nicht ihrerseits bei ihrer Beratung wie Betrunkene einher schwan‐ ken, indem sie blind dem wechselnden Schicksal hinterherrennen, etwa den gesell‐ schaftlichen Moden, öffentlichen Trends, wissenschaftspolitisch proklamierten Re‐ volutionen und wissenschaftsparadigmatisch plakatierten „turns“. Gerade deswegen bedarf die Vorberatung der vielen wissenschaftlichen Ratgeber des Schutzes vor der Öffentlichkeit. Nur wenn sie ihre Ratschläge frei von öffentlichen Erwartungen 30 Zu der doppelten Beratungsbedürftigkeit der liberalen Demokratie, mit der sich die demokrati‐ sche Ratgeber-Rolle von Eliten und Experten gegen populistische und radikaldemokratische Kritiken am „Establishment“ verteidigen lässt, siehe Wassermann/Straßenberger 2018; zu der Unterscheidung von Konsultation und Deliberation als zwei komplementären Spielarten der Politikberatung vgl., mit besonderem Augenmerk auf die Beratungsdiskussion der Renais‐ sance, Wassermann 2011. 31 Bacon 2005b, S. 69.

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„durchrütteln“ und „durchschütteln“ können, werden die wissenschaftlichen Rat‐ schläge die öffentliche Beratung letztlich bereichern. Die wissenschaftliche Akade‐ mie bietet in diesem Sinne einen probuleutischen Vorraum für eine demokratische „Aufklärung jenseits der Öffentlichkeit“,32 deren Ergebnisse sich dann aber diesseits der Öffentlichkeit in der Beratung der Bürger als epistemisch autoritativ, gemein‐ wohlförderlich und mehrheitstauglich zu erweisen und zu bewähren haben.33 Zu den institutionellen Eigenheiten der wissenschaftlichen Akademie als eines solchen probuleutischen Vorraums demokratischer Beratung gehört daher die Frei‐ heit von unmittelbaren Politikberatungserwartungen wesentlich dazu, also die Frei‐ heit von den kurzfristigen und wechselnden Relevanz- und Bedeutsamkeitszumutun‐ gen der politischen Öffentlichkeit, die die „Universität von heute“ in einen Ort der Unfreiheit und damit auch der Ratlosigkeit zu verwandeln drohen. Um die akade‐ misch geschützte Beratungsfreiheit aber tatsächlich zur gesellschaftlich heilsamen Beratung zu nutzen, ist die wissenschaftliche Akademie auf Voraussetzungen ange‐ wiesen, die sie selbst nicht alleine bereitstellen, sondern allenfalls anregen und vor‐ leben kann. Hierzu gehören das wohlwollende gesellschaftliche und politische Ver‐ ständnis einerseits und die patriotische Mitverantwortung der Akademiemitglieder andererseits. Beides gründet in Vertrauen: in dem Vertrauen der Öffentlichkeit in die Beratung der Akademie sowie dem Vertrauen der Akademiemitglieder untereinander in ihre wechselseitigen Ratschläge. Francis Bacon hat denn auch in seinem Essay „Of Counsel“ das Vertrauen als Grundbedingung jeder Beratung in schöne Worte ge‐ fasst, die Hennis ebenfalls zitiert: „Der größte Vertrauensbeweis der Menschen liegt darin, dass sie sich voneinander beraten lassen. In andern Vertrauenssachen überlas‐ sen wir unsern Mitmenschen nur einen Teil von dem, was wir haben: Ländereien, Vermögen, Kinder, Kredit oder irgendeine besondere Angelegenheit, während wir denen, die wir zu unsern Ratgebern machen, schlechthin alles überliefern. Um wie‐ viel mehr sind diese daher zu äußerster Treue und Redlichkeit verpflichtet!“34 Ba‐ cons Lob des vertrauensvollen Rats könnte eine Ethik des akademischen Ratgebens und Ratnehmens inspirieren. Die Akademie kultiviert solch ein Ethos: das Ethos des Zuhörens, Nachfragens, Bezweifelns und Bestärkens statt des permanenten Sendens, Präsentierens, Darstellens und Konkurrierens. Den vielen Ratgebern – multi con‐ siliarii – verlangt das einiges ab: Zeit, Anwesenheit, Engagement, Gesprächsbereit‐ schaft, Bescheidenheit, Offenheit, Nachdenklichkeit, oder in Bacons Worten: „Treue“ und „Redlichkeit“. Einbußen an öffentlicher Sichtbarkeit und wissen‐ schaftsinterner Bedeutsamkeit sind zu erwarten. Der Verlust an fachdisziplinärer Selbstgewissheit und paradigmatischer Selbstsicherheit steht zu befürchten. Ungebe‐ 32 Diese Wendung verdankt sich Kirill Abrosimovs „antihabermasianischer“ Aufklärungsge‐ schichte in: Abrosimov 2014. 33 Zur öffentlichen Inszenierung epistemischer Autorität in der Demokratie siehe am Beispiel wissenschaftlicher Experten Wassermann 2018. 34 Bacon 2005b, S. 68.

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tene Ratschläge und unfruchtbare Beratungen können nicht ausgeschlossen werden. Akademische Freiheit, gesellschaftliche Heilsamkeit und persönliche Erfüllung sind zu gewinnen. Peter Graf Kielmansegg berichtete anlässlich der Festveranstaltung zu seinem 80. Geburtstag am 22. Juli 2017 in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, er arbeite gerade an einem Beitrag für das Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, jenes Lexikon, das seit seiner Erstauflage im Jahr 1889 zentrale rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Fragen einem breiten, interessierten Publikum verständlich zu machen sucht. Um sich über den Stand der Diskussionen in den einschlägigen Wis‐ senschaftsdisziplinen zu informieren, habe er seine Mit-Akademiker an der Heidel‐ berger Akademie der Wissenschaften um Rat gefragt. In den folgenden Tagen erhielt er Nachricht von einem Ägyptologen, einem Althistoriker, einem Philosophen und vielen weiteren mehr. Sie schickten Synopsen, Abschriften neuer Papyrusfunde, Aufsatzexzerpte, Tagungsberichte, Dokumente. Das Thema von Kielmanseggs Lexi‐ konartikel lautete: „Legitimität“. Ein guter Berater versteht nicht nur gut zu beraten, sondern sich auch gut beraten zu lassen – ganz so, wie der gute Bürger nach Aristo‐ teles gut zu herrschen und gut beherrscht zu werden versteht. Peter Graf Kielman‐ segg ist ein guter Berater. Salus ubi boni consiliarii.

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Ellen Thümmler Oft ergründet, schwer zu beschreiben – der Wissenschaftler als „public intellectual“. Eine Spurensuche am Beispiel Peter Graf Kielmanseggs im Merkur und in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung

1. Zur Gestalt des „public intellectual“ Als Peter Graf Kielmansegg im Herbst 1983 – gerade sechsundvierzigjährig – mit dem Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung ausgezeichnet wurde, würdigte ihn mit Karl Dietrich Bracher ein Kollege seiner Zunft. Der Laudator charakterisierte Graf Kielmansegg als „Stilist des politischen Essays“, der sich darin „von vielen politikwissenschaftlichen Alters‐ genossen abheb[e]“; er argumentiere „behutsam und doch schlagend“, schreibe „jar‐ gonfrei“, ohne einer klaren Stellungnahme auszuweichen.1 Bracher hatte einen Titel vor Augen, den er als Programm las: „Nachdenken über die Demokratie“2 über‐ schrieb der Geehrte einen drei Jahre zuvor veröffentlichten Sammelband mit Aufsät‐ zen zur Zukunft der Demokratie. In diesem Nachdenken verbanden sich für den Be‐ trachter „ideengeschichtliche und politisch-normative Beobachtungen zu durchaus aktuellen wertbetonten Aussagen“.3 Zwar wurde der Wissenschaftler Graf Kielman‐ segg ausgezeichnet, der 1985 von der Universität Köln nach Mannheim wechseln sollte, aber eben nicht der akademische Autor, vielmehr der politische Essayist. Bra‐ cher veranschaulichte eine intellektuelle Figur, die Graf Kielmansegg später selbst als „Wortmenschen“ festhalten wird. Ihm gibt er die „kritische Beobachtung und Be‐ gleitung der Politik“ auf.4 Die folgenden Zeilen nähern sich jener Gestalt: Sie versuchen, den (politischen) Wissenschaftler und den Intellektuellen in einer Person wahrzunehmen, der durch sein Expertentum als Deuter seiner Gegenwart herausgefordert ist. Beide Rollen können analytisch im „Prototyp des public intellectual“5 verschmolzen werden, um eine „zeitdiagnostische Empfindlichkeit“ als Experte im politischen Alltag zu er‐

1 2 3 4 5

Bracher 1983, S. 81-83. Graf Kielmansegg 1980. Bracher 1983, S. 83. Graf Kielmansegg 1988a, S. 252. Der Historiker Paul Nolte folgte dieser These bei Jürgen Habermas, vgl. Nolte 2013, S. 392 f.

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gründen. Wissenschaftlicher Experte und Intellektueller sind miteinander verzahnt. Anhand von Peter Graf Kielmansegg gilt es, dies zu erproben. Der Soziologe Zygmunt Bauman beobachtete, dass sich der Intellektuelle im 20. Jahrhundert von einem „legislator“ zu einem „interpreter“ gewandelt habe. Er führte dies auf zwei Ursachen zurück: Als Mahner universaler Ideen sei er unwiderruflich verloren, nurmehr als professioneller Experte gefragt. In dieser Rolle werde ihm bis‐ weilen eine „esoterische Autorität“ zugemessen, die einer „Zwangsjacke“ gleiche.6 Mit jener Deutung entstanden politische und soziologische Annäherungen an den In‐ tellektuellen, die ihn als „mediator“ von „vehicular ideas“ und „facilitator of talk around them“ wahrnahmen.7 Den akademischen Experten zeichne eine „in-betweenness“ aus.8 Im Zeitalter des Wissens wirke der Wissenschaftler als Vermittler und Mediator, der um öffentliche Gelder für seine Profession und seine Forschungen wirbt. Die „Akademisierung“ des Intellektuellen resultiert desgleichen aus einer im‐ mer komplexeren Moderne, die nach profunden Einsichten und Erklärungen ver‐ langt.9 An dieser Stelle soll mit dem britischen oder amerikanischen term des „pu‐ blic intellectual“ operiert werden, um die Rolle eines Experten und eines Intellektu‐ ellen einzufangen. Darin lässt sich gleichermaßen der Gefahr begegnen, den (kriti‐ schen) Resonanzraum des Experten zu vernachlässigen oder seine Gegenstände aus den Augen zu verlieren. Auch werden widerstreitende Gegenbewegungen erkenn‐ bar: eine „Veralltäglichung“ des Wissens oder seine „Szientisierung“, d.h. ein Rück‐ zug aus der öffentlichen Arena in das Forscherlabor.10 Im deutschen und französi‐ schen Sprachraum changiert dieser Typus zwischen dem „öffentlichen Intellektuel‐ len“ im Sinne Ralf Dahrendorfs, der ihn im Spannungsfeld von Distanz und Partei‐ nahme lokalisierte, und dem von Michel Foucault entlehnten „spezifischen Intellek‐ tuellen“.11 Die „Experten-Intellektuellen“ bleiben bei den Genannten gleichwohl schemenhaft, wenn Dahrendorf sie zum Hüter demokratischer Werte im Zeitalter der Ideologien erklärte oder Foucault die Wissenschaftler durchaus im Sinne einer „Ge‐ genmacht“ zum öffentlichen Diskurs positionierte. Solche Beobachtungen stärken die Arbeit am Begriff des „public intellectual“. Sie steigern unter Umständen jedoch das Ideal einer charismatischen Persönlichkeit. Demgegenüber könnte eine weiterführende Untersuchung konkreter intellektueller Praktiken oder ihrer Räume sich vom singulären Gegenstand lösen und mehrgeteilte Interventionsformen erkennen. Auch wenn in diesem Beitrag mit Peter Graf Kiel‐ mansegg erneut nur eine einzelne Figur (anhand begrenzter Formate) untersucht wird, verbirgt sich darin die Chance, intellektuelle Gruppen, ihre Konflikte, Kontro‐ 6 7 8 9 10 11

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Bauman 1994, S. 199; Bauman 1995. McLennan/Osborne 2005, S. 53 f. Exemplarisch: Joffe 2003; Melzer 2003. Vgl. Baert/Booth 2012. Vgl. Collini 2003. Vgl. Dahrendorf 2006; Foucault 2003.

versen und ihre Ideenpolitik zu durchdringen.12 Eine solche Spurensuche folgt Rol‐ len und Rollenbildern. Es geht nicht darum, dem Lamento um den Intellektuellen beizupflichten, sondern um die historisch und soziologisch anmutende Untersu‐ chung einer konkreten Praxis: „was Intellektuelle wie, wo und wofür tun“.13 Sie las‐ sen sich anhand von Interventionen – von Denk- und Äußerungsformen – erken‐ nen.14 Diese Praxis wird anhand von Peter Graf Kielmanseggs Beiträgen in dem Mo‐ natsmagazin Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken und der Frank‐ furter Allgemeinen Zeitung (FAZ) untersucht. Die Aufsätze stehen nicht in einem Gegensatz zu seinen akademischen Schriften, sie sind eng miteinander verwoben und prägen den Typus des Gelehrten. Zwar publizierte Graf Kielmansegg auch in anderen Journalen, seine langjährige Tätigkeit für die Wissenschaftsakademien in der Bundesrepublik ist ebenfalls gut dokumentiert, allerdings enthalten die Aufsätze für den Merkur und die FAZ ein diagnostisches Moment, das es zu bergen gilt. Seine intellektuelle Gestalt weiter verdichtend, erscheint Graf Kielmansegg als akademi‐ scher Experte, der mit seinen politischen, historischen oder sozialen Gegenständen die wissenschaftliche und die öffentliche Debatte suchte. Er meldete sich in öffentli‐ chen Foren zu Wort, um auf das begründete Argument und auf die Rationalität de‐ mokratischer Verfahren zu verweisen. Der 1937 geborene Peter Matthias Alexander Graf Kielmansegg studierte Ge‐ schichte und Rechtswissenschaften an den Universitäten Bonn, Kiel und Tübingen. Nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen vor dem Oberlandesgericht Köln 1961 und einem Studienjahr an der Universität Oxford arbeitete er zwei Jahre später als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Eugen Kogon an der Technischen Hochschule Darmstadt. Im Juli 1964 wurde er in Bonn promoviert, 1971 an der Fakultät für Kul‐ tur- und Staatswissenschaft in Darmstadt (bei Kogon und Martin Draht) habilitiert.15 Noch im gleichen Jahr folgte er einem Ruf für Politikwissenschaft nach Köln; in den Jahren 1977 bis 1979 wirkte er als stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Ver‐ einigung für Politische Wissenschaft. Nach seiner Emeritierung in Mannheim war er bis 2009 unter anderem als Vizepräsident der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften, als Vizepräsident der Studienstiftung des deutschen Volkes sowie im wissenschaftlichen Beirat der Fritz-Thyssen-Stiftung tätig. Hatte er eines der po‐ litikwissenschaftlichen Kernthemen der 1970er Jahre – die Legitimation der moder‐ nen Demokratie16 – mit einer konservativen Stimme wesentlich mitbestimmt, präg‐ ten ihn gleichermaßen historische Fragestellungen: So erschien 1968 bzw. 1980 eine 12 13 14 15

Vgl. Germer/Müller-Doohm/Thiele 2013. Vgl. ebenda, S. 511 (Hervorhebung im Original). Andere Annäherungen liefern die Beiträger in: Kroll/Reitz 2013. Graf Kielmansegg 1964; die Habilitation „Volkssouveränität als Legitimationsproblem“ wurde 1977 mit leicht verändertem Titel publiziert: Graf Kielmansegg 1977. 16 Vgl. Graf Kielmansegg 1976; Graf Kielmansegg/Matz 1978.

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Geschichte des Ersten Weltkrieges, im Jahr 2000 eine Geschichte des geteilten Deutschlands.17 Dazwischen lagen geschichtspolitische Interventionen.18 In den letzten Jahren agierte Graf Kielmansegg als kritischer Wegbegleiter der Europä‐ ischen Union, deren Stolpersteine er mit den Zukunftsfragen der westeuropäischen Gesellschaften verband.19 Heute wird er zu einer Generation innerhalb der Politikwissenschaft gezählt, wel‐ che zur wissenschaftlichen Professionalisierung ihres Faches in der Bundesrepublik beitrug, ohne sich vor einer – auch normativ verstandenen – öffentlichen Rolle zu scheuen.20 Graf Kielmansegg sah seine Zunft 1988 als „Orientierungswissenschaft“, die über eine empirische Beschreibung und Deutung der Wirklichkeit hinaus „über eine dem Menschen gemäße und bekömmliche Ordnung des Zusammenlebens“ nachdenke. Ihr Handwerkszeug liege in der Präzisierung von Begriffen oder in ge‐ sellschaftlichen Funktionsmechanismen.21 Messen lassen müsse sie sich an ihrer Präsenz wie ihrer Glaubwürdigkeit in öffentlichen Debatten, die solche Reflexionen herausfordere.22 Im Folgenden stehen seine Texte für den Merkur und die FAZ im Mittelpunkt; zu‐ nächst werden beide Formate kurz zu beleuchtet, danach sind wenige thematische Vertiefungen angezeigt. Um sich der Gestalt Graf Kielmanseggs als „public intellec‐ tual“ zu nähern, sollen eher die Problemfelder und Therapien untersucht werden, die er zu seinen Gegenständen erkor. Es geht um seine zeitdiagnostische „Empfindlich‐ keit“ oder den ordnungspolitischen Spürsinn.

2. Der Merkur und die FAZ als „Leitmedien“ in der Bundesrepublik Der seit 1984 als Herausgeber des Merkur wirkende Literaturwissenschaftler und Publizist Karl Heinz Bohrer sprach rückblickend vom „Geruch des Akademischen“, der an dem Blatt haftete.23 Von Hans Paeschke bei seiner Gründung 1947 mit dem

17 18 19 20

Vgl. Graf Kielmansegg 1968, 2000a. Vgl. Graf Kielmansegg 1973a, 1989, 2014. Graf Kielmansegg 2015a. Vgl. aktuell: Jesse/Decker 2016, Debus/Faas/Schäfer 2017; einen werkbiografischen Abriss liefern: Gallus/Thümmler 2014; Kaiser/Zittel 2003. 21 Graf Kielmansegg 1988b, S. 16. 22 Vgl. Graf Kielmansegg 2001a. Eckhard Jesse und Sebastian Liebold lokalisieren Graf Kiel‐ mansegg zwar im Teilbereich „Politische Theorie“, verweisen aber darauf, dass er auch in an‐ deren wirkte. In ihrer Einordnung gehörte er zur dritten Generation seines Faches in der Bun‐ desrepublik, vgl. Jesse/Liebold 2014, S. 27, 52. Das Magazin Cicero zählte Graf Kielmansegg 2008 zu den 50 wichtigsten Gesellschaftswissenschaftlern des Landes, vgl. Kissler 2008, S. 123. 23 Ab 1991 arbeitete er gemeinsam mit Kurt Scheel, der bereits seit 1980 als Redakteur beim Merkur angestellt war. Bohrer und Scheel übergaben 2012 die Herausgeberschaft an Christian Demand. Vgl. Scheel 2011.

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Untertitel „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“24 versehen – ein Jahr spä‐ ter trat Joachim Moras als Mitherausgeber hinzu –, gab er dem Merkur die Haltung einer „Ideologiekritik, Polarisierung [und, E.T.] Zeitgeistkorrektur“ mit auf den Weg, getragen von einem konservativ-bildungsbürgerlichen Zug.25 Zwischen Paeschkes Abschied und Bohrers Antritt verantwortete der Schriftsteller Hans Schwab-Felisch für fünf Jahre die Zeitschrift. Die Frühgeschichte des Merkur ist recht gut erforscht: In den Augen des Histori‐ kers Christian Bailey gehörte die politisch-literarische Kritik am Zeitgeist zum Selbstbild der Herausgeber.26 Paeschke rief während des ersten Dezenniums zu einem konzentrierten Nachdenken über das Abendland auf. Dabei knüpfte er nicht nur an intellektuelle Traditionen der Weimarer Republik an, sondern legte seine Zeitschrift gerade auf die kritische Begleitung einer zunehmenden „Westernisie‐ rung“ der Bundesrepublik fest.27 Hans Manfred Bock charakterisierte dies als „fort‐ gesetzte Modernisierung des Konservativismus“, die gerade von einem geistesge‐ schichtlichen Gestus lebte.28 So etablierte sich das Blatt in der bundesrepublikani‐ schen Zeitschriftenlandschaft zwischen den Frankfurter Heften und dem Kursbuch, im Geist der Nouvelle Revue Française verbunden, mitunter einer Konkurrenz zum Monat verpflichtet. Der Merkur war ein Ort intellektueller Debatten, die hier nur in Streiflichtern angerissen werden können: Zu den frühen (literarischen) Beiträgern zählten Ludwig und Ernst Robert Curtius, Margret Boveri, Max Rychner, Gottfried Benn oder Martin Buber. Hier wurde mit Jean Améry und Hans Egon Holthusen um Fragen von Schuld und um das Erbe des Nationalsozialismus gestritten. Hier dach‐ ten Martin Heidegger und José Ortega y Gasset über das „Denken“ nach; hier liefer‐ te Hannah Arendt zu Beginn der 1960er Jahre einen Vorabdruck ihres Buches Eich‐ mann in Jerusalem ab, und hier brachte Jürgen Habermas zentrale Stichworte seines Werkes ein.29 Für Bohrer standen das Essay als Form und die Rolle des Gelehrten, der an Uni‐ versitäten beheimatet war, in einem unauflöslichen Gegensatz, den auszuhalten wohl nur seinen Ausnahmen möglich schien.30 Gleichwohl bemerkte er, die meisten der Merkur-Autoren seien „Universitäts-Leute“, sie entstammten also einem akademi‐ schen Umfeld. Dass die Zeitschrift sich die politische und kulturelle Essayistik auf 24 25 26 27 28

Zur Diskussion um den Titel vgl. Demand 2012. Bohrer 1991, S. 991; Korn 1979. Vgl. Bailey 2016; Parker/Daries/Philpotts 2004, S. 126-185, besonders S. 143-155. Zur Diskussion um den Begriff vgl. Bavaj/Steber 2015; Doering-Manteuffel 2011. Bock bemerkte kritisch, dass mit den Kulturdiagnosen vom schwindenden „deutschen Geist“ die „Übungen im europäischen Denken“ entstanden, die sich jedoch vom Prozess der europä‐ ischen Vergemeinschaftung wie dem deutschen Parteienstreit weitgehend fernhielten, vgl. Bock 2001. 29 Einen genaueren Überblick bietet Kießling 2014; Berg 2012; Ortega y Gasset 1953; Heidegger 1952; Arendt 1963; nur ausgewählt: Habermas 1965, 1968a, 1968b. 30 Bohrer 1991, S. 995.

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die Fahnen geschrieben hatte, zeugt vom Vertrauen in das geschriebene Wort. Bis heute verstehen die Herausgeber den Merkur als sachorientiertes Forum zu den „we‐ sentlichen Fragen der Gegenwart“ zwischen „Kunst, Wissenschaft, Politik, Philoso‐ phie, Wirtschaft oder Gesellschaft“.31 In den 1990er Jahren prägte ein ästhetischer Drift das Monatsheft, der wesentlich auf Bohrer und Scheel zurückging.32 Graf Kielmanseggs Beiträge entstanden hauptsächlich in den 1970er und 1980er Jahren unter dem Gründungsherausgeber Paeschke.33 Aus Sicht des Historikers Friedrich Kießling prägte er den Merkur in beiden Dezennien entschieden mit und errang mit ähnlich aktiven Autoren wie Kurt Sontheimer oder Wilhelm Hennis intel‐ lektuellen Einfluss.34 Seit 1972 wurden achtzehn Beiträge von ihm veröffentlicht, al‐ lein sieben bis 1979, sechs weitere zwischen 1981 und 1988.35 Dabei handelt es sich einerseits um längere Abhandlungen zur Wissenschafts- oder Geschichtspolitik und zu den Krankheitsbildern der westlichen Demokratien, andererseits um Rezensio‐ nen, die ihn zu ausgedehnten eigenen Stellungnahmen ermutigten. In die Hochphase seiner Merkur-Tätigkeit fiel der Disput um dessen „Überparteilichkeit“ und seine dialogische Struktur – im Blatt im Sinne einer widerstreitenden Synthese verstan‐ den. Er war in einem Zeitschriften-Porträt Helmut Heißenbüttels losgetreten worden, stärkte aber nur die Haltung, einer Debatte um den Zeitgeist beizuwohnen.36 Graf Kielmansegg galt als einer der „wichtigen Kommentatoren“ des Merkur, dem Bohrer einen „souveränen, diagnostischen Charakter“ attestierte, ähnlich den Soziologen Ralf Dahrendorf oder Karl Otto Hondrich.37 Umriss der spätere Heraus‐ geber die politische Diskussionen jener Jahrzehnte mit den Leitworten „Verfas‐ sungspatriotismus, Erinnerungskultur und Europaidee“, können sie mit Graf Kiel‐ 31 Was ist der Merkur. In: https://www.merkur-zeitschrift.de/ueber-den-merkur/was-ist-der-merk ur/ [download am 3. Februar 2017]; vgl. auch ein Interview mit Christian Demand (Herausge‐ ber) und Ekkehard Knörer (Redakteur) im Deutschlandlandfunk in der Reihe Essay und Dis‐ kurs vom 31. Juli 2016, unter: http://www.deutschlandfunk.de/drucksachen-teil-5-5-zeitschriftmerkur-ein-pingpongspiel.1184.de.html?dram:article_id=359914 [download am 3. Februar 2017]. 32 Zur Geschichte der Merkur vgl. Demand/Knörer 2013; Scheel 2011. Die ersten Ausgaben er‐ schienen noch in einem zweimonatlichen Rhythmus. 33 Graf Kielmansegg berichtete von seiner freundlichen Verbundenheit mit Paeschke, der ihm als kluger Beobachter wie strenger Mahner gegenübertrat. Weitere Einblicke in ihre persönliche Korrespondenz erlaubt eine Recherche im Redaktionsarchiv der Jahre 1946 bis 1978, das im Literaturarchiv Marbach verwahrt wird. 34 Kießling 2014. 35 Zwischen 1993 und 2003 lieferte Graf Kielmansegg nochmals fünf Aufsätze ab. Ob in den De‐ batten um die deutsche Wiedervereinigung eine zunehmende Distanz zwischen Autor und Zeit‐ schrift eintrat, die bei Jürgen Habermas zu einem Bruch mit dem Merkur führte, kann hier nicht weiterverfolgt werden. Zumindest steht dem ein Beitrag entgegen: Graf Kielmansegg 1993. 36 Vgl. Heißenbüttel 1977. 37 Bohrer 2011, S. 1096-1099; Ralf Dahrendorf verfasste kontinuierliche Kommentare unter der Rubrik „Europäisches Tagebuch“, die später noch einmal gesammelt wurden: Dahrendorf 1995. Hans Paeschke führte einen der ersten Beiträge Graf Kielmanseggs (Graf Kielmansegg 1973b) als „Wegmarke“ in der Merkur-Historie auf: vgl. Paeschke 1978, S. 1178.

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mansegg um den Korpus des demokratischen Verfassungsstaates im Appell nach mehr Demokratie, das Zeitalter der Ideologien und um die zukünftige Gestalt Euro‐ pas ergänzt werden. An den politischen Institutionen orientiert, überschaute er deren Funktionsmechanismen und Abstimmungsprozesse, evaluierte die deutsche Ge‐ schichte und ihre Zäsuren im 20. Jahrhundert oder widmete sich sozialen Ermittlun‐ gen innerhalb der bürgerlichen Gemeinschaft; bei Fragen der internationalen Politik – außer bei der deutschen Wiedervereinigung – hielt er sich zurück. Alle MerkurBeiträge entstanden in den Jahren nach den akademischen Weihen, seine wissen‐ schaftliche Karriere hatte bereits Fahrt aufgenommen. Die besondere Verbindung mit dem Magazin lässt sich schon daran ablesen, dass der Band Nachdenken über die Demokratie, den Bracher als Anschauungsobjekt sei‐ ner Laudatio wählte, sechs Arbeiten enthielt, die zuvor im Merkur publiziert wur‐ den. Die „Aufsätze aus einem unruhigen Jahrzehnt“, so der Untertitel, waren Rückund Ausblicke in einem: Graf Kielmansegg diskutierte Form und Zukunft der west‐ lichen Demokratie zwischen dem Aufbruch der 1960er Jahre und einer beginnenden „Tendenzwende“.38 Er diagnostizierte einen mehrschichtigen Zeitenwandel: „Der Ende der sechziger Jahre aufgebrochene Dissens darüber, was Demokratie sein kön‐ ne und sein solle, was unsere Verfassung von uns fordere und wie das Gemeinwesen Bundesrepublik Deutschland zu beurteilen sei, wirkt fort, und es wäre gefährlich, ihn gleichsam sich selbst zu überlassen in der Hoffnung, daß sich in der Zuwendung zu den Aufgaben des Tages das Grundsätzliche von selbst erledige. […] Der Versuch, sich über Verfassung und Lebensform der Freiheit zu verständigen, darf also nicht aufgegeben wer‐ den. Freilich wird die Demokratiediskussion immer tiefer in den Schatten der Herausfor‐ derungen, vor denen die Bundesrepublik wie alle freiheitlichen Verfassungsstaaten steht, der Aufgaben, die bewältigt werden müssen, geraten. Die Welt, in der wir leben, ist ge‐ fährdet. Die siebziger Jahre haben uns eine Ahnung dieser Gefährdungen verschafft, von den Bedrohungen des Friedens in einer Weltgesellschaft, in der Anarchie immer weiter um sich greift, bis zu den Bedrohungen der natürlichen Grundlagen unserer Existenz durch die Industriezivilisation. Diese Herausforderungen sind das eigentliche Thema des nächsten Jahrzehnts oder, genauer: die Fähigkeit des freiheitlichen Verfassungsstaates, auf seine Weise auf sie zu antworten, ist es. Ende der sechziger Jahre war es die zugleich zornige und verführerisch einfache Forderung nach ‚mehr Demokratie‘, die der aufflam‐ menden heftigen Demokratiediskussion ihr Gepräge gab. Jetzt steht die Bewährung der Institutionen, die wir haben, unter dem Druck säkularer Krisen zur Debatte. Die Demo‐ kratiediskussion tut gut daran, diesen Wechsel der Agenda wahrzunehmen.“39

Acht Jahre später erschien mit Das Experiment der Freiheit abermals ein Sammel‐ band, der Beiträge aus dem Merkur abdruckte; 2013 folgten acht Versuche über den demokratischen Verfassungsstaat mit gleichlautendem Auftrag.40 Spürte Graf Kiel‐

38 Graf Kielmansegg 1980, S. 7. Zum Begriff vgl. Hoeres 2013; Schildt 2011. 39 Graf Kielmansegg 1980, S. 9 f. 40 Vgl. Graf Kielmansegg 1988c, 2013a.

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mansegg eine „Unruhe“ in den politischen Debatten, resümierte er, dass die neuen Formen bürgerschaftlichen Engagements unter dem Titel „mehr Demokratie“ und „mehr politische Partizipation“ das „Gehäuse der repräsentativen Demokratie“ nicht wesentlich renoviert haben. Seine Stabilität müsse aus den Grundlagen des Verfas‐ sungsstaates und aus einer Bürgerschaftlichkeit gewonnen werden, nach denen er weiter bohrte. Zugleich widmete er sich den Debatten um Wachstum und Fortschritt, welche die 1980er Jahren prägten, und wandelte sie zu einer Diskussion um die „Zu‐ kunftsverantwortlichkeit“ der modernen Demokratie. Versammelte das Monatsheft Merkur Autoren aus Wissenschaft und Literatur, um mit ästhetischem Gestus gesellschaftliche Leitthemen zu ergründen, zählte für die FAZ ihre Auflagenstärke, ihre immense Verbreitung und das international weit ver‐ zweigte Korrespondentennetz. Seit Mai 1970 (besonders aber in den 1990er und 2000er Jahren) lieferte Graf Kielmansegg etwa fünfzig Beiträge für die überre‐ gional erscheinende Tageszeitung: darunter fallen längere (mitunter ganzseitige) Sentenzen im Politik-Blatt, im Feuilleton, im Wirtschaftsteil und bei den Geisteswis‐ senschaften, aber auch Rezensionen oder Leserkommentare. Seine eigenen Publika‐ tionen wurden ab 1969 kontinuierlich besprochen. Auch wenn an dieser Stelle nicht weiter untersucht werden kann, auf welche Initiative hin sich die einzelnen Wort‐ meldungen ergaben, so zeugt doch seine fortdauernde Autorschaft von einem steten Übereinkommen. Die Artikel sind, sofern sie nicht allein den Verfasser nennen, um einen Hinweis auf den Mannheimer Lehrstuhl oder auf seine Akademietätigkeit er‐ gänzt. Hatte Carl Schmitt 1958 von einer „Frankfurter Allgemeinen Langeweile“ ge‐ sprochen, nahm der Historiker Peter Hoeres dieses Stichwort auf, um die FAZ als „Leitmedium für die Bundesrepublik“, als „intellektuelles Relevanzmedium“ oder als „ordnungspolitisches Gewissen der Bundesrepublik“ zu gewichten.41 Galten ihre Redakteure bis in die 1960er Jahre hinein vor allem als Wirtschaftsfachleute, ge‐ wann danach das Feuilleton an Gewicht. In den 1970er Jahren entwickelte die Zei‐ tung ein konservatives Profil, das sich kritischer gegenüber dem sozialliberalen Zeit‐ geist positionierte.42 Am Ende der 1980er Jahre erreichte sie nach langem Wachstum eine Auflage von 360.000 täglich verkauften Exemplaren (2016: 252.000), sie stand unter anderem mit der Süddeutschen Zeitung „in der vordersten Reihe der meinungs‐ bildenden Institutionen Westdeutschlands“. Für sie schien ein „vorsichtiger Konser‐ vatismus“ charakteristisch.43 Dass die Herausgeber fortwährend „fremde Federn“ einholten, belegen zahlreiche Beiträge von Hermann Lübbe, Karl Rahner oder Dolf

41 Hoeres 2014; zur Frühgeschichte der FAZ vgl. auch Payk 2005. 42 Vgl. Hoeres 2015. 43 Mohler 1988.

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Sternberger. Graf Kielmansegg war hier neben seinen strukturellen Beobachtungen als tagespolitischer Interveneur gefordert.44 Gerade weil sich die Texte für beide Blätter überschneiden, lohnt eine kurze Be‐ merkung zu Stil und Form. Die Merkur-Herausgeber überließen den Autoren viel Raum für die Entfaltung ihrer Gedanken; oftmals ist der letztlich publizierte Entwurf das Ergebnis eines langen Abstimmungsprozesses mit der Redaktion. Mitunter stan‐ den einzelne Ausgaben unter thematischen Überschriften oder die Diskussion um einen Beitrag setzte sich mit Repliken in späteren Heften fort. Graf Kielmansegg nutzte jenes breite Format für Abwägungen: Einer Beobachtung oder einer These aus fremder Hand folgte oft eine eingrenzende Bewegung um den Gegenstand. Da‐ nach stellte er Argumente gegenüber, nutzte lange ideenhistorische und demokratie‐ geschichtliche Rückblenden, band andere Standpunkte ein und begründete abschlie‐ ßend seine Position. Die Diskussion politischer Fragen war häufig mit einem Aus‐ blick oder einer Handlungsempfehlung verbunden, argumentativ unterfüttert in der Suche nach „Orientierungswissen“.45 Er jonglierte zwischen feinsinniger Provokati‐ on oder Polemik, Mahnung und Zurückhaltung, mit denen mitunter die Geste eines Erinnerungsrufes oder eines Rekurses auf allgemein-verbindliche Normen einher‐ ging. Dies formte seinen Gestus als Jurist, Politikwissenschaftler und Historiker. Der sprachliche Stil änderte sich in den Textstücken für die Tageszeitung nicht, war not‐ wendig kürzer, pointierter, mitunter ironisch, jedoch beständig die Leser im Sinne eines „Wir“verpflichtend.

3. Leitgedanken und Marginalien Auch wenn sie keinen breiten Raum einnahmen, schufen die wissenschaftspoliti‐ schen Initiativen eine naheliegende Verbindung von Universität und Öffentlichkeit. Graf Kielmansegg plädierte entschieden für die Freiheit wissenschaftlicher For‐ schung in einer Gesellschaft ohne „Frageverbote“ und kritisierte eine „Diskussions‐ verweigerung“ durch „Insinuation“.46 Anhand der ersten Exzellenzinitiative bemerk‐ te er eine mögliche Einschränkung wissenschaftlicher Forschung durch externe Geldgeber sowie das daraus entstehende Ungleichgewicht von Forschung und Leh‐ re.47 Den hohen Stellenwert wissenschaftlicher Erkenntnissuche, die er in beiden Blättern umriss, maß er dabei aber nicht nur den Universitäten zu, sondern verlager‐ te sie in gleicher Weise auf die wissenschaftlichen Akademien. Wissenschaft unter‐ mauere ihre beratende Funktion für Politik und Gesellschaft, indem sie auf das Pro‐ 44 Zuletzt u.a. in den FAZ-Ausgaben vom 16. September 2010, vom 15. November 2011 und vom 24. September 2016 oder vom 5. Januar 2017, S. 25. 45 Graf Kielmansegg 2012a. 46 Graf Kielmansegg 2000b. 47 Graf Kielmansegg 2012b.

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blembewusstsein ihres Gegenübers verweise.48 Dies setzt voraus, dass die Ge‐ sprächspartner einander zugewandt agierten; Graf Kielmansegg verfolgte daraufhin eher die Abwendungsbewegungen. Auf den Hochschulen und Akademien lastete ein Zukunftsauftrag: das „Wissenskapital“ im gesellschaftlichen Dialog einzusetzen.49 Andere Gegenstände waren die Leitdebatten der Bundesrepublik: vom Fort‐ schritts- und Demokratieenthusiasmus über die Modernisierungsfolgen, deutschdeutsche Befindlichkeiten, Fragen historischer Schuld, das Ende des Kalten Krieges, das Auf und Ab der Legislaturen, bis hin zu ethischen Streitgesprächen um das Ehe‐ gattensplitting, die Präimplantationsdiagnostik oder nachhaltiges Wirtschaften. Ge‐ hörte dazu die globale Migrationsbewegung als Herausforderung für Staat und Ge‐ sellschaft, schloss er darin an frühere Einwürfe zur Staatsbürgerschaft an und ver‐ wies auf die Grenzen eines demokratischen Gemeinwesens zum Schutz seiner Ange‐ hörigen. Die Stabilität der „institutionalisierten Architektur des demokratischen Ver‐ fassungsstaates“ schien auf die Probe gestellt.50 Dabei variierte Graf Kielmansegg einzelne Problemfelder über die Jahrzehnte und die Magazine hinweg. Sie können als Lektionen zur fragilen Konstitution der Demokratie abstrahiert werden. Er appel‐ lierte an ein republikanisches Verständnis von Bürgerschaft, indem er dazu aufrief, jene Problemlagen wahrzunehmen und ihnen nicht auszuweichen.51 Graf Kielman‐ segg sprach wiederholt von Spannungen, Lähmungen, Ambivalenzen oder Flieh‐ kräften innerhalb der bundesrepublikanischen Demokratie, welche sich in Konflik‐ ten oder in gegensätzlichen Bewegungen seiner Akteure niederschlugen. Er warnte indes vor einer Abkehr von der Wirklichkeit oder einer „Zukunftsverweigerung“.52 Sein Leitmotiv war politischer Natur. Im Merkur ordnete er jene Störungen im demokratischen Mechanismus stärker unter eine allgemeine Tendenz oder schlüsselte sie unter einem klassischen Begriff des politischen Denkens (Demokratie, Tugend, Emanzipation, Souveränität, Staat‐ lichkeit, Herrschaft, Marktwirtschaft oder Fortschritt) auf. Graf Kielmansegg argu‐ mentierte vom Fundament eines repräsentativen Verfassungsstaates aus, der kein de‐ mokratisches Utopia errichten könne. Jener demokratische Verfassungsstaat, dessen historischen Weg er mehrfach beleuchtete, gewährleiste die rechtliche Einhegung staatlicher Gewalt, garantiere die Menschenrechte und orientiere sich an seinen Bür‐ gern.53 In den 1970er Jahren war er wesentlich mit den gesellschaftlichen Verände‐

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Graf Kielmansegg 2009a. Ebenda. Graf Kielmansegg 2016a, 2016b. Dies lässt sich u.a. auch an den praktischen Diskussionen um Feminismus und Gleichstellung, um Politikverdrossenheit, um soziale Ungleichheiten oder um die Idee einer Weltrepublik zei‐ gen: Graf Kielmansegg 2004, 2013b. 52 Graf Kielmansegg 2003. 53 Graf Kielmansegg 1981, 1979a.

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rungen befasst: den studentischen Protesten, einer erstarkenden politischen Linken54, dem Ruf nach einer veränderten Legitimation des Staates durch mehr demokratische Mitbestimmung, den Belastungen der sozialen Marktwirtschaft oder den Anforde‐ rungen an die bundesrepublikanische Außenpolitik während des Kalten Krieges. Mit einer Tendenz der Bewahrung und einer problemorientierten Diskussion begründete er: „Die demokratische Revolution ist also ein Prozeß, der jede Gestalt, die er annimmt, so‐ gleich auch wieder in Frage stellt. Woraus folgt, daß jede Demokratie – scheinbar para‐ dox und vielleicht provokativ formuliert –, insofern sie verfaßtes Gemeinwesen ist, im‐ mer auch gegen die demokratische Revolution stabilisiert werden muß. […] Wenn der Mensch der Stifter seiner eigenen Lebensordnungen ist, so heißt das ja: alles kann anders gedacht werden, als es ist. Jede Wirklichkeit muß sich im Horizont von Möglichkeiten behaupten, die ihr Daseinsrecht bestreiten. Insbesondere ist auch alles politische Han‐ deln, alles Begründen und Bewahren politischer Ordnungen immer Wahl und Entschei‐ dung. […] [D]ie Offenheit der Welt, die für die Moderne konstitutiv ist, bürdet politi‐ schen Ordnungen eine Rechtfertigungslast auf, die allen vormodernen Epochen unbe‐ kannt gewesen ist. Die Frage erscheint als begründet, ob nicht in einem Horizont utopi‐ scher Ziele und unendlicher Möglichkeiten das Problem der Rechtfertigung politischen Handelns mindestens theoretisch zu einem unauflösbaren Dilemma wird.“55

Dazwischen riet er seiner eigenen Zunft zu einer begrifflichen Schärfung, um den „Sprachverfall“ oder die veränderte Anordnung von „Politik“ oder „Staat“ nicht zu übersehen.56 Gewahrte er eine fortdauernde „Legitimationskrise“ der modernen De‐ mokratie, galt es, demokratische Legitimität als eine analytische Kategorie normativ und empirisch zu untersuchen. Zu den Konfliktherden zählte er die Parteien im par‐ lamentarischen Gefüge, die demokratische Streitkultur, den Föderalismus, den Popu‐ lismus, eine Schmähung von Politikern – oder allgemeiner: das Verhältnis von Re‐ präsentanten und Repräsentierten –, den Verlust einer gemeinsamen bürgerschaftli‐ chen und kulturellen Identität, das Bild von Politik oder die Rolle der Medien. Dies bestätigt abermals die diagnostischen Begriffssentenzen. Als Historiker der westli‐ chen Demokratien wählte er John Locke, Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill zu seinen Gewährsmännern einer rechtlich eingehegten Ordnung. Graf Kielmansegg bemühte ein Verständnis politischer Existenz, die Menschen aktiv aneinander binden könne. Sein Wort galt einer Mäßigung oder einer Selbstbe‐ schränkung der Demokratie, nicht immer mehr Handlungsräume zu erschließen bzw.

54 Der Beobachter hielt – in einem seiner ersten Merkur-Beiträge – die Renaissance des Marxis‐ mus innerhalb der Linken für gänzlich überholt, vgl. Graf Kielmansegg 1973b. 55 Graf Kielmansegg 1982, S. 1153. 56 Graf Kielmansegg 1979b. Dieser Handlungsauftrag war Teil eines Gesprächs, das verschiede‐ ne Autoren über mehrere Ausgaben des Heftes führten. Es ging im Wesentlichen auf Dolf Sternbergers Vorabdruck aus Drei Wurzeln der Politik im Merkur zurück, vgl. Sternberger 1978.

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ihre Grundsätze aufzugeben.57 Anhand dieser Vergewisserung lassen sich zwei Lini‐ en fortschreiben: Die eine führte erneut zu jenen studentischen Protesten und ihrem Ruf nach mehr politischer Teilhabe. In ihnen erkannte Graf Kielmansegg eine ausge‐ prägte Sensibilität für die sozialen und politischen Veränderungen seiner Zeit, warn‐ te indes davor, ihre Kritik zu dogmatisieren. Schließlich band er jenen Ruf nach „mehr Demokratie“ an die Tugend einer bürgerschaftlichen Verantwortung für das Miteinander.58 Die andere Linie wandte sich mit einem Rekurs auf die Verfahren de‐ mokratischer Legitimität gegen eine „Herrschaft des Sachverstandes“ oder der (tech‐ nischen) Experten, welche die bürgerliche Teilhabe in ähnlicher Weise beschränke.59 Er wird diesen Ruf nach dem Experten und dem sachorientierten Entscheider später auch anhand eines globalisierten Finanzkapitalismus oder der internationalen Ver‐ flechtung von Wirtschaftsakteuren und Kommunikationswegen kritisieren. Mit poli‐ tischem Auge band er die soziale Marktwirtschaft in einer „Ehe“ an die Demokratie, um den Schutz des Privateigentums wie rechtliche Einhegung des Kapitalismus zu garantieren.60 Das „demokratische Axiom der Volkssouveränität“ – als „Demokra‐ tieprinzip“ erläutert – sah er um den „Amtsgedanken“ und die Verantwortung des politischen Amtes erweitert: „Repräsentation überführt die Gewalt, die vom Volk ausgeht, in eine Ämterordnung“.61 Dieses oft mit Begriffen der Architektur um‐ schriebene, fragile Gefüge hielt die demokratischen Verfahren (Wahlen oder Ab‐ stimmungen) im Sinne einer Rechenschaftspflicht gegenüber dem Bürger hoch. Graf Kielmansegg entdeckte in der „Logik der parlamentarischen Demokratie“ eine poli‐ tische Handlungsvollmacht, die er als Verantwortung („als responsible government“) für das Gemeinwesen las. Dies verknüpfte seine theoretischen Auseinandersetzun‐ gen um ein modernes Verständnis der Volkssouveränität, wie er es schon in seiner Habilitationsschrift formuliert hatte, mit den zeitgenössischen Fragestellungen. „Wenn es richtig ist, daß infolge der sozialen Verflochtenheit der menschlichen Existenz niemand über sich selbst verfügen kann, ohne zugleich über andere zu verfügen, wenn der Selbstbestimmungsanspruch des Individuums notwendigerweise […] Dritte trifft, dann muß Selbstbestimmung gegenüber Dritten verantwortet werden. […] Eine demo‐ kratische Ordnung kann […] Legitimität nicht als eine allein oder auch nur primär durch die Modalitäten ihrer Entstehung erworbene Qualität in Anspruch nehmen. […] Daß Ent‐ scheidungsmacht oder -vollmacht in Ämtern institutionalisiert, also abgegrenzt, Personen zugeordnet […] wird, ist eine notwendige Bedingungen der Möglichkeit der Kontrolle politischer Macht, wie immer Begründung und Verfahren der Kontrolle aussehen mögen. 57 Vgl. Graf Kielmansegg 1982. 58 Vgl. Graf Kielmansegg 1972. 59 Graf Kielmansegg entwickelte dieses Argument vor allem in Auseinandersetzung mit Helmut Schelsky (Schelsky 1973, besonders „Mehr Demokratie oder mehr Freiheit?“, S. 47-82). Er griff auf eine breite Diskussion um Schelskys Thesen im Merkur zurück, die u. a. von Wilhelm Hennis, Martin Kriele, Ralf Dahrendorf und Richard Löwenthal getragen wurde. 60 Graf Kielmansegg 2000c. 61 Graf Kielmansegg 2001b, 2015b.

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[…] Wird das Prinzip akzeptiert, daß politische Herrschaft verantwortet werden müsse, so ist damit auch Arbeitsteilung in dem beschriebenen Sinn als sinnvoll, ja unerlässlich akzeptiert.“62

Seine Textstücke in der FAZ knüpften daran an: Auch hier stellte er sich beharrlich dem Appell für „mehr Demokratie“ mit einem Votum für ihre repräsentative Form entgegen. Gleichwohl argumentierte er stärker anhand tagesaktueller Problemlagen. Jene Bauelemente, die in seinen Augen unter besonderer Spannung standen, waren die Parteien und die in Wahlen bestimmten Repräsentanten, d.h. die Politiker auf al‐ len Ebenen des föderalen Systems. Sah er im Ende des Kalten Krieges und in der deutschen Wiedervereinigung die Chance auf „Normalität“ für die bundesrepublika‐ nische Demokratie erreicht, diagnostizierte er eine inhärente Gefahr in den Disputen um ihre Legitimität.63 Graf Kielmansegg beobachtete in den 1990er Jahren eine Ab‐ wendungsbewegung der Bürger von Parteien; im gleichen Atemzug verpflichtete er die eine Seite auf ein verantwortungsvolles Handeln, die andere Seite auf das „Ver‐ trauen“ in die demokratische Kultur und die Funktionstüchtigkeit der Verfahren.64 Zuletzt verfolgte er eine Abkehr von der Demokratie und ihren Verfahren überhaupt – nicht nur im Verlust von Mitarbeit, sondern auch in einem neuen Typus von Wäh‐ ler, der auf eine „Protestpartizipation in vielen Spielarten“ setze. Dies werde in kurz‐ fristigen Beteiligungen („spontan, episodisch, themenspezifisch, internetbasiert“) manifest, zeuge aber im Kern von einer „epochalen Entfremdung zwischen den Bür‐ gern und der politischen Klasse“.65 Nicht zuletzt erkannte er einen wachsenden Po‐ pulismus, der von Zorn und Wut der Bürger zeuge. Auch hier setzte Graf Kielman‐ segg auf eine analytische Durchdringung des Begriffs, um die verschiedenen Phäno‐ mene einzufangen, nicht auf die Verve des Skandalons.66 Europapolitische Einwürfe veröffentlichte Graf Kielmansegg hauptsächlich in der FAZ, hier konnte er das Auf und Ab der Integrationsbewegungen verfolgen. Befür‐ wortete er die Europäische Union – mit einer zentralen Rolle Deutschlands – als Ga‐ rantin eines friedlichen Europas vorbehaltlos, begleitete er deren Erweiterung und ihre Vertiefung mit kritischem Auge. In den 1990er Jahren galt sein Augenmerk der demokratischen Verfasstheit und der Legitimation ihres Handelns.67 Indem er das schon genannte Demokratie- und Verantwortungsprinzip für die Europäische Union um das „Föderalismuspostulat“ ergänzte, begleitete er die Reformen der Europä‐ ischen Verträge. Dies schloss ein, beim Bekenntnis zu Europa nicht in ein Ritual zu 62 Graf Kielmansegg 1977, S. 236, 241, 250. 63 Graf Kielmansegg 1993. 64 Graf Kielmansegg 2000d. Graf Kielmansegg lieferte den dritten Beitrag einer Reihe zur „Par‐ teiendemokratie in der Krise“; neben ihm waren Ernst Benda, Joachim Fest, Hans-Jochen Vo‐ gel, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Richard Schröder und Hans-Peter Schwarz beteiligt. 65 Graf Kielmansegg 2015b. 66 Zum Populismus: Graf Kielmansegg 2017, 2016c. 67 Graf Kielmansegg 1990, 2009b.

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verfallen, um vor den inhärenten Problemen der Union die Augen zu verschließen. Besonders in den Krisendiskussionen um die Währungsunion vernahm Graf Kiel‐ mansegg einen immer größeren Dissens der Bürger zur europäischen Politik und warnte vor einer „Sakralisierung des Projekts“.68 Dass er seine Beiträge in den Sam‐ melband Wohin des Wegs, Europa? integrierte, stärkte das Gewicht dieser Wortmel‐ dungen. Der Rezensent für die Frankfurter Allgemeine Zeitung charakterisierte Graf Kielmansegg als „skeptischen Proeuropäer“, der auf ein verlangsamtes Tempo bei der Integrationsdynamik dringe.69 Abseits der genannten Ebenen meldete sich Graf Kielmansegg zu Gesetzesinitia‐ tiven oder sozialen Debatten zu Wort. Auch hier verknüpfte er den Wandel der mo‐ dernen Demokratie mit europapolitischen Themen. Für beide erkannte er wiederholt eine Vertrauenskrise oder eine Entfremdung der Akteure. Warnte er einmal davor, das Bundesverfassungsgericht löse das Parlament als verfassungsgebende Gewalt ab, traf er den Nerv einer Debatte um seine demokratische Legitimation.70 Parallel votierte er dafür, auch die Entscheidungsverfahren innerhalb der Europäischen Uni‐ on mit Blick auf das demokratische Subjekt zu organisieren. Mit ähnlicher Verve mischte er sich in Debatten um Beamtengehälter, das Staatsbürgerschaftsrecht oder das Betreuungsgeld ein. Hier – wie bei der Frage nach Chancen und Grenzen einer Präimplantationsidagnostik – stärkte er den Wert einer heterosexuellen Ehe und der Familie.71 Dies ließ ihn gegen eine Gleichstellung von Ehen und homosexuellen Partnerschaften votieren wie er die Betreuung von Kleinkindern in einem häuslichen Umfeld gegenüber einer Kindestageseinrichtung stärkte. Zwischen den Alltagsde‐ batten markierte er mehrere Zukunftsthemen, denen nachgegangen werden müsse: der demographische Wandel, die genetische Revolution oder auch die Integration von Zugewanderten. Aktuell gehört dazu der Populismus in Europa. Sprach sich Graf Kielmansegg gegen einen Konsensdruck in Politik und Gesell‐ schaft aus, monierte er einen solchen für das europäische Projekt. So erkannte er, dass die Erweiterung der Europäischen Union nicht als ewig fortschreitendes Projekt gedacht werden könne, sondern die politische und wirtschaftliche Integration an Grenzen stoße. Dies sichere den beteiligten Staaten und dem Brüsseler Apparat die notwendige Handlungsfähigkeit. Die Tendenz, sie zu stärken und zugleich die demo‐ kratische Legitimation der Europäischen Union nicht zu vernachlässigen untersuchte er während der europäischen Währungskrise im Jahr 2011/2012, in den Verhandlun‐ gen um zwischenstaatliche Solidarität bis zu den unterschiedlichen Geschwindigkei‐ ten beim Wunsch nach ökonomischer und politischer Integration.

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Graf Kielmansegg 2012c. Geppert 2016. Vgl. Graf Kielmansegg 2002, 2012a. Vgl. Graf Kielmansegg 2011, 2012d, 2013b.

Die kursorische Durchsicht darf seine historischen Anmerkungen nicht vergessen: In seinen Beiträgen für FAZ und Merkur setzte sich Graf Kielmansegg – in Anleh‐ nung an seine größeren Studien – für ein Verständnis historischer Entscheidungen „in bestimmten Konstellationen“ ein, um die deutsche Geschichte vom Ersten Welt‐ krieg bis zum Ende des Kalten Krieges anhand ihrer Akteure wie deren Handlungs‐ rahmen oder ihre Alternativen zu rekonstruieren.72 Hier argumentierte er anhand von funktionalen Mechanismen oder Strukturen, die bei der Frage, ob bei Graf Kielman‐ segg der Historiker oder der Politikwissenschaftler dominiere, Verbindendes schaf‐ fen. Mahnte er einmal, die verschiedenen Perspektiven nicht gegeneinander auszu‐ spielen, richteten sich seine geschichtspolitischen Einwürfe auf die deutsche „Schuld“ an beiden Weltkriegen, mit denen er sich gegen apologetische Tendenzen wandte. In seinen historischen Monographien spürte er dem Streitgespräch zum „deutschen Sonderweg“ im 20. Jahrhundert nach, um selbst die Entwicklungslinien und Zäsuren, aber auch die „Bewegungsgesetze“ und Zusammenhänge des Gesche‐ hens darzulegen – anhand des Ersten Weltkrieges oder der deutschen Niederlage im Zweiten Weltkrieg.

4. Peter Graf Kielmansegg als „public intellectual“ Ohne die These zu verfolgen, eine intellektuelle Gestalt anhand ihrer Laudationes zu ergründen, sei nochmals auf eine Ehrung verwiesen: Als Peter Graf Kielmansegg im November 2001 den Schader-Preis der Stadt Darmstadt erhielt, würdigte ihn Fried‐ helm Neidhardt als langjährigen und prominenten Teilnehmer eines öffentlichen Diskurses, der um Offenheit, das begründete Argument sowie um die wichtigen Ge‐ genwartsfragen bemüht sei und sich nicht in ein Schwarz-Weiß-Denken begebe. Den Preisträger zeichne aus, sich als Historiker und Politikwissenschaftler in diese De‐ batten einzumischen, um die analytischen Klingen der Wissenschaft zu schärfen.73 Etwas abseits der salbungsvollen Worte wird eine intellektuelle Gestalt Graf Kiel‐ manseggs erkennbar, die in der akademischen Welt wie im öffentlichen Raum agiert. Er verknüpft seine Position als wissenschaftlicher Experte – als Professor für Poli‐ tikwissenschaft – mit Wortmeldungen, die sich an ein breiteres Publikum richten – dafür wählte er unter anderem die Frankfurter Allgemeine Zeitung und das politischkulturelle Monatsmagazin Merkur. Graf Kielmansegg begleitete die Debatten um die bundesrepublikanische Demo‐ kratie mit einem Plädoyer für das repräsentative, rechtlich eingehegte, marktwirt‐ schaftlich begründete demokratische Gemeinwesen. Anhand seiner Fliehkäfte – ob im Regierungsalltag beobachtet oder anhand größerer Zeitläufte veranschaulicht – 72 Vgl. Graf Kielmansegg 1974, 2014. 73 Vgl. o. A. 2001.

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warnte er davor, die Demokratie mit zu hohen Anforderungen an individuelles Glück oder an Mitbestimmung zu überfrachten, ihre Grundlagen im gleichberechtig‐ ten Miteinander zu vergessen, oder in einer Konzentration auf das Hier und Jetzt den Zukunftsfragen auszuweichen. Gleichwohl verfiel er keinem Kulturpessimismus oder beschwor apokalyptische Visionen. Mit dem Gestus des gelehrten Beobachters transportierte er die Gegenstände seines Fachs: die begrifflichen und theoretischen Grundlagen, die funktionalen Prozesse und Mechanismen des demokratischen Sys‐ tems und die politische Kultur der Bundesrepublik, die nicht ohne ihre historische Erfahrung zu verstehen sei. Seine Beiträge über vier Jahrzehnte zeugen von einer steten Beobachterrolle. Folgt man der Beobachtung Friedrich Kießlings für den Merkur, so gehörte Graf Kielmansegg gerade aufgrund dieser zurückhaltenden Kontinuität zu den prominen‐ ten Autoren des Blattes, die ihm im Rekurs auf die Fundamente des demokratischen Verfassungsstaates ein konservatives Profil verlieh. Peter Graf Kielmansegg sezierte Widersprüche des Zeitgeistes mit wissenschaftlichem – oft am Begriff orientierten – Werkzeug. Schien in der Bundesrepublik eine stabile Nachkriegsordnung eingerich‐ tet, beobachtete er ab den 1970er Jahren tiefgreifende Umwälzungen: Dazu gehörten Konjunkturschwankungen und der Wandel der industriellen Gesellschaft sowie ver‐ änderte Anforderungen an den Wohlfahrtsstaat und die politischen Institutionen. Er‐ kannte die zeithistorische Forschung darin zuletzt eine breite Dynamik, galt Graf Kielmanseggs Verve einer Vergewisserung ihrer demokratischen Grundfeste.74 Dabei fällt auf, dass er sich von dem (philosophischen) Diskurs um die Ambiva‐ lenz von Moderne und Postmoderne, welcher das intellektuelle Klima stark verän‐ dern sollte, weitgehend fernhielt. Zwar deutete er einen Wandel der Industriegesell‐ schaft an, ohne sich jedoch in sprachphilosophische, feministische oder ökologische Streitgespräche einzumischen. Eher kritisierte er eine Ideologisierung des politi‐ schen Streits. Seine „fremden Federn“ in der FAZ oder die Einwürfe im Merkur wa‐ ren mit einem rationalisierenden Gestus am politischen Ordnungsgefüge orientiert. Er konzentrierte sich auf den Erhalt der verfassungsmäßigen Ordnung wie den Aus‐ bau eines bürgerschaftlichen Geistes. Widmete er sich häufig mahnend ihren wider‐ strebenden Tendenzen, gehörte der sachlich-analytische Rekurs zu seinen Stilmit‐ teln. Seine Stimme ruhte auf einem Fundament aus garantierten bürgerlichen Frei‐ heitsrechten, einem demokratischen Miteinander und dem repräsentativen Gefüge des bundesrepublikanischen Systems. Wird diese Haltung oftmals zwischen den Zei‐ len seiner Wortmeldungen sichtbar, fehlen ausführliche Notizen zu seinem Selbst‐ verständnis als Wissenschaftler, als Vertreter der Wissenschaftsakademien in der Bundesrepublik sowie als Publizist in Zeitungen und Zeitschriften.

74 Exemplarisch: Doering-Manteuffel/Lutz Raphael 2008.

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Seine Kommentare und Notizen zeichnen Graf Kielmansegg insofern als wissen‐ schaftlichen Experten im Sinne eines „public intellectual“ aus. Zu seiner „Empfind‐ lichkeit“ oder seinem „Spürsinn“ gehörten die gesellschaftlichen Kontexte, wobei er sich nicht scheute, auf argumentative Abhängigkeiten oder Verwurzelungen in hi‐ storischen, politischen oder kulturellen Narrativen zu verweisen. So lag in den Ten‐ denzen der Destabilisierung, die er für beide Formate sezierte, auch eine Erwartung für die Zukunft verborgen. Darin werden die Handlungslinien, aber auch die Gren‐ zen jenes „public intellectual“ offenbar: Die intellektuelle Praxis, die in diesem Bei‐ trag verfolgt wurde, ruhte auf Wort und Schrift; zu ihrem Profil gehörte – neben den thematischen Schnittmengen – die fehlende (oder schemenhafte) Schranke zwischen einer wissenschaftlichen Publikation und einer öffentlichen Wortmeldung. Löst man den Blick nun vom einzelnen Autor, bieten gerade Zeitschriften analytische Poten‐ ziale für weitere Untersuchungen intellektueller Verbindungen und Netzwerke. Ent‐ standen Graf Kielmanseggs Beiträge für den Merkur nach der Lektüre oder im Ge‐ spräch mit Kollegen, können jene (kritischen) Reaktionen oder Bezugnahmen zu einer weiteren Annäherung an den „public intellectual“ beitragen.

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Autorenverzeichnis

Vincent August (geb. Rzepka), M. A., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsgebiete: poli‐ tische Theorie und Ideengeschichte, Wissensgeschichte sowie Politische und Allge‐ meine Soziologie. Publikationen: „Theorie und Praxis der Transparenz. Eine Zwi‐ schenbilanz“ (Berliner Blätter, 21/76, 2018); „Für einen konfliktiven Liberalismus. Chantal Mouffes Verteidigung der liberalen Demokratie“ (zus. mit Grit Straßenber‐ ger, Zeitschrift für Politische Theorie, 5/2, 2014); „Die Ordnung der Transparenz. Jeremy Bentham und die Genealogie einer demokratischen Norm“ (Berlin: Lit 2013). Prof. Dr. Uwe Backes, Jg. 1960, Promotion in Trier und Habilitation in Bayreuth; stellvertretender Direktor des Hannah-Arendt-Intituts für Totalitarismusforschung und apl. Prof. am Institut für Politikwissenschaft der TU Dresden. Forschungs‐ schwerpunkte: Extremismus, Demokratie, Autokratien, Ideologiegeschichte. Veröf‐ fentlichungen: Political Extremes. A conceptual history from antiquity to the pre‐ sent, London/New York 2011; Rechte Hassgewalt in Sachsen. Entwicklungstrends und Radikalisierung im Sog der „Flüchtlingskrise“ (mit Sebastian Gräfe, Anna-Ma‐ ria Haase, Maximilian Kreter, Michail Logvinov und Sven Segelke), Dresden 2019. Email: [email protected] Dr. Ahmet Cavuldak, Jg. 1977, Promotion in Berlin, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Religion und Po‐ litik, Demokratietheorie, Politische Theorie und Ideengeschichte der Aufklärung, Orientalismus, Türkei. Veröffentlichungen: (mit Oliver Hidalgo, Philipp Hildmann und Holger Zapf): De‐ mokratie und Islam. Theoretische und empirische Studien, 2014 Wiesbaden; Ge‐ meinwohl und Seelenheil. Die Legitimität der Trennung von Religion und Politik in der Demokratie, Bielefeld 2015. Email: [email protected]

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Prof. Dr. Frank Decker, seit 2001 Professor für Politische Wissenschaft an der Rhei‐ nischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn mit dem Schwerpunkt Regierungsleh‐ re. Seit 2011 Wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP). Jüngste Buchveröffentlichungen: Parteiendemo‐ kratie im Wandel, 2. Aufl., Baden-Baden 2018, Handbuch der deutschen Parteien, hgg. mit Viola Neu, 3. Aufl., Bonn 2018 und Die USA - eine scheiternde Demokra‐ tie?, hgg. mit Patrick Horst und Philipp Adorf, Frankfurt a.M. 2018. Prof. Dr. Birgit Enzmann, Jg. 1965, Promotion und Habilitation in Eichstätt; Leiterin des Qualitätspakt-Lehre-Projekts „Der Coburger Weg“ an der Hochschule Coburg und apl. Prof. an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Forschungs‐ schwerpunkte: Verfassungsstaatlichkeit, Demokratie, Extremismus, Politische Ge‐ walt. Veröffentlichungen: Der Demokratische Verfassungsstaat, Wiesbaden 2012; Politische Gewalt. Formen, Hintergründe, Überwindbarkeit, in: Handbuch Politische Gewalt, Wiesbaden 2013; Demokratischer Verfassungsstaat als Widerpart des Ex‐ tremismus, in: Extremismusforschung, Baden-Baden 2018. Email: birgit.enzmann@ ku.de Dr. Philipp Erbentraut, Jg. 1982, Promotion in Düsseldorf, Akademischer Rat für Politische Soziologie und Staatstheorie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Forschungsschwerpunkte: Parteien, Parlamente und Eliten, Demokratie- und Staatstheorien, Politische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Veröffent‐ lichungen: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland (mit Ulrich von Alemann und Jens Walther), Wiesbaden 2018; Theorie und Soziologie der politi‐ schen Parteien im deutschen Vormärz 1815–1848, Tübingen 2016; Volkssouveräni‐ tät – ein obsoletes Konzept?, Marburg 2009. Email: [email protected] PD Dr. Oliver Hidalgo, Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Univer‐ sität Regensburg Forschungsschwerpunkte: Demokratietheorie, Politische Theorie und Ideenge‐ schichte, Politik und Religion, Populismus und Integration, Demokratie und Digita‐ lisierung Neuere Veröffentlichungen: Politische Theologie. Beiträge zum untrennbaren Zu‐ sammenhang zwischen Religion und Politik, Wiesbaden 2018; Religion und Rechts‐ populismus. Sonderheft der Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 2/2018 (mit Philipp W. Hildmann und Alexander Yendell); Flucht und Migration in Europa. Neue Herausforderungen für Parteien, Kirchen und Religionsgemeinschaften (mit Gert Pickel), Wiesbaden 2019.

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Prof. Dr. Marcus Höreth, Jg. 1968, Promotion in Freiburg i. Br., Habilitation in Bonn, Professor für Vergleichende Regierungslehre und Innenpolitik an der Techni‐ schen Universität Kaiserslautern. Forschungsschwerpunkte: Staatsorganisation in Deutschland, Verfassungsorgane (Bundesverfassungsgericht, Bundesrat, Bundesprä‐ sident), Föderalismus (im Vergleich), Europäische Institutionen und Institutionenent‐ wicklung. Veröffentlichungen (Bücher): Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2014; Die komplexe Republik. Staatsorganisation in Deutschland, Stuttgart: Kohlhammer Verlag 2016 (zugleich Bundeszentrale für poli‐ tische Bildung 2017). Email: [email protected] Prof. Dr. Eckhard Jesse, Jg. 1948, Promotion und Habilitation in Trier, Prof. emer. im Fach Politikwissenschaft (Politische Systeme, politische Institutionen) an der TU Chemnitz. Forschungsschwerpunkte: Historische Grundlagen der Politik, Demokra‐ tie, Parteien, Wahlen, Extremismus. (Mit-)Herausgeber des Jahrbuches Extremismus & Demokratie seit 1989. Letzte Veröffentlichungen: Systemwechsel in Deutschland. 1918/19-1933-1945/49-1989/90, 4. Aufl., Bonn 2013; Extremismus und Demokra‐ tie. Parteien und Wahlen. Historisch-politische Streifzüge, Köln u.a. 2015; Extremis‐ musforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis (hrsg. mit Tom Mannewitz), Baden-Baden 2018. Email: [email protected] Prof. Dr. Jürgen Kocka, geb. 1941; Studium in Marburg, Wien, Chapel Hill, N.C und Berlin (Freie Universität); seit 2009 Permanent Fellow am Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in der Globalgeschichte“ (Re:work) , Humboldt Universität zu Berlin. Zuvor Professuren für Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld (1973-1988) und für Geschichte der industriellen Welt an der FU Berlin (1988-2009). Jüngste Veröffentlichungen: Geschichte des Kapitalismus (München 2.Aufl. 2014); Arbeiter‐ leben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse (Bonn 2015); Capi‐ talism. The Reemergence of a Historical Concept (hg. zus. mit Marcel van der Lin‐ den) (London 2016). Prof. Dr. Herfried Münkler, Jg. 1951, Promotion und Habilitation an der GoetheUniversität Frankfurt am Main, Professor em. für Politische Theorie an der Hum‐ boldt-Universität zu Berlin. Forschungsschwerpunkte: Machiavelli, Republikanis‐ mus, Staatsräson, Mythen, Imperien, Geschichte und Theorie des Krieges. Letzte Veröffentlichungen: Der Große Krieg. Die Welt 1914-1918, Berlin 2013; Der Drei‐ ßigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, Deutsches Trauma 1618-1648, Berlin 2017.

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Prof. Dr. Hartmut Rosa, Jg. 1965, Promotion an der Humboldt-Universität Berlin, Habilitation an der FSU Jena, Professor für Allgemeine und Theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena, Direktor des Max-Weber-Kollegs Er‐ furt. Forschungsschwerpunkte: Zeitdiagnose und Moderneanalyse, Normative und empirische Grundlagen der Gesellschaftskritik, Subjekt- und Identitätstheorien, Zeit‐ soziologie und Beschleunigungstheorie, Soziologie der Weltbeziehung. Veröffent‐ lichungen (Bücher): Beschleunigung und Entfremdung, Berlin: Suhrkamp-Verlag; Sociology, Capitalism, Critique, (mit Klaus Dörre und Stephan Lessenich), London/New York: VERSO 2015; Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp 2016, Unverfügbarkeit, Wien: Residenzverlag 2018. Email: [email protected] Prof. Dr. Tine Stein, Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Promotion an der Universität Köln, Habilitati‐ on an der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte Normative Grundlagen des demokratischen Verfassungsstaates, Politik und Natur, Politik und Religion. Jün‐ gere Publikationen unter anderem: Ernst-Wolfgang Böckenförde – Constitutional and Political Theory (vol. I); Selected articles of Ernst-Wolfgang Böckenfördes, Herausgeberin gemeinsam mit Mirjam Künkler, Oxford University Press (Series: Oxford Constitutional Theory) 2017; Endlichkeit. Zur Vergänglichkeit und Be‐ grenztheit von Mensch, Natur und Gesellschaft. Herausgeberin gemeinsam mit Anja Franke-Schwenk und Andreas Bihrer, transcript-Verlag: Bielefeld 2016; Recht und Politik. Das Staatsverständnis von Ulrich K. Preuß, Herausgeberin gemeinsam mit Claudio Franzius, Baden-Baden: Nomos (Reihe Staatsverständnisse, Band 73) 2015 Dr. Ellen Thümmler, Jg. 1981, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Politi‐ sche Theorie und Ideengeschichte, Institut für Politikwissenschaft, Technische Uni‐ versität Chemnitz. Forschungsschwerpunkte: Intellektuelle und Politik im 20. Jahr‐ hundert, Ideengeschichte und Intellectual History, Geschichte der Demokratie. Ver‐ öffentlichung: Zur Diskussion um Ideengeschichte und Intellectual History – eine Spurensuche nach dem Wert ihrer Historisierung, in: Raulet, Gérard/Llanque, Mar‐ cus (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideengeschichte, Baden-Baden 2018, S. 21-42.

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Prof. Dr. Hans Vorländer, Jg. 1954, Lehrstuhlinhaber für Politische Theorie und Ide‐ engeschichte, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung und des Mercator Forums Migration und Demokratie an der TU Dresden. For‐ schungsschwerpunkte: Verfassung, Demokratie, Liberalismus, Politisches Denken und Kultur der USA, Migration und Populismus. Bücher u.a.: Verfassung und Kon‐ sens, Berlin: Duncker&Humblot 1981; Hegemonialer Liberalismus, Frankfurt a.M.: Campus, 1997; Die Verfassung, München: C.H. Beck, 3. Aufl. 2019; Demokratie, München: C.H.Beck, 3. Aufl. 2009; Integration durch Verfassung (Hg.), Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2002; Die Deutungsmacht der Verfassungsgerichtsbarkeit (Hg.), Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006; Demokratie und Transzendenz (Hg.), Bielefeld: transcript 2013; Pegida. Entwicklung, Zusammenset‐ zung und Deutung einer Empörungsbewegung (zus. m. M. Herold und St. Schäller), Wiesbaden: Springer VS 2016; Pegida and New Rigt-Wing Populism in Germany (zus. m. M. Herold und St. Schäller), Cham: PalgraveMacmillan 2018. Dr. Felix Wassermann, Jahrgang 1977, vertritt zurzeit die Professur für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die politische Theorie und Ideengeschichte, der Einfluss von Experten und Ratgebern auf die Politik sowie der Wandel des Krieges. 2015 erschien sein Buch „Asymmetrische Kriege. Eine politiktheoretische Untersuchung zur Kriegführung im 21. Jahrhundert“, 2018 der von ihm mitherausgegebene Band „Staatserzählun‐ gen. Die Deutschen und ihre politische Ordnung“. Sandra Wirth, Jg. 1989, Doktorandin an der TU Chemnitz, Forschungsschwerpunk‐ te: Ideen- und Politikwissenschaftsgeschichte, eingereichte Dissertation "Nachden‐ ken über Demokratie. Das wissenschaftliche Werk Peter Graf Kielmansegs im Spie‐ gel von Biographie und Zeitgeschichte", Veröffentlichung: "Reicht Volkssouveräni‐ tät aus? Das Problem normativer Grundlegung in Peter Graf Kielmanseggs Habilita‐ tionsschrift" in Jesse/Mannewitz/Panreck "Populismus und Demokratie" Baden-Ba‐ den 2019. E-Mail: [email protected] Prof. Dr. Edgar Wolfrum, Jg.1960, Promotion in Freiburg i.Br., Habilitation in Darm‐ stadt, Professor für Zeitgeschichte an der Universität Heidelberg. Forschungsschwer‐ punkte: Deutsche und europäische Zeitgeschichte. Veröffentlichungen (Bücher) u.a.: Welt im Zwiespalt. Eine andere Geschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: Klett-Cotta 2017; Rot-Grün an der Macht. Deutschland 1998-2005, München: C.H. Beck 2013; Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München: C.H. Beck 2011; Die geglückte De‐ mokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Ge‐ genwart, Stuttgart: Klett-Cotta 2006; Geschichte als Waffe. Vom Kaiserreich bis zur Wiedervereinigung, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2003.

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