Die Geschichte der totalitären Demokratie Band I: Die Ursprünge der totalitären Demokratie 9783666310119, 9783525310113, 9783647310114

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Die Geschichte der totalitären Demokratie Band I: Die Ursprünge der totalitären Demokratie
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Wege der Totalitarismusforschung Herausgegeben von Günther Heydemann

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Jacob L. Talmon

Die Geschichte der totalitären Demokratie Band I Die Ursprünge der totalitären Demokratie

Herausgegeben und eingeleitet von Uwe Backes unter Mitarbeit von Silke Isaak und Annett Zingler

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-31011-3 ISBN 978-3-647-31011-4 (E-Book)

Umschlagabbildung: Jacob L. Talmon, ca. 1970 Foto: privat

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Hannah-Arendt-Institut, Dresden Druck und Bindung: h Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Einleitung des Herausgebers Einleitung

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1. Die beiden Erscheinungsformen: liberale und totalitäre Demokratie 2. Die Ursprünge des politischen Messianismus – das Schisma 3. Rechter und linker Totalitarismus 4. Weltlicher und religiöser Messianismus 5. Bemerkungen zur Methode

Erster Teil Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert I. Natürliche Ordnung: Das Postulat 1. Das alleinige Prinzip 2. Die weltliche Religion 3. Apriorismus und Empirismus II. Gesellschaftsordnung und Freiheit ( Helvétius und Holbach ) 1. Identität der Vernunft 2. Eigennutz 3. Die Natürliche Ordnung, der Gesetzgeber und das Individuum III. Totalitäre Demokratie ( Rousseau ) 1. Der psychologische Hintergrund 2. Der Allgemeine Wille und das Individuum 3. Der Allgemeine Wille, die Volkssouveränität und die Diktatur 4. Der Allgemeine Wille als Zweck IV. Eigentum ( Morelly und Mably ) 1. Prämissen und Schlussfolgerungen – die Diskrepanz 2. Morelly, der Kommunist 3. Mably und asketische Tugend 4. Asketische Wirtschaftsauffassung

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Inhalt

Zweiter Teil Die jakobinische Improvisation I. Die Revolution von 1789 – Sieyès 1. Die revolutionäre Haltung 2. Die Souveränität des Volkes 3. Das Eigentum II. Gleichgewicht oder Revolutionsziel – unter der konstitutionellen Monarchie 1. Die Legalität und der Vorrang des Revolutionsziels 2. Der Jakobinismus – intellektuelle und psychologische Elemente 3. Die Definition des Allgemeinen Willens 4. Die Idee des Gleichgewichts – Saint - Just 5. Robespierre und das Revolutionsziel – die Idee des Volkes III. Volonté une 1. Direkte demokratische Aktion 2. Freiheit als ein objektives Ziel 3. Das Recht auf Opposition; Ächtung von Parteien 4. Die Theorie der Revolutionsregierung 5. Die jakobinische Diktatur IV. Die endgültige Ordnung 1. Fortschritt und Endstadium 2. Die doktrinäre Mentalität 3. Die Tugendherrschaft 4. Saint - Justs „Institutions Républicaines“ 5. Die bürgerliche Religion und die Verdammung der Intellektuellen V. Das soziale Problem 1. Die inneren Widersprüche 2. Klassenpolitik 3. Grundlegende Fragen 4. Restriktionismus und Individualismus

Dritter Teil Die Babeuf’sche Kristallisation I. Die Lehren der Revolution und des Thermidor 1. Das messianische Klima 2. Die Lehren

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Inhalt

II.

III.

IV.

V.

VI.

3. Babeuf 4. Buonarroti Die Babeuf’sche soziale Doktrin 1. Gleichheit und der Gesellschaftsvertrag 2. Die Geschichte als Geschichte des Klassenkampfes 3. Die Interpretation der Französischen Revolution 4. Die Entwicklung zum Kommunismus Die Geschichte der Verschwörung des Babeuf 1. Die Vorgeschichte der Verschwörung 2. Die Geschichte des Komplotts Demokratie und Diktatur 1. Definition der Demokratie 2. Antiparlamentarische, plebiszitäre Ideen 3. Kann man dem Volke trauen? 4. Die Idee der aufgeklärten Avantgarde 5. Die Theorie der revolutionären Diktatur Die Struktur der Verschwörung 1. Organisation und Propaganda 2. Der Plan des Aufstands Der endgültige Plan 1. Politische Organisation 2. Wirtschaftlicher Kommunismus 3. Monolithischer Glaube

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Schlussfolgerungen

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Anhang

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Literaturverzeichnis Personenverzeichnis

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Ein lei tung des Heraus ge bers Ein 21 - jähriger Student der Geschichtswissenschaft und Philosophie an der Hebräischen Universität Jerusalem brütete über einer Seminararbeit zur ultrademokratischen französischen Verfassung des Jahres 1793, als die Parteisäuberungen in Moskau 1937/38 mit großen Schauprozessen ihren Höhepunkt erreichten. Die Analogie zwischen dem Jakobinerterror des Jahres II und den Ereignissen in der Sowjetunion sprang ins Auge: „Wer hatte die russische Revolution in solch verbrecherischer Weise verraten – die Angeklagten oder die Ankläger ? [...] Wie konnte so viel Böses, ob von der einen oder der anderen Gruppe verübt, den Machern der Oktoberrevolution und den Gründern der Sowjetunion, mit der Botschaft der universellen Erlösung, an der beide Seiten festhielten, in Einklang gebracht werden ? Aber warum die Analogie ? [...] Die Parallele schien die Existenz eines unerklärlichen und unvermeidlichen Gesetzes anzudeuten, das dazu führt, dass revolutionäre Heilspläne sich in Terrorregime ver wandeln und das Versprechen einer perfekten direkten Demokratie in der Praxis die Form einer totalitären Diktatur annimmt.“1 Die Suche nach den intellektuellen, psychologischen und geistesstrukturellen Ursprüngen dieser Analogie sollte das gesamte akademische Wirken des angehenden Humanwissenschaftlers bestimmen. Die vorliegende dreibändige Neuedition ist das Produkt seines Lebenswerkes. Mit dem ersten Band der Trilogie betrat Jacob Leib Talmon die akademische Bühne und mit dem dritten verließ er sie wieder. Die Schluss - Sätze schrieb er in der letzten Woche vor seinem allzu frühen Tod am 16. Juni 1980.2

I. Lebensweg des Autors Jacob Leib Talmon wurde am 14. Juni 1916 unter dem Namen Ya’akov Leib Fleischer ( Flajszer ) mitten im Ersten Weltkrieg in dem nordwest - polnischen, bis zur Okkupation durch die deutsche Armee zu Russland gehörigen, ab 1920 unweit des Danzig - Korridors gelegenen Städtchens Rypin ( Rippin ), ca. 50 km östlich von Thorn, geboren.3 Seine Eltern, wirtschaftlich in sehr bescheidenen 1 2 3

Jacob L. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 3, Göttingen 2013, S. 679. Die Seitenangaben beziehen sich auf die vorliegende Edition. Vgl. Yehoshua Arieli, Jacob Talmon – An Intellectual Portrait. In : ders./ Nathan Rotenstreich ( Hg.), Totalitarian Democracy and after, Neuausgabe London 2002, S. 1–34. Die folgende Darstellung stützt sich in Teilen auf eine 23 Seiten umfassende autobiographische Niederschrift, die Talmon im letzten Lebensjahr für seinen holländischen

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Einleitung des Herausgebers

und ungesicherten Verhältnissen lebend, gehörten zum jüdischen Bevölkerungsteil, der neben der polnisch - katholischen Mehrheit und einer deutsch lutherischen sowie baptistischen Minderheit etwa ein Drittel der rund 8 000 Einwohner umfasste. Die mächtige griechisch - orthodoxe Kirche diente einer Zaren - Garnison, die seit der Annektierung durch Russland am Ende des 18. Jahrhunderts im Ort stationiert war. Talmons Eltern waren keine streng orthodoxen Juden, sondern standen der zionistisch - sozialistischen Bewegung nahe, verstanden sich aber als Teil einer jüdischen Gemeinschaft, die mit Stolz ihre Traditionen pflegte. Man sprach zu Hause Jiddisch, ehrte den Schabbat und befolgte die jüdischen Speiseregeln. Talmon wuchs mit drei Brüdern auf ( zwei Schwestern starben früh ) und besuchte ab dem sechsten Lebensjahr – neben der staatlichen Bildungsanstalt, in die er mit sieben Jahren eingeschult wurde – eine reformierte jüdische Gemeindeschule ( Cheder ), in der die Eleven Unterricht in Hebräisch, jüdischer Geschichte, Literatur und Religion erhielten. So selbstbewusst die jüdische Gemeinschaft war, so prekär erschien ihre Existenz im neuen polnischen Staat. Obwohl die Juden in Rippin lediglich etwa ein Drittel der Bevölkerung ausmachten, besaßen sie fast alle Geschäfte und Werkstätten und konzentrierten sich in der Innenstadt. Dies erzeugte Neid nicht nur bei denen, die weder sahen noch sehen wollten, dass die misstrauisch beäugte Minderheit in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen (wie Regierung, Ver waltung, öffentlicher Dienst ) kaum vertreten war und in besonderem Maße unter den schwierigen ökonomischen Bedingungen der 1920er Jahre litt. Neben den Wohlhabenden gab es viele Juden, die nur mit größter Mühe ihren Unterhalt bestritten, in teilweise erbärmlichen Verhältnissen lebten, aber ihre bittere Armut ( und selbstempfundene Schande ) meist sorgfältig zu verbergen wussten. Polen war zwar eigenständig geworden, dafür aber von seinen Vorkriegsmärkten abgeschnitten. Viele in der polnisch - katholischen Mehrheitsbevölkerung betrachteten die Juden nicht als „normalen“ Bestandteil der Gesellschaft, sondern empfanden sie ökonomisch eher als Last. Rabiate Antisemiten warfen offen die Frage auf, warum sich Polen mit einem jüdischen Bevölkerungsteil von zehn Prozent herumschlagen müsse, während dieser in Deutschland und Frankreich nicht einmal ein Prozent betrug und dort zudem in weit höherem Maße assimiliert war. Sie zerbrachen sich die

Kollegen Prof. Frank Ankersmit anfertigte. Aufgrund der teils sehr persönlichen Ausführungen wird auf wörtliche Zitate verzichtet. Ich bin Herrn Ankersmit für die Überlassung der überaus aufschlussreichen Quelle und den Familienangehörigen für die Erlaubnis, sie biographisch auszuwerten, zu großem Dank verpflichtet. Siehe zur Biographie auch : Arie Dubnov, Priest or Jester ? Jacob L. Talmon (1960–1980) on history and intellectual engagement. In : History of European Ideas, 34 (2008) 2, S. 133–145.

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Lebensweg des Autors

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Köpfe darüber, wie man den Juden das Leben so schwer wie möglich machen könne, um sie außer Landes zu treiben.4 Zulauf erhielten zionistische Organisationen, welche die „Alija“, die Rückkehr ins Gelobte Land, propagierten und vorbereiteten. Mit etwa zwölf Jahren kam der junge Fleischer in die nach Art der Pfadfinder organisierte zionistischsozialistische Jugendbewegung „Haschomer Hazair“ („Junge Wächter“), deren Ziel die Gründung von Kibbuzim in Palästina war.5 Er teilte anfänglich vollkommen die idealistische Leidenschaft der Gemeinschaft, geriet aber schon bald mit ihren Ideen in Konflikt, weil seine neu erwachte, vom polnischen Katholizismus beeinflusste Religiosität mit den dort vorherrschenden antireligiösen Einstellungen kollidierte. Am Ende seines Lebens meinte Talmon rückblickend, die spätere ausdauernd - kritische Auseinandersetzung mit mar xistischer Ideologie und sozialistischem Utopismus sei womöglich eine unbewusste Fortsetzung der heftigen Kontroversen mit den zeitweiligen Gefährten in der „Haschomer Hazair“ gewesen, die mit einem Eklat in einem Sommerlager endeten.6 Die Emigration nach Palästina war die Entscheidung von Talmons Eltern. Sein Vater, ohne besondere Berufsausbildung, hatte wirtschaftlich nicht Fuß fassen können. Nach dem Gymnasialabschluss folgte der hochbegabte Schüler Ende Januar 1934 dem Vater nach Tel Aviv ( Mutter und Brüder kamen wenig später nach ). Leider verloren gegangen ist eine Lebensskizze, die Talmon / Fleischer bereits aus Jerusalem an den Autobiographie - Wettbewerb des Instituts für Jüdische Forschung nach Wilna sandte.7 Bald darauf begann er ein Geschichtsstudium an der Hebräischen Universität Jerusalem. Nach anfänglichen Schwierigkeiten ( u. a. die Meisterung des Hebräischen ) wurden die Weichen für eine akademische Laufbahn gestellt. Sein Mentor in diesen Jahren war der aus dem nationalsozialistischen Breslau emigrierte Historiker Richard Koebner, in dessen Seminar ein erheblicher Teil der Gründergeneration der späteren israelischen Geschichtswissenschaft saß.8 Nach dem Abschluss des 4

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Vgl. neben den autobiographischen Aufzeichnungen Talmons : Heiko Haumann, Polen und Litauen. In : Elke - Vera Kotowski / Julius H. Schoeps / Hiltrud Wallenborn ( Hg.), Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Band 1 : Länder und Regionen, Darmstadt 2001, S. 264–274. Vgl. zum Hintergrund : Heinrich Ehler / Talma Segal / Arie Talmi ( Hg.), Haschomer Hazair. Ein Nest ver wundeter Kinderseelen, Wien 2006. Vgl. Talmon, Autobiographische Niederschrift, S. 17. Vgl. Dubnov, Priest or Jester ?, S. 135 und Anm. 14. Fleischer kam auf Platz 6. Vgl. Malachi H. Hacohen, Jacob Talmon between Zionism and Cold War Liberalism. In : History of European Ideas, 34 (2008), S. 146–157, hier 148 f. Siehe zur Rolle Koebners auch : Helmut D. Schmidt, Richard Koebner (1885–1958) : Von Breslau nach Jerusalem. In : Richard Koebner, Geschichte, Geschichtsbewusstsein und Zeitwende. Vorträge und Schriften aus dem Nachlass, Gerlingen 1990, S. 11–21.

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Einleitung des Herausgebers

Master of Arts erhielt Talmon 1939 eines der zwei begehrten Stipendien (zusammen mit dem später als Mathematik - und Logikprofessor in Yale lehrenden Abraham Robinson ), die der Hebräischen Universität von der Pariser Sorbonne gestiftet wurden. In Paris angekommen, mussten beide jedoch bereits ein halbes Jahr später infolge der deutschen Invasion Frankreich Hals über Kopf wieder verlassen.9 In England kam Talmon zunächst in ein Flüchtlingslager, fand dann Aufnahme bei einer Arbeiterfamilie, wurde mit dieser ausgebombt, hatte aber schließlich großes Glück : Er erhielt einen freien Studienplatz als Doktorand an der London School of Economics and Political Science ( in den Kriegsjahren ins Cambridger Peterhouse evakuiert ), wurde von den renommierten Wissenschaftlern und bedeutenden akademischen Lehrern Richard Henry Tawney und Harold Laski betreut und fand familiäre Aufnahme im gastlichen Haus des erzkonser vativen britischen Aristokraten Gerald Fitzgerald. Nach dem Abschluss des Promotionsverfahrens ( mit einer Arbeit über die Armutslehre bei christlichen Gemeinschaften des 12. und 13. Jahrhunderts10) arbeitete er eine kurze Zeit für den World Jewish Congress, wertete dann für die BBC kriegswichtige Rundfunkmeldungen aus dem besetzten Kontinentaleuropa aus und wurde im Herbst 1944 schließlich Sekretär des Palästina - Komitees am Board of Deputies of British Jews ( Englisch - Jüdisches Vertretungsorgan ). Hier war er mit allen brennenden jüdischen Problemen der Zeit befasst: dem Holocaust, den Konzentrationslagern, Fragen der Umsiedlung und des Wiederaufbaus, der Vertriebenen und nicht zuletzt dem Ringen um die Gründung eines jüdischen Staates. Trotz dieser bedeutenden und prägenden Erfahrungen zog es ihn jedoch wieder in die Wissenschaft. Im Frühjahr 1947 gab er eine vergleichsweise gut bezahlte Anstellung auf, um sich mit einem Forschungsauftrag der Ausarbeitung der „Ursprünge der totalitären Demokratie“ im British Museum zu widmen. 1949 kehrte Talmon als Dozent an die Hebräische Universität nach Jerusalem zurück, wo er den ersten Band der in London begonnenen Studie abschloss. Sie erschien 1952 im Londoner Verlag Secker & Warburg ( zugleich mit leicht geändertem Titel bei Beacon Press, Boston ). Talmons ideologiegeschichtlich ausholende Untersuchung fand lebhafte Aufnahme und machte ihren Autor bald international bekannt. Noch im Jahr des Erscheinens der „Ursprünge der totalitären Demokratie“ wurde er zum „senior lecturer“ befördert, und bereits 1956 erhielt er den für besondere Leistungen in Forschung

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Vgl. Joseph Warren Dauben, Abraham Robinson, Princeton 1995, S. 56–99. J. L. Flajszer [ Talmon ], The Doctrine of Poverty in its Religious, Social and Political Aspects as illustrated by some XII–XIII movements, Diss. phil., London 1943, 497 S.

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Lebensweg des Autors

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und Lehre gestifteten „Israel Prize for Social Sciences and Law“.11 Ab 1960 lehrte er als „full professor“ für „Modern History“ an der – die europäische und amerikanische Geschichte universalhistorisch bearbeitenden – Abteilung für Geschichte und blieb der Hebräischen Universität während seiner gesamten akademischen Laufbahn treu. Das früh erworbene internationale Renommee kam nicht zuletzt in zahlreichen Lehr - und Forschungsaufenthalten in England ( meist in Oxford ), den USA ( Princeton, Stanford, New York, Cambridge/ Massachusetts ) und den Niederlanden ( Wassenaar ) zum Ausdruck, wo er den Austausch mit Fachkollegen suchte. Im September 1959 referierte er auf einem vom „Kongress für die Freiheit der Kultur“ veranstalteten Kolloquium in Basel - Rheinfelden an der Seite Raymond Arons, Jeanne Herschs, Bertrand de Jouvenels, George Kennans, Charles Lindbloms, Robert Oppenheimers, Edgar Salins, Giovanni Sartoris, Manès Sperbers und Eric Voegelins zur Frage einer möglichen „Abdankung des Messianismus“.12 Im akademischen Jahr 1972/73 lehrte er auf Einladung Karl Dietrich Brachers in studentisch aufgewühlter Atmosphäre an der Universität Bonn.13 Talmon hat einen Großteil seines Forscherlebens auf die Ausarbeitung der früh in Umrissen skizzierten Trilogie ver wandt. Nur seine Arbeiten zur Geschichte des Judentums und des Staates Israel betraten Felder, die sich von den Kernthemen seiner Trilogie teils weit entfernten.14 Hier zeigt sich ein gemäßigter Anhänger des Zionismus, der für einen fairen Ausgleich mit den Palästinensern wirbt, die Existenz Israels als lebensnotwendiges Gut verteidigt, einen jüdisch - arabischen Staat aus realistischen Erwägungen ablehnt, aber Pläne zugunsten einer Rückgabe der 1967 eroberten Gebiete unterstützt.15 Der Rest seiner Veröffentlichungen entstand in engstem Zusammenhang mit der Trilogie, dokumentierte deren Fortgang, betrat benachbarte Gebiete oder hatte

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Vgl. zum Wirken Talmons in Lehre und Forschung : Hans Otto Seitschek, Politischer Messianismus. Totalitarismuskritik und philosophische Geschichtsschreibung im Anschluss an Jacob Leib Talmon, Paderborn 2005, S. 21–23. Jacob L. Tamon, Abdankung des Messianismus ? In : Die industrielle Gesellschaft und die drei Welten. Das Seminar von Rheinfelden, Zürich 1961, S. 199–222; französische Ausgabe : Raymond Aron u. a., Colloques de Rheinfelden, Paris 1960. Siehe dazu auch die Rezension von Pierre Hassner, in : Revue Française de Science Politique, 11 (1961) 3, S. 720. Vgl. Karl Dietrich Bracher, Turn of the Century and Totalitarian Ideology. In : Arieli / Rotenstreich ( Hg.), Totalitarian Democracy, S. 70–80, hier 70. Siehe vor allem ders., The Nature of Jewish History, London 1957; ders., Israel Among the Nations, London 1970. Vgl. Isaiah Berlin, A Tribute to My Friend. In : Forum on the Jewish People, Zionism and Israel, (1980) 38, S. 1–4. Siehe zum nicht spannungsfreien Verhältnis zwischen Talmons Zionismus und seinem Liberalismus : Hacohen, Jacob Talmon.

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Einleitung des Herausgebers

ergänzenden Charakter.16 Die Arbeit an der Trilogie stand im Mittelpunkt seines Forscherlebens. Besonders der mehr als 700 Seiten umfassende dritte Band brachte Talmon an die Grenze seiner physischen Leistungsfähigkeit. Als er in den frühen 1970er Jahren eine Herzattacke erlitt und nach langer Abwesenheit in sein Universitätsseminar zurückkehrte, meinte er gegenüber den Studenten halb im Scherz : „History broke my heart.“17 Aber es war wohl kein Zufall, dass er einer weiteren Herzattacke erlag – kurz nach der Vollendung des „Mythos der Nation“. Isaiah Berlin hat von seinem Freund, mit dem er seit 1947 einen regen geistigen Austausch gepflegt und die Hauptthesen des Werkes intensiv diskutiert hatte, nach dessen Tod in einem Nekrolog eine persönlich gefärbte Charakterskizze entworfen. Er beschreibt ihn als einen Liberalen britischer Prägung, „in dem Sinne, in dem Keynes und Bertrand Russell und Graham Wallas Liberale waren“.18 Persönlich war er „großzügig, freundlich, warmherzig, taktvoll – spontan, herzlich, leidenschaftlich besorgt um die Rechte und Bedürfnisse anderer, vor allem um gerechte und angemessene Beziehungen zwischen Menschen“.19 Er hatte „einen niedrigen Siedepunkt“, „hasste Fanatismus und blinden, irrationalen Glauben und starb vielleicht daran, weil er nicht die Gabe hatte, sich gegenüber schmerzlicher Wahrnehmung moralisch aufwühlender öffentlicher Streitfragen abzuschotten“.20

II. Inhalt der Trilogie „Vom achtzehnten Jahrhundert und der Revolution flossen, wie aus einer gemeinsamen Quelle, zwei Flüsse : der eine trug die Menschen zu freien Institutionen, der andere zu absoluter Macht.“21 Mit diesen Worten charakterisierte der liberale Aristokrat Alexis de Tocqueville die Janusköpfigkeit der aufkläre-

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Siehe vor allem Jacob L. Talmon, The Unique and the Universal, London 1965; Romanticism and Revolt, London 1967. Eine umfassende Bibliographie enthält folgender Band : Jacob L. Talmon, The Riddle of the Present and the Cunning of History from a Universal Perspective [ Hebräisch ], hg. von David Ohana, Jerusalem 2000, S. 416–422. Siehe auch die detaillierten Literaturangaben bei : Seitschek, Politischer Messianismus, S. 221–223. Liah Greenfeld, Myth of the Nation and Vision of Revolution. In : History and Theory, 32 (1993) 3, S. 339–349, hier 343. Berlin, A Tribute, S. 2. Ebd., S. 3. Ebd., S. 4. Alexis de Tocqueville, Discours de réception à l’Académie Française (21. April 1842). In : ders., Œuvres complètes, Band IX, Paris 1866, S. 1–23, hier 16.

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Inhalt der Trilogie

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rischen Ideen. Unter Anhängern des Verfassungsstaates hatte sich darüber in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein breiter Konsens gebildet – geprägt von den leidvollen Erfahrungen, die im Zuge der tektonischen Ver werfungen seit 1789 gemacht worden waren. Die „Demokratie“, verstanden im Sinne von Bürgergleichheit und „Volkssouveränität“, konnte sich mit freiheitssichernden Ideen und Institutionen verbinden, aber auch freiheitszerstörende Wirkung entfalten. Diese Einsicht bildete den Ausgangspunkt der Untersuchung, die Talmon wenige Jahre nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs begann. Anders als Eric Voegelin, der die geistesgeschichtlichen Wurzeln des Totalitarismus mit der „Gnosis“ verbindet und sie bis zum ägyptischen Pharao Echnaton und dessen gescheiterten Versuch der Etablierung einer monotheistischen Staatsreligion zurückverfolgt, sieht Talmon die Anfänge totalitären Denkens im engeren Sinne mit den radikal - aufklärerischen Strömungen ab dem 18. Jahrhundert verknüpft.22 Zwar bestreitet er keineswegs die Existenz von Vorläufern des politischen Messianismus – etwa unter den chiliastischen Strömungen des Mittelalters und der frühen Neuzeit, wie sie Norman Cohn im „Ringen um das Tausendjährige Reich“ beschrieb;23 zudem ist er weit entfernt davon, den Einfluss älterer Utopien von Platon bis Campanella auf die radikalen Aufklärer des 18. Jahrhunderts zu leugnen. Einen zentralen Unterschied zwischen den messianischen Bewegungen früherer Jahrhunderte und dem modernen Messianismus sieht er jedoch in folgendem Punkt : Während jene letztlich davon ausgingen, die Endabrechnung werde nicht auf Erden, sondern im Himmel erfolgen, waren diese davon überzeugt, die finale Lösung im Diesseits erreichen zu können, was deren besondere Ungeduld und Unerbittlichkeit erkläre.24 Im 18. Jahrhundert entwickelte sich „gleichzeitig mit dem liberalen Typ der Demokratie und aus denselben Prämissen“ eine Strömung, die man als „totalitären Typ der Demokratie“ bezeichnen konnte. Und die ersten Höhepunkte des Ost - West - Konflikts, die Talmon während der Arbeit an seinem Werk erlebt, erscheinen ihm als unmittelbare Folge des Zusammenpralls „zwischen 22

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Vgl. Hans Otto Seitschek, Eschatologische Deutungen : Vondung, Talmon. In : Hans Maier ( Hg.), Totalitarismus und Politische Religionen. Konzepte des Diktatur vergleichs, Band III : Deutungsgeschichte und Theorie, Paderborn 2003, S. 179–192; Seitschek, Politischer Messianismus, S. 54–69; David Ohana, J. L. Talmon, Gershom Scholem and the Price of Messianism. In : History of European Ideas, 34 (2008) 2, S. 169–188. Vgl. Norman Cohn, Das Ringen um das Tausendjährige Reich. Revolutionärer Messianismus im Mittelalter und sein Fortleben in den Modernen Totalitären Bewegungen, Bern 1961. Vgl. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 40–44; ders., Abdankung des Messianismus, S. 202.

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Einleitung des Herausgebers

empirischer und liberaler Demokratie einerseits und totalitärer messianischer Demokratie andererseits“.25 Beide „Schulen demokratischen Denkens“ unterscheiden sich keineswegs darin, dass die eine „den Wert der Freiheit“ anerkenne, die andere hingegen nicht. Der Gegensatz resultiere vielmehr aus diametral entgegengesetzten Politikverständnissen. Während die liberale Schule ( im weitesten Sinne ) Politik als eine „Sache des Experimentierens“ und politische Systeme als „pragmatische Einrichtungen menschlicher Schöpfungskraft und Freiwilligkeit“ ansehe, beruhe die „Lehre der totalitären Demokratie [...] auf der Annahme einer alleinigen und ausschließlichen Wahrheit in der Politik“. Sie huldige einem „politischen Messianismus“, postuliere also „eine vorausbestimmte harmonische und vollkommene Ordnung der Dinge“, rechne alles „menschliche Denken und Handeln“ der Sphäre des Politischen zu und mache diese zum Gegenstand einer „in sich geschlossenen“, auf die Beherrschung aller Lebensgebiete ausgehenden Philosophie. Auch in ihren Endzielen differierten beide Schulen. Während die liberale Schule Fortschritt in einem suchenden, tastenden Prozess von „trial and error“ erreichen wolle, sei das Telos der totalitären scharf umrissen und werde als „Angelegenheit größter Dringlichkeit behandelt, als Aufforderung zu sofortigem Handeln“. Das „Paradox der totalitären Demokratie“ bestehe darin, dass sie sich an einem „Modell der Gesellschaftsordnung“ ausrichte, das „alle anderen Möglichkeiten verneint“.26 Im ersten Band behandelt Talmon zunächst die Ursprünge der „totalitären Demokratie“ im 18. Jahrhundert. Im Zentrum stehen die Gesellschaftslehren von Helvétius, Holbach, Morelly und Mably, die dem Ancien Régime mit seinen starren Hierarchien und der tiefen Kluft zwischen Arm und Reich das Bild einer vernunftgemäßen Natürlichen Ordnung entgegenstellen, in der sich die guten Anlagen der Menschen ungehindert entfalten, die Konfliktpotentiale auf lösen, Wohlstand, Sittlichkeit und Glück konvergieren. Rousseau fügt diesen Entwürfen das Konzept des „Allgemeinen Willens“ hinzu, der sich segensreich entfaltet, sobald die Individuen ihre Partikularinteressen und damit die Ursache für Zwietracht zugunsten des gemeinsamen Besten zurückstellen. In Verbindung mit einer „zum Extrem geführten Volkssouveränität“27 im Sinne permanenter Mobilisierung, allumfassender Politisierung und einmütiger Entscheidung in Volksversammlungen nähren diese Konzepte totalitäre Visionen, wie sie die Jakobiner in der Französischen Revolution zeitweilig umzusetzen suchten. Talmon beschreibt die Entwicklung der Französischen Revolution als ein wechselhaftes Ringen zwischen den pragmatischeren Anhängern eines 25 26 27

Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 1, S. 35. Ebd., S. 36–38. Ebd., S. 99.

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sozialen und institutionellen Kräftegleichgewichts in der von Montesquieu repräsentierten Denktradition und den Verfechtern der reinen Revolutionsideale, die bedingungslos und unverfälscht in die Tat umzusetzen seien. Die totalitären Elemente ( rationalistische Reißbrett - Theorie, egalitäre Zentralisation, homogenes Nationverständnis etc.), die auch bei gemäßigteren Vertretern (wie dem Abbé Sieyès mit seiner einflussreichen Schrift „Was ist der Dritte Stand?“) nicht fehlen, aber durch liberale, die Freiheit des Individuums in den Mittelpunkt stellende, Gedanken ausbalanciert werden, gelangen in der jakobinischen Tugendherrschaft unter Robespierre und Saint - Just zum Durchbruch. Aus dem Misstrauen gegenüber repräsentativen Einrichtungen und organisierten Gruppeninteressen erwächst die plebiszitär legitimierte Diktatur des Wohlfahrtsausschusses, und die von Sieyès getadelten privilegierten Stände werden zu nationfremden sozialen Klassen, deren konterrevolutionäres Wirken eliminatorische Maßnahmen erlaubt. Unter dem System der Terreur bedarf es keiner konkreten Widerstandshandlungen, um den Gang zur Guillotine zu rechtfertigen; die Zugehörigkeit zu einer verdächtigen sozialen Gruppe genügt. Aber auch gegenüber dem empirischen Volkswillen der breiten Mehrheit ist Skepsis angebracht, da die sozialen Voraussetzungen erst zu schaffen sind, unter denen ein vernünftiger Gemeinwille Ausdruck zu finden vermag. Dieses revolutionäre Werk erfordert einen Retter mit umfassenden Befugnissen, der – unbehindert von schädlichen „Faktionen“ – das revolutionäre Projekt der Einrichtung einer „natürlichen Ordnung“ zur Vollendung bringt. Von hier führt ein kurzer Weg zur Theorie einer revolutionären Diktatur, wie sie Babeuf und Buonarroti entwerfen. Deren agrarkommunistische Verfassung unterscheidet sich in ihrer sozial - ökonomischen Ausgestaltung erheblich von der Vision der Jakobiner ( eine Gesellschaft von selbständigen kleinen Bauern, Ladenbesitzern und Handwerkern ). Ihnen gemeinsam ist der Grundansatz, der auf endgültige Über windung von Konflikten in irdischer sozialer Harmonie zielt. Es handelt sich um die „beiden frühesten Ausdrucksformen des modernen politischen Messianismus“.28 „Politischer Messianismus“ heißt dann auch die konzeptionelle Leitidee, die dem zweiten Band zugrunde liegt. Erfasst wird damit ein breiteres Spektrum politischer Ideen des 19. Jahrhunderts, denen die „totalitär - demokratische Erwartung einer vorbestimmten, allumfassenden und exklusiven Ordnung der Dinge“29 gemeinsam ist, ohne dass sie in jedem Fall als vollgültige Ausprägung „totalitärer Demokratie“ gelten können. Dieser Begriff trifft auf die im ersten Teil des Bandes behandelten Vertreter des „sozialistischen Messianismus“ ( von Saint - Simon und Fourier über Fichte bis Marx ) zu, weniger 28 29

Ebd., S. 347. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 8.

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hingegen auf Verfechter eines „messianischen Nationalismus“ ( Lamennais, Michelet, Mazzini, Mickiewicz ), bei denen die Völker als Kollektivsubjekte zu Triebkräften der Geschichte und Trägern einer universalen Sendung werden. Gemeinsam ist ihnen allen der messianische Ansatz, der nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der Religion, vor allem dem Christentum, her vortritt. Weil der „Horror vor einem sinnlosen Dahintreiben nicht durch Vertrauen auf eine göttliche Vorsehung“30 beschwichtigt wird, treten die Gesetze der Geschichte an deren Stelle. Manche lehnen die Religion ( wie Blanqui und Marx ) völlig ab, andere propagieren eine neue Religion ( etwa eine Art rationalisierten Christentums wie Rousseau, Robespierre, Saint - Simon ), wieder andere entwickeln Formen des Pantheismus ( wie Hegel und Mazzini ), in denen das Göttliche die Totalität des geschichtlichen Prozesses durchflutet.31 Stets aber geht es darum, etwas Neues an die Stelle der alten, traditionellen, „degenerierten“ Religion zu setzen, und zwar nicht etwa lebenspraktische Maximen und Verhaltensregeln, sondern eine allumfassende Weltanschauung, die eine große Umwälzung, ein „dénouement“ im Sinne einer Auf lösung des historischen Knotens, einer irreversiblen Über windung überkommener Konfliktstrukturen und einer Erlösung im Diesseits verspricht. Talmon beschränkt sich im zweiten Band nicht auf die Vertreter einer „totalitären Demokratie“ im engen Sinne, sondern bezieht auch liberale Gegenspieler in die Betrachtung ein, vom frühesten systematischen Kritiker der „totalitären Demokratie“, Benjamin Constant, bis zu Guizot, Tocqueville und Lamartine. Zudem behandelt er knapp die „konterrevolutionäre Rechte“ ( de Maistre, de Bonald, deutsche Romantiker ), die mit ihren linken Antagonisten die tiefe Abneigung gegenüber dem Liberalismus nicht zuletzt wegen dessen areligiösem Charakter teilt, scheint er ihr doch frei von der „Last der Sünde“ wie von der „Sehnsucht nach Erlösung“.32 Anders als im ersten Band treten neben die Ideologiegeschichte eigenständige Abhandlungen, die den sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Revolutionen von 1830 und 1848 in Frankreich gewidmet sind, den Verlauf der politischen Ereignisse nachzeichnen und die Revolutionsakteure mit ihren unterschiedlichen Konzepten und Strategien charakterisieren. Besonders die Februarrevolution von 1848 erscheint als Ringen um die Interpretation des wahren ( hypothetischen ) Volkswillens, der keineswegs mit dem empirischen übereinstimmt und seine selbsternannten Deuter mit weitreichenden Handlungsbefugnissen ausstattet. Und die in der Theorie allenthalben geteilte Forderung nach allgemeinen Wahlen

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Ebd., S. 255. Vgl. ebd., S. 233. Ebd., S. 381.

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stößt in der Praxis auf vielerlei strategische Bedenken selbst bei den entschiedensten Verfechtern revolutionärer Prinzipien: Würde das Volk die nötige Reife aufbringen und seinem „wahren Willen“ Ausdruck verleihen ? Das allgemeine Wahlrecht bahnt schließlich der „autoritären Demokratie“ oder „plebiszitären Diktatur“ Napoleons III. den Weg, die Elemente der Vor - 1848er Messianismen, des Sozialismus wie des Nationalismus, aufnimmt und in ihnen enthaltene Sehnsüchte in die mythische, über den Parteien thronende, die Souveränität der Nation verkörpernde Führerfigur projiziert. Der Bonapartismus vereint so in nuce programmatische Elemente, aus denen die ideologische Polarisation des 20. Jahrhunderts ihre Wucht gewinnt. Den Verbindungen und Wechselwirkungen zwischen der Vision der Weltrevolution und einem von universalistischen Verpflichtungen losgelösten Mythos der Nation ist der dritte Band der Trilogie gewidmet. Hier zeigt sich Talmon vor allem in den biographischen Betrachtungen auf dem Höhepunkt seiner darstellerischen Kraft ( Glanzstück : das von tiefer Empathie getragene, ihr politisches Konzept jedoch schonungslos entlar vende Porträt Rosa Luxemburgs ). Immer wieder wird der Versuch unternommen, eine von ökonomischen, sozialen und sozialpsychologischen Faktoren geprägte Atmosphäre, ein soziales Klima einzufangen, innerhalb dessen bestimmte Überzeugungen und Glaubensinhalte unter den Menschen Verbreitung erlangen und sie zu einschneidenden Kurswechseln veranlassen. Der geographische Schwerpunkt des Bandes verlagert sich gegenüber seinen Vorgängern nach Osten, von Frankreich nach Italien, Deutschland, Österreich, Polen und Russland, den Hauptschauplätzen der totalitären Regimebildungen. Einerseits wird deutlich, wie die Auseinandersetzung mit der Nationenproblematik die Konflikte und Ver werfungen innerhalb der Linken von Marx und Engels über die deutsche Sozialdemokratie des Kaiserreiches und den Austromar xismus bis zu den russischen Revolutionären ( von Belinski und Herzen, Tschernyschewski und Dobroljubow, Bakunin und Lawrow bis Tkatschow, Netschajew und Lenin ) prägt und welche geistigen Anknüpfungsmöglichkeiten entstehen, wenn die Nation zum bevorzugten Gehäuse sozialer Befreiung wird. Andererseits versucht Talmon zu zeigen, dass der Rechtstotalitarismus nicht etwa aus dem Legitimismus und Neoabsolutismus her vorgeht, sondern aus der Transformation des ( ursprünglich „linken“, bereits auf einem homogenen Nationverständnis basierenden ) Nationalismus von einer egalitäruniversellen in eine integral - partikulare Doktrin, die sich für imperiale Projekte auf rassistischer Grundlage wie geschaffen erweist. An die Stelle rationalistischer Visionen treten historische Mythen, denen eine ähnliche Funktion als Beweger der Geschichte zufällt; dies wird ideologiegeschichtlich greifbar vor allem in der geistigen Entwicklung Georges Sorels vom Mar xismus zum Nationalsyndikalismus und seinem kaum zu überschätzenden Einfluss auf Musso-

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lini und dessen Werdegang vom linksrevolutionären Chefredakteur der sozialistischen Parteizeitung „Avanti“ zum Gründer und Anführer des Faschismus. Hier kommen die Strukturähnlichkeiten der ( prä - )totalitären Bewegungen zum Vorschein : „Beide Typen des Totalitarismus gründeten auf der Annahme, dass es eine einzige, allumfassende und ausschließliche Wahrheit in der Politik gibt, und letzten Endes erkannten beide Ideologien nur eine Existenzebene an : die politische. Wenn die Linke ihre Doktrin vom Glauben an die deterministische Vorrangstellung des Materiellen, die sich verändernden Produktionsweisen und die entsprechenden Formen des Klassenkampfes ableitete, entwickelte die Rechte Schritt für Schritt ihre Antwort aus der Behauptung der deterministischen und maßgeblichen Bedeutung der natürlichen Gegebenheiten von Volk und Blut. Jede der beiden Ideologien verband sich mit der Vision von einer Geschichte, die dazu bestimmt sei, einen erlösenden Höhepunkt, die Auf lösung der sozialen Widersprüche auf dem Weg über einen revolutionären Durchbruch oder die Wiederherstellung einer ursprünglichen Authentizität durch Reinigung der völkischen Substanz von sinnentstellenden und schwächenden Verdünnungsmitteln zu erreichen. Beide Ideologien hatten eine manichäische Sicht der Geschichte. Überzeugt, im Besitz der allumfassenden und alles heilenden Wahrheit zu sein, glaubte jede von ihnen, alles ihren Zielen Förderliche sei richtig und gut, und alles, was sich ihrem Vormarsch in den Weg stellte, sei böse.“33 Ihre Konfrontation musste tödlich sein. Das wichtigste Bindeglied der Totalitarismen, der politische Messianismus, ist ohne eine „jüdische Dimension“ weder ideologie - noch realgeschichtlich angemessen zu verstehen. Sie ist in der Trilogie mehrfach Gegenstand weit ausholender Betrachtungen. Bereits im zweiten Band nimmt Talmon die ins Auge stechende Bedeutung jüdischer Einflüsse auf den Saint - Simonismus (wie später den hohen Anteil an Menschen mit jüdischem Hintergrund unter sozialistischen Revolutionären, besonders im östlichen Europa ) zum Anlass historischer und sozialpsychologischer Reflexion. Zwei Faktoren erklären in erster Linie die Bedeutung jüdischer Elemente : Zum einen enthält die jüdische Tradition eine Lesart geschichtlicher Entwicklung, die das Wirken von Zufällen, einmaligen Ereignissen und personellen Konstellationen hinter die theologischen Vorstellungen „von Erwählung, Sünde, Buße und Erlösung am Ende der Tage“34 zurücktreten lässt. Über das Christentum imprägniert dieses messianische Erbe die Kultur des Abendlandes. Es inspiriert „die Vision der Wiederkunft Christi, der apokalyptischen und millenaristischen Bewegungen im Laufe der Geschichte“ und ruft „mit einigem Abstand das Konzept des unendlichen Fortschritts, des Sozialismus und der Revolution als errettende Erlö33 34

Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 3, S. 695. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 86.

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sungen her vor“.35 Zum anderen gewinnen diese Interpretamente unter den Juden als Mittel der Selbstdeutung und universalisierenden Fremddeutung umso mehr an Gewicht, je unsicherer, prekärer und bedrohter sich die Lage verstreuter jüdischer Gemeinschaften in nicht selten misstrauischer und feindseliger Umgebung darstellt. Die eigene Existenz erscheint nun als eine Prüfung auf dem Weg zu einer endzeitlichen Erlösung, die auf eine erdbebenartige Erschütterung und Umwälzung folgen wird : „So erklärt sich zum Beispiel die gewitterschwangere Atmosphäre, in der die Juden Osteuropas in dem Zeitraum zwischen den beiden Weltkriegen lebten : von zwei Seiten her messianischen Feuern – der zionistischen Erlösung und der kommunistischen Weltrevolution – ausgesetzt, bis der Abgrund ewiger Nacht sie verschlang.“36 Die radikale Aufklärung und ihre linksrevolutionären Erben tragen allerdings nicht weniger zum Argumentationsarsenal antisemitischer Bewegungen bei als der überkommene christliche Antijudaismus : die Herabsetzung des Judentums als atavistische Stammesreligion oder Hort parasitärer finanzkapitalistischer Ausbeutung, die oft hasserfüllte Judenschelte säkularisierter Juden wie z. B. von Karl Marx oder auch die neurotische Verdrängung jeglicher Empathie gegenüber den nahen Angehörigen der bedrängten jüdischen Minderheit bei gleichzeitiger abstrakter Betonung universeller Solidarität mit den Fernsten, wie Talmon dies anhand des Briefwechsels zwischen Rosa Luxemburg und ihrem langjährigen Lebensgefährten Leo Jogiches ( beide aus jüdischen Familien ) aufzeigt. Der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende rassistische Antisemitismus stellt sich so wie das „Spiegelbild des sozialistischen Mar xismus“ dar : „Das Blut nahm den Platz ein, der im dialektischen Materialismus der Materie gebührte. Änderungen in der Zusammensetzung des Blutes ersetzten Änderungen in der Produktionsweise, die jüdische Ausbeutung ersetzte die kapitalistische Unterdrückung, jüdisch - sozialistische Aufwiegelung den Klassenkampf. Die Eliminierung der Juden trat an die Stelle der Revolution, und die Konfiszierung jüdischen Eigentums sowie dessen Verstaatlichung und Neuverteilung übernahm die Rolle der sozialen Transformation.“37 Seine eliminatorische Zuspitzung erhält der Antisemitismus durch die Verbindung mit der biologischen Rassenideologie, wie sie unter dem Einfluss des Dar winismus Verbreitung erlangt. An ihrer Ausarbeitung sind auch 1848er Revolutionäre des „radikalen“ Typs – wie der Erfinder des Wortes „Antisemitismus“, Wilhelm Marr, oder der Dresdner Barrikadenkämpfer Richard Wagner – beteiligt. Als wichtigen Ideengeber Hitlers sieht Talmon Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain, der den rassenbiologi35 36 37

Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 3, S. 227. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 87. Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 3, S. 268 f.

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schen Antisemitismus zur Uminterpretation der europäischen Geschichte nutzt. Demnach hat die Französische Revolution die Juden als parasitäre Existenzen in die Lage versetzt, die vom Germanentum des Mittelalters geprägten europäischen Kulturen zu zerstören. Der Aufstieg der Arbeiterbewegung wird bald als Teil einer jüdischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft gedeutet. Antisemitenparteien gewinnen an Einfluss. Ihr plebejischer Radikalismus nährt bei der österreichischen Linken in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Hoffnung, der Sozialismus werde von ihrem revolutionären Potential profitieren. Doch der Weltkrieg erweist sich schließlich mehr noch als Katalysator einer Gegenbewegung, indem der Nationalsozialismus den eliminatorischen Antisemitismus ins Zentrum seiner Programmatik stellt – und infolge der Weltwirtschaftskrise und der Entfesselung eines zweiten Weltkrieges in die Lage versetzt wird, sein rassenbiologisches Konzept furchtbare Wirklichkeit werden zu lassen. Wer das umfangreiche Kapitel zur „Jüdischen Dimension“ im dritten Band der Trilogie gelesen hat, wird die erstaunte Frage eines langjährigen Jerusalemer Weggefährten Talmons, Yehoshua Arieli, warum der Holocaust als „ein Schlüssel für das Verständnis des Menschen in der Moderne“ in der Geschichte der totalitären Demokratie „auf so kuriose Weise übersehen“38 werde, nicht ohne Ver wunderung zur Kenntnis nehmen. Und wenig plausibel erscheint Arielis Vermutung, ein intellektueller Selbstschutzmechanismus habe Talmon womöglich dazu veranlasst, sich auf Themen zu konzentrieren, die den Menschen nicht in tiefste Verzweif lung stürzen und ihm zumindest einen Funken der Hoffnung belassen. Träfe dies zu, hätte sich Talmon wohl kaum so intensiv auf Hitlers „Mein Kampf“ eingelassen wie im neunten Kapitel des dritten Bandes. Zu einer überzeugenderen Antwort dürfte gelangen, wer sich die intellektuellen Ursprünge Talmons und den Initiationsimpuls seines Lebenswerkes vor Augen führt. Zu ihnen zählte der frühe Einfluss des sozialistischen Zionismus mit dessen diesseitig - messianischen Erwartungen. Zwar hatte er sich schon nach kurzer Zeit von den Vorstellungen der „Haschomer Hazair“ gelöst,39 aber sein Lebensthema war die Auseinandersetzung mit den inhumanen Potenzen eines politischen Denkens, dem er anfänglich angehangen hatte und zu dessen Grundannahmen moralische Überzeugungen gehörten, die er bis zu seinem Tod teilte. So war es naheliegend, die linksintellektuelle Mitverantwortung für die Menschheitskatastrophen des 20. Jahrhunderts und die rechtstotalitären Anleihen bei den linkstotalitären Antipoden in den Mittelpunkt des Werkes zu stellen.

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Arieli, Jacob Talmon, S. 18. Vgl. Talmon, Autobiographische Niederschrift, S. 17.

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Rezeption

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III. Rezeption Jacob L. Talmons Trilogie zur Geschichte der „totalitären Demokratie“ wird heute auch von Kritikern des Totalitarismuskonzepts – neben Hannah Arendts Studie „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ – als einer der wegweisenden Beiträge zur Totalitarismusdebatte gewürdigt.40 Talmons erster Band erschien 1952 nur wenige Monate nach Arendts Werk – in einer heißen Phase des Kalten Krieges ( Korea ), mithin in einer für das Thema besonders aufnahmefähigen Atmosphäre. Beide Bücher versahen, so unterschiedlich sie waren, das bereits in den 1930er Jahren ins Zentrum systemvergleichender Untersuchungen gerückte Totalitarismuskonzept41 mit einem ideologie - und mentalitätsgeschichtlichen Fundament, legten geistige Prädispositionen und Denkstrukturen offen, die zur Erklärung des viel diskutierten Phänomens beitrugen. Talmons Band erregte weniger öffentliches Aufsehen als die „Elemente“, weil seine Gegenstände historisch weiter entfernt lagen und Reizthemen wie „Rassismus“ und „Imperialismus“ vorerst ausgespart blieben.42 Aber die akademische Auseinandersetzung mit dem Werk war lebhaft und weithin von – teils distanzierter, teils vorbehaltloser – Anerkennung geprägt.43 Als einer der Ersten rühmte der in Har vard lehrende Revolutionshistoriker Crane Brinton die „bewundernswerte Analyse“ einer „demokratischen Häresie“, die in kommunistische Diktaturen mündete. Wem der Verlauf der Französischen Revolution nicht geläufig sei, könne aus Talmons Studie lernen, wie viele Elemente des „Marxismus-Leninismus-Stalinismus“ in der Verschwörung Babeufs vor weggenommen seien : „Klassenkampf, Rolle der aufgeklärten Avantgarde oder Elite, ambivalente Haltung zwischen Verachtung und grenzenlosem Vertrauen gegenüber den Massen, ein auser wähltes Revolutionsvolk, das durch einen Eisernen Vorhang vor Korruption von außen bewahrt werden müsse, die Diktatur des Proletariats, das Absterben des Staates“ usw. Talmon

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Vgl. Enzo Traverso, Le Totalitarisme. Le XXe siècle en débat, Paris 2001, S. 601. Vgl. Bernard Bruneteau, Le Totalitarisme. Origines d’un concept, genèse d’un débat 1930–1942, Paris 2010; Huttner, Totalitarismus; William David Jones, The Lost Debate. German Socialist Intellectuals and Totalitarianism, Urbana 1999; Marc - Pierre Möll, Gesellschaft und totalitäre Ordnung. Eine theoriegeschichtliche Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus, Baden - Baden 1998, S. 29–98; Mike Schmeitzner ( Hg.), Totalitarismuskritik von links. Deutsche Diskurse im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007. Vgl. Abbott Gleason, Totalitarianism. The Inner History of the Cold War, New York 1995, S. 115. Vgl. hierzu zusammenfassend Klaus Hornung, Politischer Messianismus : Jacob Talmon und die Genesis der totalitären Diktaturen. In : Zeitschrift für Politik, 47 (2000) 2, S. 131–172, hier 160–168; ders., Die offene Flanke der Freiheit. Studien zum Totalitarismus im 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001, S. 39–84.

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habe die sozialpsychologischen Mechanismen erfasst, mit denen Ideen und Temperament Revolutionäre wie Robespierre und Babeuf dazu gebracht hätten, individuelle Freiheit und Pluralität zugunsten von Autorität und Uniformität preiszugeben. „Sie waren Idealisten in Eile, so sehr in Eile, dass sie in ihrer Hast den besseren Teil ihrer Ideale verloren.“44 Der Chicagoer Politikwissenschaftler Jerome G. Ker win besprach das „bedeutende Werk“45 im renommierten Fachorgan „American Political Science Review“. Überzeugend habe Talmon die Ansätze totalitärer Demokratie unter den aufgeklärten Geistern des 18. Jahrhunderts mit ihrem Glauben an eine natürliche und vernunftgemäße Ordnung herausgearbeitet. Aus der Demokratie sei dadurch nicht nur ein politischer Glaube, sondern eine Religion geworden, die neben sich keine andere dulde. Das darauf aufbauende tiefe Misstrauen gegenüber dem Sonderbaren, Abweichenden, Konträren lasse keinen Platz für die Anerkennung der „fundamental pluralistischen Natur“ der Demokratie. Daher erkläre sich die Neigung zur Uniformität : alle in der gleichen Art von Schulen zu erziehen, alle dazu zu bringen, dieselben religiösen Überzeugungen zu teilen, oder auch dem Staat die Rolle der alleinigen normsetzenden Autorität in der Gesellschaft zuzuweisen. Auf ähnliche Weise begrüßte der Oxforder Historiker Max Beloff Talmons „Wiederbelebung einer genuin empirischen Sicht der Politik nach einer langen intellektuellen Vorherrschaft der Totalitären in unserer Mitte“. Die im 18. Jahrhundert begründete Tradition totalitären politischen Denkens beruhe auf dem freiheitsfeindlichen Glauben, dass Mensch und Gesellschaft nach allgemeinen Vernunftprinzipien geformt werden könnten, bis völlige Eintracht in einem Tausendjährigen Reich einkehre. Dies aufgezeigt zu haben, sei das Verdienst des „bedeutenden und originellen Beitrags zur Ideengeschichte“.46 Den „liberal - empiristischen“ Ansatz Talmons hob auch der Torontoer Philosoph Crawford B. Macpherson her vor; er gelangte aber zu einem gänzlich anderen Urteil als sein Oxforder Kollege. Er bescheinigte der Studie Anziehungs - und Überzeugungskraft, ihrem Autor Einsicht und Können, hielt ihre Ergebnisse jedoch für unbefriedigend.47 Denn Talmon messe Doktrinen und gedanklichen Strukturelementen generell zu hohe Bedeutung bei. Wenn die Jakobiner so handelten, wie sie handelten, war dies weniger Ausfluss spezifi44 45 46 47

Crane Brinton, Idealists in a Hurry. In : New York Times vom 10.8.1952 ( Übersetzung des Verfassers ). Jerome G. Ker win, The Rise of Totalitarian Democracy. In : American Political Science Review, 46 (1952) 4, S. 1185–1187, hier 1185. Max Beloff, The Origins of Totalitarian Democracy. In : International Affairs, 28 (1952) 3, S. 363. Crawford B. Macpherson, The Origins of Totalitarian Democracy. In : Past & Present, 2 (1952), S. 55–57.

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scher Denkweisen als Folge äußerer Umstände. Und die Ähnlichkeiten, die zwischen dem Projekt der Bolschewiki in Russland und dem der Babeuf Anhänger in Frankreich zu konstatieren seien, könnten mit höherer Plausibilität aus der über wiegend agrarischen Natur der zu transformierenden Gesellschaften abgeleitet werden. Hier schrieb ein vom Marxismus inspirierter Autor, der dem Totalitarismusansatz mit tiefer Skepsis begegnete. War Macphersons Kritik fundamentaler Natur, nahmen andere Rezipienten der Studie Anstoß an der Interpretation einzelner Autoren. Vor allem die Beurteilung von Rousseaus Konzept des „Allgemeinen Willens“ als Ansatzpunkt für totalitäre Entwürfe löste lang anhaltende Kontroversen aus. Die Problematik der Unterscheidung zwischen einem empirischen und einem ideal- rationalen Volkswillen fand Eingang in viele Rousseau - Interpretationen; doch war nur ein Teil der Autoren – wie etwa Frederick C. Greene in seiner 1955 erschienenen Rousseau - Studie48 – bereit, ähnliche Schlüsse wie Talmon im Blick auf die Deutung des „Gesellschaftsvertrages“ ( oder gar die Einordnung des Rousseau’schen Gesamtwerkes ) zu ziehen. Die Intensität der von Talmons Studie ausgelösten Debatte dokumentiert die Studie John W. Chapmans (1956) eindrucksvoll.49 Die auch hier erkennbare Trennungslinie zwischen Anhängern und Kritikern einer vom Totalitarismusansatz ausgehenden ideologiegeschichtlichen Betrachtung wurde nur von Alfred Cobban durchbrochen, der in den 1930er Jahren zu den angelsächsischen Pionieren der Totalitarismuskritik zählte,50 nun aber Rousseau gegen die psychologisierende Deutung Talmons in Schutz nahm, seine ideologiegeschichtliche Genealogie kritisierte, zugleich aber die Erklärungskraft seines Ansatzes für die Interpretation der Gegenwart ausdrücklich anerkannte.51 Talmon selbst hatte möglichen Überinterpretationen seiner Bewertung des Konzepts des „Allgemeinen Willens“ mit der Bemerkung vorbeugen wollen, „die Frage nach der ‚Verantwortlichkeit‘ Rousseaus für die Taten oder Missetaten jener, die sich auf seinen Namen stützten“, sei „ebenso relevant oder irrelevant wie etwa die Frage nach der ‚Ver48

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Frederick C. Greene, Jean - Jacques Rousseau : A Critical Study of his Life and Writings, Cambridge 1955. Vgl. J. Salwyn Schapiro, Rousseau : Totalitarian ? In : Saturday Review of Literature vom 11.2.1956, S. 44 f.; Gleeson, Totalitarianism, S. 116. Vgl. John W. Chapman, Rousseau – Totalitarian or Liberal ?, Cambridge 1956. Vgl. Alfred Cobban, Dictatorship. Its History and Theory, London 1939. Siehe dazu Markus Huttner, Totalitarismus und säkulare Religionen. Zur Frühgeschichte totalitarismuskritischer Begriffs - und Theoriebildung in Großbritannien, Bonn 1999, S. 323–331; Klaus Hornung, Politischer Messianismus : Jacob Talmon und die Genesis der totalitären Diktaturen. In : Zeitschrift für Politik, 47 (2000) 2, S. 131–172, hier 143, 160 f. Vgl. Alfred Cobban, In Search of Humanity. The Role of the Enlightenment in Modern History, New York 1960, S. 183; ders., Rousseau and the Modern State, 3. Auflage London 1970, S. 29 f.

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antwortlichkeit‘ des Evangeliums für die Austreibung der Hugenotten durch Ludwig XIV. Die Kontinuität einer Tradition ist wichtiger als die Authentizität der Auslegung des Kanons. Und die totalitär - demokratische Beschaffenheit oder zum mindesten Potentialität des Rousseau - jakobinischen Kanons springt in die Augen.“52 Talmon hatte im ersten Band bereits die beiden Folgebände angekündigt und damit Neugier und Erwartungen bei den Rezensenten geweckt. Es sollte immerhin acht Jahre dauern, bis der zweite Band im Londoner Verlag Secker & Warburg erschien. Die akademische Aufnahme war ähnlich rege und anerkennend. George L. Arnold empfahl Band 2 als Standardwerk zur Ideengeschichte für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts im Magazin der antikommunistischen Linken, auch wenn er die Ausdehnung des Autorenkreises über die Verfechter „totalitärer Demokratie“ hinaus für problematisch hielt.53 Viel Lob ernteten die subtilen Interpretationen der frühen Sozialisten – von SaintSimon über Fourier bis zum jungen Marx.54 Aber es gab auch kritische bis ablehnende Stimmen. John Plamenatz ( Nullfield College, Oxford ) lobte die Leidenschaft und den Kenntnisreichtum, mit denen der Autor seine von tiefer Überzeugung getragenen Kernthesen verteidige, tadelte aber den „impressionistischen“55 Stil, der nicht selten auf Kosten analytischer Stringenz gehe. Und der Soziologe Donald G. MacRae von der London School of Economics and Political Science meinte,56 die These von der „totalitären Demokratie“ sei in der angelsächsischen Welt inzwischen populär geworden, weil sie es ermögliche, eine klare geistige Trennungslinie zwischen der politischen Verfasstheit Großbritanniens wie der USA und ihren Feinden im Kalten Krieg zu ziehen und dabei das Bedürfnis nach einfachen Erklärungen und einer Logik des Entweder - Oder befriedige. Sie begünstige auch Selbstgenügsamkeit auf Seiten der liberalen Demokratie, deren Stärken ( Fähigkeit zur Selbstkorrektur, Flexibilität in Mitteln und Zielen, Respektierung menschlicher Vielfalt und Entfaltungsmöglichkeit ) sich auch Impulsen verdankten, die aus dem totalitär - demokratischen Lager gekommen seien. Freiheit müsse nicht nur bewahrt, sondern auch stetig erneuert werden. Im gleichen Jahr, in dem der zweite Band erschien, kam die deutsche Übersetzung des ersten ( im Westdeutschen Verlag ) heraus. Dafür dauerte es nur 52 53 54 55 56

Talmon, Geschichte der totalitären Demokratie, Band 2, S. 7 f. George L. Arnold, The Messianic Heresy. In : Encounter, 15 (1960) 5, S. 76–79. Vgl. etwa J. Salwyn Schapiro, Political Messianism : The Romantic Phase. In : American Historical Review, 66 (1961) 4, S. 1014–1016. John Plamenatz, Political Messianism : The Romantic Phase. In : Political Science Quarterly, 76 (1961) 4, S. 593–595, hier 594. Vgl. Donald G. MacRae, Totalitarian Democracy. In : The Political Quarterly, 31 (1960) 4, S. 488–495.

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Rezeption

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drei Jahre, bis der zweite Band ebenfalls auf Deutsch vorlag. Die Bände stießen im Land der Extreme alles in allem auf noch größeres Wohlwollen als in den angelsächsischen Ländern. Karl Griewank, der als nicht - mar xistischer Revolutionshistoriker an der Universität Jena in denkbar schwierigem Umfeld wirkte, würdigte die englische Originalausgabe des ersten Bandes in einer 1954 posthum erschienenen Rezension für die Historische Zeitschrift. Talmons Interpretation des Begriffs der Natürlichen Ordnung bei Helvétius, Holbach, Rousseau, Morelly und Mably als „objektives Muster der Dinge, außerhalb dessen es keine Freiheit geben darf“, fand seine Zustimmung. Auch habe Talmon „nicht schlecht beobachtet, dass die Ablehnung von Parteiungen im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die der Ablehnung aller Privilegien dient, eine Konsequenz der Idee des ‚ordre naturel‘ ist, und dass hierauf auch die revolutionäre Haltung von Sieyès mit der Eliminierung aller nicht konformen Gruppen beruht“.57 Griewank lobte die „scharfe und methodisch keineswegs gewaltsam vorgehende, sondern oft mosaikartig detaillierende Verdeutlichung des Grundgedankens“,58 regte aber an, die Rekonstruktion von Überzeugungen und Glaubenshaltungen bei der Reihung der „Totalitarismen“ im Interesse größerer „Lebensnähe“ durch eine stärkere Verbindung mit den „gesellschaftlichen und politischen Bedingungen“59 zu vertiefen. Das Erscheinen der deutschen Ausgabe bewirkte weitere, über wiegend von Anerkennung geprägte Würdigungen. „Das Werk ist ein beachtlicher und in vieler Hinsicht neuartiger Beitrag zur politischen Ideengeschichte“, lautete das bilanzierende Urteil des Parlamentarismusforschers Kurt Kluxen.60 Und einer der Begründer der Begriffsgeschichte, Reinhart Koselleck, lobte die Klarheit, Stringenz und Gründlichkeit der Untersuchung. Er ordnete Talmon in eine Reihe mit Tocqueville, Taine und Brinton ein, die „bereits den Kern der Französischen Revolution als quasireligiöses Ereignis interpretiert hatten“. Talmon gehe über diese Autoren aber noch hinaus, wenn er die Entstehung des politischen Messianismus bis zur Aufklärung zurückverfolge. Anders als vor ihm dem Revolutionshistoriker Auguste Cochin, mit dem Talmons Darstellungen viele Berührungspunkte aufwiesen, gehe es ihm aber in erster Linie darum, das „Schisma zwischen einer liberal - empirischen und einer totalen Demokratie aus dem Erfahrungsraum der Französischen Revolution herauszupräparieren“. Talmons „großes Verdienst“ sah er darin, „eine brennende Fragestellung der Gegenwart an die Französische Revolution herangetragen zu haben, die Fra57 58 59 60

Karl Griewank, The Origins of Totalitarian Democracy. In : Historische Zeitschrift, 178 (1954), S. 92–95, hier 93. Ebd., S. 94. Ebd., S. 95. Kurt Kluxen, Die Ursprünge der totalitären Demokratie. In : Das Historisch - Politische Buch, 10 (1962), S. 132 f., hier 133.

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ge nach dem Zusammenhang zwischen Terror und politischer Glaubensgewissheit, zwischen Diktatur und totalem Erlösungsanspruch. Und was er zeigt, ist zwischen einer Fülle erregender Quellen und strenger Analysen das Bild einer Revolution, die nicht nur ihre Kinder, sondern auch ihre Väter verzehrt hat.“61 Talmons Rousseau - Interpretation hat in Deutschland positive Aufnahme gefunden. Zu erwähnen ist besonders der Berliner Pluralismustheoretiker Ernst Fraenkel, der Rousseau als „Apostel des Antipluralismus“ charakterisiert und bei seiner Unterscheidung zwischen einem Gemeinwohl „a priori“ und „a posterior“ auf Talmons Deutung des „Allgemeinen Willens“ zurückgegriffen hat. Talmons Verdienst bestehe darin, „in seinem bedeutenden Buche [...] systematisch die einzelnen Phasen der französischen Revolution unter dem Gesichtspunkt analysiert zu haben, wie die Jünger Rousseaus auf die Tatsache reagierten, dass die Kluft zwischen der realen öffentlichen Meinung und der postulierten volonté générale nicht zu schließen war. Sobald eine Gruppe sich berufen fühlt, die ‚wahre‘ volonté générale auch gegen eine im Irrtum beharrende Mehrheit zu erzwingen, schlägt die radikale Demokratie in eine totale Diktatur um.“62 Der mit einem zeitlichen Abstand von 21 Jahren zum vorhergehenden Band erschienene letzte Teil der Trilogie hat weit weniger Aufmerksamkeit gefunden als die vorangegangenen. Ein wesentlicher Grund dürfte in den wechselnden Konjunkturen des Totalitarismusansatzes zu finden sein. Talmons „Basisnarrativ“ („Aufstieg und Fall des Utopismus im Westen, seine Regeneration im östlichen Europa, sein enormes Potential in der Dritten Welt“) habe in den 1950er Jahren glaubwürdiger gewirkt als „heute“ ( Mitte der 1980er Jahre ), konstatierte einer der verspäteten, dafür aber umso eindringlicheren Rezensenten fünf Jahre nach dem Erscheinen des Bandes.63 Waren Totalitarismuskonzepte bis in die erste Hälfte der 1960er Jahre hinein vor allem in den angelsächsischen Ländern und Deutschland in Politik, Publizistik und Wissenschaft höchst einflussreich ( anders als in Frankreich, wo erst das Erscheinen von Solschenizyns „Archipel Gulag“ zu Beginn der 1970er Jahre eine Totalitarismusdebatte auslöste und Talmons erster Band die Jakobinerund Revolutionsforschung beeinflusste64), sank ihre Akzeptanz ab Ende der 61 62

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Reinhart Koselleck, Der Ursprung der Moderne. In : Neue Politische Literatur, 8 (1963), S. 863–866, hier 866. Ernst Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien. In : ders., Gesammelte Schriften, hg. von Alexander von Brünneck, Hubertus Buchstein, Gerhard Göhler, Band 5, Baden - Baden 2007, S. 214. George Enteen, Utopianism and Totalitarianism : J. L. Talmon’s Final Reckoning. In : History of European Ideas, 7 (1986) 2, S. 175–184, hier 181. Vgl. Bernard Bruneteau, Les Totalitarismes, Paris 1999, S. 83. Besonders François Furets Brückenschlag zwischen der Jakobinerherrschaft und der der Bolschewiki in

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1960er Jahre merklich. Maßgeblich dazu bei trugen die strukturellen Veränderungen in den realsozialistischen Staaten infolge der Entstalinisierung, der zeitweilige Rückgang der Ost - West - Konfrontation im Zeichen der „Entspannungspolitik“ oder auch die Renaissance des Mar xismus im Zuge der „Studentenrevolte“, um nur einige wenige Faktoren zu nennen. Als der dritte Band zu Beginn der 1980er Jahre erschien, galt der Totalitarismusansatz in Politikwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Soziologie weithin als überholt. Zu den wenigen Autoren, die den Band breit rezipierten und in der Öffentlichkeit bekannt machten, zählte der Bonner Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher, der Talmon seit gemeinsamen Tagen in Princeton verbunden war und dessen „Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert“ auf den Arbeiten Talmons aufbaut.65 Wäre die Trilogie zehn Jahre später zum Abschluss gelangt, hätte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit größere Aufmerksamkeit gefunden, denn der Totalitarismusansatz erlebte nach dem unverhofften Ende der realsozialistischen Systeme in Europa eine Renaissance.66 Auch die Wiederkehr der Nationalitätenproblematik und des Nationalismus im östlichen Europa hätte dann die brennende Aktualität seiner zentralen Thematik schlagend unter Beweis gestellt. Eine in diesem Kontext entstandene, kritisch - differenzierte und faire Würdigung hob als besondere Stärke des „Mythos der Nation“ her vor, mit seiner facettenreichen Betrachtung der Nationenproblematik bei mar xistischen Revolutionären habe der Band viel zur Beantwortung der Frage beigetragen, warum eine nicht unbeträchtliche Zahl von ihnen mit solcher Leichtigkeit zu

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Russland kann den Einfluss Talmons nicht verleugnen. Vgl. ders., Le Passé d’une illusion, Paris 1995. Siehe zur französischen Rezeption auch : Pierre Hassner, Le Totalitarisme vu de l’ouest. In : Guy Hermet / ders./ Jacques Rupnik ( Hg.), Totalitarismes, Paris 1984, S. 15–39; David Bosshart, Politische Intellektualität und totalitäre Erfahrung. Hauptströmungen der französischen Totalitarismuskritik, Berlin 1991; Ulrike Ackermann, Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch - französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart 2000, S. 144–172. Vgl. Karl Dietrich Bracher, Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 16 f. Siehe auch ders., Das Janusgesicht der Französischen Revolution – heute. In : ders., Wendezeiten der Geschichte. Historisch - Politische Essays 1987–1992, Stuttgart 1992, S. 36–55. Vgl. Uwe Backes / Eckhard Jesse, Totalitarismus und Totalitarismusforschung. Zur Renaissance einer lange tabuisierten Konzeption. In : dies., Vergleichende Extremismusforschung, Baden - Baden 2005, S. 83–97. Siehe zu den Konjunkturen der Forschung auch : Eckhard Jesse, Die Totalitarismusforschung im Streit der Meinungen. In : ders., Totalitarismus im 20. Jahrhundert. Eine Bilanz der internationalen Forschung, 2., erweiterte Auf lage Baden - Baden 1999, S. 9–40; Gleason, Totalitarianism; Achim Siegel ( Hg.), Totalitarismustheorien nach dem Ende des Kommunismus, Köln 1998.

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radikalen Nationalisten habe werden können.67 Mit seiner Interpretation lieferte Talmon jenen Autoren gewichtige Argumente, die – wie etwa Zygmunt Bauman – die „modernen“, aus Aufklärung, Rationalismus und Szientismus entlehnten Elemente von Ultranationalismus, Faschismus und Nationalsozialismus her vorhoben.68 So ist es kein Zufall, dass Talmon von den 1990er Jahren an wieder verstärkte Beachtung gefunden hat – wozu nicht zuletzt Schüler und Freunde an der Hebräischen Universität Jerusalem mit international besetzten Konferenzen beitrugen.69 In Deutschland ist die Rezeption von Talmons Werk vor allem durch ein von dem Münchener Politikwissenschaftler Hans Maier inauguriertes, umfangreiches Forschungsprojekt zum Konzept der „politischen Religionen“ wiederbelegt worden.70 Die vorliegende Neuedition des dreibändigen Werkes hätte ihren Zweck erfüllt, trüge sie dazu bei, diese Bemühungen fortzuführen und mit der Trilogie Talmons die Erinnerung an die totalitäre Erfahrung wachzuhalten, die sich in die Geschichte des 20. Jahrhundert auf so entsetzliche Weise eingebrannt hat.

IV. Editorische Bemerkungen Die vorliegende Edition bietet dem Leser erstmalig eine vollständige deutschsprachige Ausgabe der Talmon’schen Trilogie zur Geschichte der „totalitären Demokratie“. Dazu wurde der bislang nur in englischer Sprache vorliegende dritte Band71 vollständig ins Deutsche übertragen. Die Übersetzung der Bände 1 und 272 baut hingegen auf den vorliegenden deutschsprachigen Edi67 68

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Vgl. Greenfeld, Myth of the Nation, S. 342. Vgl. Frank Ankersmit, Jakob Talmon and the History of the Totalitarian State. In : Pauli Kettunen / Auli Kultanen / Timo Soikkanen ( Hg.), Jäljillä. Kirjoituksia historian ongelmista, Osa 2, Turku 2000, S. 267–301. Vgl. nur Zeev Sternhell ( Hg.), The intellectual Revolt against liberal Democracy, 1870–1945. International Conference in Memory of Jacob L. Talmon, Jerusalem 1996; Arie Dubnov, Jacob Talmon and Totalitarianism Today : Legacy and Revision, Special Issue der Zeitschrift „History of European Ideas“, Amsterdam 2008. Vgl. vor allem Seitschek, Eschatologische Deutungen; ders., Politischer Messianismus. Englische Originalausgabe : The Myth of the Nation and the Vision of Revolution. The Origins of Ideological Polarisation in the Twentieth Century, London : Secker & Warburg, 1981. Englische Originalausgaben : The Origins of Totalitarian Democracy, London : Secker & Warburg, 1952; Political Messianism. The Romantic Phase, London : Secker & Warburg, 1960. Amerikanische Ausgabe : The Rise of Totalitarian Democracy, Boston : The Beacon Press, 1952. Deutsche Originalausgaben : Die Ursprünge der totalitären Demokratie, Köln : Westdeutscher Verlag, 1960; Politischer Messianismus. Die Romantische Phase, Köln : Westdeutscher Verlag, 1963.

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Editorische Bemerkungen

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tionen auf, bietet aber einen komplett überprüften und korrigierten Text. Erstmals sind alle drei Bände für den wissenschaftlichen Nutzer mit einem umfangreichen Apparat versehen. Die in den Jahren 1960 und 1963 erschienenen deutschsprachigen Editionen der Bände 1 und 2 enthielten lediglich summarische Ver weise auf die ver wendete Literatur und verzichteten fast vollständig auf Einzelnachweise der zitierten Quellen. Die Belege im 1981 erschienenen dritten Band waren detaillierter, aber lückenhaft und ungenau. Die Übertragung ins Deutsche machte es zudem unerlässlich, aus den Originalquellen ( nicht : englischen Übersetzungen ) ins Deutsche zu übertragen bzw. autorisierte deutsche Editionen heranzuziehen. Da es sich in nicht wenigen Fällen um schwer zugängliche Texte (wie z. B. Pamphlete des späten 18. Jahrhunderts ) handelte, erwies sich die Beschaffung oftmals als schwierig und zeitraubend. Sehr hilfreich war demgegenüber die inzwischen weit fortgeschrittene Digitalisierung politischer und wissenschaftlicher Literatur, ohne die das Projekt noch weit mehr Zeit in Anspruch genommen hätte. Die bei der systematischen Überprüfung sinngemäß und wörtlich übernommener Belegstellen aufgefundenen Abweichungen und Irrtümer sind in den Fußnoten nachgewiesen ( A. d. Ü. – Anmerkung der Übersetzer; A. d. Hg. – Anmerkung des Herausgebers ), sofern es sich nicht um geringfügige orthographische Mängel ohne inhaltliche Bedeutung handelt. Um das Werk Nicht Experten leichter zugänglich zu machen, sind Fachbegriffe und dem heutigen Leser nicht unmittelbar verständliche Wörter und Wendungen mit knappen Erläuterungen versehen. Alle drei Bände enthalten separate Literatur - und Personenverzeichnisse, die das Auffinden von Informationen und Nachweisen erleichtern sollen. Bei den russischen Namen enthält das Personenverzeichnis in Klammern jeweils die transliterierte Schreibweise. Auch bei Titeln russischer Autoren wird diese Form ver wandt. Der Text ist in gemäßigter neuer deutscher Rechtschreibung wiedergegeben. In Zitaten wurde die Originalschreibweise beibehalten. Die Bände 1 und 2 haben erstmals einen Fußnotenapparat mit detaillierten Nachweisen erhalten. In Band 3 wurde der vorhandene Apparat ergänzt. Neu eingefügte Fußnoten sind zur Erleichterung des Abgleichs mit dem Belegapparat der englischen Originalversion durch den Zusatz von Minuskeln kenntlich gemacht worden. Da auch Talmon Minuskeln ver wandte ( z. B. 1a, 2b ), wurde zur Unterscheidung jeweils ab dem Ende des Alphabets gezählt ( z. B. 1z, 2y, 2z ). Die Erstellung dieser Edition hat viele Jahre in Anspruch genommen. Die Leitung des Hannah - Arendt - Instituts hat deren Entstehung begleitet und das Projekt trotz immer neu eintretender Verzögerungen und der damit verbundenen Kosten nie in Frage gestellt. Über eine Durststrecke hat die Fritz- ThyssenStiftung mit einer großzügigen Förderung hinweggeholfen.

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Einleitung des Herausgebers

An der Übersetzung des dritten Bandes haben viele mitgewirkt. Die Hauptlast lag in der Anfangsphase bei Francesca Piombo und Silke Isaak, später bei Mirko Wittwar und Annett Zingler. Zahlreiche fremdsprachige Zitate waren im Original zu prüfen. Dieser Mühe haben sich Annett Zingler, Uwe Backes, Akoko Blitti, Gregor Hamann, Hans - Richard Heimann, Kristin Lehnhardt, Theres Matthieß, Benjamin Thull und Ann - Kathrin Weise für das Französische, Natalia Skradol für das Hebräische, Francesca Piombo und Lyuba Sabeva für das Italienische, Tytus Jaskułowski für das Polnische, Hannelore Georgi und Elizaveta Liphardt für das Russische unterzogen. Die Überprüfung von Zitaten und die Erstellung des umfangreichen Belegapparats erforderten einen intensiven Fernleihverkehr, für dessen reibungslose und effiziente Organisation Claudia Naumann und Gabriele Schmidt in der Institutsbibliothek sorgten. Dies und vieles andere mehr (Online - Recherchen, Lektorat, Erstellung von Personenverzeichnissen ) hätte ohne die fleißige und sachkundige Mitwirkung vieler studentischer Kräfte nicht in solchem Umfang bewältigt werden können. Namentlich erwähnt seien Markus Edlinger, Meike Hartje, Merle Steffens und Anselm Vogler. Besonderer Dank gilt der Ehefrau Irena Talmon und den Töchtern Daniella Talmon - Heller und Maya Azarzar - Talmon für die geduldige Unterstützung des Projekts von Anbeginn und die Erlaubnis, nicht für eine Veröffentlichung bestimmte autobiographische Aufzeichnungen in die Darstellung einfließen zu lassen. Last but not least gebührt den Mitarbeitern des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht für ihre verständnisvolle Projektbegleitung und dem bewährten Herstellungsteam des Hannah - Arendt - Instituts mit Walter Heidenreich und Christine Lehmann für die versierte Erstellung der Druckdateien herzlicher Dank. Dresden im November 2012

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Uwe Backes

Jacob L. Talmon Die Ursprün ge der totalitären Demokratie

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Je pense donc que l’espèce d’oppression dont les peuples démocratiques sont menacés ne ressemblera à rien de ce qui l’a précédée dans le monde; nos contemporains ne sauraient en trouver l’image dans leurs souvenirs. Je cherche en vain moi - même une expression qui reproduise exactement l’idée que je m’en forme et la renferme; les anciens mots de despotisme et de tyrannie ne conviennent point. La chose est nouvelle, il faut donc tâcher de la définir, puisque je ne peux la nommer. Alexis de Tocqueville

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Einleitung Das vorliegende Buch versucht zu zeigen, dass sich im achtzehnten Jahrhundert – gleichzeitig mit dem liberalen Typ der Demokratie und aus denselben Prämissen heraus – eine Tendenz in Richtung auf das anbahnte, was wir als totalitären Typ der Demokratie bezeichnen möchten. Beide Strömungen haben seit dieser Zeit ohne Unterbrechung nebeneinander bestanden. Die Spannung zwischen ihnen bildet ein wichtiges Kapitel in der neueren Geschichte und ist zur entscheidenden Kernfrage unserer Zeit geworden. Es würde natürlich zu weit gehen, wenn man die ganze Epoche von damals bis heute im Lichte dieses Konflikts auslegen wollte, und doch war er stets vorhanden, wenn auch gewöhnlich überlagert und verdunkelt durch andere Fragen, die zwar den Zeitgenossen klarer erschienen sein mögen, die aber unter dem Blickwinkel unserer heutigen Zeit zufällig oder sogar belanglos anmuten. Von uns aus gesehen – von einem Beobachtungspunkt in der Mitte dieses zwanzigsten Jahrhunderts – erscheint in der Tat die Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre als die systematische Vorbereitung auf den schroffen Zusammenprall zwischen empirischer und liberaler Demokratie einerseits und totalitärer messianischer Demokratie andererseits – und das ist die Weltkrise von heute.1 1

Es gibt keine spezielle und systematische Untersuchung über den Gegenstand dieser Arbeit; weder eine theoretische Abhandlung über die Hauptthese der vorliegenden Schrift noch eine historische Untersuchung über das Entstehen und Wachstum dessen, was hier die totalitäre Richtung der Demokratie genannt werden soll. Die klarste Wahrnehmung der Strömung und ihrer großen Bedeutung findet sich in einigen – angesichts des frühen Zeitpunkts – als prophetisch zu bezeichnenden Äußerungen von Alexis de Tocqueville. Das Motto dieses Buches stammt aus : Tocqueville, Œuvres complètes d’Alexis de Tocqueville, Band 3 : De la démocratie en Amérique, S. 519. Wichtige Hinweise finden sich in : Mayer, Political Thought in France from the Revolution to the Fourth Republic; ders., Prophet of the Mass Age. Der große liberale Denker wurde von dem Phänomen gequält und fühlte sich, wie er selbst bekannte, noch unfähig, es systematisch darzustellen. Es ist daher wichtig, klar die verschiedenen Aspekte des Problems zu unterscheiden und sich zu vergegenwärtigen, was Tocqueville erkannte und was er nicht voraussah. Der Verfasser des Buches über amerikanische Demokratie beobachtete das stetige Anwachsen von Staatsgewalt und egalitärem Zentralismus. Ihre Vereinigung drohte nach seiner Ansicht einen Leviathan zu schaffen, der alle Zwischengewalten verschlingen und die gleichgeschalteten Individuen – Atome – in seelenlose Staatsbeamte und Pensionäre ver wandeln würde. Er sah in dieser Tendenz einen objektiven, unaufhaltsamen Prozess. Dieser objektive Charakter der Entwicklung muss deutlich unterschieden werden von demokratisch - messianischem Totalitarismus als ein Glaube, der in vollkommener Gleichheit, Staatseigentum und in einer geisti-

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Einleitung

1. Die beiden Erscheinungsformen : liberale und totalitäre Demokratie Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden heute bestehenden Schulen demokratischen Denkens liegt nicht etwa darin, wie vielfach behauptet wird, dass die eine Seite den Wert der Freiheit anerkennt, während die andere Seite diesen Wert verneint. Er liegt in der unterschiedlichen Einstellung zur Politik. Die liberale Auffassung geht von dem Standpunkt aus, dass Politik eine Sache des Experimentierens ist, immer aufs Neue trial and error; sie betrachtet politische Systeme als pragmatische Einrichtungen menschlicher Schöpfungskraft und Freiwilligkeit, und gleichzeitig werden für persönliche und kollektive Bestrebungen vielerlei Ebenen anerkannt, die gänzlich außerhalb der politischen Sphäre liegen. Die Lehre der totalitären Demokratie hingegen basiert auf der Annahme einer alleinigen und ausschließlichen Wahrheit in der Politik. Man kann sie gen Gleichförmigkeit die Erfüllung des Freiheitsideals sieht. Denn für Tocqueville war, ebenso wie für Lord Acton, Gleichheit unvereinbar mit Freiheit, ganz wie für Reinhold Niebuhr in der Gegenwart soziale Sicherheit Freiheit auszuschließen scheint. Eine entgegengesetzte Ansicht wird von Tawney in „Equality“ vertreten. Wir werden auf die Frage in den Schlussfolgerungen zurückkommen. Wenn wir von dem Nebeneinanderbestehen – zwar nicht in Reinkultur – der beiden Phänomene sprechen und den Ausdruck gebrauchen „in Richtung auf [...] totalitäre [...] Demokratie“, so ist damit gemeint, dass bis zur Oktoberrevolution totalitäre Demokratie nicht ein geschlossenes System, eine politische Ordnung war, sondern eine ideologische Strömung, die in der Französischen Revolution entstand und sich in revolutionären Bewegungen und gewaltsamen Ausbrüchen, wie zum Beispiel der Pariser Kommune von 1871, Ausdruck verschaffte. Darüber hinaus vollzog sich während des ganzen neunzehnten und bis weit in das zwanzigste Jahrhundert hinein in den Reihen der totalitären Demokratie ein Prozess der Spaltung, Ausscheidung und Reinigung, bis die endgültige Ordnung sich in neuester Zeit herauskristallisierte und zur Herrschaft gelangte. Und was die liberale Demokratie angeht, so ist es auch hier legitim zu sagen, dass die Entwicklung in Richtung auf die liberale Demokratie in der Französischen Revolution begann, doch – als Programm und politische Ordnung – erst im letzten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts in Frankreich, England und ander wärts ihre endgültige Form erhielt mit der Freiheit des Einzelnen, dem allgemeinen Wahlrecht und der Gleichheit der Rechte. Die wirklich wesentliche Unterscheidung ist zurzeit, und das soll in den Schlussfolgerungen noch herausgearbeitet werden, zwischen Absolutismus und Empirismus in der Politik. Von diesem Standpunkt aus stehen zum Beispiel die Sozialdemokraten, gleichgültig bis zu welchem Grad ihr mar xistischer oder sozialistischer Dogmatismus auf wirtschaftlichem Gebiet geht, politisch und geistig in dem den Kommunisten entgegengesetzten Lager zusammen mit den Kapitalisten, Konser vativen und Liberalen, obwohl sie, und andere mit ihnen, in der Vergangenheit geglaubt haben mögen, dass sie im gleichen Lager stehen wie die Kommunisten. Dies ist das Ergebnis des Eliminations - , Reduktions - und Reinigungsprozesses, den beide Richtungen durchgemacht haben.

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Die beiden Erscheinungsformen

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politischen Messianismus nennen in dem Sinne, dass sie eine vorausbestimmte harmonische und vollkommene Ordnung der Dinge postuliert, zu der die Menschen unwiderstehlich getrieben und zwangsläufig gelangen werden. Sie erkennt im Grunde als einzige Daseinsebene die politische an und sie erweitert den Umfang des Politischen derart, dass damit das ganze menschliche Dasein umfasst wird. Alles menschliche Denken und Handeln wird für sie durch seinen sozialen Aspekt gekennzeichnet und deswegen dem politischen Wirkungsbereich zugerechnet. Ihre politischen Ideen sind nicht eine Reihe von pragmatischen Vorschriften oder ein System von Kunstregeln, die auf ein Spezialgebiet menschlicher Betätigung anwendbar sind, sondern ein integraler Bestandteil einer allumfassenden, in sich geschlossenen Philosophie. Politik wird definiert als die Kunst, diese Philosophie auf die Organisation der Gesellschaft anzuwenden, und der Endzweck der Politik wird nur erreicht, wenn diese Philosophie alle Lebensgebiete uneingeschränkt beherrscht.2 Beide Schulen versichern, die Freiheit sei das höchste Gut. Während jedoch die eine das Wesen der Freiheit in Spontaneität und in dem Fehlen jeglichen Zwanges sieht, glaubt die andere, dass man die Freiheit nur dann ver wirklichen kann, wenn ein absolutes kollektives Ziel angestrebt und erreicht wird. Es ist hier nicht unsere Aufgabe zu entscheiden, ob die liberale Demokratie denselben Glauben an letzte Ziele hat, den die totalitäre Demokratie zu haben behauptet. Unbestreitbar ist jedenfalls, dass die Endziele der liberalen Demokratie nicht den gleichen konkreten Charakter haben. Ihre Formulierung ist eher negativ, und Gewaltanwendung für ihre Ver wirklichung wird als ein Übel betrachtet. Liberale Demokraten glauben, dass Mensch und Gesellschaft ohne Anwendung von Zwang, lediglich durch einen Prozess von trial and error, eines Tages einen Zustand idealer Harmonie erreichen können. Für die totalitäre Demokratie ist dieser Zustand genau definiert und wird als eine Angelegen-

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Die logischen Positivisten, vor allem Russell, The Practice and Theory of Bolshevism; ders., Philosophy and Politics; Popper, The Open Society and its Enemies, haben die philosophischen Aspekte untersucht, jedoch nicht die historische, psychologische und soziale Seite der Unterscheidung. Ein französischer Gelehrter am Ende des neunzehnten Jahrhunderts, Espinas, La Philosophie sociale du XVIIIe siècle et la Révolution, versuchte zu zeigen, dass der Babeuf’sche Kommunismus die logische Folge der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts war. Er behandelte jedoch – insbesondere soweit die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts und die Revolution in Betracht kommen – nur einen Aspekt, nämlich das Element des sozialistischen eigentumsfeindlichen Kollektivismus. Er schaltete das politische Problem vollkommen aus seiner Analyse der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts und der Revolution aus und zeigte nicht das Zusammenlaufen der verschiedenen Elemente in ein zusammenhängendes und umfassendes totalitäres System. Unsere Dankesschuld an ihn sei nichtsdestoweniger anerkannt.

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Einleitung

heit größter Dringlichkeit behandelt, als Aufforderung zu sofortigem Handeln, als unmittelbar bevorstehendes Ereignis.3 Das Problem, vor das die totalitäre Demokratie sich gestellt sieht und das einen der Hauptgegenstände dieser Untersuchung bildet, kann das Paradox der Freiheit genannt werden. Ist menschliche Freiheit vereinbar mit einem Modell der Gesellschaftsordnung, das alle anderen Möglichkeiten verneint, selbst wenn diese Ordnung ein Höchstmaß an sozialer Gerechtigkeit und Sicherung anstreben möchte? Das Paradox der totalitären Demokratie liegt in ihrer beharrlichen Behauptung, sie seien vereinbar. Sie stellt das von ihr proklamierte Ziel niemals als eine absolute Idee hin, die außerhalb des Menschen und a priori besteht, sondern betrachtet es als immanent in der Vernunft und im Willen des Menschen, als die Gewähr für die volle Erfüllung seiner wahren Interessen, als Garantie seiner Freiheit. Das ist der Grund dafür, dass die bekannten extremen Formen der Volkssouveränität zu wesentlichen Begleiterscheinungen dieses absoluten Ziels wurden. Aus der Schwierigkeit, die Freiheit mit der Idee eines absoluten Ziels zu verbinden, entspringen alle so bezeichnenden Probleme und Antinomien der totalitären Demokratie. Diese Schwierigkeit war theoretisch nur dadurch zu lösen, dass man die Menschen nicht so betrachtete, wie sie tatsächlich sind, sondern so, wie sie sein sollten und unter den „richtigen“ Bedingungen sein würden. Soweit sie von dem absoluten Ideal abweichen, kann man sie unbeachtet lassen oder durch Einschüchterung und Zwang zur Konformität bringen, ohne dass dabei eine wirkliche Verletzung des demokratischen Prinzips erfolgt. Unter den „richtigen“ Bedingungen, so wird behauptet, würde der Konflikt zwischen freiem Antrieb und Pflicht verschwinden und damit auch die Notwendigkeit des Zwangs. Die praktische Frage ist natürlich, ob der Zwang verschwindet, weil alle gelernt haben, in Harmonie zu handeln, oder weil alle Gegner beseitigt sind.4 3

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Anregende Gedanken mit mehr oder weniger Bezug auf unser Thema können einigen neueren Büchern entnommen werden; so ist Carr, The Soviet Impact on the Western World; ders., Studies in Revolution, sich der Kontinuität der revolutionären Tendenz in der neueren europäischen Geschichte wohl bewusst. Halévy, L’Ère des tyrannies; dies., Histoire du socialisme, sind äußerst anregend in der Frage der Spannung zwischen den liberalen und zentralistischen Tendenzen im Sozialismus. Mannheim, Ideology and Utopia, ist ein wichtiger Beitrag zur Morphologie von Ideen und Bewegungen. Jouvenel, Du Pouvoir, mit seinem scharfen Blick für das unaufhaltsame Wachsen zentralisierter Staatsgewalt, ist ein geistiger Abkömmling von Tocqueville. Laski, Reflections on the Revolution of our Time; ders., Faith, Reason and Civilization; Buber, Pfade in Utopia; Wallas, Human Nature in Politics, und die verschiedenen Arbeiten von Reinhold Niebuhr werfen indirekt Licht auf den Gegenstand. Einige Zitate aus John Stuart Mill müssen genügen, um den Unterschied zwischen der liberalen und absolutistischen Einstellung zu illustrieren, siehe Mill, On Liberty and Considerations on Representative Government, S. xvii–xviii, xx : „Men and Govern-

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Die Ursprünge des politischen Messianismus

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2. Die Ursprünge des politischen Messianismus – das Schisma Aus dem bisher Gesagten geht schon her vor, dass in dieser Schrift die totalitäre Demokratie als integraler Bestandteil der westlichen Tradition behandelt wird.5 Dabei ist es wesentlich zu erkennen, dass viel von der totalitären demokratischen Haltung in dem ursprünglichen und allgemeinen Gedankengut des achtzehnten Jahrhunderts enthalten war. Die Abzweigung der beiden Arten der Demokratie von dem gemeinsamen Stamm erfolgte erst, nachdem die gemeinsamen Glaubenssätze durch die Feuerprobe der Französischen Revolution gegangen waren. Vom Gesichtspunkt der vorliegenden Untersuchung ist die wichtigste Wandlung, die sich im achtzehnten Jahrhundert vollzogen hat, das Überhandnehmen einer eigentümlichen Geistesverfassung in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts. Die Menschen waren gepackt von dem Gedanken, ihre und ihrer Vor väter Lebensbedingungen – ein Produkt aus Glauben und althergebrachten Sitten und Gebräuchen – seien unnatürlich und müssten ersetzt werden durch sorgfältig geplante einheitliche Formen, die natürlich und rational sein sollten.6

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ments must act to the best of their ability. There is no such thing as absolute certainty, but there is assurance sufficient for the purposes of human life.“ „As it is useful that while mankind are imperfect there should be different opinions, so it is that there should be different experiments of living; that free scope should be given to varieties of character, short of injury to others; and that the walks of different modes of life should be proved practically, when anyone thinks fit to try them. It is desirable, in short, that in things which do not primarily concern others, individuality should assert itself. Where not the person’s own character, but the traditions or customs of other people are the rule of conduct, there is wanting one of the principal ingredients of human happiness, and quite the chief ingredient of individual and social progress.“ „No wise man ever acquired his wisdom in any mode but this, nor is the nature of human intellect to become wise in any other manner.“ Es dürfte klar sein, dass für die Zwecke dieser Untersuchung die zusammenhängende schlüssige Beweisführung einzelner großer Denker in einer Kette dicht aufeinanderfolgender Syllogismen weniger wichtig ist als Gedanken - und Gefühlssysteme. Ferner sind der innere Zusammenhang der verschiedenen Gedankensysteme oder die Ideenfolge in diesem Kontext weniger wichtig als die Verbreitung von Ideen und, weiterhin, die Art und Weise, in der sie das Bewusstsein, die Denkweise und das Fühlen der durchschnittlichen Gebildeten, Handwerker, unteren Regierungsbeamten und anderer formten, die später die Reihen der jakobinischen Aktivisten bildeten. Nichts kann die Schärfe und Klarheit der Analyse von Ideen übertreffen, die Halévy in „The Growth of Philosophical Radicalism“ vornimmt; oder die Eleganz und den Scharfsinn, mit denen Willey, The Eighteenth Century Background, die gegenseitige Abhängigkeit von Ideen aufzeigt; oder die tiefe Einsicht, die Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, verrät, so sehr auch ihre Einstellung von der in dieser Untersuchung eingenommenen abweicht. Doch gelang es keinem von ihnen, die Mentalität und den

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Einleitung

Als Folge des Niedergangs der überlieferten Ordnung in Europa verlor die Religion ihren Einfluss auf intellektuellem wie auf emotionellem Gebiet; die feudale Hierarchie zerfiel unter dem Druck sozialer und wirtschaftlicher Faktoren; und die ältere Konzeption der Gesellschaft, die auf anerkannten Rangordnungen basierte, wurde verdrängt durch die Idee des abstrakten Individuums.7 Die rationalistische Idee ersetzte Überlieferung durch soziale Nützlichkeit als wichtigstes Kriterium für soziale Einrichtungen und Werte. Sie vertrat außerdem ein Ziel des gesellschaftlichen Determinismus, zu dem die Menschen unwiderstehlich getrieben und das sie eines Tages zwangsläufig akzeptieren würden. Damit aber wurde ein einzig gültiges System postuliert, das zum Leben erstehen würde, sobald alles, was nicht durch Vernunft und Nützlichkeit gerechtfertigt war, beseitigt wäre. Diese Idee musste natürlich zum Widerstreit führen mit dem tiefwurzelnden Irrationalen in Gewohnheiten, Neigungen und Bindungen des Menschen. Der Niedergang der religiösen Autorität bedeutete die Befreiung des menschlichen Gewissens, er bedeutete aber noch etwas anderes. Religiöse Ethik musste schnellstens durch weltliche soziale Sittlichkeit ersetzt werden. Nach der Ver werfung von Kirche und transzendentaler Gerechtigkeit blieb der Staat allein Quelle und Sanktion der Sittlichkeit. Dies war von größter Wichtigkeit zu einer Zeit, in der Politik als nicht unterscheidbar von Ethik galt. Der Niedergang des Glaubens an feststehende Rangordnungen – ein Niedergang, der durch den aufsteigenden Individualismus bedingt war – brachte die Abschaffung der Privilegien, aber er enthielt auch totalitäre Möglichkeiten. Wenn, wie in dieser Abhandlung vertreten wird, Empirismus der Verbündete der Freiheit ist und doktrinärer Geist Hand in Hand geht mit totalitärer

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Rhythmus in denjenigen, die in den Bann von Ideen gerieten, so zu erfassen und darzustellen wie Becker, The Heavenly City of the Eighteenth - century Philosophers, und natürlich Tocqueville, L’Ancien régime, und auch Taine, Les Origines de la France contemporaine, Band 1. Auch Mornet, Les Origines intellectuelles de la Révolution Française; ders., La Pensée française au XVIIIe siècle, ist dies nicht sehr geglückt, obwohl er wirklich sehr viel dazu beigetragen hat, die Verbreitung von Ideen zu beschreiben und statistische Daten zu analysieren. Sogar seine Auszüge aus Tagebüchern hinterlassen den Eindruck eines vor wiegend mechanischen Vorgehens. Mornet, Les Origines intellectuelles de la Révolution Française, sind trotzdem eine wichtige Arbeit; Sagnac, La Formation de la société française moderne, stützt sich sehr auf Mornets Werk. Werke von allgemein beschreibender Natur über die politischen Ideen des achtzehnten Jahrhunderts, die genannt zu werden verdienen und denen der Verfasser in gewissem Maße zu Dank verpflichtet ist, sind : Sée, L’Évolution de la pensée politique en France au XVIIIe siècle; ders., La France économique et sociale au XVIIIe siècle; Roustan, The Pioneers of the French Revolution; Martin, French Liberal Thought in the Eighteenth Century; Rocquain, L’Esprit révolutionnaire avant la Révolution.

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Die Ursprünge des politischen Messianismus

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Einstellung, dann liegt es nahe, dass die Idee des Menschen als einer von allen geschichtlichen Gruppen unabhängigen Abstraktion zu einem mächtigen Werkzeug des Totalitarismus wird. Diese drei Strömungen vereinigten sich zu der Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft, in der alle Menschen auf einem einzigen und ausschließlichen Daseinsniveau leben. Es sollte nicht länger verschiedene Ebenen menschlichen Lebens geben, wie etwa die weltliche und die transzendentale, oder Zugehörigkeit zu einer Klasse und Staatsbürgerschaft. Der einzig anerkannte Beurteilungsmaßstab sollte die soziale Nützlichkeit sein, ausgedrückt in der Idee des Gemeinwohls, von dem man im Übrigen sprach, als ob es ein sichtbarer, greifbarer Gegenstand wäre. Als Inbegriff aller Tugend galt die Übereinstimmung mit der rationalistischen Natürlichen Ordnung. In der Vergangenheit war es dem Staat möglich, vieles als Gott und die Kirche allein angehend zu betrachten. Der neue Staat konnte solche Einschränkungen nicht anerkennen. Früher lebten Menschen in Gruppen; jeder musste einer Gruppe angehören, er konnte auch gleichzeitig zu mehreren Gruppen gehören. Jetzt sollte es nur noch einen einzigen Rahmen für alle Betätigung geben : die Nation. Das achtzehnte Jahrhundert machte nie eine klare Unterscheidung zwischen den Sphären persönlicher Selbstentfaltung und sozialer Tätigkeit. Die Intimität schöpferischen Erlebens und Fühlens, die „das Salz der Freiheit“ ist, musste dem Druck des ständig versammelten Volkes weichen, das in einer einzigen kollektiven Erregung vibrierte. Dass die Denker des achtzehnten Jahrhunderts glühende Propheten der Freiheit und der Menschenrechte waren, ist so selbstverständlich geworden, dass es kaum erwähnt zu werden braucht.8 Was

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Ein Wort sei gesagt über den Gebrauch der Begriffe „Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts“ und „Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts“ ( oder „philosophes“) in diesem Buch. Es ist gewiss nicht beabsichtigt, alle Denker des achtzehnten Jahrhunderts der verschiedenen Länder, der verschiedenen Perioden und Schulen innerhalb der hundert Jahre, über einen Kamm zu scheren. Uns interessieren in erster Linie, wenn nicht ausschließlich, die französischen „philosophes“; an nächster Stelle diejenigen in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts; und noch weiter eingeengt diejenigen, die die Revolutionsstimmung und den Revolutionsgeist formten, und die nach unserer Meinung, trotz gewisser Einschränkungen, verdienen, als die Sprecher des achtzehnten Jahrhunderts angesehen zu werden. Es braucht nicht her vorgehoben zu werden, dass es unzulässig wäre, Montesquieu ebenso zu behandeln wie Morelly, von Voltaire in einem Atem mit Rousseau und Sieyès zu sprechen. Die angedeuteten Einschränkungen beziehen sich natürlich auf die Kontroverse über das Element des a priori doktrinären Denkens einerseits und die empiristische Achtung vor Tatsachen andererseits im Denken des achtzehnten Jahrhunderts. Mornet in den angeführten Werken und noch mehr Carcassonne, Montesquieu et le problème de la constitution française au XVIIIe siècle, haben versucht, die zugegebenermaßen verzerrte Darstellung des Denkens des achtzehnten Jahrhunderts durch Taine und andere zu korrigieren und die

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Einleitung

aber her vorgehoben werden muss, ist ihr tiefes Befangensein in der Idee der Tugend, die nichts anderes war als Übereinstimmung mit der erhofften harmonischen Gesellschaftsordnung. Sie weigerten sich, den Konflikt zwischen Freiheit und Tugend als unvermeidlich anzusehen. Im Gegenteil : Für sie war die unvermeidliche Gleichsetzung von Freiheit mit Tugend und Vernunft der wichtigste Glaubensartikel. Als die weltliche Religion des achtzehnten Jahrhunderts sich schließlich dennoch diesem Konflikt gegenübersah, folgte daraus das große Schisma. Die liberale Demokratie erschrak vor der Aussicht, Gewalt anwenden zu sollen und zog sich auf die Trial - and - error- Philosophie zurück. Der totalitäre Messianismus erstarrte zu einer alles andere ausschließenden Doktrin, vertreten durch eine Avantgarde von Aufgeklärten, die sich Beachtung von Tatsachen und den Wert der Erfahrung bei den Schriftstellern jener Zeit her vorzuheben. Doch musste Carcassonne selbst zugeben, dass abstraktes und dogmatisches Denken, zumal im rein politischen Bereich, immer weiter überhand nimmt, um nicht zu sagen allgemein wird, je näher wir der Französischen Revolution kommen. Das Verlangen nach Reform durch Wiederaufnahme des Fadens der französischen konstitutionellen Tradition oder dessen, was – wie vorher in England – als die wahre nationale Tradition ausgegeben wurde, weicht einer absolutistischen Einstellung, die auf einer abstrakten universalen Ideologie basiert und völlig reinen Tisch zu machen wünscht. Dies hatte viel mit dem Auftauchen neuer sozialer Kräfte zu tun. Zu Beginn des Jahrhunderts und unmittelbar vor der Revolution, insbesondere zur Zeit der Revolution des Adels, die nach Mathiez, Révolution Française, und Lefebvre, Quatre - vingt - neuf, der Revolution des Dritten Standes voranging, tendierte der Adel, der seine alte Stellung als Partner in der französischen Regierung wiedergewinnen oder eine der englischen Aristokratie ähnliche Stellung erringen wollte, natürlicher weise dazu, sich auf die konstitutionelle Tradition Frankreichs zu berufen, die angeblich durch königlichen Despotismus gebrochen worden war ( siehe auch Sagnac, La Formation etc.). Die aufsteigende Bourgeoisie hatte keine besondere Achtung vor dieser Tradition und keinen Grund, an ihr zu hängen. Kein Wunder, dass die Bourgeoisie ihre Ansprüche auf die absoluten und abstrakten Prinzipien des Natürlichen Systems und der egalitären Menschenrechte basierte und sich nicht zufriedengab mit der Sorte von Freiheit, der Gewaltenteilung ( mit einem Oberhaus für den Adel ) und Sicherungen gegen königlichen Despotismus, wie der Adel sie verlangte. Vom politischen und sozialen Blickwinkel ist die Geschichte des geistigen Kampfes in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts die Geschichte dieser Entwicklung. Darüber hinaus : Wenn die Bedeutung einer Strömung an dem Kriterium ihres geschichtlichen Einflusses gemessen wird, dann hat die absolutistische Entwicklungsrichtung gesiegt. Ihre Vertreter waren die bekanntesten Denker ihrer Epoche und ihr Andenken ist wohlbewahrt geblieben, was immer auch die Zahl von obskuren Veröffentlichungen oder von Zitaten von berühmteren Autoren aus dem entgegengesetzten Lager sein mag, die man zusammenbringen kann. Zum Beispiel weist Mornet darauf hin, dass kirchliche Apologeten in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts völlig aufhörten zu zählen. Carcassonne, Montesquieu et le problème de la constitution française au XVIIIe siècle, S. 616 f., 669; Mathiez, Révolution Française, Band 1, S. 18 f.; Lefebvre, Quatre - vingt - neuf, S. 36 f.; Mornet, Pensée, S. 98 f., 150–216; ders., Les Origines intellectuelles, S. 205–266, 469 f.

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für berechtigt hielten, Zwangsmittel anzuwenden gegen diejenigen, die sich weigerten, gleichzeitig frei und tugendhaft zu sein.9 Die zweite, sicher nicht weniger wichtige Ursache für diese Spaltung war die Frage des Eigentums. Der ursprüngliche Impuls des politischen Messianismus war nicht ökonomisch, sondern ethisch und politisch. Wie radikal sie in ihren theoretischen Prämissen auch sein mochten, so schreckten die meisten Denker des achtzehnten Jahrhunderts doch davor zurück, das Prinzip einer vollständigen Erneuerung auf das Gebiet der Wirtschaft und des Eigentums anzuwenden. Es war jedoch außerordentlich schwierig, über eine rationale, harmonische Gesellschaftsordnung zu theoretisieren, in der sich die Gegensätze aufgelöst hatten, unsoziale Impulse gebändigt waren und das Verlangen nach einem persönlichen Glück befriedigt wurde, während die wirtschaftlichen Bestrebungen von bestehenden Tatsachen und Interessen, vom Erwerbsgeist und vom Zufall beherrscht blieben. Die Denker des achtzehnten Jahrhunderts wurden auf diese Weise in schwere Inkonsequenzen ver wickelt, die sie mit allen möglichen Kunstgriffen zu verdecken suchten. Der beachtenswerteste unter diesen war zweifellos die physiokratische Verbindung von politischem Absolutismus mit der Laissez - faire - Theorie auf dem Gebiete der Wirtschaft, die geltend machte, die freie, ungehinderte Verfolgung wirtschaftlicher Interessen auf Grund der Gesetze von Angebot und Nachfrage würde zu einem harmonischen Ausgleich führen.10 Jedoch noch vor Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts hatte die innere Logik des politischen Messianismus – beschleunigt durch die revolutionäre Erhebung, durch ihre Hoffnungen, Lehren und Enttäuschungen – die weltliche Religion des achtzehnten Jahrhunderts aus einer vor wiegend ethischen in eine soziale und wirtschaftliche Doktrin umgewandelt, die auf ethischen Prämissen aufgebaut war. Das Postulat der Erlösung, das zur Idee der Natürlichen Ordnung gehört, erhielt für die von der Revolution aufgewühlten Massen vor allem die Bedeutung einer Verkündung 9

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Es ist viel über die sozialen Ideen des achtzehnten Jahrhunderts geschrieben worden, jedoch meist, um in ihnen die Anfänge des Sozialismus aufzuspüren. Espinas’ Buch ist ein Beleg hierfür. Er sieht in der Sozialphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts ganz einfach eine Botschaft des Sozialismus, ja des Kommunismus. Das hier her vorgehobene Paradox ist ihm fremd. Lichtenberger, Le Socialisme au XVIIIe siècle, ist ein Beispiel einer äußerst geduldigen und fleißigen Zusammenstellung, deren Ziel es ist, „Andeutungen“ zu sammeln. Seine Schlussfolgerungen sind nicht die von Espinas. In diese Kategorie fallen auch Leroy, Histoire des idées sociales en France; Laski, The Socialist Tradition in the French Revolution. Laski, Rise of European Liberalism, ist ein interessanter Beitrag über die Verbindung zwischen dem Liberalismus und der Verteidigung des Eigentums. Beer, An Inquiry into Physiocracy, und Gide / Rist, Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, sind an Physiokratismus als einer ökonomischen Doktrin interessiert. Eine umfassendere Darstellung der Theorie und Bewegung ist sehr nötig.

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sozialer Erlösung. Das objektive Ideal einer sozialen Harmonie trat so allmählich zurück vor dem Sehnen und Streben einer Klasse; das Prinzip tugendhafter Freiheit wurde verdrängt von dem Verlangen nach wirtschaftlicher Sicherheit. Die besitzenden Klassen, überrascht und erschreckt von der sozialen Dynamik jener Idee der Natürlichen Ordnung, schüttelten schleunigst die Philosophie ab, deren sie sich vorher so eifrig als Waffe in ihrem Kampf gegen feudale Vorrechte bedient hatten. Der Vierte Stand übernahm sie von ihnen und gab ihr nun einen neuen Inhalt. Und so wurde die Ideologie des aufsteigenden Bürgertums in die des Proletariats umgewandelt. Das Ziel dieses Buches ist es, die Etappen zu untersuchen, durch die die sozialen Ideale des achtzehnten Jahrhunderts zur totalitären Demokratie – auf der einen Seite – ver wandelt wurden. Wir unterscheiden drei Etappen : das Postulat des achtzehnten Jahrhunderts – die jakobinische Improvisation – die Kristallisation in der Babeuf - Bewegung, die alle drei zum Emporkommen des wirtschaftlichen Kommunismus einerseits führten und andererseits zu einer Synthese von Volkssouveränität und Ein - Partei - Diktatur. Nach diesen drei Etappen ist auch die folgende Untersuchung aufgeteilt. Die Entwicklung des liberalen Typs der Demokratie liegt außerhalb ihres Aufgabengebiets.11 Die moderne totalitäre Demokratie ist eine Diktatur, die sich auf die Begeisterung der Volksmassen stützt und somit völlig verschieden ist von der absoluten Gewalt, die von einem König von Gottes Gnaden ausgeübt wird, oder von einem Tyrannen, der die Macht an sich gerissen hat. Insoweit sie Diktatur ist, die auf Ideologie und Massenbegeisterung basiert, ist sie, wie gezeigt werden soll, das Ergebnis einer Synthese der Idee des achtzehnten Jahrhunderts von der Natürlichen Ordnung und der Rousseau’schen Idee von der Selbstentfaltung und Selbstbestimmung des Volkes. Durch diese Synthese wurde Rationalismus in leidenschaftlichen Glauben ver wandelt. Rousseaus „Allgemeiner Wille“, ein zweideutiger Begriff, der manchmal als gültiges a priori, manchmal als immanent im menschlichen Willen aufgefasst wird und Ausschließlichkeit und Einmütigkeit voraussetzt, wurde zur treibenden Kraft der totalitären Demokratie und zur Quelle all ihrer Widersprüche und Antinomien. Diese sollen im Einzelnen untersucht werden. 11

Ebenfalls wünschenswert wäre eine Untersuchung über die Reaktion der Liberalen wie Mme. de Staël und Benjamin Constant ( es gibt einen Aufsatz über Mallet du Pan unter diesem Gesichtspunkt von Passerin d’Entrèves im Cambridge Journal, 1947) auf 1793 und die jakobinisch - terroristische Diktatur. Während die konterrevolutionäre ideologische Antwort von Männern wie Burke, Joseph de Maistre, Bonald, Gentz, Adam Müller und anderen zum Gegenstand weitgehender Untersuchungen gemacht wurde, zum Beispiel von Laski, Authority in the Modern State, ist die liberale Reaktion der Angst, aber nicht völliger Ver werfung, ganz vernachlässigt worden. Das führende Werk von Michel, L’Idée de l’État, ist noch immer klassisch und einzig auf seinem Gebiet.

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Rechter und linker Totalitarismus

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3. Rechter und linker Totalitarismus Das Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Totalitarismus der Linken, mit dem wir uns hier beschäftigen, und einem totalitären System der Rechten ist schon an ihren verschiedenen theoretischen Ausgangspunkten erkennbar. Der Ausgangspunkt des Totalitarismus der Linken war von jeher und ist letzten Endes noch immer der Mensch, seine Vernunft und sein Heil; die totalitären Systeme der Rechten hingegen nehmen als Ausgangspunkt ein Kollektiv : den Staat, die Nation oder die Rasse. Die erste Richtung bleibt im Wesentlichen individualistisch, atomistisch und rationalistisch, sogar wenn sie die Klasse oder die Partei auf die Ebene absoluter Werte erhebt. Diese sind schließlich nur mechanisch gebildete Gruppen. Die totalitären Rechten operieren ausschließlich mit historischen, rassischen und organischen Kategorien – Begriffe, die dem Individualismus und Rationalismus völlig fremd sind. Das ist der Grund, weshalb totalitäre Ideologien der Linken immer dazu neigen, den Charakter eines universellen Glaubensbekenntnisses anzunehmen, eine Tendenz, die der totalitären Rechten gänzlich fehlt. Denn Vernunft ist eine vereinigende Kraft; sie geht von der Voraussetzung aus, die Menschheit sei die Summierung vernünftiger Einzelwesen. Der Totalitarismus der Rechten negiert eine solche Einheit, er leugnet die Allgemeingültigkeit menschlicher Werte, er stellt eine eigene Form von Pragmatismus dar. Ohne die Frage nach der absoluten Gültigkeit der verkündeten Glaubenssätze aufzuwerfen, strebt er nach einer Daseinsform, in der die Fähigkeiten des Menschen – in absichtlicher Begrenzung nach Raum, Zeit und Zahl – angeregt, zur Geltung gebracht und ver wirklicht werden können. Der Mensch soll dahin gelangen, dass er den kollektiven Elan in einem „wirklich ausreichenden Maß“ erlebt, und sein Erlebnis wird noch gesteigert durch Massenemotionen und durch die Wirkung eindrucksvoller Taten – kurz : durch den Mythos.12 Der zweite wesentliche Unterschied zwischen den beiden Typen des Totalitarismus liegt in ihrer verschiedenen Auffassung von der Natur des Menschen. Die Linke verkündet, die menschliche Natur sei in ihrer Wesensanlage gut und der Ver vollkommnung fähig. Die Rechte erklärt, der Mensch sei schwach und 12

Die Analyse der „linken“ oder „progressiven“ Konzeption des Menschen im achtzehnten Jahrhundert wird im nächsten Kapitel und, soweit die spätere Periode bis auf den heutigen Tag in Betracht kommt, in den beiden nächsten Bänden gegeben werden. Über die Idee des Menschen, die sich der rechte Totalitarismus machte, siehe Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat; Oakeshott, The Social and Political Doctrines of Contemporary Europe; Aron, L’Homme contre les tyrans; Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes; ders., Die Diktatur von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Schmitt war der Haupttheoretiker der nationalsozialistischen Rechtsphilosophie.

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verdorben. Beide mögen die Notwendigkeit des Zwanges predigen. Die Rechte lehrt, Zwang sei dauernd notwendig, um Ordnung zu halten unter den armseligen und aufsässigen Geschöpfen und um sie dazu zu erziehen, so zu handeln, wie es eigentlich ihrer unbedeutenden Natur nicht entspricht. Wohingegen die totalitäre Linke zum Zwang greift in der Überzeugung, dass er nur dazu dient, das Tempo des menschlichen Fortschritts zu Vollkommenheit und sozialer Harmonie zu beschleunigen. Daher ist es berechtigt, den Begriff der Demokratie in Bezug auf die totalitäre Linke immerhin zu gebrauchen. Auf den Totalitarismus der Rechten ist dieser Begriff nicht anwendbar.13 Man könnte einwenden, diese Unterscheidungen seien nicht bedeutsam, insbesondere hinsichtlich der praktischen Resultate. Man könnte weiterhin sagen, die totalitären Parteien und Regierungssysteme der Linken – gleichgültig, welches ihre ursprünglichen Prämissen sind – neigten ausnahmslos dazu, in seelenlose Machtmaschinerien auszuarten, deren Lippenbekenntnis zu ihren ursprünglichen Thesen nichts als Heuchelei sei. Und das ist nun eine Frage von nicht nur akademischem Interesse, sie ist von großer praktischer Bedeutung. Wenn wir nämlich diese Diagnose akzeptieren, die auf das Wesen der totalitären Linken im Falle ihres Erfolges zielt, dann muss sich die Frage erheben : Ist ihre Entartung jenem unvermeidlichen Zersetzungsprozess zuzuschreiben, dem eine Idee unterliegt, wenn ihre Anhänger an die Macht gelangt sind ? Oder ist die Ursache dafür tiefer zu suchen, nämlich im eigentlichen Wesen des Widerspruchs zwischen ideologischem Absolutismus und Individualismus, den der moderne Messianismus enthält ? Wenn die Taten der Machthaber ihre Worte Lügen strafen, sind sie dann Heuchler und Zyniker zu heißen, oder sind sie Opfer einer intellektuellen Täuschung ?14 13

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Es ist schwer, in diesem Zusammenhang Hobbes nicht zu erwähnen. Wäre es richtig, ihm die Urheberschaft einer oder beider totalitären Richtungen zuzuschreiben ? Nach unserer Meinung ist die Antwort negativ. Hobbes’ grandiose Konzeption des Staat Leviathans ist ein rein legalistisches, statisches Gebilde, das kein anderes Zweckelement in sich trägt als Ordnung zu halten oder richtiger, Chaos zu verhindern. Sie enthält kein Ideal. Sie ist die Theorie der despotischen Diktatur, doch nicht eines totalitären Systems. Nun deuten alle Formen des modernen Totalitarismus auf irgendein Ideal hin, sei dieses Ideal nun ein höchstes Ziel wie Staat oder Rasse, oder das im Wesentlichen individualistische Ideal von Freiheit und Glück des Menschen, die durch Gleichheit erreicht werden, mit anderen Worten durch das Aufzwingen eines einheitlichen und ausschließlichen Systems und die Unterordnung des tatsächlichen konkreten Menschen unter die Vorstellung dessen, was er sein sollte. Dies bedeutet nicht, dass Hobbes’sche Elemente in den beiden zur Diskussion stehenden Richtungen völlig fehlen. Dem rechten Totalitarismus und Hobbes gemeinsam ist die geringe, sogar zynische Einschätzung der menschlichen Natur, zumindest beim Durchschnittsmenschen, im Unterschied zu denen, die zum Führen ausersehen sind. Die Ver wandtschaft zwischen

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Rechter und linker Totalitarismus

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Das ist eine der Fragen, die zu untersuchen sind. Diese Abhandlung beschäftigt sich nicht mit dem Problem der Macht als solcher, sondern nur mit dem der Einstellung des Menschen zur Macht. Die objektiven Kräfte, die eine Machtkonzentration und die Unterordnung des Einzelnen unter eine Machtmaschinerie begünstigen, wie zum Beispiel die modernen Produktionsmethoden und die durch die moderne technische Entwicklung ermöglichten arcana imperii, liegen außerhalb des Bereichs dieser Arbeit. Die politischen Taktiken totalitärer Parteien und Systeme oder die Pläne positivistischer Sozialphilosophien für den menschlichen „Bienenschwarm“ werden nicht um ihrer selbst willen abgehandelt, sondern im Hinblick auf die Frage, was Menschen bei diesen Plänen und Taktiken wirklich erleben und glauben. Wesentlich für die vorliegende Untersuchung ist das menschliche Element : die Sensation der Befriedigung etwa, die von den Gläubigen einer modernen messianischen Bewegung so stark erlebt wird, dass sie Unter werfung als Erlösung empfinden; der Prozess, der in den Köpfen der Führer vor sich geht, sei es im Selbstgespräch oder in öffentlicher Diskussion, wenn sie vor der Frage stehen, ob ihre Handlungen Selbstausdruck der angestrebten Idee sind oder nur eigene willkürliche Taten; der beharrliche Glaube, durch ein soziales Arrangement und durch Erziehung würde allmählich der Konflikt zwischen Spontaneität und einer schablonenmäßigen Ordnung dadurch gelöst, dass schließlich die Letztere – ohne Gefühle des Zwanges – akzeptiert wird.15

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Hobbes und den Totalitären der Linken ist tiefer und subtiler. Charakteristisch am Hobbes’schen Denken ist, wenn man so sagen darf, das Denken „ex definitione“. Wenn Hobbes verlangt, dass der Mensch sich gänzlich dem Staat - Leviathan ausliefert und dann nicht nur das Recht des Einzelnen zum Widerstand gegen Unterdrückung negiert, sondern sogar die Möglichkeit wirklicher Unterdrückung durch den Staat, dann macht er die Prämisse, dass in einem Staat, der diesen Namen verdient, ungerechte Unterdrückung undenkbar, unmöglich wäre. Und wenn sie trotzdem erfolgt, dann ist der Staat eben kein Staat mehr. Das ist wie die berühmte Definition des Verrats als eines versuchten, aber missglückten Unterfangens; denn wäre es geglückt, wäre es kein Verrat mehr. Es ist undenkbar, dass Rousseaus Staat seine Mitglieder unterdrückt, denn er hätte nicht mehr Ursache, das zu tun, als ein Mensch hat, eines seiner Glieder vorsätzlich zu verletzen, und nichts geschieht in der Natur ohne Ursache. Sein Souverän ist durch die bloße Tatsache seines Seins das, was er sein sollte. Diese Feststellungen stehen in einer Linie mit Hobbes’ Denken „ex definitione“, ebenso wie das Dogma, dass ein Arbeiterstaat sich definitionsgemäß nicht der Aggression oder Unterdrückung schuldig machen kann. Ein weiterer Grund für Hobbes’ überraschende Doktrin ist die Annahme, dass wenn erst einmal die Fugen der sozialen Ordnung gelockert werden, alle Dämme, die die Flut der Anarchie zurückhalten, eingerissen sind. Für Hobbes ist jede Form von Unbequemlichkeit oder gar Härte, die unter dem Ordnung erhaltenden Leviathan erlitten wird, die höchste Form der Freiheit – einer Freiheit, die zugleich Sicherheit bedeutet – verglichen mit unendlichem Elend und Unterdrückung, die aus Anarchie folgen wür-

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Einleitung

4. Weltlicher und religiöser Messianismus Die moderne weltliche Religion der totalitären Demokratie besteht als soziologische Kraft in ununterbrochener Kontinuität seit mehr als hundertfünfzig Jahren. Beide Aspekte, ihr Charakter als eine soziologische Kraft und ihre Kontinuität, müssen betont werden, denn sie gestatten uns, die vereinzelten literarischen utopischen Abenteuer aus früheren Jahrhunderten außer Acht zu lassen, ohne den Einfluss zu negieren, den Platon, Thomas More oder Campanella auf Männer wie Rousseau, Diderot, Mably oder Saint - Just und Buonarroti ausübten. Wollte man der Vorgeschichte nachforschen, müsste man auch die verschiedenen chiliastischen Ausbrüche im Mittelalter und in der Reformationszeit berücksichtigen, wie insbesondere auch den extremen Flügel der puritanischen Revolution in England im siebzehnten Jahrhundert. Man könnte mit Recht das Nebeneinanderbestehen von liberaler Demokratie und revolutionärem Messianismus in moderner Zeit vergleichen mit der Beziehung de. Dies ist die zweite Eigenheit im Hobbes’schen Denken, die die Totalitären der Linken auch mit ihm gemein haben. Es ist die Ausschaltung von Schattierungen, von Farbmilderungen und Mischungen der Elemente zwischen Positiv und Negativ, Weiß und Schwarz, Sein und Nicht - Sein. Es gibt entweder vollkommene Ordnung oder völliges Chaos, eine kapitalistische oder eine sozialistische Welt. Tertium non datur. Wenn das Eine aufhört zu sein, was es ist oder was es gewesen sein soll, so wird es sofort zu seinem Gegenteil. Zwischen den beiden gibt es einen Krieg auszutragen. Hobbes’ Krieg im Naturzustand, ebenso wie im Zustande des Chaos nach der Auf lösung der Regierung, ist ein Krieg aller gegen alle, nicht ein Krieg zwischen kollektiven Kräften. Die modernen Totalitären der Linken denken in Begriffen eines Krieges zwischen kollektiven Entitäten. Die Ersetzung des Chaos durch eine harmonische Ordnung ist in ihrem Denken ein Postulat von überragender Bedeutung. Kehren wir zum Totalitarismus der Rechten zurück. Abgesehen von seinem Postulat eines Ideals weicht er in zwei weiteren Beziehungen noch mehr von Hobbes ab. Er heiligt den besonderen Nationalgeist, der durch rassische oder nationale Idiosynkrasien und Geschichte geformt wurde. Dieses Element ist Hobbes’ rein legaler und mechanischer Struktur ganz fremd. Zweitens schließt moderner Totalitarismus der Rechten das Aufrühren der Massen zu aktiver Teilnahme ein, nicht etwa als ein rational bestimmender Faktor, sondern als eine Kraft, die unter dem Einfluss einer kollektiven Emotion in einer gleichförmigen Weise handelt. Dies stellt einen Fortschritt dar nicht nur gegenüber Hobbes, sondern auch gegenüber den im Wesentlichen reaktionären ( die modernen totalitären Trends sind recht verderbt, aber sie können kaum reaktionär genannt werden ) Doktrinen und Entwicklungsrichtungen, die in Frankreich und Deutschland (politischer Romantizismus ) nach der Französischen Revolution und in neuerer Zeit in Vichy - Frankreich entstanden und eine Form von Autoritarismus predigten, der auf theokratischen Prämissen, historischem Paternalismus, dem Nationalgeist und – gelegentlich – auf der metaphysischen Versicherung beruht, dass das, „was ist“, das ist, „was sein sollte“, der Logos der Geschichte. In diesen Lehren hatten die Massen absolut keinen Platz, siehe Hobbes, Leviathan, S. 21, 38, 60, 63 f., Kapitel 7 f., Kapitel 13–15.

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Weltlicher und religiöser Messianismus

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zwischen der offiziellen Kirche und der eschatologischen revolutionären Strömung im Christentum während der Jahrhunderte, in denen der Einfluss der Religion unbestritten war. Die christlich - revolutionäre Strömung, die sich ständig unter der Oberfläche der offiziellen Gesellschaft erhielt, brach von Zeit zu Zeit her vor in Form von Bewegungen evangelischer Armut, häretischer Sekten und sozial - religiöser Revolten. Wie in den beiden großen politischen Richtungen der modernen Epoche schöpften auch hier beide Seiten, die Kirche wie die Rebellen, ihre Ideen aus ein und derselben Quelle. Die heterodoxen Gruppen waren jedoch übereifrig in ihrer wörtlichen Auslegung von Gottes Wort. Sie weigerten sich, mit dem Fleische und mit dem Königreich dieser Welt einen Kompromiss zu schließen und waren nicht gewillt, das Ideal einer Gesellschaft von Heiligen nur auf den transzendentalen Bereich zu beschränken.16 Es gibt jedoch wesentliche Unterschiede zwischen den chiliastischen Bewegungen früherer Jahrhunderte und dem modernen politischen Messianismus. Die Ersteren waren nur sporadische Erscheinungen, obwohl die Spannung, aus der sie entsprangen, immer latent vorhanden war. Eine Flamme loderte auf und wurde bald völlig ausgelöscht oder für breitere Schichten unschädlich gemacht. Die Krise mochte eine Sekte hinterlassen. Der Mythos mochte weiterleben und vielleicht an einem fernen Ort oder zu späterer Zeit wieder einen Funken zum Entflammen bringen. Doch die Gesellschaft als Ganzes bestand unverändert weiter, obwohl nicht ganz frei von der Angst und dem geistigen Unbehagen, die solch ein Brand hinterließ, und auch nicht gänzlich immun gegen den Einfluss der neuen Sekte. Ein grundlegender Wesenszug machte es aber diesem Chiliasmus vor dem achtzehnten Jahrhundert unmöglich, die Rolle eines modernen politischen Messianismus zu spielen, und das war die Tatsache, dass er im Religiösen wurzelte. Daraus erklärt sich, warum die messianischen Vorstöße der früheren Art regelmäßig zu einer Loslösung von der Gesellschaft führten und zu einer Sektenbildung, die sich auf freiwillige Zugehörigkeit und Erlebensgemeinschaft gründete. Der moderne Messianismus strebt immer nach Revolutionierung der Gesellschaft als Ganzes. Die treibende Kraft der Sekten war das Wort Gottes und die Hoffnung, zur Erlösung zu gelangen dadurch, dass man Gott allein und direkt gegenüberstand, ohne die Hilfe vermittelnder Instanzen oder Unter werfung unter sie, seien sie nun geistlich oder weltlich, und dass man trotzdem das Glied einer Gesellschaft von Auser wählten wurde. Dies Ideal scheint nicht weit entfernt zu sein von der modernen Erwartung einer Gesellschaft absolut 16

Vgl. Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen; Alphandéry, Les Idées morales chez les hétérodoxes latins au début du XIIIe siècle; Benz, Ecclesia spiritualis; Grundmann, Religiöse Bewegungen im Mittelalter; Flajszer [ Talmon ], The Doctrine of Poverty.

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Einleitung

freier und gleicher Menschen, die dennoch in einer spontanen und vollkommenen Einigkeit handeln. Trotz einer solchen oberflächlichen Ähnlichkeit gibt es jedoch grundlegende Unterschiede zwischen den beiden Einstellungen. Die christlichen Revolutionäre kämpften zwar für die Freiheit des Individuums, das Wort Gottes auszulegen, doch war ihr Souverän nicht der Mensch, sondern Gott. Sie erstrebten persönliches Heil und eine auf dem Naturrecht begründete egalitäre Gesellschaft, denn sie wussten von Gott, dass hier das Heil liegt, und glaubten, Gehorsam gegenüber Gott sei die Bedingung der menschlichen Freiheit. Der Bezugspunkt des modernen Messianismus hingegen ist die Vernunft und der Wille des Menschen. Sein Ziel, das Glück auf Erden, ist durch soziale Umformung zu erreichen. Der Bezugspunkt ist weltlich, die Forderungen aber sind absolut. So ist es denn auch eine beachtliche Tatsache, dass die christlichen Revolutionäre – mit wenigen Ausnahmen, insbesondere des kalvinistischen Genf und des anabaptistischen Münster – vor einer Gewaltanwendung zurückschreckten, wenn sie die eigenen Vorstellungen ver wirklichen wollten, obwohl sie an deren göttliche Quelle und Autorität glaubten; wohingegen der weltliche Messianismus, der von einem zeitlichen Bezugspunkt ausging, eine fanatische Entschlossenheit entwickelte, seine Doktrin absolut und überall zur Herrschaft zu bringen. Die Gründe dafür sind nicht weit zu suchen. Selbst wenn es dem monistischen Prinzip des religiösen Messianismus geglückt wäre, die Gesellschaft zu beherrschen und umzuformen, wäre das Ergebnis doch grundlegend verschieden gewesen von der durch den modernen politischen „absoluten Glauben“ geschaffenen Situation. Wahrscheinlich allerdings hätte man der Gesellschaft die Kompromisse untersagt, die durch die orthodoxe Unterscheidung zwischen dem Reich Gottes und dem irdischen Staat möglich waren, und als Folge davon hätten soziale und politische Einrichtungen viel von ihrer Elastizität eingebüßt. Der Schwung in Richtung auf Erzwingung einer ausschließlichen Ordnung wäre aber auf jeden Fall gehemmt worden, wenn nicht durch den Gedanken der Fehlbarkeit des Menschen, so doch zum Mindesten durch das Bewusstsein, dass das Leben auf Erden kein geschlossener Kreis ist, sondern seine Fortsetzung und Beendigung im Jenseits hat. Der weltliche messianische Monismus ist derartigen Einschränkungen nicht unter worfen. Er fordert, dass die gesamte Rechnung im Diesseits und ohne Verzug beglichen wird. Der äußerste Flügel des englischen Puritanismus zur Zeit der Cromwell’schen Revolution zeigte noch die vollen Merkmale religiöser Eschatologie. Doch hatte er schon moderne Züge erworben. Er verband extremen Individualismus mit sozialem Radikalismus und einem totalitären Temperament.17 17

Einige der Probleme, oder richtiger Dilemmata, Antinomien und Schwierigkeiten der puritanischen Revolution zeigen eine erstaunliche Ähnlichkeit mit denen der Franzö-

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Weltlicher und religiöser Messianismus

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Dennoch leitete diese Bewegung keine anhaltende Strömung des modernen politischen Messianismus ein, sondern blieb vom europäischen Gesichtspunkt aus eine isolierte Episode. Sie war den frühen Vertretern der hier in Frage stehenden Bewegung anscheinend gänzlich unbekannt. Während die französischen Denker des achtzehnten Jahrhunderts und die Revolutionsführer die politischen Lehren der „offiziellen“ Cromwell’schen Revolution als Abschreckungsmittel gegen eine Militärdiktatur zwar durchaus beachtet haben und einen Schriftsteller wie Harrington als Lehrer respektierten, ist es zweifelhaft, ob die radikaleren Aspekte der englischen Revolution in Frankreich vor dem neunzehnten Jahrhundert sehr bekannt gewesen sind oder auch nur den geringsten Einfluss ausgeübt haben. Am stärksten beeinflusst wurden die Väter der totalitären Demokratie von der Antike, die sie auf ihre eigene Weise auslegten. Ihr Mythos der Antike war das Bildnis der Freiheit, das gleichgesetzt wurde mit Tugend. Für sie war der spartanische oder der römische Bürger frei und stolz, und dennoch ein Wunder an asketischer Disziplin. Er lebte als gleichsischen Revolution während der jakobinischen Phase. Um nur eine solche mit einer direkten Beziehung zum Gegenstand dieser Untersuchung zu erwähnen : Einer der wichtigsten Glaubenssätze der puritanischen Revolution, der allen Parteien und Gruppen gemeinsam war, war das Prinzip wenn nicht genau der Volkssouveränität, so doch zumindest der konstitutionellen Legalität, die sich auf ein frei gewähltes Parlament stützte. Ein nicht weniger ehrfürchtig behandeltes Prinzip, wirklich der höchste objektive Wert der Revolution, war Gewissensfreiheit und Toleranz. Es war allen klar, dass ein frei gewähltes Parlament gegen Religionsfreiheit auftreten würde. Die Alternative zu dem „das Volk frei und spontan sprechen lassen“ und sein Urteil, gleichgültig, wie es ausfallen mag, als endgültig zu akzeptieren, war daher, eine Regierung und ein Parlament von „Gottesfürchtigen“ zu haben, den Männern der fünften Monarchie und ähnlichen, und Gewissensfreiheit zwangsweise durchzusetzen. Demokratische Legalität hörte somit auf, der letzte Prüfstein zu sein, und an ihre Stelle trat die schwer erfassbare, undefinierbare Eigenschaft der „Gottesfurcht“ und Tugend, über die letzten Endes die „Gottesfürchtigen“ selbst die einzigen Schiedsrichter sein sollten. Nun waren die Anhänger der Herrschaft der „Gottesfürchtigen“ die glühendsten Prediger der Menschenrechte ( oder der Rechte der Engländer ) und demokratischer Volkssouveränität. Der Ausweg aus dem Dilemma war, den Menschen nicht so zu betrachten, wie er tatsächlich, wenn auch bedauerlicher weise, ist, sondern so, wie er sein sollte. Den tatsächlich schlechten Menschen, das heißt denjenigen, die außerhalb der Gemeinschaft standen, musste das Attribut des Menschentums ver weigert werden. Man kann nicht tolerant sein gegen diejenigen, die die Toleranz ver werfen, gegen Konterrevolutionäre, an erster Stelle natürlich Katholiken. Vgl. Tanner, English Constitutional Conflicts of the Seventeenth Century; Gardiner, The first two Stuarts and the Puritan Revolution; Gooch, Political Thought in England; ders., English Democratic Ideas in the Seventeenth Century, behandeln diesen Aspekt. Über den sozialen Aspekt siehe Petegorsky, Left - Wing Democracy in the English Civil War; Haller / Davies, The Leveller Tracts; Woodhouse, Puritanism and Liberty, das die Armeedebatten nach den Clarke - Manuskripten enthält.

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Einleitung

berechtigtes Mitglied der souveränen Nation und dabei verfolgte er keinerlei Interessen, die außerhalb seiner kollektiven Verflechtung lagen.

5. Bemerkungen zur Methode Man könnte Bedenken haben gegen die Auffassung, dass der politische Messianismus als Postulat dem sozialen und ökonomischen Gedankengebäude voranging, mit dem er später verbunden wurde. Man könnte sagen, es wäre falsch, den Messianismus als eine Substanz zu behandeln, die man von ihren Attributen abtrennen kann, von den Geschehnissen, die ihn her vorriefen, von Mitteln und Wegen, die man zu seiner Förderung einsetzte, und von den konkreten Zielen und Plänen der Menschen, die ihn zu einem gegebenen Zeitpunkt repräsentierten. Eine solche Verfahrensweise setzt voraus – so kann gesagt werden –, dass eine fast mystische Kraft in der Geschichte aktiv sei. Und es ist wichtig, auf diesen Einwand einzugehen, ebenso sehr wegen seiner philosophischen Bedeutung wie wegen der Methodenfrage, die durch ihn aufgeworfen wird.18 Diese Untersuchung beschäftigt sich mit einem Geisteszustand, mit einer Art zu fühlen, mit einer Disposition, einem Komplex von geistigen, emotionellen und Verhaltenselementen, die alle zusammen am besten vergleichbar sind mit einer menschlichen Gesamthaltung, die durch eine Religion ausgelöst wird. Man mag über die Bedeutung der wirtschaftlichen und anderen Faktoren für die Glaubensformung sagen, was man will : Es lässt sich kaum leugnen, dass solche allumfassenden Haltungen – haben sie sich erst einmal herauskristallisiert – den echten Inhalt der Geschichte ausmachen. Die konkreten Elemente der Geschichte, die Handlungen der Politiker, das Streben der Menschen, die Ideen, Werte, Neigungen und Vorurteile eines Zeitalters sind die äußeren Manifestationen seiner Religion im weitesten Sinn. Das zur Diskussion stehende Problem könnte nicht im Bereich systematischer, bündiger Beweisführung allein behandelt werden. Denn wie in einer Religion – wenn auch ihr rein theologischer Rahmen ein Wunder werk an Logik sein mag, in dem ein Syllogismus dem anderen folgt – müssen die ersten Voraussetzungen, die Axiome oder die Postulate eine Sache des Glaubens bleiben. Sie können weder bewiesen noch widerlegt werden. Und auf sie kommt es wirklich an. Sie bestimmen die Ideen und Handlungen und lösen Widersprüche auf in höhere Identität oder Harmonie. Das Postulat einer letzten, logischen, ausschließlich gültigen sozialen Ordnung ist eine Sache des Glaubens, und es hat wenig Sinn zu versuchen, Glau18

Siehe die Anmerkungen zum 2. Abschnitt dieser Einleitung ( Fußnoten 5–11).

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Bemerkungen zur Methode

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ben durch Argumente zu schlagen. Die Bedeutung eines solchen Glaubens für seine Anhänger, seine gewaltige Macht, die Menschen formt und Berge versetzt, können wohl schwerlich überbewertet werden. Nun gab es in Europa und ander wärts in den letzten anderthalb Jahrhunderten immer von solch einem Glauben beseelte Menschen und Bewegungen, die sich auf den Tag der Erfüllung vorbereiteten, alle ihre Ideen und Handlungen auf ein umfassendes System bezogen, in der Gewissheit, dass das historische Drama mit allen seinen Konflikten in einer vorbestimmten und endgültigen Lösung zu absoluter Harmonie führen würde. Die Jakobiner mögen sich von den Anhängern Babeufs unterschieden haben, die Blanquisten von vielen der Geheimgesellschaften in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die Kommunisten von den Sozialisten, die Anarchisten von allen anderen – und doch gehören sie alle zu einer einzigen Religion. Diese Religion entstand in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, und ihren Aufstieg werden wir hier verfolgen. Das schwierigste Problem dieser weltlichen Religion wurde die Antinomie zwischen Freiheit und der Ausschließlichkeit einer messianischen Ordnung. So komplex, ver wickelt und gelegentlich großartig die von den verschiedenen messianischen Richtungen später entwickelten Theorien auch waren : Die ursprüngliche Phase, die den Gegenstand dieser Untersuchung bildet, enthüllt die ersten Elemente und Fäden in einer unreifen, naiven und einfachen Form. Dieser Umstand erleichtert es uns, das Phänomen als ein historisches Ganzes zu verstehen. Denn einige Grundideen der späten und hochentwickelten messianischen weltlichen Religion, insbesondere, wie gezeigt werden soll, diejenigen, die sich auf die menschliche Natur, die Ethik und auf die philosophischen Prinzipien beziehen, sind dieselben geblieben wie im achtzehnten Jahrhundert. Es liegt in der Natur einer Doktrin, die eine universale abstrakte Ordnung postuliert, schematisch und grau zu sein. Es fehlt ihr an Wärme, Lebendigkeit und Reichtum, wie sie sonst in konkreten menschlichen und nationalen Verknüpfungen zu finden sind. Sie vermittelt keinen Eindruck von den Spannungen, die sich zwischen einzigartigen, untereinander und mit ihrer Umgebung im Konflikt stehenden Persönlichkeiten entwickeln. Sie bietet nicht das fesselnde Interesse an der unvorhersehbaren Situation und ihrer pragmatischen Behandlung. Doch alle diese Faktoren, die in der Doktrin fehlen, erscheinen in den Wandlungen der Doktrin als soziologische Kraft. Die Untersuchung, die wir hier führen wollen, soll nicht lediglich eine Abhandlung über politische Theorien sein, aber auch keine Aufzählung von Ereignissen. Man würde dem Gegenstand nicht gerecht, wollte man ihn in den Begriffen der Einzelpsychologie weniger Führer behandeln, noch würde das Wesentliche herausgearbeitet werden durch eine Analyse in Begriffen der Massenpsychologie. Eine Religion wird von Menschen geschaffen und gelebt, und

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Einleitung

doch bildet sie einen Rahmen, in dem Menschen leben. So ist auch das hier analysierte Problem nur zum Teil ein Problem des menschlichen Verhaltens. Die moderne weltliche Religion muss zuerst als eine objektive Realität behandelt werden. Erst nachdem dies geschehen ist, können die geistigen und geschichtlichen Gebilde betrachtet werden, die aus der Wechselbeziehung zwischen weltlicher Religion und bestimmten Menschen und Situationen entstehen. Diese Wechselbeziehung wird besonders interessant, wenn sie Widersprüche zur Folge hat zwischen der unpersönlichen Ordnung einerseits und den Erfordernissen einer spezifischen Situation sowie der Einzigartigkeit einer Persönlichkeit andererseits.

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Ers ter Teil Die Ursprün ge des poli ti schen Mes sia nis mus im acht zehn ten Jahr hun dert

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À l’époque où l’influence de ces progrès sur l’opinion, de l’opinion sur les nations ou sur leurs chefs, cessant tout à coup d’être lente et insensible, a produit dans la masse entière de quelques peuples, une révolution, gage certain de celle qui doit embrasser la généralité de l’espèce humaine. Après de longues erreurs, après s’être égarés dans des théories incomplètes ou vagues, les publicistes sont par venus à connaître enfin les véritables droits de l’homme, à les déduire de cette seule vérité, qu’il est un être sensible, capable de former des raisonnements et d’acquérir des idées morales. Condorcet

Rousseau, den ihr noch ein Mal über das andere einen Träumer nennt, indes seine Träume unter euren Augen in Erfüllung gehen, verfuhr viel zu schonend mit euch, ihr Empiriker; das war sein Fehler. Johann Gottlieb Fichte

Dies merkt euch, ihr stolzen Männer der Tat. Ihr seid nichts als unbewusste Handlanger der Gedankenmänner, die oft in demütigster Stille euch all euer Tun aufs Bestimmteste vorgezeichnet haben. Maximilian Robespierre war nichts als die Hand von Jean-Jacques Rousseau, die blutige Hand, die aus dem Schoße der Zeit den Leib her vorzog, dessen Seele Rousseau geschaffen. Heinrich Heine

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I. Natür li che Ord nung : Das Pos tu lat 1. Das alleinige Prinzip 1755 setzte Morelly1 sich in seinem Code de la nature die Aufgabe, „den Schleier zu lüften“, damit alle imstande wären, „voller Abscheu die Quelle und den Ursprung allen Übels und aller Verbrechen“ zu erblicken und „die einfachsten und schönsten Lehren der Natur, denen ständig durch niedrige Moral und niedrige Politik widersprochen wird“,2 kennenzulernen. Auf die eine Seite stellte er das Wissen um die natürliche Sittlichkeit, die für alle Völker gleich sein sollte und in ihren Grundsätzen und Folgerungen so einfach und augenscheinlich ist „que les mathématiques elles - mêmes“,3 auf der anderen Seite stand für ihn das Chaos von Irrtümern, Absurditäten, falschen Ausgangspunkten und ungeregelten Angelegenheiten, das sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte zieht. Morellys Ziel war, einen Zustand zu finden, in dem es „für den Menschen fast unmöglich wäre, verdorben und lasterhaft zu sein“,4 und in dem jeder so glücklich wie möglich sein würde. Der Zufall, „cette prétendue fatalité“,5 würde aus der Welt geschaffen werden. Morelly dachte in Begriffen bewusster Planung; gleichzeitig jedoch behauptete er, nur eine objektive Ordnung der Dinge aufzudecken. Diese Ordnung fasst er als sozialen Mechanismus auf, als eine „wunderbare automatische Maschine“, die er beschreibt als „tout intelligent qui s’arrangeât lui - même par un mécanisme aussi simple que merveilleux; ses parties étaient préparées, et, pour ainsi dire, taillées pour former le plus bel assemblage“.6 Wie jedes Wesen

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Alles, was über Morelly bekannt ist, und es ist so gut wie nichts, ist in Dolléans’ Einleitung zu Morellys „Code de la nature“ enthalten. La Harpe schrieb ein Buch zur Widerlegung des „Code de la nature“, und dabei schrieb er die Urheberschaft des Buches Diderot zu. Morelly hatte vorher, 1753, ein „La Basiliade“ betiteltes Gedicht geschrieben, eine utopische Vision einer idealen kommunistischen Gesellschaft. Der Marquis d’Argenson, der in den Jahren 1744–1747 französischer Außenminister und ein Schriftsteller mit ungewöhnlichen Ansichten war, bezeichnete den „Code de la nature“ als „das Buch der Bücher“, das Montesquieus „Esprit des lois“ weit überlegen sei. Folgende Bücher widmen Morelly einigen Raum : Warld / Prothero / Leathes ( Hg.), The Cambridge Modern History, Band 8, S. 16 f., 33; Kingsley, French Liberal Thought, S. 242–248; Lichtenberger, Le Socialisme au XVIIIème siècle, S. 104–127. Morelly, Code de la nature, Préface, o. S. Ebd., S. 8. Ebd., S. 9. Ebd., S. 48. Ebd., S. 12, 14.

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Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert

in der Natur habe die Menschheit „un point fixe d’intégrité“,7 zu dem sie schrittweise vordringe. Und diese letzte Erfüllung der Menschheit sei die „Natürliche Ordnung“. Morellys Code de la nature ist die früheste in einer Reihe von Schriften, mit denen diese Untersuchung sich beschäftigt. Es war das erste Buch in neuerer Zeit, das voll ausgeprägten Kommunismus als ein praktisches Programm auf die Tagesordnung setzte und ihn nicht lediglich als Utopie behandelte. Babeuf erhob es zu seiner Bibel, nahm allerdings an, das Werk sei von Diderot.8 Es ist ein seelenloses, schlecht geschriebenes Buch, sehr unreif in seinen Prämissen und in der Beweisführung und ohne großen Einfluss in der Vor - Thermidor Periode der Revolution. In seiner übertriebenen Form drückt es jedoch die gemeinsamen Thesen im Denken des achtzehnten Jahrhunderts aus. Alle her vorragenden französischen politischen Schriftsteller in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren auf der Suche nach einem neuen einheitlichen Prinzip des sozialen Daseins. Sie waren sich im Unklaren über die konkrete Natur des Prinzips, doch trafen sich alle auf einem gemeinsamen Boden, soweit es das Postulat eines solchen Prinzips anging. Die Formeln unterschieden sich nur im Nachdruck voneinander, und einige dieser Unterschiede verdienen, mit einigen Beispielen belegt zu werden. Helvétius, der allen Nachdruck auf Utilitarismus legt, dessen erster Verkünder er in seinem De l’esprit (1758) war, und Holbach, der in den 1770er Jahren schrieb und materialistischen Determinismus predigte, postulierten beide eine Art von kosmischem Pragmatismus, von dem die Gesellschaftsordnung nur eine Nachbildung sei. Die Struktur der Welt sei dergestalt, dass in einer richtig ausgewogenen Gesellschaft alles Wahre auch sozial nützlich wäre und alles Nützliche gleichzeitig tugendhaft. Niemand würde daher lasterhaft sein, ausgenommen die Toren und Narren, und niemand unglücklich außer den Unwissenden und Boshaften, mit anderen Worten : nur diejenigen, die so vermessen sind, sich gegen die notwendige, natürliche Ordnung der Dinge aufzulehnen.9

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Ebd., S. 63. A. d. Hg. : Siehe Fußnote 1. Vgl. Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XVII, S. 314–323; ders., De l’homme, Band 3, Sektion IV, Kapitel XIV, S. 348 f.; Band 4, Sektion VIII, Kapitel XXVI, S. 199 f., Sektion X, Kapitel VII, S. 354–365. Über Helvétius : Keim, Helvétius. Über Helvétius’ Beitrag zum Utilitarismus : Halévy, Philosophic Radicalism, S. 3 f., 18. Über seinen Materialismus : Plekhanov, Essays, S. 3–75 ( Holbach ), 79–164 ( Helvétius); ders., In Defence of Materialism, S. 27–37. Über Helvétius’ Ethik : Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 20–38; Holbach, Système de la nature, Band 1, Vor wort, Kapitel I, S. 13, Kapitel IV, S. 58–66, Kapitel V, S. 72 f., Kapitel XII, S. 267–305; ders., Système social, Band 1, Kapitel II, S. 19–24, Kapitel III, S. 29; Band 2, Kapitel II, S. 35, Kapitel V, S. 64 f.; Band 3, Kapitel XII, S. 151–165. Über Holbach : Wickwar, Baron d’Holbach;

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Natürliche Ordnung : Das Postulat

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Mably, der wie Morelly letzten Endes ein Kommunist war und daher, im Gegensatz zu der Verschwommenheit des utilitaristischen Postulats, eine genaue Vorstellung von der erwünschten Natürlichen Ordnung hatte, strebte nach wissenschaftlicher Bestimmtheit in sozialen und menschlichen Angelegenheiten. Er glaubte, die Politik könnte aus einer nur auf Vermutungen gegründeten zu einer vollkommen exakten Wissenschaft werden, wenn erst einmal die Tiefen des menschlichen Herzens und seine Leidenschaften erforscht und ein wissenschaftliches System der Ethik aufgestellt worden wären.10 Condorcet, der 1793, als die Revolution auf ihrem Höhepunkt war, aus seinem Versteck schrieb, in dem er beinahe als Opfer des Sieges seiner Ideen umgekommen wäre, fasste in bewegenden Worten die Errungenschaften seines Zeitalters in der Behauptung zusammen, man verfüge nun über ein Universalinstrument, das auf alle Gebiete menschlichen Strebens gleichmäßig anwendbar sei.11 Ein und dasselbe Instrument sei in der Lage, jene „allgemeinen Prinzipien“ aufzudecken, auf die man die „notwendigen und unabänderlichen Gesetze der Gerechtigkeit“ gründen muss, es sei in der Lage, die Antriebskräfte der Menschen zu erforschen, „die Wahrheit der Naturphilosophie zu ermitteln, Auswirkungen der Geschichte zu überprüfen und die ästhetischen Gesetze zu formulieren“.12 Wenn dieses Instrument erst auf Moral und Politik angewandt würde, erlangten diese Gebiete einen Grad von Sicherheit, der dem der Natur wissenschaft nur wenig nachstünde. Durch „diese letzte Tat“, behauptete Condorcet, würde dann „eine immer währende Schranke

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Lion, La Morale universelle de d’Holbach; ders., Les Idées politiques et morales de d’Holbach; Willey, Eighteenth Century Background, S. 155–167; Sabine, A History of Political Theory, behandelt sowohl Helvétius als auch Holbach, S. 563–571; ebenso : Kingsley, French Liberal Thought, S. 177–191. Mably, De la législation, Band 1, S. 43; ders., Doutes, S. 2 ff.; ders., De l’étude de l’histoire, S. 20 f., 137, 302; ders., Droits et devoirs, S. 143; ders., Phocion, S. 19, 21 f. Weitere Hinweise finden sich in den Fußnoten im ersten Teil dieses Bandes im Kapitel 4 „Eigentum ( Morelly und Mably )“. Mably hat, ungeachtet seines erheblichen Einflusses auf die Revolutionsgeneration, die Historiker und Kritiker durch seinen langweiligen Stil abgestoßen. Die beste Untersuchung über ihn ist noch immer Guerrier, L’Abbé de Mably. Neuere Werke über Mably sind : Whitfield, Gabriel Bonnot de Mably, das eine kritische Zusammenfassung seiner Ideen gibt; Müller, Gesellschafts - und Staatslehren. Vgl. Condorcet, Outlines, S. 242 f., 254–257. Es enthält eine klassische Zusammenfassung dessen, was als die liberale Religion des Fortschritts im achtzehnten Jahrhundert bezeichnet werden kann. Die Stellen über die neuen ästhetischen Gesetze, die als Folge der Verbreitung von Kultur und Kunst unter den Massen entstehen würden, verdienen besondere Beachtung, vgl. ebd., S. 305, 310–315. Vgl. auch Delvaille, Essai sur l’histoire de l’idée de progrès; Becker, Heavenly City, S. 45, 53. Condorcet, Outlines, S. 242 f.

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Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert

aufgerichtet zwischen dem Menschentum und seinen alten Kindheitsfehlern“, eine Schranke, „die uns auf ewig vor einem Rückfall in frühere Unwissenheit bewahren wird“.13 Die Analogie zu den Behauptungen des dialektischen Materialismus im folgenden Jahrhundert ist offensichtlich. In diesem Zusammenhang nimmt Rousseau eine ganz eigene Stellung ein. Er geht von dem gleichen Punkt wie die anderen aus. Er will das Wesen der Dinge untersuchen : Recht, Vernunft und Gerechtigkeit an sich, ferner das Prinzip der Legitimität. Ereignisse und Tatsachen haben keinen Anspruch darauf, als selbstverständlich hingenommen und als natürlich angesehen zu werden, wenn sie sich nicht einer universal gültigen Ordnung einfügen, ohne Rücksicht darauf, ob eine solche Ordnung je dagewesen sei. Und doch macht Rousseau keinen Versuch, seine ideale Gesellschaftsordnung mit dem Universalsystem und dessen allumfassendem Prinzip zu verbinden. Ein mächtiges Fiat beschwört das soziale Gebilde herauf, mag es nun Staat, Gesellschaftsvertrag, Souverän oder Allgemeiner Wille heißen. Das Gebilde ist autonom, quasi ohne Vorläufer oder äußeren Bezugspunkt. Es ist ganz auf sich gestellt. Es ist die Quelle und der Schöpfer aller sittlichen und sozialen Werte und hat dabei eine absolute Bedeutung, dient einem absoluten Zweck. Eine äußerst wichtige Verlagerung des Nachdrucks findet hier statt : von der Erkenntnis zum kategorischen Imperativ. Das alleinige, alles erklärende und alles bestimmende Prinzip der philosophes, von dem alle Ideen abgeleitet werden können, wird in den Souverän ver wandelt, der definitionsgemäß weder irren noch irgendeinem seiner Bürger schaden kann. Der Mensch hat keine anderen Maßstäbe als diejenigen, die im Gesellschaftsvertrag niedergelegt sind. Von ihm empfängt er seine Persönlichkeit und alle seine Gedanken. Der Staat nimmt den Platz des absoluten Bezugspunktes ein, der in dem universalen Prinzip verkörpert ist. Was diese Verlagerung des Nachdrucks bedeutet, wird hier später noch untersucht werden müssen.14 13 14

Ebd., S. 243. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Einleitung Vaughans, S. 13, 29, 31, außerdem S. 141 ( Discours ), 168 ( Discours sur l’inégalité, Première partie ), 296 ( Fragments, L’État de guerre ), 462 ( Contrat social, erste Fassung ). Für weitere Hinweise, insbesondere solche, die die Verlagerung des Bezugspunktes von der Natur zum Willen belegen, siehe weiter unten. Es ist wahr, dass Rousseaus Brief an Mirabeau den Älteren ( den Physiokraten ), in Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, S. 159–162, ebenso wie Mablys „Doutes“, geschrieben zur Widerlegung von Lemercier de la Rivières „L’Ordre naturel“ einige scharfe Äußerungen enthalten gegen den physiokratischen Versuch, menschliche Situationen im Geiste des geometrischen Theorems zu behandeln, und es gibt auch die bekannte Stelle zu Beginn des Zweiten Buches, Kapitel VIII des „Contrat social“ in Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, S. 54 f., über den Baumeister, welcher die besonderen Umstände in Betracht ziehen muss. Wenn man jedoch diese Abschweifungen Rousseaus und

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Natürliche Ordnung : Das Postulat

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Die Gedankengänge des achtzehnten Jahrhunderts, die den Boden für die Französische Revolution bereitet haben, sollte man auf drei verschiedenen Ebenen betrachten : erstens Kritik des Ancien Régime, seiner Missbräuche und Absurditäten; zweitens positive Gedanken über ein rationaleres und freieres System der Ver waltung, wie zum Beispiel Gedanken über die Gewaltenteilung, die Stellung der Rechtsprechung und ein gesundes Besteuerungssystem; und als Letztes unklare messianische Erwartungen, die sich an die Idee der Natürlichen Ordnung knüpften.15 Es ist diesem letzten Aspekt zuzuschreiben, wenn die soziale und politische Kritik in der Literatur des achtzehnten Jahrhunderts immer auf Dinge zu weisen scheint, die weit über die konkreten und unmittelbaren Missstände und Forderungen hinausgehen. Sehr wenig wird zum Beispiel klar über feudale Missbräuche oder spezielles Unrecht gesagt und sehr viel, wenn auch noch so verschwommen, über ewige Prinzipien und die Grundgesetze der Gesellschaft, über die Spaltung der Menschheit in herrschende und ausgebeutete Klassen, in Besitzende und Besitzlose, eine Spaltung, die im Widerspruch zu den Vorschriften der Natur entstanden sein sollte. Eine unberechenbare Dynamik wohnte der Idee von der Natürlichen Ordnung inne. Als die Revolution die Lehren des achtzehnten Jahrhunderts auf die Probe stellte, herrschte fast allgemein das Gefühl einer unmittelbar bevorstehenden und vollständigen Erneuerung. Doch während den meisten die Idee der Natürlichen Ordnung, wie die philosophes sie predigten, als ein Bezugspunkt erschien, als eine Richtlinie, der man sich annähern, die man aber in Wirklichkeit niemals erreichen konnte, wurde sie für die hitzigeren Elemente zu einer Triebkraft, die nicht mehr aufzuhalten war und ihren vollen und unerbittlichen Lauf nehmen musste. Und dieser Lauf schien sich ins Grenzenlose zu dehnen. Man kann sich leicht das Entsetzen von Robespierres Zuhörern im Konvent vorstellen, als ihnen der Unbestechliche auf ihre angstvollen Fragen nach dem Ziel all der Säuberungsaktionen und des Terrors erklärte – und zwar, nachdem schon alle möglichen Maßnahmen ergriffen und strengste Vergeltung gegen Konterrevolutionäre geübt worden war –, sein Ziel sei, endlich die Natürliche Ordnung einzuführen und die Versprechungen der Philosophie wahr zu

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Mablys auf dem Hintergrund ihrer gesamten Lehre betrachtet, so sind sie nicht mehr als Diskussionspunkte oder ein Tribut an die Problemstellung der Geschichtsgeographie. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Fragments, L’État de guerre, S. 297 f., 307; Band 2, Contrat social, S. 3 ( Einleitung Vaughans ), 82–86, Gouvernement de Pologne ( Einleitung Vaughans ), S. 387. Über die ideologische und geistige Vorbereitung der Revolution siehe außer den bereits genannten Quellen : Champion, Esprit de la Révolution Française; Fay, The Revolutionary Spirit.

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machen.16 Babeufs Plädoyer vor dem Gerichtshof zu Vendôme erinnert auffallend an die mittelalterlichen Glaubensrevolutionäre, die vor den kirchlichen Würdenträgern die Bergpredigt zitierten. Er las einen Auszug nach dem anderen vor aus Rousseau, Mably, Morelly und anderen und fragte seine Richter, die von der Erinnerung an Robespierres Tugendherrschaft verfolgt wurden, ob es in Ordnung sei, ihn vor Gericht zu stellen, nur weil er die Lehren der Väter der Revolution ernst genommen habe. Hatten sie nicht gelehrt, die Natürliche Ordnung würde allgemeines Glück mit sich bringen ? Und wenn die Revolution dieses Versprechen nicht ver wirklicht hatte, konnte man dann behaupten, sie sei schon vollendet ? Den Überlebenden der Gironde, die nach Robespierres Fall wieder an die Macht gelangten, hatte das Jahr II der Republik eine schreckliche Lehre erteilt. Denn noch im Jahre 1792 hatten sie sich desselben Vokabulars bedient wie Robespierre und sich ständig auf die Natur und ihre Gesetze berufen. Schriftsteller wie Benjamin Constant und Madame de Staël sollten dann später als Antwort auf 1793 ihre eigene Prägung liberalen Empirismus entwickeln. Aus jener inneren Gewissheit über das Bestehen einer natürlichen, völlig vernunftgemäßen und gerechten Ordnung erwuchsen der wissenschaftliche Sozialismus und die Idee einer integralen Revolution. Jedoch schon Ende 1792 machte sich ein girondistischer „Liberaler“ Sorgen. So schrieb Salle an Dubois - Crancé : „Die Prinzipien in ihrer metaphysischen Abstraktheit und in der Form, in der sie in dieser Gesellschaft dauernd analysiert werden – auf sie kann sich keine Regierung gründen. Ein Prinzip kann nicht streng auf eine politische Gemeinschaft angewandt werden, aus dem einfachen Grund, weil ein Prinzip keine Unvollkommenheit zulässt; und Sie können tun, was Sie wollen, Menschen sind unvollkommen. Ich sage mehr : Ich erkühne mich zu sagen, und zwar im Geiste Rousseaus selbst, dass die soziale Ordnung eine ständige Verletzung des abstrakten Volkswillens ist. Was mögen nicht alles die Folgen der unvorsichtigen Deklamationen sein, die diesen Willen als sichere Basis annehmen; die unter dem Vor wand unumschränkter und vollständiger Volkssouveränität keine rechtlichen Beschränkungen dulden wollen; die den Menschen immer als einen Engel darstellen; die, in dem Wunsche zu entdecken, was ihm ziemt, unbeachtet lassen, was er wirklich ist; die in ihrem Bestreben, das Volk davon zu überzeugen, dass es weise genug ist, es davon dispensieren, sich zu bemühen, es wirklich zu sein ! [...] Ich würde gern, wenn Sie wollen, dem Trugbild der Vollkommenheit, hinter dem Sie her sind, Beifall zollen. Aber sagen

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Vgl. Robespierre, Rapport 18 Pluviôse, zit. in Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 324–346, bes. S. 326.

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Sie mir, ist es nicht höchst wahrscheinlich, dass man den Menschen dadurch, dass man ihm alles Menschliche nimmt, zur wilden Bestie macht ?“17

2. Die weltliche Religion Die philosophes des achtzehnten Jahrhunderts zweifelten nie daran, dass sie eine neue Religion verkündeten. Sie fanden sich einem ungeheuren Anspruch gegenüber. Die Kirche erklärte, dass sie dem Menschen und der Gesellschaft einen absoluten Bezugspunkt zu bieten habe. Sie behauptete auch, eine letzte und alles umfassende Einheit des menschlichen Daseins zu verkörpern, quer durch die verschiedenen Schichten des menschlichen und sozialen Lebens hindurch. Die weltliche Philosophie wurde von der Kirche beschuldigt, diese beiden wesentlichsten Bedingungen der privaten und öffentlichen Sittlichkeit zu zerstören und dadurch die eigentliche Grundlage der Ethik und sogar der Gesellschaft zu untergraben. Wenn es keinen Gott gäbe und keine transzendentale Sanktion, warum sollten dann Menschen tugendhaft handeln ? Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts nahm nicht nur die Kampfansage an, sie kehrte die Anschuldigung um. Die philosophes empfanden die Herausforderung so stark, dass sie, wie Diderot sagt, eine heilige Pflicht darin sahen, den Menschen zu zeigen, dass ihre Sittlichkeit nicht nur ebenso gut sei wie religiöse Ethik, sondern viel besser.18 Holbach gab sich große Mühe, das materialistische Prinzip als eine viel stärkere Grundlage der Ethik darzustellen, als das Prinzip der „übersinnlichen Seele“ je für sich beanspruchen könne.19 Vieles in der Denkweise des achtzehnten Jahrhunderts würde uns in anderem Licht erscheinen, wenn wir uns stets darüber im Klaren wären, dass die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts – obwohl sie eine Philosophie des Protestes, der Auf lehnung und der Spontaneität war – sich eifrig der Aufgabe unterzog, die Garantien sozialer Kohäsion und Sittlichkeit auf eine neue Weise zu definieren. Die philosophes waren ängstlich darauf bedacht zu zeigen, dass vom Standpunkt der Natürlichen Ordnung nicht sie selbst, sondern ihre Gegner die Anarchisten waren. Abgesehen von dem Vor wurf der historischen Unwahrheit der offenbarten Religion, gipfelte der philosophische Angriff in der Behauptung, die Kirche 17 18 19

Brief von Salle an Dubois - Crancé, zit. in Lefebvre, La Révolution Française : La Convention, Band 1, S. 25. Diderot, zit. in Becker, Heavenly City, S. 81. Vgl. Holbach, Système de la nature, Band 1, Vor wort, Kapitel I, S. 7–12, Kapitel VIII, S. 119–123, Kapitel IX, S. 148–150, Kapitel XII, S. 267–270, 287–290; ders., Système social, Band 1, Kapitel III, S. 29, 31, Kapitel IV, S. 45, Kapitel VII, S. 69–72, Kapitel XV, S. 187–189; Band 2, Kapitel I, S. 7; Band 3, Kapitel VIII, S. 88 f.

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habe auch als soziologische Kraft versagt. Sie habe „imaginäre“ und heterogene Kriterien in das Leben des Menschen und der Gesellschaft eingeführt. Die Gebote der Kirche seien unvereinbar mit den Erfordernissen der Gesellschaft. Der Widerspruch schade beiden und sei entschieden demoralisierend. Die eine predige asketische Unweltlichkeit, während die Gesellschaft Ausschau halte nach sozialer Tüchtigkeit und Lebenskraft. Dem Menschen werde eingeprägt, für die Erlösung seiner Seele zu wirken, seine Natur dagegen halte ihn erdgebunden. Die Religion lehre ihn eines, die Wissenschaft ein anderes. Religiöse Ethik sei völlig unwirksam, wenn sie nicht gar zu einer Quelle des Übels würde. Das Versprechen ewigen Lohns und die Drohung immer währender Strafe seien zu fernliegend, um einen wirklichen Einfluss auf das alltägliche menschliche Verhalten auszuüben. Solche Sanktion erzeuge im besten Falle Heuchelei. Wo die Lehren der Religion erfolgreich seien, führten sie zur Vergeudung von Menschen, wie im Klosterleben und in der Askese, oder zu grausamer Unduldsamkeit und Religionskriegen. Außerdem böten die „imaginären“ Lehren und Maßstäbe der Kirche Unterstützung und Rechtfertigung für bestehende tyrannische Interessen, die der Gesellschaft als Ganzes schädlich wären.20 Rousseau, Morelly, Helvétius, Holbach, Diderot, Condorcet, nicht zu reden natürlich von Voltaire, hoben einstimmig die homogene Natur der Sittlichkeit her vor. Einige, die Anhänger Voltaires und die Atheisten, sprechen von einem vorbedachten Anschlag auf die Gesellschaft, wenn sie die Ansprüche der religiösen Ethik angreifen. Andere, wie Rousseau, legen allen Nachdruck auf das Prinzipielle, vor allem das Prinzip der gesellschaftlichen Einheit : Man könne nicht gleichzeitig Staatsbürger und Christ sein, denn die Loyalitätsansprüche in beiden Fällen seien unvereinbar. „Nur von der gesetzgebenden Körperschaft“, schrieb Helvétius, „können wir eine dem allgemeinen Wohl dienende Religion erwarten [...]. Lasst kluge Minister mit weltlicher und geistlicher Macht ausgestattet sein, und aller Widerspruch zwischen religiösen und patriotischen Geboten wird verschwinden; [...] das religiöse System soll mit dem nationalen Gedeihen übereinstim20

Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 42–44; Holbach, Système de la nature, Band 1, Vor wort, Kapitel I, S. 7–12, Kapitel VIII, S. 119–123, Kapitel IX, S. 148–150, Kapitel XII, S. 267–270, 287–290; ders., Système social, Band 1, Kapitel III, S. 29, 31, Kapitel IV, S. 45, Kapitel VII, S. 69–72, Kapitel XV, S. 187–189; Band 2, Kapitel I, S. 7; Band 3, Kapitel VIII, S. 88 f. Vgl. auch Condorcet, Outlines, S. 34–39, 64–68, 77 f. „Es wird immer Krieg geben, solange es Priester und Könige auf Erden gibt.“ Ebd., S. 70. A. d. Hg. : Im englischen Original lautet der Satz : „The war [...] of the oppressors of mankind against philosophy [...] will continue to be waged as long as there shall exist priests or kings upon earth.“ Vgl. weiterhin Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XVII, S. 322, Kapitel XXIII, S. 376–383, Kapitel XXIV, S. 383–398; ders., De l’homme, Band 4, Sektion IX, Kapitel VI, S. 327–329.

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men; [...], Religionen, die üblicher weise immer dem Ehrgeiz der Priester dienen, sollen der Öffentlichkeit zum Segen werden.“21 Holbach lehrte dasselbe, und obwohl Rousseau und Mably bitter mit den beiden atheistischen Materialisten stritten, gab es kaum eine grundlegende Unstimmigkeit zwischen ihnen. Denn auch in ihren Gedanken ging es im Grunde nicht um das göttliche Wesen, sondern um Garantien für die soziale Ethik. Rousseau, der Lehrer Robespierres, und Mably, dessen religiöse Ideen solch tiefen Eindruck auf Saint - Just machten, kamen hebräisch - biblischer und klassisch - heidnischer Auffassung näher als christlichen Vorstellungen.22 Robespierres jüdische Vorstellung von der Vorsehung, die über der Revolution schwebe, ergab sich aus der Anschauung des achtzehnten Jahrhunderts, derzufolge sich das sittliche Drama vor dem Gericht der Natur ausschließlich im Rahmen sozialer Beziehungen abspielt. Kein Denker des achtzehnten Jahrhunderts war bereit, eine Unterscheidung anzuerkennen zwischen Mitgliedschaft in einem Reich Gottes und Bürgerschaft in einem irdischen Staat, was die christliche Auffassung streng unterschied. Ob man, wie ganz allgemein das achtzehnte Jahrhundert, im Sinne des Alten Testaments glaubte, Lohn und Strafe für die Taten einer Generation würden sich auf die Nachkommenschaft auswirken, oder ob man wie Rousseau und Mably glaubte, das Individuum werde zur Rechenschaft gezogen und als Einzelseele belohnt oder bestraft werden : die alleinigen anerkannten Tugenden oder Sünden waren solche von sozialer Bedeutung.23 Der einzige Unterschied zwischen Helvétius und Holbach einerseits und Rousseau und Mably andererseits bestand darin, dass nach Auffassung der Materialisten soziale Gesetzgebung und Anordnungen allein genügten, um sittliches Verhalten zu sichern, während Rousseau und Mably fürchteten, der Mensch könne das Gesetz umgehen. Wesentlich war, und daran sollte der Mensch immer denken, dass er, auch wenn er dem Magistrat entgehe, immer noch ander weitig, und zwar vor einem höheren Gericht, seine Rechnung würde begleichen müssen. Und ebenso wichtig war es ja auch, die Unglücklichen und die Benachteiligten nicht an der Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft verzweifeln zu lassen, selbst wenn sie ihnen nicht auf Erden zuteil wird. Rousseau überschritt die Grenzen des mechanisch - materialistischen Rationalismus 21 22 23

Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel X, S. 64, Kapitel XV, S. 86. Vgl. auch ebd., Kapitel IX, S. 49. Zu Saint - Just und Mably vgl. Vellay, Saint - Just et Mably, S. 345. Vgl. Mably, Phocion, S. 123 f. : „Ich wünschte, alle Menschen wären voll von der wichtigen Wahrheit überzeugt, dass es ein zweites Leben gibt, in dem die Vorsehung [...] Laster bestrafen und Tugend belohnen wird. Diese Doktrin, die auf der göttlichen Gerechtigkeit begründet ist, an der unsere Vernunft sich erfreut, und die unseren Bedürfnissen so angepasst ist, ist nur für unsere Leidenschaften schrecklich.“

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und ging zu den Ausgangspunkten der Antike zurück. Er war über wältigt von dem antiken Gefühl der Ehrfurcht bei dem Gedanken an eine Gottheit, die über dem Stadtstaat schwebte und jede Handlung seines Lebens mit einer feierlichen Bedeutung erfüllte. Er war fasziniert von dem Prunk und der Eindruckskraft des kollektiven patriotischen Gottesdienstes bei den nationalen religiösen Festen, Spielen und öffentlichen Veranstaltungen, und ebenso sehr war Mably davon überzeugt, dass keine Religion ohne äußere Formen, Institutionen und feste Riten möglich wäre. Die Artikel von Rousseaus bürgerlicher Religion – abgesehen von denen, die die Existenz der Gottheit und die Unsterblichkeit der Seele betreffen – unterscheiden sich sachlich nicht von „den ewigen und unveränderlichen Prinzipien, [...] die von der Natur der Menschen und Dinge abgeleitet sind“ und „wie geometrische Lehrsätze genauestens bewiesen werden können“,24 auf denen nach Ansicht von Helvétius eine Universalreligion begründet sein sollte. Sie beziehen sich auf die Gesetze des Staates und die Artikel des Gesellschaftsvertrages. Es war nicht nur Theismus, der Rousseau veranlasste, den Glauben an eine Gottheit als eine soziale Notwendigkeit zu erklären. Auch eine andere innere Neigung und Einstellung, als sie die Rationalisten hatten, spielte dabei eine Rolle. Helvétius’, Morellys und Holbachs harmonische Gesellschaftsordnung war eine Sache der Erkenntnis. Sie bestand, konnte wahrgenommen und angewandt werden. Bei Rousseau und Mably war sie ein kategorischer Imperativ, eine Sache des Willens. Die materialistischen Deterministen vertrauten darauf, dass Wissen in Handlung umgesetzt würde. Anders Rousseau und Mably mit ihrer ganz anderen Einstellung zur menschlichen Natur und ihrem tiefen Gefühl der Sünde. Dieses Gefühl hat Rousseau bewogen, die Todesstrafe für denjenigen zu verlangen, der nicht an die bürgerliche Religion glaubte, ähnlich wie Mably sämtliche Atheisten und sogar Deisten – die eine Religion des Herzens für ausreichend hielten – verbannen wollte. Der Mensch sollte dazu gebracht werden, Gott zu fürchten, und diese Furcht sollte er ständig und lebhaft fühlen.25 24 25

Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel XIII, S. 70. Vgl. Mably, De la législation, Band 2, S. 159, 194, 200, 204, 208, 221–223. Da dies Mablys umfassendstes Werk ist, enthält es auch seine umfassendste Behandlung der religiösen Frage. Mablys „Phocion“ übte einen tiefen Einfluss auf die jakobinischen Puritaner aus. Manche Stellen in Robespierres berühmten Reden, auf die noch Bezug genommen wird, insbesondere Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 347–378, sind fast wörtlich von Mably abgeschrieben. Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 63 : „Il doit être le premier garant du pacte que les hommes ont fait en entrant en société, et ce n’est que sur la foi de cette garantie, que les hommes peuvent compter sur la foi de leurs concitoyens. Il reste consolateur de tous ceux qui sont opprimés par la justice humaine et que leur innocence pourra rendre heureux au milieu des malheurs s’ils peuvent appe-

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Der Widerspruch zwischen dem Kapitel über die bürgerliche Religion im Contrat social und in Profession de foi d’un vicaire savoyard ist übertrieben worden.26 Die zuletzt genannte Schrift mag wohl ein Schock für die Materialisten gewesen sein, soweit es das rein philosophische Problem der Existenz einer persönlichen Gottheit betraf. Die direkte und intensive Beziehung zwischen Mensch und Gott im Savoyardischen Vikar braucht jedoch nicht als Widerlegung der Selbstgenügsamkeit der Gesellschaftsreligion aufgefasst zu werden. Es wäre so, wenn Staat oder Gesellschaft als rein menschliche Einrichtungen anzusehen wären. Wenn, wie bei Robespierre, Staat oder Gesellschaft als unter der persönlichen Vorsehung Gottes stehend betrachtet werden, so wie die hebräische Gesellschaft vor dem Exil es getan hatte, und wenn die Beziehung zwischen Gott und Mensch, wie im Alten Testament, keine besondere hierarchische Organisation und kein Gesetzessystem außerhalb des Rahmens der sozialen Einrichtungen und Gesetze mit sich bringt, dann brauchen sich die

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ler de la méchanceté ou de la sottise des hommes au tribunal de la sagesse divine.“ Vgl. auch ebd., S. 66 f. : Atheismus ist „plus funeste aux hommes que la guerre, la famine et la peste“, Atheisten, „qui croient qu’un même sort attend les gens de bien et les méchants après la mort“. Bei all seinem Hass gegen Atheisten und selbst Deisten ( da er nicht an eine reine Herzensreligion ohne äußere Formen glaubte ), war Mablys Ausgangspunkt in der Religionsfrage seine Opposition zu Malebranche, der behauptete, jede Art von Liebe zu einem Geschöpf um seiner selbst willen tue der Liebe zum Schöpfer Abbruch, welcher das einzige und ausschließliche Objekt unserer Liebe sein müsse, denn die erschaffenen Dinge seien nur eine Erweiterung des Schöpfers; vgl. Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 61. Ebd., S. 62 : „Le meilleur moyen de mériter la faveur du ciel, c’est d’être utile aux hommes.“ Bei Rousseau wird für gewöhnlich alle Aufmerksamkeit auf das Kapitel über die bürgerliche Religion im Contrat social, Viertes Buch, Kapitel VIII, in Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, S. 124–134, und auf die „Profession de foi du vicaire savoyard“, hg. von P. - M. Masson, Fribourg / Paris 1914 gerichtet, weil sie tatsächlich zwei entgegengesetzte Pole repräsentieren. Aber die anderen Schriften Rousseaus zu dem Gegenstand müssen auch berücksichtigt werden, zum Beispiel : Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, S. 163–165 ( Lettre à Voltaire ), 166–168 ( Lettres à Usteri ), 169–172 ( Première lettre de la Montagne ), 297 ( Projet de constitution pour la Corse, Ver weise ). In den Briefen, auf die diese Anmerkung Bezug nimmt, drückt Rousseau in der extremsten Form die Ansicht aus, Staatsbürgerschaft in einem Staate schließe Zugehörigkeit zur Menschheit oder zur christlichen Gemeinschaft aus. – Nur sehr selten ist so viel Geist und solch enormer Fleiß auf eine so unhaltbare These verschwendet worden wie im Falle von Masson, La Religion de Jean Jacques Rousseau, um, wie Albert Mathiez in einer Besprechung der Bücher in den „Annales révolutionnaires“ sagte, aus Rousseau einen Kirchenvater zu machen, siehe Mathiez, Masson. La Religion de J. - J. Rousseau. Wir können auf den Punkt nicht näher eingehen und ver weisen den Leser für eine ausführliche Beschreibung der Kontroverse über die Religion bei Rousseau auf Schinz, La Pensée religieuse de Rousseau; ders., État présent des travaux; Hendel, Rousseau; Höffding, Rousseau and his Philosophy.

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rein religiöse Ehrfurcht und der patriotische Glaubenseifer nicht zu widersprechen. Im Gegenteil, sie würden wahrscheinlich zu einer Art Robespierre’scher Mystik verschmelzen. Es gibt keine anderen Priester als die Magistrate, religiöses und patriotisches Zeremoniell sind ein und dasselbe, und seinem Lande dienen heißt Gott dienen.

3. Apriorismus und Empirismus Der Glaube an eine Natürliche Ordnung und an die unveränderlichen, universalen Prinzipien, die sich aus ihr ableiteten, war die Ursache für den in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts fast allgemeinen Widerstand gegen Montesquieus zentrale Idee, trotz der hohen Achtung, deren sich der Vater der Idee republikanischer Tugend erfreute. Es fehlte so sehr an Verständnis für die pragmatische Entwicklung sozialer Formen, dass Morelly den Esprit des lois für eine didaktische Abhandlung hielt, die zeigen wollte, auf welche Launen und Tollheiten die Menschheit verfiel, nachdem sie einmal den Naturzustand aufgegeben hatte.27 Politik war nach Sieyès eine Kunst, und nicht eine beschreibende Wissenschaft wie die Physik. Ihr Zweck bestand darin zu planen, Wirklichkeiten zu schaffen, und zwar in Erfüllung einer Ordnung, die von Bestand war. Das Naturgesetz war alt, betonte Sieyès, und die Fehler bestehender Gesellschaften waren neu.28 Diderot glaubte nicht, dass eine Kenntnis der Geschichte dem sittlichen Fühlen und Denken vorangehen müsse. Ihm schien es „nützlicher und angemessener, eine Vorstellung von Recht und Unrecht zu gewinnen, bevor man sich ein Wissen aneigne von Handlungen und Menschen, auf die sie angewandt werden sollten“.29 Die Betonung des „Soll“ statt des „Warum“ war Rousseaus Antwort an Montesquieu.30 In der oft zitierten Stelle seines Émile sagt Rousseau, Montesquieu sei der Einzige, der fähig gewesen wäre, die „große und nutzlose Wissen27 28 29 30

Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 23, 36. Über Sieyès siehe die Anmerkungen im Zweiten Teil, Kapitel 1 : „Die Jakobinische Improvisation“, 1. Abschnitt : „Die Revolution von 1789“ im vorliegenden Band. Becker, Heavenly City, S. 104. Über Montesquieus Anlehnung hieran siehe ebd., S. 114, sowie Champion, Esprit de la Révolution Française, S. 9 f. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Contrat social ( erste Fassung), Einleitung Vaughans, S. 439, Contrat social ( erste Fassung ), Erstes Buch, Kapitel V, S. 462. Über die Kantische Qualität von Rousseaus regulativen Ideen und die Unterscheidung zwischen einem Standpunkt oder einer zentralen Idee und einer dogmatisch angenommenen Realität siehe Höffding, Rousseau and his Philosophy, S. 106; Cassirer, Rousseau, Kant, Goethe, S. 1–59.

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schaft“31 von der Politik oder richtiger des politischen Rechts zu schaffen, aber bedauerlicher weise hätte er sich auf die Behandlung der positiven Gesetze bestehender Regierungen beschränkt, „et rien au monde n’est plus différent que ces deux études“.32 Rousseaus eigene Hinweise auf eine Relativität als Folge verschieden gearteter geographischer Umstände beeinflussen nicht seine allgemeine Einstellung. Sie scheinen der notwendige Tribut zu sein, den er der politischen Geographie zu schulden glaubt, und kommen gewöhnlich vor, wenn er einen wirtschaftlichen Gegenstand behandelt. Condorcet dachte wie Rousseau, Montesquieu hätte besser daran getan, sich weniger mit dem Auffinden „der Gründe für das, was ist, als mit dem Suchen nach dem, was sein sollte“, zu befassen.33 Interessanter und weniger beachtet war diejenige Kritik des achtzehnten Jahrhunderts an Montesquieu, die von der Annahme ausging, sein Relativismus sei auf seine Bevorzugung von geographischen und anderen Faktoren gegenüber dem menschlichen Faktor zurückzuführen. Was dieser Kritik zugrunde lag – ein Punkt, der später zu entwickeln ist –, war der Gedanke, dass zwar objektive Bedingungen Verschiedenheit begründen, die menschliche Natur jedoch nach Einheitlichkeit verlange.34 Sogar Montesquieu selbst, der nie ganz „Montesquieuist“ war – wie Marx nicht Mar xist –, glaubte an Naturgesetze, die aus dem inneren Wesen des Menschen als einer konstanten, unveränderlichen Größe abgeleitet waren. Helvétius und Mably behaupteten, Montesquieus These würde wertlos durch seine Verkennung der Tatsache, dass die menschliche Psyche der einzige wesentliche Faktor für die Gestaltung eines politischen Systems sei. Für Helvétius waren das Streben nach Macht und die Wege, sie zu erlangen, solche seelischen Grundelemente.35 Mably sah in den 31 32 33 34

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Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Émile, Fünftes Buch, S. 147. Ebd. Siehe auch die Anmerkungen im Abschnitt 1. dieses Kapitels ( Fußnote 14). Vgl. Condorcet, Outlines, S. 86 f. Vgl. Holbach, Système social, Band 1, Kapitel XI, S. 117; Band 2, Kapitel I, S. 11 f.; Band 3, Kapitel I, S. 6–8. Ebd., Band 2, S. 11 : „Les lois naturelles [...] sont celles qui découlent immédiatement de la nature de l’homme, indépendamment de toute association.“ Siehe außerdem ders., Politique naturelle, Band 2, S. 10; Plekhanov, Essays in the History of Materialism, S. 30. Vgl. Helvétius, De l’esprit, Band 2, Discours III, Kapitel XXVII, S. 220–222; ders., De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel XIII, S. 70–73, Sektion IV, Kapitel XI, S. 340 f.; ders., Lettres d’Helvétius au président de Montesquieu et à M. Saurin über den „Esprit des lois“. Lettre au président de Montesquieu, S. 212, 215 : der Haupteinwand ist, dass Montesquieu all den selbstsüchtigen Interessen von Priestern, Obskurantisten, Adeligen und anderen privilegierten Gruppen Rechtfertigung und Alibi bot, indem er ihre „Natürlichkeit“ bejahte. Die Authentizität dieser Briefe ist jedoch neuerdings ernsthaft in Frage gestellt worden durch Koebner, The Authenticity of the Letters on the ‚Esprit des Lois‘ attributed to Helvétius, welcher die Auffassung vertritt, sie seien 1788

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menschlichen Leidenschaften und nicht in klimatischen Unterschieden oder in der besonderen Art eines Territoriums den entscheidenden Faktor in der Politik. Er glaubte, die menschliche Psyche sei in jedem Klima gleich. Psychologie wäre daher der sicherste Weg zu wissenschaftlicher Politik.36 Condorcet – und andere mit ihm – legte den größten Nachdruck auf die Menschenrechte als Bedingung eines ausschließlichen sozialen Systems. Man sollte seine Kritik gleichzeitig lesen mit seinem Vergleich zwischen der Französischen Revolution und den politischen Systemen der Antike und der Vereinigten Staaten von Amerika. Der Gegensatz zwischen rationalistischer Politik und politischer Empirie ist nirgends in der französischen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts klarer her vorgehoben worden. Condorcet erhebt Einwendungen gegen den Empirismus der alten griechischen politischen Philosophie. Sie sei ein Wissen um Tatsachen, aber keine wahre Theorie, die sich auf allgemeine, universale Prinzipien, auf Natur und Vernunft gründe. Die griechischen Denker strebten weniger danach, die Ursachen des Übels auszurotten, als seine Wirkungen zu beseitigen, indem sie die einzelnen Ursachen verschiedener Übel gegeneinander abwogen. Kurz, anstatt ein systematisches und radikales Heilmittel anzuwenden, versuchten sie, Vorurteile und Laster gegeneinander auszuspielen, um ihre Wirkungen aufzuheben. Sie bemühten sich nicht, sie zu bekämpfen und auszumerzen. Als Erfolg dieser Politik wurden die Menschen entartet, irregeführt, brutalisiert und gereizt, statt veredelt und geläutert.37 Condorcet scheint in einem gewissen Zeitpunkt mit Morelly das

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zu Wahlzwecken gefälscht worden. Vgl. außerdem „L’Examen critique de l’Esprit des lois par l’auteur de l’Esprit“ analysiert von Keim unter Verwendung von Helvétius’ Randbemerkungen im Manuskript des „Esprit des lois“ : Keim, Helvétius, S. 165–177. Über das Postulat einer selbstständigen und zusammenhängenden Weltanschauung und ablehnende Kritik des englischen Systems : Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours I, Kapitel XVII, S. 323, und vor allem seine beiden gerade zitierten Briefe; Holbach, Système social, Band 1, Kapitel IV, S. 45 ( die Antike wird dort wegen des Fehlens eines monistischen Ausblicks kritisiert ); Band 2, Kapitel V, S. 64–66. A. d. Hg. : Siehe auch ebd., Band 2, Kapitel VI, S. 66–76. Vgl. Mably, Droits et devoirs, S. 202 : „‚L’esprit des lois‘ [...] : les idées fondamentales de son système sont fausses.“ Vgl. weiterhin ders., De l’étude de l’histoire, S. 97–99. Ders., De la législation, Band 1, S. 27 : „Ils vous diront gravement que des lois bonnes au dixième degré de latitude, ne valent plus rien sous le trentième. [...] Qu’importent des plaines, des montagnes [...] pour décider des lois les plus propres.“ Vgl. Condorcet, Outlines, S. 19, 88 f., 91. Ebd., S. 91 : „Irrtümer, die durch den allgemeinen Fehler verursacht werden, dass man denjenigen für den Naturmenschen hält, der in seinem Charakter den gegenwärtigen Stand der Zivilisation zur Schau trägt, das heißt, den Menschen, der durch Vorurteile, Parteileidenschaften und gesellschaftliche Gewohnheiten verdorben ist.“ Mably, De la législation, Band 1, S. 84–87, und Morelly halten sich an ein ähnlich geartetes Argument, wenn sie die Ansicht zu widerlegen versuchen, dass der Mensch ohne das Gewinnmotiv überhaupt nicht arbeiten würde.

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zu ver urteilen, was wir heute Reformismus nennen würden : das ständige Bemühen, wie es im Code de la nature heißt, das Unvollkommene zu ver vollkommnen. Dieses Vorgehen – so behauptet Morelly – kompliziere nur die Kette des Übels, führe die Menschen irre und lähme die Energie für eine radikale Reform.38 Wie alle seine Vorgänger im achtzehnten Jahrhundert gründete Condorcet seine Ideen einer radikalen Reform auf die unwandelbaren Bedürfnisse der menschlichen Natur oder richtiger auf die Menschenrechte, die von jenen abzuleiten waren.39 Er glaubte, die Griechen hätten von diesen Rechten gewusst, aber nicht den inneren Zusammenhang, die Tiefe, Ausdehnung und wahre Natur der Menschenrechte begriffen. Sie hätten in ihnen quasi ein Erbe gesehen, eine Reihe von überkommenen Rechten, und nicht ein in sich geschlossenes, objektives System. Selbst die Amerikanische Revolution sei sich dieser Prinzipien noch nicht voll bewusst geworden. Die Amerikaner hätten sich noch keine Prinzipien von einer solchen Unveränderlichkeit angeeignet, dass man nicht zu fürchten brauche, irgendwelche Gesetzgeber könnten ihre besonderen Vorurteile und Leidenschaften in die politischen Institutionen hineinbringen. Sie hätten daher noch nicht daran denken können, auf der festen, dauerhaften Grundlage von Natur und universalen Grundsätzen eine Gesellschaft von gleichen und freien Menschen zu bauen, sondern sich damit begnügen müssen, „Gesetze für erbliche Mitglieder“ aufzustellen, das heißt so viel wie Gesetze im Rahmen der gegebenen Verhältnisse und der Zweckmäßigkeit.40 Das amerikanische System biete daher ein Beispiel für die Suche nach einer vermittelnden Ordnung zwischen der Oligarchie der Reichen und der Unbeständigkeit der Armen, ein Zustand, der zu einer Tyrannei geradezu einlade. Die Französische Revolution bezeichne den absoluten Wendepunkt. „Wir gelangten zu einer Epoche, in der die Philosophie [...] die denkende Klasse beeinflusste, diese dann wirkte auf das Volk und seine Regierungen ein, und das war ein Einfluss, der nicht mehr allmählich vor sich ging, sondern eine Umwälzung in der Gesamtheit gewisser Nationen her vorrief und dadurch ein sicheres Pfand bildete für die allgemeine Revolution, die eines Tages folgen und die gesamte menschliche Gattung umfassen soll. Nach Zeitaltern der Irrungen, nach Wanderungen auf all den trügerischen Pfaden unklarer und fehlerhafter Theorien, gelangten die Schrift-

38 39

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Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 36. Vgl. Condorcet, Outlines, S. 234. Gegen das zögernde Herausrücken mit Rechten, die universal und gleich sein sollten, und zwar angeblich gemäß Klima und Größe des Landes, und danach Errichtung von Institutionen, um die geschaffene Ungleichheit zu verewigen, vgl. ebd. Vgl. Condorcet, Outlines, S. 86 f.

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Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert

steller [...] endlich zur Kenntnis der wahren Menschenrechte [...] abgeleitet von demselben Prinzip; [...] ein Wesen, gefühlsbegabt, der Überlegung fähig [...]; Gesetze, abgeleitet von der Natur unseres eigenen Gefühls, [...] unserer sittlichen Veranlagung.“41 Die Französische Revolution sei im Vergleich zur Amerikanischen ein Geschehen auf einer ganz anderen Ebene. Sie sei eine totale Revolution in dem Sinn, dass sie keinen Bereich und keinen Aspekt des menschlichen Daseins unberührt lasse, während die Amerikanische Revolution einen rein politischen Wechsel dargestellt habe.42 Während außerdem die Französische Revolution die Gleichheit zur Herrschaft gebracht und eine politische Umformung bewirkt habe, die auf den allgemeinen und gleichen natürlichen Menschenrechten basiere, habe die Amerikanische Revolution sich damit begnügt, nur ein Gleichgewicht sozialer Kräfte auf der Basis von Ungleichheit und Kompromissen herbeizuführen.43 Die Meinung, schwache Menschen seien imstande, eine Ordnung der Dinge von absolutem Charakter zu schaffen, diese maßlose Überheblichkeit und gottlose Anmaßung hat einerseits Burke zu einigen seiner beredtesten Ausführungen herausgefordert, und andererseits Joseph de Maistre, de Bonald und ihre Schüler dazu gebracht, die Idee des theokratischen Absolutismus zu proklamieren.44

41 42 43 44

Ebd., S. 230 f., 242. Vgl. ebd., S. 266 f. Vgl. ebd., S. 263 f. Zu Condorcet siehe auch Delvaille, Essai sur l’histoire de l’idée de progrès, S. 670–707. Vgl. Taine, Les Origines de la France contemporaine, Band 1; Espinas, La Philosophie sociale; Tocqueville, L’Ancien régime.

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II. Gesell schafts ord nung und Frei heit ( Hel vé ti us und Hol bach ) 1. Identität der Vernunft Wir kommen nun zum Kern unseres Problems, zum Paradox der Freiheit. Die kämpferische Parole der Lehrmeister des Natürlichen Systems ging darauf hinaus, dass die Machthaber und ihre Theoretiker vorsätzlich oder aus Unwissenheit die menschliche Natur nicht beachtet hätten. Alles Übel, Laster und Elend seien darauf zurückzuführen, dass der Mensch nicht seiner wahren Natur gefolgt sei, dass er an dieser Entwicklung verhindert wurde durch seine Unkenntnis, die von bestehenden Interessengruppen mit Absicht verbreitet und aufrechterhalten werde. Hätte der Mensch seine wahre Natur erforscht, so hätte er in ihr ein Abbild der universalen Ordnung entdeckt. Eine Befolgung der Postulate aus seiner eigenen Menschennatur hätte ihn notwendig in Einklang gebracht mit den Naturgesetzen als Ganzes, und dadurch wären alle Wirrungen und Widersprüche vermieden worden, in die ihn die Geschichte ver wickelt hat.45 Das Paradox besteht nun darin, dass die menschliche Natur hier nicht als jener störrische, unbelehrbare und unberechenbare Adam angesehen, sondern als Träger von Ordnung und Einheitlichkeit und als Garantie für diese Werte hingestellt wird.46 Dieses Paradox beruht auf entscheidenden philosophischen Prämissen. Es herrscht eine ziemliche Ver wirrung darüber, wo die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts eigentlich einzureihen sind. Und das verschlimmert sich noch durch die Tatsache, dass die philosophes nicht Philosophen im eigentlichen Sinne des Wortes waren. Sie waren Eklektiker : ebenso sehr Erben von Platon und Descartes wie Schüler von Locke und Hume, von philosophischem Rationalismus und von empirischem Skeptizismus, von Leibniz und von Condillacs Assoziationstheorie. Nicht einmal einer der Begründer des Utilitarismus, wie Helvétius, oder einer der bedeutendsten Lehrer des materialistischen Determinismus, wie Holbach, haben je ihre Stellung unzweideutig klargemacht. Es muss hier jedoch herausgestellt werden, was alle Denker des achtzehnten Jahrhunderts in ihren grundlegenden Prämissen verband, soweit es den Gegenstand unserer Untersuchung berührt. In den Fußstapfen von Descartes wandelnd, glaubten die philosophes an eine objektive, an sich bestehen45 46

Vgl. Holbach, Système de la nature, Band 1, Vor wort, Kapitel I, S. 1–15, 265. Vgl. ebd., Band 2, Kapitel VII, S. 250.

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de Wahrheit, die vom Menschen erkannt werden könne und auch erkannt werde.47 Für Holbach war Wahrheit die Übereinstimmung unserer Gedanken mit der Natur der Dinge.48 Helvétius glaubte, die kompliziertesten metaphysischen Lehrsätze ließen sich auf Tatsachenfeststellungen zurückführen, wie weiß ist weiß und schwarz ist schwarz.49 Die Natur habe es so eingerichtet, dass eine direkte und untrügliche Beziehung bestehe zwischen den Dingen und unserem Erkenntnisvermögen. Helvétius, Holbach und Morelly sagen wiederholt, Irrtum sei nur ein Zufall. Wir würden alle richtig sehen und urteilen, wenn nicht Unwissenheit uns daran hinderte oder die besonderen Leidenschaften und Interessen, die unser Urteil trüben; all dies sei eine Folge falscher Erziehung oder durch Egoismus der Klassen her vorgerufen. Jeder ist fähig, die Wahrheit zu entdecken, wenn sie im richtigen Licht dargestellt wird.50 Jedes Mitglied von Rousseaus „Souverän“ muss zwangsläufig den Allgemeinen Willen wollen. Denn der Allgemeine Wille ist letzten Endes eine kartesische Wahrheit.51 Helvétius geht so weit, alle inhärenten Unterschiede in Fähigkeit und Talent zu bestreiten. Diese seien nichts als das Ergebnis von Umständen und Zufall. Durch einheitliche Erziehung aller Kinder unter Bedingungen, die untereinander so ähnlich wie nur möglich sein sollten, und durch Vermittlung der gleichen Eindrücke und Assoziationen würden die Unterschiede in Talent und Fähigkeit auf ein Mindestmaß herabgesetzt. Mit welchem Eifer wurde diese Theorie von den egalitären Revolutionären, insbesondere von Buonarroti, aufgegriffen ! Genie kann gezüchtet werden, und man kann geniale Menschen planmäßig vermehren, lehrte Helvétius.52 Die Denker des achtzehnten Jahrhunderts, Rationalisten wie auch Empiristen, empfanden es nicht als inkongruent, sich zu rühmen, dass ihre Theorien, im Gegensatz zu ihren Widersachern, nur auf Erfahrung gegründet seien. Sie wurden nie müde, Beobachtung und Studium des Menschen zu fordern, um daraus sein Verhalten und seine wirklichen Bedürfnisse zu erkennen. Aber diese Betonung der Empirie richtete sich nicht gegen den philosophischen Rationalismus, sondern nur gegen die autoritäre Offenbarungsreligion und 47 48 49

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Vgl. Michel, L’Idée de l’État, S. 67 f. Vgl. Holbach, Système social, Band 1, Kapitel II, S. 18 : „La vérité est la conformité de nos idées avec la nature des choses.“ Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion II, Kapitel XXIII, S. 246–251 : „Es gibt keine Wahrheit, die nicht auf eine Tatsache zurückführbar ist.“ Vgl. auch ebd., Kapitel XIX, S. 225. Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 3, Vor wort, S. 5–12, Sektion I, Kapitel X, S. 63 f.; ders., De l’esprit, Band 1, Discours I, Kapitel IV, S. 171, Discours II, Kapitel XXIV, S. 383–398; Band 2, Discours III, Kapitel XXVI, S. 216 f.; Condorcet, Outlines, S. 26. Vgl. Hubert, Les Sciences sociales, S. 166–190. Vgl. Helvétius, De l’esprit, Band 2, Discours III, Kapitel XXX, S. 245–259; ders., De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel I, S. 24 f., Sektion II, Kapitel I, S. 106–111.

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Gesellschaftsordnung und Freiheit ( Helvétius und Holbach )

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gegen die Lehren der Tradition. Ihr empiristischer Standpunkt wurde verfälscht durch die rationalistische Prämisse des Menschen „an sich“, einer menschlichen Natur als solcher, deren bestimmende Eigenschaft die Vernunft war oder Vernunft und Eigenliebe.53 Gibt es aber ein solches Wesen wie den Menschen an sich, und haben wir alle, wenn wir unsere Zufallsmerkmale ablegen, Anteil an der gleichen Substanz, dann wird ein universales System der Sittlichkeit, das auf ganz wenigen und den einfachsten Prinzipien basiert, nicht nur zur greifbaren Möglichkeit, sondern zur Gewissheit. Ein solches System wäre in seiner Genauigkeit mit der Geometrie vergleichbar und damit der Lieblingstraum der Philosophen seit Locke ver wirklicht.54 Da dieses universale System der Ethik eine Sache der intellektuellen Erkenntnis sein soll und die Natur ganz sicher die sittliche Ordnung als zweckmäßig und glückfördernd beabsichtigt hat, wird es nun völlig klar, dass alle bestehenden Übel, alles Chaos und Elend ganz einfach eine Folge von Irrtümern oder Unwissenheit sind. Aber der Mensch ist nicht nur ein Geschöpf voller Vernunft, sondern auch gekennzeichnet durch seine individuelle und unberechenbare Leidenschaft. „Wird die Einfachheit und Gleichartigkeit dieser Prinzipien sich mit den verschiedenen Leidenschaften der Menschen vertragen ?“55 Helvétius’ Antwort auf seine eigene Frage lautet : So verschieden auch die Wünsche der Menschen sein mögen – ihre Art, die Dinge anzusehen, sei im Wesentlichen die gleiche. Es liege kein Grund vor, die gegenwärtige Weigerung des Individuums, seine leidenschaftliche Natur der Vernunft unterzuordnen, als eine Tatsache hinzunehmen, die selbstverständlich ist und immer so sein wird.56 Und hier fand die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts eine gewaltige Stütze in Condillacs Assoziationspsychologie, die ihre Wurzeln in Locke hatte. Die Seele – so wurde erklärt – ist bei der Geburt eine Tabula rasa ohne angeborene Gedan53

54

55 56

Vgl. Holbach, Système social, Band 1, S. 45; Band 2, Kapitel I, S. 5–7; ders., Système de la nature, Band 1, Vor wort; Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XXIV, S. 383–398; Morelly, Code de la nature, S. 10 f. Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion II, Kapitel XIX, S. 225 : Ein gemeinsames Lexikon für die gesamte Menschheit, [...] um „alle diese Narren, die unter der Bezeichnung Metaphysiker“ auftreten, zu beschämen. „Wenn dann die Lehrsätze der Moral, Politik [...] so beweisbar werden wie die Lehrsätze der Geometrie, werden alle Menschen [...] die gleichen Ideen haben, [...] alle [...] werden notwendiger weise dieselben Beziehungen zwischen denselben Objekten wahrnehmen.“ Vgl. außerdem Holbach, Système social, Band 1, S. 55 : „En partant de l’homme lui - même, on trouvera facilement la morale qui lui convient. Cette morale sera vraie, si l’on voit l’homme tel qu’il est. [...] principes [...] évidents, [...] capable[ s ] d’être aussi rigoureusement démontré[ s] que l’arithmétique ou la géométrie.“ Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel X, S. 63. Vgl. Helvétius, De l’esprit, Band 2, Discours III, Kapitel XXVI, S. 216 f.

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Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert

ken, Eigenschaften oder Laster. Diese alle werden durch Erziehung, Umgebung und Assoziation von Gedanken und Eindrücken geformt.57 Der Mensch ist ein bildungsfähiges Geschöpf, von Natur aus weder gut noch schlecht, eher gut insofern, als er sich dem anpasste, was die Natur mit ihm beabsichtigte. All seine tatsächliche Schlechtigkeit und Lasterhaftigkeit ist die Folge schlechter Institutionen und kann noch weiter zurückverfolgt werden bis zu der „ersten kleinen Kette“ von Übeln, dem ursprünglichen verhängnisvollen Irrtum, wie Morelly und Holbach es nannten, nämlich der Vorstellung, der Mensch sei schlecht. Die auf dieser Prämisse aufgebauten Institutionen und Gesetze sind dazu angetan, den Menschen und sein Bestreben zum Scheitern zu bringen. Sie reizen den Menschen und machen ihn schlecht, und das eben werde dann von den Machthabern als weitere Rechtfertigung ihrer Unterdrückungsmethoden benutzt.58 Der Mensch, so sagte man, ist ein Produkt seiner Erziehung. Erziehung im weitesten Sinn des Wortes, einschließlich der Gesetze natürlich, ist also imstande, den Menschen mit der universalen sittlichen Ordnung und mit der objektiven Wahrheit in Einklang zu bringen. Sie kann ihn lehren, sich von den Leidenschaften und dringenden Wünschen, die der harmonischen Ordnung entgegenwirken, freizumachen und in sich Leidenschaften zu entwickeln, die für die Gesellschaft nützlich sind. In einer Gesellschaft, die sich der Kirche entledigt hat und die die soziale Nützlichkeit als einzigen Maßstab kennt, musste Erziehung, ebenso wie alles andere, zwangsläufig ihren Brennpunkt im Regierungssystem haben. Erziehung ist Sache der Regierung. Helvétius, Holbach, Mably, die Physiokraten und andere glaubten, ebenso wie Rousseau selbst, der Mensch sei letzten Endes nichts als das Produkt der staatlichen Gesetze und es gebe nichts in der Kunst der Menschenformung, was eine Regierung nicht fertigbringen könne.59 Wie fasziniert war Helvétius von der 57 58

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Vgl. Becker, Heavenly City, S. 65, 138; Holbach, Système de la nature, Band 1, Kapitel VII, S. 110–114; ders., Système social, Band 1, S. 47–49. Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 9–11, 16, 26, 31, 52, 65, 70, 84; Helvétius, De l’homme, Band 3, Vor wort, S. 5–12, Sektion IV, Kapitel XI, S. 338; Holbach, Système de la nature, Vor wort, Kapitel IX, S. 169; ders., Système social, Band 1, 6–16, 47–49, 51–54, 187; Band 2, Kapitel I, S. 5–7; Mably, De la législation, Band 1, S. 43 f. Vgl. Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XVII, S. 322 f., Kapitel XXIV, S. 370–398; ders., De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel I, S. 24 f., Sektion II, Kapitel I, S. 106–111; Holbach, Système social, Band 1, S. 7 ff., 47 ff., 59; Band 3, Kapitel I, S. 5–15; ders., Système de la nature, Band 1, Kapitel IX, S. 169–171, 175–178; Mably, De la législation, Band 2, S. 31 : „Rien n’est impossible à un législateur [...]; il tient, pour ainsi dire, notre cœur et notre esprit dans ses mains, il peut faire des hommes nouveaux.“ Vgl. außerdem Rousseau, Confessions, Neuntes Buch S. 288 f.; Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Économie politique, S. 248; Band 2, Contrat social, Einleitung Vaughans, S. 3.

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Macht und Größe des Gründers eines Klosterordens, dem die Möglichkeit gegeben war, den Menschen im Naturzustand, außerhalb des Dickichts von Tradition und Umständen, die sich im Lauf der Zeit angehäuft hatten, zu bilden, der Regeln aufstellen konnte, durch die der Mensch wie Lehm geknetet wurde.60 Der von Rousseau so in Ehren gehaltene „Gesetzgeber“ ist nichts anderes als der große Erzieher.

2. Eigennutz Das Problem des menschlichen Eigennutzes ist der Zentralpunkt der Theorie des achtzehnten Jahrhunderts. Prima facie ist des Menschen Eigenliebe dazu angetan, die Klippe zu bilden für das Scheitern jeder harmonischen Gesellschaftsordnung. Die Denker des achtzehnten Jahrhunderts bezeichneten sie jedoch als das wichtigste Unterpfand sozialer Kooperation. Sie priesen sie als die wertvollste Gabe der Natur. Ohne den Wunsch nach Glück und Freude würde der Mensch in Trägheit und Gleichgültigkeit versinken und hätte, wie Helvétius, Rousseau, Morelly, Mably, Holbach und alle anderen übereinstimmend erklärten, niemals seine wahre Selbsterfüllung erreicht, die nur in der organisierten Gesellschaft und innerhalb ihres Beziehungssystems zustande kommen konnte.61 Eigenliebe sei die einzige Grundlage der Sittlichkeit, denn sie sei das realste und lebendigste Element im Menschen und innerhalb seiner Beziehungen. Sie biete daher einen einfachen und sicheren Maßstab für die Beurteilung, wie Menschen handeln und was sie befriedigen könne. Aber der Hauptwert des Prinzips liege darin, dass im natürlichen Zustand der Eigennutz nicht etwa den Menschen in unvermeidliche Gegensätze zu seinen Mitmenschen und der Gesellschaft bringe, sondern die Menschen zueinander führe, wie nichts anderes – keinerlei transzendente Gebote – es vermocht hätten.62 Eigenliebe, wie Morelly sie definiert, ist von Natur aus unlöslich verknüpft mit dem Instinkt des Wohlwollens und spielt so in der Sphäre der sozialen Beziehungen die gleiche Rolle wie Newtons Gravitationsgesetz in der physikalischen Welt.63 Nach Helvétius und Holbach hat die Natur es so eingerichtet, dass der Mensch nicht glücklich sein kann ohne das Glück anderer und ohne dass er andere glück60 61 62

63

Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel XII–XV, S. 67–86. Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 26, 70; Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours I, Kapitel IV, S. 165–167, Discours II, Kapitel II, S. 182 f., Kapitel VII, S. 219–228. Vgl. Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours I, Kapitel IV, S. 163, Discours II, Kapitel XXIV, S. 383–398; ders., De l’homme, Band 3, Sektion IV, Kapitel I, S. 300, Kapitel X, S. 332 f.; Mably, De la législation, Band 1, S. 28–31. Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 59.

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lich macht. Nicht nur, weil er den Anblick des Glücks in anderen braucht, um selbst glücklich zu sein, sondern auch, weil infolge kosmischer Pragmatik unsere Lebenswege und Interessen in einer höheren Einheit so verknüpft sind, dass der Mensch, der für sein eigenes Wohlergehen wirkt, dadurch unweigerlich auch anderen und der Gesellschaft hilft. Holbach nennt den lasterhaften Menschen einen schlechten Rechner. Tugend sei nichts anderes als die kluge und weise Auswahl dessen, was für ihn selbst und gleichzeitig auch für andere wahrhaft nützlich ist. Vernunft sei die geistige Fähigkeit, die richtige Wahl zu treffen, und Freiheit das praktische Wissen um das, was dem Glück förderlich ist, verbunden mit der Geschicklichkeit, es in die Tat umzusetzen. Die eigenen Interessen aufzugeben, sei nicht erforderlich.64 Im Gegenteil, ein Gesetzgeber, der das verlangt, wäre mit Mablys Worten wahnsinnig.65 Es könne vom Einzelnen verlangt werden, dass er auf gegenwärtige Vorteile verzichte, um sie gegen zuverlässigere und dauerhaftere Gewinne in der Zukunft auszutauschen. Er könne im eigentlichen Sinne aufgefordert werden, seine Seele zu verlieren, um sie wiederzugewinnen, einige selbstsüchtige Interessen an die Gesellschaft abzutreten, um eine Vermehrung des großen Gesamtwohls zu ermöglichen, aus dem zwangsläufig sein eigenes Sonderinteresse fließt. Denn wenn Gruppeninteressen innerhalb der Gesellschaft beseitigt und durch ein Allgemeininteresse ersetzt werden, das von der menschlichen Natur abgeleitet und daher allen in gleichem Maße eigen ist, dann ist das allgemeine Interesse nichts anderes als das eigene individuelle Interesse großgeschrieben. Das wahre Interesse des Menschen ist dem allgemeinen sozialen Wohl immanent.66 Selbstsucht und Laster lohnen nicht. In Worten, die an Platon erinnern, spricht Holbach von einer Harmonie der Seele, die Glück bedeute und dann entstehe, wenn der Mensch mit sich und seiner Umgebung im Frieden sei.67 Der Mensch, der von Leidenschaften zerrissen, von Habgier geplagt, von Misserfolg niedergedrückt, von verschiedenartigen Trieben umhergestoßen werde, sei in seiner Harmonie gestört und werde unglücklich. Kurz, sogar vom streng utilitarischen Gesichtspunkt aus ist die Tugend ihr eigener Lohn. Dem tugendhaften Menschen, so werden unsere Schriftsteller nicht müde zu wiederholen, kann es an seinem Glücke nicht fehlen. Am glücklichsten sei der Mensch, der erkennt, dass sein Glück in der Anpassung an die notwendige Ordnung der 64

65 66 67

Vgl. Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours I, Kapitel IV, S. 165–167; Holbach, Système social, Band 1, S. 17 ff., 55 f., 62 f., 68, 158–166; ders., Système de la nature, Band 1, Vor wort, Kapitel IX, S. 160 ff., Kapitel XII, S. 267 ff., 282 ff., 287 f., Kapitel XV, S. 374 f., 386, 396 f., Kapitel XVII, S. 422 ff. Vgl. auch Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 30–32, 36 f. Vgl. Mably, De la législation, Band 2, S. 89 f. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 28–31, 34, 43, 55, 84. Vgl. Holbach, Système social, Band 1, S. 157 f.

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Dinge besteht, was nichts anderes ist als Streben nach Glück in Harmonie mit anderen. Alles Unglück sei die Folge eines vergeblichen Versuchs, sich gegen die Natürliche Ordnung zu stemmen, von der aber der Mensch nicht ohne Gefahr für sich selbst abweichen könne.68 Alles Elend und Laster rühre daher, wie Rousseau sagte, dass der Mensch seine „amour - propre“ über seine „amour de soi“, über die rechtmäßige und natürliche Eigenliebe stelle. Was nützlich ist, sei auch tugendhaft und wahr. Nicht im Sinne einer begrenzten Pragmatik, dass wahr ist, was in bestimmten eng gezogenen Grenzen Ergebnisse zeitigt, sondern auf Grund einer Art von kosmischer Pragmatik. Von Natur aus sollten alle Dinge sich harmonisch ineinanderfügen, und ihre Zweckmäßigkeit werde durch den Erfolg erwiesen. Ihre Zweckmäßigkeit sei ihre Wahrheit, denn das Weltall stelle zur gleichen Zeit ein System von Wahrheiten und eine wunderbare Maschine dar, dazu geschaffen, Ergebnisse zu zeitigen. Die harmonische Gesellschaftsordnung könne in ihrer Entwicklung nicht sich selbst überlassen werden. Um die Absichten der Natur zu ver wirklichen, sind wohler wogene Maßnahmen notwendig. Die natürliche Identität der Interessen müsse durch die künstliche Identifizierung der Interessen nachgebildet werden.69 Es sei die Aufgabe des Gesetzgebers, soziale Harmonie herbeizuführen, also das rein persönliche Wohl mit dem Gesamtwohl in Einklang zu bringen.70 Der Gesetzgeber muss, wie sich Helvétius ausdrückte, Mittel finden, um die Menschen in die Notwendigkeit zu versetzen, tugendhaft zu sein. Dies kann durch Institutionen, Gesetze, Erziehung und durch ein passendes System von Belohnung und Strafe geschehen. Der Gesetzgeber kann den Instinkt der Eigenlie68

69 70

Vgl. Mably, Droits et devoirs, S. 16–19, 28 f., 40, Holbach, Système de la nature, Band 1, Kapitel IX, S. 160 ff., Kapitel XII, S. 267 ff., 282 ff., 287 f., Kapitel XV, S. 374 f., 386, 396 f., Kapitel XVII, S. 422 ff. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 43, 55, 84; ders., Droits et devoirs, S. 16–19, 28 f., 40. Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 20, 26, 31, 84; Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XV, S. 308; ders., De l’homme, Band 4, Sektion IX, Kapitel I, S. 207–210; Holbach, Système de la nature, Band 1, Kapitel IX, S. 169 f. Vgl. auch Mirabeau der Ältere : „Il s’agit aujourd’hui de faire que l’intérêt personnel et physique de chaque homme devienne le lien des hommes entre eux et le mobile de tous leurs rapports. On sait assez que cet intérêt, s’il n’est éclairé, est la pomme de discorde qui sépare les hommes et les rend ennemis les uns des autres. Toute la science législative et politique, tout le grand œuvre des amis des hommes consiste donc à les éclairer tous sur la nature de cet intérêt personnel, sur les principes qui l’établissent, sur les conséquences qui l’étendent et le lient aux autres intérêts et par suite à l’intérêt général, et enfin sur le point de réunion auquel tous les intérêts humains aboutissent.“ Zit. in Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 44 f. Vgl. auch ebd., S. 36 f.

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be ausnutzen und dadurch den Menschen zwingen, gerecht zu anderen zu sein. Er ist in der Lage, menschliche Leidenschaften in einer Weise zu lenken, dass sie gute Früchte tragen, anstatt sich zerstörerisch auszuwirken. Es ist der Zweck der Gesetze, den Menschen zu lehren, wo sein wahres Interesse liegt – im Grunde genommen nur ein anderer Ausdruck für Tugend. Das kann erreicht werden durch eine klare und wirksame Verteilung von Lohn und Strafe. Ein geeignetes Erziehungssystem im weitesten Sinn würde im Menschen eine feste Verbindung der Vorstellung von Tugend mit Belohnung, und von Laster mit Strafe herstellen, wor unter natürlich auch öffentliche Anerkennung und Ablehnung fallen.71 „Die ganze Kunst dieser erhabenen Architektur besteht darin, Gesetze zu schaffen, die weise und klug genug sind, um meine Eigenliebe in solcher Weise zu lenken, dass ich sozusagen meinen besonderen Vorteil außer Acht lasse und für das Opfer dann freigiebig belohnt werde“,72 schrieb Mably. Es ist eine Frage der äußeren Maßnahmen, gleichzeitig auch der Erziehung. Mit Hilfe geeigneter Einrichtungen und Maßnahmen wird das persönliche Wohl aus dem Allgemeinwohl zurückfließen, so dass für den Bürger, dessen berechtigte Bedürfnisse befriedigt werden, kein Anreiz besteht, unsozial zu sein. Das kann ihm voll bewusst gemacht werden und wird ihn veranlassen, sich entsprechend zu verhalten. Helvétius und Holbach lehrten, das irdisch - zeitliche Interesse allein reiche aus, wenn es geschickt gehandhabt würde, um tugendhafte Menschen zu formen. Gute Gesetze allein machen tugendhafte Menschen. Daher sei das Laster in der Gesellschaft nicht eine Folge der Verderbtheit der menschlichen Natur, sondern die Schuld des Gesetzgebers. Diese Feststellung verliere auch nicht an Gültigkeit, wenn zugegeben werde, dass der Mensch, so wie er ist, natürlich immer sein persönliches Wohl dem Allgemeinwohl vorziehen wird. Denn der Mensch sei nur ein rohes Element im Gebäude der gesellschaftli-

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72

Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion IV, Kapitel XIII, S. 347 f.; Band 4, Sektion VI, Kapitel XVI, S. 54–56; Sektion X, Kapitel VII, S. 354 f.; ders., De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XXIV, S. 383–398, bes. S. 394–396; Band 2, Discours III, Kapitel IV, S. 34–36. Siehe auch ders., De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XXII, S. 375 : „Das ganze Studium der Moralisten besteht darin festzustellen, wie jene Belohnungen und Strafen angewandt werden sollen und welche Hilfe bei der Verbindung des persönlichen mit dem allgemeinen Interesse aus ihnen gezogen werden kann. Diese Verbindung ist das Meisterstück, das die Moralisten sich zum Ziel setzen sollten. Wenn der Bürger seine eigene private Glückseligkeit nicht erlangen könnte, ohne die der Öffentlichkeit zu fördern, würde niemand außer Toren lasterhaft sein. Alle Menschen würden notwendiger weise tugendhaft sein, und das Glück der Nationen würde sich zum Segen der Moral auswirken.“ Mably, Doutes, S. 248. A. d. Hg. : Das Zitat wurde sehr frei übersetzt. Vgl. auch Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 36 f.

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chen Harmonie. Es bestehe die Möglichkeit einer Gesetzgebung, in der niemand unglücklich wäre außer den Toren und solchen Menschen, die von Natur verkrüppelt sind, und niemand lasterhaft außer Unwissenden und Dummköpfen. Wenn eine solche Gesellschaft noch nicht entstanden sei, so liege das nicht am Menschen, sondern daran, dass die Regierungen es bisher versäumt haben, den Menschen durch die Erziehung und durch die richtigen Gesetze zu formen. Denn um die Natürliche Ordnung wieder herzustellen, müsste eine totale Veränderung der gegenwärtigen menschlichen Natur erfolgen. So wird die natürliche Identität der Interessen völlig überschattet von dem Postulat ihrer „künstlichen Identifizierung“.73 Bis jetzt sei die Erziehung dem Zufall überlassen und zur Beute falscher Grundsätze gemacht worden. Jetzt aber sollte man sich daran erinnern, dass alle Glückseligkeit die Folge von Erziehung sei. Die Menschen „haben das Werkzeug zu ihrer Größe und ihrem Glück in ihren eigenen Händen, und um glücklich und mächtig zu sein, ist nichts anderes erforderlich, als die Wissenschaft von der Erziehung zu ver vollkommnen“.74 Gesetzgeber, Sittenlehrer und Natur wissenschaftler sollten sich zusammentun, um den Menschen zu formen nach ihren Lehren, deren Folgerungen im gleichen Punkt zusammentreffen. Regierungen haben es in ihrer Macht, Genies zu züchten, den Standard der Fähigkeit in einer Nation zu heben oder zu senken. Dies habe, so betonen Helvétius und Holbach, nichts mit Klima oder Geographie zu tun. Da menschliches Denken so wichtig sei für die Einstellung des Menschen zum Allgemeinwohl und zu seinen Mitbürgern, sowie für die harmonische Ordnung im Allgemeinen, sei es nur natürlich und notwendig, dass eine Regierung ein tiefes Interesse daran habe, die Gedanken der Menschen zu formen und eine Zensur über die Gedanken auszuüben.75

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Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion IV, Kapitel X, S. 332 f., Kapitel XII, S. 341–345, Kapitel XIV, S. 348 f.; Band 4, Sektion IX, Kapitel VI, S. 238 f.; ders., De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XXIV, S. 394–398; Band 2, Discours III, Kapitel XVI, S. 148–151, Kapitel XXIV, S. 199; Morelly, Code de la nature, S. 20, 31; Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 30–32, 36 f.; Holbach, Système de la nature, Band 1, Kapitel VII, S. 119 f. Siehe auch Halévy, Philosophic Radicalism, S. 8 f., 17, über die Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Harmonie. Helvétius, De l’homme, Band 3, Introduction, S. 15. Vgl. Willey, Eighteenth Century Background, S. 155–167 ( über Holbach ). Zu den Physiokraten siehe Lemercier de la Rivière, L’Ordre naturel, Band 1, Kapitel XXI, S. 265–277; Sée, L’Évolution de la pensée, S. 203–213.

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Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert

3. Die Natürliche Ordnung, der Gesetzgeber und das Individuum Diese Gedanken über den Eigennutz und die Macht der Erziehung haben starke politische und soziale Auswirkungen. Da Recht nur in seiner Beziehung zur sozialen Nützlichkeit Bedeutung hat, ist es klar, dass eine gerechte Handlung eine solche ist, die der größeren Zahl nützt. Man könnte daher sagen, Sittlichkeit bestehe in dem Interesse der größeren Zahl. Die größere Zahl verkörpere das Recht. „Es ist offensichtlich“, sagt Helvétius, „dass Recht nach seiner eigenen Natur immer mit genügend Macht ausgestattet ist, um Laster zu unterdrücken und die Menschen dazu zu bringen, tugendhaft zu sein.“76 Warum haben die wenigen, die eine Minderheit und daher ein unmoralisches Interesse vertreten, so lange die größere Zahl beherrscht ? Infolge von Unwissenheit und irreführenden Einflüssen. Die bestehenden Gewalten seien daran interessiert, die Unwissenheit zu erhalten und das Wachstum von Genie und Tugend zu verhindern. Es sei daher klar, dass eine Erziehungsreform nicht ohne Wechsel der politischen Verfassung stattfinden könne. Die Kunst, den Menschen zu formen, mit anderen Worten Erziehung, hänge letzten Endes von der Regierungsform ab. Eigenliebe, auf das politische Gebiet übertragen, bedeute Liebe zur Macht. Politische Klugheit bestehe nicht darin, sich diesem natürlichen Instinkt entgegenzustellen, sondern ihm die richtige Auswirkung zu ermöglichen. Die Befriedigung dieses Dranges sei der Tugend ebenso förderlich wie die Befriedigung des berechtigten menschlichen Eigennutzes. Von diesem Gesichtspunkt erscheine die Demokratie als das beste System, denn sie befriedige die Liebe zur Macht aller oder der meisten.77 Die totalitären Möglichkeiten dieser Philosophie sind auf den ersten Blick nicht ganz klar. Aber sie sind dennoch gewichtig. Allein der Gedanke eines in sich geschlossenen Systems, aus dem alles Übel und Unglück ausgerottet wurde, ist totalitär. Die Annahme, dass eine solche Ordnung der Dinge möglich und sogar unvermeidlich sei, ist eine Aufforderung an ein herrschendes System zu verkünden, es verkörpere diese Ver vollkommnung, um von seinen Bürgern Anerkennung und Unter werfung zu erzwingen und Opposition als Laster oder Verderbtheit zu brandmarken.78 Die größte Gefahr dieses Systems liegt in der Tatsache, dass es nicht nur dem Menschen seine Freiheit und seine Rechte nicht ver weigert und keine 76 77 78

Helvétius, De l’esprit, Band 1, Discours II, Kapitel XXIV, S. 385. Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel XIII, S. 70–73, Sektion IV, Kapitel X, S. 333 f., Kapitel XIII, S. 345–348. Vgl. Helvétius, Lettre d’Helvétius au président de Montesquieu, S. 215 : „Es gibt nur zwei Formen des Regierens, die gute und die schlechte.“ Vgl. auch Morelly, Code de la nature, S. 48.

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Opfer und Unter werfung von ihm verlangt, sondern ihm feierlich Freiheit und Rechte sowie menschlichen Eigennutz von neuem bekräftigt. Es behauptet, keine anderen Ziele zu haben als deren Ver wirklichung. Solch ein System hat alle Aussicht, umso totalitärer zu werden, gerade weil es alles im Vorhinein gewährt und alle liberalen Prämissen a priori akzeptiert. Denn es behauptet, definitionsgemäß imstande zu sein, sie quasi durch positive Maßnahmen zu befriedigen und nicht dadurch, dass es sie sich selbst überlässt und aus der Entfernung über sie wacht. Wenn eine Regierungsform definitionsgemäß als Rechte und Freiheit ver wirklichend angesehen wird, wird dem Bürger jedes Recht genommen, sich darüber zu beklagen, dass ihm Rechte oder Freiheit gekürzt werden. Den frühesten praktischen Beweis hierfür lieferte das jakobinische Regime.79 So kann im Falle Rousseaus sein Souverän vom Bürger den vollen Verzicht auf alle seine Rechte, Güter, Vollmachten sowie auf Person und Leben verlangen und doch behaupten, dass dabei keine wirkliche Preisgabe stattfände. Der Gedanke allein, sich gewisse Rechte einzubehalten und einen Anspruch gegen den Souverän zu stellen, schließt nach Rousseau eine Abweichung vom Allgemeinen Willen ein. Der Vorbehalt, der Allgemeine Wille könne keinen größeren Verzicht verlangen oder erzwingen als in der Beziehung zwischen ihm und dem Untertan enthalten ist, ändert nichts an der Sache, da es dem Souverän überlassen bleibt zu entscheiden, was aufgegeben werden muss und was nicht. Rousseaus Souverän kann, ebenso wie die Natürliche Ordnung, definitionsgemäß nichts anderes tun als die menschliche Freiheit sichern. Er kann keinen Grund oder Anlass haben, dem Bürger zu schaden. Das wäre für ihn ebenso unmöglich, wie es in der Welt der Dinge unmöglich wäre, dass irgendetwas ohne Ursache geschieht.80 79

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Vgl. Holbach, Système social, Band 2, S. 8 ff., 13 f., 21, 42 ff.; Band 3, S. 27 ff.; ders., Système de la nature, Band 1, Kapitel IX, S. 170 ff., Kapitel XII, S. 272 f., 281 ff., Kapitel XI, S. 370 ff. In Holbach, Politique naturelle, sowie in seinen anderen Schriften erscheint Holbach als das, was man einen gemäßigten bürgerlichen Liberalen nennen könnte; er hat eine umfassendere politische Philosophie als Helvétius, siehe Lion, Les Idées politiques et morales de d’Holbach sowie ders., La Morale universelle de d’Holbach. Siehe außerdem Helvétius, De l’homme, Band 3, Sektion I, Kapitel XIII, S. 70– 73; ders., De l’homme, Band 4, Sektion IX, Kapitel I, S. 209, Kapitel VI, S. 238 f. Vgl. Mably, Droits et devoirs, S. 10 f. : „Les hommes sont sortis des mains de la nature parfaitement égaux, par conséquent sans droits les uns sur les autres et parfaitement libres [...], ne [...] dicte qu’une seule loi : c’est de travailler à nous rendre heureux. [...] Tout appartenait à chacun d’eux; tout homme était une espèce de monarque qui avait droit à la monarchie universelle.“ Eine frappierende Illustration des inneren Zusammenhangs von extremem Individualismus und Kommunismus, siehe Espinas, La Philosophie sociale, S. 112 f. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Économie politique, S. 252 f.; ebd., Discours sur l’inégalité, S. 118–220; ebd., Contrat social ( erste Fassung ), S. 471;

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Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert

Es ist nicht nötig her vorzuheben, dass weder Helvétius, Holbach noch irgendein anderer aus ihrer Schule rohe Gewalt oder offenen Zwang als Mittel für die Ver wirklichung des Natürlichen Systems ins Auge fassten. Nichts konnte ihnen ferner liegen. Lockes drei Freiheiten spielen eine her vorragende Rolle in all ihren gesellschaftlichen Katechismen. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass ein Widerspruch entstehen könnte zwischen der Natürlichen Gesellschaftsordnung und den Freiheiten, den wirklichen Freiheiten des Menschen. Je größer die Freiheit, umso näher, so glaubten sie, war die Ver wirklichung der Natürlichen Ordnung. Im Natürlichen System wäre es einfach nicht nötig, freien Ausdruck zu beschränken. Widerstand gegen die Natürliche Ordnung wäre undenkbar, außer von Toren und verdorbenen Einzelnen.81 Die Physiokraten zum Beispiel waren führend in ihrer Betonung einer natürlichen Gesellschaftsordnung, die „einfach, beständig, unwandelbar“ sei und unter Beweis gestellt werden könne.82 Lemercier de la Rivière predigte „Despotismus des Beweises“ in menschlichen Angelegenheiten. Der absolute Monarch sei die Verkörperung der „force naturelle et irrésistible de l’évidence“, die jede willkürliche Handlung seitens der Ver waltung ausschließt.83 Die Physiokraten bestanden gleichzeitig auf der Freiheit der Presse und dem „vollen Genuss“ der Menschenrechte durch das Individuum. Eine Regierung, die auf der Grundlage wissenschaftlicher Beweise geführt würde, könne eine freie Presse und individuelle Freiheit nur fördern ! Die Anhänger des natürlichen Systems im achtzehnten Jahrhundert übersahen, dass mit der Aufstellung einer positiven Ordnung die Freiheiten, die mit ihr verbunden gedacht sind, auf ihren Rahmen beschränkt werden und außerhalb ihres Bereichs ihre Gültigkeit und ihre Bedeutung verlieren. Das Gebiet außerhalb dieses Rahmens wird zu bloßem Chaos, auf das der Freiheitsgedanke einfach nicht zutrifft, und so ist es möglich, immer weiter Freiheit zu bejahen und sie doch zu versagen. Robespierre war nur der erste unter den

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Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Émile, S. 151; ebd., Contrat social, Erstes Buch, Kapitel VII, S. 35 : „Die souveräne Macht bedarf den Untertanen gegenüber keiner Bürgschaft. [...] Dadurch allein, dass er existiert, ist der Souverän immer, was er sein soll.“ Zu Rousseau siehe außerdem die Anmerkungen in der Einleitung („4. Weltlicher und religiöser Messianismus“) sowie im ersten Teil ( Abschnitt „I. 1. Das alleinige Prinzip“). Vgl. Holbach, Système social, Band 3, S. 27 ff.; Mably, Droits et devoirs, S. 28–31; Helvétius, De l’homme, Band 4, Sektion IX, Kapitel I, S. 209, Kapitel VI, S. 238 f. Vgl. Lemercier de la Rivière, L’Ordre naturel, Band 1, Kapitel VI, S. 59–71. Zu den Physiokraten siehe Sée, L’Évolution de la pensée, S. 208–215. Lemercier de la Rivière, zit. in Sée, L’Évolution de la pensée, S. 210. Vgl. auch ebd., S. 211 : „Il est donc nécessaire que l’opinion soit éclairée et, par conséquent que la pensée soit libre, que toutes les opinions soient permises.“ Siehe außerdem Lemercier de la Rivière, L’Ordre naturel, Band 1, Kapitel XII, S. 94, Kapitel IX, S. 95–106.

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europäischen Revolutionären, der unter der alten Ordnung der entschiedenste Verfechter der Pressefreiheit war und zum erbitterten Feind der Oppositionspresse wurde, nachdem er erst einmal an der Macht war. Denn, um den berühmten Sophismus zu zitieren, der in der späteren Periode der Revolution gegen die Pressefreiheit vorgebracht wurde, schon das Verlangen nach einer freien Presse zur Zeit des Sieges der Revolution ist konterrevolutionär. Es bedeutet die Freiheit, die Revolution zu bekämpfen, denn um die Revolution zu unterstützen, bedarf es keiner besonderen Erlaubnis. Und eine Freiheit, die Revolution zu bekämpfen, kann es nicht geben. Bei genauerer Untersuchung führt die Idee der Natürlichen Ordnung zur Antithese ihres ursprünglichen Individualismus. Obwohl prima facie das Individuum der Anfang und das Ende von allem ist, entscheidet in Wahrheit der Gesetzgeber. Seine Aufgabe ist es, den Menschen nach einer bestimmten Vorstellung zu formen. Das Ziel ist nicht, den Menschen, so wie sie sind, zu erlauben, sich frei und so vollständig wie möglich auszuleben und ihre Eigenart zu behaupten. Alles Bestreben muss vielmehr dahin gehen, die richtigen objektiven Bedingungen zu schaffen und die Menschen so zu erziehen, dass sie sich in die Ordnung der tugendhaften Gesellschaft einfügen.84

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Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 4, Sektion IX, Kapitel IV, S. 231–233 : „Angenommen, diese Gesetzgebung sei die geeignetste, die Menschen glücklich zu machen, auf welche Weise kann ihr Fortbestand gesichert werden ? Das Sicherste wäre, anzuordnen, dass Erzieher in ihren Unter weisungen und Magistrate in ihren öffentlichen Reden ihre Vortreff lichkeit dartun; wenn erst in Kraft, würde die Gesetzgebung gesichert sein gegen die Unbeständigkeit des menschlichen Geistes; wie groß auch die angebliche Unbeständigkeit des menschlichen Geistes sein mag, wenn einer Nation die gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihrer Glückseligkeit und der Erhaltung ihrer Gesetze klar vor Augen geführt wird, dann wird ihrer Unbeständigkeit sicher Einhalt getan. [...] Jede weise Gesetzgebung, die privates und öffentliches Interesse vereinigt und Tugend auf dem Vorteil jedes Einzelnen begründet, ist unzerstörbar. Aber ist solche Gesetzgebung möglich ? Warum nicht ? Der Horizont unserer Ideen wird jeden Tag erweitert; und wenn Gesetzgebung, wie die anderen Wissenschaften, am Fortschritt des menschlichen Geistes teilnimmt, warum an der zukünftigen Glückseligkeit der Menschheit verzweifeln ? Warum können nicht Nationen, wenn sie mit jedem Zeitalter aufgeklärter werden, eines Tages zu jener Fülle von Glück gelangen, deren sie fähig sind ? Nicht ohne Pein lasse ich diese Hoffnung fahren.“ Vgl. auch ebd., S. 237–239. Wir werden im dritten Teil ( Die Babeuf’sche Kristallisation, Abschnitt „I. 1. : Das messianische Klima“) dieses Buches sehen, wie diese Hoffnung Babeuf und Buonarroti bewegt hat.

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III. Tota li tä re Demo kra tie ( Rous seau ) 1. Der psychologische Hintergrund Rousseau ver wendet häufig die Worte „Natur“ und „Natürliche Ordnung“ im gleichen Sinn wie seine Zeitgenossen, nämlich um die logische Struktur des Weltalls anzudeuten. Er spricht von Natur jedoch auch, wenn er das Ursprüngliche beschreiben will im Gegensatz zu dem Bemühen und Vollbringen des Geistes, das Ursprüngliche zu über winden und sich untertänig zu machen. Der historische Naturzustand vor der organisierten Gesellschaft war die Herrschaft des Ursprünglichen. Die Einführung des gesellschaftlichen Zustandes kennzeichnete den Sieg des Geistes.85 Es muss wiederholt werden, dass die Natürliche Ordnung für die Materialisten sozusagen eine fertige Maschine ist, die nur entdeckt und in Betrieb gesetzt zu werden braucht. Für Rousseau jedoch ist sie der Staat, der seinen Zweck erfüllt. Sie ist ein kategorischer Imperativ. Die Materialisten gelangten erst spät in ihren Erörterungen zu dem Problem : Individuum gegen Gesellschaftsordnung. Sogar dann noch übersahen sie in ihrem übermäßigen Vertrauen auf die Möglichkeit gegenseitiger Anpassung, dass es das Problem des Zwanges gab. Für Rousseau bestand das Problem von Anbeginn. Es ist für ihn tatsächlich das grundlegende Problem.86 Rousseau wuchs auf als mutterloser Vagabund, zu kurz gekommen an Wärme und Zuneigung, dessen Sehnsucht nach menschlicher Nähe immer wieder 85

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Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Einleitung Vaughans, S. 15, 17 ( Fußnote 3); Rousseau, Œuvres complètes, Band 13 ( Indexband ), S. 112–114, gibt alle Ver weise hinsichtlich des Gebrauchs des Begriffs „Natur“. Ihm ist zu entnehmen, dass Natur in dem Sinne des endgültigen und vorbestimmten Entwicklungsstadiums, und nicht als der ursprüngliche Zustand, im Grunde eine aristotelische Idee ist. Über die Konzeption des Naturbegriffes im achtzehnten Jahrhundert siehe Willey, Eighteenth Century Background, S. 14, 55, 205 ff., 241. Vgl. Willey, Eighteenth Century Background, S. 3–18; Holbach, Système social, Band 3, S. 63; Morelly, Code de la nature, S. 9, 52, 65; Helvétius, De l’homme, Band 3, Vor wort, S. 5–12, und zahlreiche Hinweise in früheren Anmerkungen. Bei Mably ist, wie aus der Anmerkung zu Abschnitt 3 dieses Kapitels („Der Allgemeine Wille, die Volkssouveränität und die Diktatur“) her vorgeht, die Sache anders, weil er, wie Rousseau, unter einem tiefen Schuldgefühl litt. Die Unzulänglichkeit des Menschen postulierte die Notwendigkeit der Erlösung durch eine Anstrengung, sie zu über winden und die Ver wirrungen abzuschütteln, in die schlechte menschliche Institutionen und durch sie angeregte Instinkte den Menschen gebracht haben; siehe Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau. Vgl. außerdem Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Gouvernement de Pologne ( Einleitung Vaughans ), S. 387.

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durch tatsächliche oder eingebildete Gefühllosigkeit der Menschen enttäuscht wurde. Er konnte sich nie entscheiden, was er eigentlich wollte : die menschliche Natur freisetzen oder sie sittlich veredeln, indem er sie brach; allein sein oder einen Teil der menschlichen Gesellschaft bilden. Er konnte sich nie darüber klar werden, ob der Mensch durch andere besser oder schlechter, glücklicher oder unglücklicher würde.87 Rousseau war eine der schwierigsten unsozialen und egozentrischen Naturen, die uns Aufzeichnungen über ihr persönliches Problem hinterlassen haben. Er war ein Gemisch von Widersprüchen: einerseits ein Einsiedler und Anarchist, der sich danach sehnte, zur Natur zurückzukehren, sich Träumereien hingab, sich gegen alle gesellschaftliche Konvention auf lehnte, der sentimental und leicht zu Tränen gerührt war, elendiglich unsicher und mit seiner Umgebung entzweit – und andererseits war er ein Bewunderer Spartas und Roms, predigte Disziplin und das Aufgehen des Einzelnen im kollektiven Sein. Das Geheimnis dieser zwiespältigen Persönlichkeit ist, dass der disziplinierte Mensch der neidische Traum des gequälten Paranoikers war.88 Der Contrat social war die Sublimierung des Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes. Rousseau spricht von seinen eigenen Seelennöten, wenn er in Émile und andernorts das Unglück des Menschen beschreibt, der dem Konflikt zwischen Trieb und Pflichten in der zivilisierten Gesellschaft zum Opfer fiel, nachdem er den Naturzustand aufgegeben hatte; der „immer schwankte zwischen seinen Neigungen und seinen Pflichten, [...] weder ganz Mensch noch ganz Staatsbürger, weder für sich selbst noch für andere tauglich“, da er nie im Einklang mit sich selbst war.89 Die einzige Erlösung aus dieser Qual, da eine Rückkehr in den

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Rousseau, Contrat social ( erste Fassung ), in Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, enthält eine Zeile, die besagt, alle Tugenden kommen von sozialem Kontakt; auf der gleichen Seite stellt eine andere Zeile fest, dass alle Laster aus sozialem Kontakt geboren seien. Vgl. ebd., S. 449. Zur Frage der Einheit oder Inkonsequenz bei Rousseau siehe Schinz, La Pensée religieuse de Rousseau, der die Theorie eines „Rousseau classique“ und eines „Rousseau romantique“ aufstellt. Vgl. außerdem Cassirer, Das Problem Jean Jacques Rousseau; Lanson, Histoire de la littérature française, S. 773–803; Hendel, Rousseau; Höffding, Rousseau and his Philosophy. Schinz gibt einen Überblick über die verschiedenen Theorien. Siehe außerdem Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Viertes Buch, Kapitel VII. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Einleitung Vaughans, S. 15; ders., Political Writings Rousseau, Band 2, S. 139, 145 f. Ebd., S. 144 : „Forcé de combattre la nature ou les institutions sociales, il faut opter entre faire un homme ou un citoyen; car on ne peut faire à la fois l’un et l’autre.“ Der Kontext ist die Idee der sich gegenseitig ausschließenden Eigenschaften von Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft und Bürgerschaft in einem Staat. Ebd., S. 147 : „De ces contradictions naît celle que nous éprouvons sans cesse en nous - mêmes. Entraînés par la nature et par les hommes

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ruhigen Naturzustand unmöglich war, wäre entweder, sich vollständig den ursprünglichen Trieben hinzugeben, oder den Menschen gänzlich „seiner Natur zu berauben ( dénaturer )“.90 Im letzteren Fall wäre es notwendig, ein absolutes Dasein durch ein relatives zu ersetzen, Selbstbewusstsein durch soziales Bewusstsein. Der Mensch müsste dazu gebracht werden, sich selbst nicht als eine „unité numérique, l’entier absolu, qui n’a de rapport qu’à lui - même“91 zu betrachten, sondern als eine „unité fractionnaire qui tient au dénominateur, et dont la valeur est dans son rapport avec l’entier, qui est le corps social“.92 Eine bestimmte starre und universale Art zu fühlen und sich zu benehmen müsste auferlegt werden, um einen Menschen aus einem Guss zu schaffen, der ohne Widersprüche, ohne zentrifugale und unsoziale Triebe wäre. Die Aufgabe sei, Staatsbürger zu schaffen, die nur das wollen, was der Allgemeine Wille wolle, und die daher frei seien, anstatt dass jeder Mensch eine Einheit in sich bilde, zerrissen von egoistischen Spannungen und daher versklavt.93 Rousseau, der Lehrer romantischer Gefühlsfreiheit, war verfolgt von dem Gedanken, die Begierde des Menschen sei die letzte Ursache sittlicher Degeneration und sozialen Übels. Daher seine Apotheose spartanisch - asketischer Tugend und seine Verdammung der Zivilisation, soweit diese der Ausdruck des Eroberungsdrangs, des Wunsches zu glänzen und der Freisetzung menschlicher Vitalität ist, ohne Beziehung zur Sittlichkeit. Er nahm die Tatsache menschlicher Rivalität mit einer solchen Schärfe wahr, wie sie Menschen eigen ist, die sie selbst in ihrer Seele empfunden haben. Entweder aus Schuldgefühl oder aus Überdruss sehnen sie sich danach, von der Notwendigkeit äußerer Anerkennung und den Anforderungen des Wettbewerbs erlöst zu werden.

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dans des routes contraires, forcés de nous partager entre ces diverses impulsions, nous en suivons une composée qui ne nous mène ni à l’un ni à l’autre but. Ainsi, combattus et flottants durant tout le cours de notre vie, nous la terminons sans avoir pu nous accorder avec nous, et sans avoir été bons ni pour nous ni pour les autres.“ Es ließen sich viele Nachweise aus den Bekenntnissen, Rousseaus Briefen und autobiographischen Schriften zur Illustration der Frage des dualistischen Rousseau beibringen. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Passages illustrating the ‚Contrat social‘, S. 145. Ebd., S. 145. Ebd. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Einleitung Vaughans, S. 17 ( Fußnote 3), 27, 29, Fragments, S. 324; ders., Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Viertes Buch, Kapitel VII, außerdem ebd., Passages illustrating the ‚Contrat social‘, S. 139.

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Drei andere Vertreter des totalitären messianischen Temperaments, die auf diesen Seiten analysiert werden sollen, zeigen ähnliche paranoische Züge, und zwar Robespierre, Saint - Just und Babeuf. Wir haben in neuerer Zeit einige Beispiele der seltsamen Kombination von psychologischer Unangepasstheit und totalitärer Ideologie. In einigen Fällen wird die Erlösung von der Unmöglichkeit, ein ausgeglichenes Verhältnis zur Umwelt zu finden, in der vereinsamten überlegenen Stellung diktatorischer Führerschaft gesucht. Der Führer identifiziert sich mit der absoluten Doktrin, und die Weigerung anderer, sich zu unter werfen, wird nicht als normale Meinungsverschiedenheit aufgefasst, sondern als ein Verbrechen. Es ist charakteristisch für den paranoischen Führer, dass Widerstand ihn leicht aus seinem labilen Gleichgewicht bringt und ihn in einen Überschwang des Selbstbedauerns, in Verfolgungswahn und Selbstmordanwandlungen verfallen lässt. Führerschaft ist die Erlösung einiger weniger, doch sogar schon bloße Mitgliedschaft in einer totalitären Bewegung und Unter werfung unter die ausschließliche Doktrin kann für viele eine Über windung von übertriebenem Egoismus bedeuten. Epochen von großer Anspannung, von Massenpsychose und von heftigem Streit aktivieren Grenzeigenschaften, die sonst vielleicht uner weckt geblieben wären; sie bringen Menschen von einer eigenartigen neurotischen Mentalität an die Spitze.

2. Der Allgemeine Wille und das Individuum Es war für Rousseau von wesentlicher Bedeutung, das Ideal der Freiheit zu bewahren und dabei auf Disziplin zu bestehen. Er war sehr stolz und hatte ein starkes Gefühl für das Heroische. Rousseaus Denken wird daher von einer höchst fruchtbaren, aber gefährlichen Zweideutigkeit beherrscht. Einerseits soll der Einzelne nur seinem eigenen Willen gehorchen, andererseits wird ihm nahegelegt, sich einem objektiven Kriterium anzupassen. Der Widerspruch wird durch die Behauptung gelöst, dieses äußere Kriterium sei sein besseres, höheres und wahres Selbst, die innere Stimme des Menschen, wie Rousseau es nennt. Daher kann der Mensch, selbst wenn er dem äußeren Maßstab gezwungenermaßen folgt, sich nicht über Zwang beklagen, denn er wird ja tatsächlich nur genötigt, seinem eigenen wahren Selbst zu folgen. Er ist also noch immer frei, sogar freier als zuvor. Denn Freiheit ist der Sieg des Geistes über natürliche, ursprüngliche Instinkte. Sie ist die Bejahung der sittlichen Verpflichtung und die Zügelung irrationaler und selbstsüchtiger Triebe durch Vernunft und Pflicht. Die Bejahung der Verpflichtungen, die im Gesellschaftsvertrag niedergelegt sind, kennzeichnet die Geburt der menschlichen Persönlichkeit und die Einführung des Menschen in die Freiheit. Jede Ausübung des

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Allgemeinen Willens stellt eine Neubestätigung der menschlichen Freiheit dar.94 Das Problem des Allgemeinen Willens kann von zwei Gesichtspunkten aus betrachtet werden, dem der individuellen Ethik und dem der politischen Legitimität. Diderot war in seinen Artikeln Législateur und Droit naturel in der Enzyklopädie ein Vorläufer Rousseaus, soweit persönliche Ethik in Betracht kommt. Er sah das Problem in der gleichen Weise wie Rousseau : als das Dilemma, wie Freiheit mit einem äußeren absoluten Maßstab vereinbart werden könne. Es schien Diderot unzulässig, dass das Individuum, wie es ist, der endgültige Richter dessen sein solle, was recht und unrecht, richtig und falsch ist. Der Einzelwille des Individuums sei immer verdächtig. Der Allgemeine Wille sei der einzige Richter.95 Man müsse sich für die Beurteilung immer an das Allgemeinwohl und den Allgemeinen Willen wenden. Jemand, der mit dem Allgemeinen Willen nicht übereinstimme, gebe seine Menschlichkeit auf und mache sich zum „dénaturé“.96 Der Allgemeine Wille solle den Menschen darüber belehren, „in welchem Ausmaße er Mensch, Staatsbürger, Untertan, Vater, Kind sein solle“, „et quand il lui convient de vivre ou de mourir“.97 Der Allgemeine Wille solle die Natur und die Grenzen aller unserer Pflichten bestimmen. Ebenso wie Rousseau ist Diderot darauf bedacht, den Vorbehalt zu machen bezüglich des natürlichen und heiligsten Rechts des Menschen auf alles, was nicht von der „Gattung als Ganzes“ gefordert wird. Er beeilt sich jedoch hinzuzufügen, wieder wie Rousseau, dass der Allgemeine Wille uns leiten solle auf dem Gebiete der Natur unserer Gedanken und Wünsche. Alles, was wir denken und wünschen, sei gut, groß und erhaben, wenn es mit dem allgemeinen Interesse vereinbar sei. Nur Anpassung an dieses qualifiziere uns für die Zugehörigkeit zu unserer Gattung : „Ne la perdez donc jamais de vue, sans quoi vous verrez les notions de la bonté, de la justice, de l’humanité, de la 94

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Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Erstes Buch, Kapitel VI–VIII, Zweites Buch, Kapitel IV, VII; ders., Political Writings Rousseau, Band 1, Économie politique, S. 241 ff., Fragments, S. 328, 338. Die Literatur über den Allgemeinen Willen ist unerschöpf lich, und von den für diese Arbeit konsultierten Werken verdienen die folgenden erwähnt zu werden : Green, Lectures on the Principle of Political Obligation; Bosanquet, The Philosophical Theory of the State; Vecchio, Über einige Grundgedanken der Politik Rousseaus; Sabine, A History of Political Theory; Cobban, Rousseau and the Modern State; Schinz, La Pensée religieuse de Rousseau; ders., État présent des travaux; Hendel, Rousseau; Michel, L’Idée de l’État, S. 67 f.; Schmitt, Die Diktatur, S. 116–129; Duguit, Rousseau, Kant et Hegel; Vaughan (Hg.), Political Writings Rousseau, 2 Bände, Vaughans Einleitungen. Vgl. Diderot, Droit naturel, S. 371; ders., Législateur. Vgl. Diderot, Droit naturel, S. 372. Ebd., S. 371. Siehe auch Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Contrat social ( erste Fassung ), Erstes Buch, Kapitel II, S. 452.

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vertu, chanceler dans votre entendement.“98 Diderot gibt zwei Definitionen des Allgemeinen Willens. Er erklärt zuerst, er sei in den Grundsätzen des geschriebenen Gesetzes aller zivilisierten Nationen enthalten, in den sozialen Handlungen der wilden Völker, in den Übereinkünften der Feinde der Menschheit untereinander und sogar in der instinktiven Empörung des ver wundeten Tieres.99 Alsdann nennt er den Allgemeinen Willen „dans chaque individu un acte pur de l’entendement qui raisonne dans le silence des passions sur ce que l’homme peut exiger de son semblable et sur ce que son semblable est en droit d’exiger de lui“.100 Dies ist auch Rousseaus Definition des Allgemeinen Willens in der ersten Version des Contrat social.101 Letzten Endes ist der Allgemeine Wille für Rousseau eine Art mathematischer Wahrheit oder eine platonische Idee. Er habe eine eigene, objektive Existenz, unabhängig davon, ob sie wahrgenommen wird oder nicht. Er müsse dennoch vom menschlichen Verstand entdeckt werden. Aber nachdem der menschliche Verstand ihn entdeckt habe, könne er sich ehrlicher weise nicht einfach weigern, ihn zu akzeptieren. Auf diese Weise sei der Allgemeine Wille gleichzeitig außerhalb unserer selbst und in uns. Der Mensch werde nicht aufgefordert, seine persönliche Vorliebe zum Ausdruck zu bringen. Er werde nicht um seine Zustimmung gebeten. Er werde gefragt, ob ein gewisser Vorschlag mit dem Allgemeinen Willen übereinstimme oder nicht. „Wenn meine persönliche Meinung sich durchgesetzt hätte, hätte ich das Gegenteil dessen erreicht, was mein Wille war, und in diesem Fall wäre ich nicht frei gewesen.“102 Denn Freiheit ist die Fähigkeit, diejenigen Rücksichten, Interessen, Vorlieben und Vorurteile sowohl persönlicher als auch kollektiver Art abzuschütteln, die das objektiv Wahre und Gute verdunkeln, das ich wollen muss, wenn ich meiner wahren Natur treu bleiben will. Was auf das Individuum zutrifft, findet ebenso auf das Volk Anwendung. Mensch und Volk müssen dazu gebracht werden, die Freiheit zu wählen und nötigenfalls gezwungen werden, frei zu sein.103 Der Allgemeine Wille wird letztlich zu einer Frage der Aufklärung und der Sittlichkeit. Obwohl es das Werk des Allgemeinen Willens sein sollte, Harmo98 99 100 101

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Diderot, Droit naturel, S. 371. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Contrat social ( erste Fassung ), Erstes Buch, Kapitel II, S. 452. Holbach, Système social, Band 2, S. 21, ver wendet den Begriff „volonté générale“, ebenso Montesquieu an einer Stelle im „Esprit des lois“. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Viertes Buch, Kapitel II, S. 106. Vgl. ebd., Erstes Buch, Kapitel VII, bes. S. 36; ders., Political Writings Rousseau, Band 1, Économie politique, S. 241 ff., bes. S. 244 f. Vgl. auch ebd., Contrat social (erste Fassung ), S. 457, 460 f.

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nie und Einmütigkeit zu schaffen, bestehe das ganze Ziel des politischen Lebens wirklich darin, die Menschen zu erziehen and darauf vorzubereiten, den Allgemeinen Willen ohne ein Gefühl des Zwangs zu wollen.104 Der Egoismus des Menschen müsse ausgerottet und die menschliche Natur geändert werden. „Jedes Individuum, das für sich ein vollständiges und einzelnes Ganzes ist, würde umgeformt werden müssen zum Bestandteil eines größeren Ganzen, von dem es sein Leben und Dasein erhält.“105 Individualismus werde dem Kollektivismus Platz machen müssen, Egoismus der Tugend, was Übereinstimmung des persönlichen Willens mit dem Allgemeinen Willen bedeute. Der Gesetzgeber „muss, mit einem Wort, dem Menschen seine ihm eigenen Kräfte nehmen, um ihm fremde dafür zu verleihen, die er ohne die Hilfe anderer Menschen nicht benützen kann. Je vollständiger diese natürlichen Kräfte vernichtet werden, umso größer und vollständiger sind die erworbenen, und umso beständiger und vollkommener die neuen Institutionen. Wenn also jeder Bürger nichts ist und nichts tun kann ohne die anderen, und wenn die von dem Ganzen erworbenen Kräfte der Summe der natürlichen Kräfte aller Individuen gleich oder überlegen sind, dann, kann man sagen, hat die Gesetzgebung den höchstmöglichen Grad der Ver vollkommnung erreicht.“106 Wie bei den Materialisten ist das Endziel nicht das Ausleben des Individuums, die Entfaltung seiner besonderen Fähigkeiten und die Ver wirklichung seiner eigenen und einzigartigen Lebensform, sondern das Aufgehen des Individuums im kollektiven Wesen durch Annahme seiner Färbung und seines Lebensprinzips.107 Das Ziel ist, Menschen zu erziehen, die „fügsam das Joch des öffentlichen Glücks tragen“,108 das heißt, einen neuen Menschentyp zu schaffen, ein rein

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Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Économie politique, S. 241 ff., bes. S. 244 f., Fragments, S. 328, 338, Contrat social ( erste Fassung ), S. 457, 460 f. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Fragments, S. 324 : „Celui qui se croit capable de former un peuple doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature des hommes. Il faut qu’il transforme chaque individu, qui est par lui - même un tout parfait et solitaire, en partie d’un plus grand tout, dont cet individu reçoive en quelque sorte sa vie et son être; qu’il mutile, pour ainsi dire, la constitution de l’homme.“ Vgl. auch ders., Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Erstes Buch, Kapitel VIII, Zweites Buch, Kapitel VII, S. 51 f. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Zweites Buch, Kapitel VII, S. 52, Kapitel XII. Vgl. auch ebd., Gouvernement de Pologne, S. 426. Siehe auch ders., Political Writings Rousseau, Band 1, Contrat social ( erste Fassung), S. 494 : „Car la Loi est antérieure à la justice, et non pas la justice à la Loi.“ Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Fragments, S. 328, 338. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Zweites Buch, Kapitel VII, S. 53.

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politisches Geschöpf ohne irgendwelche besonderen privaten oder Gruppenbindungen, ohne irgendwelche Teilinteressen, wie Rousseau sie nannte.109

3. Der Allgemeine Wille, die Volkssouveränität und die Diktatur Rousseaus Souverän ist der verkörperlichte Allgemeine Wille und bedeutet, wie bereits früher gesagt, im Wesentlichen dasselbe wie die Natürliche harmonische Ordnung. Durch Verbindung dieses Begriffs mit dem Prinzip der Volkssouveränität und der Selbstbestimmung des Volkes machte Rousseau den Weg frei für die totalitäre Demokratie. Allein die Einführung dieses Elements, gepaart mit Rousseaus feurigem Stil, hob das Postulat des achtzehnten Jahrhunderts aus dem Bereich intellektueller Spekulation in den eines großen kollektiven Erlebnisses. Sie bezeichnete die Geburt der modernen weltlichen 109

Es ist sehr wichtig, die verschiedenen Schichten in Rousseaus Denken und die besondere Nuance seiner Gedankenassoziationen zu unterscheiden und im Sinn zu behalten. Es ist da die kartesische Schicht, der Kontext des achtzehnten Jahrhunderts, die romantische Vorahnung und schließlich, oder vielleicht vor allem, die Erinnerung an die klassische Antike. Letztere ist besonders wichtig in Bezug auf Rousseaus Ideen von der Freiheit und Würde der Staatsbürgerschaft. Der revolutionäre Geist war in voller Übereinstimmung mit der Antike, in dem Abscheu vor persönlicher Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen, die beiden gemeinsam war. Das Prinzip der Ehre war, niemanden über sich zu haben, wie Lord Acton es in seinen Vorlesungen über die Französische Revolution ausdrückte, siehe Acton, Lectures on the French Revolution, S. 15 f. Dies schloss in keiner Weise eine Ablehnung der Abhängigkeit vom Staate, der Kollektivperson, ein. Im Gegenteil : Mit den Worten Rousseaus im „Contrat social“ würde „jeder Staatsbürger von allen anderen völlig unabhängig und vom Staate im höchsten Grade abhängig“ sein, siehe Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Zweites Buch, Kapitel XII, S. 63. Benjamin Constant weist in seinem „Cours de politique constitutionelle“, Band 2, S. 549– 551, in dem Versuch eines Vergleichs zwischen der antiken und der modernen Idee der Freiheit ( man fühlt sich versucht zu sagen, der angelsächsischen Konzeption ) darauf hin, dass Freiheit für die Modernen bedeutet : Freiheit von Staatseingriffen und von dem Druck vorherrschender kollektiver Denk - und Gefühlssysteme – wie „privacy“ für John Stuart Mill –, während die antike Idee der Freiheit vor allem die aktive und gleiche Teilnahme der Bürger in der Formung des souveränen Willens, in der Ausübung aktiver Bürgerrechte in sich schloss; nicht so sehr die Freiheit wie seine Würde als ein Mitglied des Souveräns. Dies war weit entfernt von „privacy“ oder dem liberalen Entrinnen vor dem Staat; genau das Umgekehrte. Tocqueville bemerkt in „L’Ancien régime“, S. 126–132, dass der Gegner des Ancien Régime, ungleich dem angelsächsischen Kritiker seiner Regierung, den Staat nicht so sehr wegen seines Eingriffs in den Tätigkeitsbereich des Einzelnen und seiner Unterdrückung kritisierte als deswegen, weil er nichts für ihn tat, nachdem doch der Staat verpflichtet sei, nach allem und jedem zu schauen.

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Religion, nicht nur als Ideensystem, sondern als leidenschaftlichen Glauben. Rousseaus Synthese ist schon an sich die Formulierung des Paradoxes der Freiheit in der totalitären Demokratie, und zwar in Begriffen, die das Dilemma in schlagendster Form aufdecken, nämlich in denen des Willens. Für ihn gibt es so etwas wie einen objektiven Willen, ohne Rücksicht darauf, ob er von irgendjemandem gewollt wird oder nicht. Um zur Realität zu werden, muss er vom Volk gewollt werden. Falls das Volk ihn nicht will, muss es dazu gebracht werden, ihn zu wollen, denn der Allgemeine Wille ist im Volkswillen latent enthalten.110 Demokratische Gedankengänge und rationalistische Prämissen sind Rousseaus Mittel, das Dilemma zu lösen. Nach ihm wird der Allgemeine Wille nur dann wahrgenommen, wenn das ganze Volk und nicht nur ein Teil des Volkes oder eine vertretende Körperschaft sich der Mühe unterziehen würde.111 Die zweite Bedingung ist, dass Individuen als rein politische Atome und nicht Gruppen, Parteien oder Interessenvertretungen aufgefordert würden, zu wollen.112 Beide Bedingungen sind auf der Prämisse begründet, dass es so etwas wie eine gemeinsame Substanz der Staatsbürgerschaft gibt, an der alle teilhaben, sobald jeder imstande ist, sich von Teilinteressen und Gruppenzugehörigkeit frei zu machen. Auf dieselbe Weise können Menschen als rationale Wesen zu den gleichen Schlussfolgerungen gelangen, wenn sie sich erst von ihren besonderen Leidenschaften und Interessen befreit haben und aufhören, sich auf „imaginäre“ Maßstäbe zu verlassen, die ihr Urteil trüben. Nur wenn alle gemeinsam als ein versammeltes Volk handeln, tritt die Natur des Menschen als Staatsbürger wirksam in Erscheinung. Das würde nicht geschehen, wenn nur ein Teil der Nation sich versammelte, um den Allgemeinen Willen zu wollen. Er würde einen Teilwillen ausdrücken. Überdies macht sogar die Tatsache, dass alle etwas gewollt haben, dies noch nicht zum Ausdruck des Allgemeinen Willens, wenn die richtige Einstellung derer fehlte, die es wollten. Ein Wille wird nicht allgemein dadurch, dass er von allen gewollt wird, es sei denn, er wird in Übereinstimmung mit dem objektiven Willen gewollt.113 110

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Vgl. [ generell zu diesem Unterkapitel – A. d. Hg.] Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Zweites Buch, Kapitel II–IV, VI f., Drittes Buch, Kapitel I f., XII–XVII; ebd., Émile, S. 152; ebd., Lettres écrites de la Montagne, Lettre VI, S. 201; ders., Political Writings Rousseau, Band 1, Économie politique, S. 241– 244, 247 f., 255 f.; ebd., Contrat social ( erste Fassung ), S. 452, 462, 476. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Zweites Buch, Kapitel II, S. 40, Fußnote 1 : „Pour qu’une volonté soit générale, il n’est pas toujours nécessaire qu’elle soit unanime, mais il est nécessaire que toutes les voix soient comptées : toute exclusion rompt la généralité.“ Vgl. ebd., S. 42 f. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Contrat social ( erste Fassung ), S. 462 : „La volonté générale est rarement celle de tous.“ Ebd., S. 476 : „La

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Die Ausübung der Souveränität wird hier nicht als Wechselwirkung von Interessen aufgefasst, als ein Ausgleich von Meinungen, die alle gleichermaßen Anspruch auf Gehör haben, ein Abwägen verschiedener Interessen. Ihr Sinn ist mehr die Bestätigung einer Wahrheit, Selbstidentifizierung derjenigen, die die Souveränität ausüben, mit einem allgemeinen Interesse, das als die Quelle aller identischen individuellen Interessen angenommen wird. Politische Parteien werden nicht als Träger verschiedener Strömungen der öffentlichen Meinung betrachtet, sondern als Vertreter von Teilinteressen, im Widerspruch zum Allgemeininteresse, das als etwas beinahe Greifbares angesehen wird.114 Es ist sehr wichtig, sich klarzumachen, dass das, was heute als wesent-

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volonté générale est toujours droite, il n’est jamais question de la rectifier, mais il faut savoir l’interroger à propos.“ Siehe auch ders., Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Zweites Buch, Kapitel III, S. 42 f. : „Angenommen, das Volk wäre ausreichend unterrichtet und beratschlagte, ohne dass die Staatsbürger irgendeine Verbindung untereinander hätten, so würde sich aus der Menge von kleinen Differenzen immer der Allgemeine Wille ergeben, und die Beratung wäre immer gut. Wenn jedoch Fraktionen entstehen, kleine Vereinigungen auf Kosten der großen, dann wird der Wille jeder dieser Vereinigungen [...] ein Sonderwille dem Staate gegenüber : man kann dann sagen, dass es nicht mehr so viel Stimmen gibt wie Menschen [...]. Damit der Allgemeine Wille voll zum Ausdruck kommen kann, ist es daher wesentlich, dass es keine Teilgesellschaft im Staate gibt, und dass jeder Staatbürger nur seine eigene Meinung ausdrückt.“ Vaughan (Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Viertes Buch, Kapitel I, S. 102–104 : „Solange mehrere versammelte Menschen sich als einen einzigen Körper betrachten, haben sie nur einen einzigen Willen, der sich auf ihre gemeinsame Erhaltung und auf die allgemeine Wohlfahrt bezieht. Dann sind alle Triebfedern des Staates kraftvoll und einfach, und seine Grundsätze sind deutlich und lichtvoll; er hat keine ver wickelten und widerspruchsvollen Interessen; das Gemeinwohl tritt überall in Erscheinung, und es gehört nur gesunder Menschenverstand dazu, um es wahrzunehmen. Friede, Einigkeit und Gleichheit sind die Feinde der politischen Spitzfindigkeiten [...]. Ein Staat, der so regiert wird, braucht sehr wenige Gesetze; und sobald es nötig wird, neue zu erlassen, wird diese Notwendigkeit allgemein erkannt. Wer sie zuerst vorschlägt, spricht nur aus, was alle schon gefühlt haben, und weder Intrigen noch Beredsamkeit sind nötig, um etwas zum Gesetz zu machen, was jeder bereits zu tun beschlossen hat, sobald er sicher wäre, dass die anderen es tun würden wie er [...]. Wenn aber das gesellschaftliche Band nachzulassen beginnt und der Staat schwach zu werden, wenn die Sonderinteressen fühlbar zu werden beginnen und die kleinen Gesellschaften die große zu beeinflussen, ändert sich das Allgemeininteresse und findet Widersacher : die Stimmen sind nicht mehr einmütig; der Allgemeine Wille ist nicht mehr der Wille aller; es erheben sich Widersprüche, Diskussionen, und der beste Ratschlag wird nicht ohne Streit angenommen [...]. Folgt nun hieraus, dass der Allgemeine Wille vernichtet oder entartet ist ? Nein : er ist noch immer derselbe, unveränderlich und rein; aber er wird anderen untergeordnet, die stärker sind als er. Wenn auch jeder sein Interesse vom Allgemeininteresse ablöst, sieht er sehr wohl, dass er es nicht ganz von ihm trennen kann; doch sein Anteil am öffentlichen

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liche Begleiterscheinung der Demokratie gilt, nämlich Verschiedenheit der Ansichten und Interessen, von den Vätern der Demokratie im achtzehnten Jahrhundert bei weitem nicht für wesentlich gehalten wurde. Ihre ursprünglichen Postulate waren Einigkeit und Einstimmigkeit. Die Bejahung des Prinzips der Verschiedenartigkeit kam erst später, nachdem sich die totalitären Folgerungen des Grundsatzes der Homogenität in der jakobinischen Diktatur erwiesen hatten. Diese Erwartung der Einmütigkeit war nur ganz natürlich in einem Zeitalter, das, ausgehend von der Idee der Natürlichen Ordnung, allen Privilegien und Ungleichheiten den Kampf ansagte. Schon die Konzeption des achtzehnten Jahrhunderts von der Nation im Gegensatz zu den Ständen enthielt die Vorstellung eines homogenen Wesens. Naiv und unerfahren in der Wirkungsweise der Demokratie, waren die Theoretiker am Vorabend der Revolution außerstande, Spannung und Druck, Zusammenstöße und Kämpfe einer parlamentarisch - demokratischen Regierungsform als normale Erscheinungen hinzunehmen, die niemanden mit dem Gespenst naher Zerstörung und Ver wirrung zu schrecken brauchten. Sogar ein so gemäßigter und vernünftiger Denker wie Holbach war entsetzt über die „schrecklichen“ Spaltungen in der englischen Gesellschaft. Von allen Ländern sah er England als das unglücklichste an, dem Anschein nach frei, aber in Wirklichkeit unglücklicher als irgendein despotisch bedrücktes Königreich des Orients. War England nicht durch den Kampf von Faktionen und widerstreitenden Interessen an den Rand des Abgrunds gebracht worden ? War seine Ordnung nicht ein Wirr warr von irrationalen Gewohnheiten, veralteten Gebräuchen, widersinnigen Gesetzen, systemlos und ohne Leitsatz ?115 Der Physiokrat Le Trosne erklärte : „Die Lage Frankreichs [...] ist ungleich besser als die Englands; denn hier können Reformen, die den gesamten Zustand des Landes verändern, in einem Augenblick durchgeführt werden, während in England solche Reformen immer durch das Parteiensystem verhindert werden können.“116

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Schaden erscheint ihm nichts im Vergleich zu dem ausschließlichen Nutzen, den er sich zu verschaffen hofft. Von diesem besonderen Nutzen abgesehen, will er in seinem eigenen Interesse das Gemeinwohl ebenso sehr wie jeder andere.“ Vgl. Holbach, Système social, Band 2, S. 48, 52 ff., 68 ff. Le Trosne, zit. in Tocqueville, L’Ancien régime, S. 269. Vgl. auch Helvétius, Lettre d’Helvétius au président de Montesquieu, S. 213 : „Vos combinaisons de pouvoirs ne font que séparer et compliquer les intérêts individuels au lieu de les unir. L’exemple du gouvernement anglais vous a séduit. Je suis loin de penser que cette constitution soit parfaite.“ Helvétius legt auffallenden Nachdruck auf die sozialen Implikationen der Theorie der Kontrollen, Mittlerfunktionen – ihr Zweck sei es, die Privilegien der Aristokratie zu sichern, der es darum ging, sich zwischen König und Volk zu stellen – anstatt auf die konstitutionelle Seite des Problems. Vgl. ebd., S. 211–216, sowie ders., Lettre d’Helvétius à M. Saurin, S. 217–220. Mably, verwirrend genug für einen

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Es lohnt sich, hier den Physiokraten einige Worte zu widmen, denn ihre Gedankengänge zeigen, trotz der Unterschiede im Ausblick, eine auffallende Ähnlichkeit mit totalitären demokratischen Kategorien.117 Die Physiokraten vollziehen eine erstaunliche Synthese zwischen ökonomischem Liberalismus und politischem Absolutismus, beide gleichermaßen auf dem ausdrücklichsten Postulat natürlicher Harmonie begründet. Obwohl sie predigten, dass auf ökonomischem Gebiet das freie Spiel der Kräfte in individuellen Wirtschaftsinteressen und - betätigungen unfehlbar zur Harmonie führen würde, waren sie sich auf politischem Gebiet sehr klar der widerspruchsvollen und ungleichen Interessen bewusst. Nach ihrer Meinung bildeten diese Spannungen das größte Hindernis für soziale Harmonie. Parlamentarische Einrichtungen, Teilung und Gleichgewicht der Gewalten seien daher keine Wege zu sozialer Harmonie. Die verschiedenen Interessen würden Richter in ihrer eigenen Angelegenheit sein.118 Die Zusammenstöße zwischen ihnen würden den Staat paralysieren. Die Physiokraten ver warfen daher das Gleichgewicht der Gewalten mit der Begründung, wenn eine der Gewalten stärker wäre, gäbe es kein richtiges Gleichgewicht; und wenn sie alle gleichmäßig stark wären, doch nach verschiedenen Richtungen zögen, wäre völlige Lahmlegung die Folge. Es sei nicht das Ziel der Gesetzgebung, ein Gleichgewicht und einen Kompromiss zu erreichen, sondern den objektiven Begriff des Staates zu erfüllen, der nach Ansicht der Physiokraten etwas Reales war, nicht mit Sonderinteressen verknüpft, sondern über sie hinausgehoben. Die Autorität, die diesen Staatsbegriff erfülle, müsse dementsprechend „autorité souveraine, [...] unique et supérieure à tous les individus, [...] intérêts particuliers“119 sein : „un chef unique qui soit le centre commun dans lequel

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fanatisch egalitären Kommunisten, doch nicht überraschend für einen Planer von Gesetzen für eine Gesellschaft im Zustand der Sünde, legt allen Nachdruck auf die Notwendigkeit, alle verschiedenen Interessen, Klassen und Richtungen zu Rate zu ziehen, um sich dadurch zu neutralisieren und den Despotismus zu isolieren. Vgl. Mably, Doutes, S. 85, 175 ff., 180, 185; ders., De l’étude de l’histoire, S. 345 f., 348, 367; ders., De la législation, Band 2, S. 44 f. Mably, Doutes, S. 85 : „Toutes les classes réunies [...] par viennent à connaître la vérité par le secours de la discussion.“ Zu den Physiokraten siehe Sée, L’Évolution de la pensée, S. 203–215; Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 143 ff. Vgl. Sée, L’Évolution de la pensée, S. 207 : „Une multitude ne peut être législatrice, car elle se compose d’individus dont les intérêts et les droits sont inégaux et opposés les uns aux autres, et qui se trouveraient être à la fois juges et partis. D’ailleurs, c’est une grande erreur de considérer la nation comme un corps.“ Quesnay, zit. in Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 144 : „Que l’autorité souveraine soit unique et supérieure à tous les individus de la société et à toutes les entreprises injustes des intérêts particuliers [...]. Le système des contreforces dans un gouvernement est une opinion funeste qui ne laisse apercevoir que la discorde entre les grands et l’accablement des petits.“

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tous les intérêts des différents ordres de citoyens viennent se réunir sans se confondre.“120 Die Physiokraten hatten so großes Vertrauen in die Wirksamkeit rationaler Beweise, dass sie glaubten, wenn der Monarch erst einmal den objektiven reinen Staatsbegriff verstünde, könne er sich unmöglich willkürlichen, mutwilligen Handelns schuldig machen. Sie glaubten an den absoluten Monarchen, der den objektiven Begriff des Staates verkörpert, und an das isolierte Individuum.121 Diese zwei Faktoren stellten das Allgemeininteresse dar, während die dazwischenliegenden Teilinteressen den Staatsbegriff verzerrten, den Menschen irreführten und auf selbstsüchtige Wege brachten. „Es wird keine mit Privilegien ausgestatteten Stände mehr in einer Nation geben, sondern nur noch Individuen im vollen Besitz ihrer natürlichen Rechte.“122 Rousseau setzt das Volk an die Stelle des physiokratischen aufgeklärten Despoten. Auch er sieht in den Teilinteressen den größten Feind der sozialen Harmonie. Genau wie bei den rationalistischen Utilitariern wird das Individuum hier der Träger der Einheitlichkeit. Man könnte ohne jede Übertreibung sagen, dass diese Haltung in die Richtung der Idee einer klassenlosen Gesellschaft deutet. Sie wird bedingt von der undeutlichen Erwartung einer Einmütigkeit, die irgendwo am Ende des Weges, nach stetig fortschreitender Ausschaltung von Unstimmigkeiten und Ungleichheiten sich erfüllen wird. Nicht etwa, dass diese Einmütigkeit auferlegt werden müsste. Je extremer die Formen der Volkssouveränität und je demokratischer das Verfahren, umso sicherer könne man der Einmütigkeit sein. So dachte Morelly, wahre Demokratie sei eine Regierungsform, in der die Bürger einmütig dafür stimmten, nur der Natur zu gehorchen.123 Der britische Jakobinerführer Horne Tooke definierte 1794 als Angeklagter vor Gericht sein Ziel als eine Regierungsform mit jährlichen Parlamenten, die sich auf allgemeines Wahlrecht stützten, Parteien ausschlössen und einmütig stimmten.124 120 121

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Sée, L’Évolution de la pensée, S. 209. Vgl. ebd., S. 210 : Legaler Despotismus, auf dem objektiven Staatsbegriff basierend, „écarte absolument l’arbitraire et rend impraticables dans les souverains, comme dans les magistrats, les abus de l’autorité, qui troubleront l’administration de la justice“. Siehe außerdem Mably, Droits et devoirs, S. 143 : „À l’égard des lois naturelles [...] les préceptes de notre raison [...] si simples, si claires, si lumineuses qu’il suffit de les présenter aux hommes pour qu’ils y acquiescent, à moins qu’ils [...] ne soient dérangés.“ Lemercier de la Rivière, L’Ordre naturel, Band 1, S. 100–165, sowie in späteren Kapiteln ( XIV–XXI ), polemisiert gegen „despotisme arbitraire“ zum Unterschied von „despotisme légal“. Sée, L’Évolution de la pensée, S. 213. Vgl. Morelly, Code de la nature, S. 51. Tatsächlich sind für Morelly alle Regierungsformen, ebenso wie für Harrington, der Ausdruck der bestehenden Eigentumsverhältnisse. Vgl. Trial of John Horne Tooke, S. 590–592.

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Rousseau ver wirft, ebenso wie die Physiokraten, jeden Versuch einer Teilung der Souveränität. Er brandmarkt ihn als den Trick eines Gauklers, der mit den losgelösten Gliedern eines Organismus spielt. Denn wenn es nur einen Willen gibt, kann die Souveränität nicht geteilt werden. Nur setzt Rousseau das Volk an Stelle des physiokratischen absoluten Monarchen. Das Volk als Ganzes sollte die souveräne Macht ausüben, nicht eine repräsentative Körperschaft. Eine gewählte Versammlung sei so beschaffen, dass sie wie jede andere Körperschaft ein egoistisches Interesse entwickle. Ein Volk liefere sich einem Herrn aus, wenn es die Souveränität an eine parlamentarische repräsentative Körperschaft abgebe. Nun ist schon in der Grundlage des Prinzips der direkten und unteilbaren Demokratie und in der Erwartung der Einmütigkeit die Diktatur als Folgerung enthalten, wie die Geschichte manches Volksentscheids zeigt. Wenn ständig das ganze Volk und nicht eine kleine vertretende Körperschaft angerufen und gleichzeitig Einstimmigkeit postuliert wird, dann gibt es kein Entrinnen vor der Diktatur. Dies geht aus Rousseaus Betonung des hochwichtigen Punktes her vor, dass die Führer nur Fragen allgemeiner Natur an das Volk richten dürfen und außerdem wissen müssen, wie die richtige Frage zu stellen sei. Auf die Frage müsse es eine so einleuchtende Antwort geben, dass es einfach verräterisch oder unnatürlich wäre, anders zu antworten. Wenn Einmütigkeit angestrebt wurde, musste man sie herbeizuführen wissen durch Einschüchterung, Wahltricks oder das Organisieren spontaner Volksäußerungen, indem man von „Aktivisten“ Petitionen einbringen, öffentliche Kundgebungen veranstalten und heftige Drohkampagnen führen ließ. So wurde Rousseau von den Jakobinern und Organisatoren der Volkspetitionen, der revolutionären „journées“ und anderer Formen direkten Ausdrucks des Volkswillens ausgelegt. Rousseau demonstriert klar die enge Beziehung zwischen der zum Extrem geführten Volkssouveränität und dem totalitären System. Das Paradox verlangt nach Analyse. Es wird allgemein angenommen, Diktatur entstehe und erhalte sich aus der Gleichgültigkeit des Volkes und mangelnder demokratischer Wachsamkeit. Auf nichts besteht nun Rousseau stärker als auf der aktiven und unaufhörlichen Beteiligung des Volkes und jedes einzelnen Bürgers an den Staatsgeschäften. Der Staat ist dem Verfall nahe, sagt Rousseau, wenn der Bürger zu gleichgültig ist, um an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen. Völlig durchdrungen vom Vorbild der Antike, empfindet Rousseau intuitiv das große Erlebnis des Volkes, das versammelt ist, um Gesetze zu erlassen und das Gemeinwohl zu bestimmen. Die Republik ist in einem fortgesetzten Geburtsstadium. In dem vordemokratischen Zeitalter konnte Rousseau sich nicht vorstellen, dass sich die ursprünglich vorbedachte Schöpfung der Menschen in einen Leviathan ver wandeln könnte, der seine eigenen Schöpfer zertrümmert.

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100 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert Er sah nicht, dass totales und höchst gefühlsbetontes Aufgehen im kollektiven politischen Streben dazu angetan ist, alles Privatleben auszumerzen, dass die Erregung der versammelten Menge einen äußerst tyrannischen Druck ausüben kann, und dass es der kürzeste Weg zum totalitären System ist, die Geltung der Politik auf alle Bereiche menschlicher Interessen und Bestrebungen auszudehnen, ohne für den Prozess ungebundener und empirischer Tätigkeit irgendeinen Raum zu lassen. In Ländern, in denen die Politik nicht so überaus wichtig genommen wird und in denen es zahlreiche Ebenen unpolitischer privater und kollektiver Betätigung gibt, doch nicht so viel direkte Volksdemokratie, ist die Freiheit gesicherter als in solchen Ländern, in denen die Politik alles umfasst und die Menschen ständig versammelt sind. In letzterem Fall besteht der wahre Zustand darin, dass obwohl alle damit beschäftigt scheinen, den Volkswillen zu formen und das mit einem Gefühl der Erhebung und Erfüllung tun, sie in Wirklichkeit etwas bestätigen und akzeptieren, was ihnen als alleinige Wahrheit vorgesetzt wird, und dass sie dabei in dem Glauben sind, es sei ihre freie Wahl. Das ist die tatsächliche Bedeutung von Rousseaus Vorstellung des Volkes, das den Allgemeinen Willen will. Das kollektive Gefühl der Erhebung unterliegt der emotionellen Abstumpfung. Es wird bald von apathischem und mechanischem Verhalten abgelöst.125 125

Über das anregende Erlebnis der Teilhabe an der Souveränität vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Contrat social, Band 2, Drittes Buch, Kapitel XV. Hier ist ein Fall, der die Wandlung in Rousseaus Denken von individualistischem Rationalismus zum Kollektivismus des organischen und historischen Typs illustriert. Das wissende Wesen, das einen freien Willen hat, wird ver wandelt in ein Produkt zuerst von Lehre und Milieu, dann von historischen Kräften, vergangenen Traditionen und schließlich des Nationalgeistes. Ähnlich wird der Allgemeine Wille, eine zu entdeckende Wahrheit, durch die Idee und das Erlebnis des Patriotismus in ein gemeinsames Erbe mit all seinen Eigenheiten umgewandelt. Hier zweigt Rousseaus Beitrag in zwei Strömungen ab, in die rationalistisch - individualistische und schließlich kollektivistische der Linken einerseits, und in die irrational - nationalistische Ideologie der Rechten mit ihren Berührungspunkten mit der deutschen politischen Romantik, Fichte, Hegel und Savigny, andererseits. Die Wendung zum Nationalismus erfolgt in Rousseau, Considérations sur le Gouvernement de Pologne ( Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, S. 369–516). Hier sind einige Beispiele : Ebd., S. 437: „Éducation [...] forme nationale [...]. C’est l’éducation qui doit donner aux âmes la forme nationale, et diriger tellement leurs opinions et leurs goûts, qu’elles soient patriotes par inclination, par passion, par nécessité. Un enfant, en ouvrant les yeux, doit voir la patrie; et jusqu’à la mort ne doit plus voir qu’elle. Tout vrai républicain suça avec le lait de sa mère l’amour de sa patrie : c’est - à - dire, des lois et de la liberté. Cet amour fait toute son existence; il ne voit que la patrie, il ne vit que pour elle; sitôt qu’il est seul, il est nul; sitôt qu’il n’a plus de patrie, il n’est plus; et s’il n’est pas mort, il est pis.“ Ebd., S. 492 : „De l’effervescence excitée par cette commune émulation naîtra cette ivresse patriotique qui seule sait élever les hommes au - dessus d’eux - mêmes,

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Totalitäre Demokratie ( Rousseau )

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Rousseau ist keineswegs geneigt, den Willen der Mehrheit, ja nicht einmal den Willen aller als den Allgemeinen Willen anzuerkennen. Noch gibt er irgendeinen Anhalt dafür, woran der Allgemeine Wille erkennbar wäre. Dass etwas vom Volk gewollt werde, mache es nicht zum Ausdruck des Allgemeinen Willens. Die blinde Menge wisse nicht, was sie wolle und was in ihrem wirklichen Interesse liege. „Wenn das Volk sich selbst überlassen wird, wünscht es immer das Gute, aber es weiß nicht immer von selbst, wo dies Gute ist. Der Allgemeine Wille hat immer Recht, aber das Urteil, das ihn leitet, ist nicht immer zuverlässig. Es muss dazu gebracht werden, die Dinge so zu sehen, wie sie sind, manchmal auch so, wie sie ihm erscheinen sollten.“126

4. Der Allgemeine Wille als Zweck Der Allgemeine Wille nimmt so den Charakter eines Zwecks an und eignet sich als solcher zur Definition in Begriffen sozialpolitischer Ideologie, für die er dann ein vorbestimmtes Ideal ist, in dessen Richtung wir unwiderstehlich getrieben werden; ein einzig wahres Ziel, das wir wollen oder wollen müssten, obwohl wir es jetzt vielleicht wegen unserer Rückständigkeit, Vorurteile, Selbstsucht oder Unwissenheit noch nicht wollen. In diesem Fall wird die Idee eines Volkes natürlicher weise beschränkt auf diejenigen, die sich mit dem Allgemeinen Willen und dem allgemeinen Interesse identifizieren. Diejenigen, die das nicht tun, gehören nicht wirklich zur Nation. Sie sind Fremde. Diese Auffassung der Nation ( oder des Volkes ) sollte bald ein mächtiges politisches Argument werden. So behauptete Sieyès, „le tiers état“, der Dritte Stand allein bilde die Nation. Die Jakobiner schränkten den Begriff noch weiter ein, nämlich auf die Sansculotten. Für Babeuf war nur das Proletariat die Nation, und für Buonarroti nur diejenigen, die formell in die Nationale Gemeinschaft aufgenommen worden waren. Schon die Vorstellung eines hypothetischen vorbestimmten Willens, der noch nicht zum tatsächlichen Willen der Nation geworden sei, die Ansicht,

126

et sans laquelle la liberté n’est qu’un vain nom et la législation qu’une chimère.“ Ebd., S. 507, spricht Rousseau voll Bitternis von der Gleichgültigkeit der Modernen gegenüber „objets moraux, et sur tout ce qui peut donner du ressort aux âmes“. Das entfernt sich weit von der herrschenden mechanischen und legalistischen Konzeption von Staat und Nation. Vgl. außerdem ebd., S. 428, 431 ff., 437, 445, 497 f. Siehe hierzu auch Cobban, Rousseau and the Modern State, S. 151 ff.; Green, Lectures on the Principle of Political Obligation; Osborne, Rousseau and Burke. Green sah auch recht früh die totalitären Implikationen des Allgemeinen Willens in Bezug auf die Beeinflussung von Wahlen. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Zweites Buch, Kapitel VI, S. 50.

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102 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert dass die Nation sich daher noch in ihrer Kindheit befinde, nach der Nomenklatur des Contrat social eine „junge Nation“ sei, gibt denjenigen, die behaupten, den wahren und endgültigen Willen der Nation zu kennen und zu repräsentieren, der Partei der Avantgarde, einen Blankoscheck, im Namen des Volkes zu handeln ohne Rücksicht auf den tatsächlichen Willen des Volkes. Und dies kann sich in zwei Formen oder richtiger in zwei Stadien ausdrücken – wir hoffen, später zu zeigen, dass es dies auch wirklich tat : zuerst im Akt der Revolution, dann in dem Bemühen, den Allgemeinen Willen zur Herrschaft zu bringen. Diejenigen, die sich als das wahre Volk fühlen, stehen auf gegen das System und gegen die Männer an der Macht, die nicht zum Volke gehören. Darüber hinaus hebt der Akt ihres Aufstandes allein, zum Beispiel die Einsetzung eines Revolutions - ( oder Aufstands - )Ausschusses, ipso facto nicht nur die parlamentarische repräsentative Körperschaft auf, die ohnehin nach Rousseau ein ständiger Anschlag auf die Volkssouveränität ist, sondern tatsächlich alle bestehenden Gesetze und Institutionen.127 Denn : „Sobald das Volk rechtmäßig als souveräne Körperschaft versammelt ist, wird die Rechtsgewalt vollkommen hinfällig, die Exekutivgewalt ist aufgehoben, und die Person des letzten Staatsbürgers ist so heilig und unverletzlich wie die des ersten Magistrats; denn in Gegenwart der vertretenen Person gibt es keine Vertreter mehr.“128 Das wahre Volk oder richtiger die Führerschaft wird, wenn erst ihr Aufstand siegreich ist, zu Rousseaus Gesetzgeber, der das ganze Panorama klar überblickt, ohne von Teilinteressen und Leidenschaften abgelenkt zu werden, und der mit Hilfe von Gesetzen, die von seiner überlegenen Weisheit abgeleitet sind, die „junge Nation“ formt. Er bereitet sie darauf vor, den Allgemeinen Willen zu wollen. Zuerst kommt die Ausschaltung von Menschen und Einflüssen, die nicht Teil des Volkes sind und sich nicht mit dem Allgemeinen Willen identifizieren, der in dem neubegründeten Gesellschaftsvertrag der Revolution ver127

128

Über die Geschicke von Rousseaus Allgemeinem Willen während der Französischen Revolution siehe Anmerkungen in späteren Teilen. Vgl. außerdem Williams, The Influence of Rousseau. Benjamin Constant, Cours de politique constitutionnelle, polemisiert gegen einen ungenannten Schriftsteller, der glaubte, ein einzelner Mann ( offensichtlich Napoleon ) könne den Allgemeinen Willen verkörpern und ausdrücken. Ungeachtet seiner Betonung der entscheidenden Wichtigkeit direkter und ständiger Teilnahme aller in der Formung des Allgemeinen Willens sagt Rousseau in Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Économie Politique, S. 247, allzu häufige Versammlungen seien vielleicht unnötig, „car les chefs savent assez que la volonté générale est toujours pour le parti le plus favorable à l’intérêt public, c’està - dire, le plus équitable; de sorte qu’il ne faut qu’être juste pour s’assurer de suivre la volonté générale“. Dies bedeutet angenommene Einwilligung oder Zustimmung des Volkes durch Akklamation. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Drittes Buch, Kapitel XIV, S. 94.

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Totalitäre Demokratie ( Rousseau )

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körpert ist; dann die Neuerziehung der jungen Nation zum Wollen des Allgemeinen Willens. Die Aufgabe des Gesetzgebers ist die Schaffung eines neuen Menschentyps mit einer neuen Mentalität, neuen Werten, einer neuen Art von Empfindsamkeit, frei von alten Instinkten, Vor urteilen und schlechten Gewohnheiten.129 Es genügt nicht, die Regierungsmaschinerie zu ändern noch eine Klassenumschichtung herbeizuführen. Die menschliche Natur muss geändert werden oder, in der Terminologie des achtzehnten Jahrhunderts, der Mensch muss dazu gebracht werden, tugendhaft zu sein. Rousseau repräsentiert in der ausgeprägtesten Form den „esprit révolutionnaire“ in jedem seiner Aspekte. Im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité drückt er die leidenschaftliche Überzeugung aus, dass die Gesellschaft auf Irr wege geraten sei. Im Contrat social postuliert er ein ausschließlich legitimes soziales System als Aufforderung zu menschlicher Größe.

129

Ebd., Zweites Buch, Kapitel VII–X. Eine weitere merkwürdige Entwicklung in Rousseaus Denken verdient gestreift zu werden. Rousseaus persönlicher Gesetzgeber erscheint wie ein deus ex machina. Überhaupt bleibt Rousseau, wie ein typischer Doktrinär der Linken, immer auf dem Gebiet der Prinzipien. Seine Bürger und Magistrate sind schemenhaft. Ganz anders ist das Verfahren eines Denkers wie Burke. Bei seinen Erwägungen über die Bedeutung der Arbeit der Nationalversammlung in seinen „Reflections on the French Revolution“ hält er es für die für seine Zwecke wichtigste Frage, die Zusammensetzung der Assemblée zu untersuchen, zu sehen, welche Männer in ihr sitzen, woher sie kommen, was ihre Ausbildung und ihr Beruf ist. Die Frage in der Politik ist, wie Menschen handeln und sich verhalten, und nicht, wie Prinzipien miteinander verknüpft sind, denn je wahrer diese metaphysisch sind, umso falscher sind sie im Leben, sagt Burke. Es ist bemerkenswert, dass Doktrinen, die all ihre Hoffnung auf Prinzipien setzen und die Eigenheiten der Menschen übersehen, schließlich dazu kommen, einen persönlichen Erlöser heraufzubeschwören, während die empiristische angelsächsische Einstellung, wie sie durch Burke vertreten wird, nicht zu dem Erlöser - Führer gelangt, obwohl sie der persönlichen Beurteilung des Menschen viel mehr überlässt und am Staatsmann als Menschen stark interessiert ist. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen; vgl. Burke, Reflections on the French Revolution, S. 44–56.

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IV. Eigen tum ( Morel ly und Mably ) 1. Prämissen und Schlussfolgerungen – die Diskrepanz Wir haben bisher die Idee der natürlichen Gesellschaftsordnung vom formalen Gesichtspunkt als ein abstraktes Postulat behandelt. Es ist jetzt an der Zeit, uns ihrem sozialökonomischen Inhalt zuzuwenden. Es ist viel darüber diskutiert worden, wie viel Sozialismus im Gedankengut des achtzehnten Jahrhundert enthalten war. Manche finden in ihm voll ausgeprägten Sozialismus, andere nicht viel von Sozialismus, wieder andere keine Spur davon. Das wirklich Bemerkenswerte am Denken des achtzehnten Jahrhunderts ist nicht das Vorhandensein oder Fehlen von Sozialismus, sondern die Diskrepanz zwischen der Kühnheit der Prämissen und der Zaghaftigkeit der praktischen Schlussfolgerungen in der Behandlung des Problems des Eigentums.130 Der mar xistische Historiker mag sich durchaus berechtigt fühlen, darauf hinzuweisen, dass diese Diskrepanz der bürgerlichen Herkunft der Schriftsteller zuzuschreiben ist. Sie vertrauten einem einzigen Prinzip des sozialen Daseins und der in den natürlichen Rechten enthaltenen Gleichheit im Kampf gegen die Privilegien der Feudalklassen. Sie traten den Rückzug an, sobald sich erwies, dass dieses politische und philosophische Postulat eine Bedrohung des Eigentums mit sich brachte. Wenn sie vom „Menschen“ sprachen, kam es manchen unserer Denker nicht in den Sinn, dass dieser Begriff die „Canaille“ einschloss. Einige ver warfen sogar nachdrücklich den Gedanken. Nur der Bourgeois war ein Mensch. Die unter ihm waren zu unwissend, zu vertiert, hatten zu wenig Anteil an der Erhaltung der Gesellschaft, um überhaupt zu zählen. 130

Zur Diskussion über das in der Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts enthaltene Element von Sozialismus siehe Anmerkungen zu Kapitel I. 3. „Apriorismus und Empirismus“. Der Rückzug wird am schlagendsten durch Sieyès exemplifiziert, siehe Anmerkungen zum Zweiten Teil, Kapitel I. 1. „Die revolutionäre Haltung“, und durch Condorcet, Outlines, S. 328 ff., da diese beiden Denker unter dem Einfluss der Ereignisse schrieben, und nicht lediglich in einem Vakuum theoretisierten. Recueil de Passeran, zit. in Lion, Les Idées politiques et morales de d’Holbach, S. 363 f., schrieb zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts : „Le gouvernement démocratique est celui où toute l’autorité est au peuple et où les hommes sont égaux en noblesse, en puissance, en richesses; pour tel effet il faut que tous les biens appartiennent à la république qui les dispensera en bonne mère selon les besoins. Si on laisse entrer dans la société les paroles ‚meum‘ et ‚tuum‘, la ruine est inévitable. On ne doit jamais tolérer ces expressions : mon bien, etc.“ Espinas erfasste durchaus die sozialistischen Potentialitäten der individualistischen Idee der Menschenrechte, siehe Espinas, La Philosophie sociale, S. 115 ff.

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Eigentum ( Morelly und Mably )

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Und doch kann die sozialistische Dynamik in der Idee des natürlichen Systems kaum negiert werden. Schon die Vorstellung einer natürlichen, rationalen Ordnung umschloss die Annahme eines geordneten sozialen Gebildes, es sei denn, man nahm an, wie die Physiokraten es taten, eine freie Wirtschaft sei das eigentlich Wesentliche an der Natürlichen Ordnung, da sie ja im Endergebnis zwangsläufig zu vollständiger Harmonie führen würde. In der Idee der Menschenrechte, im Begriff des individuellen Menschen als erstem und letztem Baustein im sozialen Gebäude war impliziert, alle bestehenden Formen und Interessen könnten und sollten umgestoßen und völlig neu gestaltet werden, um dem Menschen zu geben, was ihm gebührt. Auf Grund dieser Prinzipien konnte man Eigentum nicht als geheiligtes natürliches Recht betrachten, das hingenommen werden muss. Alles konnte zu jeder Zeit gewandelt werden. Man argumentierte nicht mehr wie bisher, der arme und unglückliche Bürger habe ein Recht darauf, von der väterlich - königlichen Regierung Hilfe zu erwarten, und die Regierung könne, um sie zu gewähren, sich über entgegenstehende Interessen hinwegsetzen. Der Mensch der Natürlichen Ordnung erbittet keine Wohltaten, er ist der Brennpunkt des ganzen sozialen und wirtschaftlichen Systems. Die Gleichheitsidee verdammte ungleiche Klassen und Privilegien als ein Übel, das im Widerspruch zu den Lehren der Natur und den Bedürfnissen des Menschen entstanden sei. Einige Schriftsteller gingen so weit, den bestehenden Staat und seine ganze Gesetzgebung als Waffe der Ausbeutung zu brandmarken, als eine List der Besitzenden, durch die die Besitzlosen niedergehalten werden sollten.131 Hinzu kommt : Wenn Tugend Übereinstimmung mit der Natürlichen Ordnung bedeutete, war ihr größter Feind offensichtlich der Geist selbstsüchtiger Habgier, der durch das Privateigentum erzeugt wird. Nicht nur ausgesprochene Kommunisten wie Morelly und Mably, sondern auch Rousseau, Diderot und Helvétius stimmten darin überein, dass „alle diese Übel die erste Wirkung des Eigentums sind und der Kette von Übelständen, die sich nicht trennen lassen von der Ungleichheit, zu der das Eigentum führte“.132 Diderot setzte den „esprit de propriété“ in Gegensatz zum „esprit de communauté“. Er ermahnte den Gesetzgeber, den einen zu bekämpfen und den anderen zu fördern, wenn es sein Ziel sei, den persönlichen Willen des Menschen dem Allgemeinen Willen anzugleichen.133 Wenn Rousseau mit 131

132

133

Vgl. Helvétius, Lettre d’Helvétius au président de Montesquieu, S. 215; ders., De l’homme, Band 4, Sektion VI, Kapitel V, S. 21–23, Kapitel VII, S. 30 f., Kapitel VIII– XI, S. 33–43; Sektion VIII, Kapitel III, S. 137. Siehe Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Discours sur l’inégalité, S. 179 : „Tous ces maux sont le premier effet de la propriété et le cortège inséparable de l’inégalité naissante.“ Vgl. auch Morelly, Code de la nature, S. 37. Vgl. Diderot, Législateur, S. 755 ff.

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106 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert Beredsamkeit von dem ersten Menschen spricht, der einen Zaun um ein Stück Land errichtete, seine Nachbarn fälschlich an die Rechtmäßigkeit seiner Handlung glauben machte und dadurch zum Urheber aller Kriege, Streitigkeiten, sozialen Missstände und Demoralisierung in der Welt wurde, so ist er damit nicht radikaler als Morelly und Mably, die hartnäckig darauf bestanden, das Eigentum sei die Grundursache für alles, was in der Geschichte schlecht ausgegangen ist.134 Rousseaus Ver urteilung der Gesetze als Werkzeug der Reichen, das die Armen zwinge, Ausbeutung und Elend hinzunehmen, ist ein Gegenstück zu der Feststellung von Helvétius : „Der übermäßige Luxus, der fast überall die Despotie begleitet, setzt eine Nation voraus, die bereits in Unterdrücker und Unterdrückte, in Diebe und Bestohlene geteilt ist. Aber wenn die Diebe nur eine so kleine Zahl darstellen, warum erliegen sie nicht“ – fragt Helvétius – „den Anstrengungen der größeren Zahl ? Wem verdanken sie ihren Erfolg ? Der Unmöglichkeit der Bestohlenen, sich zu vereinen (‚se donner le mot‘ ).“135 Helvétius befand sich mit den meisten seiner Zeitgenossen auf gleichem Boden, wenn er behauptete, nur ein System des Staatseigentums unter Abschaffung des Geldes biete die Möglichkeit einer dauerhaften und unveränderlichen Gesetzgebung, die dazu angetan sei, allgemeines Glück aufrechtzuerhalten.136 Er fügte seine eigene utilitarische Anmerkung hinzu : Wenn es wahr sei, dass der Mensch nur durch Eigeninteresse angetrieben wird, dann werde er in einem Land mit machtvollen Privatinteressen natürlich dem Anreiz unterliegen, diesen Interessen zu dienen und nicht den nationalen. Dort, wo allein die Nation Belohnungen austeilt, würde niemand es nötig haben, irgendwelchen anderen als den nationalen Interessen zu dienen.137 In Rousseau’scher Theorie „ist der Staat auf Grund des Gesellschaftsvertrages Herr über die Habe aller seiner Mitglieder“, da jeder Bürger mit dem Eintritt in den Gesellschaftsvertrag sein gesamtes Eigentum dem Staat ausgeliefert habe.138 Er erhielt es zurück, um es als Treuhänder für das Gemeinwesen zu ver walten, aber seine Rechte und Vollmachten stehen immer hinter dem Anspruch der Gemeinschaft zurück, der den Vorrang hat.139 Rousseau hätte 134 135 136 137 138

139

Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Discours sur l’inégalité, S. 169, 180 ff., und die berühmte Anmerkung ( i ), ebd., S. 202–207. Helvétius, zit. in Lichtenberger, Le Socialisme au XVIIIème siècle, S. 264; Espinas, La Philosophie sociale, S. 95. Vgl. Helvétius, De l’homme, Band 4, Sektion VI, Kapitel XII–XVI, S. 44–56. Vgl. ebd., Kapitel XIII, S. 47–49. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Erstes Buch, Kapitel IX, S. 37. Vgl. auch ebd., Émile, S. 152; ders., Political Writings Rousseau, Band 1, Contrat social ( erste Fassung ), Erstes Buch, Kapitel V, S. 466 f. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Contrat social, Erstes Buch, Kapitel IX, S. 37.

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Eigentum ( Morelly und Mably )

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wirklich am liebsten alles Eigentum in der Hand des Staates zusammengefasst gesehen und keinen Einzelnen zu irgendeinem Anteil am gemeinsamen Gut zugelassen, „außer im Verhältnis zu seinen Diensten“.140 Er wollte, dass beim Tod des Eigentümers dessen Eigentum an den Staat falle. Im Projet de constitution pour la Corse schlägt Rousseau die Errichtung einer großen öffentlichen Domäne vor, aus welcher der Staat Ländereien an private Bürger für eine Reihe von Jahren treuhänderisch übertragen würde. Regierungsboden würde durch ein System von Aufgeboten ( cor vées ) bearbeitet.141 Die Schriftsteller, die alle diese Gedanken vorgetragen hatten, widersprachen ihnen jedoch selbst. Rousseau, Helvétius und Mably stimmten darin überein, dass das Privateigentum zum Bindemittel der sozialen Ordnung und zum „Grundstein des Gesellschaftsvertrages“ geworden sei.142 Helvétius nannte das Privateigentum „droit [...] sacré [...], Dieu moral des empires“.143 Die Inkonsequenz wird am offenkundigsten bei Mably, und seine Art, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, ist trotz seiner extremen Haltung typisch für die ganze Schule.

2. Morelly, der Kommunist Der einzige konsequente Kommunist unter den Denkern des achtzehnten Jahrhunderts war Morelly.144 Nach ihm wäre Habgier, „cette peste universelle, [...] cette fièvre lente“,145 niemals entstanden, wenn es kein Privateigentum gegeben hätte. Alle Störung in der Welt sei entweder aus Habgier oder aus Unsicherheit geboren. Wenn alles Gemeingut wäre und niemand etwas für sich besäße, gäbe es keinen Anreiz zur Habgier und keine Angst vor dem Ungesichertsein.146 Alle würden ganz selbstverständlich für das Gemeinwohl arbeiten und dabei sowohl ihrem natürlichen Wunsch nach persönlichem Glück 140 141 142

143 144 145 146

Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Projet de constitution pour la Corse, S. 337. Vgl. ebd., S. 337 ff., 344 ff. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Économie politique, Band 1, S. 259 ff., 265 ( Zitat ), 273. Der Mittelstand ist der Kern der Gesellschaft; vgl. dazu ebd., S. 254 : „C’est sur la médiocrité seule que s’exerce toute la force des lois.“ Siehe auch Mably, Droits et devoirs, S. 344 : „Moderation bourgeoise qui est l’âme et l’appui de la liberté.“ Helvétius, De l’homme, Band 4, Sektion X, Kapitel VII, S. 357. Vgl. auch Lichtenberger, Le Socialisme au XVIIIème siècle, S. 264. Vgl. zu diesem Unterkapitel Lichtenberger, Le Socialisme au XVIIIème siècle, S. 104– 127. Morelly, Code de la nature, S. 16. Vgl. ebd., S. 15 f.

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108 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert Folge leisten als auch unweigerlich zum Glück der anderen beitragen. „Ôtez la propriété, l’aveugle et l’impitoyable intérêt qui l’accompagne; [...] plus de passions furieuses, plus d’actions féroces, plus de notions, plus d’idées de mal moral.“147 Jedes sittliche, soziale und politische Übel sei auf das Eigentum zurückzuführen, und kein Heilmittel sei möglich außer der Abschaffung des Privateigentums. Es nützt nichts, den Zufall oder das Schicksal für die bedrängten Umstände der Staaten und Reiche verantwortlich zu machen. Im Naturzustand, in dem es kein Privateigentum gibt, funktioniere alles mit der Regelmäßigkeit und Genauigkeit eines Uhr werks.148 Morelly betrachtet den Kommunismus als eine praktische Möglichkeit. Dies verleiht seiner Behandlung der Frage des Zwanges, durch den der Mensch dazu gebracht werden könne, sich dem Allgemeinwohl unterzuordnen, eine eigenartige Färbung. Er erkennt an, dass ein Übergangssystem von „einiger Strenge“ notwendig sein mag, um die natürliche kommunistische Ordnung wiederherzustellen.149 Jedoch bedeute es keine Gewalttätigkeit, so behauptet er, wenn man versuche, den Menschen zur Natur, das heißt zu seiner wahren Natur zurückzubringen.150 Es sei falsch zu behaupten, die menschliche Natur, so wie sie unter dem Einfluss der Zivilisation und unglücklicher Umstände geworden ist, könne nicht mehr geändert werden. Diese entartete, verzerrte Natur des Menschen sei nicht seine wahre Natur. Natur sei wie Wahrheit beständig und unwandelbar. Sie verändere sich nicht deshalb, weil der Mensch ihr den Rücken gekehrt hat. Freiheit werde außerdem nicht in persönlicher Absonderung erreicht, sondern durch Zusammenarbeit und Einfügung in das kollektive Ganze, so dass die Maschine als Ganzes reibungslos funktioniere.151 Der Verfasser des Code de la nature verteidigt standhaft den Glauben an die Theodizee. Die Vorsehung könne unmöglich die Menschheit ewigem Chaos und Zufall ausgeliefert haben. Es müsse einen Abschluss geben nach einer langen Versuchsperiode voller Irrtümer. Dieser messianische Abschluss wird der kommunistische Naturstaat sein.152 Morelly ist einer der ganz wenigen utopischen Kommunisten, die nicht Asketen waren. In eindrucksvoller Weise wendet er sich an einer Stelle, ohne Rousseaus Namen zu erwähnen, gegen dessen Ablehnung der Kunst und Zivilisation als Ursache der Unmoral. Er bezeichnete ihn als einen zynischen

147 148 149 150 151 152

Ebd., S. 60. Vgl. ebd., S. 37, 48, 63, 76. Vgl. ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 44 f. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 57, 63 f.

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Eigentum ( Morelly und Mably )

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Sophisten.153 Die Kunst habe unser Dasein veredelt. Wenn sie auch zu unserer Entartung beigetragen habe, so sei dies nur die Folge ihrer Verbindung mit dem „principe venimeux de toute corruption morale, qui infecte tout ce qu’il touche“.154 Morellys kommunistische Vision der vollkommenen Gesellschaft setzt geistigen Totalitarismus voraus, der zu vollkommener Planung hinzutritt.155 Die Organisation von Produktion und Konsumtion würde sich auf öffentliche Lagerhäuser stützen, in die alle Erzeugnisse zu bringen und von denen aus sie entsprechend den Bedürfnissen zu verteilen wären. Es würde einen Gesamtplan geben. Jede Stadt würde festsetzen, wie viele Ausübende ein bestimmter Zweig der Wissenschaft oder Kunst haben sollte.156 Nur diejenige Moralphilosophie, die den Gesetzen zugrunde liegt, würde gelehrt. Diese Sozialphilosophie werde Nützlichkeit und Weisheit zur Grundlage haben : die „Süße von Blut - und Freundschaftsbanden“,157 die Dienstleistungen und gegenseitigen Verpflichtungen der Staatsbürger untereinander, die Liebe zur Arbeit und ihre Nützlichkeit und die Regeln für gute Ordnung und Eintracht. „Toute métaphysique se réduira à ce qui a été précédemment dit de la Divinité.“158 Spekulative und experimentelle Wissenschaften würden frei sein, aber Moralphilosophie wäre einzuschränken („retranchée“).159 „Es wird nur einen öffentlichen Kanon für alle Wissenschaften geben; diesem soll auf den Gebieten der Metaphysik und Ethik nichts hinzugefügt werden, was nicht durch das Gesetz vorgeschrieben ist; hinzugefügt werden nur physikalische, mathematische und mechanische Entdeckungen, nachdem sie durch Erfahrung und Vernunft bestätigt wurden.“160 Das Gesetz würde auf Obelisken, Pyramiden und öffentlichen Plätzen eingraviert werden. Es würde dem Buchstaben getreu befolgt, ohne dass die geringste Veränderung gestattet würde.161

153 154 155 156 157 158 159 160 161

Vgl. ebd., S. 76, Fußnote. A. d. Hg. : Morelly bezeichnet Rousseau wörtlich als einen „hardi sophiste“. Ebd. Zur politischen Organisation vgl. ebd., S. 94–99. Vgl. ebd., S. 87 f., 104 f. Ebd., S. 105. Ebd. Vgl. ebd., S. 105. A. d. Hg. : „Retranchée“ ist in diesem Zusammenhang nicht nachweisbar. Ebd., S. 105 f. Vgl. ebd., S. 106.

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110 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert

3. Mably und asketische Tugend Mably ging von denselben Prämissen aus wie Morelly und kam zu denselben kommunistischen Schlussfolgerungen. Doch nur in der Theorie. Morelly war ein überzeugter Optimist, Mably eine mürrische, pessimistische Natur. Sein Denken wurde eingeengt und seine Position so schwierig wie möglich gemacht durch seine Grundhaltung zum Katholizismus. Das Zusammenfallen von Katholizismus und Denkkategorien des achtzehnten Jahrhunderts machen Mably zu einem ungewöhnlich interessanten Fall. Seine ganze Haltung wird bestimmt von einer ver weltlichten Vorstellung vom Sündenfall und der Erbsünde. Daher rührt seine grundlegende Unterscheidung zwischen idealer, alleiniger Wahrheit und Gerechtigkeit einerseits, und den Halbwahrheiten, Scheingerechtigkeiten und Palliativen der Welt, in der wir unserer Sünden wegen leben müssen, andererseits. Wie ein Moralist des Mittelalters schrieb er : „Si notre avarice, notre vanité et notre ambition sont des obstacles insurmontables à un bien parfait, subissons sans murmurer la peine que nous méritons.“162 Mably war eine bitter gewordene, messianische Gestalt. Wenn man von dem Element der Erbsünde absieht, hat Mably die Eigenschaften, um ein Prophet des kommunistischen Messianismus zu sein, und er wurde de facto der Prophet der Babeuf - Bewegung. Für Mably gibt es im Hintergrund immer die Vision einer idealen sozialen Harmonie des egalitären Kommunismus; er verlegt sie in ein lang vergangenes goldenes Zeitalter oder in das Gebiet einer natürlichen und allein gültigen Ordnung der Dinge. Es wird nie ganz klar, ob die sündige Veranlagung des Menschen die ursprüngliche Harmonie zerstörte oder ob die Zerstörung dieser Harmonie – durch Privateigentum und Ungleichheit – des Menschen Unschuld vernichtete. Mably glaubt nicht nur an die Wirklichkeit der ursprünglichen Gütergemeinschaft, sondern er erklärt, er habe niemals aufgehört, sich darüber zu wundern, dass die Menschen diesen Zustand je aufgaben.163 Er kann seitdem in der Geschichte der Menschheit nichts sehen als eine ewig währende Walpurgisnacht der Leidenschaften, vor allem der Habgier und des Geizes.164 Dies ist ein konstantes Thema in seinen Schriften und wird bei jeder Gelegenheit bis zum Überdruss behandelt. Obwohl Mably zugibt, dass ohne 162

163 164

Mably, Doutes, S. 86. Mably wurde zum Moralisten aus Abscheu vor der zeitgenössischen Diplomatie, von der er sich in seiner Jugend als Sekretär seines Landsmannes, des Kardinals und Ministers Tencin, Kenntnis erworben hatte, siehe Guerrier, L’Abbé de Mably, S. 16. Vgl. auch Mably, Droits et devoirs, S. 180; ders. Mably, De la législation, Band 1, S. 13 ff., 19, 231, 238. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 14, 80 f., 114; ders., Doutes, S. 11 f., 45; ders., Droits et devoirs, S. 170 ff.; ders., De l’étude de l’histoire, S. 23. Vgl. Mably, Droits et devoirs, S. 17.

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die Triebkraft der Leidenschaften nie etwas Positives erreicht worden wäre, sieht er die Leidenschaften nur widerstrebend als auslösendes Moment schöpferischer Kräfte an. Nur selten erkennt er das Mysterium oder was Hegel später „die List der Vernunft“ nannte : dass nämlich schlechte Bestandteile untrennbar sind von der Erschaffung des Guten. Als ob Mably die Psychoanalyse vorausgeahnt hätte und in Anlehnung an Hume, sucht er alle Motive des menschlichen Handelns in dunklen Trieben, aggressiven Impulsen, irrationalen Abneigungen und Hemmungen. Die Vernunft sei immer die Dienerin der Leidenschaften. Bewusste Gedanken und angebliche Beweise seien im Grunde Rationalisierungen unserer irrationalen Triebe. „Die Leidenschaften sind so beredt, so lebhaft und so aktiv, dass sie keine Beweise brauchen, um unsere Vernunft zu überzeugen oder die Vernunft zu zwingen, zum Komplicen zu werden.“165 „Elles bravent l’évidence même.“166 Die herrschende aller Leidenschaften, ja ihr gemeinsamer Nenner, sei Eigenliebe. Während Eigenliebe im Naturzustand ein wohltuender Instinkt war, habe sie nach Einführung der Ungleichheit und des Privateigentums eine Schranke zwischen Mensch und Mensch errichtet, und wenn sie uns zusammenzubringen scheine, so sei es nur, „um den einen gegen den anderen zu bewaffnen“.167 Dieser Stand der Dinge würde andauern, „bis eine Gütergemeinschaft und Gleichheit der Bedingungen sie zur Ruhe bringt“. Das sei die einzige Möglichkeit, jene Sonderinteressen zu zerstören, die immer den Sieg über das allgemeine Interesse davontragen. Gleichheit allein ohne Gütergemeinschaft wäre von kurzer Dauer und würde in ein bis zwei Generationen zu denselben krassen Ungleichheiten führen, nämlich Elend auf der einen Seite und Luxus und Ausbeutung auf der anderen.168 Da aber dieser „plus haut degré de perfection“169 kaum erwartet werden könne, bestehe die Notwendigkeit, für die Menschheit im Zustand der Sünde ein System aufzustellen. Die Grundbedingung für eine gewisse Ordnung in diesem sündigen Zustand sei Achtung des Eigentums.170 Mably bestreitet nachdrücklich jede Absicht, eine „frevelhafte Hand“ gegen das Privateigentum zu erheben „unter dem Vor wand, das große Gute zu schaffen“.171 In der Frühzeit sei alles ein unentschuldbares Verbrechen gewesen, was die natürliche Gütergemeinschaft lockern und direkt oder indirekt zur Ein165 166 167 168

169 170 171

Mably, Doutes, S. 59. Ebd., 59 f. Mably, De la législation, Band 1, S. 28 f. Vgl. Mably, Doutes, S. 194; ders., Droits et devoirs, S. 171, 176 ff., 180; ders., De l’étude de l’histoire, S. 23 ff., 31 f. Vgl. auch Whitfield, Mably, S. 71–82, 198; Mably, De la législation, Band 1, S. 55, 71, 78 ff., 85 ff. Mably, Droits et devoirs, S. 87. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 114. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 367 ff., bes. S. 369.

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112 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert führung des Privateigentums führen konnte. Nachdem jedoch das Privateigentum erst einmal eingeführt war, sei jedes „Gesetz weise [...], das den Leidenschaften Mittel und Vor wände entzieht, die Eigentumsrechte auch nur im Geringsten zu verletzen oder zu gefährden“.172 Im Zustand der Sünde seien Angriffe auf das Eigentum nicht weniger Ausdruck von Habgier als das Hängen am Besitz. Mably ver wickelt sich so in die schwersten Inkongruenzen und Widersprüche. Eigentum ist die Quelle allen Übels, und doch möchte er es schützen. Wie allen Denkern des achtzehnten Jahrhunderts ist ihm menschliche Eigenliebe selbstverständlich, und der Wunsch des Menschen, glücklich zu sein, die Grundlage aller sozialen Übereinkünfte. Gleichzeitig ist er zutiefst misstrauisch gegenüber der menschlichen Natur und verachtet sie. Wie seine Zeitgenossen ist er ein Determinist, fühlt sich aber zur selben Zeit über wältigt von der Anarchie und Unberechenbarkeit menschlicher Leidenschaften.173 Das Ergebnis dieser Widersprüche ist die egalitäre jakobinische Vorstellung von asketischer Tugend, die gleichgesetzt wird mit Glücklichsein, und eine äußerst einengende Auffassung von der Wirtschaft. Der Mensch sollte glücklich gemacht werden. Aber Glücklichsein ist für Mably nicht Freisetzung von Lebenskraft, sondern – und dieser Ausdruck sollte zum beliebten Schlagwort für Robespierre, Saint - Just und Babeuf werden – „bonheur de médiocrité“.174 Die Natur hat nur ein einziges Glück, trotz der Launen der Gesellschaften, und dieses bietet sie allen Menschen gleichmäßig.175 Mably nimmt seine Zuflucht zu psychologischem Determinismus und erklärt, die Festsetzung eines gleichen Maßes von Glück werde ermöglicht durch die wesentliche Gleichartigkeit der menschlichen Leidenschaften und die Ähnlichkeit ihrer Wirkungen. Er glaubt an eine „Kunst des Regierens, die bestimmt, entschieden und unveränderlich ist, da die Natur des Menschen, dessen Glück die Politik bezweckt, mit einem bestimmten, entschiedenen und unveränderlichen Prinzip verbunden und von ihm abhängig ist“.176 Der sicherste Weg zum Glück sei das Gefühl der Gleichheit, ebenso wie das einzige Kriterium zur Beurteilung von Gesetzen der Beitrag sei, den sie zur Einführung und Erhaltung der Gleichheit leisten.177 Der Mensch und die Nationen unterliegen demselben Gesetz : jede Art von Überheblichkeit, sei es übertriebener Ehrgeiz oder übergroßer Erfolg, müsse in Verderben enden. Und daher besteht das größte Glück für Mably in einer 172 173 174 175 176 177

Mably, De la législation, Band 1, S. 117. Vgl. auch ebd., S. 118. Vgl. Mably, Droits et devoirs, S. 28, 31; ders., De la législation, Band 1, S. 27. Vgl. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 81, 87. Vgl. Mably, Phocion, S. 21. Ebd., S. 19. Vgl. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 31, 33, 48, 75, 81, 85, 87; ders., De la législation, Band 1, S. 13, 47, 126; ders., Phocion, S. 23, 65.

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von Leidenschaften ungestörten Seelenruhe; die klügste Politik in Mäßigung und Einfachheit; und die größte Stärke in Mittelmäßigkeit ohne Ehrgeiz und Intrigen.178 Um den Menschen glücklich zu machen, müsse der Staat ihn mit einem Gefühl tugendhafter Gleichheit erfüllen. Er müsse „die Regungen seines Herzens regulieren“, ihn dazu bringen, „ehrliche Gewohnheiten anzunehmen und seine Vernunft gegen die Schläge seiner Leidenschaften zu schützen“.179 Die Gesetzgebung müsse unsere Leidenschaften „unter strenger Unter werfung“ halten „und auf diese Weise die Herrschaft der Vernunft stärken und den Tugenden eine Überlegenheit im Handeln verschaffen“.180 Alle Gesetzgebung müsse mit einer Reform der Sittlichkeit beginnen. Es sei die höchste Aufgabe der Regierung, uns durch das Mittel geheiligter Gewalt dem Einfluss der Leidenschaften zu entziehen.181 Mablys sittliche Askese führt zu einer Verleugnung des Wertes der Kultur. „Eine Gemeinschaft, die auf sittliche Reinheit hält, wird niemals die Erfindung neuer Künste erlauben.“182 Fortschritt auf dem Gebiet der Künste ist für Mably gleichbedeutend mit einem Fortschritt des Lasters, und das Werk der Künstler leistet den Launen und Lastern der Reichen und Prunksüchtigen Vorschub. In allem künstlerischen Bestreben kann Mably nichts anderes erblicken als eine gewaltige Vergeudung von Fertigkeit, Kraft und Talent – und all das, um eine gefährliche Bewunderung zu erregen. Kaum ein zweiter Denker in neuerer Zeit predigte mit gleicher Heftigkeit wie dieser mürrische Abbé die Unvereinbarkeit des Guten mit dem Schönen. „Wenn ich daran denke“, schreibt er, „wie verhängnisvoll alle die angenehmen Fertigkeiten für die Athener wurden, wie viel Ungerechtigkeit, Gewalttat und Tyrannei den Römern angetan wurden wegen der Bilder, Statuen und Vasen der Griechen, dann frage ich mich, wozu wir eine Akademie der schönen Künste brauchen. Mögen die Italiener glauben, ihre Spielereien seien eine Ehre für eine Nation. Bei uns sollen die Völker lieber Vorbilder für Gesetze, Sitten und Glück suchen, und nicht fürs Malen.“183 Rousseau und Mably stimmten darin überein, dass es nichts Gefährlicheres gäbe als das Laster, das mit Glanz gepaart ist. Wie zu erwarten, hatte Mably spartanische Vorstellungen über Erziehung. Die Republik sollte die Kinder der ausschließlichen Vormundschaft ihrer Eltern wegnehmen. Andernfalls müssen Verschiedenheiten in der Lebensweise entstehen, die der Gleichheit ent178 179 180 181 182 183

Vgl. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 31, 33, 48, 75, 81, 85, 87; ders., Phocion, S. 53 f. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 27. Mably, Phocion, S. 46. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 228; ders., Phocion, S. 62, 83, 201. Mably, Phocion, S. 104. Mably, De la législation, Band 1, S. 141. Siehe auch ders., Phocion, S. 51, 105 f., 116, 123, 176.

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114 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert gegenwirken. Mably meint, da die Menschen „zur dauernden Unreife ihrer Vernunft verurteilt“184 seien und getrieben werden von „einem Instinkt, der nur wenig feiner ist als der von Tieren“,185 wäre es gefährlich, eine freie Presse oder volle religiöse Toleranz zu gestatten, bis die Menschen reif genug dafür seien. Es stimme, dass Gedankenfreiheit unter einer Zensur nicht gedeihen könne. Aber Diskussionsfreiheit könne gefahrlos nur Gelehrten gewährt werden, denn ihre Irrtümer würden keine Gefahr für die Gesellschaft bedeuten, sondern nur die Diskussion anregen. Die neugegründeten Vereinigten Staaten von Amerika begingen einen Fehler, ihrem Volke die Freiheit politischer Meinungsäußerung zuzugestehen, denn es sei noch zu sehr erfüllt von den schlechten Gedanken und Gewohnheiten der Alten Welt.186 Und doch hätte Mably nicht zugegeben, dass er für ein System der Unterdrückung eintrat. Er schrieb ganz im Sinne des achtzehnten Jahrhunderts, das Ziel der Gesellschaft sei nichts anderes, als für alle Menschen die Rechte zu wahren, die sie aus den „großzügigen Händen der Natur“ empfangen hatten.187 Der Gesetzgeber habe keinen anderen Auftrag, als Pflichten aufzuerlegen, deren Erfüllung für alle wesentlich sei. „Man wird mit Leichtigkeit sehen, wie wichtig es ist, das Naturgesetz zu studieren, [...] das Gesetz der Gleichheit der Menschen. Ohne dies Studium fehlten der Sittlichkeit sichere Prinzipien, und sie liefe Gefahr, auf Schritt und Tritt zu irren.“188 Mably nahm für sich in Anspruch, ein zuverlässiger Vertreter der Menschenwürde zu sein, die in jedem menschlichen Wesen als „unverletzlich geachtet“189 werden sollte. In ähnlicher Weise schloss Rousseau triumphierend, nachdem er einen Plan für eine totalitäre Regierungsform für Korsika abgefasst hatte, die von ihm angeordneten Maßnahmen würden der Bevölkerung von Korsika jede nur mögliche Freiheit sichern, denn es würde nichts von ihr verlangt, was nicht die Natur postulierte.190

4. Asketische Wirtschaftsauffassung In ihrer Anwendung auf die Wirtschaft bedeutet diese Philosophie des tugendhaften Glücklichseins eine Politik asketischer Beschränkung. Mably traf sich hier mit anderen Zeitgenossen auf gemeinsamem Boden. Wenn man Eigen184 185 186 187 188 189 190

Whitfield, Mably, S. 60. Ebd., S. 59, 253 ( Anm. 90). Vgl. ebd., Mably, S. 99. Vgl. Mably, Doutes, S. 13; ders., De la législation, Band 2, S. 148. Mably, De la législation, Band 2, S. 149. Vgl. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 33, 264 f., 369. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Projet de constitution pour la Corse, S. 350–356, bes. S. 356.

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tum nicht abschaffen kann, muss man es über wachen. „La propriété [...] ouvre la porte à cent vices et à cent abus“, schrieb Mably, „il est donc prudent que des loix rigides veillent à cette porte“.191 Rousseau verlangte für den Staat das Recht und die Macht, dem Eigentum „einen Maßstab, Regeln und Zügel zu geben, es zu dirigieren, zu unter werfen und immer dem öffentlichen Wohl nachgeordnet zu halten“.192 Er wollte, dass das Individuum so unabhängig wie möglich von seinem Nachbarn und so abhängig wie möglich vom Staate sei. Gerade weil das Individuum das höchste Recht auf ein gesichertes Dasein habe, müsse der Staat sowohl die Mittel haben, dieses zu sichern, als auch die Macht, diejenigen zu bremsen, die beanspruchen oder versuchen, durch Raub an anderen mehr zu bekommen, als ihnen zusteht. Rousseau versorgte Babeuf mit seinem Hauptschlagwort, als er gebot, der Staat habe dafür zu sorgen, dass alle genug haben und niemand mehr als genug.193 Kaum einer unter den Denkern, mit denen wir uns befassen, sah die Wirtschaft unter dem Gesichtspunkt der Expansion und der Vermehrung von Wohlstand und Wohlbehagen. Ihre hauptsächliche Erwägung war egalitäre soziale Harmonie und Schutz der Armen. Hieraus entstand etwas wie die Angst des mittelalterlichen Mönchs vor dem appetitus divitiarum infinitis, der antisozialen Leidenschaft, die die tugendhafte Liebe für das Gemeinwohl tötet. Dies drückte sich auf zwei Arten aus : in einem Verlangen nach Besitzbeschränkung auf dem Wege der Gesetzgebung und in der ausdrücklichen Verdammung der im Anstieg befindlichen Industrie - und Handelszivilisation. Mably wollte große Vermögen durch Gesetzgebung ständig aufteilen lassen. Er wollte eine Höchstgrenze festsetzen für Vermögen, das ein Bürger besitzen dürfe, und er predigte auch die Idee eines Agrargesetzes : die Neuverteilung des Bodens auf egalitärer Grundlage.194 Rousseau hatte gelehrt, kein Bürger solle so reich sein, dass er einen anderen aufkaufen könne, und keiner so arm, dass er sich verkaufen müsse.195 Er setzte sich für eine progressive Einkommensteuer ein, um Vermögensvergrößerung aufzuhalten, und er war, wie Mably, dafür, Luxus so streng wie möglich zu besteuern. Es gibt in der französischen Sozialphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts nichts Erstaunlicheres als das vollständi191 192 193

194 195

Mably, De la législation, Band 1, S. 147. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Projet de constitution pour la Corse, S. 337. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Einleitung Vaughans, S. 8, Économie politique, S. 254 ff.; ders., Political Writings Rousseau, Band 2, Projet de constitution pour la Corse, S. 310 f., 314 ff., 319, 325, 348, 351. Vgl. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 369 ff.; ders., Phocion, S. 106, 167, 178; ders., De la législation, Band 1, S. 146 f. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Contrat social ( erste Fassung ), Zweites Buch, Kapitel VI, S. 497.

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116 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert ge Fehlen eines Vorgefühls oder Verständnisses für die neuen Kräfte, deren Freisetzung durch die industrielle Revolution unmittelbar bevorstand. Nur wenige sahen in der Ausweitung von Handel und Industrie eine Aussicht auf vermehrten nationalen Wohlstand. Die meisten behandelten sie als Auswuchs des Erwerbsgeistes einer kleinen, selbstsüchtigen und skrupellosen Klasse, nicht als Möglichkeit einer Verbesserung für die Arbeiter, sondern als ein neues Mittel, sie zu degradieren und zu versklaven.196 Alle sahen übereinstimmend in der Landbevölkerung das Rückgrat der Nation, ja die Nation schlechthin. Rousseau dachte, eine Agrargesellschaft sei die natürliche Heimat der Freiheit, und Holbach glaubte, nur Grundbesitzer könnten als Staatsbürger betrachtet werden.197 Rousseau wollte den Siedler, „colon“, das Gesetz für den Industriearbeiter bestimmen lassen.198 Robespierre setzte in seiner berühmten Rede über England als selbstverständlich voraus, dass die englische Nation der Händler dem französischen Volk der Landwirte moralisch unterlegen sein müsse.199 Alle fürchteten und verachteten den Handel, große Hauptstädte und städtische Zivilisation im Allgemeinen.200 Rousseau bezeichnete die Industrie als „cette partie trop favorisée“.201 Holbach sah im Handel einen sozialen Feind. Alle neueren Kriege, behauptete er, seien durch die Habgier kommerzieller Interessen ver ursacht und hätten die Erwerbung von Märkten zum Vorteil eines kleinen Teils der Nation zum Ziel.202 „Kapitalisten und Großkauf leute haben kein Vaterland !“, war das allgemeine Schlagwort.203 Sie geben nichts auf das nationale Interesse, ihre einzige Erwägung ist privater, unsozialer Gewinn. „Négociants avides et qui n’ont d’autre patrie que leurs coffres.“ „La tranquillité, l’aisance, les intérêts les plus chers d’un état sont imprudemment sacrifiés à la passion d’enrichir un petit nombre d’individus.“204 All dies geschehe, weil das Geld, das der Handel einbringe, als Mittel zur Macht und zum

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Vgl. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 73 f.; ders., De la législation, Band 1, S. 142. Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 1, Économie politique, S. 255; ders., Political Writings Rousseau, Band 2, Projet de constitution pour la Corse, S. 320–327. Siehe auch Holbach, Système social, Band 3, S. 76 : „Possesseurs de terres qui seuls [...] sont les vrais citoyens.“ Ebd. : „La terre est la vraie base d’un État.“ Vgl. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Projet de constitution pour la Corse, S. 335. Vgl. Robespierre, zit. in Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 630 ff. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 42, 142, 158. Vaughan ( Hg.), Political Writings Rousseau, Band 2, Projet de constitution pour la Corse, S. 335. Vgl. außerdem ebd., S. 318. Vgl. Holbach, Système social, Band 3, S. 75 f. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 143. Holbach, Système social, Band 3, S. 75 f.

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Glück betrachtet werde. Alle vergessen die Inflation, die durch den Überschuss an Geld verursacht werde, und die Leiden des Volkes, die daraus entstehen. Nationaler Kredit sei eine der verderblichsten Erfindungen.205 „Rien n’est plus destructeur pour les mœurs d’un peuple que l’esprit de finance.“206 Die Erinnerung an den Law - Zusammenbruch und andere Handels - und Finanzskandale war noch frisch. Den meisten politischen Schriftstellern des achtzehnten Jahrhunderts – die vor allem Moralisten waren – lag es fern, die Persönlichkeit des Menschen ausweiten zu wollen durch Erweckung neuer Ansprüche und Bedürfnisse, oder gar den Wert der Zivilisation in Verschiedenheit und Vielfalt zu sehen. Sie verurteilen Industrie und Handel gerade deswegen, weil sie neue und „eingebildete Bedürfnisse“ hervorriefen und die Launen des Menschen anfachten : „désirs extravagants, [...] fantaisies bizarres d’un tas de désœuvrés.“207 Mably bezog auch das Handwerk in diese Verurteilung ein. Er sah „Millionen von Handwerkern damit beschäftigt, unsere Leidenschaften aufzurühren“ und uns mit Dingen zu versorgen, von denen wir besser nie gehört hätten.208 Und hier macht Mably, der Gleichheitsfanatiker und Prediger der Heiligkeit der Menschenwürde, den erstaunlichen Vorschlag, die ganze Klasse von Handwerkern und Arbeitern von dem Recht auszuschließen, die nationale Souveränität auszuüben, „espèces d’esclaves du public, [...] qui sont sans fortunes, et qui, ne subsistant que par leur industrie, n’appartiennent en quelque sorte à aucune société“.209 Diese Klassen seien dazu verurteilt, für die Laster und Launen der Reichen zu sorgen, sie seien von der Gunst ihrer Auftraggeber abhängig und daher zu verächtlich und zu unwissend, um an der Gestaltung des nationalen Willens teilzuhaben. Ihnen fehle die Würde, die Unabhängigkeit und die Freiheit, die für einen Gesetzgeber notwendig sind, sie hätten kein Interesse an der Erhaltung des sozialen Gebäudes.210 Holbach schrieb in fast genau denselben Ausdrücken.211 Mably legte dem Gesetzgeber nah, mit den

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210 211

Vgl. ebd., S. 76–78, 84 f. Ebd., S. 81. Ebd., S. 76. Vgl. auch ebd., S. 81, 84. Vgl. außerdem Mably, Droits et devoirs, S. 168; ders., Observations sur l’Amérique, S. 440 f.; Helvétius, De l’homme, Band 4, Sektion VI, Kapitel VIII, S. 33–38, Kapitel IX, S. 38–40. Mably, De l’étude de l’histoire, S. 301. Mably, Droits et devoirs, S. 79. Vgl. auch ders., De la législation, Band 2, S. 59; ders., Phocion, S. 102 f., 105; ders., Du cours et de la marche des passions, S. 167; ders., De l’étude de l’histoire, S. 299 ff. Vgl. außerdem ders., Droits et devoirs, S. 344 : „La modération bourgeoise.“ Vgl. Whitfield, Mably, S. 81–139. Holbach, Système social, Band 2, S. 53–55. Ebd., S. 65 : „Police sévère“ zur Kontrolle der Bevölkerungszahl. Siehe auch ders., Système social, Band 3, S. 44 f.

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118 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert „wie Sklaven arbeitenden“ Klassen freundlich umzugehen, da sie sonst leicht zu Feinden der Gesellschaft werden könnten.212 Mirabeau klagte darüber, dass alle Aufmerksamkeit den großen Fabriken, genannt „manufactures réunies“, galt, in denen Hunderte von Arbeitern unter einem einzigen Direktor arbeiteten, und kaum ein Gedanke auf die so sehr zahlreichen selbstständigen Arbeiter und Handwerker ver wandt wurde. „C’est une très grande erreur car les dernières font seuls un objet de prospérité nationale vraiment important.“213 Die „fabrique réunie“ mag einen oder zwei Unternehmer reich machen, aber die Arbeiter in ihr bleiben auf die Dauer Lohnempfänger, die weder an der Fabrik als solcher interessiert seien noch einen Vorteil aus ihr hätten. In einer „fabrique séparée“ werde keiner reich, aber vielen Arbeitern werde es gut gehen, und ein paar fleißige können vielleicht ein kleines Kapital ansammeln.214 Ihr Beispiel werde andere zu Sparsamkeit und Anstrengung anregen und ihnen so im Fortkommen helfen. Eine geringe Erhöhung im Lohn eines Fabrikarbeiters habe auf die Nationalwirtschaft keinen Einfluss : „Elles ne seront jamais un objet digne de l’intérêt des gouvernements.“215 Niemand war so radikal wie Mably in seinen Forderungen nach Staatskontrolle und Regulierung des Handels. Er befür wortete insbesondere die Kontrolle des Getreidehandels und lieferte damit einen wichtigen Beitrag zu der vor und während der Revolution geführten Diskussion über diesen lebenswichtigen Sektor der französischen Wirtschaft. Wie Rousseau hasste er den Außenhandel, dessen einzige Beweggründe Habgier und Luxus seien und der den rechtschaffenen Geist der von Kalvin errichteten tugendhaften Republik vernichte, denn Sparta und das kalvinistische Genf waren für Mably und Rousseau Quellen der Inspiration.216 Da für sie sittliche und politische Erwägungen im Grunde dasselbe waren, sahen sie in wirtschaftlicher, insbesondere kommerzieller Expansion eine Gefahr nicht nur für die Sittlichkeit, sondern auch für die Freiheit. Mably betrachtete den Handel als „essentiellement contraire à l’esprit de tout bon gouvernement“.217 Ermutige man Habgier und Luxus unter dem Vor wand der Förderung des Handels, so könnten alle Gesetze zur Stärkung der Freiheit nicht verhindern, dass man zum Sklaven werde.218 Mably versichert herausfordernd, der Erfolg all seiner Beschränkungen würde sein, die Menschen zu lähmen und zu entkräften ( engourdir ). „C’est ce que 212 213 214 215 216 217 218

Mably, De la législation, Band 1, S. 238 f. Jaurès, Histoire socialiste, Band 2, S. 284. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Mably, De la législation, Band 1, S. 158. Ebd., S. 142. Vgl. Mably, Droits et devoirs, S. 168.

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je souhaite, si, par cette engourdissement, on entend l’habitude qu’ils contracteront de ne rien désirer au - delà de ce que la loi leur permet de posséder.“219 Auf den Einwand, manche Leute würden lieber aus dem Lande fliehen, als sich Gesetzen zu unter werfen, die Stumpfsinn erzeugten, erwiderte Mably, diejenigen, deren Leidenschaften zu stark seien, um heilsamen Gesetzen zu gehorchen, sollten lieber bald gehen, da sie Feinde der Republik, ihrer Gesetze und ihrer Sittlichkeit seien. „Doch niemand wird fliehen; die Tyrannei von Regierung und Magistrat vertreibt manchmal Leute, aber gerechte Gesetze verbinden sie ganz im Gegenteil ihrem Lande gerade durch ihre Strenge.“220 Und so gelangen wir zur Antithese der ursprünglichen Postulate. Das Postulat der Freiheit hätte eine Freisetzung der Spontaneität erwarten lassen. Stattdessen sehen wir uns der Vorstellung gegenüber, dass der Staat als Hauptregulator asketische Einfachheit erzwingen soll. Anfängliches und stets gleichbleibendes Ziel war die Befriedigung des menschlichen Eigeninteresses, das als hauptsächliches und löbliches Motiv jeden Handelns gepriesen wurde – und am Ende wird aller menschlichen Initiative ein Hemmschuh angelegt. Freiheit ist durch Gleichheit und Tugend über wunden worden; freier Antrieb und Aufstand gegen überlieferte Beschränkungen werden überdeckt durch das Postulat der natürlichen sozialen Harmonie. Im Wirtschaftsdenken des achtzehnten Jahrhunderts besteht dieselbe Inkonsequenz wie in seiner Auffassung der politischen Ethik. Die Denker des achtzehnten Jahrhunderts sprachen die Sprache des Individualismus, doch ihre Beschäftigung mit dem Allgemeininteresse, dem Gemeinwohl und dem natürlichen System führte zum Kollektivismus. Sie beabsichtigten nicht, die Menschen in Gehorsam unter ein Prinzip zu beugen, das außerhalb ihrer selbst stand, sondern sie wollten den Menschen so formen, dass er aus freien Stücken dazu gelangen würde, dieses Prinzip als sein eigenes zu empfinden. Dasselbe trifft auf das sozialökonomische Gebiet zu. Die in Frage stehenden Schriftsteller verabscheuten sicherlich den Gedanken an industrielle Konzentration und die Vision großer Arbeitermassen, die von einem großen Konzern in Staats - oder Privateigentum beschirmt werden. Das bedeutete Sklaverei und Beleidigung der Menschenwürde. Sie wollten so viele wie möglich – alle, wenn möglich – zu freien und unabhängigen Kleinbauern und Handwerkern machen. Sogar Kommunisten wie Morelly und Mably beschäftigten sich mit Wirtschaftsorganisation in Begriffen von Lieferungen der Einzelerzeuger an die öffentlichen Lagerhäuser und Verteilung der Erzeugnisse an die einzelnen Verbraucher. Die Denker des achtzehnten Jahrhunderts suchten irgendwie Etatismus mit Individualismus zu verbinden, wobei der Staat die Auswüchse der Ungleichheit eindämmen oder 219 220

Mably, De la legislation, Band 1, S. 153. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 119, 126.

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120 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert als Ordner und Versorger, als Garant für die soziale Sicherheit der Armen und Schwachen fungieren sollte. Sie lebten vor dem Zeitalter von Großindustrie und industrieller Zentralisation. Nur wenige unter ihnen konnten sich überhaupt eine Nation in mächtigem produktivem Schaffen vorstellen. Der Mensch war für sie in erster Linie ein sittliches Wesen. Unter den bedeutenderen Revolutionären waren Sieyès und Barnave die Ersten, die in den Begriffen eines kollektiven Produktionseinsatzes dachten. Erst die industrielle Expansion unter Napoleon und der Restauration verliehen dieser Denkrichtung einen großen Auftrieb. Und doch ist die im Wesentlichen sterile und reaktionär beschränkende Haltung des achtzehnten Jahrhunderts weniger interessant und weniger wichtig durch das, was gesagt wird, als durch das, was unausgesprochen bleibt. Man geht nicht bis ans Ende, sondern bleibt ängstlich in der Mitte stehen. Man wird gedrängt von einem revolutionären Antrieb zu vollständiger Erneuerung und von der Idee einer Gesellschaft, die planmäßig neu konstruiert wird in der Absicht, eine logische und endgültige Ordnung herbeizuführen, und doch schreckt man davor zurück, die Grundlage der sozialen Beziehungen, das Eigentum, in den Schmelztiegel zu werfen. Die Denker des achtzehnten Jahrhunderts trugen vieles bei zur Erschütterung der Unantastbarkeit des Eigentums und zur Erhebung des Staates zum obersten Richter im Wirtschaftsleben. Sie scheuten sich allerdings, die letzten Schlussfolgerungen zu ziehen und versuchten, so konser vativ wie möglich zu sein. Aber die Stoßkraft der Idee war zu stark. Es kam die Französische Revolution mit ihrem messianischen Ruf und ihren wirtschaftlichen und sozialen Spannungen und Belastungen. Die erwachten Massen, getragen von der Idee des allgemeinen Glücks, konnten nicht fassen, warum die Revolution nur eine politische und keine soziale sein sollte. Sie konnten nicht verstehen, warum der Gesetzgeber, der auf anderen Gebieten so allmächtig war, nicht die Macht haben sollte, die Selbstsucht der Reichen zu unterdrücken und die Armen zu ernähren; sie fragten sich, warum er nicht fähig sein sollte, das soziale Problem nach dem Muster der Natürlichen Ordnung und entsprechend der „Notwendigkeit der Dinge“ zu lösen. Schon die Idee der Demokratie schien eine immer engere Annäherung an wirtschaftliche Gleichheit in sich zu schließen. Eine rein formale politische Demokratie ohne soziale Nivellierung bedeutete dem achtzehnten Jahrhundert, das in den Gedankengängen der Antike aufgewachsen war, nichts. Sie war ein späteres Produkt. Die jakobinische Diktatur wurde von diesen Wirbelwinden unvorbereitet überrascht. Sie musste eine Station auf halbem Wege improvisieren. Als sie von dem messianischen Drang und einer vagen Vision weitergetrieben wurden, fehlte den Jakobinern ebenso wie ihren Lehrern des achtzehnten Jahrhunderts der Mut, einen Frontalangriff auf das System des Eigentums zu machen. Dies erklärt, warum die von ihnen postulierte „Tugendherrschaft“ als

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Eigentum ( Morelly und Mably )

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ein bis zur Bedeutungslosigkeit unbefriedigendes und ausweichendes Ideal erscheint, und andererseits, warum sie die diktatorischen sozialen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die die Notwendigkeit ihnen auferlegte, mit so viel Zögern ausführten. Niemand wurde sich klarer bewusst als Saint - Just, dass eine unwiderstehliche Dynamik die Jakobiner in eine Richtung trieb, von der sie sich im Anfang kaum hatten träumen lassen. Wie wir sehen werden, entdeckten Babeuf und Buonarroti, dass die jakobinische Station auf halbem Wege eine Leidensstation war. Es war notwendig, den ganzen Weg zu gehen in Richtung auf eine vom Staat dirigierte und in Staatseigentum übernommene Wirtschaft. Die Lösung des wirtschaftlichen Problems war die Vorbedingung der jakobinischen Tugendrepublik. Die Thermidorreaktion zog eine ähnliche Lehre aus der jakobinischen Diktatur, kam aber zu der entgegengesetzten Schlussfolgerung : das Eigentum musste der Fels des sozialen Gebäudes werden und Sozialfürsorge aus dem Bereich der Staatspolitik entfernt werden. Man könnte sagen, die Französische Revolution habe Schritt für Schritt die Lehren Mablys befolgt, nur in umgekehrter Reihenfolge. Aus seiner Verzweif lung heraus, je das einzig gültige kommunistische System ver wirklicht zu sehen, entwickelte Mably für den Zustand der Sünde eine ganze Serie von praktischen politischen Maßnahmen, die den Ablauf der Revolution tief beeinflussten. Die Gedanken Babeufs waren eine Schlussfolgerung im Sinne von Mably und wurden entwickelt, nachdem dessen politische Maßnahmen beim Versuch einer Lösung der Gesellschaftsprobleme gescheitert waren; sie waren zugleich eine Rechtfertigung der ursprünglichen Voraussage Mablys, alle Reformen würden ohne Abschaffung des Eigentums wirkungslos sein. Nur : Während Mably dies für einen aussichtslosen Traum hielt, entschieden sich Babeuf und seine Anhänger, dass es durch die revolutionären Veränderungen in den Bereich praktischer Politik gerückt, ja sogar unvermeidlich geworden sei durch das Versagen der revolutionären Palliative. Mablys politisches Denken – ein Gegenstand, der nicht in den Rahmen dieser Arbeit als solcher gehört – könnte als eine Reihe von Schichten dargestellt werden, deren jede mit einer bestimmten Phase der Revolution korrespondierte und sie beseelte. Er verfasste einen prophetischen Plan für das Anfangsstadium der Revolution. Er akzeptierte die Teilung der Gesellschaft in Stände und Klassen als unvermeidliches Übel, solange die Menschen nicht „alle Brüder sein“ konnten, und prophezeite, die verschiedenen Stände würden durch Wiedergeltendmachung ihrer besonderen Interessen und Freiheiten die königliche Despotie isolieren und schwächen. Die Parlamente würden zum „Anker der Erlösung“ werden, und die von ihnen heraufbeschworene Krise würde den König zwingen, die Generalstände einzuberufen. Diese würden sich als eine zu bestimmten Zeiten zusammentretende Nationalversammlung etablieren.

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122 Die Ursprünge des politischen Messianismus im achtzehnten Jahrhundert Die Konstituierende Versammlung übernahm von Mably das Prinzip der absoluten Vormachtstellung der gesetzgebenden Körperschaft über eine schwache, verachtete und immer verdächtige königliche Exekutive, sie übernahm die Heiligkeit des Prinzips der parlamentarischen Vertretung, nachdem Mably direkte Demokratie ver worfen hatte als ein System, das einer anarchischen, launenhaften und unwissenden Menge die Zügel in die Hand gibt. Die Jakobiner nahmen ihre Idee des tugendhaften und gleichen Glücks nicht weniger von Rousseau als von Mably. Noch unmittelbar vor dem Thermidor bringt Saint - Just Schriften von Mably mit in den Wohlfahrtsausschuss und verteilt sie an seine Kollegen, die anderen Diktatoren des revolutionären Frankreich. Hierdurch wollte er sie endgültig für seinen Plan gewinnen, die Tugend zur Herrschaft zu bringen und damit die Regeneration des französischen Volkes und die Erstehung einer neuen Art der Gesellschaft zu ver vollständigen und zu sichern. Schließlich übernahm die Babeuf - Bewegung Mablys Kommunismus, während das Nach - Thermidor - Regime den Ausschluss der Besitzlosen vom politischen Leben ebenfalls auf Mablys Lehren gründete.

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Zwei ter Teil Die jako bi ni sche Impro vi sa ti on

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Mais elle existe, je vous en atteste, âmes sensibles et pures; elle existe, cette passion tendre, impérieuse, irrésistible, tourment et délices de cœurs magnanimes, cette horreur profonde de la tyrannie, ce zèle compatissant pour les opprimés, cet amour sacré de la patrie, cet amour plus sublime et plus saint de l’humanité, sans lequel une grande révolution n’est qu’un crime éclatant qui détruit un autre crime; elle existe, cette ambition généreuse de fonder sur la terre la première République du monde; cet égoïsme des hommes non dégradés, qui trouve une volupté céleste dans le calme d’une conscience pure et dans le spectacle ravissant du bonheur public. Vous le sentez, en ce moment, qui brûle dans vos âmes; je le sens dans la mienne. Robespierre

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I. Die Revo lu ti on von 1789 – Sie yès 1. Die revolutionäre Haltung Am Anfang der Französischen Revolution fanden die revolutionären Kräfte in Sièyes ihren Hauptwortführer. Der Verfasser der erfolgreichsten politischen Flugschrift aller Zeiten – selbst das Kommunistische Manifest hatte bei seinem Erscheinen nur geringen Widerhall, so groß auch sein späterer Einfluss war – gab eine Übersicht über die politische Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts mit dem Ziel ihrer unmittelbaren praktischen Anwendung. Zum ersten Mal in der neueren Geschichte, und vielleicht in der Geschichte überhaupt, wurde eine politische Schrift von Staatsmännern und Politikern, ja von der öffentlichen Meinung im weitesten Sinne des Wortes, bewusst und begeistert als vollendeter Führer zu praktischem Handeln aufgegriffen, und nicht nur als scharfsinnige Analyse der Realität, die kluge Überlegungen und anregende Gedanken enthielt, so wie eine politische Schrift bis dahin behandelt worden wäre. Das allein war ein Ereignis von unabsehbarer Tragweite.1 Es war ein Zeichen für die neue Bedeutung von Ideen als historischen Triebkräften. In früheren Zeiten spielten Ideen eine geringe Rolle als Faktoren in politischen Veränderungen. Tiefwurzelnde Achtung vor Tradition und Präzedenz wirkten auf Stabilität und Kontinuität hin. Unter einer traditionellen Monarchie wurde die Ver waltung aus der Aristokratie oder aus Beamtenfamilien rekrutiert. Regierung war eine Sache der Geschäftsführung durch diejenigen, denen sie eine überkommene Beschäftigung war. Mit der Ersetzung der Tradition durch abstrakte Vernunft gelangten Ideologie und Doktrin zu überragender Bedeutung. Die Ideologen traten in den Vordergrund. Darüber hinaus waren Ideen zu den Massen gedrungen. Es sind Statistiken angeführt worden, um zu zeigen, dass die Werke der Philosophen in den Jahren vor der Revolution weder weit verbreitet waren noch viel gelesen wurden, und der Einfluss der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts auf die Revolution ist ernsthaft in Frage gestellt worden. Wenn man sich mit der Revolutionslite1

Monographien über Sieyès : Clapham, The Abbé Sieyès, geschrieben auf Anregung von Lord Acton ( Vor wort ); Bastid, Sieyès et sa pensée. Uns interessiert hier nur Sieyès am Anfang der Revolution. Die Entwicklung seines Denkens in späteren Jahren, insbesondere nach dem 9. Thermidor, und sein Anteil am Zustandebringen des Bonaparte’schen Konsulats liegen außerhalb unseres Bereichs. Es dürfte jedoch nicht unangebracht sein, auf eine dialektische Verbindung hinzuweisen zwischen Sieyès’ Vorliebe für genaues Planen und Verfassungsentwürfe und seinem Hang zu autoritären persönlichen Regierungsformen. Siehe außerdem die folgenden Anmerkungen.

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ratur vertraut macht, wird deutlich, dass Statistiken des zahlenmäßigen Absatzes von Büchern wenig über die Wirkung der in ihnen enthaltenen Ideen aussagen können. Die Verbreitung philosophischer Textbücher in Bibliotheken oder die Zahl ihrer tatsächlichen Leser ist in Wirklichkeit kein Maßstab für ihren Einfluss. Wie viele Menschen unserer eigenen Zeit haben Das Kapital von Marx oder die Werke von Freud wirklich gelesen ? Und doch würden wenige bestreiten, dass die in diesen Büchern vorgetragenen Ideen die gegenwärtige Gedanken - und Erfahrungswelt in einem quantitativ unmessbaren Grade durchdrungen haben. Es gibt so etwas wie ein Klima für Ideen – Ideen, die in der Luft liegen. Solche Gedanken erreichen den Halbgebildeten und Halbartikulierten aus zweiter, dritter oder vierter Hand. Sie schaffen trotzdem eine allgemeine Geistesverfassung. Tocqueville fand viele Hinweise auf die „Menschenrechte“ und die „Natürliche Ordnung“ in Beschwerdeheften („cahiers de doléances“) von Bauern.2 Vom Gesichtspunkt dieser Untersuchung verdienen die Sieyès’schen Schriften der Jahre 1788–1789 deshalb besondere Beachtung, weil sie die Revolutionsphilosophie des achtzehnten Jahrhunderts als einen noch ungeteilten Komplex zum Ausdruck bringen.3 Es gibt noch keine klare Andeutung einer Spaltung. Das Schisma in zwei Typen der Demokratie stand kurz vor seiner Entwicklung. Es erhebt sich die Frage, ob Sieyès’ Schriften aus jener Zeit auf die Möglichkeit einer Spaltung hinweisen, und ob man in ihnen eine Spannung zwischen nicht zu vereinbarenden Elementen erkennen kann. Die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht. Sie erfordert ein erhebliches Maß von Abstand. Sieyès’ Gedanken aus der frühen Revolutionsperiode sind unlösbar in das westeuropäische Bewusstsein eingegangen und haben sich mit modernem liberal - demokratischen Denken derart ver woben, dass es schwer wird nachzuweisen, wie revolutionär sie zur Zeit ihres Erscheinens waren, und sich darüber klar zu werden, wie weitgehende totalitäre demokratische Potentialitäten in ihnen enthalten sind. Denn dieselben Ideen, die einen Markstein im Wachstum der liberalen Demokratie bilden, waren zugleich dazu angetan, den modernen Staat auf den 2

3

Vgl. Tocqueville, L’Ancien Régime, S. 233 ff. Vgl. Acton, Lectures on the French Revolution, über die Bedeutung, die politische Theoretiker zu jener Zeit erwarben. Vgl. außerdem Mornet, Les Origines, S. 314 ff., Bibliotheksverzeichnis. Es ist interessant, zwei extreme Ansichten von zwei zeitgenössischen Zeugen zu vergleichen, von denen Mallet du Pan im „Mercure Britannique“ den „philosophes“ die Verantwortung für alles, was in der Revolution geschah, aufbürdet, während Mounier ihnen allen Einfluss auf die Revolution abstreitet, siehe Warld / Prothero / Leathes ( Hg.), The Cambridge Modern History, Band 8 : The French Revolution, S. 1. Die auf den Gegenstand bezüglichen Schriften von Sieyès, die hier analysiert werden, sind : Sieyès, Tiers État; ders., Vues; ders., Essai.

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Pfad des Totalitarismus zu bringen. Sie halfen, jenen Prozess einer ständig wachsenden Zentralisation einzuleiten, die zu dem Totalitarismus der Tatsachen führt, in dessen Richtung sich der moderne Staat in den letzten hundertfünfzig Jahren bewegt hat. Sie kennzeichnen ebenso einen entscheidenden Fortschritt in Richtung auf jenen Totalitarismus des Geistes, der sich auf einen alles andere ausschließenden Glauben gründet. Sieyès’ Postulat eines rationalen Systems an Stelle von sklavischer Annahme von Sinnlosigkeiten, die durch langes Bestehen geheiligt worden waren, und von Einrichtungen, die längst jeden Sinn verloren hatten; seine Ver werfung der alten Vorstellung, Regieren sei die Aufgabe des Königs, und die der Untertanen, ihm die Treue zu halten und Steuern herzugeben; seine Verurteilung der Privilegien; das Verlangen, die auf feudale Klassenunterscheidungen gegründeten Generalstände, die einberufen wurden, um dem König zu helfen, sein Defizitproblem zu lösen, durch eine Nationalversammlung zu ersetzen, die als Vertretung der souveränen Nation berufen war, ihre unbeschränkte Macht auf die totale Neugestaltung des Staatskörpers zu ver wenden; die Erhebung durch Sièyes der homogenen Nation – über Stände und Korporationen hinweg – zu der einzig wahren und allumfassenden kollektiven Ganzheit : Alle diese Ideen, die heute so allgemein als axiomatisch akzeptiert werden, hatten damals äußerst revolutionären Charakter. Überdies lösten sie eine dynamische Kraft aus, die bald über die bewussten Ziele derjenigen, die sie in Bewegung setzten, hinausschoss und heute mächtiger ist denn je. Die Absurditäten, Inkongruenzen und Missbräuche des Ancien Régime waren unhaltbar. Wenn Sieyès sich gegen die alten Urkunden wendet, gegen den Kult der Überlieferungen, gegen die „extase gothique“ von „Beweisjägern“ und ängstlichen „Tatsachensklaven“, dann ist seine Ungeduld, seine Verachtung durchaus verständlich.4 Aber es darf nicht vergessen werden, dass mit diesem Gesinnungsstreit – wenn man bei der einen Seite von ihrer Groteskheit und ihrem stupiden, egoistischen Konser vativismus absieht und bei der anderen von ihrem bezwingenden Schwung – der grundlegende und schicksalhafte Konflikt zwischen zwei wesentlichen Haltungen beginnt, und zwar nicht allein in der Sphäre des abstrakten Denkens, sondern auch im Bereich der praktischen Politik. Die eine tritt ein für organisches, langsames, halb unbewusstes Wachstum, die andere für doktrinär abgewogenes Entscheiden; die eine für Vorgehen nach dem Prinzip von trial and error, die andere für eine erzwungene, allein gültige Ordnung. Der Gesetzgeber, schreibt Sieyès, „doit se sentir pressé de sortir enfin de l’effroyable expérience des siècles [...] enfin puiser les vrais principes“.5 Diese Haltung hat keinen Respekt vor der Weisheit von Jahrhunderten, vor der ange4 5

Vgl. Sieyès, Vues, S. 32–34. Ebd., S. 26, 30.

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sammelten, halb unbewussten Erfahrung und dem instinktiven Verhalten einer Nation. Sie zeigt keine Erkenntnis der Tatsache, dass streng rationalistische Kriterien von Wahrheit und Unwahrheit nicht auf soziale Erscheinungen anwendbar sind, und dass das Bestehende niemals eine Folge von Irrtum, Zufall oder bösartigem Anschlag allein ist, sondern ein pragmatisches Ergebnis von Umständen, von langsamer, unbewusster Anpassung, und nur teilweise von absichtsvoller Planung. Dies sind die Prinzipien, verkündet Sieyès, oder wir müssen auf die Idee einer Gesellschaftsordnung überhaupt verzichten.6 In seinem Vergleich zwischen dem Charakter der der Politik eigenen Kunst ( der „sozialen Kunst“) und der beschreibenden Natur der Physik nimmt Sieyès Marx’ berühmtes Diktum vor weg, wenn er von der Politik sagt, sie sei „l’art, plus hardi dans son vol, se propose de plier et d’accommoder les faits à nos besoins et à nos jouissances; il demande ce qui doit être pour l’utilité des hommes. [...] Quelle doit être la véritable science, celle des faits ou celle des principes ?“7 Diese Einstellung bestimmt seine Beurteilung der britischen Verfassung. Das vielgepriesene Meister werk hielte einer unparteiischen Prüfung nach den Prinzipien einer „wahrhaft politischen Ordnung“ nicht stand. Ein Produkt von Zufall und Umständen eher als von Geistesblitzen, „un monument de superstition gothique“ ( das House of Lords ), früher als ein Wunder werk angesehen, sei es tatsächlich nichts als ein „échafaudage prodigieux“ von Vorsichtsmaßregeln gegen Unordnung statt eines positiven Plans für eine wahre soziale Ordnung.8 Diese Art absolutistischer Einstellung machte Sieyès zum ersten Exponenten dessen, was wir die revolutionäre Haltung nennen wollen. Sie ist eine Antwort auf die Frage nach der Haltung, die eine Revolution gegenüber den Vertretern der vorhergehenden Ordnung der Dinge und der Opposition im Allgemeinen einnehmen sollte, wenn sie für sich in Anspruch nimmt, ein allein gültiges System zu ver wirklichen. Von einem bestimmten Blickwinkel aus ist dies das Problem des revolutionären Zwanges. Sieyès war sich darüber klar, dass eine Revolution die Merkmale eines Bürgerkrieges trägt und ihrer Natur nach mit Kompromiss und jeder Art von Verhandlungsausgleich unvereinbar ist. Es war nicht zu erwarten, dass das angegriffene alte System und seine Vertreter, denen so viele der bestehenden Interessen zugute kamen, aus freien Stücken abdanken würden. Ein Mann mag noch so alt und gebrechlich sein, sagt Sieyès, er wird seine Stelle nicht freiwillig zugunsten eines jungen Mannes aufge-

6 7 8

Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 73. Sieyès, Vues, S. 29 f. Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 61–64, Zitate : S. 61 f.; ders., Vues, S. 26 f. : „C’est que le despotisme a partout commencé par des faits. [...] C’est l’erreur, qui est nouvelle auprès de l’ordre éternel des choses.“

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ben.9 Es muss eine Entfernung durch Gewalt erfolgen. Die Vertreter der beiden privilegierten Stände, Adel und Geistlichkeit, werden daher versuchen, die Aufmerksamkeit des Dritten Standes durch kleine Zugeständnisse, wie zum Beispiel das Angebot der Steuergleichheit, abzulenken. Um den Angriff auf ihre Privilegien abzuwehren, werden sie von der Notwendigkeit einer Versöhnung der Klassen reden. Diese Taktik, betont Sieyès, dürfe nicht die grundlegende Tatsache überschatten, dass ein Kampf auf Leben und Tod geführt wird zwischen den beiden Systemen, die von den neuen und den alten sozialen Kräften vertreten werden. Die beiden Lager haben keinen gemeinsamen Boden, denn es könne keine gemeinsame Grundlage für Unterdrücker und Unterdrückte geben. Es sei unmöglich, 1789 zu einem Stillstand zu kommen : Man müsse entweder den ganzen Weg vor wärtsgehen oder zurück, die Privilegien ganz abschaffen oder sie legalisieren. Es sei unmöglich, hier etwas auszuhandeln. Keine Klasse verzichte freiwillig auf ihre Macht und Sonderrechte, und keine Klasse könne Gerechtigkeit oder Großzügigkeit von der anderen erwarten, nicht einmal Konformität mit irgendeinem allgemeinen objektiven Maßstab. Daher konnte nach Sieyès’ Meinung der Dritte Stand nur auf seinen eigenen Mut und auf Eingebung vertrauen.10 „Scission“ war daher die einzige Lösung : ein revolutionärer Bruch und völlige Unter werfung der Wenigen unter die Vielen.11 Darüber hinaus sei die Aufgabe einer Revolution nicht allein die Abschaffung der bestehenden Mächte, die den Ausdruck und die Durchführung des Volkswillens verhindern, selbst wenn dadurch das Volk in die Lage versetzt sei, ohne jede Verzögerung oder Ausflucht seiner Meinung Ausdruck zu geben und die von ihm gewünschte Daseinsform zu bestimmen. Ein mindestens ebenso wichtiges, wenn nicht noch wichtigeres Ziel sei es, das alte System an der Rückkehr zu hindern. Die alten Kräfte müssen mit allen Mitteln versuchen, einen Weg zurück zu finden. Sieyès legt daher fest, dass der Dritte Stand gehindert werden solle, als seine Vertreter Mitglieder der beiden privilegierten Stände zu entsenden. Sollte es nicht, könnte man fragen, dem Volk erlaubt sein, seine Dummheiten zu machen, wenn es wolle ? Nein, das dürfe 9 10

11

Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 72 ( Fußnote ). Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 56–59, 72, 78. Ebd., S. 78 : „Inutilement, le tiers état attendait - il du concours de toutes les classes, la restitution de ses droits politiques et la plénitude de ses droits civils; la peur de voir réformer les abus inspire aux deux premiers ordres plus d’alarmes qu’ils ne sentent de désirs pour la liberté. Entre elle et quelques privilèges odieux, ils ont fait choix de ceux - ci. Leur âme s’est identifiée avec les faveurs de la ser vitude. Ils redoutent aujourd’hui ces états généraux qu’ils invoquaient naguère avec tant d’ardeur. Tout est bien pour eux; ils ne se plaignent plus que de l’esprit d’innovation; ils ne manquent plus de rien; la crainte leur a donné une constitution.“ Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 78, 83. A. d. Hg. : „Scission“ bedeutet so viel wie „Spaltung“, „Abspaltung“.

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es nicht, denn es handele sich um die Frage der Nationalversammlung und des Gemeinwohls.12 Es wäre, sagt Sieyès, als ob man im Kriege britische Staatsminister wählen würde, um Franzosen in der französischen Nationalversammlung zu vertreten. Die Adeligen seien Fremde, feindliche Fremde des Dritten Standes, das heißt der französischen Nation, in demselben Ausmaß wie die Mitglieder des britischen Kabinetts.13 Die Implikation der revolutionären Diktatur steht damit klar vor uns. Die Maßnahme, so notwendig sie im Moment gewesen sein mag, kommt einer Unterminierung des Gefüges der Volkssouveränität am Vorabend ihres Sieges gleich.

2. Die Souveränität des Volkes Das alles ist umso bemerkenswerter, als Sieyès für ein rationales Prinzip in der Politik und für die revolutionäre Ersetzung eines Systems durch ein anderes eintritt und dabei das ganze Schwergewicht auf die Theorie der unbeschränkten Volkssouveränität legt. Die „wahre politische Ordnung“ werde ver wirklicht, wenn der Volkswille die einzige Quelle des Gesetzes werde und an die Stelle der Macht des Königs und der Autorität der Tradition trete. Sobald die Nation sich auf sich selbst besinne und sich versammle, um ihren Willen kundzutun, seien alle bestehenden Gesetze und Institutionen null und nichtig.14 Die Situation des Jahres 1789 war so, dass der König die Generalstände zu einem besonderen Zweck einberufen hatte : das Defizit zu beheben; und unter bestimmten Bedingungen und Regeln sollten die drei Stände nach altem Brauch getrennt beraten. Sieyès drängte die Generalstände oder zumindest den Dritten Stand, sich zur außerordentlichen Nationalversammlung zu erklären und so zu handeln, als ob sie gerade aus dem Naturzustand her vorgegangen und zusammengekommen wären, um einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen. Er wollte also, dass die Stände ( oder die „Assemblée“) in einer revolutionären Weise handelten, als ob es bis dahin keine Gesetze und Verordnungen 12

13 14

Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 39–43, 71. Dies ist eine Gelegenheit, auf eine weitere Potentialität in Sieyès’ Denken hinzuweisen : Der Wunsch, eine Kontrolle über die Art der Abstimmung auszuüben, ist der Vater von Sieyès’ Nach - Thermidor - Plan von verfassungsmäßigen Geschworenen, einer Körperschaft von Zensoren des nationalen Willens, mit Recht einer endgültigen Prüfung und über der Legislativen Versammlung stehend. Vgl. außerdem Lefebvre, Les Thermidoriens, S. 170 ff.; Mathiez, La Place de Montesquieu. Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 41. Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 73. Die Aufhebung aller Gesetze und Institutionen, was an sich den Akt der Revolution darstellt, geht natürlich auf Rousseau zurück, siehe die Anmerkungen zum ersten Teil, III, 4. „Der Allgemeine Wille als Zweck“.

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gegeben hätte. Die Nation sei der Souverän. Wenn sie erst versammelt sei, könne sie durch keinerlei Bedingungen oder Vorschriften gebunden werden. Andernfalls würde sie ihr eigenes Dasein aufs Spiel setzen. Die Nation drücke durch die bloße Tatsache ihres Daseins und Wollens Gerechtigkeit aus.15 „La volonté nationale [...] n’a besoin que de sa réalité.“16 Eine außerordentliche Nationalversammlung – und zu einer solchen sollten nach Sieyès’ Willen die Generalstände werden – verkörpere diesen nationalen Willen in der ursprünglichen Form; sie sei nicht nur eine repräsentative Körperschaft, sondern wirklich Rousseaus versammeltes Volk, wohingegen eine ordentliche Nationalversammlung, wie sie in der von der außerordentlichen Versammlung zu schaffenden Verfassung verankert würde, als ordentliche repräsentative Körperschaft an die in der Verfassung festgelegten Bestimmungen gebunden wäre. Die außerordentliche „Assemblée“ könne und würde natürlich aus Gründen der Bequemlichkeit die meisten der bestehenden Gesetze für gültig erklären, bis sie durch neue ersetzt würden, aber dieser Notbehelf berühre in keiner Weise das Prinzip.17 Wer ist die Nation ? Sieyès antwortet : alle Einzelpersonen in den vierzigtausend Gemeinden Frankreichs. Wenn diese Einzelpersonen alle anderen Eigenschaften und Zugehörigkeiten, die Mitgliedschaft in einer Klasse, Berufsgruppe, Glaubensgemeinschaft oder Ortschaft ablegen, haben sie die gemeinsame Eigenschaft der Staatsbürgerschaft und das gleiche Interesse am gemeinschaftlichen allgemeinen Wohl.18 „Les volontés individuelles sont les seuls éléments de la volonté commune.“19 Wer eine Stellung beanspruche, die von der durch die gemeinsame Staatsbürgerschaft gegebenen abweicht, sei der Feind aller anderen Staatsbürger und des nationalen Wohls. Der gefährlichste derartige Feind sei der „esprit de corps“, die partikularistischen Gruppeninteressen, seien diese Gruppen nun überkommene privilegierte Stände, soziale Klassen oder Korporationen mit einem besonderen Status.20 Das Bestehen von Gruppen lasse auf selbstsüchtige Sonderinteressen schließen. Der gemeinsame nationale Wille werde allein durch das Zusammenwirken des Willens aller Einzelpersonen gebildet und werde verfälscht und zerstört, ja könne gar nicht einmal zustande gebracht werden, wo partikularistische Interessen wirksam seien. Daher könnten die Generalstände in ihrer alten Zusammensetzung nicht beanspruchen, mehr als eine „Assemblée clérico - nobili - judicielle“21 zu sein. Sie 15 16 17 18 19 20 21

Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 68–73. Ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 68–73; ders., Vues, S. 51. Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 72, 86–88. Ebd., S. 74. Vgl. ebd., S. 76. Ebd., S. 35.

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stellten eine Körperschaft dar, in der Vertreter von drei getrennten Nationen zusammentreffen und verhandeln, könnten jedoch nicht eine nationale Vertretung bilden, die einen einzigen gemeinsamen nationalen Willen und ein allgemeines Interesse zum Ausdruck bringe.22 Bis hierher interpretiert Sieyès Rousseau. Der Dritte Stand – und dies ist nun Sieyès’ eigener Beitrag, veranlasst durch die so überaus bedeutsame Auseinandersetzung seiner Zeit – umfasse die erdrückende zahlenmäßige Mehrheit der Nation, alle diejenigen, die keinen Anspruch auf Privilegien oder einen anderen Status als den in der gemeinsamen Staatsbürgerschaft enthaltenen erhoben, alle diejenigen überdies, die durch ihren Arbeitseinsatz das soziale Gebäude unterhielten. Sie seien daher die Nation. Die privilegierten Stände seien Fremde, eine Belastung, ein unnützes Glied. Die Adeligen könnten ebenso gut in die fränkischen Sümpfe und Wälder zurückgehen, aus denen sie nach ihrer Behauptung ursprünglich gekommen seien, und den befreiten alten römischen Stamm allein lassen. Sie würden so ihren Anspruch, eine überlegene Rasse zu sein, besiegeln.23 Sieyès’ egalitäre Konzeption einer monolithischen Nation und unbegrenzter Volkssouveränität war ein Argument für die Beseitigung der feudalen Privilegien und regionalen Inkongruenzen. Sie war jedoch dazu angetan, den Weg zu ebnen für jene demokratische Zentralisation, unter der der lange, unbehinderte Arm der Zentralgewalt, die sich auf die Idee eines einzigen nationalen Interesses stützt und von der Kraft der Volksgefühle getragen wird, alle mittelbaren Gebilde sozialer Betätigung hinwegfegt, seien sie nun funktional, ideologisch, ökonomisch oder lokal. Das Problem wird verschärft im Lichte der beiden Vorbehalte, die Sieyès macht : Erstens, dass dem Volk nicht erlaubt werden sollte, dumm gegen seine eigenen Interessen zu handeln, und zweitens, dass nonkonformistische Gruppen beseitigt werden sollten, damit die Nation zu einer monolithischen Ganzheit werden könne. Dies würde bedeuten, dass die unbegrenzte Volkssouveränität, obwohl sie theoretisch in der Gesamtheit des Volkes allein ruht, möglicher weise nur in einem Teil der Nation zu finden sei, der den Anspruch darauf erhebt, das wirkliche monolithische Volk darzustellen und das einzige nationale Interesse zu verkörpern.24

22 23 24

Vgl. ebd., S. 80. Vgl. ebd., S. 28–34. Hier ist ein weiterer Hinweis auf zukünftige Entwicklungen. Obwohl Sieyès mit großer Heftigkeit von der Heiligkeit der Menschenrechte spricht, wird er tatsächlich stärker von Kompetenz und Macht beeindruckt als von bloßem Naturrecht. Dies ist von entscheidender Wichtigkeit für sein Eintreten für einen Wahlzensus auf der Grundlage des Vermögens, siehe die folgende Anmerkung, und es erklärt zu einem gewissen Grade die Leichtigkeit, mit der es Sieyès möglich war, von demokratischen Prinzipien zur Unterstützung autoritärer Kompetenz in der Politik hinüberzuwechseln.

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Nach Sieyès ist die Gleichheit die Grundlage jeder sozialen Ordnung. Das Gefühl der Gleichheit ist auch der entscheidende Gehalt des Glücklichseins, denn es stillt anmaßenden Stolz ebenso wie Neid, Eitelkeit und Unter würfigkeit. Gleichheit ist eine Forderung nicht nur der Vernunft, sondern auch der Gerechtigkeit. Die Spaltung der Gesellschaft in ungleiche Teile, Unterdrücker und Unterdrückte, ist im Widerspruch zu den Vorschriften der Vernunft und der Gerechtigkeit entstanden. Sieyès ver wendet das berühmte Gleichnis von dem Gesetz als dem Mittelpunkt einer riesigen Kugel, auf der die Bürger ohne Ausnahme ihre Plätze im gleichen Abstand an der Oberfläche haben. Doch hier kommt die entscheidende Verlagerung. Der ganze Gedankengang wird durch die Frage des Eigentums abgebogen.25

3. Das Eigentum Die bisher betonten Aspekte des Sieyès’schen Denkens, wie das absolutistischdoktrinäre Temperament, revolutionärer Zwang, egalitärer Zentralismus, die Konzeption einer homogenen Nation, enthielten totalitäre Elemente. Die Frage des Eigentums drängt Sieyès’ Gedanken mit Nachdruck auf den Weg des Liberalismus zurück. Das Gesetz im Brennpunkt seiner Kugel, so führt er aus, darf den Staatsbürger nicht im Gebrauch seiner angeborenen oder erworbenen Fähigkeiten und seiner mehr oder weniger günstigen Aussichten, seinen Besitz zu vermehren, behindern.26 „N’enfle sa propriété de tout ce que le sort prospère, ou un travail plus fécond, pourra y ajouter, et ne puisse s’élever, dans sa place légale, le bonheur le plus conforme à ses goûts et le plus digne d’envie.“27 Vom Gesichtspunkt des Gesetzes habe wirtschaftliche Ungleichheit nicht mehr Bedeutung als Ungleichheit in Wuchs oder Aussehen, Verschiedenheit von Geschlecht und Alter. Außerdem wird Privateigentum von Sieyès nach Locke’scher Tradition als das Wesentliche der Freiheit dargestellt, als eine bloße Erweiterung des Eigentums an der eigenen Person, als eine Erweiterung der Freiheit des Menschen, seine Fähigkeiten zu gebrauchen. „La propriété des objets extérieurs, ou la propriété réelle n’est pareillement qu’une suite et comme une extension de la propriété personnelle.“28 Das Recht der ersten 25

26 27 28

Vgl. Sieyès, Essai, S. 4, 9–14; ders., Tiers État, S. 88. Über den diktatorischen Charakter der von Sieyès vertretenen rechtlichen Revolution siehe Mathiez, La Révolution française et la théorie de la dictature. Vgl. Sieyès, Tiers État, S. 88. Ebd., S. 88 f. Sieyès, Préliminaire, S. 26. Siehe auch ders., Vues, S. 11 : „La liberté du citoyen consiste dans l’assurance de n’être ni empêché, ni inquiété dans l’exercice de sa propriété personnelle et dans l’usage de sa propriété réelle. La liberté du citoyen est la fin uni-

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Die jakobinische Improvisation

Besitznahme ist, wieder im Geiste Lockes, nur ein besonderes persönliches Recht, Geschicklichkeit und Mühe einzusetzen. Es gibt dem ersten Besitzer ein ausschließliches Recht auf Eigentum, von dem alle anderen ausgeschlossen sind.29 Das Ergebnis dieser Konzeption des Eigentums als eines natürlichen Rechts ist die liberale Konzeption der Rolle des Staates : die Menschen ungehindert ihre wirtschaftlichen Bestrebungen verfolgen zu lassen und nur einzugreifen, wenn das Eigentum eines Mannes von seinem Nachbarn bedroht wird. Die Rolle des Staates besteht darin, Sicherheit zu gewährleisten; seine Sache ist es nicht, Rechte zu gewähren, sondern sie zu schützen. „Tous ces individus ( auf der Oberfläche der Kugel mit dem Gesetz in ihrer Mitte ) correspondent entre eux, ils s’engagent, ils négocient, toujours sous la garantie commune de la loi. Si dans ce mouvement général quelqu’un veut dominer la personne de son voisin, ou usurper sa propriété, la loi commune réprime cet attentat, et remet tout le monde à la même distance d’elle - même.“30 Nur ein - oder zweimal scheint Sieyès voller Unbehagen über den Vorteil nachzudenken, den ungleiches Eigentum seinen Besitzern gewährt. Bei einer Gelegenheit bemerkt er, dass der meiste Besitz noch in den Händen der privilegierten Stände sei.31 Er beeilt sich jedoch, seine Leser zu beruhigen, er habe nicht die Absicht, das Eigentum anzurühren. Es sei ein natürliches Recht. Sieyès’ Konzeption des Eigentums führt ihn zu der offenkundigsten Verletzung seiner egalitären Prinzipien, sogar in der politischen Sphäre. Bei aller Beredsamkeit in der Verurteilung von Privilegien und Gruppeninteressen als Beleidigung der menschlichen Würde und als unmoralische Feinde des nationalen Interesses kommt Sieyès dazu, zwischen zwei Arten von Rechten zu unterscheiden, natürlichen und bürgerlichen.32 Erhaltung und Entwicklung der natürlichen Rechte sei der Zweck, zu dem die menschliche Gesellschaft gebildet wurde, während politische Rechte diejenigen seien, durch die die Gesellschaft erhalten werde. Daher seine Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Bürgern. Die Letzteren haben nur natürliche Rechte, das Recht auf Schutz ihrer Person, ihrer Freiheit und ihres Eigentums. Sie haben keinen Anteil an der Bildung der öffentlichen Gewalten. Dies ist den aktiven Bürgern allein vorbehalten. Sie allein tragen zu der Begründung und Erhaltung des öffentlichen Wohls bei. Sie allein sind „les vrais actionnaires de la grande entreprise socia-

29 30 31 32

que de toutes les loix.“ Ebd., S. 12 f. : „Propriété personnelle, ce premier de tous les biens, de tous les droits, sans lequel les autres ne sont qu’illusoires.“ Vgl. Sieyès, Essai, S. 2, den Formeln von Locke und Rousseau über den Gesellschaftsvertrag sehr ähnlich. Sieyès, Tiers État, S. 88. Vgl. ebd., S. 38. Vgl. Sieyès, Préliminaire, S. 36 f.

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Die Revolution von 1789

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le“.33 Dieser Ausdruck ist höchst bezeichnend : Aus einer sittlichen und politischen Einrichtung, die auf den natürlichen Rechten des Menschen begründet ist, wird die Gesellschaft uminterpretiert in eine Aktiengesellschaft. Sieyès’ Konzeption des Eigentums ist konser vativer als irgendeine andere, der wir in dieser Untersuchung bisher begegnet sind. Der Grund dafür ist nicht weit zu suchen. Die frühen Denker, die ihre Ideen in einem Vakuum ausspannen und kaum daran glaubten, dass sie sie in die Praxis umzusetzen haben würden, konnten radikal sein, obwohl sogar sie davor zurückschreckten, die letzte Schlussfolgerung zu ziehen. Sieyès schrieb Anleitungen für unmittelbares Handeln. Wie so viele andere Baumeister der Revolution empfand Sieyès es als dringlich, die Heiligkeit des Eigentums zu bekräftigen, während er alle anderen Schleusen der Revolution öffnete.34

33

34

Vgl. ebd. Wörtlich heißt es : „Tous les habitants d’un pays doivent y jouir des droits de citoyen passif; tous ont droit à la protection de leur personne, de leur propriété, de leur liberté, etc., mais tous n’ont pas droit à prendre une part active dans la formation des pouvoirs publics : tous ne sont pas citoyens actifs. Les femmes, du moins dans l’état actuel, les enfants, les étrangers, ceux encore qui ne contribueroient en rien à soutenir l’établissement public, ne doivent point influer activement sur la chose publique. Tous peuvent jouir des avantages de la société; mais ceux - là seuls qui contribuent à l’établissement public, sont comme les vrais actionnaires de la grande entreprise sociale. Eux seuls sont les véritables citoyens actifs, les véritables membres de l’association.“ Siehe auch Jaurès, Histoire socialiste, Band 2, S. 10. Die Angst, die Achtung vor dem Eigentum zu untergraben, war das Hauptthema der Opposition in der Debatte über die Verkündung der Menschenrechte und über die Konfiskation von Kirchengütern, siehe Aulard, Histoire politique, S. 39 ff.; Jaurès, Histoire socialiste, Band 1, S. 341 ff.; Band 2, S. 70 ff.

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II. Gleich ge wicht oder Revo lu ti ons ziel – unter der kon sti tu tio nel len Monar chie 1. Die Legalität und der Vorrang des Revolutionsziels Sieyès gehörte zu den Männern, die bestimmend dazu beitrugen, dass der anfänglich absolutistische Impuls der Revolution sich in der Abschaffung der feudalen Monarchie verausgabte.35 Der Stoß wurde sozusagen in einem Gleichgewichtssystem absorbiert, das von der Verfassunggebenden Versammlung aufgestellt und durch die Verfassung von 1791 geheiligt worden war.36 Die neue Ordnung war in gewissem Sinne die Negierung derjenigen Grundgedanken einer „wahrhaft politischen Ordnung“, in deren Namen die Revolution von 1789 vollzogen worden war : der Volkssouveränität und der Menschenrechte. Es wurde eine erbliche Monarchie mit Vetogewalt beibehalten, und den ärmeren Schichten des Volkes wurde das Wahlrecht entzogen.37 Die Idee einer allein gültigen sozialen Ordnung, die Sieyès’ Haltung 1788/1789 zugrunde gelegen hatte, wich der Behauptung, die Revolution habe ihre Aufgabe erfüllt, indem sie die bis dahin unterdrückten sozialen Kräfte freigesetzt und die Bedingungen geschaffen habe, unter denen diese Kräfte von selbst zu einem harmonischen Gleichgewicht gelangen könnten. Dass ein erheblicher Faktor, nämlich die Armen, die die Mehrzahl des Volkes bildeten, keine Gelegenheit erhielten, in den Wettkampf einzutreten, wurde bequemer weise übersehen.

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Die für diesen Teil benutzten Standardwerke über die Französische Revolution sind : Aulard, Histoire politique; Mathiez, Révolution Française; Thompson, French Revolution; Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 1, 2; Warld / Prothero / Leathes ( Hg.), The Cambridge Modern History, Band 8 : The French Revolution; Villat, La Révolution; Acton, Lectures on the French Revolution; Lefebvre / Guyot / Sagnac ( Hg.), La Révolution Française; Guérin, La Lutte de classes; Jaurès, Histoire socialiste. Aulard, Histoire politique, S. 49 ff., gibt die eingehendste Analyse der gesetzgebenden Arbeit der Nationalversammlung vom Standpunkt der grundlegenden ideologischen Prinzipien. Jaurès ist sehr umfassend in Bezug auf das soziale Problem, das in den Debatten über den Wahlzensus und über kirchliches Eigentum zutage trat; er bringt sehr lange Auszüge und Zitate, die wahre Kostbarkeiten sind. Vgl. Jaurès, Histoire socialiste, Band 2, S. 1, 8. Jaurès weist darauf hin, dass in der Debatte über das Wahlrecht nicht ein einziger Abgeordneter auch nur die Frage stellte, wie groß die Zahl derer sein würde, denen das Wahlrecht entzogen würde. Bezüglich der Schwäche und Geringfügigkeit der Reaktion auf den Entzug des Wahlrechts stimmen alle Historiker überein, siehe Aulard, Histoire politique, S. 70; Thompson, French Revolution, S. 124.

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Gleichgewicht oder Revolutionsziel

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Die gesamte spätere Entwicklung der Revolution kann als ein Kampf zwischen zwei Haltungen beschrieben werden : die eine aufgebaut auf dem Gedanken des Gleichgewichts und der neubegründeten Legalität, die andere ausgehend von dem Gedanken des Vorranges des Revolutionsziels und der Berechtigung revolutionärer Gewaltanwendung ( Jakobinismus ).38 Gewisse Daten und Ereignisse stechen in diesem Kampf als entscheidend her vor. Das bürgerliche Gleichgewichtssystem ging am 10. August 1792 zu Ende als Folge eines bewaffneten Putsches der vom Wahlrecht ausgeschlossenen Elemente unter Führung der aufständischen Pariser Kommune. Der 38

Die Haltung der Verfechter der Idee der Legalität und des Gleichgewichts wird von Barnave, siehe Mathiez, Révolution Française, Band 1, S. 175, in der Debatte vom 15. Juli 1791 über die Flucht des Königs illustriert : „Je place ici la véritable question : Allons nous terminer la Révolution, allons - nous la recommencer ? Vous avez rendu tous les hommes égaux devant la loi, vous avez consacré l’égalité civile et politique, vous avez repris pour l’État tout ce qui avait été enlevé à la souveraineté du peuple, un pas de plus serait un acte funeste et coupable, un pas de plus dans la ligne de la liberté serait la destruction de la royauté, dans la ligne de l’égalité, la destruction de la propriété.“ Die entgegengesetzten Haltungen von Girondisten und Jakobinern kommen in den beiden scharfen Erklärungen zum Ausdruck, welche die beiden Führer, Vergniaud und Robespierre, in der Debatte vom 10. April 1793 abgaben. Da wir viele Anlässe haben werden, Robespierres Haltung zu analysieren, und uns auf viele seiner Reden beziehen werden, soll hier nur Vergniaud zitiert werden; Vergniaud, zit. in Lefebvre, La Révolution Française : La Convention, Band 2 ( Cours de Sorbonne ), S. 7 f. : „Nous, modérés ? [...] Si, sous prétexte de révolution, il faut, pour être patriote, se déclarer le protecteur du meurtre et du brigandage, je suis modéré. Depuis l’abolition de la royauté, j’ai beaucoup entendu parler de révolution. Je me suis dit : il n’y en a plus que deux possibles : celle des propriétés ou la loi agraire, et celle qui nous ramènerait au despotisme. J’ai pris la ferme résolution de combattre l’une et l’autre et tous les moyens indirects qui pourraient nous y conduire. Si c’est là être modéré, nous le sommes tous, car nous avons voté la peine de mort contre tout citoyen qui proposerait l’une ou l’autre. J’ai beaucoup entendu parler d’insurrection, de faire lever le peuple, je l’avoue, j’en ai gémi. Si l’insurrection a un objet déterminé, quel peut - il être ? De transporter l’exercice de la souveraineté dans la République. [...] Donc, ceux qui parlent d’insurrection veulent détruire la représentation nationale; donc ils veulent remettre l’exercice de la souveraineté à un petit nombre d’hommes ou la transporter sur la tête d’un seul citoyen.“ Vergniaud scheint sich gegen etwas zu stemmen, das er nicht begreifen kann. Was wollen sie ? Das Revolutionsziel als sozialistisches Ideal ? Die Montagnards haben jedem Anschlag auf das Eigentum abgeschworen. Volkssouveränität ? Der Konvent und seine Nicht - Montagnard - Mehrheit waren in allgemeiner Wahl gewählt worden. Nach allem, was über die Unterschiede und das Fehlen von Unterschieden zwischen Girondisten und Montagnards geschrieben wurde, ist der wirkliche und alles bestimmende Unterschied der, dass die Letzteren, zum mindesten ihr Robespierristischer Flügel, von einem messianischen Drang und einer, wenn auch noch so vagen, Vision getrieben wurden, während den Ersteren zu jener Zeit schon der Sinn messianischer Dringlichkeit abging und sie daher Robespierre einfach nicht verstehen konnten und ihn und seine Anhänger für Heuchler, Schurken und Narren hielten.

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Die jakobinische Improvisation

Putsch erfolgte im Namen des Vorrangs des Revolutionsziels gegen die bestehenden gesetzlichen Gewalten, vor allem die Gesetzgebende Versammlung, die nach einem Wahlzensus gewählt worden war.39 Die Monarchie, die sich keineswegs erholt hatte von dem Schlag, den ihr die Flucht des Königs im vorhergehenden Jahre versetzt hatte, wurde abgeschafft. Die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Bürgern wurde aufgehoben. Die letzten Reste von Feudalabgaben, die die Verfassunggebende Versammlung beibehalten hatte mit der Begründung, sie rührten von Eigentumsverhältnissen, nicht von persönlicher Abhängigkeit her, wurden bald endgültig annulliert. Somit wurden die letzten Folgerungen gezogen aus den ursprünglichen Prämissen der Revolution von 1789, die beschnitten worden waren zu konstitutionell monarchistischem und bürgerlichem Kompromiss, und diese Prämissen waren noch immer der unbestrittene Vorrang der Volkssouveränität und die Gleichberechtigung aller Menschen. Man kann daher sagen, das Revolutionsziel, das durch die gesetzwidrigen Begebenheiten im August 1792, die kurze Diktatur der Kommune, die Massaker im September 1792 und die Regierung Dantons zur Herrschaft gebracht wurde, sei in diesen beiden Idealen verkörpert gewesen. Dasselbe konnte nicht von dem Revolutionsziel gesagt werden, das am 2. Juni 1793 zu dem Angriff auf den Konvent führte und in dem Ausschluss der girondistischen Abgeordneten gipfelte. Diese waren ordnungsgemäß in freier Wahl gewählt worden und hatten bis kurz vor diesem Zeitpunkt die Mehrheit im Konvent. Das jakobinische Revolutionsziel war in diesem Fall die Rettung der Revolution. Die Revolution bedeutete für die Jakobiner die eine und unteilbare Republik und die Verteidigung der Volkswohlfahrt – sie waren bedroht von Tendenzen, die einer ideologischen und administrativen Zentralisation widersprachen und die Erhaltung der bestehenden wirtschaftlichen (bürgerlichen ) Interessen zum Ziele hatten. Die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses und die Ausrufung der Revolutionsregierung, die dem Juni - Putsch folgten, schlossen den Anspruch ein, dass in diesem Stadium das Revolutionsziel einzig in der Partei des Jakobinismus verkörpert sei, die den wahren Willen und die wirklichen Interessen des Volkes – oder richtiger : der Volksmassen – vertrete.40 Die terroristisch - jakobinische politische und wirtschaftliche Dik39

40

Vgl. Mathiez, Révolution Française, Band 2, S. 1; Villat, La Révolution, S. 159 ff., betrachten die Ereignisse des 10. August und die darauf folgenden Ereignisse als die wirkliche Revolution. Über den Putsch vom 10. August und die Diktatur der Kommune, siehe Deville, La Commune de l’an II. Es ist eine Untersuchung der totalitären revolutionären Diktatur, ausgeübt durch eine Körperschaft, die mit Recht der Sowjet der Hauptstadt genannt werden kann; Walter, Le Problème de la dictature Jacobine, S. 515–529. Vgl. Mathiez, Le Directoire, S. 2 ff., 17–20, über die diktatorischen Durchbrüche in der Revolution.

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tatur war eine Improvisation, die durch Krieg, Wirtschaftskrise, inneren Verrat und Parteizwistigkeiten herbeigeführt worden war. Mit dem Nachlassen der unmittelbaren militärischen Gefahr und der Vernichtung der Enragés, Hébertisten und Dantonisten, von denen die beiden ersten Gruppen anarchische soziale Gewalttätigkeit und die letzte den Wunsch nach einer Rückkehr zur Legalität und einer gewissen Form des Gleichgewichts vertraten, hätte die diktatorische Regierungsform zu Ende sein sollen. Das Revolutionsziel, das ihre Rechtfertigung war, schien mit der Niederlage seiner Feinde ver wirklicht. Robespierristische Diktatur und Terror gingen aber weiter. Die Frage nach dem Revolutionsziel, die die Frage nach dem Zweck des Terrors einschließt, erhielt somit einen neuen und wesentlichen Sinn.41 Es konnte nicht länger in der uneingeschränkten Volkssouveränität gesehen werden. Auch soziale Maßnahmen allein und als Selbstzweck konnten es nicht erschöpfen. So wurde als Revolutionsziel die Tugendherrschaft, eine ausschließliche und endgültige Ordnung der Dinge angenommen. Aber diese Konzeption war weder neu noch improvisiert, sie war von Anbeginn im Jakobinismus als Postulat enthalten. Sie wurde nur während der Terrorregierung zum Programm erklärt und führte sofort zum Zusammenprall mit den Ideen der Freiheit und des Selbstbestimmungsrechts des Volkes, mit denen sie während langer Zeit als identisch betrachtet worden war, um bald darauf am 9. Thermidor von einer Reaktion, die die Idee des Gleichgewichts wieder durchsetzte, besiegt zu werden und dann in der Verschwörung des Babeuf 1796 als alles bestimmende Weltanschauung wieder aufzuflackern.

41

Jeanbon de Saint - André gibt in einem Brief an Barère vom 26. März 1793 die jakobinische Antwort, siehe Villat, La Révolution, S. 205 f. : „La chose publique, nous le disons expressément, est prête à périr, et nous avons presque la certitude qu’il n’y a que les remèdes les plus prompts et les plus violents qui puissent la sauver. Quand on annonça pour la première fois, au sein de la Convention, cette vérité salutaire que nous étions une assemblée révolutionnaire, on eut la douleur de la voir maladroitement ou perfidement méconnue. Des hommes que nous n’avons pas besoin d’inculper, surtout dans l’intimité d’une correspondance confidentielle, nous demandaient alors : ‚Où voulez - vous donc nous mener ? Que reste - t - il à détruire ? La Révolution est achevée et l’instrument révolutionnaire doit être brisé.‘ L’expérience prouve maintenant que la Révolution n’est point faite, et il faut bien dire ouvertement à la Convention nationale : ‚Vous êtes une assemblée révolutionnaire.‘ [...] Nous sommes liés de la manière la plus intime au sort de la Révolution, nous qui avons voulu la consommer. [...] On ne pardonnera ni à vous ni à nous d’avoir voulu la liberté pure et sans mélange, et nous devons conduire au port le vaisseau de l’État, ou périr avec lui.“ Jeanbon de Saint - André gibt offen zu, dass nur eine Minderheit die Revolution unterstützte. Die Schlussfolgerung war unausweichlich, dass eine kämpferische Minorität sich vor der Notwendigkeit sah, einer feindseligen oder gleichgültigen Majorität das revolutionäre System aufzuzwingen.

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Die jakobinische Improvisation

2. Der Jakobinismus – intellektuelle und psychologische Elemente Die Triebkraft des Jakobinismus oder, wie es für die Zwecke dieser Untersuchung richtiger wäre zu sagen, des Robespierrismus, war die vage mystische Vorstellung, der Weg zu einer natürlichen rationalen und endgültigen Ordnung der Dinge sei durch die Französische Revolution eröffnet worden.42 „Nous voulons, en un mot, remplir les vœux de la nature, accomplir les destins de l’humanité, tenir les promesses de la philosophie, absoudre la providence du long règne du crime et de la tyrannie.“43 Man muss sich diese messianische Haltung Robespierres und seiner Anhänger ständig vergegenwärtigen, sonst geht der ganze Sinn des Jakobinismus verloren. Sie war unvereinbar mit der Gleichgewichtstheorie und schloss ein absolutes, dynamisches Ziel ein, das unter allen Umständen zu verfolgen und zwangsweise durchzusetzen war.44 42

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Monographien über die Jakobiner : Brinton, Jacobins; Walter, Histoire des Jacobins; ders., Le Problème de la dictature Jacobine. Brintons Werk ist ein bemerkenswerter Versuch der Anatomie einer politischen Partei. Der Verfasser scheint der Namier’schen Methode gefolgt zu sein in seiner Verwendung von statistischen Daten, in der Behandlung von Gruppen und Vergleichen für die Beschreibung der Struktur der jakobinischen Bewegung und ihres Parteilebens. Doch verführte ihn seine natürliche Neigung, Vergleiche zwischen den Jakobinern und den amerikanischen politischen Parteien zu ziehen, oft dazu, den besonderen Geist des Jakobinismus zu verkennen. So sehr man Gérard Walters Gewissenhaftigkeit und Fleiß in der Materialsammlung bewundern mag, ist er doch, wie schon Thompson in seiner Besprechung von Gérard Walters „Robespierre“ bemerkte, kein eigentlicher Historiker. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 326. Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 174 f. : „Voilà l’état de ce grand procès que nous plaidons à la face de l’univers. Qu’il juge entre nous et nos ennemis, qu’il juge entre l’humanité et ses oppresseurs. Tantôt ils feignent de croire que nous n’agitons que des questions abstraites, que de vains systèmes politiques; comme si les premiers principes de la morale, et les plus chers intérêts des peuples n’étaient que des chimères absurdes et de frivoles sujets de dispute.“ Siehe genau diese Beschuldigung im Brief des Girondisten Salle an Dubois - Crancé, zit. in Lefebvre, La Révolution française : La Convention, Band 1, S. 25, im Ersten Teil, I. 1. „Das alleinige Prinzip“ des vorliegenden Bandes. Zu Robespierre in diesem Buch benutzte Quellen sind : Vellay ( Hg.), Discours et Rapports; Vermorel ( Hg.) , Œuvres de Robespierre; Laponneraye, Œuvres de Robespierre; Robespierre, Défenseur; ders., Lettres à ses Commettants ( in zwei Serien, Periode des Konvents ); Courtois, Rapport; ders., Papiers inédits; Mathiez, Robespierre Terroriste (darin bes. das „Carnet de Robespierre“); Michon ( Hg.), Correspondance; Aulard, Société des Jacobins; Buchez / Roux, Histoire parlementaire; die Croker - Sammlung von Robespierre - Broschüren im Britischen Museum [ A. d. Hg. : Es handelt sich um 11 Bände mit verschiedenen Schriften und Pamphleten Robespierres. Der Bestand trägt den Titel „A collection of the works of Robespierre and of pamphlets, etc., relating to him, bound in eleven volumes with a title page to each volume, formed by the right hon. J. W. Croker“. Talmon bezieht sich ausschließlich auf das 78 Seiten umfassende erste Traktat „Discours sur l’organisation des gardes nationales“ des vierten Bandes. Diese

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Zum Verständnis des Jakobinismus ist es wesentlich, daran zu denken, dass abstrakte kollektive Begriffe für die Jakobiner nicht Abkürzungen, Gedankenverbindungen oder leitende Grundsätze waren, sondern fast greifbare und sichtbare Dinge, Wahrheiten, die an sich bestehen und akzeptiert werden müssen. „Ewige Prinzipien“, die „Natürliche Ordnung“, die „Tugendherrschaft“ waren für Robespierre und Saint - Just ebenso bedeutsam wie für einen orthodoxen Mar xisten Begriffe wie „klassenlose Gesellschaft“ oder „der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“.45 Daher konnte Nichtübereinstimmung von ihnen nicht lediglich als Meinungsverschiedenheit angesehen werden, sondern erschien als Verbrechen und Verderbtheit oder zumindest als Irrtum. Robespierre leitete gewöhnlich seine Erklärungen mit der ausdrücklichen Prämisse ein, da es nur eine Sittlichkeit und ein menschliches Gewissen geben könne, sei er sicher, dass seine Meinung auch die der

45

Rede ist auch in Deutschland über Bibliotheken und im Internet zugänglich. Die Seitenzahlen entsprechen denen des Traktats der Croker - Sammlung. Im Folgenden wird die Quelle als „Croker, Robespierre“ zitiert. Wir danken Frau Qona Wright von der British Library für ihre Hilfe bei der Klärung dieser Quellenfrage.]; Bureau Central ( Hg.), Réimpression de l’Ancien Moniteur; Mavidal / Laurent ( Hg.), Archives Parlementaires. Die neuesten Untersuchungen über Robespierre als politischer Denker sind : Cobban, The political Ideas; ders., The fundamental Ideas; Schatz, Rousseaus Einfluss; Thompson, Robespierre; Mathiez, Autour de Robespierre; ders., Girondins et Montagnards; ders., Études Robespierristes, sind unerlässlich. Thompson gibt in den ersten Seiten seines Robespierre eine detaillierte Bibliographie unter besonderer Berücksichtigung des Materials, das sich im Britischen Museum findet. Zu Saint - Just : Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, 2 Bände, ist eine sehr handliche Sammlung und enthält alles für unseren Zweck Wesentliche. Es gibt eine Flut von Büchern über Saint Just, die meisten hagiographischen Charakters. Die beste neuere Untersuchung ist Curtis, Saint- Just. Centore - Bineau, Saint - Just, und Gignoux, Saint - Just, fügen dem sorgfältigen, ausführlichen Werk von Hamel, Histoire de Saint - Just, nicht viel hinzu. Eine brauchbare Übersicht gibt Derocles, Saint - Just. Nützlich ist auch Brinton, Political ideas; Kritschewsky, Rousseau und Saint - Just, behandelt einen besonderen Aspekt. Thompsons Charakterskizze von Saint - Just in „Leaders of the French Revolution“ ist sehr lesbar; Trahard, Le Révolutionnaire idéal. Die Robespierre-Biographie von Thompson, Robespierre, ist her vorragend; Walter, Robespierre; Korngold, Robespierre. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 93, sowie Poperen ( Hg.), Robespierre, Band 1, S. 69 : „L’éternelle providence vous a appelés, seuls depuis l’origine du monde, à rétablir sur la terre l’empire de la justice et de la liberté, au sein des plus vives lumières qui aient jamais éclairé la raison publique, au milieu des circonstances presque miraculeuses qu’elle s’est plu à rassembler pour vous assurer le pouvoir de rendre à l’homme son bonheur, ses vertus et sa dignité.“ Dies verkündete Robespierre schon in der Debatte über den „marc d’argent“ im April 1791. Die Revolution, dachte er 1789, hatte in ein paar Tagen größere Ereignisse hervorgebracht als die ganze frühere Menschheitsgeschichte, siehe Michon ( Hg.), Correspondance, S. 17; Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 2, Nr. 4, S. 199.

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Versammlung sei.46 In seinem berühmten Zusammenstoß mit Guadet über Vorsehung und Gottheit erklärte Robespierre, da er glaube, alle Patrioten haben die gleichen Prinzipien, sei es undenkbar, dass sie die von ihm zum Ausdruck gebrachten ewigen Prinzipien nicht anerkennen würden. „Quand j’aurai terminé [...], je suis sûr que M. Guadet se rendra lui - même à mon opinion; j’en atteste et son patriotisme et sa gloire, choses vaines et sans fondement si elles ne s’appuyaient sur les vérités immuables que je viens de proposer.“47 Unter solchen Umständen waren solche Worte natürlich gleichbedeutend mit Erpressung. Diese Geisteshaltung war mit gewissen psychologischen Eigenheiten ver woben. Robespierre war völlig außerstande, das persönliche Element von Meinungsverschiedenheiten zu trennen. Dass jede polemische Auseinandersetzung in Robespierres Mund zu einem Schwall persönlicher Anklagen wurde, mag durch seine innere Überzeugung von dem Bestehen nur einer einzigen Wahrheit zu erklären sein : Wer mit ihr nicht übereinstimmte, war von schlechten Motiven geleitet. Doch weniger verständlich scheint Robespierres Gewohnheit, sich jedes Mal, wenn ihm widersprochen wurde, als Opfer einer Verfolgung zu erklären, ein Klagelied der Selbstbemitleidung anzustimmen und den Tod als Tröster anzurufen. Hier sehen wir uns einem paranoischen Zug gegenüber, einer seltsamen Verbindung eines äußerst intensiven und mystischen Gefühls der Sendung mit einer Selbstbemitleidung, die sich in einer immer wiederkehrenden Beschäftigung mit Märtyrertum, Tod und sogar Selbstmord ausdrückte. Es handelt sich hier um die Psychologie eines neurotischen Egoisten, der seinen Willen – rationalisiert als göttliche Wahrheit – durchsetzen oder in einer Ekstase von Selbstbemitleidung schwelgen muss. Für eine solche Natur wird die Weigerung der Welt, sich ihr zu unter werfen, zur Quelle endloser Pein, für gewöhnlich zum Weltschmerz rationalisiert.48 Bei jeder Zurücksetzung oder Demütigung wird die Welt sofort dunkel, entstellt und verzerrt vor Schmerz. Ihre Ordnung erscheint ausweglos falsch, alle Menschen scheinen in böser Verschwörung verbunden. Eine ähnliche Menta46 47 48

Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 45; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 10, S. 28 ff. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 13, S. 445. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 170 : „Le ciel qui me donna une âme passionée pour la liberté et qui me fit naître sous la domination des tyrans, le ciel qui prolongea mon existence jusqu’au règne des factions et des crimes, m’appelle peut - être à tracer de mon sang la route qui doit conduire mon pays au bonheur et à la liberté; j’accepte avec transport cette douce et glorieuse destinée.“ Vgl. auch ebd., S. 381 ff. (Robespierres letzte Rede und Apologie ); Aulard, Société des Jacobins, Band 2, S. 533, Fußnote 2 : „Nous mourrons tous avant toi !“, ruft Desmoulins inmitten rasender Begeisterung aus. Vgl. auch ebd., Band 3, S. 576; Band 4, S. 573 f., 592; Band 5, S. 213, 251 f., 254 f.; Band 6, S. 154.

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lität ist in Saint - Just erkennbar, Robespierres jüngerem Kollegen, dem Philosophen der jakobinischen Diktatur und einem ihrer furchtbarsten Vertreter. Als er zur Gesetzgebenden Versammlung 1792 nicht gewählt wurde, weil er das vorgeschriebene Alter von fünfundzwanzig Jahren noch nicht erreicht hatte, schrieb Saint - Just den folgenden leidenschaftlichen, erstaunlichen Brief : „Ich werde von einem republikanischen Fieber getrieben, das mich verzehrt. [...] Eines Tages wirst Du mich groß sehen. [...] Ich habe das Gefühl, ich kann alle anderen meiner Zeit überflügeln. [...] Leb wohl. Mir kann kein Missgeschick mehr etwas anhaben. Ich kann alles ertragen, aber ich will die Wahrheit sagen. Ihr seid alle Feiglinge, Ihr habt mich nicht gewürdigt. Meine Palme wird sich dennoch erheben und vielleicht die Euren verdunkeln. Niederträchtige Geschöpfe, die Ihr seid. Ich bin ein Schurke, ein Schuft, weil ich kein Geld habe, das ich Euch geben kann. Reißt mein Herz aus und verschlingt es; Du wirst werden, was Du nicht bist. Groß ! [...] O Gott ! Muss Brutus, fern von Rom, vergessen schmachten ! Mein Entschluss ist inzwischen gefasst. Wenn Brutus nicht die anderen tötet, wird er sich selbst töten.“49 Zu einem späteren Zeitpunkt, als einer der Diktatoren Frankreichs, schrieb Saint - Just : An dem Tag, an dem er die Überzeugung gewönne, es sei unmöglich, dem französischen Volke „mœurs douces, énergiques, sensibles et inexorables pour la tyrannie et l’injustice“50 zu geben, würde er sich erdolchen. Wenige Bekenntnisse können dem in Saint - Justs Institutions Républicaines gleichgesetzt werden. Ein Jüngling von kaum sechsundzwanzig, gezwungen, „sich von der Welt zu isolieren“, „wirft seinen Anker in die Zukunft und drückt die Nachwelt an sein Herz“.51 Gott, der Beschützer von Unschuld und Tugend, habe ihm die gefährliche Sendung übertragen, verderbte, von Ruhm und Furcht umgebene Menschen zu entlar ven. Er sei dazu ausersehen, das Verbrechen in Ketten zu legen und die Menschen dazu zu bringen, Tugend und Rechtschaffenheit zu üben. „J’ai laissé derrière moi toutes ces faiblesses; je n’ai vu que la vérité dans l’univers, et je l’ai dite. Les circonstances ne sont difficiles que pour ceux qui reculent devant le tombeau. Je l’implore, le tombeau, comme un bienfait de la Providence, pour n’être plus témoin de l’impunité des forfaits ourdis contre ma patrie et l’humanité. Certes, c’est quitter peu de chose qu’une vie malheureuse, dans laquelle on est condamné à végéter le complice ou le témoin impuissant du crime. Je méprise la poussière qui me compose et qui vous parle; on pourra la persécuter et faire mourir cette poussière! Mais je défie qu’on m’arrache cette vie indépendante que je me suis donné dans les siècles et dans les cieux.“52 49 50 51 52

Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 349. Ebd., Band 2, S. 504. Ebd., S. 494. Ebd.

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Die atemberaubende Inkongruenz zwischen der Anrufung des Todes als Trost und der Rolle des Verfassers als oberster Scharfrichter lässt sich nur mit einem anderen seltsamen Kontrast vergleichen, dem zwischen Saint - Justs entsetzlichen Anschuldigungen seiner Gegner und seinen sentimentalen Rousseau - Deklamationen. Die schreckliche Anklage gegen Danton beginnt mit der unheimlichen Erklärung : „Il y a quelque chose de terrible dans l’amour sacré de la patrie; il est tellement exclusif qu’il immole tout sans pitié, sans frayeur, sans respect humain, à l’intérêt public.“53 In einer anderen Rede wird erklärt, die Republik sei niemals sicher, solange ein einziger Gegner am Leben sei, und das Schwert sei gezückt nicht nur gegen die Widersacher, sondern auch gegen die „Gleichgültigen“.54 Aber dies hindert Saint - Just nicht, einen seligen Traum zu spinnen von einer Hütte am Ufer eines Flusses, an die Franzosen zu appellieren, sich zu lieben und gegenseitig zu achten, und die Regierung zu beschwören, jeden Einzelnen sein eigenes Glück finden zu lassen.55 Dies ist eine selbstgerechte Mentalität, die jeder Selbstkritik unfähig ist, die die Wirklichkeit in wasserdicht voneinander abgeschlossene Abteilungen aufteilt und widersprechende Haltungen zu derselben Sache einnimmt, je nachdem ob „ich“ mit ihr verbunden bin, der definitionsgemäß Wahrheit und Recht vertritt, oder der Gegner.56

3. Die Definition des Allgemeinen Willens Das jakobinische absolute Ziel sollte nicht von außen her aufgezwungen werden. Es wurde als immanent im Menschen aufgefasst, und man war sicher, es würde den Menschen wieder in seine Rechte und Freiheiten einsetzen. Es konnte nur in dem kollektiven Erlebnis der aktiven Selbstbestimmung des Volkes ver wirklicht werden. Der Jakobinismus begnügte sich nicht mit ergebenem Sich - Fügen. Er bestand auf aktiver Teilnahme und verurteilte Neutralität oder Gleichgültig53 54 55 56

Ebd., S. 305. Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 377, 507. Barère glaubte, wenn Saint - Just „nach einem mehr diktatorischen Muster geformt gewesen wäre, hätte er schließlich Robespierre gestürzt und sich selbst an seine Stelle gesetzt [...]; er war ein tieferer und geschickterer Revolutionär als Robespierre“, siehe Barère, Memoirs, Band 2, S. 139; Curtis, Saint - Just, S. 346. Vgl. auch Barère, Memoirs, Band 4, S. 333 ff. Ähnlich sagt Levasseur, aus seiner Kenntnis aus erster Hand „wage er zu versichern, dass Saint - Just einen größeren Anteil an ihnen ( den Ereignissen ) hatte als Robespierre“. Er war „der terroristischere von beiden“, siehe Levasseur, Mémoires, Band 3, S. 73; Band 1, S. 223; Curtis, Saint - Just, S. 346.

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keit als lasterhaften Egoismus. Der Jakobinismus verlangte nicht Gehorsam, er wollte lebendige und aktive Gemeinschaft mit einem absoluten Ziel erzwingen.57 Robespierre erklärte, es sei die Pflicht jedes Menschen und Bürgers, so viel in seiner Macht stehe, zum Erfolg des erhabenen Unternehmens der Revolution beizutragen : zur Wiederherstellung der unveräußerlichen Rechte des Menschen, die der alleinige Zweck der Gesellschaft und der einzig berechtigte Beweggrund für Revolutionen seien.58 Der Mensch müsse sein persönliches Interesse dem Gemeinwohl opfern. Er müsse sozusagen in den gemeinsamen Fonds denjenigen Teil an öffentlicher Macht und an Volkssouveränität, den er in Händen hält, einbringen, „ou bien il doit être exclu, par cela même, du pacte social“.59 Unnötig hinzuzufügen, dass jeder ein Feind der Nation und der Menschheit ist, der ungerechte, mit dem Gemeinwohl nicht zu vereinbarende Privilegien und Auszeichnungen für sich zurückbehalten oder sich neue Macht auf Kosten der öffentlichen Freiheit aneignen will. Dies war das Zentralproblem des Jakobinismus : das Dilemma des einzigen Ziels und des menschlichen Willens. Man könnte es definieren als das Problem von Freiheit, Übereinstimmung und Zwang in einem System, das zwei miteinander nicht zu vereinbarende Ziele zu erreichen behauptet : Freiheit und eine ausschließliche Form des sozialen Daseins. Es ist im Grunde Rousseaus Problem des Allgemeinen Willens, wobei eine gleich starke Betonung auf der aktiven und universalen Beteiligung am Wollen des Allgemeinen Willens lag wie auch auf der ausschließlichen Natur des Allgemeinen Willens. Die Auseinandersetzung mit diesem Problem erfolgt bei Saint - Just an einer frappierenden Stelle am Ende seiner bemerkenswert gemäßigten, ja sogar selbstzufriedenen Darstellung der Revolutionsideale in seinem 1791 erschienenen Buch L’esprit de la Révolution et de la Constitution ( jener von 1791). Er versucht dort, auf die hypothetische provokative Frage zu antworten, ob die neue Verfassung dem Willen aller entspreche. Saint - Justs Antwort war entschieden negativ. Es wäre unmöglich, fährt er fort, eine Änderung des Gesellschaftsvertrages durchzuführen, die keine Teilung in zwei Lager zur Folge habe, nämlich der „fripons“ oder Egoisten, die durch die Neuerung verlieren, und der 57

58 59

Robespierres Hand ist in dem Rundschreiben erkennbar, das der Jakobinerklub in Paris an die Volksgesellschaften sandte und das die Anweisung enthielt, Listen aufzustellen von patriotischen Bürgern, die öffentlicher Ämter würdig seien, unter Ausschluss solcher Personen, die „kalt, egoistisch oder gleichgültig der Republik und Revolution gegenüber“ seien, denn solche Männer „wären vom Gesetz Athens zum Tode verurteilt worden; bei uns werden sie von der öffentlichen Meinung zu politischem Tod verurteilt“, siehe Thompson, Robespierre, Band 2, S. 107. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 163. Ebd.

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Unglücklichen, die unter dem alten Vertrag unterdrückt waren. Aber es wäre ein unzulässiger Missbrauch des Buchstabens des Gesetzes, den Widerstand einiger Verbrecher als Teil des nationalen Willens anzusehen, denn solcher Widerstand könne nicht den Anspruch erheben, eine rechtmäßige Opposition zu sein. Saint - Just geht viel weiter. Als allgemeine Regel, erklärt er, sei jeder Wille, sogar der souveräne Wille, nichtig, sobald er zur Per version neige. Rousseau habe nicht alles gesagt, wenn er den Allgemeinen Willen als unveräußerlich und ewig beschrieb. Der Allgemeine Wille müsse, um ein solcher zu sein, auch vernünftig sein. In dieser Hinsicht ist Saint - Justs „Korrektur“ von Rousseau durchaus irrig.60 Der Verfasser des Contrat social beabsichtigte nichts anderes auszusagen als das, was Saint - Just weiterhin sagt, nämlich dass ein Wille tyrannisch sein könne, selbst wenn er von allen gewollt werde, und dass es nicht weniger verbrecherisch wäre, wenn der Souverän sich „von sich selbst tyrannisieren“ ließe, als wenn er von anderen tyrannisiert würde. Denn in diesem Fall würden die Gesetze aus einer unreinen Quelle fließen, das Volk wäre zügellos und jeder einzelne Tyrann und Sklave zugleich. „La liberté d’un peuple mauvais est une perfidie générale, qui n’attaquant plus le droit de tous ou la souveraineté morte, attaque la nature qu’elle représente.“61 Der objektive Inhalt sei gleichermaßen wesentlich für den Begriff der Freiheit. „Liberté, liberté sacrée !“ – ruft Saint - Just aus. „Tu serais peu de chose parmi les hommes, si tu ne les rendais qu’heureux, mais tu les rappelles à leur origine et les rends à la vertu.“62 Liebe zur Freiheit sei nur in dem Ausmaß berechtigt, in dem sie „zur Einfachheit durch die Macht der Tugend“ führe. Andernfalls sei Freiheit nichts als „die Kunst des menschlichen Stolzes“.63 Es sei klar, dass der spontan ausgedrückte Wille des Menschen oder des Volkes als solcher nicht den Anspruch darauf erheben könne, als Ausübung der Souveränität hingenommen zu werden. Alles hänge von seiner objektiven Beschaffenheit ab, von seiner Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl, dem vernünftigen Allgemeinen Willen und der Tugend, wobei alle drei tatsächlich dasselbe bedeuten, einen objektiven Maßstab. Wer soll ihn bestimmen ? Woran ist er zu erkennen? Wie starr oder elastisch wird dieser Maßstab wohl sein ? Dieses sind die wesentlichen, aber unbeantworteten Fragen. Zu einem späteren Zeitpunkt, anlässlich der Debatte über die Verfassung von 1793, verkündet Saint - Just eine gänzlich verschiedene Definition des All60 61 62 63

Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 342 ff. Ebd., S. 343. Ebd., S. 327. Ebd., S. 304. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 175 : „La majorité veut le bien; mais elle ne connaît ni les moyens [...] ni les obstacles [...]. Ainsi l’opinion publique s’éner ve et se désorganise; la volonté générale devient impuissante et nulle.“ Vgl. auch ebd., S. 31; Mably, Phocion, S. 84.

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gemeinen Willens, eine Definition, die eine deutliche Erkenntnis der in der früheren Konzeption enthaltenen Gefahren zeigt. Saint - Just scheint jetzt den Allgemeinen Willen von aller objektiven Beschaffenheit zu befreien und das Ganze auf die Frage der Zahl der Stimmen und Interessen zurückzuführen, die ausdrücklich sämtlich als gültig anerkannt werden. Außerdem wird das Postulat der Objektivität heftig angegriffen. „La volonté générale, proprement dite, et dans la langue de la liberté, se forme de la majorité des volontés particulières, individuellement recueillies sans une influence étrangère; la loi, ainsi formée, consacre [...] l’intérêt général, [...] de la majorité des volontés a dû résulter celle des intérêts.“64 Saint - Just ver urteilt die Ersetzung des wahren Allgemeinen Willens durch einen von ihm so genannten „spekulativen Willen“, der Interessen des „corps social“ durch eine philosophische Anschauung („vues de l’esprit“). „Les lois étaient l’expression du goût plutôt que de la volonté générale.“65 Wenn man daher nicht den tatsächlichen, durch das Volk zum Ausdruck gebrachten Willen als den Allgemeinen Willen annehme, sondern irgendeine angeblich objektive äußere Idee zum Allgemeinen Willen erkläre, werde der Allgemeine Wille verderbt. Das Volk sei nicht länger im Besitz der Freiheit. Das Gesetz werde etwas dem öffentlichen Wohlergehen Fremdes. Das wäre dasselbe wie in Athen zur Zeit seiner Dämmerung, als es undemokratisch für den Verlust seiner Freiheit stimmte. Wenn dies die herrschende Idee von Freiheit ist, erklärt Saint - Just, wird Freiheit für immer verbannt.66 Und er fährt fort in einer beredten und schrecklichen Prophezeiung, die durch die Ereignisse bis ins Letzte bestätigt wurde. „Cette liberté sortira du cœur et deviendra le goût mobile de l’esprit : la liberté sera conçue sous toutes les formes de gouvernement possibles; car dans l’imagination, tout perd ses formes naturelles et tout s’altère, et l’on y crée des libertés comme les yeux créent des figures dans les nuages [...]. Dans vingt ans le trône soit rétabli par les fluctuations et les illusions offertes à la volonté générale devenue spéculative.“67 Es dauerte keine zwanzig Jahre, bis Napoleon den Anspruch erhob, er verkörpere den Allgemeinen Willen der französischen Nation, und dafür theoretische Unterstützung fand. Wo steht schließlich Saint - Just ? Ist für ihn der Allgemeine Wille das, was das lebendige Volk tatsächlich will, ohne Rücksicht auf den Inhalt, „la volonté materielle du peuple, sa volonté simultanée“,68 dessen Ziel es ist, wie er sagt,

64 65 66 67 68

Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 428. Ebd., S. 429. Vgl. ebd. Ebd. Ebd.

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das aktive Interesse der größeren Zahl und nicht ihr passives Interesse zu heiligen ? Oder braucht der Allgemeine Wille das Attribut der objektiven Wahrheit, um zum Allgemeinen Willen zu werden, in welchem Fall die tatsächliche Stimmenzahl an nachgeordneter Stelle steht hinter der objektiven Doktrin, die in den Aufgeklärten verkörpert ist ? Weder Robespierre noch Saint - Just haben je ihre Stellung ganz eindeutig klargelegt, aber die zweite Haltung ist implizit in ihrer ganzen Einstellung enthalten. Wie zu zeigen sein wird, entstand die Definition des Allgemeinen Willens, die Saint - Just im Laufe der Verfassungsdebatte von 1793 gab, nicht als Antwort auf die Herausforderung einer „spekulativen“ Idee, die sich für den Allgemeinen Willen ausgab, sondern als Argument in einer Debatte darüber, wie der Ausdruck der Volkssouveränität zu organisieren sei. Robespierres Bestehen auf dem Ausschluss derjenigen, die nicht ihren Anteil an Volkssouveränität in den gemeinsamen Fonds einbringen und an dem gemeinsamen Bemühen teilnehmen, ist ein klares Anzeichen für seine Haltung. Auf den folgenden Seiten soll die Entwicklung der jakobinischen Haltung in diesem Punkt während der ganzen Revolution untersucht werden, illustriert an den Gedanken der beiden führenden und repräsentativsten Gestalten der jakobinischen Diktatur, Robespierre und Saint - Just.

4. Die Idee des Gleichgewichts – Saint - Just Die Entwicklung von Robespierres Denken zu diesem Gegenstand ist interessanter und sorgfältiger als die von Saint - Just. Er kämpfte viel länger mit dem Problem als sein jüngerer Freund, der das Dilemma großenteils durch die Umstände gelöst fand, als er auf dem zentralen Schauplatz der Revolution anlangte. Robespierre war seit den frühesten Tagen der Revolution aktiv im Mittelpunkt der Geschehnisse beteiligt. Saint - Just war bis zur Periode des Konvents nur ein ungeduldiger Zuschauer der großen Ereignisse von seiner kleinen Heimatstadt aus, nicht mehr als ein lokaler revolutionärer „Aktivist“. Dies mag eine Erklärung dafür sein, warum bei Robespierre die Umrisse seiner zukünftigen geistigen Entwicklung schon recht früh erkennbar sind, während bei Saint - Just der Übergang von der Selbstzufriedenheit in seinem Buch von 1791 zu dem revolutionär - diktatorischen Extremismus von 1793 abrupt und fast uner wartet erscheint. Saint - Just vollzog den Übergang von der Unbekanntheit zur höchsten Macht in einem einzigen Sprung. Ein grundlegender Unterschied zwischen Robespierre und Saint - Just wird durch eine vergleichende Analyse ihrer Ansichten in der Vor - Konventsperiode aufgezeigt. Trotz der weitreichenden totalitären Folgerungen der oben zitierten Saint - Just’schen Definition des Allgemeinen Willens, wie sein Buch über

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die Verfassung von 1791 sie enthält, ist die dem Werk zugrunde liegende Haltung die orthodoxe Ansicht des Tages, dass die Revolution vollendet sei, da sie die sozialen Kräfte befreit und sie instand gesetzt habe, sich frei in eine harmonische Ordnung zu formen, deren eigentliches Wesen ein Gleichgewicht sei. Robespierre war niemals bereit, diese Auffassung anzunehmen. Für ihn war das Revolutionsziel noch nicht damit erreicht, dass den sozialen und politischen Kräften freies Spiel gelassen wurde, zu einem Gleichgewicht zu kommen. Er war nicht bereit, sich damit zufrieden zu geben, die Kräfte freizusetzen und sie zu beobachten. Seine ganze Haltung wird beherrscht von der Idee eines dynamischen Ziels. Es besteht nicht die Frage eines Gleichgewichts der Kräfte. Die entscheidende Tatsache ist der tödliche Kampf zwischen zwei Kräften, der Revolution und der Gegenrevolution, die miteinander die gesamte Wirklichkeit ausmachen. „Die Unterlassung dessen, was man tun könnte, würde Vertrauensbruch bedeuten [...], ein Verbrechen der ‚lèse - nation‘ und ‚lèse - humanité‘. Mehr als das : wer nicht alles für die Freiheit tut, hat nichts getan. Es gibt nicht zwei Wege, frei zu sein : entweder man ist völlig frei oder man wird wieder ein Sklave. Die kleinste Lücke, die der Despotie bleibt, wird schnell ihre Macht wiederherstellen“,69 erklärte Robespierre in der „Constituante“ in der Debatte über das Wahlrecht am 11. August 1791 in heftiger Opposition gegen die Anhänger der Gleichgewichtsideologie, die den „marc d’argent“ als Qualifikation für die Wählbarkeit zur Gesetzgebenden Versammlung annahmen. Es mag zweckmäßig sein, erst einen Blick auf Saint - Justs Ideen im Jahre 1791 zu werfen, bevor wir zu Robespierre übergehen. Der Gegensatz zwischen der Idee des Gleichgewichts und der Idee des Revolutionsziels wird dadurch scharf beleuchtet. Saint - Just spricht voll glühender Zustimmung von den Prinzipien von 1791. Frankreich hatte eine Synthese vollzogen („coalisé“) zwischen Demokratie („état civil“), Aristokratie ( der gesetzgebenden Macht ) und Monarchie ( der Exekutive ).70 In bester Montesquieu’scher Tradition erklärt Saint - Just, für ein großes Land wie Frankreich sei eine Republik nicht geeignet; es müsse eine monarchische Regierungsform haben. Jedenfalls sei die neue Verfassung unter den Bedingungen Frankreichs die größtmögliche Annäherung an eine Volksregierung, mit einem Minimum an Monarchie, trotz der formalen Vormachtstellung der Exekutivgewalt, die übrigens auch durch die Liebe des Volkes zum König bedingt würde.71

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Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 93. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 264. Vgl. ebd., S. 264 f.

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Die neue Regierungsform erscheint Saint - Just in höchstem Grade sicher, vor allem wegen des gesunden französischen Volkscharakters : der Dünkel, der für das englische Volk charakteristisch sei und die Einführung der Demokratie in England verhindere, sei nicht das Prinzip der französischen Demokratie; Gewalttätigkeit liege nicht im Wesen der französischen Aristokratie; und Gerechtigkeit, nicht Kaprice, sei für die neue französische Monarchie kennzeichnend.72 „Le chef - d’œuvre de l’Assemblée nationale est d’avoir tempéré cette démocratie.“73 Das goldene Gleichgewicht, das richtige Maß zwischen einem Volkssystem und einer Despotie, sei erreicht. Die Nation habe den Grad von Freiheit erhalten, der zu ihrer Souveränität notwendig sei, die Gesetzgebung sei durch Gleichheit demokratisch geworden und der Monarchie sei nur genügend Macht belassen, um zum Träger der Gerechtigkeit zu werden. „Die Gesetzgeber Frankreichs haben das weiseste Gleichgewicht erdacht.“74 Weisheit konnte die Grenze zwischen der Legislative und der Exekutive nicht zu scharf ziehen. Aber die Beschlüsse der Legislative sollten dem König zur Annahme unterbreitet werden, damit die Sonderinteressen der beiden Mächte sich gegenseitig aufhöben. Ein Auge, das über den Gesetzgeber selbst wache, eine Macht, die seinen Arm aufhalte, seien nötig. Für diese Rolle sei am besten ein Exekutiv - Oberhaupt geeignet, das nicht dem Wechsel unterliege und dem die Wahrung der Gesetze und Prinzipien anvertraut werden könne, die durch die Unbeständigkeit der Gesetzgeber nicht gestört werden dürfen. Wegen der Langsamkeit des Verfahrens, wegen des Mangels an Klugheit beim Volke und seiner Ver wundbarkeit durch schlechte Einflüsse wäre es absurd, das Volk bei diesen Beratungen zu befragen. „Wo die Füße denken, berät der Arm und der Kopf marschiert.“75 Das ist tatsächlich nicht im Einklang mit den plebiszitären Tendenzen der Verfassung von 1793. Die richterliche Gewalt, das bestgeordnete und passivste Organ des Staates, sollte mit der Über wachung der Ausübung der Souveränität betraut werden. Saint - Justs Ansichten im Jahre 1791 über die Gleichheit sind besonders bezeichnend. Völlige Gleichheit, wie die von Lykurg eingeführte – eine Gleichheit, die für die Armut einer Republik geeignet war –, würde in einem Lande wie Frankreich eine Revolution her vorrufen oder Indolenz erzeugen. Das Land würde aufgeteilt und die Industrie unterdrückt werden müssen. Eine freie Industrie sei jedoch die Quelle politischer Rechte, und Ungleichheit habe tatsächlich immer einen Ehrgeiz geboren, der „vertu“ an sich sei. Es gebe keine 72 73 74 75

Vgl. ebd., S. 265 f., 277. Ebd., S. 281. Ebd., S. 344. Vgl. ebd., S. 274 f.

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soziale Harmonie, wenn alle Menschen sozial und wirtschaftlich gleich seien. Natürliche Gleichheit würde die Gesellschaft ver wirren. Es würde keine Autorität geben, keinen Gehorsam, und das Volk würde in die Wüste fliehen. Die Gesetzgeber haben Missbräuche abgeschafft und dabei kluger weise Interessen respektiert.76 „Et l’on a bien fait : la propriété rend l’homme soigneux; elle attache les cœurs ingrats à la patrie.“77 Politische Gleichheit – die einzig geeignete Form der Gleichheit für ein Land wie Frankreich, das sich auf Handel stützt – bestehe nicht in gleicher Stärke, sondern in einem gleichen Anteil des Einzelnen an der Volkssouveränität. Im Gegensatz zu Robespierre billigt Saint - Just trotzdem vollkommen die Teilung in aktive und passive Bürger. Die völlig mittellose Klasse, deren Mitglieder als passive Bürger klassifiziert und vom Wahlrecht ausgeschlossen würden, sei nicht groß und würde nicht zu Nutzlosigkeit verurteilt, und für die Verfassung wäre es von Vorteil, wenn sie nicht zu demokratisch und anarchisch würde. Die Armen würden im Besitze von Unabhängigkeit und mit einer Chance des Wettbewerbs die sozialen Rechte der natürlichen Gleichheit, Sicherheit und Gerechtigkeit genießen. Die Gesetzgeber hätten weise gehandelt, die Armen nicht zu demütigen, indem sie Reichtum als Bedingung für Freiheit und Glücklichsein unnötig machten. Es kam Saint - Just oder den meisten seiner Zeitgenossen nicht in den Sinn nachzuforschen, wie groß die Zahl der unter diesem Plan vom Wahlrecht ausgeschlossenen Personen war. Er begnügt sich damit festzustellen, dass die durch die Teilung in aktive und passive Bürger entstandene Ungleichheit keine natürlichen Rechte verletze, sondern nur soziale Prätentionen.78 Saint - Justs Analyse des Problems des Einzelnen gegenüber dem Staat nimmt Benjamin Constants Unterscheidung zwischen den Gesetzgebern der Antike und dem Geist moderner Freiheit vor weg. Die Alten wollten das Glück des Einzelnen vom Wohl des Staates ableiten, die Modernen haben eine entgegengesetzte Haltung. Der antike Staat war auf Eroberung gegründet, weil er klein und von feindlichen Nachbarn umgeben war; das Schicksal der Einzelnen hing daher vom Geschick der Republik ab. Der ausgedehnte moderne Staat habe keine Bestrebungen, die über Selbsterhaltung und das Glück seiner individuellen Bürger hinausgehen. In enger Anlehnung an Rousseau erklärt Saint - Just, die Strenge der Gesetze sollte in umgekehrtem Verhältnis zur Größe des Territoriums stehen. Die Menschenrechte wären für solch kleine Stadtrepubliken wie Athen oder Sparta verderblich geworden. Frankreich, das auf

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Vgl. ebd., S. 266 f., 272. Ebd., S. 285. Vgl. ebd., S. 271 f.

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Eroberungen verzichtet habe, werde durch die Menschenrechte gestärkt. „Ici la patrie s’oublie pour ses enfants.“79 Der zukünftige Prophet des „raschen Schwertes“ kann Rousseau die Rechtfertigung der Todesstrafe nicht verzeihen. „Quelque vénération que m’impose l’autorité de J. - J. Rousseau, je ne te pardonne pas, ô grand homme, d’avoir justifié le droit de mort.“80 Denn ebenso wenig wie das Recht der Souveränität könne das Recht des Menschen auf sein eigenes Leben übertragen werden. Bevor ein Todesurteil gefällt würde, sollte der Gesellschaftsvertrag geändert werden, denn das Verbrechen, für das das Urteil verhängt würde, sei die Folge einer Änderung im Vertrag. Eine repressive Macht könne kein soziales Gesetz sein. Sobald der Gesellschaftsvertrag verfälscht werde, sei er null und nichtig; dann müsse das Volk sich versammeln und zu seiner Regeneration einen neuen Gesellschaftsvertrag abschließen. Nach Rousseau wurde der Gesellschaftsvertrag zur Erhaltung der Partner geschlossen; das sei in der Tat so, aber zu ihrer Erhaltung durch „vertu“ und nicht durch Gewalt, sagt Saint - Just.81 Unter den Verhältnissen von 1791 hatte Saint - Just nicht die Einsicht, dass seine Gleichgewichtstheorie auf lange Sicht kaum vereinbar war mit seiner prägnanten Idee des Allgemeinen Willens. Jedenfalls unterstellte er eine außerordentlich weitgehende allgemeine Übereinstimmung und glaubte infolgedessen, die übrig bleibende unrechtmäßige Opposition sei so gering, dass sie keine ernste Beachtung verdiene. Als das gemeinsame Feld, auf dem sich die Bewegung der sozialen Kräfte abspielen durfte, enger wurde, wurde der Allgemeine Wille strenger definiert, und die Ausschlüsse wurden zahlreicher.

5. Robespierre und das Revolutionsziel – die Idee des Volkes Zuerst war das dynamische Revolutionsziel für Robespierre der ständige Fortschritt zu einer vollständigen Ver wirklichung des demokratischen Ideals. Menschliche Freiheit und unbeschränkte Volkssouveränität waren höchste Ziele. In der frühen Phase der Revolution war Robespierre zutiefst davon überzeugt, dass der Volkswille sich als identisch mit dem wahren Allgemeinen Willen erweisen würde, wenn ihm nur freier, echter und vollständiger Ausdruck erlaubt wäre. „L’intérêt du peuple, c’est le bien public [...]. Pour être bon, le peuple n’a besoin que de se préférer lui - même à ce qui n’est pas lui.“82 Hand 79 80 81 82

Ebd., S. 265. Ebd., S. 315. Vgl. ebd. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 257. Vgl. auch ebd., S. 31, 96 f., 317; Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 173. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 5, S. 186 : „Nous sommes au moment où toutes les vérités peuvent paraître, où toutes seront accueillies

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in Hand mit dieser Überzeugung ging bei Robespierre das alles durchdringende Bewusstsein eines tödlichen Kampfes zwischen dem Revolutionsziel und den ihm entgegenstehenden Kräften, der nicht auf dem Kompromisswege gelöst werden konnte, sondern nur durch völligen Sieg und Unter werfung. Freisetzung des Menschen, Würde der menschlichen Person, Regierung des Volkes durch das Volk und für das Volk – all dies waren für Robespierre sehr reale Dinge. Sie waren für ihn beinah greifbare, sichtbare Objekte. Robespierre ereifert sich gegen die überkommene Unterscheidung zwischen Herrschern und Untertanen, herrschenden Klassen und unterdrückten Klassen, er wendet sich gegen jede snobistische Anmaßung und Überheblichkeit gegenüber Niedrigstehenden, und seine Verurteilung, sein ungeduldiger Zorn klingen echt. Es ist wichtig zu betonen, dass Robespierre, wie Rousseau, das Fehlen persönlicher Abhängigkeit – oder anders ausgedrückt : Gleichheit – im Sinn hat, wenn er von Menschenwürde und Freiheit spricht. Rousseau hatte gesagt, der Mensch solle so unabhängig wie möglich von anderen Menschen sein und so abhängig wie möglich vom Staat. Menschenwürde und - rechte würden herabgesetzt, wenn der Mensch einen anderen Menschen als ihm übergeordnet anerkennen müsse, doch nicht bei gleicher Abhängigkeit aller von der kollektiven Ganzheit oder dem Volk, kurz : von uns selbst.83 In allen Zeitaltern, sagt Robespierre, wurde Regierungskunst dazu benutzt, um die Vielen durch Wenige auszubeuten und zu unterdrücken. Gesetze wurden ersonnen, um diese Versuche zum System zu ver vollkommnen. Anstatt die Befreiung der Volkskräfte anzustreben und ihre Sehnsucht nach Freiheit, Würde, Glück und Selbstver waltung zu erfüllen, dachten alle Gesetzgeber immer in Begriffen von Regierungsmacht. Vorherrschend in ihren Gedanken waren Vorsichtsmaßregeln gegen Unzufriedenheit und Auf lehnung der Massen, denn sie waren überzeugt, dass das Volk ex definitione schlecht und aufsässig sei. „L’ambition, la force et la perfidie ont été les législateurs [...] asservi [...] raison.“84 Sie verkündeten, Vernunft sei nichts als Narretei, Gleichheit sei Anarchie. Die Rechtfertigung der natürlichen Rechte war in ihren Augen Rebellion, und die Natur wurde als Schimäre verlacht.85 „C’est à vous maintenant de faire le vôtre, c’està - dire de rendre les hommes heureux et libres par vos lois.“86 Robespierre ver -

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par le patriotisme.“ Ebd., Band 10, S. 5 : „Tout être collectif ou non qui peut former un vœu, a le droit de l’exprimer.“ Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 70, 96–99, 258–261; Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 169; Nr. 12, S. 591 f. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 257. Vgl. auch ebd., S. 55, 258; Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 1, S. 13 ff. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 258. Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 1, S. 7; Serie 2, Nr. 2, S. 52 f.; Serie 2, Nr. 7, S. 338 f. Vgl. auch Aulard, Société des Jacobins, Band 4, S. 84.

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warf alle Hinweise auf das römische Tribunal. Diese alte und so vielgepriesene Einrichtung bedeutete Knechtschaft des Volkes. Als ob das Volk besondere Fürsprecher brauchte, um es vor höheren Mächten und einem höheren Tribunal zu vertreten ! Das Volk habe keinerlei Verlangen danach, auf dem Berg in Streik zu gehen und dort zu warten, bis seine Beschwerden erhört würden. Das Volk sei der Herr in seinem eigenen Haus, und nicht ein Klient oder Bittsteller. Seine Absicht sei, in Rom zu bleiben und die Tyrannen zu vertreiben.87 Und so sehen wir Robespierre in der Verfassunggebenden Versammlung fast allein im Kampf um das allgemeine Wahlrecht. Es gab keinen stärkeren Verfechter des Prinzips der Volkswahlen für alle Funktionäre des Staates, administrative sowohl wie richterliche und andere. Er legte den größten Nachdruck auf die Verbreitung politischen Bewusstseins in den Massen und ermunterte seinen Ausdruck durch die verschiedenen Kanäle – Volksgesellschaften, Presse, Petitionen, öffentliche Diskussionen, Demonstrationen und sogar außergesetzliche direkte Aktion durch das Volk. Robespierres entschiedene Stellungnahme gegen die Todesstrafe und seine glühende Verteidigung der uneingeschränkten Pressefreiheit waren nicht nur ein Kampf für Werte um ihrer selbst willen, sondern ein Kampf gegen die Instrumente traditioneller Regierungstyrannei und für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes.88 Es liege in der eigentlichen Natur einer Regierung „nicht des Volkes“, niemals durch Macht saturiert zu werden. Jede Regierung „nicht des Volkes“ stelle ein volksfeindliches, egoistisches Interesse dar. Die Missstände in der Gesellschaft rühren nie vom Volke her, immer von der Regierung. „C’est dans la vertu et dans la souveraineté du peuple qu’il faut chercher un préservatif contre les vices et le despotisme du gouvernement.“89 Das erste Ziel einer Verfassung bestehe im Schutz des Volkes vor seiner eigenen Regierung und ihren Missbräuchen. Robespierre stimmte natürlich nicht mit Montesquieus Idee von der Gewaltenteilung überein, die von der Verfassunggebenden Versammlung neu bestätigt worden war. Denn welche verfassungsmäßigen Kunstgriffe die Versammlung auch zur Unterordnung der Exekutive unter die Legislative anwenden mochte, so bliebe dennoch in der Verfassung von 1791 die Tatsache einer permanenten Spitze, die ungewählt, die sozusagen primär in derselben Weise sei wie das Volk in Bezug auf die Gesetzgebende Gewalt. Das britische System schien Robespierre ein Betrug und ein Komplott gegen das Volk zu sein. Früher, im Zeitalter der Knechtschaft, möge beabsichtigt gewesen sein, die Tyrannei dadurch zu mäßigen, dass man Spannungen 87 88 89

Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 261 f. Vgl. ebd., S. 20, 31, 70; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 6, S. 227. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 260. Vgl. auch ebd., S. 259. Robespierre, Lettres à ses Commettants, Nummer 1, Serie 2, S. 53.

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zwischen den verschiedenen Regierungsstellen schuf und Uneinigkeit unter den verschiedenen Gewalten her vorrief. Das Ziel der Revolution aber sei, die Tyrannei insgesamt auszurotten und das Volk regieren zu lassen. Robespierre war in seinem Herzen ein Republikaner, bevor er es selber wusste.90 Robespierre war von einer ständigen Besorgnis erfüllt, keine Machtpositionen in die Hände der Exekutive fallen zu lassen. In diesen Händen müssten sie zu volksfeindlichen konterrevolutionären Kräften werden. Für ihn gab es kein Zögern, welche Haltung man zu solchen Fragen wie der des königlichen Vetorechts und der königlichen Genehmigung von Gesetzesbeschlüssen einzunehmen hatte. Aus seiner Entschlossenheit heraus, die schädliche Macht der Exekutive zu neutralisieren, kämpfte Robespierre dafür, dem König jedes nur mögliche Prärogativ zu nehmen.91 Dies verfolgte er konsequent bei jedem Anlass während der großen verfassungsrechtlichen Debatten der Jahre 1789– 1791 über die französische Staatsreform. Er war zum Beispiel gegen das königliche Kommando über die Nationalgarde. Er verurteilte heftig die Ver wendung der alten Maréchaussée und ihrer Offiziere, die aus der unter königlichem Befehl stehenden „Armée de ligne“ rekrutiert wurden, zum Polizeidienst und zu Friedensrichterfunktionen ( es sollten ordentliche Friedensrichter gewählt werden ). Robespierre verlangte, dass Militärgerichte aus Offizieren und Mannschaften in gleicher Zahl zusammengesetzt würden; sonst könnten die Kriegsgerichte, die nur aus Offizieren bestünden, patriotische Soldaten unter dem Vor wand der Disziplinlosigkeit verurteilen.92 In allen Zwischenfällen, die sich in den ersten zwei oder drei Jahren zwischen Volksdemonstrationen und Polizei abspielten, nahm Robespierre stets die Partei der Ersteren und beschuldigte Behörden und Polizei konterrevolutionärer Absichten, der Provokation oder der Böswilligkeit – als ob definitionsgemäß jeder Volksaufstand ein Ausdruck berechtigten Volkszornes wäre und jede Handlung der Behörden konterrevolutionär. Wer die Nation darstelle und wer nicht zur Nation gehöre, ob die Nation die Gesamtsumme der auf französischem Boden geborenen Personen sei, ob eine Glaubensgemeinschaft oder das Äquivalent des Volkes als soziale Kategorie, diese Fragen waren noch nicht klar formuliert.93 Sie tauchten erst all90

91 92

93

Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 12 ff., 261. Ebd., S. 93 : „Des agrégations d’hommes plus ou moins éloignées des routes de la raison et de la nature, plus ou moins asser vies, sous des gouvernements que le hasard, l’ambition ou la force avaient établis.“ Vgl. ebd., S. 79–86; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 2, S. 451; Band 3, S. 98; Band 6, S. 67 f. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 8, S. 256 ff.; Band 9, S. 339; Aulard, Société des Jacobins, Band 1, S. 62; Band 2, S. 305, 316, 490; Band 3, S. 320; Band 4, S. 84; Croker, Robespierre, Band 4, S. 8–13, 35, 46, 51–53. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 10, S. 488; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 9, S. 243.

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mählich auf. Doch schon zu diesem Zeitpunkt hatte Robespierres Konzeption der Nation keinen Raum für Korporationen. Die Nation kannte, wie Rousseau und Sieyès gelehrt hatten, keine anderen Komponenten als Einzelpersonen. Die derart zusammengesetzte Nation stellte eine kollektive und doch monolithische Persönlichkeit mit nur einem Interesse und nur einem Allgemeinen Willen dar. Korporationen, gleichzusetzen mit Teilwillen, gehören nicht der Nation an. Sie sind dem Gemeinwohl direkt entgegengesetzt, oder zum mindesten weichen sie von ihm ab.94 Obwohl er kein kämpferischer Antiklerikaler war, wollte Robespierre aus diesem Grunde die Kirche nicht als separate Körperschaft fortbestehen lassen. Er befür wortete die Idee der Priesterehe und bestand darauf, dass Bischöfe nicht von der Geistlichkeit allein gewählt würden, sondern wie alle anderen Beamten vom Volk der Diözese, und zwar von Geistlichen und Laien.95 Robespierre verlangte Garantien dafür, dass die Nationalgarde nicht nur von der Kontrolle der Administration befreit sei, sondern dass sie auch daran gehindert würde, einen „esprit de corps“ zu bilden. Die Offiziere sollten alle zwei Jahre ausgewechselt werden. Rangabzeichen sollten außerhalb des Dienstes nicht getragen werden. Robespierre verlangte gewählte Geschworene ebenso für Zivilprozesse wie für Strafprozesse, weil er den Korpsgeist fürchtete, den eine berufsmäßige Richterschaft zwangsläufig entwickeln würde. Robespierre erhob keinen Protest gegen das Verbot der Gewerkschaften in dem berühmten „Loi Le Chapelier“, das erlassen wurde, um die Homogenität des nationalen Willens und des nationalen Interesses zu garantieren.96 Nur allmählich kam Robespierre dazu, eine soziale Klasse als nicht zur Nation gehörend zu brandmarken. Sieyès hatte die privilegierten Stände verurteilt, weil sie sich außerhalb der nationalen Gemeinschaft stellten. Nach Abschaffung der Feudalprivilegien wurde es ein Zeichen guter Revolutionsgesinnung, die Einheit der französischen Nation zu betonen und alles zu ver werfen, was durch Zuordnung eines besonderen Status für oder gegen irgendeinen Teil der Gemeinschaft diskriminieren könnte. Die französische Nation sei aus Franzosen zusammengesetzt und nicht aus Klassen oder Kasten.97 Noch bevor dieses Prinzip endgültig durch den Ausschluss der ärmeren Klassen vom Wahlrecht verletzt wurde, kam es Robespierre schmerzlich zum Bewusstsein, dass die nationale Einheit einer Spaltung in zwei feindliche soziale Klassen wich, die 94 95 96 97

Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 3, S. 320 : „Un corps armé [...] distinct [...] des citoyens.“ Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 6, S. 227. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 181 ff.; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 5, 7, 21; Croker, Robespierre, Band 4, S. 8–13, 35, 46, 51–53. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 9, S. 340 : „J’entends par le peuple la généralité des individus qui composent la société.“

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der Besitzenden und die der Mittellosen.98 Er machte zuerst verzweifelte Anstrengungen, dies zu verhindern, und zwar nicht nur durch seinen heftigen Widerstand gegen den „marc d’argent“. Er kämpfte für die Zulassung der Armen zur Nationalgarde, bestand auf der Wählbarkeit der Armen zu Mitgliedern von Geschworenengerichten, focht einen entschlossenen und erfolgreichen Kampf gegen die Nichtzulassung von Petitionen passiver Bürger.99 Er warnte die „Assemblée“ wiederholt davor, die Machtpositionen nur einer Klasse vorzubehalten, da sie sonst unvermeidlich zu Werkzeugen der Klassenherrschaft und Unterdrückung würden. Frankreich würde in zwei getrennte Nationen zerfallen, und das unterjochte Volk würde seinem Lande gegenüber keinerlei Verpflichtung empfinden. Seine Mitglieder würden zu Fremden werden. Er verhöhnte die Verteidiger des „marc d’argent“ und schrieb ihnen die Idee zu, „die menschliche Gesellschaft solle sich lediglich aus Eigentümern zusammensetzen, unter Ausschluss der Menschen“.100 Robespierre stand in dieser Beziehung eine verhängnisvolle Entwicklung bevor. Er begann mit leidenschaftlicher Opposition gegen den Ausschluss der unteren Schichten vom Körper der souveränen und politisch aktiven Nation, einer Opposition, die sich auf die Idee der geheiligten Menschenrechte gründete, und er endete damit, die Volksmassen allein zur Nation zu erklären und praktisch die Reichen, wenn nicht das Bürgertum als Ganzes, außerhalb des Gesetzes zu stellen. Die „Nation“ wurde mit dem „Volk“ identifiziert, „dieser großen und interessanten Klasse, bisher ‚das Volk‘ genannt [...], dem natürlichen Freund und unentbehrlichen Vorkämpfer der Freiheit [...], weder vergiftet durch Luxus noch verdorben durch Stolz, weder verleitet durch Ehrgeiz noch gestört durch jene Leidenschaften, die der Gleichheit so abträglich sind [...], edelmütig, vernünftig, großzügig und gemäßigt“.101 98

99 100

101

Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 231 : „J’ai entendu déjà distinguer le peuple et la nation [...]. Pour moi, [...] ces mots [ sont ] synonymes.“ Vgl. ebd., S. 5, 7, 20, 23, 235. Ebd., S. 97 : „L’intérêt du peuple est l’intérêt général, celui des riches est l’intérêt particulier.“ Vgl. ebd., S. 89–109, bes. 102 f.; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 10, S. 5; Vermorel ( Hg.), Œuvres de Robespierre, S. 185 ff. Robespierre, Défenseur, Nr. 10, S. 500 f. Vermorel ( Hg.), Œuvres de Robespierre, S. 190 : „On veut diviser la nation en deux classes, dont l’une ne semblerait armée que pour contenir l’autre, comme un ramas d’esclaves toujours prêts à se mutiner ! Et la première renfermerait tous les tyrans, tous les oppresseurs, toutes les sangsues publiques, et l’autre le peuple ! Vous direz après cela que le peuple est dangereux à la liberté !“ Vgl. ebd., S. 192 f. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 96–98; Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 173: „Le peuple, cette classe immense et laborieuse, à qui l’orgueil réser ve ce nom auguste qu’il croit avilir, le peuple n’est point atteint par les causes de dépravation qui perdent ce qu’on appelle les conditions supérieures. L’intérêt des faibles, c’est la justice.“ A. d. Hg. : Das im Text genannte Zitat ist in dieser Form nicht nachweisbar.

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Weit davon entfernt, die Idee eines Gleichgewichts zwischen den sozialen Kräften zu akzeptieren, quält sich Robespierre in der schmerzlichen Erkenntnis eines tödlichen Kampfes, der ohne Atempause geführt wird. Die Konterrevolution wird von ihm als tatsächliche, oder latente, ständige Verschwörung empfunden. Sie lauert in dunklen Ecken, intrigiert, plant Anschläge und wartet nur auf eine Gelegenheit, für die sie heimtückisch ihre Kräfte vorbereitet.102 Robespierre kann nicht anders als jede Sache, selbst wenn sie prima facie ein neutrales Problem ist, unter demselben und einzigen Blickwinkel sehen, nämlich der Möglichkeiten, die sie jedem der beiden Kämpfer bietet, und der Gefahren, die sie für sie enthält. Alles, was den Bereich der Volkssouveränität und der Demokratie erweitert, ist ein Gewinn für die Revolution, eine auf dem Weg zum Sieg eroberte Stellung, eine Niederlage und ein Verlust für die Konterrevolution. Obwohl Robespierre ein dauerndes dynamisches Ziel hat und nicht nur ein pragmatisches Parteiprogramm, ist er gleichwohl auch Taktiker. In einem Krieg steht das Ziel fest, doch die Taktik kann sich ändern. Kein taktischer Zug sollte isoliert und für sich beurteilt werden; der weitere Zusammenhang bestimmt sowohl die Bedeutung als auch den moralischen Charakter eines einzelnen Zuges. Und so betrachtet der Taktiker Robespierre gelegentlich einen leichten Rückzug als Verbesserung der demokratischen Position. Er erklärte sich zum Verteidiger der Verfassung von 1791, die er ursprünglich in vielen ihrer Anordnungen bitter bekämpft hatte. Er blickte voller Missfallen auf verfrühte republikanische Propaganda. Er sieht sehr wohl die Hinterhalte und Provokationsversuche der Konterrevolution, und obwohl er ein Anhänger direkter Volksaktion ist, warnt er das Volk, solange der Feind zu stark ist, sich nicht der Beschuldigung der Anarchie auszusetzen, da dies Unterdrückung durch Polizeimaßnahmen her vorrufen würde.103 Robespierre kann als der Vater der Theorie angesehen werden, die mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen einem Krieg des Volkes und einem konterrevolutionären Krieg operiert. Brissot und die Girondisten wollten Krieg, weil sie hofften, in einem nationalen Ausnahmezustand würde proselytenmachende Begeisterung alle 102 103

Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 10, S. 488. Vgl. Croker, Robespierre, Band 4, S. 47 ff.; Laponneraye ( Hg.), Œuvres de Robespierre, Band 1, S. 66 ( Robespierre über das Kriegsrecht, 22. November 1790) : „Qu’on ne me pardonne de n’avoir pu concevoir comment les moyens du despotisme pouvaient assurer la liberté.“ Vgl. außerdem ebd., S. 69 ff., z. B. S. 69 : „Ne voyezvous pas deux parties, celui du peuple et celui de l’aristocratie et du despotisme ?“ S. 71 : „Devons - nous déshonorer le patriotisme en l’appelant esprit de la sédition ?“ Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 3, S. 12, 420; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 174 ff., bes. S. 179 : Verfassung angenommen, trotz ihrer Mängel; zurzeit ein „point d’appui et un signal de ralliement“ gegen konterrevolutionäre Provokation. Vgl. ebd., S. 180 ff. : Annahme der Monarchie; besser als Intrigenherrschaft unter der Maske der Republik, Form unwesentlich; auf die Realität kommt es an.

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konterrevolutionären Gefühle und Verschwörungen hinwegfegen, die Nation einigen und dann die Revolution quer durch Europa tragen. In Übereinstimmung mit seinen allgemeinen Gedankengängen beurteilt Robespierre die Kriegsfrage vom Gesichtspunkt des unversöhnlichen Konflikts zwischen der Revolution und der Konterrevolution. Ihm schien es klar, dass im Kriegsfall die Truppen, die konzentrierten Kriegsbefugnisse sowie die patriotische Besorgnis und die Hochgefühle, die nationale Gefahr her vorruft, zwangsläufig von der Konterrevolution – im Bündnis mit fremden Höfen – als Waffen zur Nieder werfung der Revolution benützt werden würden. Robespierre selbst hätte den Krieg gern zu einem Krieg des Volkes gemacht, das heißt zu einem Anlass, eine Volksregierung einzuführen, die auf revolutionärer Strenge und militärischer Disziplin basierte. Das könnte den Weg öffnen für Säuberungsaktionen und für eine völlige Umformung des Offizierskorps und der Ver waltung, vielleicht sogar den Thron gänzlich hinwegfegen. Robespierre hörte niemals auf zu denken und zu fühlen : „Wenn wir sie nicht zerstören, dann werden sie uns vernichten.“ „Sie“ waren nicht unbedingt Menschen, Einzelpersonen, obwohl der Ton heftiger persönlicher Schmähung und Anklage geeignet ist, diesen Eindruck zu vermitteln, sondern eher ein verbrecherisches System als solches, kollektive Kräfte, die der einzelne Verbrecher nur in repräsentativer Weise vertrat.104 So war es Robespierre nach der Flucht des Königs weniger um das tatsächliche Vergehen des Königs zu tun als um die Lehre von allgemeiner Bedeutung, die aus der Flucht zu ziehen war : die Tatsache, dass Ludwig nicht hätte entkommen können, wenn nicht starke Kräfte da gewesen wären, die ihn ermutigt hätten. Auf das Vorhandensein und die Stärke dieser gerade enthüllten Kräfte kam es nach Robespierres Meinung am meisten an.105 Diese Haltung bestimmte Robespierres Gerechtigkeitsauffassung, wie sie in seinen Reden über die Reform des Rechtswesens und vor allem über den Prozess gegen den König zum Ausdruck kam.106 Das Problem ist von grund104

105 106

Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 119, 123–136; Croker, Robespierre, Band 4, S. 47 ff.; Robespierre, Défenseur, Nr. 8, S. 375 : „Il est deux espèces de guerre; celle de la liberté, celle de l’intrigue et de l’ambition; celle du peuple; celle du despotisme.“ Vgl. ebd. S. 376 ff.; ders., Défenseur, Nr. 1, S. 27, 32 ff. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 73. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 211, 213 ff., 222, 240 ff. Ebd., S. 212 : „Louis ne peut donc être jugé; il est déjà condamné, ou la République n’est point absoute.“ Vgl. außerdem Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 365–372, 386–399, Band 2, S. 228 f.; Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 5, S. 196 f., Unterscheidung zwischen Unrecht gegenüber Einzelpersonen und Verbrechen gegen die Nation : „Ici commence un nouvel ordre d’idées, absolument distinct de l’ordre judiciaire [...] c’est la cause de la société contre un individu. Quel en sera le juge ? La société elle - même. La société sera donc juge et partie ? Oui; ainsi

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legender Bedeutung. Gibt es so etwas wie objektive, unabhängige Gerechtigkeit, gegründet auf einen Kodex, der nichts mit dem Kampf zwischen den streitenden sozialen und politischen Kräften zu tun hat und dessen einziges Kriterium strenges Beweismaterial bildet ? Oder ist Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem sich abspielenden politischen Kampf als eine Waffe der siegenden Partei anzusehen ? Robespierre neigte offensichtlich zu der letzten Auffassung. Es war kein Zynismus seinerseits, nicht Unglaube an objektive Gerechtigkeit überhaupt. Im Gegenteil. Er war nur überzeugt davon, dass ex definitione alle Gerechtigkeit im weitesten Sinn des Wortes in einer Partei verkörpert sei und keine in der anderen. Die Beweisfrage war wirklich zweitrangig. Es kam nicht allein darauf an, ob das Verbrechen tatsächlich in der im Strafgesetzbuch vorgesehenen Weise begangen wurde. Worauf es ankam, war, dass es hätte ausgeführt werden können und ganz sicher ausgeführt worden wäre, wenn sich die Gelegenheit dazu geboten hätte. Auf den Menschen als solchen kommt es keineswegs an, er zählt nur als Teil eines Systems. Und das System als Ganzes ist ein Verbrechen und eine ständige Verschwörung. „Ein König kann nicht unschuldig regieren.“107 Ludwig muss sterben, damit die Republik lebe. „Une mesure de salut public à prendre, un acte de providence nationale à exercer“ (Robespierre ).108 Schon im Oktober 1790 trug Robespierre dazu bei, einen Obersten Gerichtshof zur Behandlung von Anklagen wegen „lèse - nation“ ins Leben zu rufen. Der Gerichtshof sollte die Macht haben, alle konterrevolutionären Machenschaften zu zerstören, er sollte aus „Freunden der Revolution“ zusammengesetzt sein. Richter waren für Robespierre Magistrate der Regierung; in einem freien Land Beamte, die vom Volk gewählt wurden. Ihr Bereich und die Grundlage ihrer Urteile war nicht eine besondere Wissenschaft der Jurisprudenz, sondern es waren die Gesetze der Verfassung. „Tatsächlich sollte das Wort Jurisprudenz aus dem französischen Sprachschatz gestrichen werden. In einem Staat mit einer Verfassung und einer gesetzgebenden Körperschaft brauchen die Gerichte keine Jurisprudenz, sondern den Text des Gesetzes.“109 Somit sollte die Nation als die Quelle aller Gesetze und nicht irgendeine unabhängige Körperschaft alleiniger Interpret der Verfassung und alleiniger Zensor der Gerichte sein. Dieser Gedankengang führte zu dem Vorrang, der unter dem System des Terrors dem patriotischen Gewissen und dem Volksinstinkt gegenüber rechtlicher Kompetenz und rechtlichem Beweis eingeräumt wurde. Außerdem ist in dieser ganzen Einstellung schon der Terrorbegriff der „Ver-

107 108 109

le veut la nature des choses [...] la raison éternelle [...] interprète de ses jugements [...] la majorité des membres qui composent le corps social.“ Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 369 f. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 211. Thompson, Robespierre, Band 1, S. 94. Vgl. auch ebd., S. 94 ff.

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dächtigung“ enthalten, nach dem ein Mensch, noch bevor er wegen irgendeiner besonderen Anschuldigung verurteilt wurde, als schuldig galt nur wegen seiner Zugehörigkeit zu einer Klasse oder Gruppe und wegen früherer Verbindungen. Desmoulins, einer der Baumeister des Jakobinismus, entdeckte am Vorabend seiner Hinrichtung durch die Guillotine die Ungeheuerlichkeit dieser Auffassung von Gerechtigkeit. „Il n’y a point de gens suspects, il n’y a que des prévenus de délits fixés par la loi“,110 schrieb er.

110

Desmoulins, Vieux Cordelier, Nr. 4, 20. Dezember 1793, 30 Frimaire, an II, S. 62. Vgl. auch Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 23, S. 179 : „Je n’ai jamais su décomposer mon existence politique pour trouver en moi deux qualités disparates, celle du juge et celle d’homme d’état [...]. Tout ce que je sais, c’est que nous sommes les représentants du peuple envoyés pour cimenter la liberté publique par la condamnation du tyran, et cela me suffit.“

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III. Volon té une 1. Direkte demokratische Aktion Es ist nicht überraschend, dass Robespierre, als ein treuer Schüler Rousseaus, nicht bereit war, die Entscheidung einer repräsentativen Versammlung als den Ausdruck desjenigen Volkswillens anzuerkennen, der mit dem Allgemeinen Willen identisch ist. Parlamente gehörten in dieselbe Kategorie wie andere Sonderinteressen und Korporationen, obwohl sie formal aus der Wahl des Volkes her vorgingen. Eine repräsentative Versammlung, die wie die Gesetzgebende Versammlung auf der Basis eines Wahlzensus gewählt wurde, war sicherlich nicht „des Volkes“. Ohne so weit gehen zu wollen wie Rousseau, konnte sich Robespierre dennoch nicht mit dem Gedanken aussöhnen, dass eine Versammlung – wenn einmal gewählt, und sei es selbst in freien Wahlen – souverän und ihre Autorität unbestreitbar sei. Die absolute Unabhängigkeit einer parlamentarischen Versammlung sei „repräsentativer Despotismus“.111 Es bestehe immer die Gefahr, dass das Volk von ebenso vielen Feinden befallen wäre, wie es Abgeordnete hatte.112 Robespierres von Selbstverleugnung zeugender Antrag, Mitglieder der Verfassunggebenden Versammlung von der Wählbarkeit zur Gesetzgebenden Versammlung auszuschließen, war von der Befürchtung diktiert, durch die Wahl derselben Personen würde die Gesetzgebende Versammlung zu einem permanenten Sonderinteresse werden.113 Robespierre suchte nach Sicherungen gegen „repräsentativen Despotismus“. Es gab ihrer zwei : ständige Volkskontrolle über die gesetzgebende Körperschaft und direkte demokratische Aktion von Seiten des Volkes.114 Robespierre träumte von einem Versammlungssaal mit einer öffentlichen Galerie, die groß genug wäre, um zwölftausend Zuschauer zu fassen. Unter den Augen eines so großen Ausschnitts des Volkes würde kein Abgeordneter es wagen, 111 112 113 114

Robespierre, Défenseur, Nr. 5, S. 217, 225; ders., Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 1, S. 12; Serie 1, Nr. 9, S. 386; Vellay ( Hg ), Discours et Rapports, S. 134, 262. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 11, S. 543 : „Presqu’autant d’ennemis, qu’il a nommé de mandataires.“ Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 11, S. 525 ff., 529 ff., 547; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 264–270. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 11, S. 536 ff.; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 262, 264–270. Vgl. ebd., S. 264 f. : „Un peuple dont les mandataires ne doivent compte à personne de leur gestion, n’a point de Constitution [...] trahir impunément [...]. J’avoue que j’adopte tous les anathèmes [...] contre lui par J. J. Rousseau.“ Ebd., S. 269 f. : „Laissez les ténèbres et le scrutin secret aux criminels et aux esclaves. Les hommes libres veulent avoir le peuple pour témoin de leurs pensées.“

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Volonté une

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volksfeindliche Interessen zu vertreten.115 Einerseits betonte Robespierre, alle Hindernisse, die dem Volk bei der freien Wahl seiner Vertreter in den Weg gelegt würden, seien nutzlos, schädlich und gefährlich. Andererseits billigte er entschieden jede Maßregel, die geeignet war, das Volk vor dem „Unglücksfall einer schlechten Wahl“ und der Korruption seiner Abgeordneten zu schützen. Einmal verlangte Robespierre ein Grundgesetz, nach dem die Urversammlungen in festgelegten kurzen Abständen einberufen würden, um über das Verhalten ihrer Abgeordneten zu Gericht zu sitzen. Diese Versammlungen sollten die Macht haben, ungetreue Abgeordnete zurückzurufen. Darüber hinaus würden die Urversammlungen während ihrer Tagungen als das zum Rat versammelte souveräne Volk handeln und die Gelegenheit nutzen, um ihre Ansichten über jedwede das öffentliche Wohl betreffende Angelegenheit zum Ausdruck zu bringen. Keine Macht könne sich in die Ausübung der direkten Volkssouveränität durch die zum Rat versammelte Nation einmischen. „Ce peu d’articles très simples, et puisés dans les premiers principes de la Constitution, suffiront pour l’affermir et pour assurer à jamais le bonheur et la liberté du peuple français.“116 Robespierre wütete insbesondere gegen ein Bündnis zwischen der Legislative und der Exekutive, das für ihn nur ein Komplott gegen das Volk bedeuten konnte. Die Ausübung der Exekutivgewalt durch eine gewählte Körperschaft war für Robespierre das Schlimmste an Despotismus, eine Oligarchie.117 Am meisten fürchtete er das moderne System, in dem ein Kabinett der parlamentarischen Mehrheit in enger Verbindung mit seiner eigenen Partei arbeitet und von ihr unterstützt wird. Er wurde selbst später, 1793, der Vater der Theorie der Revolutionsregierung, die vom Konvent durch Ausschüsse ausgeübt wird, nach seiner Aussage ein System, das so neu sei wie die Revolution selbst und in keiner Abhandlung über die Wissenschaft von der Politik zu finden.118 Mit 115 116

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Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 267. Robespierre, Défenseur, Nr. 11, S. 538. Siehe auch ebd., S. 532, 536–538. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 230 f. ( gegen Appell an das Volk über Ludwig XVI ); Robespierre, Lettre à ses Commettants, Serie 1, Nr. 1, S. 5 ff. ( an Vergniaud, Gensonné etc.), weil dies wahrscheinlich Verwirrung bei den Massen hervorrufen würde, wohingegen er in ders., Défenseur, Nr. 11, S. 532, dafür eintrat, die Urversammlungen zu Konventswahlen einzuberufen, und sich lustig machte über die Vorstellung, das Volk könnte von den Aristokraten irregeführt werden : „Croire qu’une si grande multitude de sections du peuple puisse être séduite ou corrompue ! Si quelques - unes pouvaient être égarées, la masse serait, à coup sûr, dirigée par le sentiment du bien commun et par l’esprit de la liberté.“ Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 22, S. 465; Robespierre, Défenseur, Nr. 3, S. 138; Nr. 4, S. 172; Nr. 11, S. 524; Bureau Central ( Hg.), Réimpression de l’Ancien Moniteur, Band 8, S. 90; Band 9, S. 407. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 30, S. 459.

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dem Roland’schen Ministerium im Sinn verurteilte der Unbestechliche in den härtesten Ausdrücken den Stand der Dinge, bei dem Parteiführer und Kabinettmitglieder alles hinter den Kulissen in Partei - und Ministerzusammenkünften abmachen.119 In einem solchen System werde der Volkswille verfälscht, und die Mehrheiten, die durch solche Machenschaften zustande gebracht werden, seien unrechtmäßig. Die Gesetze, über die in dieser Weise abgestimmt werde, stellen keinen echten, sondern einen fiktiven Ausdruck des Allgemeinen Willens dar. Den Allgemeinen Willen in seiner Beständigkeit und Reinheit, dessen einziger Träger das Volk sei, dürfe weder ein Partei - und Kabinettskomplott sich anmaßen, um „repräsentativen Despotismus“ zur Dauereinrichtung zu machen, noch dürfen Eintagsparlamente ihn mit ihren selbstsüchtigen Impulsen identifizieren. Robespierre war unwillig darüber, dass die zahlenmäßige Mehrheit in der „Assemblée“ als Souverän angenommen wurde. Der Allgemeine Wille, der Wille der wahren Volksmehrheit, sei nicht gleichbedeutend mit parlamentarischer Mehrheit oder Minderheit. Die Mehrheit im wirklichen Sinn sei dort, wo der wahre Allgemeine Wille sich befinde, selbst wenn dieser Wille zufällig durch eine zahlenmäßige Minderheit ausgedrückt werde.120 Von diesem seinem Wesen nach anti - parlamentarischen Programm war es nur noch ein Schritt zu der Rechtfertigung der unmittelbaren Volksaktion im Namen des geheiligten Prinzips, dass das Volk nicht nur ein Recht, sondern die Pflicht habe, sich zum Widerstand gegen Unterdrückung und Despotismus, zum aktiven Aufstand gegen Regierungskomplotte und verräterische Intrigen treuloser Abgeordneter zu erheben.121 „Es ist von entscheidender Wichtigkeit für die Freiheit, dass die Unabhängigkeit bestehe, über die Handlungen der Gesetzgebenden Körperschaft eine vernünftige Zensur auszuüben. [...] Die Nationalversammlung selbst ist dem Allgemeinen Willen unter worfen, und wenn sie ihm widerspricht, kann die Versammlung nicht länger beste119

120

121

Vgl. ebd., Band 22, S. 465 f. : „Je ne connais d’autre majorité que celle qui se forme dans l’Assemblée, et non dans les conciliabules secrets et les dîners ministériels [...] et quand une influence ministérielle quelconque a formé les décrets d’avance, fomenté les motions, arrangé tout par l’intrigue, la majorité n’est qu’apparente et illusoire.“ Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 242 f., z. B. S. 242 : „Je ne connais point ici ni minorité, ni majorité. La majorité est celle des bons citoyens; la majorité n’est point permanente, parce qu’elle n’appartient à aucun parti; elle se renouvelle à chaque délibération libre, parce qu’elle appartient à la cause publique et à l’éternelle raison.“ Ebd., S. 243 : „La vertu fut toujours en minorité sur la terre.“ Vgl. auch Robespierre, Défenseur, Nr. 5, S. 222 f. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 11, S. 527 f. : „L’assemblée nationale, en déclarant les dangers de la patrie, qu’elle n’a point prévenus, a déclaré sa propre impuissance. Elle a appelé la nation elle - même à son secours. [...] La nation doit pour voir elle même à son salut au défaut de ses représentants.“ Vgl. auch Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 314 f.

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hen.“122 Es muss den Bevollmächtigten des Volkes unmöglich gemacht werden, die Freiheit zu schädigen. Da das Pariser Volk sich dem Regierungssitz am nächsten befindet, sei es nebst seinen vertretenden Körperschaften, der Kommune und den Sektionen, verpflichtet, als Wächter für die Millionen des Volkes in den Provinzen zu fungieren.123 Dies war Robespierres Haltung sowohl in der Krise vom 10. August 1792 als auch bei den Ereignissen, die ein Jahr später den Ausschluss der girondistischen Abgeordneten aus dem Konvent verursachten, als der Präsident des Konvents, der Jakobiner Hérault de Séchelles, den bewaffneten Aufständischen mit den Worten wich, die Gewalt des Volkes sei gleichbedeutend mit der Macht der Vernunft.124 Am 26. Mai 1793 sagte Robespierre in seiner Rede im Jakobinerklub : „Wenn das Volk unterdrückt ist und sich auf niemanden als sich selbst verlassen kann, würde nur ein Feigling es nicht zum Aufstand aufrufen. Wenn alle Gesetze gebrochen werden, wenn Despotismus seinen Höhepunkt erreicht hat, wenn guter Glaube und Bescheidenheit mit Füßen getreten werden, dann ist es die Pflicht des Volkes, sich zu erheben. Dieser Augenblick ist da : unsere Feinde unterdrücken offen die Patrioten; sie wollen das Volk im Namen des Gesetzes in Elend und Knechtschaft stürzen [...]. Ich kenne nur zwei Daseinsweisen für das Volk : sich selbst zu regieren oder die Aufgabe Bevollmächtigten anzuvertrauen.“125 Die Abgeordneten des Volkes, die eine verantwortliche Regierung wollen, werden unterdrückt. Das Volk muss zum Konvent kommen, um sie gegen die korrupten Abgeordneten zu beschützen. „Ich erkläre“, ruft Robespierre aus, „nachdem ich vom Volke den Auftrag erhielt, seine Rechte zu verteidigen, betrachte ich jeden als Unterdrücker, der mich unterbricht oder mir das Recht ver weigert zu sprechen, und ich erkläre, dass ich allein mich in einen Zustand der Auf lehnung versetze gegen den Präsidenten und alle Mitglieder, die im Konvent sitzen. Nachdem den Sansculotten Missachtung gezeigt wurde, versetze ich mich in einen Zustand der Auf lehnung gegen die korrupten Abgeordneten.“126 Drei Tage später, wieder im Jakobinerklub, ging Robespierre weiter : „Si la commune de Paris, en particulier, à qui est confié spécialement le soin de défendre les intérêts de cette grande cité, n’en appelle point à l’univers entier de la persécution dirigée contre la liberté par les plus vils conspirateurs; si la commune de Paris ne s’unit au peuple, ne forme pas avec lui 122 123 124 125

126

Robespierre, zit. in Aulard, Société des Jacobins, Band 3, S. 673. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 198 f.; Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 254; ders., Lettre à ses Commettants, Serie 1, Nummer 7, S. 304. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 27, S. 268. Robespierre, zit. in ebd., S. 243. Das Protokoll des Jakobinerklubs enthält nicht die volle Rede vom 26. Mai; die vollständige Version findet sich im Journal „Courrier des Départements“. Robespierre, zit. in Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 27, S. 244.

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une étroite alliance, elle viole le premier de ses devoirs.“127 Ein Volksaufstand vollzieht sich nach einem Muster und hat seine Technik. Von den repräsentativen Einrichtungen des Pariser Volkes, der Kommune und den Sektionen, war nur die Kommune eine gewählte und klar definierte Körperschaft. Die Sektionen waren die Volksversammlungen der Bewohner der verschiedenen Bezirke. Die direkte Demokratie war eine zufällig versammelte Menge. Die Sektionen wurden eifrig besucht und waren von revolutionären Aktivisten und Schwärmern beherrscht, de facto von einer kleinen Minderheit. Im Augenblick einer Krise wird aus den Sektionen ein Zentraler Revolutionsausschuss gebildet, gewöhnlich verstärkt durch Aktivisten aus der Provinz, „fédérés“, die zufällig in Paris sind. Die Mitglieder dieses Aufstandsausschusses sind in jedem Fall unbekannte dritt - und viertrangige Personen. Denn es soll eine Erhebung der anonymen, unartikulierten Massen sein. Im Hintergrund stehen die jakobinischen Führer, um zu leiten, anzufeuern und das Programm zu definieren. Der Zentralausschuss des aufständischen Volkes errichtet eine Revolutionskommune, indem er entweder die alte Kommune durch eine neue ersetzt oder die bestehende als revolutionär geworden erklärt. Solche Erklärung kennzeichnet den Ausbruch der Erhebung des souveränen Volkes gegen die Unterdrückung. Das Volk soll nun seine souveränen Rechte direkt ausüben. Die gewählten Vertreter in der Nationalversammlung müssen beiseite treten oder dem Willen der Vertretenen nachgeben. Dies ist das Muster, das am 10. August 1792 und am 31. Mai bis 2. Juni 1793 befolgt wurde. Bei dem früheren Anlass ruft Robespierre seine jakobinischen Freunde auf, „ihre Sektionen einzusetzen, um die ‚Assemblée‘ den wahren Volkswillen wissen zu lassen; und um diesen Willen ausfindig zu machen, Beziehungen zu den Volksgesellschaften zu unterhalten“,128 das heißt zu den Klubs, in denen die Volksmeinung gebildet wird. Robespierre wiederholt denselben Aufruf am 5. Mai 1793. Seine Reden am Vorabend der beiden Aufstände bilden die politische Grundlage der Aufständischen, gleichgültig, ob sie sich auf sie beziehen oder nicht. Am 15. August 1792 ist Robespierre, der kein Mitglied der „Assemblée“ ist, Führer der Abordnung des aufständischen Volkes zur Gesetzgebenden Versammlung, die die Volksvertreter daran erinnert, dass das Volk nicht „schläft“.129 Die Forderun127 128 129

Robespierre, zit. in ebd., S. 297. Vgl. auch ebd., S. 298; Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 213. Robespierre, zit. in Aulard, Société des Jacobins, Band 4, S. 193. Robespierre, zit. in Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 17, S. 80; Thompson, Robespierre, Band 1, S. 260. Siehe auch Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 17, S. 79. Zu Robespierres Rolle im Jahr 1792 vgl. Thompson, Robespierre, Band 1, S. 250–260. Über die Technik des Aufstandes und die revolutionäre Kommune vgl. Deville, La Commune; Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 1, S. 370 ff.; Band 2, S. 95 ff.

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gen der Massen von 1793, die girondistischen Abgeordneten auszuschließen, das Wahlrecht auf die Sansculotten zu beschränken, überall Revolutionsarmeen von Sansculotten zu bewaffnen, um über die Konterrevolutionäre zu wachen, und arme Patrioten für ihre Dienstleistungen in Verteidigung der Freiheit zu entlohnen, stammen direkt aus Robespierres früheren Verlautbarungen.130 Am 8. Juni 1793, als Barère im Konvent versucht, den Ausnahmezustand im aufständischen Paris aufheben zu lassen, drängt Robespierre darauf, dass der Aufstand über das ganze Land verbreitet werde, weil das Land nicht länger die „herrschende Unordnung“ dulden könne. Die revolutionären Volksbehörden, die „Comités de sur veillance“ und die Revolutionsarmeen müssen bleiben, um die Ordnung aufrechtzuerhalten, Freiheit zu gewährleisten und die Aristokraten in Schach zu halten.131 Robespierre leugnete nicht, dass solche direkte Aktion durch selbsternannte Hüter der Volksfreiheit anarchische Gewalttätigkeit mit sich bringe. Aber die Haltung eines Friedensrichters passe nicht zu der feierlichen Natur einer Revolution und zu dem Vorrang des Revolutionsziels. Revolutionsereignisse müssen vom Konvent „en législateurs du monde“ beurteilt werden, erklärte Robespierre am 5. November 1792 in seiner Rede gegen Louvet, der versuchte, ihn wegen seines Anteils an den Ereignissen der letzten Monate anzuklagen und ihn beschuldigte, er strebe nach Diktatur.132 Eine Revolution könne nicht ohne revolutionäre Gewalttätigkeit durchgeführt werden. Es sei nicht möglich, „après coup, marquer le point précis où doivent se briser les flots de l’insurrection populaire“.133 Wenn ein bestimmter Akt der Gewaltanwendung und des Zwanges durch das Volk als ungesetzlich verurteilt werden sollte, dann würden alle anderen Revolutionsereignisse, ja die Revolution als Ganzes zum Verbrechen erklärt werden müssen. „Warum nicht alle gleichzeitig vor Gericht stellen, die Stadtver waltung, die Wähler versammlungen, die Pariser Sektionen und alle diejenigen, die unserem Beispiel folgten ? Denn alle diese Dinge waren widerrechtlich, so widerrechtlich wie die Revolution, so ungesetzlich wie der Sturz des Throns und der Sturm der Bastille, so widerrechtlich wie die Freiheit 130

131 132 133

Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 180 f. Dort heißt es z. B. auf S. 181 : „En prenant toutes ces mesures sans fournir aucun prétexte de dire que vous avez violé les lois.“ (8. Mai 1793) Vgl. außerdem Thompson, Robespierre, Band 2, S. 12 f., 20– 23; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 25, S. 43; Band 26, S. 383. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 28, S. 169 f.; Thompson, Robespierre, Band 2, S. 23; Delville, La Commune, S. 72 ff., 177 ff. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 197 ff., bes. S. 199. Vgl. außerdem Robespierre, Défenseur, Nr. 12, S. 567 ff. Ebd., S. 198. Vgl. auch ebd., S. 314 f. : „Excès de fer veur patriotique ? [...] – Le patriotisme est ardent par sa nature. Qui peut aimer froidement la patrie ?“ Vgl. auch Vermorel ( Hg.), Œuvres de Robespierre, S. 190.

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selbst.“134 Dies waren unwiderlegbare Argumente, nachdem das Volk erst als die oberste und dauernd wirksame Kraft in der Politik anerkannt worden war. Das „Volk“ wurde hier zu einer unbestimmten, mystischen Idee. Einmal erscheint es als eine vor wärtsstürmende Lawine, die alles, was ihr im Wege steht, verschlingt und mit großartiger Grausamkeit vorgeht. Dann wieder stellt Robespierre es als bescheiden, edelmütig und menschlich dar, als Träger aller Tugenden, erzogen in der Schule des Leids und der Erniedrigung. Keine Machtzusammenballungen oder Einflusspositionen durften übrig bleiben, die den Vormarsch des Volkes aufhalten oder sein Selbstbestimmungsrecht verfälschen könnten.135 Selbst im Frühjahr 1793 war das Prinzip des unbeschränkten Selbstbestimmungsrechts des Volkes noch immer heilig für Saint - Just, und er wurde von ständiger Angst gequält, eine kleine Gruppe könnte die Regierungsgewalt an sich reißen. Die Gelegenheit, bei der er diese Gefühle ausdrückte, war die Diskussion eines Verfassungsentwurfs, den Condorcet im Namen der Girondisten vorgelegt hatte.136 Der Plan enthielt zwei wichtige Züge : eine Gesetzgebende Versammlung, die in indirekter Wahl von den Bezirksräten zu wählen war, und einen in direkter Volkswahl zu wählenden Exekutivrat. Beide Vorschläge ver warf Saint - Just im Namen der Unteilbarkeit des Allgemeinen Willens, der einzigen Garantie einer „kraftvollen Regierung“ und einer „starken Verfassung“ – sehr bezeichnende und merkwürdige Beiworte für ein System, in dem die Exekutive überhaupt keine Macht haben sollte.137 Der girondistische Plan eines vom Volke direkt gewählten Exekutivrats erschien Saint - Just als die gefährlichste Drohung für die Einheit von Republik und Volkssouveränität. Die Legislative und Exekutive wären nicht nur beide gewählt und daher Rivalen, sondern die Letztere, die aus direkter Wahl her vorgehen sollte, wäre mit höherem Prestige ausgestattet als die indirekt gewählte „Assemblée“. Darüber hinaus waren früher die Minister keine Mitglieder des Exekutivrats, und beide zusammen bildeten kein Kabinett, das als kollektiv verantwortliche Körper134 135

136

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Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 197. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 134 f., 213. Ebd., S. 97 : „Il n’y a rien d’aussi juste ni d’aussi bon que le peuple, toutes les fois qu’il n’est point irrité par l’excès de l’oppression.“ Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 2, S. 55 : „Le peuple vaut toujours mieux que les individus : or que sont les dépositaires de l’autorité publique ?“ Ebd., Nr. 1, S. 13 : „Que le peuple est bon.“ Vgl. auch ebd., Serie 2, Nr. 1, S. 30; ebd., Nr. 6, S. 285 : „Le peuple est toujours pur dans ses motifs; il ne peut aimer que le bien public, puisque le bien public n’est que l’intérêt du peuple.“ Zur Verfassung von 1793 vgl. Aulard, Histoire politique, S. 280–314. Hier findet man einen ausführlichen Bericht der Debatten und sowohl eine Analyse der verschiedenen Projekte als auch den endgültigen Bericht. Vgl. außerdem Stern, Condorcet und der Girondistische Verfassungsentwurf; Mathiez, La Constitution de 1793. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres completes de Saint - Just, Band 1, S. 418–432, Zitate : S. 421 f.

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schaft beriet und handelte; hingegen sah der neue Plan vor, dass der Exekutivrat und die Minister eine einzige Körperschaft bilden sollten. Kurz, der Rat sollte eine gewählte beratende Körperschaft sein, die ihre eigenen Beschlüsse ausführte. „Ce conseil est le ministre de ses propres volontés; sa vigilance sur lui - même est illusoire.“138 Abgesehen davon, dass es ketzerisch sei, eine gewählte Exekutive zu haben, würden die Minister auch parlamentarische Vor rechte genießen, und das Volk würde daher keinerlei Garantien ihnen gegenüber haben. Die Minister würden sich durch Kabinettssolidarität gegenseitig decken, und der Gesetzgeber würde machtlos sein und de facto nichts zu tun haben, da der Exekutivrat auch beratschlagen sollte. In zwei Jahren, meinte Saint - Just, wäre die „Assemblée“ suspendiert, und der Exekutivrat würde die Obergewalt haben, ohne durch ein Grundgesetz eingeschränkt zu werden. Der Rat würde ungeheure Macht besitzen. Seine Mitglieder würden die wahren Vertreter des Volkes sein, die Armeen unter seiner Kontrolle stehen, er würde alle Mittel der Propaganda, der Einschüchterung und der Korruption in seinen Händen halten. Nur mächtige und berühmte Männer, die sich gegenseitig kannten, würden gewählt und im Lauf der Zeit eine erbliche Körperschaft von Patriziern bilden, die miteinander die Exekutivgewalt teilen würden. Alle Hoffnung auf eine Volksregierung würde aufgegeben werden müssen. Es würde wieder Herrscher und Untertanen geben.139 Saint - Justs eigener Plan sah eine in direkter Wahl gewählte „Assemblée“ vor und einen von Wahlmännern gewählten, der „Assemblée“ untergeordneten Exekutivrat. Dem Exekutivrat und den Ministern sollte untersagt sein, eine gemeinsame Körperschaft zu bilden, und außerdem sollte den Ministern, die speziell zu ernennen waren, verboten sein, ein Kabinett zu bilden, damit sie nicht zur „Kabale“ würden. Saint - Just ging so weit, der „Assemblée“ zu verbieten, sich in Ausschüsse aufzuteilen, aus ihren Mitgliedern besondere Kommissionen zu ernennen, außer für Berichte über Spezialangelegenheiten oder zur Ausführung abgeleiteter Funktionen. Es sollte der Entwicklung eines Teilwillens kein Weg geöffnet werden. Der Allgemeine Wille des Souveräns dürfe nicht durch Destillierungs - oder Verdünnungsprozesse verfälscht werden. Der Allgemeine Wille sei einzig und unteilbar.140 Die jakobinische Art von demokratischem Perfektionismus, so wie er teilweise in der Verfassung von 1793 verkörpert war – insbesondere in Hinsicht auf plebiszitäre Genehmigung von Gesetzen, über die die Legislative abgestimmt hatte, und in Bezug auf das Recht des Volkes zum Widerstand gegen Unterdrückung –, musste schließlich zu Anarchie führen : eine direkte Demo138 139 140

Ebd., S. 426. Vgl. ebd., S. 426–428. Vgl. ebd., S. 428–432.

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kratie mit Tausenden von Sektionen in ganz Frankreich, die ständig tagten, die die Nationalversammlung mit Beschlüssen, Protesten, Petitionen bombardierten und vor allem Deputationen entsandten, die das Recht hatten, vom Parlament angehört zu werden; Absetzung und Neuwahl von Abgeordneten; ein permanentes nationales Referendum, aufgeteilt in kleine lokale Plebiszite; eine Exekutive, die immer verdächtigt wurde und ohne jede Macht war zu handeln; eine Legislative, die durch – häufig bewaffnete – Eingriffe von außen eingeschüchtert und erpresst wurde; schließlich sporadische Ausbrüche von Gewalttätigkeiten der Massen gegen verfassungsmäßige Behörden; Massaker, wie zum Beispiel die Septembermassaker der Verdächtigen, mit dem Volksinstinkt als dem einzigen Richter über Notwendigkeit und Zeitgerechtheit und als der einzigen Sanktion, die ihnen Gesetzlichkeit und Rechtfertigung verlieh.141 Dieser demokratische Perfektionismus war in Wirklichkeit invertierter Totalitarismus. Er war nicht das Ergebnis eines aufrichtigen Wunsches, jeder Meinungsschattierung die Möglichkeit zu geben, zur Geltung zu gelangen, sondern die Folge der Erwartung, das Resultat der bis an ihre äußersten Grenzen getriebenen demokratischen Souveränität würde ein einziger Wille sein. Er war auf dem fanatischen Glauben begründet, dass es nicht mehr als nur einen legitimen Volkswillen geben könne. Andere Willensäußerungen wurden a priori als partiell, selbstsüchtig und unrechtmäßig verdammt. Das Altertum hatte schon verstanden und an sich selbst erlebt, dass extreme Demokratie geradewegs zu persönlicher Tyrannei führt. Die Erfahrung der Neuzeit hat ein Glied in der Kette hinzugefügt : Die Rolle der totalitären demokratischen Avantgarde, die sich als das Volk ausgibt, in einer plebiszitären Regierungsform. Der Eifer und die unaufhörliche Geschäftigkeit der Gläubigen einerseits und die Einschüchterung der Gegner und Gleichgültigen andererseits bilden die Werkzeuge, die den erwünschten „Allgemeinen Willen“ als den Willen aller erscheinen lassen. Nur eine Stimme ist hörbar, und sie wird mit so viel Nachdruck, Heftigkeit, selbstgerechtem Eifer und in einem Ton der Drohung geäußert, dass alle anderen Stimmen überhört, entmutigt und zum Schweigen gebracht werden. Robespierre war der Hauptförderer dieser Art von Selbstbestimmungsrecht des Volkes in den Pariser Konventswahlen während der unbestrittenen Diktatur der aufständischen Kommune, mit „vote par appel nominal“, offener Abstimmung, Verbot der Oppositionszeitungen, Veröffentlichung der Namen derjenigen, die royalistische Petitionen unterzeichnet hatten, Prüfung der Wählerlisten und Ausschluss von Wahlmännern und Gewählten, die nicht als rechtgläubig galten. Infolgedessen wählte nur eine kleine Minderheit der Pariser 141

Vgl. Aulard, Histoire politique, S. 280–314. Es stimmt durchaus, dass Condorcets Entwurf noch stärker plebiszitäre Züge enthielt, siehe ebd. sowie Stern, Condorcet und der Girondistische Verfassungsentwurf.

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Wählerschaft, in manchen Sektionen kaum mehr als ein Zwanzigstel; in ganz Frankreich wählte nur ein Zehntel.142 Die jakobinische Verfassung von 1793 wurde von knapp zwei Millionen Stimmen, bei sieben Millionen Wahlberechtigten, bestätigt. In Paris stimmte niemand gegen sie; in den Départements nur fünfzehn - bis sechzehntausend. Sie wurde sofort suspendiert und die Urkunde unter Glas im Konventssaal zur Schau gestellt.143 Lasst das Volk sprechen, denn seine Stimme ist die Stimme Gottes, die Stimme der Vernunft und des allgemeinen Interesses ! Robespierre klammerte sich zäh an seinen Glauben an die Gleichung zwischen Freiheit und Tugend, aber sogar sein Glaube musste der schmerzlichen Erkenntnis weichen, dass dies nicht immer stimmen mochte. Darum führte er einen heftigen und erfolgreichen Kampf gegen eine Anrufung des Volkes über das Schicksal Ludwigs XVI. und verlangte erst Garantien dafür, dass „schlechte Staatsbürger, Gemäßigte, feuillants und Aristokraten“ nicht zu den Urversammlungen zugelassen und dass sie verhindert würden, das Volk irrezuführen und auf seine Empfindsamkeit einzuwirken. Denn das Ziel sei nicht, das Volk sprechen zu lassen, sondern die Sicherheit zu schaffen, dass es gut wählt, und schlechte Wähler ausgeschlossen werden.144 Saint - Just war der Ansicht, über das Schicksal des Königs an das Volk zu appellieren, wäre gleichbedeutend mit einem Freibrief zur Wiedereinführung der Monarchie. Robespierre, der unter der „Assemblée Legislative“ antiparlamentarisch war, wurde später zum standhaften Verteidiger der Vormachtstellung des Konvents, insbesondere nach dem Ausschluss der Girondisten. Er widersetzte sich auf das Schärfste dem Vorschlag, der Konvent solle sich auf lösen, nachdem er für die Verfassung von 1793 gestimmt hatte, zu deren Vorbereitung er gewählt worden war. Er machte geltend, der gereinigte Konvent (nach dem Ausschluss der Girondisten ) würde durch Gesandte von Pitt und Koburg ersetzt werden.145 Er, der anfänglich das Prinzip der Dauertagung der Sektionen verteidigte, half später dabei, es umzustoßen.146 Das Argument war:

142 143 144 145

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Vgl. Thompson, Robespierre, Band 1, S. 265 ff. Vgl. Villat, La Révolution, S. 234. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 230 f. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 26, S. 47 (17. April 1793, vor dem Ausschluss der Girondisten ). Nach Ausschluss und Abstimmung über die Verfassung von 1793 widersetzte sich Robespierre jedem Versuch einer Substitution „aux membres épurés de la Convention actuelle les envoyés de Pitt et de Cobourg“, siehe Villat, La Révolution, S. 242. Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 580 f. Vgl. auch Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 22, S. 467 : Widersetzt sich ihrer Auf lösung – sie sind das Volk, sie allein befähigten die Revolution, die Ordnung zu sichern : „Le peuple entier qui ne peut point appartenir à une faction, quelque puissante qu’elle soit, peut garantir

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Nachdem das Volk gesiegt und seine eigene revolutionäre Volksregierung erhalten habe, sei direkte demokratische Aufsicht und Wachsamkeit nicht mehr notwendig. Die Dauertagung der Sektionen, die früher solche Kontrolle sicherte, würde jetzt den konterrevolutionären Intriganten und Müßiggängern eine Gelegenheit bieten, die öffentliche Meinung zu vergiften und gegen die Regierung zu komplottieren, während die guten ehrlichen Sansculotten auf den Feldern und in den Werkstätten arbeiteten.147 Robespierre gestand sich selbst ein, man könne dem Volk nicht trauen, dass es seinen wirklichen Willen zum Ausdruck bringe. In seinem berühmten vertraulichen Katechismus erklärt Robespierre, der Mangel an Aufklärung im Volke sei das schwerste Hindernis für die Freiheit und die beste Gelegenheit für die konterrevolutionären Kräfte. Eine der wichtigsten Ursachen für die Unwissenheit des Volkes sei sein Elend. „Wann wird das Volk aufgeklärt werden ?“, fragt er sich selbst. Wenn es Brot hat und wenn die Reichen und die Regierung aufhören, treulose Journalisten und käuf liche Redner zu dingen, um es irrezuführen.148 Dieser Gedankengang enthält weitgehende Folgerungen, die von Babeuf und den „Gleichen“ voll erfasst und systematisiert wurden. Was Robespierre wirklich sagte, war, solange das Volk hungrig und von den Reichen beherrscht und irregeführt sei, könnten die von ihm zum Ausdruck gebrachten Meinungen nicht als der wahre Wille des souveränen Volkes aufgefasst werden. Vom Gesichtspunkt der wirklichen Demokratie und des wahren Allgemeinen Willens bestehe die Aufgabe also nicht darin, einfach das Volk frei und spontan reden zu lassen und sein Urteil dann als endgültig und absolut hinzunehmen, sondern erst die Bedingungen für den wahren Ausdruck des Volkswillens zu schaffen. Dazu gehörte auch die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse des Volkes sowie Volkserziehung und vor allem die Ausschaltung schlechter Ein-

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la tranquillité publique.“ Vgl. auch Bureau Central ( Hg.), Réimpression de l’Ancien Moniteur, Band 15, S. 75; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 264 : „Respectez surtout la liberté du souverain dans les assemblées primaires [...] supprimant ce code énorme qui entrave et qui anéantit le droit de voter, sous le prétexte de le régler.“ Gegen Permanenz der Sektionen (14. Juni 1792) siehe Thompson, Robespierre, Band 2, S. 55 : „Die Intriganten und die Reichen werden die Sitzungen in die Länge ziehen; der arme Mann wird zur Arbeit gehen müssen.“ Als der Konvent entschied, dass nur zwei Versammlungen der Sektionen in der Woche stattfinden sollten, entstand auf Betreiben der Hebértisten und Enragés eine große Menge von lokalen Volksgesellschaften, da für die Häufigkeit der Versammlungen von Volksgesellschaften keine Beschränkung bestand. Robespierre griff diese „assemblées des clubs de section“ heftig an, siehe Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 504, und verlangte strengste Kontrolle über sie; vgl. ebd., S. 580 f.; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 26, S. 47. Vgl. Courtois, Papiers inédits, Band 2, Nr. XLIII, S. 13–15; Espinas, La Philosophie sociale, S. 148.

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flüsse, mit anderen Worten, der Opposition. Nur danach wäre das Volk zu Wahlen zu rufen. Dann könnte kein Zweifel darüber bestehen, wie es stimmen würde. Einstweilen sei der Wille der aufgeklärten Avantgarde der wirkliche Volkswille. Es bestand daher nicht notwendig ein innerer Widerspruch zwischen dem früheren Nachdruck auf der aktiven und permanenten Ausübung der Volkssouveränität und den späteren diktatorischen Maßnahmen der aufgeklärten Avantgarde – Robespierres und seiner Kollegen. Der Allgemeine Wille gebot zu verschiedenen Zeiten verschiedene Haltungen. Er sprach jedes Mal durch Robespierre. Es sei nötig, die Massen zu mobilisieren und aufzurühren, um es der revolutionären Avantgarde zu ermöglichen, den wirklichen Volkswillen auszuführen. Nachdem die Avantgarde einmal an der Macht sei, müsse ihr die Freiheit gegeben werden, diesen Willen in voller Reinheit zu ver wirklichen. Das A - priori - Einverständnis der Massen mit dem, was die Avantgarde tun würde, könne vorausgesetzt werden, und wenn dem so sei, würde die Fortführung der unter den neuen Bedingungen unnötig gewordenen politischen Betätigung des Volkes, wie bereits vorher in anderem Zusammenhang festgestellt, nur eine Gelegenheit für konterrevolutionäre Intrigen bieten.

2. Freiheit als ein objektives Ziel Je näher die Jakobiner der Machtergreifung waren, umso stärker betonten sie ihre Auffassung der Freiheit als positive Werte beinhaltend und nicht lediglich als das Fehlen von Zwang. Der Allgemeine Wille erwarb eine objektive Eigenschaft, und der Hinweis auf die tatsächliche Ausübung der Volkssouveränität als wesentliches Verfahren, um zum Allgemeinen Willen zu gelangen, wurde seltener wiederholt. Es ist nur recht und billig den Jakobinern gegenüber, in diesem Zusammenhang her vorzuheben, welcher äußersten Krise der Revolution sie sich im Jahre 1793 gegenübersahen. Das Land war in tödlicher Invasionsgefahr. Die föderalistischen Erhebungen in Lyon, Bordeaux, Toulon, Marseille, in der Normandie und ander weitig, der Erfolg der Revolte in der Vendée, das Versagen der Güter versorgung, die durch den Assignaten - Sturz ver ursachte Inflation, all dies trug dazu bei, eine Atmosphäre von Fanatismus, Angst, Aufregung, Argwohn und allgemeiner akuter Krise zu schaffen.149 Dennoch könnten diese 149

Über die Zustände in Frankreich vgl. Mathiez, Révolution Française, Band 3, Kapitel 1, Kapitel 3 ( insbesondere über das soziale Problem ); Lefebvre / Guyot / Sagnac (Hg.), La Révolution Française, S. 206 ff.; Mathiez, La Vie chère.

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Faktoren an sich, so schwer wiegend sie zweifellos waren, ohne die permanent totalitäre Anlage des Jakobinismus nicht zur Erklärung der Terrorherrschaft genügen. Wenn sie nicht fanatisch daran geglaubt hätten, dass sie die alleinige Wahrheit verkörperten, hätten die Jakobiner nicht den Mut und die Kraft finden können, ihre Terrorherrschaft aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Ohne die immer stärkere Einengung ihrer Definition der Orthodoxie wäre es nicht notwendig gewesen, so viele als Feinde der Revolution zu brandmarken, ja viele erst dazu zu machen. Sogar nach den entscheidenden Siegen der Revolution im Oktober 1793 über alle ihre äußeren und inneren Feinde dauerte der Terror unvermindert an. Saint - Just als Referent für die wichtigsten Probleme der Revolution in den Jahren 1793–1794 fiel die Aufgabe zu, den Prozess einer Neuformulierung der revolutionären Freiheitsidee einzuleiten. Seine erste größere öffentliche Erklärung in dieser Angelegenheit war seine berühmte Rede über die Versorgung am 29. November 1792.150 Den beunruhigenden Zustand der allgemeinen französischen Finanz - und Wirtschaftslage schrieb Saint - Just dem „essor“ der Freiheit zu, der auf den Ausbruch der Revolution folgte, und der Schwierigkeit „de rétablir l’économie au milieu de la vigueur et de l’indépendance de l’esprit public. [...] L’indépendance armée contre l’indépendance n’a plus de loi, plus de juge [...]. Toutes les volontés isolées n’en obligent aucune.“151 Die Freiheit lag im Kampf mit der Sittlichkeit und Ordnung. Es bestand die Gefahr der Anarchie. Um dieser Anarchie, in der jeder Wille isoliert besteht, entgegenzuwirken, griff Saint - Just zuerst zu großartigen Anrufungen der nationalen Solidarität und zu dem Argument, das Wohl jedes Einzelnen sei derart mit dem Geschick der Revolution verknüpft, dass ihr Zusammenbruch allgemeines Verderben bedeuten würde. „Il faut que tout le monde oublie son intérêt et son orgueil. Le bonheur et l’intérêt particulier sont une violence à l’ordre social, quand ils ne sont point une portion de l’intérêt et du bonheur public; oubliez - vous vous - mêmes. La révolution française est placée entre un arc de triomphe et un écueil qui nous briserait tous. Votre intérêt vous commande de ne point vous diviser.“152 Welche Meinungsverschiedenheiten auch immer es unter den Patrioten geben mochte, die Tyrannen würden von ihnen keinerlei Notiz nehmen. „Wir siegen zusammen oder verrecken zusammen.“153 Das eigene Interesse gebiete jedem Einzelnen, sein persönliches Wohl zu vergessen. Persönliche Rettung sei nur durch allgemeine Rettung möglich.

150 151 152 153

Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 373–399. Ebd., S. 374. Ebd., S. 409. Ebd.

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Von diesem Aufruf an den aufgeklärten Eigennutz jedes Einzelnen kommt Saint - Just zu der Idee einer Republik, die objektive Werte an sich darstellt, und zwar in einer so integrierten Form, dass die Unabhängigkeit des individuellen Willens verhindert wird. Die von ihm ins Auge gefasste Republik würde „alle Beziehungen, alle Interessen, alle Rechte, alle Pflichten in sich begreifen“ und würde allen Teilen des Staates eine „allure commune“ zusichern.154 Freiheit, das Gegenteil von Unabhängigkeit, wird nun „l’obéissance de chacun à l’harmonie individuelle et homogène du corps entier“.155 Diese Konzeption wird übertragen in eine „République [...] une et indivisible [...] avec l’entière abstraction de tout lieu et toutes personnes“.156 Die Einheit und Unteilbarkeit der Republik wird somit in etwas ver wandelt, was sogar dem Gesellschaftsvertrag vorangeht. Sie ist ein wesentlicher Teil des objektiven Allgemeinen Willens und der Freiheit und liegt außerhalb der Reichweite des flüchtigen Willens vergänglicher Sterblicher. Das Ganze kommt vor seinen Bestandteilen. „Eine einzige und unteilbare Republik liegt in der eigentlichen Natur der Freiheit; sie würde einen Augenblick nicht überdauern, wenn sie auf einer gebrechlichen Abmachung zwischen Menschen begründet wäre.“157 Dies war ein weiterer Grund für Saint - Justs heftigen Widerstand gegen Condorcets Verfassungsentwurf von 1793. Das girondistische Projekt sah eine Legislative vor, die in indirekter Wahl von den Ratsversammlungen der Départements gewählt werden sollte, und nicht unter „concours simultané de la volonté générale“ und vom „peuple en corps“.158 Ein Abgeordneter, der auf diese Weise gewählt sei, würde nur den Teil des Volkes, der ihn gewählt hat, vertreten und nicht die unteilbare Nation, behauptete Saint - Just. Alle die Abgeordneten, die als Vertreter von Teilen des Volkes zusammenkämen, würden keine rechtmäßige Mehrheit darstellen, sie würden nicht den Allgemeinen Willen ausdrücken oder verkörpern, sie würden einen Kongress bilden, nicht eine Nationalversammlung. Die Mehrheit auf einem Kongress leite ihren Einfluss von dem freiwilligen Zusammenschluss zu Gruppen ab. Der Souverän höre somit auf zu bestehen, denn er sei geteilt. Ein Allgemeiner Wille, der auf diese Weise erzielt werde, sei ein „spekulativer“, nicht ein wirklicher Wille. Jeder Einzelne von denen, die wollen, müsse dies in erster Linie als Äußerung einer unteilbaren Ganzheit tun und nicht als Träger eines Teilwillens. Die Nation sei eine organische unteilbare Ganzheit und nicht ein Konglomerat mechanisch zusammengefügter Partikel.159 154 155 156 157 158 159

Ebd., S. 374. Ebd., S. 355. Ebd., S. 354. Ebd., S. 457. Ebd., S. 426, 431. Vgl. ebd., S. 431 f.; Hintze, Staatseinheit und Föderalismus.

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Wenn angenommen werde, jedes Département stelle einen Teil des Territoriums dar und seine Bewohner seien im Besitz der Souveränität über diese Provinz, dann werde „le droit de cité du peuple en corps“ untergraben,160 und die Republik würde durch die geringste Erschütterung, wie etwa den Aufstand in der Vendée, zerbrochen. Die territoriale Aufteilung sei lediglich eine geometrische Teilung zu Wahlzwecken, sogar nicht einmal zu Ver waltungszwecken. Die A - priori - Einheit der Franzosen sei die Grundlage und das Symbol der Einheit der Republik, nicht das Territorium und sicherlich nicht die Regierung, denn dies würde eine Monarchie bedeuten. Einer der Abgeordneten bemerkte zum Lobe von Saint - Justs Ansichten, sein Verfassungsentwurf würde es den Franzosen ermöglichen, sich sogar im Falle einer Evakuierung in ein fremdes Territorium als französische Nation niederzulassen und ihre gegenseitigen Verpflichtungen zu erfüllen.161 Der Instinkt für die nationale Einheit zeigte sich stärker als die Logik des Gesellschaftsvertrags. Wenn das Wesentliche einer Nation das ist, was Renan etwa achtzig Jahre später „le plébiscite de tous les jours“ nannte, mit anderen Worten der aktive und stets von neuem bekräftigte Wille, unter demselben Gesetz zusammenzuleben, dann konnte das Recht der Sezession nicht versagt werden. Die Jakobiner predigten das Erste, doch das Zweite bestritten sie leidenschaftlich. Sie mussten einen A - priori - Willen zur Bildung einer unteilbaren Ganzheit postulieren, denn sie waren zu kosmopolitisch und zu rationalistisch in ihren Anschauungen, um eine historische, rassische oder sonstige irrationale Basis für eine nationale Einheit gelten zu lassen. Diese Konzeption der französischen nationalen Einheit, zusammen mit der revolutionären Haltung dem alten Europa gegenüber, war dazu angetan, Frankreich in einen jener Dauerkriege zu ver wickeln, die aus einem Konflikt unverträglicher Ideen über die Beziehungen zwischen Nationen entspringen. Ein solcher Krieg wird gewöhnlich her vorgerufen durch die Haltung „heads I win, tails you lose“, wie sie von einer Revolutionsmacht eingenommen wird, die eine neue Doktrin von nicht auf Gegenseitigkeit begründeten internationalen Beziehungen predigt. Auf der Grundlage der freiwilligen, nicht - rassischen und unhistorischen Konzeption der Nation nahm das revolutionäre Frankreich unter Rationalisierung seiner Interessen und Expansionswünsche – wenn auch nicht ganz ohne Zögern – das Recht für sich in Anspruch, in die Republik fremde Grenzprovinzen wie Savoyen, Nizza, die Rheinstädte, Belgien und andere aufzunehmen, die entweder freiwillig den Wunsch geäußert hatten, mit der französischen Republik vereint zu werden, oder dazu gebracht worden 160 161

Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 457. Vgl. Curtis, Saint - Just, S. 73; Guffroy war der Abgeordnete. Vgl. außerdem Vellay (Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 354 f.

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waren, es zu tun. Zusammen mit den französischen Proklamationen vom 19. November und 15. Dezember 1792, nach denen Frankreich jedem Volk zu Hilfe eilen würde, das sich gegen seinen König und sein Feudalsystem erhob, kam diese Haltung einer Aufforderung an fremde Kommunen und Provinzen gleich, sich vom Körper der Nation, der Ganzheit des Staates, loszureißen. Ein Teilwille wurde somit gegen den Allgemeinen Willen des Ganzen gestellt. Frankreich verursachte und förderte die Auf lösung von Nationen, annektierte ihre abgetrennten Teile im Namen des Rechts jedweder Gruppe, ihren Allgemeinen Willen zum Ausdruck zu bringen und nach ihm zu handeln. Zur gleichen Zeit setzte der Konvent die Todesstrafe auf jeden Versuch, französisches Territorium aufzuteilen oder irgendeinen Teil der „République une et indivisible“ abzutreten. Dies basierte auf der Annahme, im republikanischen und demokratischen Frankreich habe sich bereits ein Allgemeiner nationaler Wille herauskristallisiert, während in den Ländern unter dem Feudalsystem sich kein derartiger Wille bilden konnte. Da außerdem Europa in jedem Fall einer vereinheitlichten freien Regierungsform zusteuere, könne der Anfang ebenso gut durch Anschluss befreiter Teile Europas an Frankreich gemacht werden. Es sei auf diese Weise möglich, sie zu beschützen und dabei Frankreich, den Streiter für die Einheit der freien Völker gegen die dynastischen Tyranneien, die die Völker Europas getrennt hielten, im Kampf um die allgemeine Befreiung zu stärken. Dies bedeutete endlosen Krieg mit dem alten Europa ohne Aussicht auf ein Abkommen auf irgendeiner gemeinsamen Basis. Denn es musste den scharfsichtigeren Revolutionären – und unter ihnen gewisslich Robespierre – bald klargeworden sein, dass der freie Wille der Menschen in Wahrheit nicht ein greifbares und zuverlässiges Kriterium der Nation war, sondern vielmehr wie Flugsand veränderlich. Daher die Idee der natürlichen Grenzen. Obwohl diese zweifellos ein Teil der französischen Tradition und ein Ausdruck des rationalisierten Wunsches nach weiteren und sichereren Grenzen war, war sie auch als Sicherheitsventil gedacht, als Wegweiser für die Franzosen selbst und als eine Art Versicherung für die Nationen des alten Europa darüber, dass es ein Ende gab für die französischen Ansprüche auf Annexion von Völkern, die selbst einen Anschluss vorschlugen. Frankreich würde nicht immer weiter Teile anderer Staaten annektieren, denn es glaubte an das Bestehen einer nationalen Ganzheit, die nicht durch den Teilwillen von einzelnen Teilen gebrochen werden darf. Die Grundlage dieser nationalen Ganzheit war nicht mehr der Wille der vergänglichen Generation, sondern etwas Dauerhafteres – die Tatbestände von Natur und Geschichte, die zusammen unverkennbare Grenzen in Form von Flüssen, Gebirgen und Seen gezogen haben. Begleiterscheinungen dieser Anerkennung einer natürlichen und geschichtlichen Grundlage der nationalen Einheit waren die Erklärung der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten, die Verbreitung frem-

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denfeindlicher Gefühle und der Feldzug gegen fremde Agenten und Spione in Frankreich – als Reaktion auf frühere Proselytenmacherei.162

3. Das Recht auf Opposition; Ächtung von Parteien Die A - priori - Idee der nationalen Einheit war jedoch weit davon entfernt, zur Grundlage einer sich auf die gemeinsame Vergangenheit stützenden nationalen Aussöhnung zu werden; sie verursachte vielmehr einen Prozess der Beseitigung solcher Elemente, die für unassimilierbar an das neue Prinzip des französischen nationalen Daseins gehalten wurden. Saint - Justs Rapport sur la nécessité de déclarer le gouvernement révolutionnaire jusqu’à la paix163 vom 10. Oktober des Jahres 1793 war ein Wendepunkt in dieser Beziehung. Er ist himmelweit entfernt von jenem Freiheitsbegriff, der als selbstverständlich annimmt, dass jeder Einzelne das Recht habe, seinen eigenen Willen zum Ausdruck zu bringen und sein persönliches Interesse spontan und ohne äußeren Zwang zu vertreten. Er ist sehr weit entfernt von dem zuversichtlichen Glauben, der Allgemeine Wille würde sich aus einer Stimmenmehrheit ergeben, wenn jeder Einzelne seinen Willen nach seinem eigenen Interesse bildet. Ein neues Prinzip wird verkündet, das „von nun an nie mehr den Regierenden aus dem Sinn schwinden sollte“: die Republik „wird nicht begründet sein, solange nicht der Wille des Souveräns die royalistische Minderheit überwältigt und mit dem Recht des Eroberers über sie herrscht“.164 „Depuis que le peuple français a manifesté sa volonté, tout ce qui est hors le souverain est ennemi.“165 Zwischen dem Volk und seinen Feinden gibt es nichts als das Schwert. Diejenigen, die nicht durch Gerechtigkeit regiert werden können, müssen durch das Schwert regiert werden. „Vous ne parlez point

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Vgl. Sorel, L’Europe et la Révolution, Band 2, S. 84 ff., 105 ff., 518 ff., 531 ff.; Band 3, S. 111, 144, 153, 164 ff., 172, 197 ff., 250, 278 ff., 307 ff.; Sybel, Geschichte der Revolutionszeit, Band 1, S. 523 ff.; Band 2, S. 37 ff., 55 f., 276 f.; Lefebvre, La Révolution Française : La Convention, Band 1, S. 136–178. Zu Carnots Definition des natürlichen ( geographischen und historischen ) Begriffs der Nation siehe Sorel, L’Europe et la Révolution, Band 3, S. 310. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 75–89, bes. S. 83. In gewissem Sinn konnte die Rede als Antwort an diejenigen gelten, die nach der Annahme der Verfassung von 1793 verlangten, dass der Konvent, nachdem der seine Aufgabe erfüllt und eine Verfassung geschaffen habe, sich auflösen und Platz machen sollte für eine Gesetzgebende Versammlung, die, auf der Basis der neuen Verfassung gewählt, das Land im Einklang mit dieser Verfassung regieren sollte. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76.

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la même langue, vous ne vous entendrez jamais. Chassez - les donc !“166 Und er meinte es wörtlich, denn der von ihm etwas später vorgeschlagene Plan sah die schließliche Ausweisung aller Verdächtigen sowie ihre völlige Enteignung vor, mit anderen Worten die vollständige Liquidation einer Klasse. Saint - Just ruft in diesem Zusammenhang die Prinzipien der Demokratie an. „Il leur faut la puissance, qui n’appartient ici qu’à la démocratie.“167 Die hier zugrunde gelegte Idee der Demokratie enthält keinen Hinweis auf das Recht auf Opposition, auf individuelle Freiheit oder Duldung; sie ist ein deutliches Wiederaufleben der alten griechischen Auffassung der Demokratie als Sieg der benachteiligten Massen über die privilegierte Minderheit, und die Unterdrückung dieser durch jene Strenge sei ein wesentliches Element in einer freien demokratischen Regierungsordnung und spiele in ihr eine größere Rolle als in einem tyrannischen Staat.168 „Es gibt keine Regierung, die die Rechte der Staatsbürger ohne eine Politik der Strenge schützen kann; aber der Unterschied zwischen einem freien System und einer tyrannischen Ordnung ist, dass im ersteren Fall diese Politik gegen eine sich dem Gemeinwohl entgegensetzende Minderheit angewandt wird sowie gegen Missbräuche oder Nachlässigkeit der Behörden, während im Letzteren die Strenge der Staatsgewalt sich gegen die Unglücklichen richtet, die der Ungerechtigkeit und Straf losigkeit der Behörden ausgeliefert sind.“169 Eine schwache Regierung sei letzten Endes unterdrückend für das Volk, dachte Saint - Just. Es ist gerecht, dass das Volk seinerseits über seine Unterdrücker herrscht, denn „Tyrannen müssen unterdrückt werden“.170 Die ganze Klugheit einer Regierung bestehe in der Ausmerzung der Partei, die der Revolution feindlich gesinnt sei, sowie darin, das Volk auf Kosten der Laster der Freiheitsfeinde glücklich zu machen. Das sicherste Mittel, die Revolution in den Sattel zu setzen, sei, sie zum Wohl derer zu wenden, die sie schützen, und zum Verderben derer, die sie bekämpfen.171 Robespierre sagte dasselbe, und fast in den gleichen Worten. Es gab keine Divergenzen zwischen dem Unbestechlichen und Saint - Just, nachdem sie durch die Wahl des Letzteren zum Konvent zusammengekommen waren. „Es gibt in einer Republik keine anderen Bürger als Republikaner“, schrieb Robe166 167 168

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Ebd., S. 378. Vgl. auch ebd., S. 238, 247. Ebd., S. 378. Vgl. auch ebd., S. 230 ff., 258 f. Vgl. ebd., S. 259, 265. Siehe hierzu auch Marat, zit. in Jaurès, Histoire socialiste, Band 2, S. 228 : „Il n’y a donc que les cultivateurs, les petits marchands, les artisans et les ouvriers, les manœuvres et les prolétaires, comme les appelle la richesse insolente, qui pourront former un peuple libre.“ Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 375. Ebd., S. 76. Vgl. ebd., S. 247, 381 f.

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spierre. „Königstreue [...] Verschwörer sind nichts als Fremde, oder richtiger Feinde.“172 Der Bürger habe Anspruch auf sozialen Schutz. Aber nicht jeder auf französischem Boden Geborene sei ein Bürger. Nur der sei ein Bürger, der sich geistig mit der Substanz identifiziere, die die französische Nation darstellt, mit dem Allgemeinen Willen. Den Feinden des Volkes konnte unmöglich die Gelegenheit geboten werden, den Volkswillen zu verdrehen und zu sabotieren. Weder die Notwendigkeit der nationalen Einigkeit, die den Menschen gebietet, angesichts äußerer Gefahr ihre Differenzen zu begraben, noch die Idee der Berechtigung natürlicher Meinungsverschiedenheiten hatte die geringste Geltung. Es gab nur das Volk und die Feinde des Volkes. „Domptez par la terreur les ennemis de la liberté [...] vous aurez raison, comme fondateurs de la République. Le gouvernement de la Révolution est le despotisme de la liberté contre la tyrannie.“173 Sowohl Tyrannei als auch Freiheit führen das Schwert, doch die einzige Ähnlichkeit zwischen ihnen besteht darin, dass die Klinge in beiden Händen ähnlich funkelt.174 Wie steht es mit dem Recht auf Opposition ? Nichts war mehr dazu angetan, Saint - Just und Robespierre zu reizen als dieses Argument, der Anspruch eines Gegners auf ein Recht, sich gegen das Regime aufzulehnen, als berechtigter Widerstand gegen Unterdrückung. Widerstand gegen Unterdrückung sei ein heiliges Recht, und es sei Pflicht in einem tyrannischen Staat, aber nachdem das System der Freiheit erst begründet und das Volk zu seinem Recht gekommen sei, könne der Anspruch auf Widerstand gegen „Unterdrückung“ durch die neue Ordnung nur als Hohn oder Per version angesehen werden oder als pure Selbstsucht, die dem Gemeinwohl trotzt.175 „Lasst das Volk seine Freiheit fordern, wenn es unterdrückt ist, aber dass jemand, nachdem die Freiheit gesiegt hat und die Tyrannei zu Ende ist, das Gemeinwohl vergisst, um sein Land zu seinem eigenen persönlichen Vorteil zu vernichten, das ist erbärmliche Niederträchtigkeit, sträf liche Heuchelei !“176 Die Behauptung der Aristokratie, ihre Vernichtung durch das Volk sei ein Akt der Diktatur, war ein empörender Missbrauch von Terminologie. Das Volk und Tyrannei ! Das war ein Widerspruch in sich. „Das Volk ist kein Tyrann. [...]

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Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 333; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 31, S. 277. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 332 f.; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 31, S. 277; Robespierre, Lettre à ses Commettants, Serie 1, Nr. 1, S. 7 : „Avant l’abolition de la noblesse et de la royauté, les intriguants.“ Vgl. Robespierre, Lettre à ses Commettants, Serie 1, Nr. 2, S. 57 f. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 262, 268. Ebd., S. 268.

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Und es ist das Volk, das jetzt regiert.“177 „Toutes les idées se confondent“ :178 Ein zur Guillotine verurteilter „fripon“ ruft das Recht des Widerstandes gegen Unterdrückung an ! Robespierre wütete dagegen, dass die Volksjustiz Barbarei oder Unterdrückung genannt wurde. „Indulgence pour les royalistes ! [...]. Grâce pour les scélérats ! Non : grâce pour l’innocence, grâce pour les faibles, grâce pour les malheureux, grâce pour l’humanité !“179 Es sei absurd zu sagen, eine freie Volksregierung könne tyrannisch sein, weil sie kraftvoll ist. „On se trompe : la question est mal posée.“180 Eine solche Regierung unterdrücke nur das Böse und sei darum gerecht. Eine republikanische Regierung beruhe auf dem Prinzip der „vertu“ oder des Terrors. Es stimme, Macht ist nicht Recht, aber es mag sehr wohl sein, dass sie unerlässlich ist, um der Gerechtigkeit und Vernunft zur Achtung zu verhelfen.181 Nicht nur Verräter, sondern auch die Gleichgültigen, die Passiven, die nichts für die Republik taten, müssten bestraft werden. Die Sache des Volkes müsse als Ganzes unterstützt werden, denn die, die Löcher hineinpickten, seien verkappte Verräter. „Un patriote [...] soutient la République en masse; quiconque la combat en détail est un traître. [...] Tout ce qui n’est pas respect du peuple et de vous ( Convention ) est un crime.“182 Da das Ziel einer antiföderalen Volksregierung die Einheit der Republik sei, und zwar nicht zum Nutzen der Machthaber, sondern zum Wohl des Volkes als Ganzes, könne keine isolatorische Tendenz in einem Einzelnen geduldet werden. Solcher Isolationismus wäre in der bürgerlichen Sphäre so unmoralisch wie Föderalismus in der Politischen.183 „Lorsque la liberté est fondée, il s’agit de l’observation des devoirs envers la patrie, il s’agit d’être citoyen.“184 Es könne keinen Grund und keine Entschuldigung geben – wie das früher der Fall gewesen sei –, sich zu isolieren, um seine Unabhängigkeit zu bewahren. Saint - Just unterstreicht mehr als einmal den Unterschied zwischen der Freiheit – und der Unabhängigkeit, Böses zu tun. Denn Freiheit sei letzten Endes nicht Freiheit von Zwang, sondern habe objektive und ausschließliche Werte zum Inhalt. Unabhängigkeit von diesen Werten bedeute Laster und Tyrannei, Versklavung an Egoismus, Leidenschaft und Habsucht. „L’idée particulière que chacun se fait de sa liberté, selon son intérêt, produit l’esclavage de tous.“185 177 178 179 180 181 182 183 184 185

Ebd., S. 262 f. Ebd., S. 268. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 333. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 506. Vgl. auch ebd., S. 265. Vgl. ebd., S. 506. Ebd., S. 275, 379. Vgl. auch ebd., S. 83. Vgl. ebd., S. 238, 258. Ebd., S. 382. Ebd., S. 230.

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Nach Robespierre war es falsch, den Terror als rein unterdrückende Gewalttätigkeit zu betrachten, deren Anwendung ohne Beziehung zu den allgemeinen Prinzipien einer Republik erfolgte. Er sei nur akzentuierte Gerechtigkeit, nichts als eine Emanation und ein besonderer Aspekt des Tugendprinzips – und kein besonderes Prinzip.186 „La terreur n’est autre chose que la justice prompte, sévère, inflexible; elle est donc une émanation de la vertu; elle est moins un principe particulier qu’une conséquence du principe général de la démocratie appliqué aux plus pressants besoins de la patrie.“187 In ähnlicher Weise erklärte Saint - Just, das Prinzip einer republikanischen Regierung sei „vertu“, wenn nicht „terreur“. „Que veulent ceux qui ne veulent ni vertu ni terreur ?“188 Andernorts hatte er gesagt, eine Revolution brauche einen Diktator, der sie durch Gewalt rette, oder Zensoren, die sie durch Tugend retten.189 Tugend, die unfassbare persönliche Eigenschaft, das am wenigsten handgreif liche aller Kriterien, wurde schnell zum entscheidenden Kriterium, als die neuen Spaltungen nicht mehr durch Klassenunterschiede oder Königstreue verursacht wurden. Die verurteilten Bösen waren für Robespierre in erster Linie die Mörder von innen her, die käuf lichen Schreiber ( Journalisten ), verbündet, um öffentliche Tugend zu vernichten, Zwietracht zu säen und eine politische Konterrevolution mittels einer „contre - revolution morale“ vorzubereiten. Journalisten konnten von dem früheren Verteidiger der unbeschränkten Pressefreiheit kein Pardon erwarten.190 Die Idee einer einzigen ausschließlichen Wahrheit, die die Basis der starren Konzeption republikanischer Tugend ist, schließt die Möglichkeit politischer Parteien als Repräsentanten ehrlicher Meinungsverschiedenheiten aus. Nach Saint - Just waren Parteien und Faktionen gerade in einer Regierungsform der Freiheit, wie er sie zu vertreten behauptete, einer Regierungsform, die auf absoluter Wahrheit und Tugend basierte, ein Anachronismus, und dazu ein verbrecherischer. Parteien erfüllten im Ancien Régime eine nützliche Funktion, sie trugen zur Isolierung des Despotismus bei und schwächten den Einfluss der Tyrannei. „Heute sind sie ein Verbrechen, weil sie die Freiheit isolieren.“191 Freiheit werde nur dann erreicht, wenn der Allgemeine Wille sich

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Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 332. Ebd. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 506. Vgl. ebd., S. 530. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 314; Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 181, 185, 350. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 274.

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als eine Ganzheit ausdrücken könne, als der einzige und ungeteilte Souverän, der über das Gemeinwohl des Volkes als Ganzes berät.192 Die Neugierde und die Korruption, die durch Parteizank und - streitigkeiten erzeugt werden, lenken die Herzen und Geister von der Liebe zum Land und von der aufrichtigen Hingabe an seine Interessen ab. „Jede Partei ist daher verbrecherisch, weil sie die Isolierung des Volkes und der Volksgesellschaften und die Unabhängigkeit der Regierung bewirkt. Jede Faktion ist daher verbrecherisch, weil sie die Macht der öffentlichen Tugend neutralisiert. Die Solidität unserer Republik liegt in der Natur der Dinge selbst. Die Volkssouveränität erfordert, dass sie einzig sei; sie steht im Widerspruch zu Faktionen. Jede Faktion ist daher ein Anschlag auf die Souveränität.“193 Saint - Just ist völlig außerstande, in den Parteien ein Werkzeug zum Ausdruck und zur Organisation der verschiedenen Strömungen in der öffentlichen Meinung zu sehen. Er sieht nur das Volk auf der einen Seite und die gegen es konspirierenden Parteien auf der anderen. Er rief das Volk und den Konvent auf, mit Festigkeit zu regieren und den „verbrecherischen Faktionen“194 ihren Willen aufzuzwingen. Die Beschreibung der aus einem Vielparteiensystem resultierenden Übel erinnert frappierend an diejenigen, die heutzutage einem Einparteisystem zugeschrieben werden. Sie verdient, vollständig zitiert zu werden. „Stolz erzeugt die Faktionen. [...] Die Faktionen sind das schrecklichste Gift im Staatskörper, sie bringen durch ihre Macht der Verleumdung das Leben der Bürger in Gefahr; wenn sie in einem Staate regieren, ist kein Mensch seiner Zukunft sicher, und das Reich, das sie plagen, ist ein Sarg; sie ziehen Falschheit und Wahrheit in Zweifel, Laster und Tugend, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit; die Gewalt gibt Gesetze. [...] Durch Teilung des Volkes setzen die Faktionen Parteiwut an die Stelle von Freiheit; das Schwert des Gesetzes und der Degen des Mörders stoßen aufeinander; niemand wagt zu sprechen oder zu schweigen; die kühnen Einzelnen, die an die Spitze der Parteien gelangen, zwingen die Bürger, zwischen Verbrechen und Verbrechen zu wählen.“195 Was ihn und seine Freunde anging, so hätte Saint - Just voller Entrüstung jeden Vor wurf zurückgewiesen, dass auch sie eine Partei seien. Sie waren das eigentliche Volk. Dies erklärte er in seiner letzten, nicht mehr gehaltenen Rede zur Verteidigung Robespierres. Er sah in dieser Rede dem Tag entgegen, an dem die republikanischen Institutionen für immer alle Parteien ausschalten

192 193 194 195

Vgl. insgesamt zum Thema „Parteien“ ebd., S. 271–274. Ebd., S. 273 f. Ebd., S. 274. Ebd., S. 483 f.

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würden, indem sie „den menschlichen Stolz unter das Joch der öffentlichen Freiheit“ und unter die „Diktatur der Gerechtigkeit“ stellten.196 Er betete inbrünstig, dass „die Faktionen verschwinden mögen, damit allein die Freiheit bliebe“. „Das beste Gebet, das ein guter Bürger für sein Land beten kann, die größte Wohltat, die einer großherzigen Nation aus seiner Tugend erwachsen kann, ist die Zerstörung, ist der Fall der Faktionen.“197 Denn nachdem der Kampf um unbehinderte Volkssouveränität gewonnen war, sei das höchste Ziel die Einheit des Willens. „Il faut une volonté une“, schrieb Robespierre in seinem „carnet“.198 „Damit er ( der Wille ) republikanisch wird, brauchen wir republikanische Minister, republikanische Zeitungen, republikanische Abgeordnete, eine republikanische Regierung.“199 Der äußere Krieg sei eine tödliche Krankheit, aber der Staatskörper sei krank von der Revolution und der „Willensteilung“.200 Wie für Rousseau war eine politische Partei auch für Robespierre die Funktion eines Privatinteresses. „Die Faktionen sind die Koalition privater Interessen gegen das Gemeinwohl.“201 Denn es gibt solch eine bestimmte Größe wie das Gemeinwohl. „Die harmonische Übereinstimmung der Freunde der Freiheit, die Klagen der Unterdrückten, die

196 197 198

199

200 201

Vgl. ebd., S. 237, 386, 477. Ebd., S. 484. Courtois, Papiers inédits, Band 2, Nr. XLIV, S. 15. Deville, La Commune, S. 44, nimmt den 16. bis 19. Mai 1793 als Datum der Notiz an. Vgl. außerdem Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 133, sowie S. 167 : „Je ne suis ni le courtisan, ni le modérateur, ne le tribun, ni le défenseur du peuple; je suis peuple moi - même !“ Courtois, Papiers inédits, Band 2, Nr. XLIV, S. 15; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 30, S. 126. Vgl. auch Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 25, S. 47; Aulard, Société des Jacobins, Band 6, S. 5; Robespierre, Lettre à ses Commettants, Serie 1, Nr. 7, S. 328. Courtois, Papiers inédits, Band 2, Nr. XLIV, S. 15. Robespierre, Discours et Rapports, S. 382 ( Anmerkung ). Vgl. auch Robespierre, Défenseur, Nr. 3, S. 149 : „Tout parti est funeste à la chose publique; et il est de l’intérêt de la nation de l’étouffer, comme il est du devoir de chaque citoyen de le dévoiler.“ Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 162 : Der ganze Kampf läuft hinaus auf „premières règles de la probité et dans les plus simples notions de la morale. Toutes nos querelles ne sont que la lutte des intérêts privés contre l’intérêt général, de la cupidité et de l’ambition contre la justice et contre l’humanité; [...] adopter, dans les affaires publiques, les principes d’équité et d’honneur que tout homme probe suit dans les affaires privées et domestiques [...] – véritable objet de notre révolution.“ Vgl. ebd., S. 162–164. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 171 f. ( à Brissot ) : „Toute faction tend de sa nature à immoler l’intérêt général à l’intérêt particulier. [...] Sur les ruines de toutes les factions doivent s’élever la prospérité publique et la souveraineté nationale [...]; voilà ma politique, voilà le seul fil qui puisse guider. [...] Quels que soient le nombre et les nuances des différents partis, je les vois tous ligués contre l’égalité et contre la Constitution.“

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natürliche Überlegenheit der Vernunft, die Macht der öffentlichen Meinung stellen keine Faktion dar.“202 Infolge seiner Unfähigkeit, sich die Vorstellung zu eigen zu machen, dass Meinungsverschiedenheiten eine normale Erscheinung und nicht unnatürlich und der Ausdruck von Egoismus, Per version oder Dummheit sind, war Robespierre im Augenblick seines größten Sieges ganz erschüttert, als er sich nach dem Fall der „Faktionen“, nämlich der Girondisten, Hébertisten und Dantonisten, neuen Abweichungen und neuen Gegensätzen gegenübersah. Er war entsetzt darüber, dass es noch immer Differenzen und Meinungsverschiedenheiten gab. Er erklärte, überall dort, wo eine Grenzlinie sichtbar würde, wo eine Teilung sich ausdrückte, „là, il y a quelque chose qui tient au salut de la patrie“.203 Es sei nicht natürlich, dass es Trennung und Teilung zwischen Menschen geben solle, die in gleicher Weise von der Liebe zum Gemeinwohl beseelt seien. „Il n’est pas naturel qu’il s’élève une sorte de coalition contre le gouvernement qui se dévoue pour le salut de la patrie.“204 Für ihn war es das Symptom einer neuen Krankheit, denn der Konvent hatte in letzter Zeit auf der Stelle über Gesetze abgestimmt. Er hatte in den geheiligten Prinzipien Einstimmigkeit bewiesen. Es gab keine Faktionen mehr. Der Konvent war mit geübtem, sicherem Auge in gerader Linie vor wärts geschritten und hatte unbeirrbar ins Ziel getroffen. Das Postulat der Einmütigkeit als das einzige natürliche Prinzip unter Patrioten schloss auch das Postulat der Einheit des Handelns ein. Es erhob sich die Frage : Wie würde die Demokratie ohne Parteien funktionieren ? Hierauf gibt es von Saint - Just keine direkte Antwort, aber was er zu dem Thema der Erziehung der öffentlichen Meinung und der Organisation der Volkssouveränität zu sagen hatte, ist ein klares Echo Rousseau’scher Formeln und verdient, ungekürzt zitiert zu werden. Es war zweifellos die Vision einer plebiszitären Demokratie ( oder Diktatur ), in welcher das Volk aufgefordert wird, mit einem klaren „Ja“ oder „Nein“ auf einleuchtende Fragen zu antworten, auf die die Antwort kaum einem Zweifel unterliegen konnte. „Da in einem 202 203

204

Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 33, S. 406 f. ( Anmerkung ). Ebd., S. 200. Vgl. außerdem ebd., S. 212 f.; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 391: „Des bons et des mauvais citoyens.“ Robespierre, zit. in Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 179 : „Il n’y a plus que deux partis en France : le peuple et ses ennemis. [...] Celui qui n’est pas pour le peuple est contre le peuple; celui qui a des culottes dorés est l’ennemi né [...]. Il n’estiste que deux partis, [...] corrompus [...] vertueux [...], amis de la liberté et de l’égalité, les défenseurs des opprimés, [...] fauteurs de l’opulence.“ Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 33, S. 200. Das war am 20. Juni 1794 in der Debatte über das schreckliche Loi de Prairial, das zum Ziel hatte, die Zeugenvernehmung vor dem Revolutionstribunal aufzuheben, ebenso wie die vorherige Einwilligung des Konvents, Konventsmitglieder vor das Tribunal zu stellen.

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freien Staat alle unaufhörlich beraten und die öffentliche Meinung von vielen Veränderungen beeinflusst und von Launen und verschiedenen Leidenschaften aufgerührt wird, muss der Gesetzgeber darauf bedacht sein, dass die Frage des Gemeinwohls immer deutlich gestellt wird, damit alle in ihren Beratungen im Geiste und im Rahmen der bestehenden Ordnung in Harmonie denken, handeln und sprechen können. [...] Auf diese Weise wird die Republik wahrhaft einzig und unteilbar, und der Souverän setzt sich aus allen Herzen zusammen, die der Tugend entgegenschlagen.“205 Wenn die Frage nicht in dieser Weise gestellt und beantwortet würde, wäre die Gesellschaft Streitereien, Selbstsucht und Anarchie ausgeliefert. Eine weitere Andeutung über Saint - Justs Gedanken zu diesem Thema kann aus seiner Klage darüber gewonnen werden, die vom Konvent angenommenen Gesetze und Verordnungen seien schlechter geworden, da ihre Entwürfe nicht mehr vorangehender Untersuchung und Diskussion im Jakobinerklub unter worfen seien. Offensichtlich hielt Saint - Just es nicht für ratsam, den Konvent ohne Anleitung seitens einer außerparlamentarischen Körperschaft von Zensoren zu lassen.206

4. Die Theorie der Revolutionsregierung Robespierres Antwort zu diesem Problem ist in seiner Theorie der Revolutionsregierung enthalten und hat das Verdienst der Bestimmtheit.207 „J’avoue que mes notions en politique ne ressemblent en rien à celles de beaucoup d’hommes“,208 sagte er von seiner Theorie. Wie wir schon sahen, sagte er, sie sei so neu wie die Revolution selbst und könne in keiner theoretischen Abhandlung gefunden werden. Sie war das Ergebnis der Revolution, basierte auf Erfahrungen und hob auf, was von Robespierres früheren Gedanken über die Gewaltenteilung und von seiner Feindschaft gegenüber der Exekutive noch übrig war. Die Funktion einer Regierung war nach Robespierre die Leitung der physischen und sittlichen Kräfte der Nation dem Ziel entgegen, für das sie aufgestellt war. Besteht also das Ziel einer konstitutionellen Regierungsform in der Erhaltung der Republik, so ist deren Gründung das Ziel einer Revolutionsregie205 206

207 208

Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint Just, Band 2, S. 508 f. Vgl. auch Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 162. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 536; Robespierre, Défenseur, Nr. 7, S. 319; Michon ( Hg.), Correspondance, S. 166; Thompson, Robespierre, Band 2, S. 107. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 311–322. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 25, S. 43; Bureau Central ( Hg.), Réimpression de l’Ancien Moniteur, Band 15, S. 674.

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rung. Eine konstitutionelle Regierungsform könne nur im Zustand siegreicher und friedlicher Freiheit eingeführt werden. Eine Revolutionsregierung bedeute Freiheitskrieg gegen ihre Feinde. Die eine verteidige bürgerliche Freiheit, die andere öffentliche Freiheit. Eine konstitutionelle Regierung habe die Verteidigung der persönlichen Freiheit gegen die Übergriffe der Regierungsmacht zur Aufgabe; ein Revolutionsregime müsse die in der Revolutionsregierung verkörperte öffentliche Freiheit gegen Faktionen verteidigen. Es schulde friedliebenden Bürgern Schutz, den Feinden der öffentlichen Freiheit aber nichts als den Tod. „Ceux qui les ( die revolutionären Gewaltmaßnahmen ) nomment arbitraires ou tyranniques sont des sophistes stupides ou pervers qui cherchent à confondre les contraires.“209 Die Revolutionsregierung müsse über die Macht und den Mechanismus verfügen, schnell und unbehelligt von gesetzlichen Hemmungen und Feinheiten zu handeln, alle Kräfte der Nation zu mobilisieren und unbarmherzig und kräftig zuzuschlagen. Das bedeute, dass die Schranke zwischen der Legislative und der Exekutive niedergerissen werden müsse, um rasches Handeln zu sichern.210 Regierungsaktion dürfe nicht weiter langsam und kompliziert sein wie bisher, als nur gelegentlicher Kontakt zwischen den beiden Zweigen der Administration unterhalten wurde. Robespierre hatte sich sehr weit entfernt von seiner wütenden Anklage gegen die „Intrigen“ zwischen dem Roland’schen Ministerium und den girondistischen Führern in der „Assemblée“, er hatte sich ebenso sehr entfernt von dem Prinzip, dass kein Abgeordneter ein Staatsminister sein könne. Was Robespierre vorschlug, war Regierung durch einen Konventsausschuss. Alle Exekutivgewalt, die dank des Revolutionscharakters der Regierung praktisch unbegrenzt war, sei abzutreten an eine „treue Kommission“, „d’un patriotisme épuré; une commission si sûre, que l’on ne puisse plus vous cacher ni le nom des traitres ni la trame des trahisons“.211 Es sollte ein Ausschuss der Treuesten und Unbarmherzigsten sein. Dies war die Konzeption, die dem Ausschuss der öffentlichen Wohlfahrt und der jakobinischen Diktatur zugrunde lag, einer Regierungsform, die darauf abgestellt war, das Revolutionsziel um jeden Preis durchzusetzen, und nicht die Freiheit im Sinne freier Selbstbestimmung zu ver wirklichen; ein System, das das Prinzip der Volkswahl ersetzte durch das Prinzip der Unfehlbarkeit der wenigen Aufgeklärten in der Zentralbehörde, die in diktatorischer Weise durch von ihnen selbst ernannte besondere Vertreter handelten. „Die zwei entgegengesetzten Genien, [...] die sich das Reich der Natur streitig machen, ringen in dieser großen Periode der menschlichen Geschichte in 209 210 211

Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 312. Vgl. auch Bureau Central ( Hg.), Réimpression de l’Ancien Moniteur, Band 15, S. 688. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 25, S. 46. Ebd., S. 45.

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einem tödlichen Kampf miteinander, um die Geschichte der Welt unwiderruf lich zu entscheiden, und Frankreich ist der Schauplatz dieses furchtbaren Kampfes. Draußen sind alle Tyrannen entschlossen, euch einzukreisen; drinnen sind alle Freunde der Tyrannei in einer Verschwörung zusammengerottet: sie werden so lange weiter auf Verschwörung sinnen, bis dem Verbrechen jede Hoffnung entwunden sein wird. Wir müssen die inneren sowohl wie die äußeren Feinde der Republik unterdrücken oder mit ihr zugrunde gehen; und in einer Situation wie dieser muss eure erste politische Maxime das Leitprinzip sein, dass das Volk durch Vernunft geführt wird, die Feinde des Volkes aber durch Terror“212 – so sprach Robespierre. Krieg ! Kriegszustand ! Das bedeutet Ausnahmezustand, vor allem eine Atmosphäre von : „Stehe auf und töte ihn, sonst wird er dich töten.“ Wenn man seinem Gegner eine solche feste Entschlossenheit zuschreibt, ist man ihm gegenüber von jeder rechtlichen, moralischen oder sonstigen Verpflichtung frei. Gerechtigkeit widerfahren lassen, das Gesetz beachten, dergleichen wird bedeutungslos, zum reinen Gespött, wenn es verlangt wird. Rettung ist das oberste Gesetz; sie wird erreicht durch die Vernichtung des Feindes. Der Krieg ist global : global, denn das Schlachtfeld ist global; global, denn alles Leben, alle Besitzungen und alle Werte werden von ihm erfasst, alle Vermögen und alle Mittel mobilisiert. Da dies so ist, hat der Krieg keine feste oder begrenzte Front. Der Kampf findet nicht nur auf dem Schlachtfeld statt. Jede vorbeugende Handlung, ausgeführt, um den Feind zu schwächen, in seinen Reihen Ver wirrung zu stiften, ihn arm zu machen oder seinen Kampfgeist zu brechen, seine Flanke zu entblößen oder ihn zu täuschen und in eine Falle zu locken, ist rechtmäßig, ist eine lobenswerte Tat, ja sogar eine heilige Pflicht. Vom Gesichtspunkt derjenigen, die auf der eigenen Seite kämpfen, ändert die Tatsache des Krieges die gesamte Wertskala. Ein Krieg erfordert Leitung der Kriegshandlungen durch ein Oberstes Kommando, das in strengster Verschwiegenheit handelt, mit aller nur möglichen Schnelligkeit, sämtliche Mittel der Überraschung anwendet, durch keinerlei Hindernisse oder Kontrollen gehemmt wird, durch ein Kommando, das sich aus Männern zusammensetzt, die besonders oder vielmehr ungewöhnlich qualifiziert sind für die Aufgabe : mit der Gabe der Führerschaft ausgestattet, vertrauenswürdig, unbarmherzig, energisch und rein. Kurz, aller Nachdruck wird auf persönliche Eigenschaften gelegt, Robespierres schwer greifbare Qualität der Tugend. Der demokratische Prüfstein der Wahl, der vorläufigen, wiederholten und bestätigten Ermächtigung zur demokratischen Ausführung von öffentlich debattierten, klar umgrenzten und beschlossenen Entscheidungen durch ernannte, über wachte und verantwortliche Führer ist in den Hintergrund gerückt. Es ist unmöglich, öffentlich zu debattieren oder vorzuschreiben, wie 212

Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 332.

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in der Hitze des Gefechts, unter dem Druck unvorhersehbarer tödlicher Ereignisse zu handeln sei. Die obersten Befehlshaber würden am besten wissen, was zu tun sei. Ermächtigung und Kontrolle von Führern müsse stillschweigendem Vertrauen, bedingungslosem Gehorsam Platz machen. Das Verhältnis zwischen Führern und Geführten nimmt einen persönlichen Charakter an. So sehr ein Erlösungsglaube auch versuchen mag, das persönliche Element im Bereich der reinen Theorie zu ignorieren – soweit er sich im Laufe der Zeit in einen Krieg der Erwählten gegen die Verdammten entwickelt, muss er zum persönlichen Führer - Erlöser, der mit einzigartigen Eigenschaften begabt ist und kindliche Liebe und Gehorsam in den Geführten erweckt, seine Zuflucht nehmen. Diese sind Soldaten in einem globalen Kampf. Soldaten diskutieren nicht, sie führen Befehle aus. Manchmal erscheinen diese Befehle widerspruchsvoll, oft ungeheuerlich, aber der Soldat muss annehmen, dass sie, so unerklärlich und falsch sie ihm in dem begrenzten Zusammenhang, den er übersieht, erscheinen mögen, einen Teil der großen Strategie des globalen Krieges bilden und daher vom Standpunkt des Ganzen aus gesehen völlig logische und wünschenswerte Züge sind. Und daher ist die Aufhebung des persönlichen Urteils ein kategorischer Imperativ und das genaue Gegenteil von Charakterlosigkeit und moralischem Nihilismus. Das persönliche Element nimmt noch aus einem anderen Grunde überragende Bedeutung an. Wenn die Macht des Obersten Kommandos so grenzenlos sein muss, sein Handeln so schnell und unbarmherzig, würde es in falschen Händen – angesichts der ihm zur Verfügung stehenden Mittel – sicherlich zur furchtbarsten Macht des Übels werden. „Plus son pouvoir est grand, plus son action est libre et rapide; plus il doit être dirigé par la bonne foi. Le jour où il tombera dans des mains impures et perfides, la liberté sera perdue; son nom deviendra le prétexte et l’excuse de la contre - révolution même. Son énergie sera celle d’un poison violent.“213 Daher die oberste und heilige Pflicht der Über wachung derjenigen Männer, welche das Ruder führen, der ständigen Reinigung des Obersten Kommandos von den der Ansteckung anheim gefallenen oder von ihr bedrohten. Wer soll die Aufgabe erfüllen ? Sicherlich nicht die einfachen Soldaten. Das Ergebnis wäre Anarchie. Sie sind keinesfalls in der Lage zu wissen, was im Hauptquartier vorgeht. Es muss der Reinste sein aus der Gesamtheit des Obersten Kommandos, in der Tat der Stärkste. Das ist der Grund für Robespierres manisches Bestehen auf der Forderung nach persönlicher Reinheit der Revolutionsführer, für seinen besessenen Feldzug gegen die „Korrupten“. Diese waren in seinen Augen gefährlicher als die offenen Konterrevolutionäre, weil sie gewissermaßen durch einen Handgriff die Revolution in Konterrevolution verkehren konnten. 213

Ebd., S. 315.

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Unrein, korrupt war bei Robespierres Mentalität natürlich jeder, der sich ihm widersetzte oder von ihm abwich, oder sich offen und empfänglich zeigte für Dinge außerhalb der Bahn asketischer jakobinischer Tugend.214 Fast jeder fühlte sich in Gefahr, wenn er Robespierres Anklage anhörte über die ungenannten Unreinen im Konvent und in den beiden obersten Ausschüssen, die ausgerodet werden müssten, oder wenn er seine Worte hörte : „Wehe, wehe demjenigen, der sich selbst entlarvt.“215 Unter den Kriegsverhältnissen, angesichts des fast kosmischen Einsatzes und der übermenschlichen Mächte am Werk, war natürlich das einzige Mittel, einen Unreinen zu reinigen : ihn zu töten – ebenso wie die einzige Verteidigung des Unreinen war, den Ankläger zu töten. „Il faut guillotiner, ou s’attendre à l’être“216 – wie der schlaue und geschickte Barras es ausdrückte. Ein kurzer Abriss des Regimes des Ausschusses der öffentlichen Wohlfahrt soll die Antithese deutlich machen, zu der die jakobinische Idee im Laufe der Revolution gelangte.

5. Die jakobinische Diktatur Die jakobinische Diktatur war eine Improvisation. Sie entstand schrittweise, nicht auf Grund eines vorbedachten Planes. Sie war zur gleichen Zeit Entsprechung und Folge einer bestimmten Geisteshaltung ihrer Urheber, die durch die Ereignisse intensiviert und zum Extrem geführt wurde.217 Das „Comité de défense ( générale )“, das am 1. Januar 1793 eingesetzt wurde, war der unmittelbare Vorläufer des Ausschusses der öffentlichen Wohlfahrt. 214 215

216 217

Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 32, S. 71 f. ( über Danton, Petion usw.). Ebd., Band 33, S. 214 : „Je n’ai pas nommé Bourdon [ der ihn unterbrochen hatte mit der Aufforderung, die Angegriffenen mit Namen zu nennen ]. Malheur à qui se nomme lui - même ! [...] Je les nommerai.“ Ebd., Band 32, S. 71 f. : „Je dis que quiconque tremble en ce moment est coupable; car jamais l’innocence ne redoute la surveillance publique. [...] Les hommes coupables craignent toujours de voir tomber leurs semblables, [...] n’ayant plus devant eux une barrière de coupables, [...] exposés au jour de la vérité.“ Vgl. auch Aulard, Jacobins, Band 6, S. 214 f. Barras, zit. in Villat, La Révolution, S. 255. Zur Enstehung der jakobinischen Diktatur und ihrer Struktur vgl. Villat, La Révolution, S. 219 ff.; Mathiez, Révolution Française, Band 3, Kapitel 4, Kapitel 6, Kapitel 7; Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 170 ff.; Lefebvre / Guyot / Sagnac ( Hg.), La Révolution Française, S. 212 ff. Vgl. auch Robespierres Carnet in Mathiez, Robespierre Terroriste, S. 72 : „D’envoyer dans toute la République un petit nombre de commissaires forts, munis de bonnes instructions et surtout de bons principes, pour ramener tous les esprits à l’unité et au républicanisme; [...] à découvrir et à inventorier les hommes dignes de ser vir la cause de la liberté.“

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Es tagte ab 25. März in Permanenz. Am 6. April trat es reorganisiert und verstärkt seine ungebrochene und unbestrittene Herrschaft als Ausschuss der öffentlichen Wohlfahrt an. Seine Pflichten bestanden in der Überwachung und Beschleunigung der Arbeit des Provisorischen Exekutivrats; er war bevollmächtigt, die Anordnungen des Rats aufzuheben und alle Maßnahmen zu ergreifen, die ihm im Interesse der Verteidigung und Sicherheit des Landes notwendig erschienen, und diese dann durch den Rat ausführen zu lassen. Obwohl der Wohlfahrtsausschuss aus dem Konvent hervorgegangen und ihm verantwortlich war, und obwohl seine Ernennung ursprünglich nur für Exekutivpflichten erfolgte, erlangte er bald eine absolute Vormachtstellung gegenüber dem Konvent, entzog dem Exekutivrat alle Vollmachten und fegte de facto – und mit der Zeit auch de iure – alle Institutionen der repräsentativen Demokratie beiseite. Am 10. Oktober 1793 wurden der Exekutivrat, die Minister, die kommandierenden Generäle und alle konstitutionellen Behörden unter seine Aufsicht gestellt. Ausführende Organe in der Provinz waren die mit praktisch unbegrenzter Macht ausgestatteten und nur dem Ausschuss direkt unterstellten Repräsentanten en mission. Die Dekrete vom 9. und 30. April 1793 gaben ihnen die Vollmacht, „in aktivster Weise“ die Vertreter des Exekutivrats, die Armeen, die Armeeversorgung zu über wachen, Sabotage und Vergeudung öffentlicher Gelder zu verhindern, Defaitismus und Untergrabung des Widerstandsgeistes zu bekämpfen und die republikanische Gesinnung in der Armee und in der Etappe hochzuhalten. Auf Antrag von Billaud - Varenne wurde ihnen am 18. November 1793 (28. Brumaire ) die Vollmacht erteilt, die lokalen Behörden zu beaufsichtigen und zu überstimmen, lokale Beamte wegen Dienstversäumnisses anzuklagen und ohne Wahlen zu ersetzen, wobei stillschweigend angenommen wurde, dass die lokalen Jakobinerklubs zu Rate gezogen würden.218 Im Anschluss an die einige Tage vorher erfolgte Inter vention Dantons ernannte der Konvent am 4. Dezember (14. Frimaire ) nationale Agenten für die kleineren administrativen Einheiten mit ähnlichen umfassenden Vollmachten wie diejenigen der Repräsentanten, ebenfalls direkt dem Wohlfahrtsausschuss unterstellt. Diese Agenten sollten die gewählten Prokuratoren – Distriktsyndizi und Gemeindeprokuratoren sowie ihre Vertreter – ersetzen. Sie waren ermächtigt, die Durchführung von Gesetzen zu erzwingen, Sabotage und Unfähigkeit 218

Billaud - Varenne, zit. in Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 175: „En gouvernement comme en mécanique, tout ce qui n’est point combiné avec précision [...], n’obtient qu’un jeu embarrassé [...]. Trois principes dans ses mouvements: la volonté pulsatrice, l’être que cette volonté vivifie, et l’action de cet individu sur les objets environnants, ainsi tout bon gouvernement doit avoir un centre de volonté, des leviers qui s’y rattachent immédiatement, et des corps secondaires sur qui agissent ces leviers afin d’étendre les mouvements jusqu’aux dernières extrémités.“

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aufzuspüren, die Ortsver waltung und die örtlichen Über wachungskommissionen, denen die Aufsicht über Fremde und Verdächtige oblag, zu säubern. Die nationalen Agenten sollten als „Agenten des ganzen Volkes“ die örtlichen Repräsentanten ersetzen, die durch „den Einfluss von Familienvermögen“ und Familienbeziehungen an die Macht gelangt waren.219 Ein Dekret vom 5. Brumaire hob Munizipalwahlen überhaupt auf. Diese auf dem Gegensatz zwischen der Einheit des nationalen Interesses und der Einzigkeit des Allgemeinen Willens einerseits und dem partiellen Charakter regionaler Einheiten andererseits basierende extreme Form der Zentralisation erreichte somit ihren Höhepunkt in einer zentralisierten Diktatur einer kleinen Körperschaft, die zur gleichen Zeit ein Teil der Legislative und eine Exekutive war.220 „Le dépôt de l’exécution des lois est enfin confié à des dépositaires responsables“,221 war Dantons Kommentar. Diese Diktatur war die Diktatur einer einzigen Partei. Ihre Gesetze und Dekrete sahen deutlich die engste Zusammenarbeit zwischen den Agenten des diktatorischen Ausschusses und den örtlichen Volksgesellschaften, das heißt den Jakobinern, vor, einem Netz von Gesellschaften, die in der Verfassung oder in dem offiziellen Rahmen administrativer Einrichtungen keinen Raum hatten. Gleichzeitig waren alle öffentlichen Versammlungen außer denen der Jakobinerklubs verboten, da sie umstürzlerisch, bedrohlich für die Einheit der Regierung seien und zum Föderalismus tendierten. Alle Revolutionsarmeen, die örtlich aus den Zeloten ausgehoben und auf Kosten der Reichen unterhalten worden waren, um über Konterrevolutionäre zu wachen und föderalistische Erhebungen zu bekämpfen, wurden aufgelöst, und es blieb nur die Revolutionsarmee des Konvents, die der ganzen Republik gemeinsam diente.222 Am 1. April 1794 (12. Germinal ) legte Carnot in einem Antrag dar, ein großes Land wie Frankreich könne nicht von einer Regierung regiert werden, die nicht in engster und ständiger Verbindung mit den verschiedenen Teilen sei – „ramasse et dirige ses forces vers un but déterminé“.223 Der Wohlfahrtsausschuss solle daher das Organ sein, das alles Denken besorge, dem Konvent alle wichtigen Maßnahmen vorschlage und in dringenden und geheimen Angelegenheiten aus eigenem Antrieb handele – ein Plan, der an zentralisierte Kabinettsregierung gewöhnten Menschen heute nicht ungewöhnlich erscheinen würde, der damals aber, als er erklärt wurde, unerhört war. Am 2. April wurde der Provisorische Exekutivrat abgeschafft. Der Wohl-

219 220 221 222 223

Vgl. Mathiez, Révolution Française, Band 3, S. 76. Vgl. ebd. Villat, La Révolution, S. 267. Vgl. Mathiez, Révolution Française, Band 3, S. 76. Ebd., S. 279.

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fahrtsausschuss blieb als oberste und einzige Exekutivkörperschaft mit zwölf eigens ernannten Unterausschüssen.224 Es war Paris – als einem Ausschnitt des souveränen Volkes – beschieden, beim Fortschritt zur äußersten Zentralisierung die Sonderstellung einzubüßen, um die die Jakobiner so entschlossen gegen die Girondisten gekämpft hatten. Das Gesetz vom 14. Frimaire verbot die Bildung jeglichen Zentralausschusses der Sektionen. Alle Aufstände und „journées“ in der Vergangenheit waren von den ad hoc organisierten Zentralausschüssen ausgedacht und durchgeführt worden. Um einen Schlag gegen die Hébertisten, die die Herren der Kommune waren, zu führen, wurde den Sektionen untersagt, mit der Kommune zu korrespondieren, und sie wurden angewiesen, direkten Kontakt mit dem Sicherheitsausschuss, einem Hilfskörper des Wohlfahrtsausschusses, zu unterhalten. Erst drei Monate vorher (5. September ) waren die Sektionsversammlungen erneuert und bevollmächtigt worden, Verdächtige zu verhaften. Dasselbe Gesetz hatte zwei Zusammenkünfte der Sektion je Woche – was schon eine Einschränkung des Dauerprinzips bedeutete – und ein Gehalt von vierzig Sous für jede Teilnahme angeordnet, um die richtige Sorte von Sansculotten anzuziehen und ihnen die Anwesenheit zu ermöglichen. Hébert und seine Freunde zahlten mit ihrem Leben für den letzten vor dem 9. Thermidor gemachten Versuch eines Volksaufstandes gegen den Konvent und den Wohlfahrtsausschuss, nachdem die Hébertisten von Robespierre wegen ihrer Gewalttaten gegen den religiösen Gottesdienst angeklagt worden waren.225 Hand in Hand mit der Zentralisation ging die Organisation des Terrors. Die wesentlichen Dekrete wurden Ende März und Anfang April 1793 erlassen und waren vor wiegend Robespierre und Marat zuzuschreiben; Letzterer hatte beständig für eine persönliche Diktatur „zur Rettung der Freiheit durch Gewalt“ agitiert. Ganze Gruppen von Menschen wurden geächtet. Personen, die an konterrevolutionären Unruhen teilgenommen hatten oder die mit einem weißen Band oder anderen Abzeichen der Königtreue oder der Rebellion gesehen worden waren, wurde der rechtliche Schutz des Strafverfahrens und Geschworenengerichts entzogen. Wenn sie gefasst und schuldig befunden wurden, waren sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden hinzurichten. Emigranten wurden geächtet, für immer verbannt, ihre Güter beschlagnahmt; Feinde der Revolution und Aristokraten wurden „hors de loi“ gestellt. Das Gesetz zur „Entwaffnung von Verdächtigen“ definierte als „Verdächtige“ nicht nur Mitglieder der geächteten Klassen und ihre Familien, wie den Adel und widersetzliche Geistliche, sondern jeden, der von der Behörde als solcher anerkannt wurde. Das Gesetz über die Verdächtigen vom 17. September ging einen 224 225

Vgl. ebd. Zum Sturz der Hébertisten vgl. Mathiez, Révolution Française, Band 3, S. 150 ff.

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Schritt weiter. Es erklärte alle diejenigen als verdächtig, die Tyrannei, Föderalismus und Konterrevolution durch Wort und Tat oder auf dem Wege persönlicher Beziehungen unterstützt hatten; Personen, die ihre Steuern nicht bezahlt hatten; Personen, die von ihren Sektionen keine „carte de civisme“ erhalten hatten; vom Dienst suspendierte oder entlassene Beamte; Adlige, ihre Ver wandten und die Ver wandten von Emigranten; Personen, die nicht imstande waren, den Nachweis zu erbringen, dass sie ihren Lebensunterhalt auf rechtmäßige Weise verdienten und eine patriotische Vergangenheit hatten. Concièrges hatten schon vorher die Anweisung bekommen, die Namen der Hausbewohner in den von ihnen betreuten Häusern anzuschlagen, und Privatwohnungen wurden zu Durchsuchungen geöffnet. Das Dekret vom 21. März errichtete in jeder Gemeinde „Comités de sur veillance“, die aus den Treuesten rekrutiert waren und mit der allgemeinen Über wachung von Fremden und Verdächtigen, dem Aufstellen von Listen der Letzteren und der Revision der Bescheinigungen von „civisme“ betraut wurden. Am 29. März führte ein besonderes Gesetz die Todesstrafe für Journalisten und Pamphletisten ein, die zur Auf lösung des Konvents und zur Wiedereinführung der Monarchie aufforderten und die Volkssouveränität angriffen. Am 1. April wurde die parlamentarische Immunität von Konventsabgeordneten aufgehoben. Das Revolutionstribunal wurde am 5. April in gehöriger Form eingesetzt, nachdem es vorübergehend als „Tribunal Criminel Extraordinaire“ bestanden hatte. An diesem Tag wurde es von der Über wachung durch den besonderen Konventsausschuss, der sein Vorgänger unter worfen war, befreit. Außerdem wurde die Notwendigkeit der Ermächtigung durch den Konvent zur Aufnahme eines Verfahrens aufgehoben. Anzeige durch eine der bestehenden Behörden oder durch einen gewöhnlichen Bürger sollte ein ausreichender Grund sein, außer im Falle von Abgeordneten, kommandierenden Generälen und ähnlichen hohen Würdenträgern. Die Geschworenen sollten öffentlich und „à haute voix“ abstimmen und ihre Erklärungen abgeben. Es gab keine Berufung, und die Strafen waren Tod und Vermögenskonfiskation. Den Monat Oktober, in dem die Republik auf allen Kriegsfronten siegreich war, kennzeichneten statt eines Nachlassens des Terrors seine Intensivierung gegen die führenden politischen Gruppen und Persönlichkeiten der Opposition. Das auslösende Ereignis waren der Prozess und die Hinrichtung der zweiundzwanzig girondistischen Abgeordneten, die am 2. Juni aus dem Konvent ausgeschlossen worden waren, unter ihnen Vergniaud, Gensonné, Srissot, Lasource ( Roland beging Selbstmord, Madame Roland wurde guillotiniert ). Sie wurden vom Konvent auf einstimmigen Beschluss dem Tribunal überliefert und nach einem drei Tage dauernden Verfahren einstimmig verurteilt; die Zeit wurde für lange genug gehalten, um die Geschworenen ihr „Gewissen ausreichend erleuchten“ zu lassen, damit sie auf weitere Prüfung von Beweisen und Vernehmung von

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Zeugen verzichten konnten.226 Vier Tage galten auch als ausreichend, um das Gewissen der Geschworenen über die Verbrechen von Hébert, Momoro, Vincent, Anacharsis Cloots und ihren Freunden zu erhellen, die am 24. März 1794 ver urteilt wurden. Danton, Desmoulins, Philippeaux wurden etwa vierzehn Tage später zur Guillotine geschickt, auch nach Ablauf von vier Tagen, nachdem der Konvent sie auf Betreiben Saint - Justs einstimmig „hors de débats“ sowie der Verschwörung zum Sturz der Revolutionsregierung und zur Wiedereinführung der Monarchie schuldig erklärt hatte. Auf die politische Zentralisation mit ihrem Brennpunkt im Wohlfahrtsausschuss folgte die rechtliche Zentralisation mit ihrem Brennpunkt im Revolutionstribunal in Paris. Saint - Just brachte im April einen Antrag durch, nach dem alle der Verschwörung beschuldigten Personen vor das Revolutionstribunal in Paris gebracht werden sollten, gleichgültig wo sie sich befanden. Das Dekret vom 18. Mai (29. Floréal ), vorgeschlagen von Couthon, dem dritten, verkrüppelten Mitglied des Robespierre’schen Triumvirats und Scharfrichter der rebellischen Stadt Lyon, hob alle Revolutionstribunale und Revolutionsausschüsse außerhalb von Paris auf. Dann, am 10. Juni 1794, kamen die berühmten, von Couthon vorgeschlagenen Prairialgesetze. Sie bildeten den Gipfel des Terrors und gründeten sich auf das Axiom, dass die Vernichtung der Feinde der Republik den Vorrang vor formaler Justiz habe. Jede Art von Beweis, sachlich, moralisch oder mündlich, „qui peut naturellement obtenir l’assentiment de tout esprit juste et raisonnable“,227 wurde annehmbar erklärt als gerichtlicher Beweis und auf die Notwendigkeit des Zeugenverhörs verzichtet. Das Recht des Angeklagten, vor dem Revolutionstribunal zu plädieren, wurde aufgehoben. Das Recht, Verschwörer und des „incivisme“ schuldige Personen anzuzeigen, wurde allen Bürgern zugestanden. Die beiden Ausschüsse ( der öffentlichen Wohlfahrt und der allgemeinen Sicherheit ), ferner der Staatsanwalt, die Repräsentanten en mission und der Konvent erhielten das Recht, Verdächtige an das Tribunal auszuliefern. Dem Konvent wurde das ausschließliche Recht entzogen, Abgeordnete an das Tribunal auszuliefern. Diese Maßnahme ließ jeden Einzelnen im Konvent erschauern. Sie trieb diejenigen, die sich am stärksten bedroht fühlten, Fouché, Tallien, Barras, Freron, zur Verzweif lung und brachte dann auch Robespierre und sein System am 9. Thermidor zu Fall – wenn man als Ursache noch hinzurechnet die Uneinigkeit zwischen den Robespierristen und ihren Kollegen über die Durchführung von Saint - Justs Ventôsegesetzen betreffend die Enteignung der Verdächtigen und die Vertei-

226 227

Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 28, S. 202, 212. Ebd., Band 33, S. 196.

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lung ihres Vermögens an arme Patrioten.228 Obwohl die Robespierristen an rein terroristischer Leidenschaft von denen, die sie vernichteten, noch übertroffen wurden, gehörten sie dennoch zu den Hauptaposteln des Terrors. Das berüchtigte „Bureau de Police“, die höchst exklusive Sonderabteilung des Wohlfahrtsausschusses, dessen Aufgabe die Über wachung und Anklage vor allem der Staatsbeamten war, stand unter ihrer Leitung, insbesondere der Anhänger von Saint - Just.229 Schon am 25. August 1793 formulierte Robespierre die Philosophie des Terrors, als er verlangte, das Revolutionstribunal solle von allen veralteten rechtlichen Hindernissen zur Verhängung der Todesstrafe, der einzig angemessenen Strafe für Verrat, befreit werden.230 Die jakobinische Diktatur ruhte auf zwei Säulen : der fanatischen Ergebenheit der Gläubigen und strenger Orthodoxie. In der Kombination der beiden lag das Geheimnis der jakobinischen Stärke; sie war ein neuartiges Phänomen in der neueren politischen Geschichte. Der Jakobinismus begann als eine Bewegung für das Selbstbestimmungsrecht des Volkes und als ständige Debatte, um in freudiger Gemeinschaft an dem Erlebnis der Ausübung der Volkssouveränität teilzunehmen; doch dann entwickelte er sich bald zu einer Bruderschaft der Gläubigen, die ihr Selbst an die objektive Substanz des Glaubens verlieren mussten, um ihre Seelen wiederzufinden.231 Unter werfung wurde alsbald Erlösung, Gehorsam als „Freiheit“ bezeichnet, Mitgliedschaft in Jakobinerklubs zu einem äußeren Zeichen der Zugehörigkeit zu den Erwählten und Reinen, Teilnahme an jakobinischen Festen und patriotischen Riten zu einem religiösen Erlebnis. Innerhalb der Klubs ging ein unaufhörlicher Prozess der Säuberung und Läuterung vor sich, der Anzeigen, Geständnisse, Exkommunikationen und Ausschlüsse mit sich brachte. Die Diktatur des Wohlfahrtsausschusses war somit keine bloße Tyrannei von ein paar Männern, die sich an die Macht klammerten und alle Mittel zur Anwendung von Zwang besaßen, nicht lediglich ein Polizeisystem in einer belagerten Festung.232 Sie beruhte auf eng verknüpften und höchst disziplinierten Zellen und Kernen in jeder Stadt und jedem Dorf, von der Zentralarterie Paris bis zum kleins228

229 230 231 232

Zur Revolutionsgesetzgebung vgl. die bisher angegebenen Quellen sowie Mathiez, La Terreur, instrument de la politique sociale; ders., Les Séances des 4 et 5 Thermidor ( wichtig über die Bedeutung der „Lois de Ventôse“). Vgl. Ording, Le Bureau de police. Vgl. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 28, S. 477. Vgl. Brinton, Jacobins; Walter, Histoire des Jacobins. Aulard, Sociéte des Jacobins, Band 5, S. 504 : „Je demande que chaque Société populaire s’épure avec le plus grand soin, et que les Jacobins n’accordent leur affiliation ou leur correspondance qu’à celles qui auront subi rigoureusement cette épreuve.“ Ebd., S. 561 : „Que tous les députés suppléants, arrivés à Paris [...], fassent à la tribune leur profession de foi sur tous les événements de la Révolution.“

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ten Gebirgsdörfchen, bestehend aus Männern, die voller enthusiastischem Eifer nur auf ein Zeichen warteten, nicht mehr ihren spontanen Freiheitsdrang auszudrücken, sondern ihre revolutionäre Begeisterung durch gehorsame und eifrige Ausführung der Anordnungen von der Zentrale, dem Sitz der aufgeklärten und unfehlbaren Wenigen. Im Wege reiner Improvisation wuchs im revolutionären Frankreich eine inoffizielle Organisation französischer Demokratie heran, die gewissermaßen den offiziellen Organismus und seine Glieder verdoppelte, die Mannschaften der Revolutionsarmeen und der „Comités de sur veillance“ stellte, die Aufgabe dessen erfüllte, was Robespierre als „colérer les sansculottes“ bezeichnete, das heißt die Aufgabe, sie zu indoktrinieren und darauf vorzubereiten, gegen die bösen Reichen, die Föderalisten und andere Konterrevolutionäre vorzugehen.233 Oft – wieder von Robespierre dringend gefordert – mussten sie zurückbleiben, wenn andere an die Front gesandt worden waren, um auf die in der Heimat Verbliebenen aufzupassen und den inneren Feind zu bekämpfen. Sie beherrschten mit ihrer unaufhörlichen Wachsamkeit alle Versammlungen, leiteten alle Wahlen und lieferten auftragsgemäß die richtige Interpretation zu allen Ereignissen. Das offizielle Dogma behauptete, die Jakobiner seien das Volk. Sie könnten keinesfalls als ein Teilwille angesehen werden, als nur eine Partei wie andere Parteien. Robespierre hatte gesagt, die jakobinische Gesellschaft sei ihrem eigensten Wesen nach unbestechlich. Sie beratschlagte – so hieß es – vor einer Zuhörerschaft von mehreren tausend Personen, so dass ihre ganze Macht in der öffentlichen Meinung lag, und sie konnte nicht die Interessen des Volkes verraten. Camille Desmoulins hatte in einem früheren Zeitpunkt der Revolution die Volksgesellschaften die Inquisitionstribunale des Volkes genannt.234 Er bediente sich dieses Ausdrucks mit glühender Zustimmung. Was er damit sagen wollte, war, dass sie das offene Forum bildeten, vor dem Ideen durch freie und fortgesetzte Diskussion geprüft, geklärt und geläutert wurden. Desmoulins lebte lange genug, um sich vollkommen von den Schrecknissen der Volksinquisition, die er so voller Begeisterung aufzubauen geholfen hatte, zu überzeugen. Er musste jenen dramatischen Zusammenstoß im Jakobinerklub erleben, als Robespierre, der ihn vorher halb gönnerhaft, halb drohend ermahnt hatte, nicht so fügsam und flüchtig in seinen Meinungen zu sein, die Verbrennung von Camilles Vieux Cordelier verlangte, dessen Korrekturabzüge Desmoulins dem Unbestechlichen immer zur Genehmigung vorlegte. „Verbrennen ist keine Antwort“, flüsterte der Liebling der Revolution.235 233 234 235

Vgl. Courtois, Papiers inédits, Band 2, Nr. XLIV, S. 16. Mathiez, Révolution Française, Band 1, S. 102; ders., Jacobins – leur rôle défini par Camille Desmoulins, S. 256. Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 597–599, Zitat : S. 599.

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Und so erfüllte sich das Postulat der plebiszitären Volkssouveränität in der Herrschaft eines kleinen Bruchteils der Nation. Die Idee des unbehinderten Selbstbestimmungsrechts des Volkes mündete in einen immer enger werdenden Pfad exklusiver Orthodoxie und in eine Ächtung der leisesten Meinungs und Gefühlsdifferenzen. Es genügt, die Protokolle des Jakobinerklubs in den letzten Monaten vor Thermidor zu lesen, die Anklagereden von Robespierre und Saint - Just oder die Nachweise, die Crane Brinton in seiner Untersuchung über die Jakobinergesellschaften in der Provinz gibt, um sich klarzumachen, welchen Umfang dieser Prozess angenommen hatte.236 Bei irgendeinem vergangenen und halbvergessenen Anlass stillgeblieben zu sein, bei dem man hätte reden sollen; gesprochen zu haben, wenn es besser gewesen wäre, ruhig zu sein; Gleichgültigkeit gezeigt zu haben, wo Eifer am Platz gewesen wäre, und Begeisterung, wo Misstrauen nötig war; mit jemandem verkehrt zu haben, den ein Patriot hätte meiden sollen; jemandem aus dem Weg gegangen zu sein, der verdient hätte, dass man ihm Freundschaft hielt; keine tugendhafte Veranlagung gezeigt oder kein tugendhaftes Leben geführt zu haben – diese und andere „Sünden“ wurden zu Kapitalverbrechen, welche die Sünder in jene riesige Kette von Verrat einreihten, die ausländisches Komplott, Königstreue, Föderalismus, bürokratische Sabotage, Lebensmittelspekulation, unmoralischen Reichtum und böse eigennützige Per version umfasste.237 Für Bewerber um Aufnahme zur Mitgliedschaft wurden besondere Fragebogen aufgestellt, um aus ihnen herauszubekommen, wie ihre frühere Einstellung zu jedem Revolutionsereignis war und wie sie es zurzeit beurteilten. Robespierres beherrschender Einfluss scheint nach den jakobinischen Aufzeichnungen einen wahrhaft „religiösen“ Charakter angenommen zu haben. Ein missbilligendes Wort, ein bloßer Blick des Unbestechlichen genügten, um den sofortigen Ausschluss irgendeines Redners zu sichern, von dem Robespierre fand, er sei etwas zu weit gegangen, sogar wenn dem Redner erst wenige Sekunden vorher wilder Beifall gezollt worden war.238

236 237 238

Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 1–31, 286–288 ( Hérault de Séchelles ), 305–332 ( u. a. Danton ). Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 6, S. 213 : „Quand un homme se tait au moment où il faut parler, il est suspect.“ Vgl. auch die Anmerkungen in Fußnote 232. Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 6, S. 155 ( ein unbekanntes Mitglied, Rousselin, schlägt eine Ehrung für den Bürger Geffroy vor, der Robespierre rettete, indem er die Kugel auffing, die für Robespierre bestimmt war; dieser argwöhnt einen Versuch, ihn lächerlich zu machen, und lässt Rousselin sofort ausschließen ). Vgl. außerdem ebd., Band 5, S. 645.

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Tugend war „auf die Tagesordnung gesetzt“ worden, um die Bösen zu vernichten. Robespierre und Saint - Just waren die „Apostel der Tugend“, so erklärte das Aufstandsmanifest der Kommune am 9. Thermidor.239 Es ist wichtig, wenigstens einen Blick auf die Entwicklung der Außenpolitik in der Revolution vom Blickwinkel des globalen Freiheitskrieges aus zu werfen. Ähnlichkeiten zwischen den Sphären der Innen - und Außenpolitik sind reichlich vorhanden. Die Revolution, die auf dem Boden einer humanitären Philosophie entstanden war, begann in einem äußerst pazifistischen Ton. Die Menschen waren tief davon überzeugt, dass Friede der natürliche Zustand zwischen den Nationen sei. Alle Störung rührte von der Vergrößerungssucht der Dynastien her. Durch sie werden die Nationen getrennt und alle Kriege verursacht. Daher die berühmte Erklärung, zu der sich der realistische Mirabeau so skeptisch verhielt, Frankreich verzichte auf den Krieg als Instrument nationaler Politik und Expansion. Die komplexen politischen und psychologischen, bewussten und unbewussten Faktoren, die in Frankreich ein fast allgemeines Verlangen nach Krieg gegen das alte Europa auslösten, können hier nicht analysiert werden. Offensichtlich schäumte die Dynamik eines messianischen Glaubens über. Es gab kaum einen unter den Revolutionären, der bei Ausbruch des Krieges nicht davon überzeugt war, dass Frankreich nicht den Wunsch habe und nichts dazu tun würde, Nationen zu unterjochen und ihr Territorium in Besitz zu nehmen. Denn die Revolution kämpfte einen gemeinsamen globalen Kampf für die Befreiung der Völker vom Joch dynastischer Tyrannei und für eine harmonische Vereinigung der Nationen. Frankreich würde, wenn es fremdes Territorium befreite, sich nicht in die Wünsche der befreiten Bevölkerung einmischen und würde keinerlei Regierungsform aufzwingen. Doch diese guten Absichten waren dazu verurteilt, ein akademisches Postulat zu bleiben. Ein Volk zu befreien, es instand zu setzen, eine freie Wahl zu treffen – und das zu tun, verkündete die Revolution als ihre Pflicht –, erfor239

Robespierre, zit. in ebd., Band 6, S. 210 : „De tous les décrets qui ont sauvé la République, le plus sublime, le seul qui l’ait arrachée à la corruption et qui ait affranchi les peuples de la tyrannie, c’est celui qui met la probité et la vertu à l’ordre du jour. Si ce décret était exécuté, la liberté serait parfaitement établie.“ Die jakobinische Hierarchie der Auser wählten ist „le boulevard de la liberté publique [...]. Un Montagnard n’est autre chose qu’un patriote pur, raisonnable et sublime [...]. La Montagne n’est autre chose que les hauteurs du patriotisme [...]. La Convention, la Montagne, le Comité, c’est la même chose“, das einzig Wahre. „Jeder Abgeordnete des Volkes, der Freiheit aufrichtig liebt; jeder Abgeordnete des Volkes, der entschlossen ist, für sein Land zu sterben, gehört zur Montagne.“ „Die jakobinische Gesellschaft ist ihrer eigentlichen Natur nach unbestechlich; [...] in ihr wird die öffentliche Meinung geschmiedet, gestärkt und geläutert.“ Siehe dazu Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 33, S. 213 f; Band 26, S. 47; Thompson, Robespierre, Band 2, S. 18, 107; Michon ( Hg.), Correspondance, S. 166 ff.; Robespierre, Défenseur, Nr. 7, S. 319 ff.

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derte offensichtlich die sofortige Abschaffung des Feudalsystems und die Einführung des Prinzips der Volkssouveränität. Einen solchen Anfangsschritt konnte man nicht als Nichteinmischung bezeichnen. Da der Krieg global war, konnte Frankreich unmöglich feudale Feinde an der Macht und in Freiheit belassen, damit sie seinen Kriegseinsatz sabotierten und ihm einen Dolch in den Rücken stießen. Aber auch vom Gesichtspunkt der lokalen Revolutionäre, die sich in ähnlicher Lage befanden, wie die ihre eigene Konterrevolution bekämpfenden Revolutionäre, nur verschärft durch die Tatsache der Zusammenarbeit mit einer ausländischen Macht, bestand die zwingende Notwendigkeit, den konterrevolutionären Feind unter allen Umständen zu unterdrücken. Frankreich vergoss sein Blut, verausgabte seine Energien und seine erschöpften Hilfsmittel, es stand am Rande des Bankrotts und der Hungersnot, seine Inflation ließ sich nicht aufhalten – wer konnte verlangen, dass es auch die Kosten der Befreiung anderer Völker trug ? Wirklich, es war nicht mehr als fair, dass sie für ihre Befreiung selbst zahlten. „Der Krieg muss für sich selbst bezahlen.“ Die fremden Nationen mussten die gefürchteten wertlosen französischen Assignaten annehmen. Die Feudalherren, die Kirche, die Reichen ganz allgemein, mussten geschröpft werden. Das beschlagnahmte Feudaleigentum würde in die Hände der unteren Stände kommen, und die Armen würden von Auf lagen und Steuern verschont.240 Für ganze Klassen würde so der Sieg der Revolution zu einer Lebensfrage werden, und eine ungeheure soziale und wirtschaftliche Umwälzung würde vollzogen : „Guerre aux châteaux, paix aux chaumières“, war Cambons berühmte Formel.241 Der Krieg ist global – das war die These, die der berühmten Proklamation vom 19. November 1792 zugrunde lag, in der Frankreich sich verpflichtete, jedem Volk, das frei werden wollte, zu Hilfe zu eilen. Es war ein Blankoscheck an jede Rebellion in irgendeinem Teil der Welt, und vom Gesichtspunkt des alten Europa eine imperialistische französische Provokation, die bezweckte, überall Aufruhr zu schüren, um Angriff und Eroberung durch Frankreich zu rechtfertigen. Am 15. Dezember erfolgte die Erweiterung der Novemberproklamation. Sie verkündete, eine befreite Bevölkerung, die die Einrichtungen der Freiheit und Volkssouveränität nicht annehme, erkläre sich dadurch zum Freund der Tyrannei und zum Feinde Frankreichs in dem globalen Krieg. Später wurde eine Zeitgrenze festgesetzt, in der die befreiten Völker überzeugend darzulegen hatten, wo sie standen. Frei zu sein, die Freiheit zu wählen – das war das Geschenk an die Völker, das die Revolution sich zum Ziel gesetzt hatte. Es wurde so in 240 241

Vgl. Sorel, L’Europe et la Révolution, Band 3, S. 232 ff. Cambon, zit. in Sorel, L’Europe et la Révolution, Band 3, S. 234. Vgl. auch ders., zit. in ebd., S. 311 f. : „La nation française [...], en entrant dans un pays, poursuivant, chassant les despotes, use du pouvoir révolutionnaire. Nous ne permettons pas qu’un individu, qu’une collection d’individus usurpe cette souveraineté.“

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den Zwang ver wandelt, die Freiheit zu wählen.242 Aber die Franzosen waren weit davon entfernt, sich selbst oder anderen einzugestehen, dass sie die Freiheit der von ihnen befreiten Völkerschaften verletzten. Es konnte kein Zweifel bestehen an den letzten Wünschen der betreffenden Völker. Sie waren terrorisiert von ihren alten Herren, eingeschüchtert und rückständig, und sie mussten befeit werden, ungeachtet ihrer Hemmungen. Es mussten Volksversammlungen einberufen werden, die durch Akklamation die Einrichtungen der Freiheit annahmen. Natürlich mussten feudale und klerikale Reaktionäre ausgeschlossen und daran gehindert werden, das Volk einzuschüchtern und seinen wahren Willen zu verfälschen. In Belgien und auch ander weitig war die revolutionäre Führerschaft zu schwach und unerfahren, und die Massen standen unter dem Bann der Kirche. Daher mussten französische Kommissare hingeschickt werden, um Wahlen vorzubereiten und die Dinge in die Hand zu nehmen, bis die befreiten Völker sich eine unabhängige Verfassung geben und die Fähigkeit beweisen würden, nach ihr zu leben. Der globale Krieg, der eine Revolutionsregierung daheim erforderte, machte eine ähnliche Regierungsform für die Völker im Ausland notwendig, um die Nationen zu zwingen, frei zu sein : „Ce pouvoir révolutionnaire qui n’est qu’un pouvoir protecteur de la liberté politique à son berceau“, wie Brissot es ausdrückte.243 Burke beklagte 1790 die Zersetzung des französischen Staatskörpers durch den Geist des anarchischen Individualismus. 1796 stand er bestürzt vor einem völlig neuen Phänomen : einem Staat als einer „armed doctrine“. Ganz anders als jede gewöhnliche Gemeinschaft, deren Wachstum zufällig ist, deren Bewegungen durch die Trägheit oder den Widerstand unbegrenzter Interessen, Traditionen und Gewohnheiten behindert werden, und „which makes war through wantonness, and abandons it through lassitude“,244 ist das revolutionäre Frankreich „struck out at a heat, [...] systematic, [...] simple in its principle; it has unity and consistency in perfection“; es ist fähig, Menschen und Hilfsmittel zu mobilisieren und alles dem einen Prinzip seines Seins unterzuordnen – „the production of force“, um die Sache der Revolution zu fördern. „Individuality is left out of their scheme of government. The State is all in all.“245

242

243 244 245

Vgl. Sorel, L’Europe et la Révolution, insbesondere Band 3, S. 159 ff., 232 ff.; Lefebvre, La Révolution Française : La Convention, Band 1, S. 229 ff.; Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 32 ff. Brissot, zit. in Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 23, S. 77; Lefebvre, La Révolution Française : La Convention, Band 1, S. 237. Keene ( Hg.), Burke’s Letters on a regicide Peace, S. 16. Ebd., S. 121 f.

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IV. Die end gül ti ge Ord nung 1. Fortschritt und Endstadium Der Terror wurde allmählich zum Werkzeug für die Ver wirklichung eines positiven Ziels, nachdem er nicht länger als Verteidigungswaffe nötig war. Dieses Ziel war das natürliche und harmonische System der Gesellschaft, das die „philosophes“ vorausgesagt hatten. Das Vorhandensein einer solchen Ordnung war eine Gewissheit. Sie war seit den ersten Tagen der Revolution auf dem Wege, und wäre nicht die Selbstsucht und Verdorbenheit einiger Leute gewesen, so wäre sie bereits da. In der Tat war für Robespierre der Sieg im nationalen Krieg nicht das Hauptziel. Er fürchtete ein zu schnelles und zu siegreiches Ende des Krieges. Das würde dem Terror den Boden entziehen, denn „es ist natürlich, nach dem Siege zu schlummern“.246 Die Feinde des Volkes, die seine Aufmerksamkeit von ihren Verbrechen abwenden wollten, seien bemüht, alle Augen auf die Siege im äußeren Krieg zu lenken. Doch der wirkliche Sieg sei derjenige, den „die Freunde der Freiheit über die Faktionen erringen werden“.247 „C’est cette victoire qui appelle chez les peuples la paix, la justice et le bonheur.“248 Eine Nation werde nicht dadurch berühmt, dass sie fremde Tyrannen niederschlägt und andere Völker in Ketten legt. „Ce fut le sort des Romains et quelques autres nations; notre destinée, beaucoup plus sublime, est de fonder sur la terre l’empire de la sagesse, de la justice et de la vertu“249 – kurz : die ausschließliche jakobinische Ordnung zur Herrschaft zu bringen. Es ist zum Verständnis des Jakobinismus wesentlich, sich ständig zu vergegenwärtigen, dass die Jakobiner aufrichtig und zutiefst glaubten, ihre terroristische Diktatur sei, selbst wenn ihre Aufrechterhaltung nicht aus zwingenden Verteidigungsgründen erfolgte, nichts anderes als ein Vorspiel zu einem harmonischen Zustand der Gesellschaft, in dem Zwang unnötig würde. Das System der Gewalt war lediglich eine vorläufige Phase, ein unausweichliches Übel, das in einem tieferen Sinn und in einem weiteren Zusammenhang gar keine Diktatur war. Der Jakobinismus stützte sich auf den für das achtzehnte Jahrhundert charakteristischen tiefen Glauben an den Menschen, der in seiner Anlage gut und der Ver vollkommnung fähig sei, und auf den Glauben an stetigen sozialen 246 247 248 249

Aulard, Société des Jacobins, Band 6, S. 212. Ebd. Ebd. Ebd.

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Die endgültige Ordnung

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Fortschritt, dessen Abschluss ein Endstadium sozialer Integration und Harmonie bildet. Nicht eine auf lange Sicht pessimistische Auffassung vom Menschen und der Gesellschaft brachte den jakobinischen Terror her vor, sondern eine ungeduldige Hoffnung, erbittert durch Hindernisse, die als natürlich oder unvermeidlich hinzunehmen ein glühender Glaube sich weigerte. Die Mischung von messianischer Hoffnung und nagendem Zweifel verleiht der jakobinischen Haltung eine seltsam leidenschaftliche Eindringlichkeit und ein gewisses Pathos. Sie ist nicht ohne Größe, doch auch voll monumentaler Selbsttäuschung und Naivität.250 Robespierre und Saint - Just scheinen durchdrungen von dem Glauben an einen direkten Weg zum Heil. „Es ist an der Zeit, das Revolutionsziel und das Endstadium, zu dem wir zu gelangen wünschen, klar und deutlich festzulegen“,251 erklärte Robespierre feierlich in einer seiner letzten Reden. Er schlug vor, „der ganzen Welt die politischen Geheimnisse des französischen Volkes anzuvertrauen“ und durch das Gewirr pragmatischer und so häufig widerspruchsvoller Maßnahmen und inkongruenter Geschehnisse hindurch das Ziel klar aufzuzeigen : „idée simple et importante qui semble n’avoir jamais été aperçue“.252 Im gleichen Geiste gab Saint - Just, als er den Platz für die „Institutions Républicaines“ im utopischen Staate der Zukunft ausarbeitete, seiner Ver wunderung darüber Ausdruck, dass niemand früher auf diesen Plan verfallen war. Es war kaum zu glauben, dass Wahrheiten, die so augenfällig, Prinzipien, die so heilsam, Heilmittel, die so gebieterisch, Maßnahmen, die so praktisch waren, niemandem schon früher eingefallen waren. Sowohl er als auch Robespierre waren, wie die meisten ihrer Generation, fest davon überzeugt, die Jurisprudenz sei eine leichte Wissenschaft. Alle Übel und alle Verschiedenheiten in den Regierungsformen seien das Ergebnis der irrigen Ansicht, sie wäre eine schwierige Kunst.253 Die Herzen der Menschen könnten durch Gesetze geformt werden. Es sei den Menschen bestimmt, ihr Geschick zu erfüllen und in einem harmonischen sozialen System glücklich zu werden, was durch 250

251 252 253

Vgl. Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 2, Nr. 2, S. 49 : „L’homme est bon, sortant des mains de la nature : quiconque nie ce principe, ne doit point songer à instituer l’homme. Si l’homme est corrompu, c’est donc aux vices des institutions sociales qu’il faut imputer ce désordre.“ Ebd., S. 50 : „Si la nature a créé l’homme bon, c’est à la nature qu’il faut le ramener. Si les institutions sociales ont dépravé l’homme, ce sont les institutions sociales qu’il faut réformer.“ Vgl. außerdem ebd. S. 51; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 253 : „Toute institution qui ne suppose pas le peuple bon et le magistrat corruptible, est vicieuse.“ Vgl. auch ebd., S. 255; ders., Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 385, 485, 503; Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 2, S. 50. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 324. Ebd., S. 324 f. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 497.

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Gesetzgebung und Erziehung leicht erreichbar sei. Ihr Glaube sei jedoch erschüttert durch die ver wirrende und betrübliche Tatsache, dass so offenkundige, einfache und notwendige Maßnahmen während all der Jahrhunderte menschlichen Lebens auf der Erde nicht eingeführt wurden. In Paraphrase von Rousseaus berühmtem Einleitungsparadox des Contrat social erklärte Robespierre in seiner großen Rede über religiöse Ideen, obwohl die Natur uns sage, dass der Mensch zur Freiheit geboren sei, zeige die Erfahrung von Jahrhunderten ihn überall als Sklaven; obwohl die Menschenrechte tief in sein Herz eingegraben seien, sei seine Erniedrigung durch die ganze Geschichte hindurch großgeschrieben worden.254 Ähnlich schloss Saint - Just eine Übersicht der menschlichen Geschichte mit der bestürzten Feststellung, „alle Künste haben Wunder geschaffen, nur die Kunst des Regierens hat nichts als Monstren her vorgebracht“.255 „D’où vient ce mélange de génie et de stupidité ?“,256 fragt Robespierre unter Hinweis auf den wunderbaren Fortschritt in Kunst und Wissenschaft und die völlige Unwissenheit des Menschen in den Elementarbegriffen politischer Moral, seinen Rechten und Pflichten. Robespierres Antwort lautet, die Herrscher der Vergangenheit, denen nichts anderes am Herzen lag, als ihre Macht zu erhalten, hatten von Wissenschaftlern und Künstlern nichts zu fürchten, doch sehr viel von „philosophes rigides et défenseurs de l’humanité“.257 Sie konnten sich erlauben, die Ersteren zu fördern, mussten jedoch die Letzteren verfolgen. Die Revolution sei in dieser Beziehung ein apokalyptischer Augenblick in der Geschichte, das wichtigste Ereignis in der Laufbahn des Menschen auf Erden, gänzlich verschieden von solchen Episoden wie der Cromwell’schen oder Amerikanischen Revolution, Ausbrüche, die durch lokale Missstände her vorgerufen und durch begrenzte Ziele angetrieben worden waren.258 Das Ziel der Französischen Revolution sei, „die Geschicke der Freiheit in die Hände der ewigen Wahrheit zurückzubringen, statt in die Hände vergänglicher Menschen“.259 Diese Gegenüberstellung und diese Unterscheidung zwischen einer objektiven, ewigen Wahrheit und der Vergänglichkeit des Menschen ist bemerkenswert. „Vous commencez une nouvelle carrière où personne ne vous a devancés.“260 Bei mehr als einer Gelegenheit verkündete Robespierre, Frank254 255 256 257 258 259 260

Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 255. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 420. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 349. Ebd. Vgl. ebd., S. 93, 255 ff., 327. Ebd., S. 325. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 22, S. 176. Vgl. auch Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 256 : „L’anarchie a régné en France depuis Clovis jusqu’au dernier des Capet.“

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reich sei allen anderen Nationen um Jahrtausende voraus.261 „ Alles in der moralischen und politischen Ordnung muss geändert werden“,262 ruft Robespierre aus, und seine Worte werden von Saint - Just wiederholt. Im Augenblick der Revolution ähnele die Welt dem Globus : ihre eine Hälfte sei bereits erleuchtet, während der andere Teil noch in Dunkel gehüllt sei.263 Und hier wechseln Glaube und verzweifelte Sorge einander ab. Zuerst war die Hoffnung grenzenlos. So behauptete Robespierre in seiner Rede in der „Constituante“ über die uneingeschränkte Pressefreiheit, die Zeit sei gekommen, in der alle Wahrheiten ausgesprochen werden könnten – „toutes seront accueillies par le patriotisme“.264 Noch am 9. Juli 1792 hoffte Robespierre, die Regeneration des französischen Volkes könne ohne Blutvergießen durchgeführt werden. Nach der Hinrichtung des Königs hoffte er noch immer, nach dieser „großen Ausnahme“ würde die Todesstrafe nicht mehr verhängt werden.265 Noch im Februar 1793 behauptete er, die neue Ordnung sei in Frankreich bereits so tief ver wurzelt, dass keine wirkliche Reaktion möglich wäre. Die menschliche Vernunft sei eine ganze Zeit lang „langsam und auf Umwegen, aber doch sicher“ auf dem Wege gewesen, und jetzt sei die Welt Zeuge des wunderbaren Schauspiels „einer Demokratie, die in einem großen Reich bekräftigt“266 werde. „Diejenigen, die zur Anfangszeit des öffentlichen Rechts und während der Knechtschaft gegenteilige Grundsätze stammelten, sahen sie die Wunder voraus, die in einem Jahr vollbracht wurden ?“267 Eine grundverschiedene Stimmung wird in Robespierres letzter Rede ausgedrückt, in der er gestand, dass er nur Betrogene und Betrüger in der Welt sehe und nur sehr wenige großherzige Menschen, die die Tugend um ihrer selbst willen liebten und uneigennützig das Glück des Volkes wünschten.268 Ein ähnliches Gefühl drückt SaintJust an einer frappierenden Stelle seiner Institutions Républicaines aus, die irgendwann im Jahre 1794 geschrieben wurden. Der epigrammatische Stil hat etwas Unheimliches, etwas von der Atmosphäre des Terrors an seinem Höhepunkt. „Zweifellos ist die Zeit, Gutes zu tun, noch nicht gekommen. Das begrenzte Gute, das man tun kann, ist ein Palliativ. Wir müssen auf ein allgemeines Übel warten, das groß genug ist, um die öffentliche Meinung fühlen 261 262 263 264 265 266 267 268

Vgl. ebd., S. 350. Ebd., S. 349. Vgl. auch Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 6, S. 241–248. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 349. Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 5, S. 186. Vgl auch Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 30. Thompson, Robespierre, Band 2, S. 1. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 349–351. Ebd., S. 351. Vgl. ebd., S. 379–427; Aulard, Société des Jacobins, Band 6, S. 210.

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zu lassen, dass geeignete Maßnahmen notwendig sind, um Gutes zu tun. Das, was das Gemeinwohl herbeiführt, ist immer schrecklich oder erscheint seltsam, wenn damit zu früh begonnen wird. Die Revolution sollte bei der Ver vollkommnung des Glücks und der öffentlichen Freiheit durch die Gesetze haltmachen. Ihre Fluten haben kein anderes Ziel, sie müssen alles stürzen, was sich ihnen entgegenstellt. [...] Menschen sprechen vom Höhepunkt der Revolution ? Wer kann das bestimmen ? [...] Es hat freie Völker gegeben, die aus größeren Höhen stürzten.“269 Die gehobene Stimmung über das, was in so wunderbarer Weise vollbracht war, das Erstaunen darüber, dass Ideen zum Leben erstanden sind, ist nun gepaart mit der Besorgnis, die Menschen würden wankend werden und es würde der „Intrige“ gelingen, die Tugend für Generationen niederzuwerfen. Es ist eine Zeit des „Jetzt oder Nie“, denn im Falle eines Misslingens würde die Reaktion so groß sein wie die Entfernung, die die Revolution zurückgelegt habe, so als ob die Revolution im Begriff wäre, die Spitze eines steilen Anstiegs zu erreichen. Wenn kein Vorrücken zum Gipfel erfolgte, würde man Hals über Kopf in den Abgrund stürzen. Leidenschaftlicher Glaube, durchsetzt mit Besorgnis und Verzweif lung, bricht sich immer wieder Bahn. Wiederholt erklärten Robespierre und Saint - Just, diese oder jene Verordnung oder Säuberung sei die letzte, die allerletzte, diejenige, die sicherlich die Natürliche Ordnung einleiten würde.270 „Wenn sie nur auf diese spezielle Angelegenheit, die ‚Institutions Républicaines‘, gekommen wären, hätten alle Übel vermieden werden können, wären alle Verbrechen nicht geschehen !“, ruft Saint - Just aus.271

269 270

271

Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 508. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 419; Band 2, S. 183, 385, 476, 485, 491; ders. ( Hg.), Discours et Rapports, S. 277; Robespierre, Défenseur, Nr. 3, S. 113 ff.; Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 27; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 32, S. 45. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 155 f. : „Doux et tendre espoir de l’humanité, postérité naissante, tu ne nous es point étrangère; c’est pour toi que nous affrontons tous les coups de la tyrannie; c’est ton bonheur qui est le prix de nos pénibles combats : découragés souvent par les objets qui nous environnent, nous sentons le besoin de nous élancer dans ton sein; c’est à toi que nous confions le soin d’achever notre ouvrage, et la destinée de toutes les générations d’hommes qui doivent sortir du néant ! [...] Postérité naissante, hâte - toi de croître et d’amener les jours de l’égalité, de la justice et du bonheur !“ Becker, Heavenly City, wählte diese Stelle, um die Religion des achtzehnten Jahrhunderts zu illustrieren. Die Nachwelt tritt an die Stelle der ewigen Seligkeit. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 485.

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2. Die doktrinäre Mentalität Hier haben wir den messianischen Doktrinär als historisches Phänomen vor uns. Er ist ein Gemisch aus zwei Dingen : innerer fanatischer Gewissheit und einer Vorstellung, die man eine Bleistiftskizze der Wirklichkeit nennen könnte. Die Bleistiftlinien stellen die äußeren Facetten des sozialen Daseins dar, die Sehnen des institutionellen Apparats. Das Fleisch der nicht greifbaren, formlosen lebendigen Kräfte – Tradition, Imponderabilien, Gewohnheiten, menschliches Beharrungsvermögen und träger Konser vativismus – ist nicht da. Diese Faktoren werden einfach nicht zur Kenntnis genommen. Ebenfalls unberücksichtigt gelassen werden die Einzigartigkeit und die Unvorhersehbarkeit der menschlichen Natur und des menschlichen Verhaltens, die entweder aus den irrationalen Segmenten unseres Wesens herrühren oder aus dem menschlichen Egoismus. Der revolutionäre Doktrinär ist davon überzeugt, dass seine Bleistiftskizze das einzig Wesentliche ist, dass sie alles enthält, worauf es ankommt. Er erlebt die Wirklichkeit nicht als eine träge, form - und ziellose Gegebenheit, sondern als ein „dénouement“, eine dynamische Bewegung auf eine rationale Lösung zu. Die amorphe Masse ist unwesentlich und kann nach der Bleistiftvorlage geformt werden. Sie ist nicht etwas, das besteht, sondern etwas, das nicht oder noch nicht das ist, was es sein sollte. Ähnlich sind menschliche Idiosynkrasien und Eigenheiten, die das rationale Funktionieren der systematischen, abstrakten Vorlage stören, nicht etwas, das einfach hingenommen werden muss, sondern ein Zufall, der zu verhindern, zu beseitigen oder zu meiden ist. Ebenso wenig wird jemals die Tatsache zur Kenntnis genommen, dass eine siegreiche Doktrin schließlich in den lebendigen Führerpersönlichkeiten verkörpert ist, dass sie ihre persönliche Prägung erhalten und dadurch entstellt werden muss. Darum haben Pläne des linken Totalitarismus einen so universalen Charakter und sehen völlig über nationale und lokale Eigenheiten hinweg, ebenso wie ihnen das Problem des persönlichen Elements der Führerschaft völlig zu entgehen scheint und sie die Rolle der lebendigen menschlichen Persönlichkeit im Getriebe der Politik zu vergessen scheinen. Es ist eine vergeltende Gerechtigkeit und Ironie der Geschichte, dass der persönliche Führer wie ein deus ex machina eben von dieser Bewegung dann in der Realität her vorgebracht wird, um ihr aller wichtigster Faktor und ihre Verkörperung zu werden, das Haupt der kämpfenden Fraternität der Erwählten in ihrem Kampf mit allen Mächten der Finsternis. Wenn der revolutionäre Doktrinär von der Trägheit der Materie und dem „irrationalen“ egoistischen Verhalten der Menschen behindert wird, ver wandelt sich seine Ungeduld in Erbitterung. Die Kräfte des Widerstandes erscheinen als dumpfe Masse, die sich nicht rühren will, und zwar aus keinem anderen Grund als reinem Eigensinn oder – im Falle von Einzelpersonen –

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Verderbtheit und Egoismus. Dieser Widerstand erscheint dem Revolutionär umso ver wirrender und ärgerlicher nach dem großen Moment, in dem der Selbstausdruck des Volkes seinen revolutionären Höhepunkt und höchste Ekstase erreichte. Tatsache ist, dass der Revolutionsspasmus in der emotionalen Sphäre eine großartig vereinfachte Formel darstellt, die das Dasein auf eine einzige Emotion reduziert, so wie die Bleistiftskizze es in der intellektuellen Sphäre tut. Die unverdünnte Revolutionsekstase ist von sehr kurzer Dauer. Bald treiben die Menschen zurück in den Morast des stumpfen Konser vativismus, der Selbstsucht oder des neutralen Privatlebens. Die Ungeduld und Heftigkeit des rationalistischen Doktrinärs ver wandelt schnell die anfängliche Massenbegeisterung in eine grollende Feindseligkeit gegenüber der Revolutionsordnung. Es ist in modernen Revolutionen immer wieder geschehen, dass die innere Dynamik der Bleistiftskizzenrevolution zunehmend extremistische Doktrinäre her vorbrachte, während gleichzeitig die inartikulierten Massen dem revolutionären Bestreben gegenüber gleichgültiger und feindseliger wurden. Ein klassisches Beispiel für den Zusammenstoß zwischen der rationalistischen Doktrin und den Kräften des irrationalen Konser vativismus in der Französischen Revolution ist die Religion. Kein anderer Faktor war für die Revolution so verhängnisvoll wie der Angriff auf die Kirche. Die neue, sich ständig vergrößernde Starrheit der Ordnung resultiert in immer schärfer werdenden Zusammenstößen, größeren Rissen und Spaltungen an der Spitze. Fanatische Diktatur verschärft das Problem des menschlichen Egoismus gegenüber der fortschreitenden Gleichschaltung. Und so geschah es, dass mancher Revolutionär, der mit vollem Vertrauen auf die Institutionen einer Bleistiftskizzendoktrin zur Lösung aller Probleme begann in der Hoffnung, Bedingungen und Menschen würden von selbst zu einem harmonischen Ganzen werden, mit dem verzweifelten Beschluss endete, wie Moses einen neuen Menschentyp und ein neues Volk zu schaffen. Im Anfang der Französischen Revolution war die Verkündung der Menschenrechte; in ihrem Höhepunkt : Saint Justs Institutions Républicaines, Robespierres Kult des Höchsten Wesens und Lepeletiers Plan einer spartanischen Erziehung, den der Unbestechliche nach dem Tod des Märtyrers der Revolution übernahm.272 Der Doktrinär betrachtet die Bleistiftskizze niemals unter dem Gesichtspunkt des Zwanges. Sie beabsichtigt nicht, der Freiheit ins Gehege zu kommen; im Gegenteil, sie bezweckt ihre Sicherung. Nur die mit schlechten Absichten, die Selbstsüchtigen und Verderbten, können sich beklagen, ihre Freiheit sei verletzt. Sie machen sich dadurch der Sabotage schuldig, dass sie sich weigern, frei zu sein, und dass sie andere irreführen. Ihnen kann nicht die

272

Zu Lepeletiers Plan vgl. Villat, La Révolution, S. 239 ff.

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Freiheit gelassen werden, ihre schlechten Taten auszuführen, denn sie stehen im Krieg mit der Freiheit, die sich immer weiter entfaltet bis zu ihrer vollen Ver wirklichung. Die Freiheit kann erst wieder hergestellt werden, nachdem dieser Krieg zu Ende ist, erst wenn der Feind ausgemerzt und das Volk neu erzogen ist, das heißt, wenn es keine Opposition mehr gibt. Solange eine Opposition besteht, kann es keine Freiheit geben. „Die Revolution wird auf eine sehr einfache Weise und ohne ständige Beunruhigung durch die Faktionen zu Ende gehen“, sagte Robespierre in der Rede über die Prinzipien politischer Moral, „wenn alle ihrem Vaterland und seinen Gesetzen gleichmäßig ergeben sind. Aber wir sind noch weit von diesem Punkt entfernt [...]. Die republikanische Regierung sitzt noch nicht fest im Sattel, und es gibt Faktionen.“273 Die Revolutionsregierung habe zwei Aufgaben : den Schutz des Patriotismus und die Vernichtung der Aristokratie. Das Ziel werde nicht erreicht, solange die Faktionen weiter ihre Sabotage treiben.274 „Es ist unmöglich, die Freiheit auf unerschütterlicher Grundlage zu festigen, solange irgendjemand zu sich selbst sagen kann : Wenn heute die Aristokratie siegt, bin ich verloren.“275 Die „institutions sages“ der utopischen Ordnung können nur auf den Trümmern der unverbesserlichen Feinde der Freiheit gegründet werden. Robespierre benutzte in diesem Zusammenhang den Begriff der Demokratie.276 Sie war für ihn einerseits eine Regierungsform, andererseits eine soziale und sittliche Ordnung. Als Regierungsform bedeutete sie, harmlos genug, einen Zustand, in dem das souveräne Volk, geleitet von Gesetzen, die es selbst gemacht habe, alles selbst tue, was es selbst tun könne, und durch gewählte Vertreter, was es nicht selbst tun könne. Robespierre wandte sich bei dieser Gelegenheit scharf gegen die direkte Demokratie. Sie sei nicht länger nötig; das Volk habe vertrauenswürdige Vertreter. Als soziale und sittliche Ordnung war die Demokratie das einzige System, das fähig war, die Wünsche der Natur zu erfüllen, die Geschicke der Menschheit zu ver wirklichen und die Versprechungen der Philosophie wahr zu machen, indem sie die egalitäre Tugend auf den Thron erhob, wobei Tugend nur eine andere Bezeichnung ist für die allgemeine Bevorzugung des Gemeinwohls vor dem privaten Interesse, für die Liebe zu Vaterland und Gleichheit und für den Tod des Egoismus. Die Herrschaft der Tugend konnte nicht eingeführt werden, solange es Parteien gab, die ex definitione selbstsüchtige Faktionen waren. Um daher die Tugendherrschaft zu erreichen, müsse die Revolutionsregierung erst den Krieg der Freiheit gegen die Tyrannei zu Ende führen, die Faktionen vernichten und 273 274 275 276

Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 33, S. 337. Vgl. ebd. Ebd., S. 337 f. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 327 ff.

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den Revolutionssturm über winden. „Votre administration doit être le résultat de l’esprit du governement révolutionnaire, combiné avec les principes généraux de la démocratie.“277 Freiheit hat jedoch keine Bedeutung ohne das Recht auf Opposition und ohne dass es eine Opposition gibt. Die Vision der ungebundenen Freiheit am Ende der Tage und die Prophezeiung über das Aufhören des Konfliktes zwischen Freiheit und Pflicht in spontanem Gehorsam ohne ein Gefühl des Zwangs stellt sich überall dort als eine Fiktion heraus, wo die Vorstellung besteht, eine festgelegte Ordnung der Dinge sei durch anhaltenden Krafteinsatz zur Herrschaft zu bringen.278

3. Die Tugendherrschaft Saint - Just hätte jeden Vorschlag einer Diktatur als bleibender Regierungsform leidenschaftlich zurückgewiesen. Es ist ver wirrend, auf derselben Seite neben Ausdrücken des liberalen menschlichen Geistes des achtzehnten Jahrhunderts die mörderischsten Anschuldigungen zu lesen. Was Saint - Just über die Macht zu sagen hatte, hätte direkt aus der Feder von Lord Acton stammen können. „Die Macht ist so grausam und böse, dass sie, wenn man sie von ihrer Trägheit befreit, ohne ihr eine Richtung ( règle ) zu geben, geradeswegs zur Unterdrückung schreiten wird.“279 „Man muss streng sein in seinen Prinzipien, wenn man eine schlechte Regierung vernichtet, aber es geschieht selten, dass man dieselben strengen Prinzipien nicht ver wirft und sie nicht durch seinen eigenen Willen ersetzt, sobald man selbst an die Regierung kommt.“280 Saint - Just bekannte, dass er eine provisorische Regierungsform ganz besonders fürchte, da sie auf der Unterdrückung des Volkes begründet sei und nicht auf dem Gesetz oder natürlicher Harmonie. Sie sei eine Einladung an jeden Usurpator, unter dem Versprechen von Frieden und Ordnung eine Tyrannei einzuführen, und ein ausgezeichneter Vor wand, jede Opposition zu vernichten. In der Verfassungsdebatte warnte er den Konvent, sogar die Menschenrechte und konstitutionelle Freiheiten könnten in den Händen eines „sanften Tyrannen“, der es auf die Freiheit der Nation abgesehen hat, zur Waffe werden.281 Nicht Gewalt, sondern Weisheit sollte im Umgang mit dem Volk angewandt werden, denn das Volk sei im Grunde gut und gerecht und könne regiert wer277 278 279 280 281

Ebd., S. 327. Vgl. Oakeshott, Rationalism in Politics, S. 81–99. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 386. Ebd., S. 507. Ebd., Band 1, S. 422.

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den, ohne versklavt oder zügellos zu sein.282 Der Mensch sei zu Frieden und Glück und zum Leben in der Gesellschaft geboren. Sein Elend und seine Verderbtheit rührten von hinterlistigen Gesetzen der Beherrschung her und von der Lehre über die wilde und verderbte Natur des Menschen. Nachdem sie sich von Tyrannen hatten einreden lassen, dass sie sich gegenseitig vernichten würden, wenn sie frei blieben, beugten die Völker ihr Haupt unter das Joch des Despotismus und wurden unter seinem verderblichen Einfluss demoralisiert.283 „Jedes Volk ist zur Tugend geschaffen [...]; es sollte nicht gezwungen, sondern mit Weisheit geführt werden. Die Franzosen sind leicht zu regieren; sie wollen eine milde Verfassung [...]. Dieses Volk ist lebhaft und für die Demokratie geeignet, aber es sollte nicht zu sehr beansprucht werden durch die Last der öffentlichen Angelegenheiten. Es sollte ohne Schwäche regiert werden, aber auch ohne Zwang.“284 Grundlegend in all dem ist Saint - Justs Überzeugung, dass es eine inhärente Harmonie in der Gesellschaft gebe. Die Aufgabe einer Regierung bestehe nicht darin, einer Gesellschaft ihren eigenen Willen oder ihre eigene Ordnung aufzuzwingen, sondern die jener Harmonie entgegenstehenden Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Zu diesem Zweck sei der Terror eingeführt worden. Die Harmonie würde zwangsläufig zu ihrem Recht kommen, wenn alle Elemente des sozialen Lebens an ihren richtigen Platz gerückt worden seien. „Le gouvernement est plutôt un ressort d’harmonie que d’autorité.“285 Die Abschaffung der Tyrannei werde zwangsläufig den Menschen zu seiner wahren Natur zurückbringen. „Ôtez la tyrannie du monde, vous y rétablirez la paix et la vertu.“286 Das Volk werde sein Glück von selbst finden. Die Aufgabe der Regierung sei nicht so sehr, die Menschen glücklich zu machen, als zu verhindern, dass sie unglücklich werden. „Nicht unterdrücken, das ist alles. Jeder wird wissen, wie er sein eigenes Glück finden kann.“287 Ein Volk, das erst einmal von der abergläubischen Vorstellung befallen werde, es verdanke sein Glück seiner Regierung, werde es nicht lange erhalten. Die Menschenmengen, die sich in den Vorzimmern der Tribunale und Staatsämter drängten, legten ein beredtes Zeugnis ab von der Schlechtigkeit der Regierung. „C’est une horreur qu’on soit obligé de demander justice.“288 In das Privatleben der Bürger solle so wenig

282 283 284 285 286 287 288

Vgl. ebd., S. 421. Vgl. ebd., S. 419–421. Ebd., S. 419. Ebd., S. 420. Ebd., S. 424. Ebd., Band 2, S. 507. Ebd.

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wie möglich eingegriffen werden. „Die Freiheit des Volkes liegt in seinem Privatleben; stört es nicht. Stört nur die Übeltäter.“289 Gewalt solle nur angewandt werden, um den „Zustand der Einfachheit“ gegen die Gewalt selbst zu schützen, und nichts solle erzwungen werden außer Rechtschaffenheit und Achtung der Freiheit, der Natur, der Menschenrechte und der nationalen Vertretung.290 Es sei eine soziale Ordnung beabsichtigt, in der die Gefühle und Handlungen der Menschen sich von selbst zu einer so harmonischen Ordnung formen, dass jeder Zwang überflüssig werde. Unter Gesetzen, die seiner Natur entsprechen, werde der Mensch aufhören, unglücklich und schlecht zu sein. Wenn Böses seinen Interessen nicht mehr diene, werde die Gerechtigkeit dauernden und bestimmenden Einfluss gewinnen und zur Leidenschaft aller werden, und die Freiheit werde die oberste Herrschaft erlangen. Die revolutionäre Aufgabe bestehe darin, „die Natur und die Unschuld zur Leidenschaft aller Herzen“ zu machen. Solcher Wechsel könne schneller herbeigeführt werden als man denke, erklärt Saint - Just.291 Solcher Glaube wurzelt tief in den Prämissen des achtzehnten Jahrhunderts, die von Robespierre in seinen Reden über die Revolutionsordnung neu bekräftigt wurden.292 Das Revolutionsziel war, die Idee der kosmischen Pragmatik auf Erden zu rechtfertigen und die Dinge so zu ordnen, dass alles Sittliche auch nützlich und staatsklug sei und alles Unmoralische unklug, schädlich und konterrevolutionär. Robespierre unterschied – in Übereinstimmung mit Rousseau – zwei Arten der Eigenliebe, eine schlechte und grausame, die ausschließlich das eigene Wohl im Elend anderer sucht, und die andere, die großherzig und wohlwollend das eigene Wohlergehen mit Gedeihen und Ruhm des Vaterlandes gleichsetzt.293 Aus der Vereinigung der Natürlichen Ordnung mit der tugendhaften Veranlagung des Menschen würde die Identität von persönlichem und allgemeinem Wohl her vorgehen. Wirkliche Demokratie würde so ihre Früchte tragen, denn die Menschen würden nur ihrer eigenen tugendhaften Veranlagung folgen und nicht den Herrn brauchen, der dort unerlässlich ist, wo Tugend nicht natürlich und spontan ist.294 Das oberste Ziel der Politik sei daher, wie Mably behauptete, die Herzen der Menschen zu len289 290 291

292 293 294

Ebd. Vgl. ebd., S. 386, 507. Vgl. ebd., Band 1, S. 419 ff.; Band 2, S. 493. Vgl. außerdem Bureau Central ( Hg.), Réimpression de l’Ancien Moniteur, Band 16, S. 363 : „Fuyez la manie ancienne des gouvernements de vouloir trop gouverner; laissez aux individus, [...] familles.“ Vgl. auch Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 253, 257, 263. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 327 ff. Vgl. ebd., S. 351. Vgl. ebd., S. 328–331.

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ken, die Menschen dazu zu erziehen, das „moi personnel“ und den Hang zu kleinen, geringfügigen Dingen zurückzustellen. Je nach der Richtung, die den menschlichen Leidenschaften gegeben würde, könne der Mensch in den Himmel erhoben oder in den tiefsten Abgrund entwürdigt werden. „Le but de toutes les institutions sociales, c’est de les diriger vers la justice, qui est à la fois le bonheur public et le bonheur privé.“295 Wenn die Politik für das achtzehnte Jahrhundert eine Angelegenheit der Ethik war, so war das Problem der rationalen und endgültigen sozialen Ordnung eine Frage des Aufeinander - Abstimmens der Herzen. Dies war die entscheidende Entdeckung der Jakobiner nach der enttäuschenden Erfahrung mit der Volkssouveränität und ihren Einrichtungen als tugendbefreienden Kräften. Die neuen und fortgesetzten Unstimmigkeiten konnten nicht oder zumindest nicht mehr oder nicht voll erklärt werden aus dem Konflikt zwischen Royalismus und Revolution oder zwischen herrschenden und beherrschten Klassen, und es gab viele Faktoren, die das soziale und wirtschaftliche Problem unklar machten. „A quoi se réduit donc cette science mystérieuse de la politique et de la législation ? A mettre dans les lois et dans l’administration les vérités morales reléguées dans les livres des philosophes, et à appliquer à la conduite des peuples les notions triviales de probité que chacun est forcé d’adopter pour sa conduite privée.“296 Alles wird auf die Frage der Sittlichkeit und folglich der Erziehung zurückgeführt. Alles Übrige wird folgen, behauptet Saint - Just.297 Objektive Faktoren werden außerhalb der Betrachtung gelassen, es kommt nur auf das Bewusstsein der Menschen an. Die irrationalen, unsozialen, anarchischen Elemente im Menschen werden als zufällig angesehen; nur der rationale und soziale Teil der menschlichen Natur wird als wirklich und dauernd anerkannt. Sicher bestehen die Ersteren, doch können sie dazu gebracht werden, sich vor den Letzteren auszulöschen. Der Mensch und folglich die Gesellschaft als Ganzes können von neuem geformt werden. „Quel est le but où nous tendons ?“,298 fragt Robespierre. Man mag seine langschweifige Antwort lediglich als leeres Gerede und schwülstige Predigt behandeln. Aber auch hier glaubte Robespierre daran, dass die Vision, die er ausspann, etwas Erreichbares, Wirkliches war, voll genauer, kompakter Bedeutung. „Der Übergang vom Verbrechen zur Tugend“,299 der durch die Revolution vollzogen werden sollte, war für ihn eine

295 296 297 298 299

Ebd., S. 352. Ebd., S. 352. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 500 f. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 325. Ebd., S. 354 : „Passage du règne du crimes à celui de la justice.“

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tatsächliche Begebenheit, ein Wendepunkt, eine Neugeburt, ein bestimmtes Datum, wie der Übergang von einer Klassengesellschaft zu einer klassenlosen Gesellschaft für den kommunistischen Messianismus. Das Ziel ist „der friedliche Genuss der Freiheit und Gleichheit; die Herrschaft jener ewigen Gerechtigkeit, deren Gesetze nicht in Marmor oder Stein eingegraben sind, sondern in die Herzen aller Menschen, sogar in das Herz eines Sklaven, der sie vergisst, oder eines Tyrannen, der sie leugnet. Wir wollen eine Ordnung der Dinge, in der alle niedrigen und grausamen Leidenschaften gefesselt würden, alle wohlwollenden und großherzigen Leidenschaften durch die Gesetze geweckt, in der der Ehrgeiz dahin gehen würde, sich verdient zu machen und seinem Vaterland nützlich zu sein; in der Auszeichnungen keine andere Quelle haben als die Gleichheit selbst; in der der Bürger dem Magistrat untergeordnet ist, der Magistrat dem Volk und das Volk der Gerechtigkeit; in der das Vaterland das Wohlergehen jedes Einzelnen sichert, und jeder Einzelne voller Stolz den Aufschwung und Ruhm seines Vaterlands genießt; in der alle Seelen größer werden durch den fortgesetzten Austausch von republikanischen Gefühlen und durch die Notwendigkeit, die Achtung eines großen Volkes zu verdienen; in der die Künste der Schmuck jener Freiheit sein würden, die sie veredelt, und der Handel die Quelle öffentlichen Wohlstands und nicht nur des widernatürlichen Überflusses von ein paar Häusern. Wir wollen in unserem Land Egoismus durch Sittlichkeit ersetzen, Ehre durch Rechtschaffenheit, Gewohnheiten durch Prinzipien, gutes Benehmen durch Pflichten, die Tyrannei der Mode durch das Reich der Vernunft, die Verachtung des Unglücks durch die Verachtung des Lasters, Unverschämtheit durch Stolz, Eitelkeit durch Seelengröße, Liebe zum Geld durch Liebe zu rühmlichen Taten; gute Gesellschaft durch gute Menschen, Intrige durch Verdienst, Schöngeisterei durch Talent, Pracht durch Wahrheit, [...] ein liebenswürdiges, frivoles und unglückliches Volk durch ein großzügiges, mächtiges, glückliches Volk, das heißt alle Laster und Sinnwidrigkeiten der Monarchie durch alle Tugenden und Wunder der Republik.“300 Hat es je einen solchen Zustand auf Erden gegeben ? In den ganzen Jahrhunderten voll ununterbrochener Tyrannei und Verbrechen kennt die Geschichte nur eine kurze Atempause der Freiheit in einem winzigen Winkel der Erde – Sparta : „Brille comme un éclair dans les ténèbres immenses.“301 Das ist der Schlüssel zum Verständnis von Robespierre und Saint - Just : Sparta als Freiheitsideal.

300 301

Ebd., S. 325 f. Ebd., S. 348.

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„Hüten wir uns, Politik mit sittlicher Regeneration zu verbinden – das ist zurzeit eine undurchführbare Sache. Moralismus ist ein Verhängnis für die Freiheit“,302 schrieb Desmoulins. Für die Schaffung dieses Ideals greift Robespierre wieder auf die bürgerliche Religion zurück und Saint - Just auf einen utopischen Plan sittlicher Gesetzgebung, von ihm „Institutions Républicaines“ genannt. In beiden Fällen ist das Motiv Verzweif lung am spontanen souveränen Willen des Menschen. Nicht nur Enttäuschung – verzweifelte Angst. Der Mensch musste neu geschaffen werden.

4. Saint - Justs „Institutions Républicaines“ Saint - Just entwickelte einen mystischen Glauben an die Macht seiner „Institutions Républicaines“,303 den unsozialen Trieben der menschlichen Willkür Einhalt zu gebieten, das französische Volk zu regenerieren und alle Widersprüche in vollkommener, auf Tugend begründeter Harmonie aufzulösen. Sie sollten die Krönung der Revolution sein, die Revolution besiegeln. „Un état où ces institutions manquent n’est qu’une République illusoire.“304 Sie seien das Wesentliche an einer Republik, denn die Überlegenheit einer Republik gegenüber einer Monarchie liege genau darin, dass diese nur eine Regierung habe, während jene auch Institutionen besitze, die geeignet seien, das sittliche Ziel zu ver wirklichen. „C’est par là que vous annoncerez la perfection de votre démocratie [...], la grandeur de vos vues, et que vous hâterez la perte de vos ennemis en les montrant difformes à côté de vous.“305 Offenbar stellte er sich die Republik, wenn nicht in Begriffen einer Kirche, so zum mindesten in solchen einer geistigen Gemeinschaft vor, und die „Institutions“ als Einleitung des „Übergangs vom Verbrechen zur Tugend“. In seiner letzten und heroischen ( nicht gehaltenen ) Rede vom 8. Thermidor zur Verteidigung Robespierres erscheinen die „Institutions Républicaines“ als das Allheilmittel, das in verhängnisvoller Weise unbeachtet geblieben war und das allein, wie bereits vorher gesagt, die Lage retten kann und entscheidet zwischen völliger Verdammung und völliger Erlösung. Die Faktionen würden nicht verschwinden, solange nicht die „Institutions“ die Garantien bieten, die der Macht eine Grenze setzen und „den menschlichen Stolz unwiderruf lich unter das Joch der

302 303 304 305

Desmoulins, zit. in Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 13, S. 185. Die Bezeichnung „Institutions Républicaines“ findet sich schon bei Rousseau und Mably. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 230. Ebd., S. 385.

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öffentlichen Freiheit“ stellen.306 Saint - Just fleht die Vorsehung an, ihm noch ein paar Tage zu gewähren „pour appeler sur les institutions les méditations du peuple français“.307 All das Tragische, das sie erlebt hatten, wäre unter ihrer Herrschaft nicht geschehen. „Ils seraient vertueux peut - être, et n’auraient point pensé au mal, ceux dont j’accuse ici les prétentions orgueilleuses !“308 Die Rede endet mit einer förmlichen Aufforderung, den Plan der „Institutions Républicaines“ sofort in Erwägung zu ziehen.309 Saint - Justs Plan einer Regeneration sollte sowohl ein Heilmittel gegen den verderblichen Einfluss der Macht und gegen die Gefahr einer Substituierung der Gesetze durch den persönlichen Willen des Herrschers darstellen als auch eine universale Ordnung sittlichen Verhaltens formen. Die vorgeschlagenen Institutionen sollten ein so genaues und ins Einzelne gehendes System von Gesetzen aufstellen, dass weder Raum bleiben würde für menschliche Willkürhandlungen noch, in der Tat, für Spontaneität. Man würde nicht Menschen, sondern Gesetzen gehorchen, Gesetzen der Vernunft und der Tugend, und daher der Freiheit. Politik würde auf diese Weise gänzlich verbannt.310 „Wir müssen mit Hilfe der Institutionen den persönlichen Einfluss durch die Macht und die unbeugsame Gerechtigkeit der Gesetze substituieren. Die Revolution wird dadurch gestärkt werden; es wird keine Eifersüchte und keine Faktionen mehr geben; es wird keine anspruchsvollen Forderungen und keine Verleumdungen geben. [...] Wir müssen [...] die Überlegenheit der Tugend an die Stelle der Überlegenheit von Menschen setzen [...] der Politik die Macht nehmen dadurch, dass alles auf die kalte Herrschaft der Gerechtigkeit zurückgeführt wird.“311 Die Institutionen würden eine wirksamere Bremse gegen konterrevolutionäre Tendenzen sein als der Terror. Denn der Terror kommt und geht, je nach den Schwankungen der öffentlichen Meinung und Gefühle, und die Reaktion auf den Terror war normaler weise übermäßige Nachsicht. Die Institutionsgesetze würden „eine dauerhafte Strenge“ sichern.312 Die Institutionen würden die Kunst des Regierens einfacher, leichter und wirksamer machen. Zum Beispiel wäre für die Ausübung des Zensuramtes über das Verhalten – eine Idee, die Saint - Just besonders am Herzen lag – in einer schwachen Regierung mehr Weisheit und Tugend nötig als in einer starken, das heißt in einer auf Institutionen gegründeten Regierungsform. Denn 306 307 308 309 310 311 312

Vgl. ebd., S. 477. Ebd., S. 485. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 487. Vgl. ebd., S. 491. Vgl. ebd., S. 495–507. Ebd., S. 484, 495. Vgl. ebd., S. 239 f.

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in einer schwachen Regierung hinge alles vom Charakter der leitenden Männer ab, während in einem starken Regime die Gesetze alles vorgesehen hätten und eine vollkommene Harmonie dadurch sicherten, dass sie alle unvorhersehbaren Elemente im menschlichen Verhalten ausschlossen.313 „Dans le premier, il y a une action et réaction continuelle de forces particulières; dans le second, il y a une force commune, dont chacun fait partie, et qui concourt au même but et au même bien.“314 In seiner Angst vor menschlichem Egoismus und, vor allem, vor persönlichem Wettbewerb entwarf Saint - Just einen höchst paradoxen Plan. Da es mög lichst wenige Institutionen und leitende Männer geben sollte und da es wesentlich war, dass eine Institution durch ihre eigene Harmonie funktionierte, ohne durch den Zusammenstoß mit menschlicher Willkür gestört zu werden, dachte er, es sei wichtig, die Zahl der Menschen in den Institutionen und konstitutionellen Behörden zu verringern. In diesem Zusammenhang forderte Saint - Just eine Überprüfung der kollektiven Magistraturen wie Stadtver waltungen, Administrativkörperschaften, „Comités de sur veillance“ etc., um zu sehen, „ob nicht das Geheimnis einer dauerhaften Sicherung der Revolution darin zu finden sei, dass die Funktionen dieser Körperschaften jeweils in die Hände eines einzelnen Beamten“315 gelegt würden. In diesem Zusammenhang sind die fast identischen Aussagen von Barère, Prieur de la Côte - d’Or, Baudot und Lindet zu berücksichtigen, nach denen Saint - Just in einer Zusammenkunft der beiden Ausschüsse am 5. Thermidor die Aufstellung einer Regierung von „réputations ( oder députations ?) patriotiques“ bis zur Einführung der „Institutions Républicaines“ vorschlug. Barère berichtet, er habe gesagt, es sei dringend geboten, diktatorische Gewalt einem Mann zu übertragen, „der mit genügend Geist, Kraft, Patriotismus und Seelengröße begabt, [...] genügend durchdrungen ist vom Geiste der Revolution, dem Geist ihrer Prinzipien, ihrer verschiedenen Phasen, Handlungen und Organe – um die volle Verantwortung für die öffentliche Sicherheit und Aufrechterhaltung der Freiheit auf sich zu nehmen, [...] einem Mann, der die Gunst der öffentlichen Meinung und das Vertrauen des Volkes besitzt“.316 „Cet homme, je déclare que c’est Robespierre, lui seul peut sauver l’Etat“,317 soll Saint - Just gesagt haben. Dies entspricht, mag man hinzufügen, dem Geiste seiner berühmten Erklärung – „il faut dans toute Révolution un dictateur pour sauver l’Etat par la force, ou des censeurs pour le sauver par la vertu“.318 Von 313 314 315 316 317 318

Vgl. ebd., S. 506 f. Ebd., S. 507. Ebd., S. 502. Vgl. auch ebd., S. 230. Guérin, La Lutte de classes, Band 2, S. 274 f.; Barère, Memoirs, Band 2, S. 174 f. Guérin, La Lutte de classes, Band 2, S. 275. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 530.

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beiden Erklärungen ist es nur ein kleiner Schritt zu der verallgemeinerten Theorie der revolutionären Diktatur, wie sie später von Babeuf und Buonarroti formuliert wurde. Mit Robespierre als Diktator „qui puisse répondre [...] du maintien de la liberté“ – wäre seine Diktatur eine „Diktatur der Freiheit“ gewesen.319 Aus Angst vor dem Wettbewerb der Menschen verfiel Saint - Just auf die Idee des einen Mannes. Obwohl er an die Macht der Institutionen glaubte, die alles zustande bringen und die Herrschaft der Menschen ausschalten, musste er dennoch auf die Einheitlichkeit und reibungslose Leistungsfähigkeit, die durch den einzigen Geist gesichert wird, zurückgreifen. Saint - Just verstrickte sich in die unvermeidlichen Widersprüche, die die beiden miteinander nicht zu vereinenden Prinzipien enthielten : Volkssouveränität und eine ausschließliche Doktrin. Einerseits war er ängstlich bemüht, die menschliche Willkür und jede Opposition durch ein allumfassendes und ausschließliches System von Gesetzen zu bannen, und andererseits lag ihm ebenso sehr daran, das aktive Interesse des Volkes an seinen eigenen Angelegenheiten zu erhalten. Nichts verabscheute er mehr als die Monopolisierung öffentlicher Angelegenheiten durch eine Bürokratie, ehrgeizige berufsmäßige Politiker und Stellenjäger, und er fürchtete nichts mehr als die Gleichgültigkeit der Massen. Es war ihm bestimmt, dies geschehen zu sehen und sich selbst eingestehen zu müssen, dass nur wenige Menschen an etwas anderem als ihren Privatangelegenheiten interessiert waren und dass die meisten ein „lâche plaisir à se mêler de rien“320 zeigten. Die Magistrate usurpierten schnell sowohl die Regierung als auch die Volksgesellschaften und zerstörten die junge französische Demokratie, deren eigentliches Wesen in der Vormachtstellung des Volkes und nicht der Beamten bestand. „Où donc est la cité ?“,321 fragte er sich voller Verzweif lung. „Elle est presque usurpée par les fonctionnaires.“322 Cliquengeist und Intrige waren weit verbreitet. Der Terror hat die Bürger verscheucht. „La Révolution est glacée; tous les principes sont affaiblis; il ne reste que des bonnets rouges portés par l’intrigue. L’exercise de la terreur a blasé le crime, comme les liqueurs fortes blasent le palais.“323 Saint - Justs Zukunftsgemeinschaft steht unter dem Schutz des Höchsten Wesens. „Das französische Volk“, erklärt er, „erkennt das Höchste Wesen und die Unsterblichkeit der Seele an.“324 Die Tempel der bürgerlichen Religion, in 319 320 321 322 323 324

Guérin, La Lutte de classes, Band 2, S. 275. Vgl. insgesamt ebd., S. 273–276; Mathiez, Girondins et Montagnards, S. 160, 163. Ebd., S. 503. Ebd., S. 270. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 264. Ebd., S. 508. Ebd., S. 524.

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denen während vierundzwanzig Stunden des Tages Weihrauch gebrannt würde, sollten die Gemeinschaftszentren der Republik sein. Alle Gesetze sollten dort verkündet werden, und alle bürgerlichen Aktionen – mit Ausnahme besonderer patriotischer Feste – dort stattfinden und den Charakter religiöser Riten tragen. Obwohl alle Kulte gestattet wären, würden die äußeren Riten anderer als der bürgerlichen Religion verboten sein.325 Die Institutions stellen einen genauen Plan für einen spartanischen Typ der Jugenderziehung durch den Staat auf. Das Benehmen der jungen Leute und der Staatsbeamten sollte alle zehn Tage öffentlich im Tempel geprüft werden. Jeder Mensch über fünfundzwanzig sollte jedes Jahr erklären, wer seine Freunde sind und aus welchen Gründen er Freundschaften gebrochen hat. Freunde würden für einander verantwortlich sein. Treulose und undankbare Personen würden verbannt. Vorschriften über Heirat und über militärische Disziplin waren ebenso spartanisch. Feierliche patriotische Feste sollten das Volk mit bürgerlicher Frömmigkeit und nationalem Stolz erfüllen.326

5. Die bürgerliche Religion und die Verdammung der Intellektuellen Individuelle Spontaneität war so durch das objektive Postulat der Tugend ersetzt worden; innere Unabhängigkeit durch die ( nicht erzwungene ) Anerkennung der Verpflichtung; die Idee der Freiheit durch die Vision einer ausschließlichen Ordnung. Der andere wesentliche philosophische Gehalt des achtzehnten Jahrhunderts, Rationalismus, wurde schließlich von Mystizismus verdrängt. Immer war da die ungelöste Zweideutigkeit, das Nebeneinander zweier Eigenschaften im Ideal des achtzehnten Jahrhunderts, die vor allem bei Rousseau zum Ausdruck kam : die Annahme, das Ideal habe einen objektiven, ewigen Charakter – und es sei tief in die Herzen der Menschen eingegraben. Die ungelöste Zweideutigkeit schien die Frage des Zwangs zu lösen. Da die objektive Wahrheit auch immanent war im Bewusstsein des Menschen, bedeutete es keinen wirklichen Zwang, wenn er gezwungen wurde, sie zu befolgen. Es gab noch eine andere Zweideutigkeit : einerseits die optimistische Hoffnung, der Mensch ( oder das Volk ) würde frei und dadurch auch moralisch werden, würde die Wahrheit sehen und sie befolgen – andererseits die Angst vor menschlicher Willkür und Überheblichkeit. Bei Robespierre entwickelte sich dies bald zu einem Misstrauen gegenüber dem Intellekt.327 Wir sahen, wie er verlangte, die Freiheit solle in die Hände „der Wahrheit, die ewig ist“, gelegt 325 326 327

Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 516 ff. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 366.

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werden, statt in die Hände von Menschen, die vergängliche Geschöpfe sind. Robespierre und Saint - Just wurden misstrauisch gegen Intellekt und Scharfsinn. Die Sophismen des glänzenden Diskussionsredners, die Geschmeidigkeit und der Individualismus des Intellektuellen schienen nicht weniger gefährlich als die Sonderinteressen in den frühen Tagen der Revolution. Robespierre begann von „einem schnellen Instinkt“ zu träumen, „der ohne die spätere Hilfe der Überlegung“328 den Menschen dazu führen würde, Gutes zu tun und Schlechtes zu meiden. „La raison particulière de chaque homme“329 war ein Sophist, der zu leicht der Einflüsterung der Leidenschaft nachgab und sie zu leicht rationalisierte. In einer seiner letzten Reden griff Robespierre die Intellektuellen heftig an, die „hommes de lettres“, die sich in der Revolution „entehrt“ hatten. Die Revolution war eine Errungenschaft des einfachen Volkes, das von seinem Instinkt und von unverdorbener natürlicher Klugheit getragen wurde. „À la honte éternelle de l’esprit, la raison du peuple en a fait seule tous les frais. [...] Les prodiges qui ont immortalisé cette époque [...] ont été opérés sans vous et malgré vous.“330 Jeder einfache Handwerker hatte mehr Einsicht in die Menschenrechte gezeigt als die Bücherschreiber, die 1788 fast Republikaner waren und sich 1793 als Verteidiger des Königs entpuppten, wie Vergniaud und Condorcet.331 Robespierre tritt für den Rousseau der Profession de foi d’un Vicaire Savoyard ein, gegen den Atheismus der Enzyklopädisten und erklärt die Schlacht als wieder aufgenommen. Auf seine Anordnung werden die Büsten von Helvétius und Mirabeau im Klub niedergerissen und zerschlagen. Den Sophisten wird der Krieg erklärt.332 Die einzige Macht, die den verderblichen sophistischen Instinkt über winden kann, ist die Religion, die Idee einer höheren als menschlichen Autorität, die die letzte Sanktion der Sittlichkeit ist. „Was diesen verderblichen Instinkt zum Schweigen bringt oder ersetzt, und was die Unzulänglichkeit der menschlichen Autorität ausgleicht, ist der religiöse Instinkt, der in unsere Seelen die Idee einer Sanktion einprägt, die den sittlichen Geboten von einer höheren Macht als dem Menschen verliehen wird.“333 Robespierres Äußerungen zu diesem Gegenstand sind oft als unverdaute Übernahme von Voltaires Haltung ausgelegt worden. Er setzte sich dem Vor wurf des opportunistischen sozialen Utilitarismus aus durch seine ungeschickte Äußerung, er sei an der Religion nicht als Metaphysiker interessiert, son328 329 330 331 332 333

Ebd., S. 361. Ebd. Ebd., S. 365. Vgl. ebd., S. 366. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 2, S. 97 f.; Aulard, Société des Jacobins, Band 4, S. 550. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 361.

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dern als Staatsmann und sozialer Baumeister, für den wahr sei, was in der Welt nützlich und in der Praxis gut sei, ohne Rücksicht auf seine metaphysische Gültigkeit.334 Was Robespierre sagen wollte, war nicht, Religion hätte einfach um der sozialen Ordnung willen erfunden werden müssen, da das gemeine Volk nicht durch rationale Argumente dazu bewegt werden könne, ethisch zu handeln, sondern nur durch die Furcht vor Gott. Er wollte sagen, im Lichte kosmischer Pragmatik sei tatsächliche Existenz durch logische und pragmatische Kohärenz ausreichend erwiesen. Das Postulat der Gerechtigkeit und die Notwendigkeit einer Absicht in der universalen und sozialen Ordnung seien ein ausreichender Beweis für das Bestehen der Gottheit. Ohne Gottheit wären transzendentale Belohnung und Strafe, die logische und gerechte Struktur des Weltalls und der Gesellschaft ohne Basis. Das Fehlen einer solchen logischen Kohäsion sei undenkbar. Darum gebe es einen Gott, und die Seele sei unsterblich. Das Merkmal der sozialen Kohäsion sei wahrer und wesentlicher als wissenschaftliche, philosophische und theoretische Merkmale. Das Leben einer Gemeinschaft sei eine zu feierliche Erfüllung, als dass es von blinden Kräften hin - und hergeworfen werden könnte, die Guten und Bösen, Patrioten und Egoisten dasselbe Schicksal zumessen und die Unterdrückten ohne Tröstung lassen, Opfer von siegreicher böser Selbstsucht : „diese Art praktischer Philosophie, die den Egoismus zum System erhebt und darum die menschliche Gesellschaft als einen Krieg der List betrachtet, Erfolg als das Kriterium von Recht und Unrecht, Rechtschaffenheit als eine Geschmacksache.“335 Sittlichkeit sei, was sie ist, nicht weil Gott es befohlen habe und wir gehorchen müssen. Wir erfüllen uns nicht in der Kontemplation zu Gott hin. Der Ausgangspunkt und das einzige und letzte Kriterium sei das Dasein des Menschen in der Gesellschaft; das absolute Postulat : die Sittlichkeit, die unser Dasein in der Gesellschaft trägt. Die voll integrierte Gemeinschaft wird so zum höchsten Erlebnis, zur höchsten Form des Gottesdienstes. Die Vorsehung schwebt über ihr.336 334 335

336

Vgl. ebd., S. 359–369; Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 8, S. 337–352. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 364. Vgl. auch Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 13, S. 445; Band 25, S. 5; Band 30, S. 278, 287, 322; Vermorel ( Hg.), Œuvres de Robespierre, S. 337 ff.; Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 524. Mathiez, Révolution Française, Band 3, S. 177, wird dem Problem nicht gerecht; Thompson, Robespierre, Band 1, S. 216, erkennt den alten jüdischen Charakter von Robespierres Glauben an die Vorsehung; Guérin, La Lutte de classes, Band 1, S. 405 ff., S. 425 ff. „Les charlatans toujours nécessaires“ – diese Überschrift genügt, um einen Begriff von Guérins Einstellung zu geben. Ebd., S. 425 : „L’attitude déiste des déchristianiseurs découlait d’ailleurs de cette carance fondamentale; ils n’osèrent s’attaquer à l’idée de Dieu parce qu’ils ne voulurent et ne purent toucher à l’ordre social qui entretenait le besoin de Dieu.“

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V. Das sozia le Prob lem 1. Die inneren Widersprüche Die große Trennungslinie zwischen den beiden Hauptschulen des sozialen und ökonomischen Denkens in den beiden letzten Jahrhunderten war die Haltung zu dem Grundproblem: sollte die ökonomische Sphäre als offenes Feld betrachtet werden für das Spiel der freien menschlichen Initiative, der Fähigkeiten, der Hilfsquellen und der Bedürfnisse, worin der Staat nur gelegentlich eingreift, um die allgemeinsten und liberalsten Spielregeln festzulegen, um denen zu helfen, die am Wege liegen bleiben, um diejenigen zu bestrafen, die sich Betrügereien zu Schulden kommen lassen, und um ihren Opfern zu helfen – oder sollte die Gesamtheit der Mittel und menschlichen Fertigkeiten ab initio als etwas behandelt werden, das absichtsvoll geformt und gelenkt werden sollte nach einem bestimmten Prinzip, und dieses Prinzip war – im weitesten Sinne – die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Während die letztere Haltung alles Gewicht auf den Schaden legt, der den Schwachen zugefügt wird durch die Habgier derjenigen, denen es gelingt, alle Mittel zu monopolisieren, und auf die Unordnung und Ver wirrung, die durch das Fehlen einer allgemeinen Führung entsteht, behauptet die erstere, eine vom Staat garantierte soziale Sicherheit würde allen Anreiz zur Anstrengung – die Angst vor der Armut und die Hoffnung auf Gewinn und Auszeichnung – wegfallen lassen und daher eine Herabsetzung der Vitalität und eine Schwächung aller produktiven Bemühungen verursachen und dazu noch eine Drosselung der Freiheit durch zentralisierte Organisation. Im Grunde steht im Mittelpunkt der ganzen Debatte die Frage nach der menschlichen Natur : Konnte der Mensch in einem sozial integrierten System in einer solchen Weise neu erzogen werden, dass sein Handeln von anderen Motiven bestimmt würde als denjenigen, die im Konkurrenzsystem vorherrschten ? Ist der Drang nach freier wirtschaftlicher Initiative nichts anderes als rationalisierte Habsucht, oder ist er, im Gegenteil, Vorsorge? Und würden nicht beide unter einer gleiches wirtschaftliches Wohlergehen garantierenden Ordnung zwangsläufig aussterben, wie die kollektivistische Ideologie es lehrt ?337 337

Über das soziale und wirtschaftliche Problem der Revolution vgl. Mathiez, La Vie chère; Lefebvre, Les Paysans du Nord, ein Werk von überragendem Wissen und detaillierter Forschung; Jaurès, Histoire socialiste, widmet den ökonomischen Realitäten und dem sozialen und wirtschaftlichen Denken in der Revolution größte Aufmerksamkeit. Seine Zitate sind, wie gewöhnlich, äußerst aufschlussreich; Lefebvre, La Révolution et les paysans; Dolléans, La révolution et le monde ouvrier; Guérin,

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Es wurde gezeigt, dass die Denker des achtzehnten Jahrhunderts, die an der Idee eines rationalen, um nicht zu sagen wissenschaftlichen, Systems der Gesellschaft unbeirrbar festhielten, sich vor dieser Konzeption des sozialökonomischen Problems scheuten, von der man hätte annehmen sollen, sie sei dem Postulat der Natürlichen Ordnung inhärent. Der Jakobinismus kann als das praktische Experiment der Haltung des achtzehnten Jahrhunderts angesehen werden. Die jakobinischen Hemmungen in Bezug auf das Eigentum und ihr Zögern, auch das sozialökonomische Problem nach ihren eigenen allgemeinen Prämissen anzupacken, waren die Hauptursache für den utopischen, mystischen Charakter ihrer Vision der endgültigen sozialen Ordnung als einer Herrschaft der Tugend. In gewissem Sinne erscheint die Entwicklung des jakobinischen Denkens in der Frage des Eigentums durch die ganze Revolution hindurch als eine allmähliche Befreiung von Hemmungen, die sich unter der Wucht der Ereignisse vollzog und zu einer völligen Freisetzung in jenen NachThermidor - Jakobinern und - Robespierristen führte, die sich der Verschwörung des Babeuf anschlossen und die Idee von der Natürlichen Ordnung in Begriffen des ökonomischen Kommunismus neu auslegten. Die Jakobiner standen in der Revolution nicht in einer Linie mit den Massen. Diese hatten sich hinreißen lassen von der Idee der Menschenrechte und der revolutionären Hoffnung auf Erlösung; erbittert durch Hungersnot und Knappheit forderten sie ver wirrt und leidenschaftlich, die Revolution solle ihre Versprechungen erfüllen, das heißt, sie solle sie glücklich machen. So anarchisch und ungehobelt die Agitation der Enragés unter Führung von Jacques Roux und Varlet auch sein mochte, so naiv der Sozialismus solcher Pamphletschreiber wie Dolivier, Lange aus Lyon, Momoro und anderer – die ganze soziale Bewegung in der Revolution leitete sich von der messianischen Erwartung her, die durch die Idee von der Natürlichen Ordnung erzeugt worden war, und ging weit über den spasmatischen sozialen Protest und das Geschrei nach sofortiger Abhilfe hinaus.338 Diese Agitatoren mit oder ohne Programm, erfolgreich oder nicht

338

Espinas, Leroy sowie Laski in „The Socialist Tradition“ sind bereits erwähnt worden. Ihre Werke sind dem wachsenden sozialistischen Denken gewidmet, ebenso wie Lichtenberger, Le Socialisme et la Révolution. Eine spezielle Wirtschaftsgeschichte der Französischen Revolution muss erst geschrieben werden, und es steht zu hoffen, dass Labrousse sein großes Werk fortsetzen und die ganze Periode der Revolution in all ihren sozialen und wirtschaftlichen Aspekten behandeln wird. Zu den Engagés vgl. Mathiez, La Vie chère, S. 121 ff., 135 ff., 224 ff.; Guérin, La Lutte de classes, Band 1, Kapitel 1, S. 71 ff., Kapitel 2, S. 118 ff., Kapitel 4, Kapitel 5. Vgl. außerdem Jaurès, Histoire socialiste, Band 3, S. 392, Band 8, S. 211 ff. ( über Dolivier ); Band 4, S. 327 ( über Momoro ); Band 6, S. 128–151 ( über Lange ); Lichtenberger, Le Socialisme et la Révolution, S. 94 ( über Momoro ). Varlets Denken weist einen ausgesprochen Rousseau’schen Zug auf. Er spricht von dem „beständigen Willen“ der Mehrheit der Nation – der Armen – zu leben und nicht unterdrückt und aus-

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als Wortführer von Interessentengruppen, machten keine Politik. Die Revolution steuerten in der wichtigsten Epoche die Jakobiner. Da ihr ganzes Denken von der Idee einer rationalen und natürlichen Ordnung beherrscht war, gaben die Jakobiner nur unter größtem Widerstreben der Auffassung nach, es bestehe ein innerer Widerspruch zwischen einem rationalen politisch - ethischen System und einem freien Wirtschaftswesen. Die Revolution zwang sie zu Einsichten, die sehr ihren Überzeugungen widersprachen. Die Idee der unbegrenzten Volkssouveränität enthielt eine bestimmte soziale Dynamik. Die Armen waren die große Mehrheit der Nation und daher berechtigt, der kleinen Minderheit der Reichen Bedingungen zu diktieren. Mit dem Ausschluss der Armen vom aktiven politischen Leben der Nation erhielt das Problem eine bestimmte soziale Färbung, und durch die Schaffung eines Bewusstseinszustandes wurde die Tatsache des Konfliktes besiegelt. Außerdem ging das demokratische Volksideal – dank der Erinnerungen aus der Antike – immer von dem sozialen Radikalismus der großen griechisch - römischen Gesetzgeber aus, von Lykurg, Solon oder den Gracchen, und zu diesem Ideal gehörte die Abschaffung der Schulden an die Grundbesitzer, die Neuverteilung des Bodens und überhaupt die Herrschaft der Armen über die Reichen.339 Moralische Askese hatte von jeher die enthaltsamen Tugenden der Armen verherrlicht und die Laster des Reichtums verdammt. Es war außerdem eine Tatsache, dass unmittelbar, nachdem das Feudalsystem abgeschafft und die Herrschaft des Reichtums bestätigt worden war, die besitzenden Klassen ( die Bourgeoisie und die reicheren Bauern ), die allerlei Vorteile aus dem Verkauf der beschlagnahmten Kirchengüter gezogen hatten, nun dazu übergingen, einen Stillstand in der Revolution herbeizuwünschen. Sie fühlten in der Revolutionsdynamik eine Angriffsgefahr für ihr Eigentum und ihre neuen Gewinne. Während sie sich gegen die Revolution wendeten, wurde die Revolution – vor allem in der Seele Robespierres – immer mehr mit den Armen und Besitzlosen identifiziert.340 Und doch blieb die jakobinische Haltung bis zum Ende

339

340

gebeutet zu werden, siehe Jaurès, Histoire socialiste, Band 7, S. 36 f. : „Dans tous les États, les indigents forment la majorité !“ Eine Spezialuntersuchung über den Einfluss sozialer Konflikte und sozialen Radikalismus des Altertums auf das Denken im achtzehnten Jahrhundert und in der Revolution wäre erwünscht. Nur zwei Äußerungen über die wachsende soziale Kluft, die schon 1790 erfolgten, seien zitiert : Petion über „scission“, siehe Jaurès, Histoire socialiste, Band 3, S. 333 f.: „Le Tiers État est divisé [...]. La bourgeoisie, cette classe nombreuse et aisée, fait scission avec le peuple [...]. La bourgeoisie et le peuple réunis ont fait la Révolution; leur réunion seul peut la conserver.“ Mallet du Pan, zit. in ebd., S. 388 : „Le jour est arrivé où les propriétaires de toutes classes doivent sentir enfin qu’ils vont tomber à leur tour sous la faux de l’anarchie. [...] Héritage sera la proie du plus fort. Plus de loi, plus

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zweideutig und inkonsequent. Ihre Inkongruenzen wurden endgültig erst in der Babeuf’schen Bewegung gelöst. Der Konvent erließ zwar eine Kette von Gesetzen und Dekreten, die zu einer jedes Prinzip des Privateigentums und der freien Wirtschaft verletzenden wirtschaftlichen Diktatur führte, aber in fast ironischer Weise begann er diese Reihe am 18. März 1793 mit dem einstimmigen Beschluss der Todesstrafe gegen jeden, der einen Vorschlag unterbreite für ein „loi agraire“ oder irgendeinen Plan, der auf „Umsturz der Eigentumsverhältnisse des Bodens, des Handels und der Industrie“341 gerichtet sei. Noch im November 1792 hatte Saint - Just in seiner berühmten und äußerst düsteren Rede über die Versorgung seine Ablehnung von „lois violentes sur le commerce“342 proklamiert. Er setzte sich entschieden für freien Handel ein und schlug vor, der Konvent solle die Freiheit des Handels „sous le sauvegarde du peuple même“ stellen, obwohl er den Vorbehalt machte, uneingeschränkte Wirtschaftsfreiheit, „une très grande vérité en thèse générale“,343 könne einige Umdeutung im Zusammenhang mit den Übeln der Revolution erfordern. Es bestehe auch die Notwendigkeit, ein von den Verbrechen der Monarchie demoralisiertes Volk in der Tugend zu unterrichten. Ein Jahr und vier Monate später, am 26. Februar 1794 (8. Ventôse im Jahre II ), gab Saint - Just die bedeutungsvolle Erklärung ab, auf dem sozialen Gebiet führe die Macht der Umstände die Revolution „à des résultats auxquels nous n’avons point pensé“.344 Er schlug die Konfiskation allen Eigentums der Verdächtigen vor und seine Verteilung an die Armen mit der Begründung, das Eigentumsrecht sei bedingt durch politische Treue. In den letzten paar Monaten oder Wochen vor ihrem Sturz begannen die Robespierristen undeutlich und zögernd zu erkennen, dass ihr rationales und endgültiges System, um sinnvoll und dauerhaft zu sein, eine entsprechende Änderung in den sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen mit sich bringen müsse. Und so verband noch unmittelbar vor seiner Hinrichtung (7. Thermidor, 25. Juli 1794) Saint - Just in einem Aufflackern von Verständnis die Idee der Institutionen mit einem revolutionären sozialen Programm : „créer des institutions civiles et renverser l’empire de la richesse“.345 Doch wie zu zeigen sein wird, waren sogar diesem Beschluss Vorbehalte inhärent, die geeignet waren, das allgemeine Postulat aufzuheben.

341 342 343 344

345

de gouvernement, plus d’autorité qui puissent disputer leur patrimoine aux indigents hardis et armés qui, en front de bandière, se préparent à un sac universel.“ Jaurès, Histoire socialiste, Band 8, S. 95. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 1, S. 373. Vgl. auch ebd., S. 375. Ebd., S. 380, 385. Ebd., Band 2, S. 238. Die Enragés waren über Saint - Justs frühere Rede aufgebracht und verschrien ihn in einem Plakat als einen derjenigen, die „jeden Abend gut speisen“; vgl. Mathiez, La Vie chère, S. 140 ff., bes. S. 143 : „Levez haut le masque odieux.“ Vgl. auch Jaurès, Histoire socialiste, Band 7, S. 31. Villat, La Révolution, S. 286.

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2. Klassenpolitik Die jakobinische Haltung in Klassenfragen wurde mehr durch politische als durch soziale Überlegungen bestimmt. So gelangte Saint - Just zu dem Schluss, die Revolution werde durch einen verhängnisvollen Widerspruch zwischen der revolutionären Regierungsform und der sozialen Wirklichkeit bedroht. Er entdeckte, dass der Reichtum der Nation sich hauptsächlich in den Händen der Feinde der Revolution befand. Das arbeitende Volk, das die wahre Anhängerschaft des neuen Regimes darstellte, war in seinem Lebensunterhalt von seinen Feinden abhängig. Da die Interessen der beiden Klassen unvereinbar waren, konnte daraus nur eine Klassenpolitik zugunsten der die Republik unterstützenden Klasse folgen, die durchzuführen war auf Kosten der Reichen. Für Saint - Just bedeutete solche Politik die Ver wirklichung der Demokratie.346 Robespierres Denken entwickelte sich in ähnlicher Weise. Sein berühmter Katechismus beginnt mit der Frage : „Was ist unser Ziel ?“ Seine Antwort : die Durchführung der Verfassung zugunsten des Volkes. „Wer sind die Feinde ?“ Die Antwort : die Bösen und die Reichen, was dasselbe ist. Auf die Frage nach der Möglichkeit einer Vereinigung der Volksinteressen mit den Interessen der Reichen und ihrer Regierung gibt Robespierre die lakonische Antwort : „Niemals.“ Die letzte Frage und Antwort war von dem Unbestechlichen ausgestrichen worden, aber die Tatsache allein, dass er sie niedergeschrieben hatte, zeigt, in welche Richtung seine Gedanken gingen.347 In einer anderen Notiz Robespierres lesen wir, dass alle inneren Gefahren von der Bourgeoisie kämen. Um die Bourgeoisie zu besiegen, „il faut rallier le peuple“.348 Das Volk muss auf Kosten der Reichen bezahlt und unterhalten werden : für Teilnahme an öffentlichen Versammlungen bezahlt, als Revolutionsarmee aus besonderen Abgaben der Reichen, die sie über wachen sollten, bewaffnet und unterhalten und schließlich von der Regierung auf Kosten der Produzenten und Händler bezuschusst und versorgt. Dies waren die Prämissen der wirtschaftlichen Diktatur, die 1793 neben der politisch - terroristischen Diktatur entstand und zu deren Entstehen Robespierre und Saint - Just erheblich beitrugen, obwohl sie in gewissem Sinne nur dem heftigen Druck der Enragés nachgaben sowie der unausweichlichen Notwendigkeit der Lage : Krieg, Inflation und wirtschaftlichem Verfall.349 Die erste Serie von Dekreten wurde am 4. Mai 1793 erlassen, nachdem die Versammlung von Pariser Bürgermeistern und städtischen Beamten erklärt 346 347 348 349

Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 238 ff. Vgl. Courtois, Papiers inédits, Band 2, S. 13 f. Ebd., S. 15. Vgl. Mathiez, La Vie chère, Teil 2, Kapitel 3, Kapitel 4, Kapitel 7, Kapitel 9; Teil 3, Kapitel 1–3, Kapitel 9; Villat, La Révolution, S. 225 f., 251 f.

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hatte, das Volk sei bis zur Sicherung der Versorgung in einem „Zustand der Revolution“; man forderte feste Getreidepreise, was einer Abschaffung des freien Getreidehandels gleichkam, soweit die Vermittlung zwischen Produzenten und Konsumenten in Betracht kam.350 Die Konventsdekrete geboten den Erzeugern unter Androhung der Konfiskation, Erklärungen über ihre Erzeugnisse abzugeben. Privatwohnungen und Lagerhäuser waren Durchsuchungen unter worfen. Getreide und Mehl durften nur am öffentlichen Markt verkauft werden. Ein Höchstpreis wurde festgesetzt. Eine Zwangsanleihe von einer Milliarde Franken, die erste der von den Reichen erzwungenen Anleihen und Abgaben, wurde aufgelegt. Am 27. Juli 1793 stimmte der Konvent auf Antrag von Billaud - Varenne ( dessen Eléments de Républicanisme – neben Saint - Justs Institutions Républicaines – Beachtung verdienen als eine Darlegung der jakobinischen Sozialphilosophie ) für das berühmte Dekret zur Unterdrückung der Lebensmittelspekulation.351 Dieses Gesetz bedeutete ein Ende für die Freiheit des Handels und für jedes Geschäftsgeheimnis in praktisch allen Waren, außer Luxusartikeln. Ihm folgte ein Dekret über die „greniers d’abondance“, das alle Bäcker zu Staatsangestellten machte, obwohl es ihm nicht gelang, staatliche Kornspeicher aufzubauen. Am 29. September kam das Gesetz über das „allgemeine Maximum“, das Preise für alle Waren und auch für Löhne festsetzte und das zumindest in Paris durch ein Rationierungssystem ver vollständigt werden sollte.352 Dadurch, dass dieses Gesetz die Verkäufer zwang, mit Verlust und ohne Entschädigung zu verkaufen, war es nicht weniger eine Klassenmaßnahme als die progressive Steuer, die Zwangsanleihen, die Sonderabgaben und Konfiskationen, die von den Reichen erhoben wurden – alles dies mit der Absicht, Geld für den Krieg und für die Armen zu bekommen. Darüber hinaus war das Gesetz dazu geeignet, die kleinen Händler und Handwerker in die Stellung von Lohnempfängern zu bringen. Tatsächlich wurde am 15. Floréal ein Dekret verabschiedet, das die Mobilisierung aller in der Erzeugung und Verteilung von lebenswichtigen Gütern Beschäftigten zuließ. Es sah Strafen vor für Drückeberger, die als der Verschwörung schuldig galten. Am 22. Oktober wurde die aus drei Mann bestehende „Commission de Subsistances“ ernannt, die die wirtschaftliche Diktatur über ganz Frankreich ausüben und der angeblichen Sabotage und Unfähigkeit der lokalen Behörden, die bis dahin mit der Durchführung der wirtschaftlichen Dekrete beauftragt waren, ein Ende setzen sollte. Von hier war es nur noch ein Schritt zur Nationalisierung von Industrien. Der Gedanke lag tatsächlich den für die Sozialpolitik der Revolu350 351 352

Vgl. Villat, La Révolution, S. 225 f. Vgl. Billaud - Varenne, Éléments de Républicanisme, zit. in Lichtenberger, Le Socialisme et la Révolution, S. 121 f. Vgl. Villat, La Révolution, S. 251 f.

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tion Verantwortlichen nicht ganz fern. So drängte Chaumette den Konvent, „seine Aufmerksamkeit auf Rohstoffe und Fabriken zu konzentrieren, um sie unter Requisition zu stellen durch Festsetzung von Strafen für diejenigen, die Waren zurückhalten oder ihre Fabriken unbeschäftigt lassen; oder diese gar der Republik zur Verfügung zu stellen, die keinen Mangel an Arbeitskräften hat, um sie alle einem nützlichen Zweck zuzuführen“.353 Als ein Volksrepräsentant en mission entfaltete Saint - Just ein Beispiel von diktatorischer Handlungsweise und Klassenpolitik höchsten Ausmaßes. Er ließ Häuser von Spekulanten, Überschreitern der Höchstpreise und Hamsterern bis auf den Grund niederreißen, er beschlagnahmte in acht Tagen 5 000 Paar Schuhe und 15 000 Hemden (‚déchaussez tous les aristocrates‘ ), er beorderte den Bürgermeister von Straßburg, am gleichen Tag 100 000 Livres abzuliefern von der Abgabe, die den Reichen zugunsten armer Patrioten, Kriegswitwen und - waisen auferlegt worden war; er ließ den Reichsten, der seinen Anteil an der Neun - Millionen Zwangsanleihe nicht innerhalb von vierundzwanzig Stunden bezahlt hatte, drei Stunden lang auf der Guillotine festhalten; er ließ den zu zahlenden Betrag für jede Verzögerung verdoppeln und verdreifachen; er beschlagnahmte in vier undzwanzig Stunden 2 000 Betten, requirierte alle Mäntel, und so weiter.354

3. Grundlegende Fragen Eine Klassenpolitik, die durch die Revolutions - oder Kriegsnotlage her vorgerufen wurde, kann durchaus lediglich eine Ad - hoc - Politik sein und braucht keine wohler wogene und geplante Formung des sozialen und wirtschaftlichen Lebens in toto nach sich zu ziehen. Es gibt jedoch klare Anzeichen dafür, dass Robespierre und Saint - Just sich, wenn auch zögernd, über solchen Empirismus hinausgetrieben fühlten in Richtung auf eine Gesamtplanung nach einem bestimmten Prinzip. So machte Robespierre in seinen Reden über die Versorgung und über die Verkündung der Menschenrechte (1793) die nachdrückliche Unterscheidung zwischen den alten Gebräuchen und dem Postulat einer Neuordnung auf wirtschaftlichem Gebiet, entsprechend der großen politischen Veränderung, die stattgefunden hatte.355 Robespierre widersetzte sich der Ein353 354

355

Chaumette, zit. in Mathiez, Révolution Française, Band 3, S. 74; Jaurès, Histoire socialiste, Band 8, S. 271 f.; Guérin, La Lutte de classes, Band 1, S. 168 ff. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 160 ( Verordnungen vom 9. Nivôse, an II /3. Dezember 1792 zu Straßburg ), 186 ( Verordnungen vom 9. Pluviôse, an II /28. Januar 1793 zu Lille ), 132, 138, 143–146 ( Verordnungen vom 15., 17., 24. Brumaire zu Straßburg ). Vgl. Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 9, S. 391–395; Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 245–254.

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stellung des Konvents zu dem Problem mit der Begründung, dieser akzeptiere als höchste Autorität die Widersprüche und Launen früherer königlicher Minister. Die Gesetzgebung der beiden ersten Revolutionsassembléen zu diesem Gegenstand sei im alten Geist erfolgt, denn die Interessen und Vorurteile, die die Grundlage ihrer Politik bildeten, hätten sich nicht verändert. Die Verteidiger hungriger Bürger und die Fürsprecher der Armen wären in den Augen der früheren „Assembléen“ gefährliche Agitatoren und Anarchisten gewesen. Die „Assembléen“ und ihre Regierungen benutzten Bajonette, um Besorgnis zu zerstreuen und Hungersnot zu stillen. Ihre Idee der unbeschränkten Handelsfreiheit setze eine Prämie für Blutsauger aus. Ihr System sei im Wesentlichen unvollkommen, denn es stehe in keiner Beziehung zum „véritable principe“.356 Worin bestand dieses Prinzip ? Darin, dass die Versorgungsfrage nicht vom Gesichtspunkt des Handels, das heißt der reichen und herrschenden Klassen, sondern vom Standpunkt des Lebensunterhaltes des Volkes betrachtet werden müsse. Diese Unterscheidung ist höchst bedeutungsvoll. Sie kann den Wendepunkt bezeichnen zwischen freier Wirtschaft und Planwirtschaft. Es kommt hier entscheidend auf die Erkenntnis der Notwendigkeit eines grundlegenden Prinzips an. So erklärte Robespierre in seiner Rede über die Verkündung der Menschenrechte, in der er sich diesmal nicht mit dem Handel, sondern mit dem grundlegenden Problem des Privateigentums beschäftigt : „posons donc de bonne foi les principes du droit de propriété“.357 Dies sei umso notwendiger, als Vor urteil und eigennützige Interessen sich zusammengetan hätten, um einen dicken Nebel über die Angelegenheit zu breiten. Es war im Zusammenhang mit dem sozialen Problem, dass Saint - Just erklärte : diejenigen, die halbe Revolutionen machten, gruben ihr eigenes Grab. Und er sprach von den „quelques coups de génie“, die noch nötig seien, um die Revolution zu retten, um eine „wahre Revolution und eine wahre Republik“ zu gründen und die Demokratie unerschütterlich zu machen.358 Robespierre ermahnte die „Assemblée“, daran zu denken, dass sie eine neue Laufbahn auf der Erde begannen, „où personne ne vous a devancés“.359 SaintJust folgt nur Robespierre, wenn er in den Fragmenten über die „Institutions Républicaines“ von der Notwendigkeit einer Doktrin spricht, „die diese Prinzipien in die Praxis umsetzt und das Wohlergehen des Volkes als Ganzes sichert“.360 Er kam zu dieser Schlussfolgerung auch von einem anderen Blick356 357 358 359 360

Robespierre, zit. in Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 22, S. 177; Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 9, S. 391 ff. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 247. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 238. Robespierre, zit. in Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 22, S. 176 : „Vous commencez une nouvelle carrière où personne ne vous a devancés.“ Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, 514.

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winkel her. Er war sich darüber klargeworden, dass Ethik und Politik allein nicht ausreichten, um eine rationale Ordnung zu sichern. Die Einführung republikanischer „vertu“ müsse gleichberechtigt mit sozialer und wirtschaftlicher Reform vor sich gehen. Er habe erkannt, diese Dinge seien „analog und könnten nicht getrennt behandelt werden“.361 Die französische Wirtschaft, die durch Inflation und Krieg erschüttert sei, könne nicht ohne den Sieg der Moral über die Habgier stabilisiert werden. Es könne aber sittliche Reform nicht in einer Atmosphäre allgemeiner Not in Angriff genommen werden, und ein Verarmter würde nie ein Bürger voller Stolz und Selbstachtung werden. „Pour réformer les mœurs, il faut commencer par contenter le besoin et l’intérêt.“362 Die Revolution könne nicht wirklich gesichert werden, solange die Armen und Unglücklichen gegen die neue Ordnung aufgehetzt werden könnten. Das grundlegende Prinzip, für das die Robespierristen eintraten, bezog sich auf ein Postulat, das nicht an der Wirtschaftsexpansion und Wohlstandsvergrößerung interessiert war – dem maßen sie keinen großen Wert bei, sondern an wirtschaftlicher Sicherheit für die Nation, die für sie gleichbedeutend wurde mit den Massen. Robespierre erklärte, das Vermögen einer Nation sei im Wesentlichen Gemeineigentum, insofern es die dringenden Bedürfnisse des Volkes befriedigte. Nur der Überschuss könne als individuelles Eigentum betrachtet werden, das beliebig ver wandt werden könne, zur Spekulation, zur Aufspeicherung und zu monopolistischen Zwecken. Von diesem Gesichtspunkt aus müssen Nahrungsmittel als außerhalb der Sphäre des freien Handels stehend angesehen werden, denn sie betreffen das Recht des Volkes auf und die Mittel zur Erhaltung seiner physischen Existenz. Handelsfreiheit wäre in diesem Fall gleichbedeutend mit dem Recht, das Volk um sein Leben zu bringen : Freiheit zum Mord. Es mache wenig aus, wenn andere, nicht lebenswichtige Güter einen freien Markt haben, zurückgehalten und zu hohen Preisen verkauft werden, denn das Leben des Volkes hänge von ihnen nicht ab.363 Es war ganz natürlich, dass Robespierre die Anschauung ver warf, Eigentum sei heilig und rechtsgültig lediglich durch die Tatsache seines Bestehens, durch seine altehr würdige Vergangenheit. Für ihn bestand die Notwendigkeit eines sittlichen Prinzips als Grundlage für die Idee des Eigentums. Privateigentum sei kein natürliches Recht, verkündete er, sondern gesellschaftliche Übereinkunft. Eine Verkündung der Menschenrechte, die alles bestehende Eigentum als natürlich heiligen würde, wäre eine Verkündung zugunsten der Spekulanten und Reichen, und nicht für den Menschen und das Volk. Das Eigentumsrecht müsse zum mindesten ( wie das heiligere, weil natürliche Recht auf Frei361 362 363

Ebd., S. 511. Ebd., S. 513. Vgl. Robespierre, Lettres à ses Commettants, Serie 1, Nr. 9, S. 396 ff.

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heit ) eingeschränkt werden durch die Rechte und Bedürfnisse anderer. Eigentum sei ein Recht, den Teil des Nationalvermögens, der durch das Gesetz garantiert ist, zu genießen und über ihn frei zu verfügen. Jeder Besitz oder Handel, der die Sicherheit, Freiheit, das Dasein oder Eigentum anderer verletzt, sei unzulässig und unmoralisch. Die Armen und Besitzlosen haben einen heiligen Anspruch an die Gesellschaft auf einen Lebensunterhalt in Form von Beschäftigung – das Recht auf Arbeit von 1848 – oder Unterstützung. Das sei die Schuld, die die Reichen den Armen schuldeten. Diese Schuld solle getilgt werden durch progressive Besteuerung, die auch die Tendenz haben würde, Vermögen und Einkommen zu nivellieren.364 Denn, wie Robespierre in einer früheren Rede über das Erbrecht gesagt hatte, der Gesellschaftsvertrag dürfe nicht Ungleichheit fördern, sondern müsse so abgefasst sein, dass er der Tendenz zur Ungleichheit entgegenwirke und mit allen Mitteln die natürliche Gleichheit wiederherzustellen anstrebe.365 Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass hier nicht gemeint war, der unglückliche Arme habe ein Recht auf Almosen und die Regierung die Pflicht, ihm zu Hilfe zu kommen, sondern es wurde die Idee vertreten, die Bedürfnisse der Armen seien der Brennpunkt und der Grundstein des sozialen Gebäudes. „Das Brot, das die Reichen geben, ist bitter“,366 erklärte Saint - Just. „Es kompromittiert die Freiheit : Brot gebührt dem Volk von Rechts wegen in einem weise eingerichteten Staat.“367 Wirtschaftliche Abhängigkeit des Menschen von seinem Nächsten sei ver werf lich. Der Staat müsse sie beseitigen. Wenn Privateigentum letztlich nicht mehr ist als eine vom Staate zugestandene Konzession, sei der Staat berechtigt, alle Güter und Besitztümer, aus denen sich das Volksvermögen zusammensetzt, zu ver wenden, zu verändern und über sie zu verfügen. Saint - Just warf eine Anzahl von Schlagworten hin, die zu Babeufs Losungsworten werden sollten. „Les malheureux sont les puissances de la terre; ils ont le droit de parler en maîtres aux gouvernements qui les négligent.“368 Das Wohlergehen der Armen sei die Hauptaufgabe einer Regierung. Die Revolution ist nicht vollendet, „solange es einen einzigen unglücklichen und armen Menschen in der Republik gibt“.369 Es ist sehr bezeichnend, dass Saint - Just, der unter den Führern der Revolution für gewöhnlich der am wenigsten kosmopolitische ist, einen feierlich - propagandistischen Ton anschlägt, wenn er das soziale Problem behandelt. „Que l’Europe apprenne que vous ne voulez plus un malheureux ni un oppresseur sur le territoire français, que cet exemp364 365 366 367 368 369

Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 247 ff. Vgl. Vermorel ( Hg.), Œuvres de Robespierre, S. 183, 192 f. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 79. Ebd. Ebd., S. 238. Ebd., S. 240 f.

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le fructifie sur la terre; qu’il y propage l’amour des vertus et le bonheur ! Le bonheur est une idée neuve en Europe.“370 Diese Idee des Glücks, die von Babeuf und den Nachfolgern des Jakobinismus im neunzehnten Jahrhundert bis 1848 aufgegriffen wurde, war neu in ihrem herausfordernden Ton und auf einer gänzlich verschiedenen Ebene sowohl gegenüber dem Recht auf Glück, wie Locke und die Väter der Amerikanischen Verfassung es vertraten, als auch gegenüber dem Recht auf Unterstützung, das von dem berühmten Bericht des „Duc de la Rochefoucauld“ in der Verfassunggebenden Versammlung anerkannt worden war. Saint - Just führt einen neuen und zusätzlichen Gesichtspunkt in die Analyse der Frage des Privateigentums ein. Er fügte zu Robespierres sittlichen und sozialen Argumenten einen politischen Gesichtspunkt hinzu. Das Recht auf Eigentum wurde für ihn, wie bereits früher gesagt, bedingt durch politische Treue.371 Jemand, der sich als Feind seines Vaterlandes erwiesen hatte – das heißt : ein Konterrevolutionär – hatte kein Recht, Vermögen zu besitzen. Nur derjenige, der zur Befreiung des Vaterlandes beigetragen hatte, besaß Rechte. Das Eigentum der Patrioten war heilig, doch die Besitzungen der Verschwörer „sont là pour tous les malheureux“.372 Die praktische und unmittelbare Anwendung dieses Prinzips waren Saint - Justs berühmten „Lois de Ventôse“ über die Beschlagnahme des Vermögens der Verdächtigen und seine Verteilung an die armen Patrioten, deren Ausführung durch die Thermidor - Ereignisse verhindert wurde, die aber eine ungeheure Vermögensverschiebung, eine wahre soziale Revolution beabsichtigt hatten.373 Und doch war der Hauptzug im jakobinischen Denken über das soziale Problem seine mangelnde Kohärenz. Die jakobinische Haltung zeigt durchweg unverkennbare Anzeichen von Verlegenheit. Es wurde oft vermutet, die „sozialistischeren“ Äußerungen Robespierres und Saint - Justs seien lediglich Lippendienst, dazu bestimmt, der Agitation der Enragés entgegenzuwirken, und bezahlt von Männern, die in ihrem Herzen typische Vertreter der Bourgeoisie waren. Dies war nicht wirklich der Fall. Robespierres Erklärungen, die Ausdruck einer bourgeois - feindlichen Politik sind, finden sich in seinen vertraulichen Notizen, die nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, Worte der Beruhigung und Versicherung, an die besitzenden Klassen gerichtet, übrigens in 370 371 372 373

Ebd., S. 248. Vgl. ebd., S. 238. Ebd. Vgl. ebd., S. 242 ff., 248 ff.; Mathiez, La Terreur, instrument de la politique sociale; ders., Les Séances des 4 et 5 Thermidor. Latour - Lamontagne, zit. in Lichtenberger, Le Socialisme et la Révolution, S. 171 f., zur Aufnahme der Ventôse - Gesetze durch das Volk : „Dans tous les groupes, dans tous les cafés [...] joie universelle [...]. c’est à présent, disait - on, que la République repose sur des bases inébranlables; aucun ennemi de la Révolution ne sera propriétaire, aucun patriote ne sera sans propriété. [...] Comme colons romains.“

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nachlässigem und verächtlichem Ton, erscheinen in Robespierres öffentlichen Äußerungen, haben aber keinen Gegenpart in seinem „carnet“. Wenn die wahrhaftigsten Gefühle eines Menschen diejenigen sind, die er für sich behält, so folgt, dass nicht Robespierres Sozialismus, sondern sein Konser vatismus als Ausdruck von Opportunismus zu werten ist. Das erschöpft jedoch die Sache nicht.374 Es ist klar, dass weder Robespierre noch Saint - Just sich eins fühlten mit den proletarischen Klassen in ihrem Kampf gegen die besitzenden Klassen. Gelegentlich konnte zwar Robespierre sich eines Vokabulars bedienen, das sich nicht sehr von der Sprache der Enragés entfernte : Wenn das Volk hungrig ist und von den Reichen verfolgt wird, wenn es von den Gesetzen, die es beschützen sollen, keine Hilfe bekommen kann, ist es berechtigt, gegen die Blutsauger „für sich selbst zu sorgen“.375 Trotzdem hatte er nur Worte der Verurteilung für die Taktiken und das Temperament der Enragés, „die jedem Händler den Kopf abschneiden möchten, weil er zu hohen Preisen verkauft“.376 Er betrachtete sie als verrückte Anarchisten und Werkzeuge einer konterrevolutionären Verschwörung. Robespierres Ausgangspunkt war nicht Klassenbewusstsein, sondern die Idee sozialer Harmonie, fußend auf der egalitären Konzeption der Menschenrechte. Das Ziel war nicht der Sieg einer Klasse und die Unter werfung der anderen, sondern ein Volk, in dem Klassenunterschiede keine Bedeutung mehr hatten. Die oberen Klassen stellten einen diese Prinzipien verletzenden Faktor dar und mussten daher in die Knie gezwungen werden. Von der Masse des Volkes wurde angenommen, es habe keine unsozialen Interessen. Es war tugendhaft und frei von Überheblichkeit und von den Lastern, die durch Reichtum her vorgerufen werden.377 Daher rührte einerseits die gewissermaßen gönner374 375 376 377

Vgl. Aulard, Histoire politique, S. 291; Guérin, La Lutte de classes, S. 233 ff. Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 44; Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 28, S. 410 f.; Band 29, S. 25. Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 330. Ebd., S. 336 : „Scélérats déguisés [...] sous l’habit respectable de la pauvreté.“ Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 12, S. 591 f. : „Combien le peuple fut grand dans toutes ses démarches [...]. Riches, égoïstes, stupides vampires, engraissés de sang et de rapines, osez donc encore donner au peuple le nom de brigand; osez affecter encore des craintes insolentes pour vos biens méprisables, achetés par des bassesses; osez remonter à la source de vos richesses, à celle de la misère de vos semblables; voyez, d’un côté, leur désintéressement et leur honorable pauvreté; de l’autre, vos vices et votre opulence, et dites quels sont les brigands et les scélérats. Misérables hypocrites, gardez vos richesses qui vous tiennent lieu d’âme et de vertu : mais laissez aux autres la liberté et l’honneur.“ Vgl. auch Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 44 : „Le peuple souffre; il n’a pas recueilli le fruit de ses travaux; il est encore persécuté par les riches.“

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hafte Haltung Robespierres und Saint - Justs gegenüber dem Proletariat und andererseits ihre Besorgnis, es nicht zum Bruch kommen zu lassen. In einem charakteristischen Satz einer späten Rede äußert Saint - Just seine ungeduldige Missbilligung über Leute aus der Handwerker - und Arbeiterklasse, die sich völlig ihrer Leidenschaft für Politik ergeben hatten, zu öffentlichen Versammlungen strömten und nach politischen Stellungen jagten, anstatt ihre Arbeit zu tun, wie ihre ehrbaren, sich schwer mühenden Väter.378 In einer seiner letzten Reden, einige Zeit nach der Veröffentlichung der Ventôse - Gesetze, drängte Saint - Just den Konvent, es sei nötig, die öffentliche Meinung zu beruhigen in der Frage der Sicherheit des Eigentums, insbesondere der kürzlich vom Staate gekauften Besitzungen von Kirche und Emigranten. „Il faut assurer tous les droits, tranquilliser les acquisitions; il faut même innover le moins possible dans le régime des annuités pour empêcher de nouvelles craintes, de nouveaux troubles.“379 Robespierre empfand es als recht peinlich, dass er, der das Geld verachtende Moralist, dazu getrieben wurde, das Geld als den entscheidenden Faktor in der Gesellschaftsordnung erscheinen zu lassen. In dieser Verlegenheit war natürlich auch ein Element der Angst und ein unbewusster Wunsch, dem Problem aus dem Weg zu gehen. Er beruhigte die „âmes de boue“, die Besitzenden, dass sie sich nicht um ihren Besitz zu beunruhigen brauchten.380 Die Sansculotten, die ewigen Prinzipien nachgingen und die „chétives marchandises“ nicht als ein genügend hohes Ziel ansahen, verlangten keine Gütergleichheit, sondern nur gleiche Rechte und ein gleiches Maß von Glück. Überfluss war nicht nur die Prämie des Lasters, sondern auch seine Strafe.381 „L’opulence est une infamie“,382 sagte Saint - Just. Die Kinder eines rechtschaffenen und armen Aristides, die auf Kosten der Republik erzogen wurden, waren glücklicher als die Nachkommen von Crassus in ihren Palästen, lehrte Robespierre.383 Robespierre schreckte davor zurück, die besitzende Klasse als Ganzes und ohne Rettung zu verdammen, nur wegen der Sünde ihres Reichtums. Worauf es ankäme, sei die Veranlagung eines Menschen. In der guten alten Tradition katholischer Homiletik lehrte Robespierre, ein Mensch könne großen Reichtum besitzen und sich doch nicht reich fühlen. Er widersetzte sich bei einer Gelegenheit einem Antrag, wonach Mitglieder des Konvents ihr Vermögen zu deklarieren hätten. Er bestritt, dass das der letzte Prüfstein des Patriotismus 378 379 380 381 382 383

Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 267. Ebd., S. 369. Vgl. Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 246 ff.; Aulard, Société des Jacobins, Band 6, S. 43. Vgl. Aulard, Société des Jacobins, Band 5, S. 44, 179. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 514. Vgl. Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 176.

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sei. Der Prüfstein sei lebenslange Hingabe an Tugend und Volk. Nicht einmal die sichtbaren Zeichen des Dienstes, wie bezahlte Steuern oder ausgeführte Wachen, seien das Kriterium, sondern die Veranlagung, die sich in einer allgemeinen und fortdauernden Haltung äußerte. In der Tat ein sehr unbestimmtes Merkmal. Bei einer Gelegenheit erklärte Robespierre: „La République ne convient qu’au peuple, aux hommes de toutes les conditions, qui ont une âme pure et élevée, aux philosophes amis de l’humanité, aux sansculottes.“384 Er verurteilte die Faktionen, die gerade ihr Schicksal ereilt hatte, dafür, dass sie versuchten, die Bourgeoisie mit dem Gespenst des Agrargesetzes zu schrecken, und darauf hinarbeiteten, die Interessen der Reichen von denen der Armen zu trennen, indem sie sich als die Beschützer der Armen darstellten.385 Der letzte Prüfstein war die Tugend; nur, während das Volk fast von Natur ( und nach der Definition) tugendhaft war, mussten die Reichen sich dafür sehr anstrengen. Saint - Just bemühte sich, der Tugend im sozialen Sinn eine konkrete Bedeutung zu verleihen. Er erklärte, die Arbeit sei ein integraler Teil der Tugend, Müßiggang ein Laster. Nach ihm gab es eine direkte Beziehung zwischen der Menge der Arbeit und dem Wachstum von Freiheit und Sittlichkeit in einem Land. Die müßige Klasse sei die letzte Stütze der Monarchie : „promène l’ennui, la fureur des jouissances et le dégoût de la vie commune“.386 Sie müsse abgeschafft werden. Jeder müsse zur Arbeit gezwungen werden. Wer nicht arbeite, habe keine Rechte in einer Republik. „Il faut que tout le monde travaille et se respecte.“387 384 385

386 387

Robespierre, zit. in Buchez / Roux, Histoire parlementaire, Band 25, S. 337. Vgl. ebd.; Robespierre, Défenseur, Nr. 4, S. 175 f. : „Ne les a - t - on pas vus, dès le commencement de cette révolution, chercher à effrayer tous les riches, par l’idée d’une loi agraire, absurde épouvantail, présenté à des hommes stupides par des hommes per vers ? Plus l’expérience a démenti cette extravagante imposture, plus ils se sont obstinés à la reproduire, comme si les défenseurs de la liberté étaient des insensés capables de concevoir un projet également dangereux, injuste et impraticable; comme s’ils ignoraient que l’égalité des biens est essentiellement impossible dans la société civile; qu’elle suppose nécessairement la communauté qui est encore plus visiblement chimérique parmi nous, comme s’il était un seul homme doué de quelque industrie dont l’intérêt personnel ne fut pas contrarié par ce projet extravagant. Nous voulons l’égalité des droits parce que sans elle, il n’est ni liberté, ni bonheur social : quant à la fortune, dès qu’une fois la société a rempli l’obligation d’assurer à ses membres le nécessaire et la subsistance par le travail [...]. Les richesses qui conduisent à tant de corruption, sont plus nuisibles à ceux qui les possèdent qu’à ceux qui en sont privés.“ Vellay ( Hg.), Discours et Rapports, S. 246 : „L’égalité des biens est une chimère [...] moins nécessaire encore au bonheur privé qu’à la félicité publique. Il s’agit bien plus de rendre la pauvreté honorable que de proscrire l’opulence.“ Vgl. auch Vermorel ( Hg.), Œuvres de Robespierre, S. 185 ff., 189. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 269. Ebd., S. 509.

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Die jakobinische Improvisation

4. Restriktionismus und Individualismus Das Postulat eines endgültigen Prinzips für die Leitung des Wirtschaftslebens der Nation, das von Robespierre und Saint - Just zum Ausdruck gebracht wurde, erwies sich als sehr weit entfernt von Staatseigentum an den Produktionsmitteln oder von Kollektivismus, obwohl in ihm ein Versuch der Gesamtplanung und Leitung durch den Staat angedeutet war. Es sieht soziale Sicherheit und wirtschaftliche Unabhängigkeit des Einzelnen vor, durch den Staat garantiert und aktiv unterhalten. Es ist eine Mischung von Restriktionismus und Individualismus. Es versagt freie Wirtschaftsexpansion aus Angst vor Ungleichheit und aus Askese, und ist doch von dem heimlichen Wunsch beseelt, die Freiheit des Handels wiederherzustellen. Robespierre ver warf völlige Vermögensgleichheit recht nachdrücklich als Hirngespinst und eine Gütergemeinschaft als undurchführbaren Traum, der den persönlichen Interessen des Menschen widerspreche. Das „loi agraire“ sei ein Phantom, erfunden von Bösewichten, um die Dummen zu schrecken.388 Das Problem der sozialen Sicherheit war für Saint - Just nicht eine Frage von Almosen und Wohltätigkeit, nicht einmal von Pensionszahlungen, sondern die Frage einer Gesetzgebung zur Verhinderung der Armut. Der Mensch sei nicht für das Armenhaus geboren, sondern um ein zufriedener und unabhängiger Bürger zu sein. Damit das so werde, sollte jeder sein eigenes Land zur Bearbeitung haben. Für jeden sollte Boden zur Verfügung gestellt werden, entweder durch Enteignung der Gegner des Regimes oder aus den großen Staatsdomänen, die eigens zu diesem Zweck angelegt werden sollten. Nur Invaliden sollten in die Lage versetzt werden, Almosen zu erhalten. Es sei die Pflicht des Staates, allen Franzosen die Mittel zum Erwerb der Lebensnotwendigkeiten zu geben, ohne von irgendjemand oder irgendetwas anderem abhängig zu sein als den Gesetzen „et sans dépendance mutuelle dans l’état civil“.389 Sicherheit müsse von Gleichheit begleitet werden, die auch vom Staat mit Hilfe restriktiver Gesetze zu erzwingen sei. Es müsse Gleichheit geben. Es solle weder Reiche noch Arme geben. Eine Grenze müsse festgesetzt werden für das Vermögen, das eine Person besitzen dürfe. Nur diejenigen würden als Bürger betrachtet werden, die nicht mehr besitzen, als das Gesetz ihnen gestattet. Übermäßige Vermögen würden durch besondere Maßnahmen allmählich beschnitten und ihre Besitzer zu strenger Sparsamkeit gezwungen. Indirekte Erbschaft und Legate würden abgeschafft. Jeder sollte zur Arbeit gezwungen werden. Untätigkeit, Anhäufung von Zahlungsmitteln und Vernachlässigung 388 389

Robespierre über Kommunismus : siehe den vorhergehenden Abschnitt 3. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 516. Vgl. ebd., S. 506, 508, 522, 528, 533–535.

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der Produktion sollten bestraft werden. Nach dem Plan der Institutions Républicaines würde jeder Bürger jedes Jahr im Gemeinschaftstempel Rechenschaft ablegen über die Ver wendung seines Vermögens. Es würde ihm nur dann dareingeredet, wenn er sein Einkommen zum Schaden anderer ver wendete. Gold und Silber würden in Saint - Justs Utopien nicht angerührt werden, außer in Form von Geld. Es würde keinem Bürger gestattet sein, Land zu erwerben, Banken zu eröffnen oder Schiffe in fremden Ländern zu besitzen. Strenge Einfachheit in Nahrung und Gewohnheiten würden Vorschrift sein. Zum Beispiel sollte Fleisch an drei Tagen der Dekade verboten sein und für Kinder überhaupt bis zum Alter von sechzehn Jahren. Die öffentliche Domäne, die auf Rousseaus Rat so groß wie möglich sein würde, sollte als nationaler Fonds dienen zur Belohnung von Tugend und Entschädigung von Unglücklichen, Gebrechlichen und Alten, zur Finanzierung des Erziehungswesens, für Zuschüsse an Jungverheiratete und, wie bereits vorher gesagt, zur Verteilung von Land an die Landlosen.390 „Land für jedermann“ ist die Losung, in der das jakobinische Gesellschaftsideal am besten zusammenzufassen ist : eine Gesellschaft von selbstständigen Kleinbauern, Handwerkern und kleinen Ladenbesitzern. Die Verbindung von Tugend mit einem kleinen Stückchen Land würde das Glück sichern. Nicht das wollüstige Glück von Persepolis, sondern die Seligkeit von Sparta. „Nous vous offrîmes le bonheur de Sparte et celui d’Athènes, [...] de la vertu, [...] de l’aisance et de la médiocrité; [...] le bonheur qui naît de la jouissance du nécessaire sans superfluité; [...] la haine de la tyrannie, la volupté d’une cabane et d’un champ fertile cultivé par vos mains. [...] Le bonheur d’être libre et tranquille, et de jouir en paix des fruits et des mœurs de la Révolution; celui de retourner à la nature, à la morale, et de fonder la République. [...] Une charrue, un champ, une chaumière à l’abri [...], de la lubricité d’un brigand, voilà le bonheur.“391 Landbesitz war in Saint - Justs reaktionärer utopischer Vision die einzige Garantie für soziale Stabilität, persönliche Unabhängigkeit und Tugend. Die Reform, welche die Ventôse - Gesetze zur Beschlagnahmung des Eigentums von Verdächtigen und zu seiner Verteilung an arme Patrioten vorsah, sollte ein erster Schritt sein in Richtung auf eine allgemeine Reform, deren Ziel es war, jedem einzelnen Land ( oder anderen Besitz ) zu geben. Diese Idee war in den Institutions Républicaines formuliert, geschrieben im Pluviôse, das heißt vor den Ventôse - Gesetzen. Es gibt in den Institutions keinen Hinweis darauf, dass das Recht auf Eigentum bedingt sein solle durch politische Treue. Der Schluss scheint daher berechtigt, dass das Ventôseprojekt nicht lediglich 390 391

Vgl. ebd. Ebd., S. 267.

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ein zusätzlicher Akt zur Unterdrückung von Verdächtigen oder eine demagogische Maßnahme ad hoc war, um den Enragés den Wind aus den Segeln zu nehmen, sondern dass es als Teil eines umfassenden sozialen Programms geplant war. So wurde es von Zeitgenossen aufgefasst und auch von den Anhängern Babeufs.392 Es gibt einen Aspekt in Saint - Justs „Land - für - jedermann“ - Doktrin, der nicht die ihm gebührende Beachtung fand und der zwei wichtige Dinge beweist. Da ist zunächst die Tatsache, dass der Plan, so utopisch und phantastisch er auch sein mochte, seinen Ursprung zumindest teilweise in der Wirklichkeit und in den Schwierigkeiten der Stunde hatte, vor allem in der Krise der Lebensmittelversorgung. Zweitens erweist sich bei näherer Prüfung dieser Plan, der prima facie den Charakter einer staatlich geplanten allgemeinen Reform trägt, als eine Politik, die beabsichtigt, die Bedingungen für freien Handel zu schaffen. Man sieht hier das Maß jakobinischer Inkonsequenz und schwerer innerer Schwierigkeiten in Eigentums - und Wirtschaftsfragen.393 Die Darlegung der Gründe für den Aufbau einer Gesellschaft von Kleinbauern in den Institutions Républicaines beginnt mit der Schwierigkeit in der Getreideverteilung. Leichter Umlauf sei dort wesentlich, wo der Grundbesitz sich in wenigen Händen befindet und die Rohstoffe nur wenigen zugänglich sind. In seiner hartnäckigen Ablehnung von Handelsbeschränkungen und seinem tiefen Wider willen gegen die Festsetzung von Höchstpreisen durch den Staat 392

393

Saint - Just schiebt in den „Institutions“ dem konterrevolutionären Abenteurer Baron Batz die Verantwortung dafür zu, die Idee des „maximum“ zuerst in die Debatte geworfen zu haben. Vgl. Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 513. Jaurès weist darauf hin, dass in gewissem Sinne die Gegner der Jakobiner progressiver waren als Robespierre, Saint - Just und ihre Anhänger. Während diese sozialer und ethischer Askese anhingen und keine Einsicht in die Kräfte und Bedeutung der sich anbahnenden industriellen Revolution hatten, kein Verständnis für Wirtschaftsexpansion, Mannigfaltigkeit der menschlichen Bedürfnisse und steigende Produktion und Konsumtion als Ausdruck einer höheren Zivilisation, zeigten Männer wie Sieyès und Vergniaud (siehe Jaurès, Histoire socialiste, Band 8, S. 123) eine viel modernere Haltung. Sieyès schrieb folgendermaßen ( in Jaurès, Histoire socialiste, Band 2, S. 10) : „Les peuples européens modernes ressemblent bien peu aux peuples anciens. Il ne s’agit parmi nous que de commerce, d’agriculture, de fabriques, etc. Le désir des richesses semble ne faire de tous les États de l’Europe qu’un vaste atelier; on y songe bien plus à la production et à la consommation qu’au bonheur. Aussi les systèmes politiques aujourd’hui sont exclusivement fondés sur le travail; [...] à peine sait - on mettre à profit les facultés morales qui pourraient cependant devenir la source la plus féconde des véritables jouissances. Nous sommes donc forcés de ne voir dans la plupart des hommes que des machines de travail.“ Dieser Status wäre in den Augen eines Robespierre oder eines Saint - Just als die schlimmste mögliche Degradierung des Menschen und Bürgers erschienen, die durch keinerlei Vorteile der Massenproduktion und Industrieorganisation ausgeglichen werden könnte.

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erklärt Saint - Just, Getreide würde nicht umlaufen, wenn sein Preis durch die Regierung bestimmt sei. Wenn es „taxiert“ würde, ohne dass eine Reform des Verhaltens erfolgte, würden Habsucht und Spekulation die Folge sein. Um das Verhalten zu reformieren, müsse damit begonnen werden, Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen. Jedem müsse etwas Boden gegeben werden. Sollte die Verteilung des Bodens nach den Grundsätzen eines „loi agraire“ stattfinden, so dass der Staat prinzipiell die Macht habe, alle Eigentumsverhältnisse nach Belieben zu ändern ? Nein. Sogar die Ventôsegesetze enthielten keinen Angriff auf das Prinzip des Eigentums als solches, sondern machten nur politische Treue zu seiner Bedingung. Abgesehen von seinem echten Glauben an das Privateigentum, war Saint - Just viel zu sehr verantwortungsbewusster Staatsmann, zu sehr interessiert am Erfolg des Verkaufs von Staatseigentum und der Assignatenpolitik – des Papiergeldes der Revolution, zu dessen Deckung das Staatseigentum ( kirchliches, Emigranten - und anderes beschlagnahmtes Eigentum ) diente, und von dem das Schicksal des Systems abhing –, als dass er potentielle Käufer von Staatseigentum hätte erschrecken und zu dem Glauben hätte kommen lassen, ihr Besitz sei unsicher und könne ihnen genommen werden. Aber Saint - Just gibt selbst den Schlüssel zu seinen Absichten in dem berühmten Satz, der sich in seinen Papieren findet : „Ne pas admettre le partage des propriétés, mais le partage des fermages.“394 Es scheint, dass ungeachtet seines Wunsches, jeder solle etwas Boden besitzen, um glücklich und frei zu sein, ihm die Neuverteilung des Bodens weniger wichtig war als seine Aufteilung in kleine Bebauungseinheiten, Einheiten, die nicht unbedingt als unveräußerliches Eigentum, sondern in Pacht gehalten werden sollten. Die Vielheit solcher Einheiten schien Saint - Just die beste Garantie für den freien Umlauf des Getreides und seinen vernünftigen Preis. Je größer die Zahl der Verkäufer, umso geringer die der Käufer, umso besser die Versorgung und umso niedriger der Preis. Diese Argumentation fand sich

394

Vellay ( Hg.), Œuvres complètes de Saint - Just, Band 2, S. 537. Jaurès, Histoire socialiste, Band 6, S. 118 ff., zitiert eine erstaunliche Petition vom 19. November 1792 von den Gobelin - Sektionen; sie enthielt außer den Forderungen nach Preiskontrolle für Getreide, einem Höchstpreis für lebensnotwendige Güter, Verkaufszwang, einem zentralen Versorgungsamt, das von gewählten Beamten geleitet würde, die Forderung nach einem „loi agraire des fermages“ zum Unterschied von einem „loi agraire des propriétés“, um landwirtschaftliche Erzeugung zu fördern und ihre Preise zu senken. Niemand sollte mehr als 120 arpents zu seiner Verfügung haben. Ähnliche Forderungen finden sich in „cahiers“ von Bauern vor Ausbruch der Revolution, siehe Jaurès, Histoire socialiste, Band 3, S. 390 ff. Die Forderung nach Begrenzung der Größe von landwirtschaftlichen Pachtgütern hatte ein Gegenstück in der Forderung nach einem Verbot, mehr als einen Laden oder eine Werkstätte zu haben.

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Die jakobinische Improvisation

schon bei Mably, dem bitteren Gegner des freien Getreidehandels, und in einem Artikel von Marat vom 5. September 1791, der durch Saint - Just beeinflusst gewesen sein muss und eine auffallende Ähnlichkeit mit Saint - Justs Behandlung des Themas aufweist. Marat schlug vor, Landeigentümer sollten gezwungen werden, ihre großen Besitzungen in kleine Pachtgüter aufzuteilen, ohne dass die Regierung zu dem „loi agraire“ und zu einer Neuverteilung des Bodens griffe. Marats Erläuterung seines Plans enthält wahrscheinlich die Einzelheiten von Saint - Justs Gedankengängen.395 Beide schienen hauptsächlich mit der bestehenden Versorgungskrise beschäftigt und mit dem Problem, die Bedürfnisse der ärmeren Klasse zu befriedigen. Keinem von beiden gefiel der Gedanke, die Preise durch ein Gesetz niederzuhalten, denn ein solches Gesetz war nach ihrer beider Meinung dazu angetan, die Erzeuger zu ruinieren und die Landwirtschaft zu entmutigen. Ein Heilmittel lieferte das Gesetz von Angebot und Nachfrage. Da der Preis eines Gutes durch das Verhältnis zwischen Käufern und Verkäufern bestimmt werde, sei es wesentlich, die Zahl der Bauern zu vermehren. Viele Tagelöhner könnten zu Kleinbauern gemacht werden. Die Zahl der Verkäufer landwirtschaftlicher Erzeugnisse würde enorm vergrößert und die Zahl der Käufer entsprechend verringert. Ein gesundes Gleichgewicht und Wohlergehen würden wiederhergestellt. Marat bestand darauf, dass der Staat, und nicht die Landeigentümer, ermächtigt sein sollte, die Pächter zu wählen. Staatskontrolle der Pachtverträge wurde wahrscheinlich auch von Saint - Just beabsichtigt. Außerdem sah Marat eine sehr große Staatsdomäne vor, die an landlose Bauern verpachtet würde. In ähnlichen Ausdrücken wie Saint - Just ( über die Wechselbeziehung zwischen sozialer Wirklichkeit und Regierungsform) dachte Marat, sein Plan würde die bürgerliche Ordnung der Natürlichen Ordnung annähern durch größere Erleichterung des Anbaus und eine gleichmäßigere Verteilung der Früchte des Landes. Je mehr Bauern es geben würde, umso geringer wäre die Zahl der Tagelöhner, und daher würden ihre Löhne steigen. Andererseits, je mehr Bauern, umso größer der Wettbewerb beim Verkauf der Produkte. Außerdem würden die Leute auf dem Land, deren Bedürfnisse gesi395

Vgl. Jaurès, Histoire socialiste, Band 2, S. 248 ff. Obwohl Marat bei mehr als einer Gelegenheit die Armen zur Plünderung von Läden und Lagerhäusern in einer Weise aufreizen konnte, die den Enragés Ehre gemacht hätte ( siehe dazu Jaurès, Histoire socialiste, Band 7, S. 41 f.), war seine Verurteilung der Enragés zu anderen Zeiten in solchen Ausdrücken abgefasst, die jeder Girondist und Bourgeois gebilligt hätte. Er bezeichnete ihre Forderungen als „mesures [...] si excessives, si étranges, si subversives de tout bon ordre, tendent [...] à détruire la libre circulation des grains et à exciter des troubles“ ( ebd., S. 29). „Si l’utopie de Saint - Just est encore la dernière contrefaçon de Sparte, celle de Babeuf est la première cité collectiviste“, sagt treffend Lichtenberger, Le Socialisme et la Révolution, S. 6.

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chert wären, daran interessiert sein, die höchsten Preise für ihren Überschuss zu erzielen, „und der freie Getreidehandel würde von selbst wiederhergestellt sein.“396 Es ging ihnen um diese Freiheit des Handels, die beschränken zu müssen für die meisten Führer der Revolution einen Kummer bedeutete, und die sie schließlich auf Umwegen und durch Staatsinter vention wiederherzustellen hofften.

396

Jaurès, Histoire socialiste, Band 2, S. 250.

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Drit ter Teil Die Babeuf’ sche Kris tal li sa ti on

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Que ce gouvernement fera disparaître les bornes, les haies, les murs, les serrures aux portes, les disputes, les procès, les vols, les assassinats, tous les crimes; les tribunaux, les prisons, les gibets, les peines, le désespoir que causent toutes ces calamités; l’envie, la jalousie, l’insatiabilité, l’orgueil, la tromperie, la duplicité, enfin tous les vices; plus ( et ce point est sans doute l’essentiel ), le ver rongeur de l’inquiétude générale, particulière, perpétuelle de chacun de nous, sur notre sort du lendemain, du mois, de l’année suivante, de notre vieillesse, de nos enfants et de leurs enfants. Babeuf Je vous ferai donc, malgré vous, s’il le faut, être braves. Je vous forcerai à vous mettre aux prises avec nos communs adversaires [...]. Vous ne savez point encore comment et où je veux aller. Vous verrez bientôt clair à ma marche; et ou vous n’êtes point démocrates, ou vous la jugerez bonne et sure. Babeuf

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I. Die Leh ren der Revo lu ti on und des Ther mi dor 1. Das messianische Klima Am 26. Oktober 1786 schrieb Dubois de Fosseux, Sekretär der Akademie von Arras, an François - Noël Babeuf,1 den damals sechsundzwanzigjährigen „arpenteur - géomètre“ und „feudiste“2 in Roye, er sei in den Besitz einer „höchst ungewöhnlichen und äußerst originellen Broschüre“ gelangt, betitelt : „Der Vorläufer einer totalen Weltumformung durch ‚aisance‘, gute Erziehung und allgemeinen Wohlstand für jedermann, oder Prospekt einer patriotischen Denkschrift über die Ursachen des großen Elends, das überall herrscht, und über die Mittel, es radikal auszurotten.“3

1

2 3

Eine volle Bibliographie über Babeuf gibt Dommanget, Pages choisies, eine ganz vorzügliche Sammlung von Texten. Die wichtigsten direkten Quellen ( Schriften von Babeuf ), die hier benutzt wurden : Correspondance de François - Noël Babeuf avec Dubois de Fosseux [...] de 1785 à 1788. Sie bildet den zweiten Teil des zweiten Bandes von Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, 2 Bände, das selbst mehr ein Quellenbuch ist als eine Geschichte. Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel; Babeuf, Du Système de dépopulation; ders., Un Manifeste de Gracchus Babeuf; ders., Défense générale de Gracchus Babeuf devant la Haute - Cour de Vendôme, in : Advielle ( Hg.), Band 2, Teil 1. Kleinere Schriften und Manuskriptmaterial : Dommanget, Pages choisies; Thomas, La Doctrine des Égaux; Deville, Notes inédites de Babeuf. Zeitschriften: Babeuf, Journal de la Liberté de la Presse bzw. Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme; Babeuf / Lalande ( Hg.), L’Éclaireur du peuple. Direkte Quellen für die Verschwörung : Buonarroti, Conspiration, 2 Bände. Die englische Übersetzung von Bronterre O’Brien ( dem berühmten Chartisten ), History of Babeufs Conspiracy for Equality, war sehr nützlich. Die vom Direktorium veröffentlichten Dokumente : Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies; ders. ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies; ders. ( Hg.), Débats du procès, Band 1–4; ders. ( Hg.), Exposé fait par les accusateurs nationaux; ders. ( Hg.), Pièces lues dans le cours de l’exposé fait par l’accusateur national; ders. ( Hg.), Résumé du Président de la Haute - Cour de Justice; Corps Législatif (Hg.), Extrait du procès - verbal des séances du Conseil des Cinq - Cents. Neuere Werke : Espinas, La Philosophie sociale; Dommanget, Babeuf et la Conjuration des Égaux; Bax, The last Episode; Thomson, The Babeuf Plot; Mathiez, Le Directoire; Thomas, La Pensée socialiste de Babeuf; Walter, Babeuf; Lefebvre, Rapport; ders., Où il est question de Babeuf; Garrone, Buonarroti e Babeuf. Besondere Aspekte : Thibout, La Doctrine Babouviste; Dommanget, La Structure et les méthodes de la Conjuration; ders., L’Hébertisme et la Conjuration; Patoux, Le Faux de Gracchus Babeuf; Robiquet, L’Arrestation de Babeuf; ders., Babeuf et Barras. Dommanget, Pages choisies, S. 45. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 2 : Correspondance, S. 32 f.; Dommanget, Pages choisies, S. 49.

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Die Babeuf’sche Kristallisation

Dies war nur ein einzelner Punkt in einem für das achtzehnte Jahrhundert typischen Briefwechsel zwischen Intellektuellen über Bücher, philosophische Themen, soziale Fragen und praktische Angelegenheiten. Die Korrespondenz ist erfüllt von einer Stimmung großer Hoffnung und tiefen Glaubens an den Fortschritt der Aufklärung, an „jene moderne Philosophie [...] des rechtschaffenen Mannes ( Rousseau ) [...], so im Einklang mit den Rechten der Menschheit [...], die unserem Jahrhundert Ehre macht und unfehlbar das volle Glück kommender Generationen sichern wird [...] auf den Trümmern unheilvoller Vorurteile, grausamen Fanatismus und gefährlichen Aberglaubens“.4 Beide Briefschreiber sind sich über die universale Bedeutung und Gültigkeit der neuen Philosophie einig; sie sollte die Grundlage eines allgemeinen Gesetzbuches für die gesamte Menschheit bilden. „Ou il n’y a point de morale démontrée, ou elle doit être une, comme il n’y a qu’une géométrie.“5 Dubois drückt tiefe Bewunderung für Montesquieu aus und entschuldigt sich ob seiner eigenen Kühnheit, aber er kann nicht die Ansicht akzeptieren, dass, was im Norden recht ist, im Süden unbillig sein könne. Klimatische Unterschiede mögen verschiedene medizinische Behandlung erfordern, aber sie haben keinen Einfluss auf die Rechtslehre. In diesem Geiste formuliert Babeuf in einem Brief vom 21. März 1787 ein Problem : Wie wäre, bei dem gesamten Wissen, über das die Menschheit verfügt, die Lage eines Volkes, dessen Institutionen die vollkommenste Gleichheit unter den Menschen herstellen und festsetzen würden, dass das Land niemandem gesondert, sondern allen zusammen gehörte und dass alles Gemeingut wäre, einschließlich der Erzeugnisse aller Arten von Gewerbefleiß ? Könnten solche Institutionen als durch die Menschenrechte autorisiert betrachtet werden ? Könnte eine solche Gesellschaft bestehen, und wären Anordnungen für absolut gleiche Verteilung möglich ? Babeuf fügt hinzu, er habe diese Fragen nicht formuliert, ohne viel weiter gehende Ansichten zu dem Thema zu haben, und Dubois nennt sie in seiner Antwort „außerordentlich wichtig, zum Nachdenken anregend und geeignet, sehr zufriedenstellend behandelt zu werden“.6 Auf die „ungewöhnliche Broschüre“ zurückkommend, versichert Dubois seinem Freund, er habe „mit der größten Aufmerksamkeit“ nach einem Anzeichen gesucht, dass sein Verfasser „das Ganze im Scherz gemeint habe“, doch habe er keine derartige Andeutung finden können.7 Der Akademiker beschäftigt sich daher in mehreren Briefen mit den in der Broschüre enthaltenen detaillierten Plänen über Ernährung, Kleidung, Wohnung, Religion, sanitäre 4 5 6 7

Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 2 : Correspondance, S. 38, 47 f. Ebd., S. 189. Vgl. ebd., S. 117 f., Zitat : S. 129. Ebd., S. 181.

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Die Lehren der Revolution und des Thermidor

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Einrichtungen und Erziehungswesen in den vorgeschlagenen Utopien. Babeuf erklärt sich bereit, einer der ersten Siedler in der Neuen Republik zu sein.8 In dieser Weise gaben sich die beiden Männer einem jeu d’esprit hin und wetteiferten miteinander im Finden von Themen für Übungen im Aufsatzschreiben zum Zeitvertreib. Kaum mehr als zwei Jahre später brach die Revolution aus; sie löste eine Kette von Ereignissen und Veränderungen aus, von denen sich die kühnsten Philosophen nicht hätten träumen lassen. Babeuf beschreibt die Wucht des Eindrucks dieser Ereignisse auf seine Haltung zur politischen Ideologie in folgender Weise : „Elektrisiert durch das plötzliche Eintreten eines uner warteten Standes der Dinge, begriffen sie die Möglichkeit, die Anwendung von Theorien ins Auge zu fassen, von denen sie sich noch kurze Zeit vorher nicht geschmeichelt hätten, dass sie sie auf ihre eigene Zeit bezogen.“9 „Leur âme, dès - lors enflammée de tout le courage nécessaire, leur montrant praticable le projet d’envahir des mains du crime les éléments de parfaite justice.“10 In ähnlichem Sinne schrieb Buonarroti, bevor die Französische Revolution das ungewöhnliche Schauspiel vorgeführt habe, wie einige Millionen Menschen „jene ewigen Wahrheiten, die in früheren Zeiten ein paar Philosophen bekannt waren“, verkündeten und mit ihrem Blute besiegelten, wäre es als eine Phantasie erschienen, das Volk allein durch die Kraft dieser Wahrheiten in Bewegung setzen zu wollen.11 Aber das Unglaubliche war tatsächlich geschehen. In seiner Polemik gegen die als reformistisch zu bezeichnenden Ansichten von Antonelle erklärte Babeuf, nach der Zerstörung so vieler Einrichtungen und Gebräuche, die vorher als unabänderlich gegolten hatten, sei es kein unerreichbarer Traum mehr, die Einrichtung des Privateigentums hinwegzufegen, diesen letzten Rest der alten Ordnung, der für den Unterschied zwischen einer schlechten und einer vollkommenen Gesellschaft maßgebend sei. Das Argu8 9

10 11

Vgl. ebd., S. 120 f., 129, 169, 173, 175, 180, 194. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 147. A. d. Hg. : Die bei der Festnahme Babeufs beschlagnahmten Schriften wurden in zwei Bänden herausgegeben – Band 1 : „Copie des pièces saisies dans le local que Babeuf occupait lors de son arrestation“, Band 2 : „Suite de la Copie des pièces saisies dans le local que Babeuf occupait lors de son arrestation“. In Bibliothekskatalogen findet man beide Bände jedoch oft auch oder gar ausschließlich unter dem Titel des ersten Bandes und ergänzt dann um die Angabe „Band 1“ oder „Band 2“. Im Folgenden wurde – wie in Talmons englischer Originalausgabe – jeweils der korrekte Titel „Copie des pièces saisies“ bzw. „Suite de la Copie des pièces saisies“ angegeben. Ebd. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 117. Über Buonarroti siehe : Robiquet, Buonarroti et la secte des Égaux; Weill, Philippe Buonarroti; ders., Les Papiers de Buonarroti; Haenisch, La Vie et les luttes de Philippe Buonarroti; Bernstein, Buonarroti.

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Die Babeuf’sche Kristallisation

ment, die Gesellschaft sei zu verdorben für vollkommene Gleichheit, oder der Preis für solches Glück wäre eine so furchtbare Umwälzung, dass man sie nicht ins Auge fassen könnte, habe alle Gültigkeit verloren. Denn niemals sei die Aufnahmebereitschaft des Volkes für eine totale Revolution größer gewesen als in dem Zustand des Volksbewusstseins, der eine Auswirkung der Geschehnisse seit 1789 war.12 Die Revolution änderte den Ablauf von Babeufs Leben. In einer autobiographischen Notiz von 1794 sagt er über seinen Beruf : „Avant la Révolution, archiviste et géomètre. Depuis la Révolution, propagandaire de la liberté et défenseur des opprimés.“13 Er sagte von sich selbst, die Revolution habe „ihn schrecklich verdorben“.14 Er sei völlig unfähig geworden, irgendeinem anderen Beruf nachzugehen als „publicisme“ und „Gesetzgebungsangelegenheiten“.15 Politik sowie Nachsinnen über die wahren Rechtsgrundsätze und ihre Durchführung übten auf ihn eine so unwiderstehliche Anziehungskraft aus, dass er zu glauben begann, dies sei seine „alleinige Berufung“.16 Dieser Zustand der Verzückung sei auf einen gewissen „défaut inhérent à notre nature“ zurückzuführen; „cet orgueil, cette sorte de vanité intime“, die ihm und seinesgleichen einredete, sie seien „besser als viele ihrer Brüder“ und dazu berufen, das „furchtbare Mysterium“ zu verkünden und die Welt zu ihrem „größten Vorteil“ zu regenerieren.17 Er ist davon überzeugt, dass dieses über wältigende Gefühl einer Sendung nicht Irrtum oder Wahnvorstellung, noch eitler Ehrgeiz ist. Hat er doch auf alle Vorteile verzichtet, lebte wie ein Einsiedler, scheute nicht Gefängnis und Verfolgung, noch den Spott der Toren und Verderbten, die ihn wie einen Geistesgestörten behandelten.18 Hier haben wir alles beisammen : jene Veranlagung, jene Geistesverfassung – ein komplexes Gemisch aus Ideen, mystischem Glauben, Wollen, Leidenschaft, Gefühl, messianischer Hoffnung und Irrtum –, die durch hundertfünf12

13 14 15 16 17 18

Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 37, S. 132–137; Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 9–24; Dommanget, Pages choisies, S. 268–273. A. d. Hg. : Die von Babeuf herausgegebene Zeitschrift hieß zunächst ( Nummern 1 bis 22) „Journal de la Liberté de la presse“, ab Nummer 23 „Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme“. Die Nummer 33 ist nie erschienen, da das Manuskript beschlagnahmt wurde. Zwischen den Nummern 34 und 35 erschien ein achtseitiger sogenannter „Prospectus“. Dommanget, Pages choisies, S. 45, Fußnote 1; Deville, Notes inédites de Babeuf, S. 40. Erster Brief an Coupé, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 103–121, Zitat : S. 110. Ebd., S. 110. Ebd. Ebd., S. 104. Ebd., S. 105 f.

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zig Jahre hindurch zu den für die Menschheitsgeschicke bedeutendsten Faktoren zählten : den Glauben an eine einzige und entscheidende Ursache für und Antwort auf alles Übel in der ganzen Welt; das Vertrauen, dass endlich das Geheimnis gefunden sei und die Menschheit sich auf einem unaufhaltsamen Vormarsch zu einer Lösung, einem gewaltsamen Durchbruch zu einer vorbestimmten, vollkommenen und endgültigen Ordnung aller Dinge befinde. Propheten tauchen auf, die das Volk aufrufen, sich auf den Tag des Gerichts vorzubereiten; Priesterorden – Parteien – entstehen, um die Vorbereitungen zu organisieren. Die Begegnung der Massen mit einem messianischen politischen Glauben lässt Erscheinungen wieder auf leben, für die sich Vorbilder nur in den religiös - sozialen Bewegungen der Vergangenheit finden und die furchtbare Möglichkeiten der Massentyrannei in sich tragen.19 Bei aller Vorsicht vor Übertreibung der Neuerungen, die die Revolution mit sich brachte, kann als unbestritten gelten, dass die hier beschriebene Stimmung ein ganz neues Produkt der Revolution war. Die Revolution brachte die abstrakten Ideen einiger weniger Philosophen mit den unartikulierten Massen in Verbindung, die das Ancien Régime hauptsächlich deshalb voneinander ferngehalten hatte, weil es keinen Raum ließ für die Vermittler – die politischen Parteien. So wurde eine Kette von Reaktionen ausgelöst, die bis heute noch keine Anzeichen einer Beruhigung aufweist. Das Postulat der Erlösung, das in der Revolution inhärent war, entwickelte sich nur allmählich zu der Vorstellung vom Fall der Mächtigen und Reichen und dem Aufstieg der Armen und Unterdrückten, die die Erde in Besitz nehmen würden. Babeuf war der Höhepunkt dieser Entwicklung. Zu Beginn der Revolution nahm er den Namen Camillus an, den er 1795 mit dem Namen Gracchus vertauschte. Als Grund dafür gab Babeuf an, in der Zwischenzeit sei mit ihm eine Reinigung vorgegangen, sein „démocratisme s’est épuré“.20 Es sei ihm klar geworden, welchen schweren Irrtum Camillus begangen habe, als er einen Tempel für Konkordia baute und ein Abkommen zwischen Patriziern und Plebejern schloss. Diese seien betrogen worden, so wie das immer sein würde, da kein sozialer Friede zwischen den beiden Klassen möglich sei.21 Dies schien den Anhängern Babeufs die Lehre aus der Thermidor - Reaktion gewesen zu sein.22 19 20 21 22

Ebd., S. 230 f., 240 f.; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 51 f. sowie Prospectus, S. 5 f. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 23, S. 5; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 67. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 23, S. 5; Thomas, La Pensée socialiste de Babeuf, S. 73. Über die spätere Babeufbewegung siehe : Sencier, Le Babouvisme après Babeuf; Weill, Histoire du Parti républicain; Tchernoff, Le Parti républicain.

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2. Die Lehren Die Ereignisse seit dem 9. Thermidor widersprachen dem zugrunde liegenden Glauben an den unaufhaltsamen Fortschritt in Richtung auf eine immer breitere volkstümliche und soziale Demokratie.23 Die beinahe plebiszitäre und direkte Demokratie von 1793 wurde durch ein Wahlzensussystem ersetzt. Den Armen, „als den Unwissenden, die unfähig sind, über die Gebildeten zu herrschen“, wurde das Wahlrecht entzogen.24 Boissy d’Anglas erklärte in seinem Bericht über die Verfassung von 1795, „jede soziale Ordnung beruht auf der Erhaltung des Eigentums“ und ein Land, das von Besitzlosen regiert würde, befände sich im Naturzustand.25 Die Verfassung von 1793 bekräftigte das Recht und die Pflicht des Volkes und jedes Teils des Volkes, sich gegen Unterdrückung aufzulehnen. Die jakobinische Praxis und die Verfassung von 1793 sahen legislative Referenda und das Vetorecht des Volkes gegen die Gesetzgebende Versammlung vor. Sie akzeptierten stillschweigend die direkte Demokratie, die von dem ungeheuren Netz der Volksgesellschaften über den Kopf der Gesetzgebenden Versammlung hinweg durch ein System von Quer verbindungen, Petitionen und anderen Ausdrucks - und Druckmitteln ausgeübt wurde. Es ist wahr, die direkte Demokratie des Jahres II war eine Diktatur, doch sie war eine Diktatur der Volksmassen.26 Das neue bürgerliche und konser vative Regime schränkte nicht nur die Volkssouveränität sowie die Rede - und Diskussionsfreiheit ein, sondern es entzog auch den Massen die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile, die ihnen die Diktatur unter Robespierre zugestanden hatte.27 Der Wohlfahrtsausschuss hat23

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Über das Thermidor - Régime und das Direktorium siehe : Mathiez, Le Directoire; Lefebvre, Les Thermidoriens; ders./ Guyot / Sagnac ( Hg.), La Révolution Française, besonders Buch 3 : La Révolution française à la conquête de l’Europe (1795–1799) von Guyot, S. 285–464; Villat, La Révolution; Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2; Guérin, La Lutte de classes, Band 2; Aulard, Histoire politique. A. d. Hg. : Zitat nicht nachweisbar. Vgl. aber Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 168 f. Vgl. Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 275. Zur Verfassung von 1795 und zu Boissy d’Anglas siehe ebd., Band 2, S. 274–284. Das Adjektiv „revolutionär“ als Titel war ( ab 1795) verboten, siehe ebd., Band 2, S. 257. Vgl. Babeuf, Le Tribun du Peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 28, S. 237 f., 240, 244. Vgl. Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 278. Babeufs anfängliche Kritik am Regime, bevor er in den Schoß des reinen Robespierrismus zurückkehrte und einer der Prediger des egalitären Kommunismus wurde, ist charakteristisch und zeitweise scharf, siehe Babeuf, Journal de la Liberté de la Presse, Nr. 18, S. 3 f.; Nr. 19, S. 3; Nr. 20, S. 3; Nr. 21, S. 5; Le Tribun du Peuple ou le Défenseur des droits

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te eine Politik der Konfiskationen verfolgt, er hatte Höchstpreise festgesetzt, die Produktion, Verkäufe und Lieferungen organisiert und erzwungen, ein livre de bienfaisance der Sozialfürsorge begründet, den Armen besondere und unentgeltliche Zuwendungen bewilligt – alles mit dem eingestandenen Ziel, die Armen zu unterhalten und die Reichen für die Kriegführung zahlen zu lassen. Die Ventôse - Gesetze zur Enteignung der Verdächtigen und die Verteilung ihres Besitzes an arme Patrioten trugen, wie oben gezeigt, mehr den Charakter einer sozialen Reform von Dauer und nicht nur eines Staatseingriffs in das Räder werk der Wirtschaft; sie stellten einen Eingriff dar, der durch schwerste Not erforderlich wurde und zu dem man sich nur zögernd entschloss. Die Verfassung von 1793 hatte vorher die sozialen Rechte proklamiert, die der Sammelruf aller radikalen Bewegungen bis 1848 wurden : das Recht auf Glücklichsein, d. h. das Recht auf Arbeit und Unterstützung. Das Nach - Thermidor - Regime schaffte die Preiskontrolle ab, ließ die Preise in die Höhe schießen, eine ungezügelte Inflation sich entwickeln und sah die Spekulanten reicher und reicher werden. Kriegsprojekte der Regierung, die bis dahin so geführt worden waren, dass sie die Beschäftigung möglichst vieler Arbeiter sicherten, fielen an die Privatwirtschaft zurück, und die Arbeiterzahl wurde infolgedessen drastisch verringert. Die unentgeltliche Verteilung von Lebensmitteln an die Armen wurde so gekürzt, dass sie praktisch bedeutungslos wurde. Die staatliche Ver waltung von Herbergen, Krankenhäusern und maisons de bienfaisance hörte auf. Eine schreckliche Hungersnot unter den arbeitenden Klassen war das Ergebnis dieser Änderungen. Das Regime folgte dem Grundsatz, das soziale Problem falle nicht in das Gebiet der Staatsbetätigung.28

3. Babeuf Babeufs messianische Sehnsucht gedieh auf dem Nährboden tiefen persönlichen Unglücks. Er legte alle Intensität seiner Nöte in die Vision einer allgemeinen Erlösung, die eine sofortige Befreiung von aller materiellen und seelischen Qual bringen würde. Er war ein Besessener, ein Gehetzter, und sehnte sich nach Ruhe.

28

de l’homme, Nr. 28, S. 237 f., 240, 244; Nr. 29, S. 265–270, 275 f.; Nr. 30, S. 290 f.; Nr. 34, S. 6–9; Dommanget, Pages choisies, S. 193–199 ( enthält eine Analyse des Versagens der Linken nebst einer Zusicherung, dass es ihr bestimmt ist zu siegen ), 200 f., 233–236; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 145–147, 168 f. Vgl. Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 278 f., 283; Dommanget, Pages choisies, S. 196; Babeuf, Le Tribun du Peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 29, S. 269.

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Wenn wir seiner Lebensgeschichte nachgehen, werden wir von einem kaum je nachlassenden Gefühl peinlichen Unbehagens erfasst. Die rastlose, ja geradezu krampfhafte Geschäftigkeit im Dienste des „großartigen Geheimnisses“, des „furchtbaren Mysteriums“,29 entfaltet sich unter den Begleitakkorden unaufhörlicher schrecklicher Trauergesänge : dem Weinen hungernder Kinder und ihrer niedergeschlagenen Mutter.30 Und Babeuf war ein viel zu guter Ehemann und zärtlicher Vater, um die Rolle eines Don Quichotte der Revolution zu spielen. Hand in Hand mit dem persönlichen Elend und der leidenschaftlichen Hingabe an ein Ideal gingen bei ihm ein Hang zur Selbstdramatisierung, ein absichtliches Theaterspielen für die Geschichte, bei denen wir uns eines Gefühls des Wider willens nicht erwehren können.31 Er hatte eine leicht auf lodernde Einbildungskraft, eine schwer zu zügelnde Feder und eine Fähigkeit, sich an Worten zu berauschen, die es manchmal schwer machen, ihn ernst zu nehmen. Seine Rastlosigkeit grenzte an Geistesgestörtheit. Zeitweilig scheint er einfach hin - und hergeworfen von Gemütsbewegungen. Er war durchaus keine überragende oder Achtung gebietende Persönlichkeit. Babeufs Erregbarkeit und die Tatsache, dass er mit Menschen umgehen musste, mit denen er nicht auf gleicher Stufe stand, machten ihn sehr schwierig und oft gefährlich. „Moi, qui me trouve si déplacé auprès de la plupart des hommes de ce siècle“32 – sagte er von sich selbst. Diese Ungleichheit war für ihn eine Quelle stetigen Leidens und unaufhörlicher Enttäuschung. Wenn er mit rauem Schlag aus einer seiner „glorreichen“ Posen herausgerissen wurde, war seine Reaktion in den seltensten Fällen konsequent. Sein Verhalten war zu oft zweideutig, ver wirrt, wenn nicht kriecherisch. Obwohl er von sich erklärte, ein neuer Achilles zu sein, der sich „voller Stolz anheischig macht [...], Atlas und alle Riesen zu zerschmettern“, war er doch nicht aus dem Stoff, aus dem Helden gemacht werden. Dazu war er zu wortreich.33

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Vgl. Espinas, La Philosophie sociale, S. 212, 216. Vgl. Briefe an seine Frau vom 16. und 20. August 1789, zit. in Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 57 („Je suis désespéré, ma bonne amie, de voir la détresse où je te laisse.“), 61. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 306–309; Espinas, La Philosophie sociale, S. 390; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 314 f., Band 2, Teil 1 : Défense, S. 319–322. Erster Brief an Coupé, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 103. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Prospectus, S. 5; Dommanget, Pages choisies, S. 230 f. Siehe auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 5; Dommanget, Pages choisies, S. 232, sowie den Brief an das Direktorium nach seiner Verhaftung, zit. in Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 220 ( Beispiel für Größenwahn ). Zu seinem Versagen in entscheidenden Augenblicken siehe ebd., S. 330 ( eine charakteristische Wür-

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François - Noël Babeuf wurde am 23. November 1760 geboren als ältester Sohn eines ehemaligen Soldaten, der Landarbeiter wurde und sich in tiefstem Elend einen unmäßigen Stolz und ein übertriebenes Standesbewusstsein bewahrte. Babeuf erhielt nie eine systematische Bildung. Im Alter von vierzehn Jahren begann er, seinen Unterhalt zu verdienen und seiner Not leidenden Familie zu helfen.34 Er wurde feudiste, ein Beamter, dessen Aufgabe darin bestand, Feudalansprüchen nachzuforschen. Babeuf sagte später an einer Stelle, die in ihrer Beredsamkeit echt klingt, er habe unter dem Staub alter Urkunden und Verträge gelernt, dass alle Eigentumsansprüche ihren Ursprung in Betrug und Raub hatten.35 Babeufs Heimatprovinz Picardie hatte eine lange Tradition in sozialem Radikalismus. Sie war der Schauplatz einiger der grausamsten Ausbrüche mittelalterlicher Bauernaufstände gewesen. Calvin stammte aus dieser Gegend, ebenso Saint - Just und Saint - Simon.36 In seiner Eigenschaft als feudiste erlebte Babeuf, ähnlich wie Voltaire und Rousseau, einige demütigende Zwischenfälle mit der Aristokratie, die aus der Zweideutigkeit in der Beziehung zwischen einem gebildeten Plebejer und der alten Aristokratie herrührten.37 Der Ausbruch der Revolution machte Babeuf zum déclassé. Feudalbeamte wurden nicht länger benötigt. Er wurde Zeuge der ersten Tage der Revolution. Der Zauber, den dieses Schauspiel auf ihn ausübte, war grenzenlos und sollte bis zu seiner Hinrichtung als Märtyrer der Revolution anhalten.38 Die beiden ersten Jahre der Revolution brachte Babeuf in

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digung seitens des Anklägers von Babeufs Auftreten vor Gericht ) sowie Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 302. Schließlich vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 2, S. 86. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, erstes Kapitel, S. 1–18. Babeuf behauptete, er sei in der Weihnachtsnacht, am 25. Dezember 1760, „dans une cabane [...] que le Rédempteur“ geboren und daher Noël getauft worden. In Wahrheit war er am 23. November 1760 geboren. Vgl. ebd., S. 1–3. Von ähnlicher Glaubwürdigkeit ist die Erzählung, sein Vater sei ein Erzieher des früheren Kaisers Joseph II. von Österreich gewesen, siehe ebd., S. 4–6; er war in Wirklichkeit von der französischen Armee desertiert, siehe ebd., S. 7 f. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 29, S. 284 f.; Espinas, La Philosophie sociale, S. 212. Vgl. Dommanget, Pages choisies, Einleitung, S. 3; Lefebvre, Où il est question de Babeuf; ders., Rapport. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 43–45, 48 : Nachdem er von einem Marquis in einem schmeichelhaften Brief eingeladen worden war, wurde er mit den Bediensteten zu Tisch gesetzt. Vgl. ebd., S. 53–56. Enthält ein interessantes Beispiel von der Art und Weise, in der das „aristokratische Komplott“ ( siehe Lefebvre, Quatre - vingt - neuf, z. B. S. 114, 135) sich im Geist des Volkes widerspiegelte; seine Reaktion auf die frühen Gräueltaten (Ermordung Foulons, der angeblich Necker ersetzen sollte, und Bertier de Savignys, des Intendanten von Paris ). „Oh ! Que cette joie me faisait mal ! J’étais tout à la fois

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fieberhafter Geschäftigkeit als Agitator, Journalist und Broschürenschreiber zu, stets heftiger und extremer als jeder andere. Er gab den Correspondant Picard heraus, schrieb Broschüren, beteiligte sich an der Erstürmung von Schlössern und dem Niederbrennen von Regierungsämtern. Er organisierte Proteststreiks, Boykotte, Petitionen und Zahlungsver weigerungen übrig gebliebener Feudalabgaben.39 Er sah sich als Beschützer der Unterdrückten, als einen der „hommes [...] exagérés, moroses, extravagants, propres à troubler l’ordre et la tranquillité publique“, der ein „air gêné et sauvage“ „wie Rousseau“ hat.40 Er wurde mehrfach zu Gefängnisstrafen verurteilt wegen seiner Bemühungen um die „Revolutionierung“ des Volkes.41 Nach dem Fall der Monarchie kam für Babeuf eine Periode der Amtsführung. Er wurde zum Ver walter des Somme - Départements gewählt, zum Zweiten Sekretär der Wahlversammlung des Bezirkes und zum Sekretär des Wahlbezirkes Montdidier, und auch zum Mitglied des Comité de Règlement, in dem er mit Staats - und Emigranteneigentum umzugehen hatte.42 Doch jetzt, als alles auf eine annehmbare Lebenslage hindeutete, mit festem Einkommen und einer Gelegenheit zu nutzbringender Betätigung, kam die Katastrophe. Aus nie geklärten Gründen radierte Babeuf in einer staatlichen Eigentumsurkunde am 30. Januar 1793 einen Namen aus und ersetzte ihn durch einen anderen, angeblich auf Veranlassung des Distriktpräsidenten. Er wurde sofort vom Dienst suspendiert und unter Anklage gestellt. Er floh nach Paris, wo er in tiefstem Elend lebte, während seine Familie zurückblieb, dem Verhungern nah. Drei Kinder waren bereits an Hunger und Krankheiten gestorben.43 „Rous-

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satisfait et mécontent; je disais tant mieux et tant pis. Je comprends que le peuple se fasse justice, j’approuve cette justice lorsqu’elle est satisfaite par l’anéantissement des coupables, mais pourrait - elle aujourd’hui n’être pas cruelle ? Les supplices de tous genres, l’écartellement, la torture, la roue, les bûchers, le fouet, les gibets, les bourreaux multipliés partout, nous ont fait de si mauvaises mœurs ! Les maîtres, au lieu de nous policer, nous ont rendus barbares, parce qu’ils le sont eux - mêmes. Ils récoltent et récolteront ce qu’ils ont semé, car tout cela, ma pauvre femme, aura, à ce qu’il paraît, des suites terribles; nous ne sommes qu’au début.“ Ebd., S. 55. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 91–97, 131–134; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 93–95, 105–109 ( Brief an Sylvain Maréchal ). Dort heißt es auf S. 107 : „Des frères souffrants et laborieux ne virent en moi qu’un ami compatissant et un protecteur, pour les riches égoïstes je ne fus qu’un dangereux apôtre des lois agraires.“ Siehe weiterhin : Espinas, La Philosophie sociale, S. 210–218. Espinas, La Philosophie sociale, S. 215. Vgl. ebd., S. 217 f., 221. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 131–134; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 93–95; Espinas, La Philosophie sociale, S. 217. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 147–157; Thomson, The Babeuf Plot, S. 15; Espinas, La Philosophie sociale, S. 218 f.; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 95; Patoux, Le Faux de Gracchus Babeuf.

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seau, trop sensible Rousseau“, ruft Babeuf aus, „der Gedanke, Du könntest eines Tages außerstande sein, für Deine Kinder zu sorgen, brach Dein Herz; Du konntest sie nicht unterhalten, und Du überließest sie daher von Geburt an der Obhut der Regierung. Dieses Aufgeben – ich kann es verstehen, Du kanntest Deine Kinder nicht; aber sage mir, hättest Du sie in dem Alter aufgegeben, in dem die ersten Zeichen ihrer Intelligenz, die ersten Regungen ihrer Seelen sie so interessant machen ? Oh, mein siebenjähriger Sohn, Du getreues Abbild des guten, unschuldigen Émile ! Oh ! Nein, ich könnte Dich niemals aufgeben.“44 Rousseau konnte er nie vergessen. Als er sich um eine Anstellung bemühte, versicherte er seinem zukünftigen Arbeitgeber : „Ich habe den Charakter eines Philosophen. Ich überlege und denke so viel wie Rousseau zu seiner Zeit. Wie er forsche ich ständig nach den Mitteln, die allgemeines Glück gewährleisten.“45 Zu guter Letzt fügt er hinzu : „Je suis laconique comme un Spartiate.“46 Gereizt durch die Briefe seiner armen Frau, antwortete Babeuf : „Stirb, wenn Du willst.“47 Wie die Jakobiner und die Enragés sagt er, die Liebe zur Revolution habe in ihm jede andere Liebe getötet und ihn „so hart wie den Teufel“ gemacht.48 In Paris lebte Babeuf von privater Wohltätigkeit, bis einflussreiche Leute ihm eine Anstellung im Pariser Lebensmittelamt verschafften, obwohl sein Prozess noch anhängig war. Er geriet bald mit seinen Vorgesetzten in Streit, die er beschuldigte, eine Hungersnot zu planen. Am 23. August 1793 wurde Babeuf vom Strafgericht in Amiens zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde verhaftet, freigelassen, wieder verhaftet und wieder freigelassen, bis es ihm schließlich im Juli 1794 gelang, die Aufhebung des Urteils durchzusetzen, nachdem der Fall durch mehrere Instanzen gegangen war.49 Es kam der 9. Thermidor. Das war das Ende eines Regimes, mit dem Babeuf sich in Übereinstimmung befand. Es war sein besonderes Missgeschick, dass er unter einem Regime, das ihm große Möglichkeiten hätte bieten können, zu einem Ausgestoßenen wurde. Der allgemeine Beginn eines neuen Kapitels am 9. Thermidor bedeutete auch für Babeuf einen neuen Anfang. Bis zu diesem Datum war Babeuf nur ein obskurer Provinzagitator mit einem Schandfleck auf seinem Namen. Nach dem 9. Thermidor wird er ein viel gelesener Journa-

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Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 108. Siehe auch Espinas, La Philosophie sociale, S. 225, Fußnote. Dommanget, Pages choisies, S. 155. Ebd. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 221 : „Meurs, si c’est ton plaisir.“ Siehe auch Espinas, La Philosophie sociale, S. 224 f. Vgl. Espinas, La Philosophie sociale, S. 224. Vgl. ebd., S. 220–222; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 111.

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list, Herausgeber des Pariser Journal de la Liberté de la Presse und Anti - Robespierrist. Ende 1794 kehrte Babeuf zum reinen Glauben des Robespierrismus zurück und wurde zum Apostel des egalitären Kommunismus und zur Seele der Verschwörung, die seinen Namen trägt. Er bezahlte mit dem Tode. Kurz vor seiner Hinrichtung schrieb er unter größten Schmerzen von den Wunden, die er sich selbst zugefügt hatte, nachdem er das Urteil vernahm : „Je ne vécus et ne respirai que pour la justice et le bonheur du peuple.“50

4. Buonarroti Die Theorie und Legende der Babeuf - Bewegung verdanken wahrscheinlich Philippe Buonarroti mehr als Babeuf selbst. Buonarrotis ungewöhnlich sympathische und anziehende Persönlichkeit, seine apostolische Tätigkeit, schließlich seine Geschichte der Verschwörung des Babeuf, die zugleich ein höchst zuverlässiger Bericht und eine ausgezeichnete Darstellung der Lehre ist, gehörten zu den stärksten und begeisterndsten Kräften in der brodelnden revolutionären Untergrundbewegung Europas in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.51 Sie übten einen tiefen Einfluss auf den keimenden Sozialismus aus. Buonarroti war aus ganz anderem Holz geschnitzt als Babeuf. Er war ein Nachkomme Michelangelos und der Sohn eines toskanischen Adeligen, der gute Beziehungen zum Hofe des späteren Kaisers Leopold II. hatte. Er erhielt eine sehr gründliche und vielseitige Bildung.52 Er verfiel früh dem Einfluss der französischen Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts. „J’agis, je parlai, j’écrivis conformément à ces principes“,53 schrieb er. Zutiefst bewegt durch den Ausbruch der Revolution, verließ Buonarroti im Oktober 1789 seine Heimat und übersiedelte nach Korsika.54 Dort gab er Zeitschriften heraus und 50

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Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 314. Babeufs letzte Briefe finden sich bei Dommanget, Pages choisies, S. 309–319, sowie bei Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 222–227, 337–341. Buonarrotis „Histoire de la Conspiration“ erschien zuerst im Jahre 1828. Carnot bemerkt in den von seinem Sohn geschriebenen „Mémoires“ : „Le parti babouviste comptait des cœurs généreux comme Buonarroti.“ Zu finden in Robiquet, Buonarroti et la secte des Égaux, S. 61. Siehe auch Weill, Philippe Buonarroti, S. 241. Vgl. Weill, Philippe Buonarroti, S. 241 f. Ebd., S. 247. In vollem Wortlaut heißt es : „Dès mon adolescence, un instituteur, ami de Jean - Jacques et d’Helvétius, m’inspira l’amour des hommes et la liberté. J’agis, je parlai, j’écrivis conformément à ces préceptes en j’en reçus la récompense. Les grands me décrièrent comme scélérat; les imbéciles me traitèrent de fou.“ Lefebvre, Rapport, S. 561 f., zitiert Garrone, Buonarroti e Babeuf, über den Einfluss des landwirtschaftlichen Systems von Korsika auf Buonarrotis kommunistische Ideen.

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wurde bald zum Leiter des Amtes ernannt, das sich mit Kirchensachen und Staatseigentum beschäftigte. Er kämpfte zäh gegen die eingesessenen Reaktionäre und wurde in einem konterrevolutionären Aufstand abgesetzt und ausgewiesen. Bei seiner Rückkehr wurde er sofort in einen bitteren Kampf gegen Paoli ver wickelt. Er wurde zum ersten Staatskommissar am lokalen Gerichtshof ernannt, dann zum Propagandaleiter einer misslungenen französischen Invasion auf Sardinien. Der Plan schlug fehl, aber Buonarroti erhielt Gelegenheit, die Rolle des Rousseau’schen Gesetzgebers auf der kleinen Insel Saint Pierre zu spielen, die den neuen Namen Ile de l’Egalité erhielt.55 Am 27. Mai 1793 dekretierte der Nationalkonvent – in Anerkennung geleisteter Dienste – Buonarrotis Naturalisation als französischer Staatsbürger. Während seines Pariser Aufenthaltes knüpfte Buonarroti enge Beziehungen zu den jakobinischen Führern und war ein häufiger Gast im Hause Robespierres. In den letzten Monaten vor dem Thermidor war Buonarroti in Südfrankreich tätig. Er war den an der italienischen Front kämpfenden Armeen zugeteilt und trug die Verantwortung für verschiedene wichtige administrative, politische und erzieherische Aufgaben. Er beteiligte sich auch an der Vorbereitung von Plänen für die Invasion und „Republikanisierung“ Italiens und Korsikas, das damals in britischen Händen war. Der 9. Thermidor brachte Buonarroti ins Gefängnis von Plessis. Nach seiner Entlassung von dort schloss er sich der Verschwörung des Babeuf als einer ihrer Führer an. Er wurde später der Hohepriester des egalitären Kommunismus in Europa, nachdem er seine Gefängnisstrafe abgebüßt hatte und in die Verbannung gegangen war.56 Es war der lauterste Idealismus, der Buonarroti zum egalitären Kommunisten machte. Er war Robespierrist reinsten Wassers, mit seinem unerschütterlichen Vertrauen in vertu, seiner Opposition gegen den Materialismus, obwohl er sich als Schüler von Helvétius bekannte, seinem Glauben an das Höchste Wesen und die bürgerliche Religion.57 Aber im Gegensatz zu dem düsteren, verbissenen Meister hegte Buonarroti keinen persönlichen Groll gegen die Welt oder die Menschen. Seine Person und sein Leben waren umfangen von jener Romantik der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, die aus einem Delacroix und einem Victor Hugo zu uns spricht. Seine Erscheinung hatte etwas von edler Würde.58 Er war Italiener von Geburt, wurde zum eifri-

55 56 57 58

Vgl. Weill, Philippe Buonarroti, S. 242–247. Vgl. ebd., S. 247–255. Vgl. Buonarroti, Obser vations sur Maximilien Robespierre. Vgl. Andryane, Souvenirs de Genève, Band 1, S. 136–139, 153–155 ( eine glühende Beschreibung von Buonarroti im ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts ); Robiquet, Buonarroti et la secte des Égaux, S. 154 f.; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 292 ( Achtungsbezeugung des Anklägers Bailly für Buonarroti ).

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gen französischen Patrioten, blieb aber tief interessiert an und verbunden mit dem Kampf um das Risorgimento. Doch kein bestimmtes Land war sein Vaterland. Sein wahres Vaterland war die Revolution, und in Frankreich sah Buonarroti den Messias der Revolution. Signal und Führung mussten von Paris kommen. Dies brachte ihn in Konflikt mit dem jungen, im Aufstieg befindlichen Propheten Mazzini. Eine weitere Unstimmigkeit in einem Punkt von messianischer Bedeutung trennte sie. Der alte Verschwörer konnte sich den Tag des Gerichts nicht ohne Feuer und Zähneknirschen vorstellen. Diktatur und Terror waren nach seiner Meinung eine unausweichliche Notwendigkeit der Revolution. Mazzini wurde von seinem tiefen Vertrauen in das italienische Volk zu der Überzeugung gebracht, mit dem Ausbruch der Revolution würde eine Woge brüderlicher Liebe durch Italien fluten, die es unnötig machen würde, irgendjemanden zu zwingen. Buonarroti lehnte auch Mazzinis Verbindung mit den italienischen oberen Klassen ab. Er konnte keinem Kampf für nationale Befreiung zustimmen, der nicht gleichzeitig ein sozialer Aufstand war. Das Ende war, dass Buonarroti seinen Gegner exkommunizierte.59 Buonarroti war der Prototyp jener revolutionären Propheten, die den größten Teil ihres Lebens in Gefängnissen oder in der Verbannung zubrachten und denen die Polizei halb Europas vereint auf den Fersen war; Männer aus Stahl, nie gebrochen durch Folter, nie geschwächt durch Misserfolg oder Gleichgültigkeit, noch verführt durch Köder; Mitglieder, oder richtiger, Führer einer internationalen Bruderschaft mit Geheimzellen, illegalen Papieren, heimlichen Treffpunkten, geheimnisvollen Riten und Symbolen, in endloser Wachsamkeit auf den Tag der Erfüllung wartend. Als die Revolution von 1830 ihm erlaubte, nach einem Exil von dreiunddreißig Jahren nach Paris zurückzukehren, war er für seine Zeitgenossen fast wie eine übernatürliche Erscheinung. Als Nestor der Revolution benahm er sich von da an wie der Führer einer Partei : Er versandte Instruktionen, erhielt Berichte, sammelte alle aktiven Revolutionäre um sich, unter ihnen Voyer d’Argenson aus der berühmten Familie, Charles Teste, den Herausgeber des National, Trélat, Hareau, Raspail, Louis Blanc und schließlich Auguste Blanqui. Mit ihrer Hilfe organisierte er die Charbonnerie Démocratique Universelle. Seine Schüler verehrten ihn wie einen Gott. In den letzten paar Jahren wurde Buonarroti noch verschwiegener als je. Seine Leidenschaft für Verschwörung und revolutionäre Symbolik war unvermindert. Er missbilligte alle Hast und verfrühten revolutionären Ausbrüche, ob sie nun von Mazzini, der Société des Droits de l’Homme oder durch die Streiks in Lyon von 1833 eingeleitet wurden. Buonarroti starb am 17. September 1837. Sein Begräbnis wurde zu einer jener

59

Vgl. Weill, Philippe Buonarroti, S. 272 f.

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berühmten republikanischen Kundgebungen, einem Donner ähnlich, der den heraufziehenden Sturm der Revolution ansagte.60 Kurz vor seinem Tod sagte Buonarroti zu Trélat : „Ich werde bald mit jenen vortreff lichen Männern vereint sein, die solche guten Beispiele gegeben haben.“61 Er meinte natürlich nicht die Heiligen der Kirche. Er meinte Lykurg, Gracchus, Rousseau, Robespierre und ähnliche.62 Das neunzehnte Jahrhundert begann bereits, das Antlitz der Erde zu verändern, eine beispiellose industrielle Entwicklung brach sich Bahn, aber Buonarroti lebte noch in den Zeiten von 1793 und 1796.63 In einer glühenden Apologie Robespierres sagte Buonarroti in Hör weite des Italieners Mamiami : „Die Völker marschieren jenem Ziel entgegen [...]; Gleichheit [...] die einzige Einrichtung, die alle Bedürfnisse befriedigen, unsere nützlichen Leidenschaften lenken, die gefährlichen fesseln und der Gesellschaft ein freies, glückliches, friedliches und beständiges Regime geben kann. Aber ich werde es nicht erleben, das ist sicher. Mag es genügen, dass ich mein Vertrauen darauf immer lebendig und unverändert erhalten habe und dass mich niemand der Inkonsequenz bezichtigen kann.“64

60 61 62 63 64

Vgl. ebd., S. 270–275. Robiquet, Buonarroti et la secte des Égaux, S. 243. Vgl. Buonarroti, Obser vations sur Maximilien Robespierre, S. 481. Vgl. Weill, Les Papiers de Buonarroti, S. 322 f. Buonarroti, Conspiration, Band 1, Avant - propos, S. VIII; Buonarroti, Gracchus Babeuf et la conjuration, S. XI ( Vor wort von A. Ranc ); Weill, Philippe Buonarroti, S. 271. A. d. Hg. : Der Name des Italieners lautete Mamiani, nicht wie von Talmon angegeben Morini. Siehe Mamiani, Terenzio, Parigi or fa cinquant’anni, S. 581–609, Zitat : S. 586 f.

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II. Die Babeuf’ sche sozia le Dokt rin 1. Gleichheit und der Gesellschaftsvertrag Babeuf und die um ihn waren terribles simplificateurs, fanatisch davon überzeugt, dass es ein alleiniges und alles erklärendes Prinzip des sozialen Daseins gibt. Sie glaubten, dies sei die menschliche Gleichheit. Ihr Postulat der Gleichheit nahm keine Kenntnis von der Mannigfaltigkeit des menschlichen Erlebens und der historischen Realitäten; es ver weigerte sowohl der Einzigartigkeit von Menschen und Situationen als auch dem irrationalen Element im menschlichen Verhalten jede Anerkennung. Die philosophische Basis des Begriffes der Gleichheit war nach Buonarroti darin zu finden, dass der Mensch intuitiv jedes Individuum der menschlichen Gattung als gleich anerkennt, in dem Gefühl und Mitleid, das das Leiden unserer Mitmenschen in jedem von uns erweckt, und „in der Geistigkeit des Denkprinzips“.65 „Dieses Prinzip, welches für ihn allein sein gesamtes menschliches Selbst ( tout le moi humain ) bildet, unteilbar und rein, und immer von derselben Quelle hergeleitet, ist notwendiger weise in jedem Individuum unserer Gattung gleich.“66 Mit anderen Worten, Vernunft, das wesentliche Kennzeichen des Menschen, sei in allen gleich gegenwärtig, während die verschiedenen Anlagen und Begabungen verschiedener Individuen zufällig seien und an der wesentlichen Gleichartigkeit des menschlichen Geistes nichts ändern. Außerdem seien diese Zufälle vor wiegend das Ergebnis von Umständen und Gelegenheiten. Die Verschiedenheiten in Anlage und Begabung seien im Übrigen von eigennützigem Interesse ungeheuerlich übertrieben worden.67 Das Leben und die Erfahrung der ganzen Menschheit seien auf einen im Wesentlichen identischen Umkreis von Bedürfnissen, Trieben und Neigungen begrenzt : „das Nahrungsbedürfnis, den Fortpflanzungstrieb, Eigenliebe, Mitleid, freundliche Zuneigungen, die Anlage zu fühlen, zu denken, zu wollen, unsere Gedanken mitzuteilen und die unserer Gefährten zu verstehen, und unsere Handlungen Regeln anzupassen; Abscheu vor Zwang und Liebe zur Freiheit.“68 Diese Menschenrechte, die aus dem naturrechtlichen Prinzip der Gleichheit herrühren, seien die Grundlage des Gesellschaftsvertrages. Der Vertrag 65 66 67 68

Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 11, Fußnote. Vgl. insgesamt ebd., S. 9–12, besonders die Fußnote. Ebd., S. 11, Fußnote. Vgl. ebd., S. 10 f., Fußnote. Ebd., S. 11, Fußnote.

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beabsichtigte, ein System von Einrichtungen zu schaffen, um die natürliche Gleichheit zu erhalten und zu verhindern, dass unbestreitbare – körperliche oder geistige – Ungleichheiten die Oberhand gewinnen.69 Das Wesentliche, das „Elixir“ des Rousseau’schen Vertrages sei, dass alle genug haben und niemand mehr als genug.70 Es sei die Aufgabe des Staates, die notwendigen Einrichtungen für gleichmäßige Verteilung zu schaffen. Der Staat sollte auch ermächtigt sein, „Reichtum und Macht der Individuen innerhalb gerechter Grenzen zu halten [...] dadurch, dass er alle Bürger gleichmäßig den Gesetzen unter wirft, die aus dem Ganzen her vorgehen“, und alle zur Arbeit zu zwingen.71 Nach Buonarroti war es Mably – Babeuf würde eher Morelly sagen –, der zuerst fand, „die Wissenschaft von der Politik bestehe in der Kunst der wirkungsvollen Unterdrückung dieser Leidenschaften“, der Habgier und des Ehrgeizes, um das allgemeine Glück, das der ursprüngliche Gesellschaftsvertrag feierlich versprach, zu ver wirklichen.72 In dieser Auslegung des Gesellschaftsvertrages liegt der Nachdruck offensichtlich nicht auf der Garantie für die freie Initiative des Einzelnen, sondern auf der Macht und den Aufgaben des Staates. Freiheit, nach Buonarroti, „liegt in der Macht des Souveräns, der aus der Gesamtheit des Volkes besteht, eine unparteiische Verteilung von Gütern und Genüssen durchzuführen“.73 Der Einzelne ist nicht mehr als ein Angestellter und Pensionsempfänger des Staates. Buonarroti geht noch weiter. Er macht geltend, Rousseau habe auch gewollt, dass der Staat der geistige Führer und Herr der Menschen sei. „Diese soziale Ordnung unter wirft die Handlungen und den Besitz jedes Einzelnen dem Willen des souveränen Volkes, unterstützt diejenigen Handlungen, die für alle nützlich sind, ächtet solche, die nur der Eitelkeit von wenigen schmeicheln, entwickelt, ohne Bevorzugung und Parteilichkeit, die Vernunft jedes Bürgers, ersetzt niedrige Habgier durch Liebe zum Vaterland und Ruhm und formt die ganze Gesellschaft zu einer großen friedfertigen Familie, in der jedes Mitglied dem Willen des Ganzen unter worfen ist, aber kein Mitglied dem eines 69 70

71 72

73

Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 12 f.; Dommanget, Pages choisies, S. 237 f. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 92, 102 ( hier die Fußnote ); Dommanget, Pages choisies, S. 255; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 393; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 12, Fußnote. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 12, Fußnote. Ebd., S. 9, Fußnote 2. Babeuf bezieht sich auf Diderot ( meint Morelly ), Robespierre, Saint - Just, Raynal, Harmand de la Meuse, Antonelle. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 34; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 93–99; Dommanget, Pages choisies, S. 255 f. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 8.

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anderen.“74 Der Staat, und nicht der ungezügelte Geist des Individuums, ist die Quelle des sozialen wie auch des sittlichen Fortschritts.75 Logischer weise sollte eine solche Haltung ein apriorisches Prinzip zum Ausgangspunkt wählen oder ein Ziel, das außerhalb des menschlichen Willens und über ihm steht. Das Paradox der Babeuf’schen Theorie wie des Jakobinismus war die individualistische Basis ihrer kollektivistischen Philosophie.76 Babeuf erklärte, das Glück des Menschen, oder das allgemeine Glück, sei das alleinige Ziel der Gesellschaft : „le type inattaquable de toute vérité et de toute justice; [...] en entier la loi et les prophètes.“77 Doch welche Art von Glück wird hier angestrebt ? Sicherheit, „kontrollierbares Schicksal“, Ausschaltung aller Zufälle.78 Hätten nicht Babeuf und seine Anhänger so sehr unter Unsicherheit gelitten, so könnte man ihrem Glaubensbekenntnis wahrlich mangelnden Wagemut vor werfen.

2. Die Geschichte als Geschichte des Klassenkampfes Die Geschichtstheorie Babeufs ist eine gewaltige Vereinfachung, die von dem Postulat eines einzigen Prinzips bestimmt wird. Das ganze Drama der Geschichte scheint sich zwischen dem Augenblick der Verletzung der ursprünglichen Gleichheit und ihrer Wiederherstellung an einem vorbestimmten zukünftigen Zeitpunkt abzuspielen. Sie kann zusammenfassend als die Geschichte der Habgier bezeichnet werden. Die Behandlung des Gegenstands durch die Babeuf - Schule erinnert stark an mittelalterliche Predigten; sie stützt sich sehr auf Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit und auf Mablys asketischen Sozialismus, und gelegentlich macht sie den Eindruck eines rohen Prototyps mar xistischer Analyse. Die Verletzung der Bedingungen des ursprünglichen Gesellschaftsvertrages hatte eine Situation zur Folge, in der es „den Dümmsten, den Schlechtesten, 74 75 76

77

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Ebd., S. 8 f. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 182. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 395, zitiert fälschlich Barrère anstelle von Saint - Just als Autor des Schlagworts „puissants de la terre“. Siehe auch Brief an Germain, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 207–221. Babeuf, zit. in Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 34 f. In vollem Wortlaut : „J’ai dit que le code social qui a établi dans sa première ligne que le bonheur était le seul but de la société, a consacré dans cette ligne le type inattaquable de toute vérité et de toute justice. C’est là en entier la loi et les prophètes.“ Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 105; Dommanget, Pages choisies, S. 261. A. d. Hg. : Siehe auch Dommanget, Pages choisies, S. 214.

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den Schwächsten und den am wenigsten Zahlreichen möglich wurde, die große Mehrzahl der stärksten, tugendhaftesten und sogar gebildetsten Menschen mit mühevoller Arbeit und Pflichten zu überbürden und sie ihrer natürlichen Freiheit zu berauben“.79 Diese Veränderung kann auf einen einzigen Faktor zurückgeführt werden : den Erwerbsgeist. Objektive Faktoren, die auf Klassenunterschiede hinwirken – wie Veränderungen in der Produktionsweise –, werden noch nicht wahrgenommen. Auch der Anteil, in dem das Streben nach höherer Kultur den Wunsch nach größerem Reichtum beeinflusst, wird nicht zugegeben. Die Besitzenden, mit Nichtstuern gleichzusetzen, sind immer schlecht. Ihr Reichtum wird niemals als verdient betrachtet. Die unterdrückten Armen sind immer rechtschaffen und gut. Körperliche Arbeit ist der einzige wirkliche Beitrag zum Wohlstand. Die Rolle des Unternehmers und Fachmannes – deren Zeitalter noch nicht gekommen war – wird als nebensächlich angesehen, und ihre Ansprüche werden mit Verachtung und Ärger als anmaßend und unmoralisch behandelt.80 Das Rechts - und Erziehungssystem, der sittliche Ausblick, ja die ganze Weltanschauung der bestehenden Gesellschaft werden als ein Überbau dargestellt, der mit Vorbehalt auf Habgier aufgebaut ist, um ihre Herrschaft des Plünderns zu sichern. Zuerst kam die Institution des Privateigentums, dann das Erbrecht, danach im Gefolge des Feudalismus das Erstgeburtsrecht und die feudale Theorie von dem göttlichen Recht der Lehnsherren, ihre Vasallen auszubeuten. Um die Klassenunterschiede in der bürgerlichen Welt zu rechtfertigen, wurden falsche Meinungen über die wahre Überlegenheit eines Berufs über den anderen verbreitet, und es wurden Ansprüche auf Vorzugsbehandlung wegen angeblicher höherer Fähigkeiten gestellt.81 „Als ob verschiedene Menschen verschiedene Mägen hätten.“82 Der Handel wird von Babeuf 79

80 81

82

Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 12, Fußnote. Siehe auch Babeuf ( Hg.), Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 13; Dommanget, Pages choisies, S. 238. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 258 f.; Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXX f. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 2 : Correspondance, S. 190; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 103; Dommanget, Pages choisies, S. 258 f.; Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXVI, XXVIII, XXX f., XL; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 39 : ein Arbeiter, der schneller arbeitet als andere, sollte als eine Plage behandelt werden. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 103; Dommanget, Pages choisies, S. 259. A. d. Hg. : Zitat mit diesem Wortlaut nicht nachweisbar. In den beiden angegebenen Quellen heißt es : „Qu’il y a absurdité et injustice dans la prétention d’une plus grande récompense pour celui dont la tâche exige un plus haut degré d’intelligence, et plus d’application et de tension d’esprit; que cela n’étend nullement la capacité de son estomach.“

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als das schlimmste Gift des sozialen Körpers bezeichnet, und dabei sollte er sein Herzblut sein. Er hält die ersten – und wirklichen – Produzenten knapp an lebensnotwendigen Gütern, die von ihnen selbst produziert werden. Die Händler befinden sich in ständiger Verschwörung gegen die Verbraucherklasse : Sie erhöhen und senken die Preise willkürlich, schaffen künstliche Knappheit oder Überfluss, täuschen das Publikum durch falsche Ankündigungen und intrigieren gemeinsam, um die Löhne der Arbeiter herabzusetzen.83 Staatsgesetze und Besteuerung seien so eingerichtet, dass sie die Besitzlosen aller Mittel berauben, um aus ihrer Erniedrigung aufzusteigen. Sie strafen die Behauptung Lügen, die Armen seien frei, ihre Dienste zu verkaufen oder zurückzuhalten. Die Reichen als Herren ihrer Arbeitskraft seien in der Lage, ihnen Bedingungen zu diktieren; da sie alle lebensnotwendigen Güter in ihrer Gewalt haben, können sie den „Proletariern“, die nicht in der Lage sind, Bedingungen auszuhandeln, das Gesetz aufzwingen.84 Babeuf spricht von den „codes bizarres“, die als Werke der Voraussicht und Gerechtigkeit gepriesen werden und dabei das unverkennbare Merkmal der Habgier tragen.85 Falsche Lehren wurden verbreitet, um das ungerechte System als die einzige natürliche Ordnung erscheinen zu lassen.86 Die Achtung vor dem Privateigentum wurde zum Fels der sozialen Ordnung erklärt; das Nebeneinanderbestehen von Ausbeutung und Unterdrückung wurde als soziale Harmonie proklamiert; der Groll der Unterdrückten als umstürzlerisch. Den Ver wüstungen und Tücken des Erwerbsgeistes waren keine Grenzen gesetzt. Dem Erfolg gieriger Praktiken wurde Beifall gezollt als dem Triumph von Tüchtigkeit und Glückszufall, während den Armen eingeredet wurde, an ihrem Unglück sei nicht die unrechtmäßige Aneignung aus Habgier schuld, sondern Untüchtigkeit und Missgeschick. Sogar das befriedigende Bewusstsein, dass ihre Klageführung berechtigt sei, wurde den Unterdrückten nicht gelassen. Die Besitzenden überzeugten sich schließlich von der Natürlichkeit dieser Ordnung : dass „Übergeordnete“ auf Kosten der „Untergeordneten“ leben sollten. Sie wurden unempfindlich und gleichgültig gegenüber den Leiden ihrer hungernden Mit83 84

85 86

Vgl. Brief an Germain, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 207–212. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 13 f. : „Ces lois sont homicides : elles sont destructives du contrat social primitif qui a nécessairement garanti le maintien, perpétuellement inaltérable, de la suffisance des besoins.“ Auch zu finden bei Dommanget, Pages choisies, S. 238. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 2 : Correspondance, S. 190–195, bes. S. 191. Vgl. Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXXV. Dommanget, Pages choisies, S. 90 sowie Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. 15 : „Peu de nations se sont pénétrées de cette vérité, cependant infiniment simple à saisir : que la principale puissance réside indubitablement du côté où le nombre des bras est le plus considérable [...] que vingt - cinq pouvaient avoir une valeur plus qu’égale à un.“

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menschen. Alle ethischen Instinkte wurden zersetzt durch Habgier, Eifersucht, Verderbtheit, Rastlosigkeit, Krieg und soziale Unruhen.87 Der Verfall der Gattung hatte eingesetzt. „La société est une caverne. L’harmonie qui y règne est un crime. Que vient - on parler de lois et de propriétés ? Les propriétés sont le partage des usurpateurs, et les lois l’ouvrage du plus fort“,88 ruft Babeuf aus. Die Gesellschaft werde so von einem unaufhörlichen, wenn auch meist stillen Bürgerkrieg zerrissen, den die herrschenden Klassen bemüht sind zu übersehen oder zu beschönigen.89 Es gibt jedoch seltene Augenblicke, in denen der stille Kampf zum offenen Kampf wird. Das geschehe, „quand les extrèmes se touchent“, wenn aller Reichtum der Gesellschaft in den Händen einer kleinen Minderheit monopolisiert sei, während die Zahl der Enteigneten, die nichts zu verlieren haben, anschwelle, bis sie die über wiegende Mehrzahl der Nation umfasse.90 Und so bedeute der Höhepunkt des Systems seine Auf lösung. Die vollkommene Zerstörung der natürlichen Ordnung der Gleichheit sei der Anfang ihrer Wiederherstellung. „L’ordre naturel peut être défiguré, changé, bouleversé, mais son entière destruction tend à le reproduire.“91 Solche Momente, schreibt Babeuf in seinem dithyrambischen Stil, seien in der Apokalypse der Geschichte, im Buch der Zeiten, prophezeit worden.92 Den Massen werde plötzlich klar, dass sie erwachsen seien. Sie beginnen, ihre Rechte „en qualité d’hommes“ zu fordern, nicht mehr gewillt, sich von selbsternannten, unwürdigen Mentoren bevormunden zu lassen; sie trotzen den abergläu87

88 89

90 91 92

Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 13 sowie Dommanget, Pages choisies, S. 238 : „Le plèbe met en réquisition toutes les vertus, la justice, la philanthropie, le désintéressement. Le patriciat appelle à son secours tous les crimes, l’astuce, la duplicité, la perfidie, la cupidité, l’orgueil, l’ambition.“ Espinas, La Philosophie sociale, S. 236. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 11–14, Nr. 35, S. 76 f., Fußnote; Dommanget, Pages choisies, S. 236–239, 249 f. „Voilà la déclaration solennelle des plébéiens aux patriciens, et le prologue sérieux de l’insurrection et de la révolution. Cette guerre des plébéiens et des patriciens, ou des pauvres et des riches, n’existe pas seulement du moment où elle est déclarée. Elle est perpétuelle, elle commence dès que les institutions tendent à ce que les uns prennent tout et à ce qu’il ne reste rien aux autres. Il semble aux riches, qu’en feignant la sécurité, en s’efforçant de faire croire aux pauvres que leur état est inévitablement dans la nature, c’est là la meilleure barrière contre les entreprises des derniers; mais quand le déclaratoire insurrectionnel est proclamé, alors la lutte s’engage vivement, et chacun des deux partis emploie tous ses moyens pour faire triompher le sien.“ Dommanget, Pages choisies, S. 238. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 122. Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXIX. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 30 f.; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 37, S. 136; Dommanget, Pages choisies, S. 251, 271 f.

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bischen Lehren und absichtsvoll irreführenden Prinzipien, mit deren Hilfe die Besitzenden sie niedergehalten hatten. Unter solchen Umständen explodiert der vereinigende Rahmen nationaler Einheit. Die Armen lieben ihr Vaterland, aber wenn ein Wahlzensus sie daran hindert, ihr Recht der Volkssouveränität auszuüben, so haben sie alles Recht zu erklären, dass sie ohne Rechte keine Pflichten anerkennen, keine Verpflichtung, Gesetzen zu gehorchen, an deren Abfassung sie keinen Anteil hatten. Wenn sie ihrer aktiven Bürgerrechte beraubt werden, seien sie dem Staat keine Gefolgschaft schuldig. Sie brauchen nur mit verschränkten Armen dazusitzen und das Leben der Nation durch einen Generalstreik lahmzulegen.93 Das Volk verlange die vollständige Erfüllung der Bedingungen des Gesellschaftsvertrages, das heißt eine allgemeine Rückerstattung alles dessen, was gestohlen und usurpiert wurde. Wenn der Strom des Volkszorns erst losgelassen werde, könne kein Damm ihm Einhalt gebieten. Um Babeufs eigene Worte zu zitieren : „Denn es gibt Zeitpunkte, in denen die letzten Konsequenzen dieser mörderischen Sozialgesetze darin resultieren, dass die gesamten Reichtümer von wenigen verschlungen werden; in denen der Friede, der natürliche Zustand, in dem alle glücklich sind, unumgänglich gestört wird; in denen die Massen nicht länger in der Lage sind weiterzumachen, wenn sie alles außer Reichweite finden, nichts als mitleidlose Herzen antreffen in der Kaste, die alles an sich gerissen hat; diese Tatsachen gestalten die Epoche jener großen Revolutionen, bestimmen jene denkwürdigen Perioden, die im Buch der Zeiten und Geschicke vorausgesagt sind, in denen ein allgemeiner Umsturz im Eigentumssystem unaufhaltsam wird, und der Aufstand der Armen gegen die Reichen unvermeidlich, durch nichts zu verhindern ist.“94

3. Die Interpretation der Französischen Revolution Die Babeuf’sche Theorie fasste die Französische Revolution als den Beginn einer apokalyptischen Stunde in der Menschheitsgeschichte auf. Babeuf und Buonarroti unterziehen die Französische Revolution einer Analyse, deren Ziel 93

94

Dommanget, Pages choisies, S. 102, zitiert den „Correspondant Picard“ vom November 1790 : „Nous nous dispenserions encore de faire ser vir nos bras.“ Der Ausdruck „bras croisés“ stammt von Marat, Ami du peuple, 30.6.1790, wie Dommanget ausführt ( ebd., Fußnote ). Siehe auch Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXXV. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 30 f.; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 37, S. 136; Dommanget, Pages choisies, S. 271 f. Vgl. auch Manifeste des Égaux, zit. in Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 130–136; Dommanget, Pages choisies, S. 126–130.

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es ist zu beweisen, dass ihr Verlauf die Entfaltung einer Dialektik darstellte, die den Menschen voll bewusst wurde, als sie sich ihrer Vollendung näherte. Sie postulieren eine bestimmte Dynamik in der Revolution, die, wenn sie ihren vorbestimmten Kurs hätte weiterverfolgen können, nicht haltgemacht hätte, ohne das vorausgesagte System vollkommener Gleichheit, oder gar richtigen Kommunismus, erreicht zu haben. „C’est là où se repose toujours un peuple lorsqu’il est parvenu à améliorer sa constitution sous tous les autres rapports.“95 Die Gleichheit „allein bildet eine vernünftige Grenze für die Revolution, die ein Verbrechen wäre, wenn sie, unter Veränderung lediglich der Form der Unterdrückung, die Massen in Knechtschaft beließe, die durch falsche Hoffnung verschlimmert und durch die vergrößerte Zahl und Verderbtheit der Unterdrücker befestigt würde.“96 Die Französische Revolution erscheint als eine Lektion im Klassenkampf, einem anfänglich unbewussten, dann voll bewusst gewordenen Kampf zwischen den beiden Kräften, den beiden sozialen Klassen, die nach Robespierre’scher Tradition mit Tugend und Unmoral gleichgesetzt wurden. Die Klasse der Reichen, der Selbstsucht schuldig und mit dem Makel der Privilegien behaftet, ist unmoralisch, während die Partei, die sich für gleiche Rechte für alle und die Rehabilitierung der Armen einsetzt, die Tugend repräsentiert. Eine gewisse Inkonsequenz in Babeufs Ansichten über die Ursprünge der Revolution ist nicht uninteressant. Einmal beschreibt er 1789 als einen jener apokalyptischen Augenblicke in der Geschichte, in dem die Akkumulation von Unterdrückung und Elend dem „ébranlement majestueux“ des Volkes eine Dringlichkeit verleiht, die unwiderstehlich ist.97 Ein anderes Mal schreibt er in einem recht nachdenklichen Artikel, der Ausbruch der Revolution sei nicht so sehr durch Unterdrückung als durch nationalen Stolz verursacht worden. Verglichen mit anderen Ländern sei die Lage in Frankreich vor 1789 nicht so unerträglich gewesen. Die Franzosen wollten jedoch nicht hinter den Vereinigten Staaten und Holland zurückstehen, wo ein Kampf um die Freiheit den Sieg der Volkssouveränität errungen hatte.98 Die frühen Tage der Revolution seien durch große Einmütigkeit gekennzeichnet gewesen. Der Beweggrund sei nicht Tugend, sondern Ehrgeiz, die Hoffnung auf Vorteil und Macht gewesen. Als die „reiche und lasterhafte Klas95 96 97 98

Brief an Coupé, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 122 f. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 214. Buonarrotis Ansichten zur Geschichte der Revolution : Siehe ders., Conspiration, Band 1. Dommanget, Pages choisies, S. 251. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 139–148, bes. S. 142 f. Als weitere Bewertung der Revolution siehe auch den Brief an Bodson, zit. in Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 52–54, sowie Dommanget, Pages choisies, S. 284–286.

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se“ die Monarchie und die feudale Kaste geschwächt und alle nur möglichen Vorteile erreicht hatte, war sie entschlossen, der Revolution ein Ende zu setzen.99 Doch da geschah etwas Uner wartetes. Nachdem die Tugend, das heißt das nationale Interesse als Ganzes, das mit dem Interesse der größten Zahl zusammenfalle, in den ersten Nationalversammlungen recht schwach gewesen sei, habe sie in der dritten, dem Konvent, eine Anzahl von glühenden Anhängern gewonnen. Zwar waren diese in der Versammlung selbst in der Minderheit, doch machten die Beschaffenheit ihres Ideals und die Unterstützung der Massen sie äußerst wirkungsvoll und mächtig genug, um der großen Zahl von Revolutionsgewinnlern entgegenzutreten.100 Und so begannen die beiden Parteien, in voller Kenntnis dessen, was sie trennte, einander gegenüberzustehen. „L’un qui veut le bien pour le seul appât de la gloire, l’autre qui veut le mal pour l’avantage honteux de faire son bien personnel.“101 Beide Parteien mögen eine Republik angestrebt haben, aber die eine wollte sie bürgerlich und aristokratisch, während die andere, die sich für den wahren Schöpfer der Revolution hielt, sie als Republik des Volkes wollte. Die eine Partei wollte eine „Republik von einer Million“, der Million von Feinden, Herren, Ausbeutern, Unterdrückern und Blutsaugern der restlichen vierundzwanzig Millionen; sie sollten weiter alle Privilegien, Müßiggang und Überfluss genießen und dabei die über wiegende Mehrheit des Volkes zum Status von Sklaven und Heloten erniedrigen. Die andere Partei wollte eine Republik für die vierundzwanzig Millionen, die „ihre Fundamente gelegt und sie mit ihrem Blut zementiert haben, die ihr Vaterland ernähren, erhalten und mit allen Lebensnotwendigkeiten versorgen, es verteidigen und für seine Sicherheit und seinen Ruhm in den Tod gehen“.102 Diese Partei gab sich nicht zufrieden mit gleichen Rechten und „Gleichheit in den Büchern“, sondern strebte nach einer rechtlichen Garantie für „l’honnête aisance“, nach gleicher Befriedigung der Bedürfnisse und Sicherung aller sozialen Vorteile.103 Der Vertreter der Tugend war Robespierre, der zeitweise recht isoliert war inmitten seiner Kollegen und der Faktionen.104 Schon 1791 sah Babeuf in ihm einen heimlichen oder zumindest potentiellen Anhänger – „en dernier résul-

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Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 139–148, bes. S. 143. Vgl. ebd., S. 143–145. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 29, S. 264. Ebd., S. 263; Dommanget, Pages choisies, S. 192. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 29, S. 263; Dommanget, Pages choisies, S. 192 f. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 147 f. Siehe außerdem ebd., S. 104 ( A. d. Hg. : Hier geht es über wiegend um die Personen, die an der Ausarbeitung der Verfassung mitgewirkt haben ).

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tat“ – der Idee des loi agraire.105 Die Faktionen, die genau die tugendhafte Veranlagung der Massen kannten und wussten, dass ihre Interessen mit den strengsten Geboten ewiger Gerechtigkeit identisch waren, bemühten sich, das Volk zu täuschen, indem sie seine Sache im Munde führten und ihm nur ein Trugbild der Gerechtigkeit vorgaukelten. Robespierre war der Einzige, der aufrichtig danach strebte, dem Volke die wirkliche Freiheit zu geben.106 Babeuf und seine Anhänger sind die Erben von Robespierre und Saint - Just, die ihrerseits die ersten Vollstrecker der ewigen Philosophie solcher Propheten einer gerechten sozialen Ordnung waren, wie Minos, Lykurg, Platon, der „Gesetzgeber der Christen“, der „Jude Jesus Christus“, Thomas More, Montesquieu, Mably, Morelly ( Diderot ), Raynal und, vor allem, Rousseau, alle Propheten der Tugend und Gleichheit, im Gegensatz zu den Predigern des „Systems des Egoismus“, wie Buonarroti die englischen Nationalökonomen bezeichnete.107 Babeuf ist der zweite Gracchus, der das Testament des Unbestechlichen vollstreckt, den letzten Akt der Revolution in Szene setzt.108 Mit diesem einen wesentlichen Unterschied : Während die ersten Gracchen, Robespierre und Saint - Just, im Dunkeln tappten und improvisierten, ihres Zieles und seiner Durchführbarkeit nicht voll bewusst, ohne richtige Organisation und Programm, inmitten persönlicher Divergenzen und heterogener Ideen, und daher nur „des résultats imparfaits et définitivement nuls“ erzielen konnten, war die Babeuf - Bewegung nicht nur reicher an Erfahrung von Erfolg und Misserfolg, sondern ihnen durch die Genauigkeit ihres Zieles überlegen, durch das volle Bewusstsein seiner Bedeutung und den Besitz der notwendigen Organisation und Zielbewusstheit für seine Ausführung : „de marquer d’avance un point unique où, sans partage, sans modification, sans restrictions, sans nuances, vous tendrez tous; et d’être circonscrits dans un cercle étroit d’hommes vertueux, isolés de tout ce qui pourrait opposer des vues divergentes et contradictoires, de tout ce qui ne serait point capable de se confondre dans le sentiment un et parfait de l’apogée du bien.“109

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Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 129 f.; Espinas, La Philosophie sociale, S. 410; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 392. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 8 f.; Dommanget, Pages Choisies, S. 235 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 6–10. A. d. Hg. : Siehe auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 92–99 sowie Dommanget, Pages choisies, S. 255 f. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 54; Dommanget, Pages choisies, S. 286. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 139 f.

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Die Babeuf - Bewegung ist insofern der letzte Abschnitt der Revolution, der permanenten Revolution, als sie beabsichtigt, endlich ein Zeitalter wirklicher und nicht „spekulativer und lächerlicher Gleichheit“ einzuführen.110 Hierin liegt der Unterschied gegenüber allen ihr vorangegangenen Revolutionen. Diese uneingeschränkte Gleichheit wird mit dem größten Glück der Gesamtheit gleichgesetzt, mit der „Gewissheit, ihrer nie wieder verlustig zu gehen“.111 Das „Manifest der Gleichen“, das von dem Dichter Sylvain Maréchal, einem altgedienten Atheisten und Kommunisten, verfasst war, drückt diesen Bewusstseinszustand wie folgt aus : „Die Französische Revolution ist nur der Vorläufer einer anderen, viel großartigeren, viel feierlicheren Revolution, die die Letzte sein wird. [...] Noch nie wurde ein gewaltigerer Plan erdacht und ausgeführt. In großen Abständen in der Weltgeschichte sprachen einige geniale Männer – einige wenige Philosophen – von ihr, aber sie sprachen von ihr mit leiser und unsicherer Stimme. Nicht einer von ihnen hatte den Mut, die ganze Wahrheit auszusprechen. Der Augenblick für große Maßnahmen ist gekommen. Das Böse ist auf seinem Höhepunkt angelangt; es hat das Maximum erreicht und bedeckt das Antlitz der Erde. Chaos, unter dem Namen Politik, hat zu lange regiert. Möge alles zur Ordnung zurückkehren und seinen rechten Platz einnehmen. [...] Die Tage der allgemeinen Wiedergutmachung sind gekommen. Weinende Familien, kommt und nehmt Platz an der gemeinsamen Tafel, die die Natur für alle ihre Kinder gedeckt hat.“112

4. Die Entwicklung zum Kommunismus Es war nicht ganz unberechtigt, wenn Babeuf fühlte, dass er auf den Schultern der Propheten der Vergangenheit und der Führer der Revolution stand und dass er weiter und klarer sah. Die Revolution hatte ihn nicht nur wagemutig gemacht; er fand, sie hatte ihn auch etwas gelehrt.113 Frühestes und beständiges Element in Babeufs Denken war die allgemeine und sehr vage Idee, dass es der Gesellschaft obliege, den Unterhalt für alle zu 110

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Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 34, S. 8 f.; Dommanget, Pages choisies, S. 235 f. Babeuf spricht hier von „égalité chimérique“. Siehe außerdem Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 59; ders. ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 59–62 ( Brief Germains an Babeuf). Ders. ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 66 : „Elle ébranle déjà l’Europe, elle affranchira l’univers !“ Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 326. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 131, 134. Das gesamte Manifest siehe ebd., S. 130–136. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 31.

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sichern, in seiner Ausdrucksweise eine „honnête médiocrité“,114 weder weniger noch mehr als genug : „portion [...] égale“.115 Bei Ausbruch der Revolution war er zu der Auffassung gelangt, dies könne am besten erreicht werden, wenn alles Eigentum in ein gemeinsames Sammelbecken eingebracht und der Staat ermächtigt würde, eine gleichmäßige Verteilung vorzunehmen, ohne irgendeine Klasse oder Berufsschicht zu bevorzugen. Babeuf hatte gefunden, dass Rousseau „rêvait bien“ in seinem Diskurs über die Ungleichheit, aber dass der Verfasser der ungewöhnlichen Broschüre „rêve mieux“ : Wenn alle Menschen absolut gleich sind, sollte niemand irgendetwas gesondert besitzen, mehr oder weniger reich oder mehr geachtet sein als seine Mitmenschen.116 Darüber hinaus fügt Babeuf in charakteristischer Weise hinzu : Rousseau möchte uns in den Wald zurückschicken, uns unter einer Eiche wohnen und vom nächsten Bach trinken lassen, während der Reformator vier ordentliche Mahlzeiten pro Tag, „elegante Kleidung“ und „schöne Wohnungen“ versprach. „C’est là avoir bien su concilier les agréments de la vie sociale avec ceux de la vie naturelle et primitive.“117 Während der Revolution sah Babeuf eine Zeit lang im loi agraire die Lösung des sozialen Problems. Nach Art der Physiokraten war er noch geneigt, den Grundbesitz als den wahren Reichtum der Gesellschaft anzusehen. Das von ihm propagierte loi agraire war nicht Kommunismus, sondern Staatseigentum am Boden, der in lebenslängliche Pacht an Landwirte zu geben war. Den jeweiligen lebenslänglichen Pächtern sollte verboten sein, den Boden zu verkaufen oder sonst zu veräußern. Dieses Verbot erschien wesentlich zur Verhinderung von Ungleichheit und Besitzansammlung in wenigen Händen. Babeuf berechnete, da Frankreich etwa 66 Millionen Hektar bebaubaren Bodens hatte, würden jeder Familie etwa 11 Morgen („arpents“) zugeteilt werden.118

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Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXXII. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 2 : Correspondance, S. 190: „Code universel [...] procurât à tous les individus indistinctement, dans tous les biens et les avantages dont on peut jouir en ce bas monde, une portion absolument égale.“ Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 30, 33, Teil 2 : Correspondance, S. 190, 193. Vgl. auch Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 2 : Correspondance, S. 192, Brief Babeufs an Dubois, 8. Juli 1787: „Il faudrait, probablement pour tout cela, que les rois déposassent leur couronnes, et toutes les personnes titrées et qualifiées, leurs dignités, leurs emplois, leurs charges.“ Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 2 : Correspondance, S. 193 f. Vgl. Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXXII. Dort heißt es auch : „La terre, mère commune, eût pu n’être partagée qu’à vie, et chaque part rendue inaliénable; de sorte que le patrimoine [...] de chaque citoyen eût toujours été assuré.“ Domman-

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Aber das loi agraire umfasst mehr als die Neuverteilung des Bodens und die Abschaffung des Erbrechtes. Es bedeutet zugleich „la réclamation des premiers droits de l’homme, [...] du pain honnêtement assuré“,119 „le pain de l’esprit et le pain du corps“,120 das Recht, von der Gesellschaft Arbeit und – im Falle von Invalidität und Alter – Unterstützung zu erwarten, sowie gleiche und kostenlose Erziehung, Gesundheitsdienst und unentgeltliche Rechtsprechung. Mit anderen Worten, loi agraire bedeutet Sozialversicherung, mit dem Boden als Garantie. Außerdem ist Babeuf ängstlich darauf bedacht zu erklären, dass abgesehen von der neuen Landordnung und dem System der Sozialversicherung der Rahmen wirtschaftlicher Betätigung unberührt bleiben sollte. Mit Ausnahme des unveräußerlichen väterlichen Erbteils, das eine Versicherung gegen Not darstelle, würde „alles, was menschlichen Gewerbefleiß betrifft, im selben Zustand bleiben wie bisher“.121 In seinem ersten Brief an Coupé im Jahre 1791 ging Babeuf viel weiter. Er sprach von der „stipulation [...] immédiatement sanctionnée par la mise en commun de toutes les ressources indéfiniment multipliées et accrues au moyen d’une organisation savamment combinée et du travail général sagement dirigé“.122 Babeuf führte diesen Punkt nicht weiter aus. Wenn Staatseigentum an allen Mitteln und die Organisation der Produktion durch den Staat die wesentlichen Züge des Sozialismus sind, dann ist dies ein sozialistisches Programm.123 In diesem Stadium betrachtet Babeuf die soziale Frage noch vor wiegend im Kontext von Naturrecht und Menschenrechten.124 Den Hintergrund der Diskussion bildet die Kontroverse über die Bedeutung des Rechtes auf Eigentum in der Verkündung der Menschenrechte : Stellte sie die Unverletzlichkeit des Privateigentums fest ? Beabsichtigte sie, die privaten Eigentumsrechte durch die Bedürfnisse anderer und der Gemeinschaft als Ganzes zu beschränken ? Oder war das Recht der Besitzlosen gemeint, von der Gesellschaft einiges Eigentum zu verlangen ?125 Ganz offensichtlich beeinflusste die ungeheure

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get, Pages choisies, S. 122, zweiter Brief an Coupé : „Le Créateur a voulu que chaque être possédât le rayon de circonférence nécessaire pour produire sa subsistance.“ Dommanget, Pages choisies, S. 126. Ebd., S. 107. Dommanget, Pages choisies, S. 125; Thomas, La Pensée socialiste de Babeuf, S. 705. Dommanget, Pages choisies, erster Brief an Coupé, S. 107. Dommanget, Pages choisies, S. 96. Vgl. Babeuf / Audiffred, Cadastre perpétuel, S. XXXV : „À quel titre ? Mais, Messieurs, par leur qualité d’hommes, par le droit qu’a tout pupille, devenu majeur, de revendiquer des dépouilles qu’un tuteur infidèle a eu la lâcheté de lui ravir.“ Babeuf protestierte heftig gegen den vorgeschlagenen Artikel für die Erklärung der Menschenrechte von 1793 über die Heiligkeit des Eigentums. [ Er sah darin eine ] Verletzung der natürlichen, unveräußerlichen Rechte des Menschen : „Combinaisons

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Auf lockerung im Eigentumssystem durch Konfiskation und Verkauf von kirchlichem Eigentum auch Babeufs Denken. In einer kurz nach dem 9. Thermidor geschriebenen Broschüre Du Système de dépopulation, die vorgab, eine Bloßstellung der Schreckenstaten des Robespierre’schen Terrors zu sein, behauptet Babeuf, der Terror sei in Wahrheit eine Waffe zur Erreichung einer sozialen Umformung gewesen.126 Das soziale Programm, das Babeuf Robespierre zuschrieb, war auf der Malthusischen Annahme aufgebaut, der Boden Frankreichs sei außerstande, die gesamten 25 Millionen Bewohner ausreichend zu versorgen, zumal der meiste Boden in den Händen einer Minderheit konzentriert war und die über wiegende Mehrheit besitzlos blieb. Eine drastische Verkleinerung der Bevölkerung und eine Neuverteilung des Bodens in kleine, aber ausreichende und gleiche Pachtgüter wären erwünscht. Nach Babeuf erwartete Robespierre, dass die Bevölkerung durch den Terror, den Krieg und die inneren Aufstände erheblich verkleinert würde.127 Er plante eine Neuverteilung des Bodens durch die Liquidation der landbesitzenden Klasse. Ihre Mitglieder würden, falls nicht umgebracht, gezwungen werden, im Laufe der Zeit „ihr Todesurteil selbst zu vollstrecken“,128 und zwar in ihrem eigenen Interesse. Als Vorstufe zur Aneignung allen Besitzes durch den Staat würde die Regierung ihr Eigentum konfiszieren und damit die Wiederherstellung der Bedingungen des ursprünglichen Gesellschaftsvertrages einleiten. Babeuf steht wohlwollend zu den sozialen Zielen, die er Robespierre zuschreibt. Er wehrt sich jedoch dagegen, die Malthusische Prämisse und den Terror als Waffe der Sozialpolitik gelten zu lassen. Wenn der Boden Frankreichs nicht genügend Nahrung für alle her vorbringe, dann sollte das Heilmittel eine allgemeine Herabsetzung des Lebensstandards sein, und zwar auf dem Wege der Überredung.129

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meurtrières, [...] calculs assassins.“ Siehe Dommanget, Pages choisies, Brief an Chaumette, S. 143. In Anerkennung von Robespierres Definition des Eigentums in seinem Entwurf einer Verkündung [ spricht er von ihm als ] „digne mandataire, [...] notre Lycurgue“; siehe ebd., S. 144. Dieses Hauptproblem Babeufs bringt ihn den Enragés näher : „Le peuple voulait que l’aliment nécessaire à tous fût borné à un prix auquel tous pussent atteindre.“ Siehe ebd., S. 145. Vgl. Babeuf, Du Système de dépopulation, S. 24–38; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 113 f. Vgl. Babeuf, Du Système de dépopulation, S. 25–38, bes. S. 25–28. Siehe auch Dommanget, Pages choisies, S. 178 f. Babeuf, Du Système de dépopulation, S. 34. Siehe auch ebd., S. 27. Vgl. ebd., S. 32–34, Fußnote : „Le sol d’un état doit assurer l’existence à tous les membres de cet état; je dis, que quand dans un état la minorité des sociétaires est par venue à accaparer dans ses mains des richesses foncières et industrielles, et qu’à ce moyen elle tient sous sa verge, et use du pouvoir qu’elle a de faire languir dans le besoin, la majorité, on doit reconnaître que cet envahissement n’a pu se faire qu’à l’abri des mauvaises institutions du gouvernement; et, alors ce que l’administration ancienne

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Krieg, Inflation, das Versagen des Mechanismus des freien Ausgleichs von Angebot und Nachfrage, und das daraus entstehende Elend der ärmeren Schichten trugen dazu bei, der sozialen Frage höchste und unmittelbare Dringlichkeit zu verleihen. Die furchtbare Lage der Massen schien Babeufs Behauptung zu rechtfertigen, dass formale politische Rechte ohne soziale Garantien bedeutungslos seien. Die Massen, so behauptet er, seien durch hochtrabende und leere Phrasen um alle Errungenschaften der Revolution betrogen worden.130 Die Notstandsmaßnahmen, zu denen die Regierung griff, um die Zufuhr von Lebensmitteln und ihre Verteilung zu regulieren, wurden von Babeuf als armselige Palliativmittel beschrieben. Sporadische Eingriffe, Maßnahmen von der Hand in den Mund genügten nicht, um die Schwierigkeiten zu lösen.131 „Il faut qu’elles le soient par les bases fondamentales du contrat social.“132 Der Staat müsse die gesamte Organisation von Produktion, Distribution und Konsumtion übernehmen. Die ganze Bevölkerung würde auf einmal zu Staatsbeamten und Staatspensionären werden, Produzenten und Konsumenten zu gleicher Zeit. Alle Erzeugnisse würden in gemeinsame Lagerhäuser geleitet und von dort in festgesetzten Mengen an Verbraucherzentren verteilt werden.

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n’a pas fait dans le temps pour prévenir l’abus ou pour réprimer à sa naissance, l’administration actuelle doit le faire pour rétablir l’équilibre qui n’eût jamais dû se perdre; et l’autorité des lois doit opérer un revirement, qui tourne vers la dernière raison du gouvernement perfectionné du Contrat Social : que tous aient assez et qu’aucun n’ait trop. Si c’est là ce que Robespierre a vu, il a vu à cet égard en législateur. Tous ceux - là ne le seront pas qui ne tendront point par des institutions qu’il soit impossible d’enfreindre, à poser des bornes sûres à la cupidité et à l’ambition, à affecter tous les bras au travail, mais à garantir, moyennant ce travail, le nécessaire à tous, l’éducation égale et l’indépendance de tout citoyen d’un autre; à garantir de même le nécessaire, sans travail, à l’enfance, à la faiblesse, à l’infirmité, et à la vieillesse. Sans cette certitude du nécessaire, sans cette éducation, sans cette indépendance réciproque, jamais vous ne par viendrez à rendre la liberté aimable, jamais vous ne ferez de vrais républicains. Et jamais vous n’aurez la tranquillité intérieure, jamais vous ne gouvernerez paisiblement, jamais la poignée de riches ne jouira avec sécurité d’un regorgement scandaleux, à côté de la masse affamée. Que les premiers soient justes et ouvrent les yeux à la vérité, à leurs propres intérêts; ils s’exécuteront eux - mêmes; autrement la nature ( elle fut toujours juste ), quand la mesure est comblée, quand l’essaim du peuple à qui tout garde - manger est fermé, est devenu dévorant, force toutes les digues; alors cette guerre intestine, qui subsiste toujours entre les affameurs et les affamés, éclate.“ Vgl. Dommanget, Pages choisies, zweiter Brief an Coupé, S. 128 : „Et que ser vent donc toutes vos lois lorsqu’en dernier résultat elles n’aboutissent point à tirer de la profonde détresse cette masse énorme d’indigents ?“ Vgl. ebd. Siehe auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 76 f. Dommanget, Pages choisies, S. 145.

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Arbeiter und Industrien würden in Gewerkschaften organisiert sein. Ein allumfassender Jahresplan würde Quoten festlegen. Man würde nicht mehr im Finstern tappen. Die gesamte Industrie würde nationalisiert und der Handel gänzlich verschwinden. Das Wohl des Volkes wäre nicht länger dem Zufall oder der Habgier von Ausbeutern ausgeliefert. Es würde unnötig zu betrügen, zu täuschen oder zu hamstern, unnötig, Arbeitslosigkeit oder bürokratische Schikanen zu fürchten.133 Infolge eines wissenschaftlichen Systems wäre das Leben jedes Einzelnen im Volke „à l’abri de [...] vicissitudes“.134 Überdies, wenn das System erst einmal in Betrieb sei, würde die Über wachung seines Funktionierens zum einfachen Rechenexempel, das jedem Menschen mit Volksschulbildung verständlich wäre.135 In diesem Stadium weist Babeuf das loi agraire als dumm zurück. Der Gedanke, Frankreich in ein Schachbrett von kleinen und gleichen Pachtflächen zu ver wandeln, wird als Hirngespinst verlacht und verurteilt : Es sei dazu angetan, neue Ungleichheiten zu erzeugen.136 Die Forderung nach einem loi agraire wird in dem Manifest der Gleichen als ein unreifer und instinktiver Wunsch von Veteranen nach sofortiger Belohnung bezeichnet, der auf keinerlei weiterreichende Prinzipien gegründet sei. „Wir wollen etwas Höheres, etwas Gerechteres“,137 eine Gütergemeinschaft : „dépropriairiser [...] toute la France“138 und nicht eine Parzellierung des Bodens. Was gibt Babeuf die Gewissheit, dass sein Plan der staatlichen Organisation von Produktion und Konsumtion kein Hirngespinst ist ? Die Erfahrung des revolutionären Frankreich im Krieg : die Organisation der Versorgung eines Heeres von 1,2 Millionen Mann, verteilt auf zwölf weit auseinander liegenden Fronten.139 Buonarrotis Bericht von den Diskussionen im Geheimen Direktorium wirft ein helles Licht auf die Art und Weise, in der die Anhänger Babeufs zu kommunistischen Schlussfolgerungen aus den Lehren der Revolution gedrängt wurden. Es gab keine Meinungsverschiedenheiten über das Endziel – ein Regime

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Vgl. ebd., Brief an Germain, S. 207–221, bes. S. 210–215. Ebd., S. 214. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 214, 244. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 255, bes. die Fußnote; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 92. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 132. Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 2, S. 88; Dommanget, Pages choisies, S. 255, Fußnote. Vgl auch Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 271. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 105; Dommanget, Pages choisies, S. 262.

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der Gleichheit.140 Wohl gab es verschiedene Anschauungen über Mittel und Wege. Amar, das ehemalige Mitglied des Verteidigungsausschusses, wollte die jakobinische Politik der Einkommensnivellierung verfolgen und die Reichen durch hohe Besteuerung, Zwangsabgaben und Requisitionen schröpfen. Andere gingen weiter, schlugen Gesetze vor, die die Anhäufung von Reichtum, prunkvolle Lebensführung und Luxus verhindern sollten.141 Jedoch Buonarroti, Félix Lepeletier, der selbst ein reicher Mann war, und Darthé, alle treue Schüler von Robespierre und Saint - Just, warnten eindringlich, alle diese Maßnahmen seien zu schwache Dämme gegen den reißenden Strom des Konkurrenzgeistes. Beschlagnahme, Steuern und Abgaben seien berechtigte Maßnahmen während der Revolution, um einen Zusammenbruch zu verhindern und die bösartigen Pläne der Reichen zu vereiteln, aber sie könnten nicht einen Teil der regulären Ordnung der Gesellschaft bilden, ohne ihr Bestehen zu gefährden. Es würde ernste Schwierigkeiten zur Folge haben, die gegenwärtige Ordnung von Privateigentum und Konkurrenz bestehen zu lassen und dennoch zu versuchen, ihr Funktionieren durch unterdrückende Forderungen zu hemmen. Steuer veranlagungen konnten niemals gewiss sein. Es würde immer die Gefahr bestehen, Lebensnotwendigkeiten wegzusteuern. Grundbesitzer, auf denen die Bürde der Landbestellung und Produktion lastete, würden einfach keinen Anreiz empfinden weiterzumachen, wenn sie konfiszierender Besteuerung und Requisition ausgesetzt wären. Die Produktionsquellen würden versiegen. Wenn der Handel freigelassen würde, könne nichts eine geheime Geldansammlung verhindern, die sicherlich zur Spekulation ver wendet würde.142 Bezeichnender weise setzte sich Robert Lindet, ein ehemaliges Mitglied des Wohlfahrtsausschusses, dem 1793–1794 die Lebensmittelversorgung unterstand, mit Entschiedenheit für vollen Kommunismus ein. Doch braucht Lindets Entwicklung von organisiertem Egalitarismus zu reinem Kommunismus nicht so erstaunlich zu erscheinen. Ein Brief eines Montagnards, „député suppléant“, von 1793, der von Mathiez wiedergegeben wird, zeigt frappierend, wie sich diese Gedankenkette bereits 1793 festigte. Jacques Grenus schreibt im November jenes Jahres folgendermaßen : „Ich glaube, die Prinzipien des maximum führen uns zu einem System von Gemeineigentum ( communauté ), und das mag der einzige Weg sein, die Republik zu erhalten, da es den persönlichen Ehrgeiz, der sich ständig gegen die Gleichheit auf lehnt, zerstört und alle unsere Fähigkeiten in die Richtung des Gemeinwohls lenkt. Sie werden sehen, um das maximum einzuführen, wird es nötig werden, staatliche Lager140 141 142

Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 84 f. Vgl. ebd., S. 85. Vgl. ebd., S. 85 f.

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häuser zu errichten, die die Überschüsse an Nahrungsmitteln und Fertigfabrikaten aufnehmen ( Überschüsse über das, was vom Produzenten konsumiert wird – ‚l’excédent des consommations et des fabriques‘), um sie nachher gleichmäßig zu verteilen. Wir gelangen so an die Schwelle eines Systems von Gemeineigentum, wo jeder seine Erzeugnisse zu einem gemeinsamen Sammelplatz bringt, damit sie an alle verteilt werden können. Dies wird Ihnen sehr doktrinär vorkommen (‚très systématiquement philosophique‘ ). Aber bedenken Sie, welche Stärke der Republik aus der Vereinigung aller persönlichen Ambitionen erwachsen wird. Ich möchte weiter gehen. Es wird die Vollkommenheit von Gleichheit und Freiheit beweisen. Ich kann mir eine Republik auf keine andere Weise denken. Das ist nicht jenes loi agraire, das keine vierundzwanzig Stunden dauern würde von dem Augenblick an, in dem Sie persönlichem Ehrgeiz freies Spiel lassen würden. Gemeineigentum – das ist das große Prinzip der Republik. Man mag als Narr gelten, dies jetzt zu sagen. Aber wir werden dazu kommen, und es wird auf die Tagesordnung gesetzt werden, oder ich müsste mich sehr irren. Und von dem Augenblick an wird die wahre moralische und politische Regeneration beginnen.“143 Wir stehen hier dem gegenüber, was für gewöhnlich distributiver Sozialismus ( oder Kommunismus ) genannt wird. Es ist geltend gemacht worden, da dies das Wesentliche am Babeuf’schen Kommunismus sei, könne die BabeufSchule kaum als der Vorläufer des modernen Kommunismus angesehen werden. In der Babeuf’schen Ordnung arbeitet der individuelle Produzent allein und bringt den Überschuss oder sein ganzes Produkt in das gemeinsame Sammelbecken, aus dem jeder Konsument einen gleichen Anteil erhält. Der moderne Kommunismus – so wird gesagt – leitet sich nicht von der Idee des Naturrechts her, sondern ist eine Schlussfolgerung aus der objektiven Entwicklung auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Produktion. Der wissenschaftliche Sozialismus habe erkannt, dass diese Entwicklung unaufhaltsam zu kollektivistischen Formen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Organisation führe. Von diesem Gesichtspunkt aus wird der moderne Kommunismus als eine Ganzheit aufgefasst, deren Geburt genau datiert werden kann. Die These dieser Untersuchung ist es jedoch, dass dieses angebliche Unterscheidungsmerkmal des modernen Kommunismus keineswegs so wesentlich ist, weil der moderne Kommunismus einen Teil einer umfassenderen Einheit bildet, umfassender sowohl in der Zeit als auch im Gehalt dieser Einheit. Das wesentliche Merkmal dieser größeren Einheit ist das Postulat einer ausschließlichen sozialen Ordnung, die auf gleicher und vollständiger Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse als einem sofortigen politischen Aktionsprogramm basiert. 143

Jacques Grenus, zit. in Mathiez, Le Directoire, S. 161. A. d. Hg. : Talmon hatte sich im Namen geirrt. Dies wurde korrigiert.

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Die wirtschaftliche Rechtfertigung oder die Definition dieses Programms ist von zweitrangiger Bedeutung; sie ist ein Unterscheidungsmerkmal für eine Unterabteilung einer größeren Gattung. Außerdem sahen wir tatsächlich, dass Babeuf in seinem ersten Brief an Coupé (20. August 1791) von einer „organisation savamment combinée et du travail général sagement dirigé“144 schrieb, nachdem alle Hilfsmittel zusammengefasst worden wären. In seinem Brief aus dem Gefängnis von Arras an Germain vier Jahre später (28. Juli 1795)145 sagt Babeuf, dass in seinem Plan alle Arbeiter nach der Art ihrer Arbeit klassifiziert würden und dabei jeder in seiner gegenwärtigen Beschäftigung bliebe. Die Gesellschaft würde genau darüber informiert sein, was jeder tut, so dass es keine Unter - und keine Überproduktion geben würde. Die Gesellschaft werde die Zahl der Menschen bestimmen, die in einem bestimmten Zweig beschäftigt werden sollen. Alle würden nach den Bedürfnissen der gegenwärtigen Stunde und den Erfordernissen der Zukunft unter Berücksichtigung des voraussichtlichen Bevölkerungszuwachses eingeteilt werden.146 „Alle wahren Bedürfnisse werden genau erforscht und voll befriedigt werden mit Hilfe des schnellen Gütertransports an alle Orte und in jede Entfernung.“147 „Wird die Erzeugung zugrunde gehen, weil sie nicht mehr blindem Vorgehen ausgesetzt sein wird, noch waghalsigen Abenteuern oder Irrtümern des Zufalls und der Überproduktion ? Wird sie untergehen, weil sie verständig geleitet und im Einklang mit den Bedürfnissen und der Wohlfahrt aller angeregt wird ?“,148 fragt Babeuf diejenigen, die behaupten, gemeinsames Eigentum und kollektive Wirtschaftsplanung würden die Erzeugung zerstören. Es kann nicht bestritten werden, dass dieser Plan, so naiv und ungeschliffen er auch sein mag, einem Programm kollektiv organisierter Produktion gleichkommt. Es wird kaum jemand einwenden, die Idee einer solchen Organisation könne nur entstehen und sinnvoll sein unter Bedingungen starker industrieller Konzentration, die Formen der Massenproduktion ermöglicht oder sogar notwendig macht. Eine Idee kann die Realität vorausahnen, anstatt sie widerzuspiegeln. Der Einzelne schulde dem Staat die Gesamtheit seiner Kräfte und Mittel; wenn kein Privateigentum vorhanden – alle Arbeit, deren er fähig ist. Der Grundsatz vollkommener Gleichheit erstrecke sich nicht nur auf Vorteile und Genüsse, sondern auch auf Lasten und Beiträge zum Allgemeingut.149 Aller 144 145 146 147 148 149

Erster Brief an Coupé, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 107. Brief an Germain, zit. in ebd., S. 207–221. Vgl. ebd., S. 212. Ebd. Ebd. Vgl. zum ganzen Absatz Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1: Défense, S. 36–42. Vgl. auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des dro-

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Wettbewerb sollte verboten werden. Ein Mensch, der in der Lage sei, die Arbeit von mehreren zu tun, sollte als eine „soziale Pest“ betrachtet und als öffentliche Gefahr vernichtet werden.150 „Cette folie meurtrière de distinctions, [...] de valeur“,151 die höhere Entlohnung für Begabung verlangt, sei verbrecherisch. Jedem entsprechend seinen Bedürfnissen, die in allen Fällen gleich, und bescheiden, sein sollten. Denn alles, was jemand über das hinaus habe, was er wirklich braucht, sei das Ergebnis von Diebstahl an anderen und am Allgemeingut.152 „Aucune raison ne peut faire prétendre une récompense excédant la suffisance des besoins individuels“,153 schrieb Babeuf. Die politische Rechtfertigung der extremen Haltung, die Babeuf einnimmt, ist in seiner oben erwähnten Polemik mit Antonelle zu finden. Der ehemalige Marquis, einstiges Mitglied der Geschworenen, welche die Girondisten verurteilten, pries zwar den Kommunismus als das einzig gerechte und ideale Regime, behauptete aber, die üble Einrichtung des Privateigentums habe zu tiefe Wurzeln in der modernen Gesellschaft geschlagen und die Menschen zu gründlich verdorben. Die Menschen könnten daher die Vortreff lichkeit des egalitären Kommunismus nicht einmal schätzen. Ein Versuch, ihn zu ver wirklichen, wäre mit unaussprechlichen Gefahren, Bürgerkrieg und unmäßigem Blutvergießen verbunden. Alles, was unter den gegebenen Umständen erhofft werden könne, seien ein erträgliches Maß von Ungleichheit und Gesetze gegen Habgier und Ehrgeiz. Er befür wortete daher ein Reformprogramm.154

150

151 152

153

154

its de l’homme, Nr. 35, S. 104; Dommanget, Pages choisies, S. 260; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 40 : „Les productions de l’industrie et du génie deviennent aussi la propriété de tous.“ Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 104; Dommanget, Pages choisies, S. 260; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 39. Ebd. Vgl. ebd. Siehe auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 105; Dommanget, Pages choisies, S. 261; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 41 : „Assurer à chacun et à sa postérité, telle nombreuse qu’elle soit, la suffisance, mais rien que la suffisance.“ Weiter heißt es ebd. : „D’attacher chaque homme au talent, à l’industrie qu’il connait; de l’obliger à en déposer le fruit en nature au magasin commun.“ Weiterhin wird eine vollkommen gleiche und allgemeine Erziehung gefordert ( siehe ebd.). Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 103; Dommanget, Pages choisies, S. 259; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 38. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 37, S. 132–136; Dommanget, Pages choisies, S. 268–272; Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 9–24.

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Babeuf erwiderte, die Revolution habe gezeigt, dass Palliative und halbe Gerechtigkeit keinen Sinn hätten. Sie verstärkten nur das Übel. Verhandlungen und Kompromisse würden nur die revolutionäre Kraft der Massen töten und die Herrschaft der unterdrückenden Klassen stärken. „La caste friponne d’un million ( gegen die vierundzwanzig Millionen ) le marchandera; elle temporisera et elle tâchera de ne rien finir.“155 Babeuf ver urteilt die Politik der „Ver vollkommnung des Unvollkommenen“ und die Lebensverlängerung von abbruchreifem Übel. „Qu’au contraire le peuple exige une justice entière, il est obligé alors d’exprimer [...] sa toute - puissance; et au ton dont il se prononce, aux formes qu’il déploie, tout cède nécessairement, rien ne lui résiste, il obtient tout ce qu’il veut [...] qu’il doit avoir.“156 Der gegenwärtige Augenblick sei durch „sociabilité prête à se dissoudre“157 gekennzeichnet. Die Massen haben Änderungen erlebt, die ehemals undenkbar erschienen. Sie haben den großen Betrug des alten Systems durchschaut. Sie seien nun von einem revolutionären Schwung beseelt, der sich weigere, die zusammenkrachenden Balken zu stützen. Babeuf und Buonarroti ver werfen die Theorie der „organischen Verderbtheit“ der Menschheit, die vollkommene Erneuerung unmöglich mache. Die gefürchtete Erhebung würde nicht schlimmer sein als der ständige Bürgerkrieg, der unvermindert durch Jahrhunderte hindurch tobte. Die „glückliche Katastrophe“ sei unvermeidlich.158 Für einige Anhänger Babeufs war die Entdeckung des Kommunismus eine Erleuchtung. Amar, anfänglich ein Befür worter gemäßigter Maßnahmen, erhielt ein – verloren gegangenes – Buch oder Memorandum von Debon über die Übel des Systems des Privateigentums zur Lektüre. „Er schien wie von einem Lichtstrahl getroffen“,159 zeichnete Buonarroti auf. „Bei der ersten Erklärung des Systems wurde er zu seinem begeisterten Verteidiger, dachte an nichts anderes mehr als daran, seine Grundsätze zu rechtfertigen und zu verbreiten.“160 In einer charakteristischen Beschreibung sagt Buonarroti, Debon habe sein ganzes Leben zugebracht „mit dem Studium öffentlicher Übel und besser als irgendjemand anders Robespierres Gedanken erfasst“.161 Bodson, ein alter Hébertist und ehemaliges Mitglied der Kommune, schrieb: „Je me rallie aux principes de la sainte égalité; pour leur propagation, les plus

155 156 157 158 159 160 161

Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 37, S. 137; Dommanget, Pages choisies, S. 272. Ebd. Morelly, Code de la nature, S. 36. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 182. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 88. Ebd. Ebd., S. 71, Fußnote.

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pénibles privations me seraient des délices.“162 Der junge Germain bekam nach seiner Bekehrung im Gefängnis von Arras mystische Trancezustände.163 Die Babeuf’sche Lehre nahm für sich unumschränkte und ausschließliche Gültigkeit in Anspruch, gleichgültig, ob sie vom Volke tatsächlich gewollt werde oder nicht. „Wo ist der Mann“, ruft Babeuf aus, „der so wahnsinnig sein könnte, diese Garantie, niemals in Not geraten“, dieses Versprechen von „prospérité commune, inépuisable mine du bien - être individuel à perpétuité“ als unzureichenden Anreiz für menschlichen Arbeitseinsatz und Wetteifer zu ver werfen ?164 Das Babeuf’sche Programm sei nichts als die Bekräftigung der Natürlichen Ordnung. Es würde sicherlich dem Menschen neuen Mut geben. Alle Möglichkeiten von Verbrechen, Uneinigkeit, ehrgeiziger Intrige und Böswilligkeit würden verschwinden. Babeuf beschreibt die tausendjährige Vision der kommenden Ordnung in den folgenden Worten : „Möge diese Regierung die Grenzen, die Zäune, Wälle, Schlösser an den Türen, die Streitigkeiten, Prozesse, Diebstähle, die Mordtaten und alle Verbrechen verschwinden lassen; die Gerichte, Gefängnisse, Galgen, die Folter, die Verzweif lung, die all dies Unheil verursachen; den Neid, die Eifersucht, die Unersättlichkeit, den Stolz, Betrug und Doppelzüngigkeit, kurz : alle Laster. Nicht länger ( und dies ist zweifellos das Wesentlichste ) die ewig nagende allgemeine Unruhe, die immer währende persönliche Sorge in jedem Einzelnen von uns um unser Schicksal von morgen, im nächsten Monat, im nächsten Jahr, im Alter, um das Schicksal unserer Kinder und deren Kinder. [...] Garantiert jedem einzelnen Bürger einen Zustand beständigen Glücks, die Befriedigung der Bedürfnisse aller, ein unveränderliches Auskommen, unabhängig von der Unfähigkeit, der Unmoral oder dem schlechten Willen der Machthaber.“165 Wenn das Privateigentum erst abgeschafft sei, werde die Triebfeder aller Laster und bösen Leidenschaften verdorren und jede Möglichkeit, Böses zu tun, verschwinden. Die Menschen würden beginnen, aus anderen Antrieben als früher zu handeln. Diejenigen, die gewählt würden, die Geschäfte der Gemeinschaft für eine bestimmte Zeit zu führen, würden einfach kein Interesse daran haben, ihre Macht zu einer Dauereinrichtung zu machen, da sie ihnen keine Vorteile über andere gewähren würde.166 162 163

164 165

166

Bodson, zit. in Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 57. Vgl. Espinas, La Philosophie sociale, S. 238. Siehe auch zu einem Brief Germains an Babeuf : Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 93– 98. Dommanget, Pages choisies, S. 210, 214. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 105 f.; Dommanget, Pages choisies, S. 229, 262; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 41 f. Vgl. Brief an Germain, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 210–215.

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III. Die Geschich te der Ver schwö rung des Babeuf 1. Die Vorgeschichte der Verschwörung Die Aussaat zur Verschwörung der Gleichen erfolgte in den politischen Gefängnissen, in denen Jakobiner nach den missglückten Erhebungen vom 12. Germinal und 1. Prairial gefangen gehalten wurden. Diese Gefängnisse wurden zu einer Art politischer Akademie.167 Nach dem fehlgeschlagenen royalistischen Anschlag vom 13. Vendémiaire wurden die Gefangenen freigelassen. Durch diese Amnestie wünschte die Regierung die Linke für ihre Hilfe bei der Unterdrückung des royalistischen Aufstands zu entlohnen. Die Linke – Robespierristen, Hébertisten, Enragés und allgemeine Jakobiner – war in einer sehr schwierigen Lage. Die Regierung, vor allem Barras, betonte die royalistische Gefahr und lud die Linke ein, sich mit einer konser vativen Republik auszusöhnen. Viele unter den Amnestierten traten freiwillig in den Regierungsdienst ein, andere, weil sie in ihrer Armut keine Wahl hatten. Manche brachten es fertig, ihr Gewissen ohne große Mühe zu beruhigen, andere trösteten sich mit der Hoffnung, von innen her für das Ideal der Gleichheit zu arbeiten. Die Gemäßigten erklärten sich als die Männer von 1789. Die Unversöhnlichen gaben den Sammelruf aus : „Brot und die Verfassung von 1793“. Einige unter ihnen rückten noch weiter nach links, zum Kommunismus hin, doch sogar diejenigen, die nicht so weit gingen, begrüßten und unterstützten die kraftvolle und wirksame Propaganda der extremen Linken gegen das Regime, vor allem die von Babeuf in seinem Tribun du Peuple, der der Nachfolger des gemäßigteren Journal de la Liberté de la Presse war.168 Die Linke war nicht richtig durchorganisiert. Ihre Mitglieder waren in losem Kontakt miteinander, trafen sich zwanglos in Kaffeehäusern und Parks und ergingen sich in allgemeinen Diskussionen.169 Der Jakobinerklub war aufgelöst worden. Die Verfassung von 1795 verbot Zusammenschlüsse und Briefwechsel unter Gesellschaften, untersagte die Wahl von festen Funktionären und legte Zulassungs - und Wählbarkeitsbedingungen nieder. Sie verbot außerdem kollektive Petitionen und geschlossene Versammlungen. Die Volksgesell-

167 168 169

Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 52 f.; Bax, The last Episode, S. 91 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 64–69; Mathiez, Le Directoire, S. 140 f.; Walter, Babeuf, S. 91–123. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 69.

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schaften sollten nicht mehr sein als zwanglose Zusammenkünfte im Freien, um einen Volksredner anzuhören.170 Während der liberalen Periode kurz nach den Vendémiaire - Ereignissen gestattete das Direktorium die Gründung der Panthéon - Gesellschaft, genannt die Réunion des amis de la République, die zum zentralen Sammelpunkt für die Linke wurde. Die Regierung hoffte, sie würde die Gesellschaft durch ihre Spitzel kontrollieren können.171 Die Gesellschaft bestand ohne feste Funktionäre, ohne Statuten, Mitglieder verzeichnisse oder Protokolle. Sie war eine sehr lockere Körperschaft.172 Die Zusammenkünfte wurden in dem alten Nonnenrefektorium abgehalten, und wenn dieser Saal besetzt war, in dem Gewölbe oder der Krypta des Klosters, „wo“, mit Buonarrotis Worten, „der matte Schein der Fackelbeleuchtung, das stumpfe Echo der Stimmen und die gezwungene Haltung der Anwesenden, die entweder standen oder am Boden kauerten, ihnen die Größe und die Gefahren ihres Unterfangens einprägte, sowie den Mut und die Vorsicht, die es erforderte“.173 Die Société de Panthéon wurde der Kriegsschauplatz zwischen Linksextremisten und Regierungsspitzeln. Als ihre Diskussionen zu drohend wurden, ließ die Regierung sie durch General Bonaparte am 1. Ventôse des Jahres IV auf lösen.174

2. Die Geschichte des Komplotts Solange die Gesellschaft ihre Tätigkeit ausübte, waren Bestrebungen im Gange, einen politischen Aktionskern zu organisieren. Der erste Versuch wurde im Brumaire des Jahres IV in einer Zusammenkunft gemacht, an der Babeuf, Buonarroti, Darthé, Fontenelle und Julien de la Drôme der Jüngere teilnahmen. Einige schlugen eine Freimaurer vereinigung vor, andere dachten an einen Aufstandsausschuss; doch kam es zu keiner Entscheidung. Eine Anzahl anderer Versuche, einen geheimen Kern zu schaffen, folgte. Der bedeutendste war die Aufstellung eines Zentralausschusses im Hause des alten Konventsabgeordneten Amar. Er löste sich jedoch bald auf infolge des schweren Misstrauens, das die extremen Robespierristen gegen Amar als einen der Urheber

170 171 172 173 174

Vgl. Mathiez, Le Directoire, S. 142; Bax, The last Episode, S. 91 f. Vgl. Mathiez, Le Directoire, S. 141 f.; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 77–81, 95–107. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 77–79. Ebd., S. 77. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 195 f.; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 95–107.

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des Sturzes des Unbestechlichen hegten.175 Babeuf war in der Zwischenzeit einer Verhaftung entgangen und hielt sich in einem Versteck auf, von dem aus er den Tribun du Peuple weiter veröffentlichte.176 Das Geheime Direktorium der Verschwörung der Gleichen wurde schließlich in den ersten Germinaltagen des Jahres IV organisiert. Seine ursprünglichen Mitglieder waren Babeuf, Antonelle, Sylvain Maréchal und Félix Lepeletier, denen sich bald Buonarroti, Darthé und Debon anschlossen.177 Die Struktur der Verschwörung wird weiter unten zu beschreiben sein. Das Geheime Direktorium entfaltete eine kraftvolle regierungsfeindliche Propaganda, ohne im Anfang ein bestimmtes Datum für einen Aufstand festgesetzt zu haben. Die Ereignisse beschleunigten jedoch den Ausbruch des Aufstands. Am 27. bis 28. Germinal des Jahres IV wurde eine Reihe von drakonischen Gesetzen erlassen, die die Todesstrafe androhten für Kritik am Régime in Wort und Schrift, für Vorschläge zur Wiedereinführung der Verfassung von 1793 ( oder der Monarchie ), für Anstiftung zur Konfiskation von öffentlichem oder privatem Eigentum, für Befür wortung einer Besitzneuverteilung ( Agrargesetz ), für Verlangen der Auf lösung der bestehenden Macht und für ähnliche Vergehen. Einen Augenblick lang sahen die Gleichen ihre Chance in einer anscheinend unmittelbar bevorstehenden Meuterei einer in Grenelle stationierten Polizeilegion. Die Legion wurde mit Babeuf’scher Propaganda überschwemmt und brodelte vor Unruhe. Die Verschwörer hofften, diese Einheit als Stoßtrupp des Aufstands ausnutzen zu können. Gegen alle Erwartung ergab sich die Legion und wurde aufgelöst. Die am stärksten Kompromittierten desertierten und suchten Zuflucht in den Häusern der Gleichen. Sie waren ein willkommener 175

176

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Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 70–72, 81 f., 94. A. d. Hg. : Bei Buonarroti ist statt von „Julien de la Drôme“ von „Lorjen de Doimel“ die Rede. Buonarroti erklärt, dass er bei Personen, die er noch am Leben glaubt, grundsätzlich ein Anagramm ihres Namens verwendet. Siehe Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 52 f., Fußnote. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 81; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 181. Babeufs Frau, „cette grande conspiratrice, qui ne sait ni lire, ni écrire“, wurde im Februar 1796 ( Pluviôse ) verhaftet. Siehe ebd., S. 185. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 114; Bax, The last Episode, S. 105 f. Zu den anderen Mitgliedern vgl. Espinas, La Philosophie sociale, S. 264; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 254–256. Zu Sylvain Maréchal siehe Dommanget, Sylvain Maréchal et Babeuf. Er war ein unbedeutender atheistischer Dichter, schon vor der Revolution ein aktiver Propagandist. Es ist nie eine Erklärung dafür gegeben worden, weshalb er für seine Anteilnahme an der Verschwörung nicht angeklagt wurde. Er war der Verfasser des aufreizenden „Manifests der Gleichen“ ( siehe Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 130–136), das Marx und Engels als den Vorläufer des Kommunistischen Manifests betrachteten. A. d. Hg. : Bei Buonarroti ist statt von „Debon“ immer von „Bedon“ die Rede ( Anagramm, vgl. Fußnote 175 in diesem Kapitel ).

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militärischer Kern, aber ihre Unruhe, gepaart mit der Ner vosität der Babeuf’schen Kämpfer, drohte einen verfrühten Ausbruch herbeizuführen. In einer gemeinsamen Sitzung des politischen Geheimausschusses am 11. Floréal wurde der Militärausschuss beauftragt, endgültige Vorbereitungen für den Aufstand zu treffen.178 Der Vorschlag eines Zusammengehens mit den Royalisten wurde abgelehnt, obwohl die Royalisten im Augenblick als weniger verabscheuenswert angesehen wurden als der „Senat“ : „ils nous ser vent“.179 Ebenso wurde der Vorschlag auf Ermordung der Direktoriumsmitglieder zurückgewiesen, den ein junger Offizier vorgebracht hatte, der die Wachen im Direktorium befehligte. Die Aufstandsurkunde war fertig, ebenso die Banner. Weitere Aktion wurde durch ein wichtiges und eine Zeit lang ungelöstes Problem aufgehalten. Die früheren Montagnard - Abgeordneten, die aus dem Konvent ausgeschlossen worden waren, hatten unabhängig eine Organisation zur Durchführung eines Aufstands gebildet und boten eine Fusion mit den Gleichen an. Die Urheber der Verschwörung missbilligten den Gedanken auf das Entschiedenste. Sie trauten den ehemaligen Konventsabgeordneten nicht. Außerdem bedeutete, wie noch zu zeigen sein wird, eine Fusion eine zusätzliche Komplikation für das ungelöste Problem der Zielsetzung der Verschwörung : Rückkehr zur Verfassung von 1793 und zur Vor - Thermidor - Legalität, oder totale kommunistische Revolution ? Nach langem Streit gelangte man zu einem Kompromiss, der später dargelegt wird.180 Im Postskript zu einem Rundschreiben an die Hauptagenten drückte Babeuf die Hoffnung aus, am Tage des Aufstands würde der Druck der Massen den Einfluss der Montagnards neutralisieren.181 Die Fusion wurde in einer gemeinsamen Sitzung der Vertreter der beiden Parteien am 17. Floréal beschlossen. Robert Lindet, Félix Lepeletier, Javogues und andere vertraten die Montagnards.182 Die Regierung wusste die ganze Zeit von dem drohenden Anschlag. Grisel, ein Regierungsspitzel, dem es gelungen war, sich in die geheimsten Beratungen der Verschwörung einzuschleichen, brachte am 15. Floréal alles nötige Material dem damaligen Direktoriumsvorsitzenden Carnot.183 Inzwischen hatte Carnots Kollege Barras, der seine Fahne nach dem Wind zu hängen pflegte, Kontakt mit den Gleichen angeknüpft. Barras war bemüht, 178 179 180 181 182 183

Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 158–162; Mathiez, Le Directoire, S. 231–234. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 240; Espinas, La Philosophie sociale, S. 291, Fußnote. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 163 f.; Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 83 f. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 85 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 179 f., 184 f.; Bax, The last Episode, S. 160 f. Vgl. Robiquet, Babeuf et Barras, S. 207; ders., L’Arrestation de Babeuf, S. 302 f.

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gegen seine Kollegen im Direktorium in der Linken eine Macht aufzubauen, auf die er sich verlassen konnte. Er lud Germain, einen der militärischen Führer des Aufstands, ein – er schickte ihm seine Amtskutsche, um ihn zu holen –, fragte ihn über das aus, was vorging und drängte ihn, seinen Einfluss auf die Gleichen geltend zu machen, sich als „wahre Patrioten“ zu verhalten und sich um ihn zu scharen gegen die Royalisten, Emigranten und Reaktionäre. Barras bot an, sich mit seinem Stab an die Spitze des Aufstands zu stellen, oder andernfalls sich als Geisel in die Faubourg St. Antoine zu begeben.184 Die Verschwörer gingen nicht auf Barras’ Angebot ein, und Babeuf wies es öffentlich in Nummer 42, der letzten Ausgabe des Tribun du Peuple, zurück. Eine Sitzung des Aufstandsausschusses fand am 20. Floréal statt. „L’impatience était générale et extrême, [...] la chute de la tyrannie était certaine, [...] dispositions militaires mûrement concertées.“185 Am nächsten Morgen konfiszierte die Polizei das Hauptquartier der Verschwörung, während die Führer mit der Abfassung der Nach - Siegesmanifeste beschäftigt waren. Babeuf, der, seitdem er sich versteckt hielt, der effektive Sekretär der Verschwörung war, war dort, ebenso Buonarroti.186 „Warum gehorcht Ihr Euren Herren ?“,187 fragte Babeuf den Offizier, der ihn verhaftete. Ermutigt durch Barras’ Agenten – die 24 000 Franken tatsächlich verteilten –, machten die Gleichen, die in Freiheit geblieben waren, einen verzweifelten Versuch, die Garnison in Grenelle zu einem gemeinsamen Angriff auf das Direktorium zu bewegen. Die Truppen antworteten mit Feuer und töteten oder vertrieben die versammelte Menge. Die Rädelsführer wurden festgenommen und vor ein besonderes Militärgericht gestellt. Einunddreißig wurden zum Tode verurteilt, vierundzwanzig zu Deportation und mehr zu verschiedenen Gefängnisstrafen.188 Doch dies war noch nicht das Ende des Dramas. Der Prozess vor dem Obersten Gerichtshof zu Vendôme stand noch bevor. Babeuf und Darthé wurden zum Tode verurteilt und die anderen Führer zu Gefängnis auf einer einsamen Insel nahe der bretonischen Küste.189 Obwohl Carnot nach Aussage seines Sohnes der Ansicht war, die Aussicht der Gleichen, die Macht zu ergreifen, sei sehr gut gewesen, und obwohl Mathiez behauptet, der Anschlag sei deshalb so wichtig, weil durch ihn eine 184 185 186 187 188

189

Vgl. Robiquet, Babeuf et Barras, S. 204–208; ders., L’Arrestation de Babeuf, S. 300 f.; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 191. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 187. Vgl. Robiquet, L’Arrestation de Babeuf, S. 307–310. Ebd., S. 310. Vgl. Mathiez, Le Directoire, S. 231–234; Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 313; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 191 f. A. d. Hg. : Mathiez spricht von 32 zum Tode Verurteilten ( S. 233). Vgl. Mathiez, Le Directoire, S. 212; Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 1 f.

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Die Geschichte der Verschwörung des Babeuf

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Koalition zwischen den an der Macht befindlichen Thermidorianern und den Jakobinern unmöglich wurde, war die Verschwörung vom Gesichtspunkt des allgemeinen Verlaufs der Revolution tatsächlich eine winzige Episode.190 Jedoch ihre Bedeutung für die Entwicklung und Herauskristallisierung von Ideen und als ein historischer Mythos könnte schwerlich überschätzt werden.

190

Vgl. Mathiez, Le Directoire, S. 214 f.; Guérin, La Lutte de classes, Band 2, S. 360. Gérard Walter, Babeuf, behandelt die ganze Angelegenheit von jedem Gesichtspunkt mit größter Geringschätzung. Carnots Erklärung in den Memoiren seines Sohnes : Das Direktorium „eût infailliblement succombé, sans l’arrestation de Babeuf et de ses complices; que la chose publique courut alors un danger que peu de personnes ont apprécié“. Siehe Robiquet, Babeuf et Barras, S. 204. Die Regierung war auf den beiden Flanken von den Royalisten und den Jakobinern bedroht, und von innen heraus von Barras.

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IV. Demo kra tie und Dik ta tur 1. Definition der Demokratie Die Anhänger Babeufs sahen ihr Ziel nicht nur als unbedingt richtig, sondern als unvermeidlich an. Wie ließ sich unter diesen Umständen ihre Haltung mit dem Dogma der Volkssouveränität vereinbaren und mit dem heiligen Recht jedes Einzelnen, seinen Willen zum Ausdruck zu bringen und an der Ausübung der Souveränität teilzunehmen ? Es ist klar, Volkssouveränität konnte in diesem Falle nicht rückhaltlose Annahme des spontan zum Ausdruck gebrachten Willens des Volkes, oder auch des Einzelnen, als endgültiges und entscheidendes Kriterium bedeuten. Wenn das Ziel unvermeidlich ist, ist es dann nicht gleichgültig, ob es wirklich von allen oder auch nur von der Mehrheit gewollt wird oder nicht ? Oder bedeutet es, es sei unvermeidlich, dass alle oder die meisten es wollen ? In welchem Ausmaß würde das Ziel noch den Wünschen oder Launen der Menschen unter worfen sein, wenn es erst in seiner alles lösenden Form erreicht ist ? In seinem Brief an Coupé vom Jahre 1791 sieht Babeuf eine in so klaren, ins Einzelne gehenden und genauen Definitionen abgefasste Verfassung voraus, dass keine verschiedenen Auslegungen, Sophismen, Zweideutigkeiten oder Spitzfindigkeiten möglich wären.191 Es würde nicht nur niemand daran interessiert sein, unbefugte Änderungen an der Verfassung vorzunehmen, sondern ganz im Gegenteil, der Respekt vor der Verfassung würde zu einer Religion werden, „la foi salutaire de la raison et de l’humanité“.192 Das Volk würde sich lieber töten lassen als zugeben, dass eine solche Verfassung gebrochen würde, nachdem es ihre Segnungen erfahren hat. Und was die Möglichkeit der Sabotage durch eine widersetzliche Minorität betraf, so würde die Majorität immer wissen, wie sie mit einer so verderbten Gruppe umzugehen hätte, sogar wenn diese die größte Energie und alle mögliche List aufwandte.193 Ein einziger wahrer Wille wird postuliert, ein Wille, der gewollt werden muss und wird, wenn ein Zustand der Freiheit von Selbstsucht, Unwissenheit, Vor urteil, Laster und schlechten Einflüssen gegeben ist. Ein solcher Wille muss vorausgesetzt oder durch richtige Handhabung der Bedingungen, unter 191

192 193

Vgl. Dommanget, Pages choisies, erster Brief an Coupé, S. 107. Weiter schreibt er : „On ne doit pas plus pouvoir équivoquer en matière d’égalité qu’en matière de chiffres.“ Ebd., S. 108. Ebd., S. 108. Vgl. ebd.

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Demokratie und Diktatur

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denen das Volk seinen Willen zu erklären hat, erzeugt werden. Das ist das Wesen der Babeuf’schen Demokratie. Babeuf und seine Anhänger bezeichneten sich als Demokraten par excellence und bedienten sich des Wortes Demokratie als adelnder Bezeichnung und als Losung. Sie fühlten deutlich die Notwendigkeit, den Begriff zu definieren. Buonarroti unterscheidet zwischen dem vor - revolutionären Begriff und dem Revolutionsgebrauch des Wortes Demokratie.194 Vor der Revolution bedeutete es eine Regierungsform, in der das ganze Volk die Funktionen der Regierung ausübte. Offensichtlich ein unvernünftiges System. Durch die Bezeichnung der Ausübung der Souveränität mit einem Ausdruck, der vorher für die Exekutivgewalt gebraucht wurde, werde seit der Revolution ein Staat demokratisch genannt, in dem jeder Bürger direkt zur Formulierung der Gesetze beiträgt. Demokraten verlangen jedoch nicht nur allgemeines Wahlrecht. Wissend um und „empört über die Korruption, das Elend und vor allem die Unwissenheit, die die Menge in Knechtschaft hält und sie oft unfähig macht, ihre unveräußerlichen natürlichen Rechte auszuüben“, verlangen sie einfache Gesetze der Gleichheit, die das Elend erleichtern und die Entwicklung der geistigen Fähigkeiten sichern.195 Kurz, Demokratie sei „jene öffentliche Ordnung, in der Gleichheit und gute Sitten das ganze Volk in dieselbe Lage versetzen, gesetzgeberische Macht nutzbringend auszuüben“.196

194

195 196

Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 2, S. 275. Vgl. auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 83; Dommanget, Pages choisies, S. 250 : „Il est temps de parler de la démocratie elle - même; de définir ce que nous entendons par elle, et ce que nous voulons qu’elle nous procure; de concerter enfin, avec tout le peuple, les moyens de la fonder et de la maintenir.“ Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 2, S. 275. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 23. Siehe auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 83; Dommanget, Pages choisies, S. 250: „Ils se trompent, ceux - là qui croient que je ne m’agite que dans la vue de faire substituer une constitution à une autre. Nous avons bien plus besoin d’institutions que de constitutions. La constitution de 93 n’avait mérité les applaudissements de tous les gens de bien, que parce qu’elle préparait les voies à des institutions. Si par elle ce but n’avait pu être atteint, j’eusse cessé de l’admirer. Toute constitution qui laissera subsister les anciennes institutions humanicides et abusives, cessera d’exciter mon enthousiasme; tout homme appelé à régénérer ses semblables, qui se traînera péniblement dans la vieille routine des législations précédentes, dont la barbarie consacre des heureux et des malheureux, ne sera point à mes yeux un législateur; il n’inspirera point mes respects. Travaillons à fonder d’abord de bonnes institutions, des institutions plébéiennes, et nous serons toujours sûrs qu’une bonne constitution viendra après. Des institutions plébéiennes doivent assurer le bonheur commun, l’aisance égale de tous les co - associés.“ Die Betonung der Institutionen ist natürlich ein Echo der Saint - Just’schen Institutions Républicaines.

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Ohne diese seien formale Demokratie und Volkssouveränität ein Betrug. Stimmengleichheit werde illusorisch gemacht durch die Vermögensungleichheit, die einige wenige in die Lage versetze, einen unangemessenen Einfluss in der Gesellschaft auszuüben. Eine Demokratie, so wie sie „nach reinen Grundsätzen“ sein sollte, „est l’obligation de remplir, par ceux qui ont trop, tout ce qui manque à ceux qui n’ont point assez“.197 Das Defizit dieser Letzteren sei nichts als Diebstahl durch die Anderen. Die Errichtung einer Demokratie sei in Wirklichkeit ein Rückerstattungsverfahren alles dessen, was den Armen von den Reichen gestohlen worden war; vor allem die Rückgabe von verlorenem alten Gerümpel und Möbeln, wie Babeuf sagte.198 Formale Freiheit und formale Gleichheit, die als die freieste Regierungsform gelten, würden unter der bestehenden Ordnung der Dinge nur denjenigen zugute kommen, die ohne Arbeit leben können.199 Die Armen haben keine Zeit, an Versammlungen teilzunehmen oder sich die notwendigen Informationen zu beschaffen. Das versetze die Regierung in die Lage, demokratische Souveränität zur Schau zu tragen, denn sie ist auf die reichen Klassen beschränkt. „Was würden sie tun, wenn das Volk sie beim Wort nehmen, ihre eigenen usurpierten Auszeichnungen in Frage stellen und von ihnen verlangen würde, auf das ihnen zukommende Niveau herabzusteigen ?“200 Worin besteht schließlich der Wert aller Gesetze, wenn sie nicht die große Masse der Nationen, „die Armen, aus ihrem tiefen Elend“ ziehen ? Eine Regierung, die nicht den Armen die Gesamtheit der Menschenrechte zurückgibt, wäre, selbst wenn sie die Armen unterstützt, nicht mehr als ein Wohltätigkeitsverein, der auf Gesetzen der Unterdrückung basiert.201 Eine der Aufzeichnungen Babeufs endet mit den Worten : „Salut en démocratie, oui en démocratie; car l’on entend des porteurs de sac et des blanchisseurs dire : Nous sommes souverains.“202 Die Schriften der Babeuf - Bewegung sprechen von französischer Demokratie nicht im Sinne eines politischen Systems, sondern in dem einer Klasse, und zwar einer Klasse mit einem bestimmten Klassenbewusstsein. Demokratie ist ein Stadium, das über bloßen Republikanismus hinausgeht und ihm überlegen ist.203 Es ist die Klasse auf dem 197 198 199 200 201 202 203

Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 101; Dommanget, Pages choisies, S. 256. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 101; Dommanget, Pages choisies, S. 256 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 34, Fußnote. Ebd. A. d. Hg. : Sehr frei übersetzt. Im französischen Text heißt es lediglich : „Que serait - ce, s’il s’agissait de leur demander leur propre abaissement ?“ Dommanget, Pages choisies, S. 128. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, Band 1, S. 256. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 107.

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Marsch zum vollkommenen Glück : „das reinste und vollkommenste aller Systeme“.204 „Des hommes qui ne veulent pas pour le peuple un demi - bonheur, qui en veulent le maximum, qui ne souffrent aucune atteinte à ses droits, à son indépendance; qui ne tolèrent aucune restriction à sa liberté.“205 Seine Entwicklung von einem Anhänger der Klassenversöhnung zu einem Verfechter des Klassenkampfes war, wie wir sahen, von Babeuf als eine Läuterung seines „démocratisme“ bezeichnet worden.206 Die Babeuf’sche Lehre ist „la dernière expression du parti démocratique; [...] et se différencie [...] de toutes les autres“.207

2. Antiparlamentarische, plebiszitäre Ideen Und dennoch wird politische Demokratie, trotz all ihrer Mängel, als die Verkörperung einer gesellschaftlichen Dynamik anerkannt. Mit Hilfe geeigneter Propaganda und extremer politischer Aktivierung der Massen wird diese Dynamik zwangsläufig wirksam werden.208 In seinem zweiten Brief an Coupé 1791 sagt Babeuf, das allgemeine, direkte und gleiche Wahlrecht, das Einspruchsrecht des Volkes gegen Entscheidungen der „Assemblée“, offene Debatten, die Ausmerzung von Ausschüssen, die Annahme des Grundsatzes, dass jede „Assemblée“ eine „Constituante“ ist, die nicht an Entscheidungen oder grundlegende Gesetze früherer „Assembléen“ gebunden ist, die Abschaffung der Beschränkung auf bemittelte Bewerber für Ämter und Nationalgarde – alle diese Maßnahmen müssten zu der Forderung 204

205

206 207 208

Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 1, S. 284. Siehe auch ders. (Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 9 : „Ce démocratisme parfait qui ne se contente pas du passable, mais qui veut le mieux en matière d’organisation sociale.“ Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 1, S. 284. Siehe auch ders. (Hg.), Copie des pièces saisies, S. 271 ( eigenartige Rechtschreibung des französischen Originals wurde korrigiert ) : „Ce que c’est que démocratie, que c’est absolument le bonheur commun, l’égalité réelle et non chimérique et illusoire.“ Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 301 : „Bonheur commun [...] n’était autre chose que la vraie Démocratie, but de la Révolution et but de toute association civile. [...] Tel fut le contrat primitif.“ Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 23, S. 4 f. Leroux / Reynaud ( Hg.), Stichwort „Babeuf“, S. 325. Siehe auch Dommanget, Pages choisies, S. 247 f. Zu den sozialen Potentialitäten der politischen Demokratie siehe die zwei Briefe Babeufs an Coupé in Dommanget, Pages choisies, S. 103–121 ( erster Brief an Coupé, 20. August 1791), 121–130 ( zweiter Brief an Coupé, 10. September 1791). Der zweite Brief findet sich ( in voller Länge ) auch bei Espinas, La Philosophie sociale, S. 403–412.

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nach einem „loi agraire“ führen.209 Die Massen würden zwangsläufig die Gesamtheit ihrer Rechte verteidigen, und die vorgeschlagenen Maßnahmen würden ihnen die Macht geben, ihre Rechte sowohl durch ihre bloße Zahl als auch durch Einschüchterung durchzusetzen. „La plénitude des droits de [...] l’homme, principe qu’on peut toujours invoquer et professer hautement sans courir de danger.“210 Und so könnte und sollte der erste Angriff auf das Gesellschaftssystem sich auf die politische Ebene beschränken; doch das Endziel sollte das „loi agraire“ sein : „Et ce [...] est [...] le but unique où tendront toutes les constitutions de la terre, lorsqu’elles vont se perfectionnant“ – „loi agraire [...] est le corollaire de toutes les lois“.211 Babeuf glaubte, Robespierre und Petion – die in ihrem Innersten Anhänger des „loi agraire“ gewesen seien – hätten eine ähnliche Linie verfolgt und darauf gewartet, dass die öffentliche Meinung für das „loi agraire“ reif würde.212 Babeuf ist nicht bereit, passiv zu warten. Er will – innerhalb und außerhalb der Nationalversammlung – eine Partei mit einem genau detaillierten Programm und taktischen Plänen aufstellen. Er zeigt wenig Liebe oder Vertrauen zu parlamentarischer Vertretung. Daher will er die Wählerschaft, oder richtiger die Partei durch das Instrument der Wählerschaft, in Stand setzen, die Handlungen der „Assemblée“ zu kontrollieren und ihnen entgegenzuwirken. Babeuf will eine Partei von „festen und zuverlässigen Köpfen, durchtränkt mit aller Kraft der großen Prinzipien, methodische und taktische ( tacticiennes ) Geister, [...] fähig, das weite ‚ensemble‘ eines guten Verfassungsplanes zu konzipieren und es Punkt für Punkt zu verfolgen, ohne die geringste Veränderung in seiner äußeren Erscheinung oder seiner Richtung zu dulden; [...] fähig, allen Hindernissen zu begegnen und alle Anschläge und Intrigen der Partei der Ungerechtigkeit zu vereiteln, Überraschungen und Fallen zu vermeiden, mit einem passenden Wort und mit klarem Blick die richtige Taktik in jeder Situation zu finden“.213 Da er keine Hoffnung hat, in die „Assemblée“ gewählt zu werden, doch von seiner Überredungskunst überzeugt ist, schlägt Babeuf Coupé die Schaffung einer parlamentarischen Gruppe vor, deren außerparlamentarischer Führer er sein und deren Politik er selbst bestimmen würde, während Coupé ihr Sprecher in der Kammer sein sollte. In erstaunlicher Vor wegnahme zukünftiger Parteiprozeduren ordnet Babeuf vorbereitende Beratungen über jede Frage an, um Richtlinien für die zu verfolgende Politik und Antworten auf jeden möglichen Einwand zu formulieren. Auch die Verteilung der Rollen in der Debatte 209 210 211 212 213

Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 121–130, bes. S. 125–127. Ebd., S. 127. Ebd., S. 122. Vgl. ebd., S. 106, 129 f. A. d. Hg. : Bei Dommanget steht „Péthion“ statt „Petion“. Ebd., S. 106.

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sollte im Voraus erfolgen. Auf diese Weise würden Anhänger derselben Ideologie nie in Widerspruch miteinander geraten und sich gegenseitig kompromittieren.214 „Was den Hauptsprecher betrifft, so ist es, da er und ich uns stets in unseren Grundsätzen einig sind, klar, dass alles, was er von mir bekommen würde, genau so wäre, als ob er es selbst aus eigenen Quellen abgeleitet hätte; nur dass er völlig von der ‚travail de cabinet‘ befreit wäre, die meine ausschließliche Aufgabe würde.“215 Babeuf macht keine konkreten Vorschläge für den Aufbau einer außerparlamentarischen nationalen Parteiorganisation. Jedenfalls will er die gewählte Legislatur der strengsten Kontrolle durch die Wählerschaft und dem Vetorecht des Volkes, mit anderen Worten der direkten französischen Demokratie, unter werfen. Er beabsichtigt weiterhin, ihre Gesetzgebungsmacht durch eine Klausel von ungeheurer Bedeutung zu beschneiden, da nämlich keine Verfassungsänderung beantragt werden könnte, die die Tendenz hätte, die Freiheit und Gleichheit einzuschränken.216 „Ne seront discutées que les propositions ayant pour but leur extension.“217 Wer soll entscheiden, ob ein Antrag geeignet ist, Freiheit und Gleichheit einzuschränken ? Das souveräne Volk, seine ernannten oder selbsternannten Hüter der Orthodoxie, das heißt die aktiven Agitatoren der Babeuf - Partei, die eine Atmosphäre der Einschüchterung und wilder Denunziation schaffen. Nicht nur die Souveränität der Legislatur wird so durch die Regel des Primats der direkten Demokratie ver worfen, sondern letzten Endes auch diejenige des Volkes : Denn es gibt Dinge, die sogar das Volk nicht tun kann. Dem Anschein nach ist jede „Assemblée“ souverän und nicht an die Entscheidungen ihrer Vorläufer gebunden. Jede „Assemblée“ ist eine „Constituante“; das Volk ist frei, in jedem Augenblick die Gesetze zu ändern. Jedoch nur in einer Richtung.218 Die „Assemblée“ kann keine Gesetze erlassen, die nicht durch 214 215 216 217 218

Ebd., S. 110. Ebd. „Aucune modification, dans un sens restrictif de la liberté et de l’égalité ne pourra être apportée à la présente constitution.“ Ebd., S. 117. Ebd. Vgl. ebd., S. 111. Thomas, La Pensée socialiste de Babeuf, S. 708, bemerkt mit Recht, dass der offensichtliche Widerspruch zwischen dem Prinzip, dass jede „Assemblée“ eine „Constituante“ ist, und dem Prinzip der eingleisigen Gesetzgebungsfreiheit nur durch Babeufs Wunsch zu erklären ist, das Erstarren des sozialen Systems durch ein verfassungsmäßiges Gesetz zu verhindern. Siehe auch Dommanget, Pages choisies, S. 110 f. : „Etablir que la seconde législature est tout aussi constituante que la première, en vertu de ce principe [...] de maintenir intacte dans son ensemble [...] toutes ses parties la constitution telle qu’elle a été décrétée, que s’il convient à une génération de se rendre esclave, cela n’altère en rien le droit de la génération suivante à être libre.“

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das Volk widerrufen werden können, sogar ihre inneren Disziplinar - und Prozeduralregeln nicht ausgenommen. Alles muss der Zustimmung des Volkes unterbreitet werden. Ohne diese Vorsichtsmaßnahmen, argumentiert Babeuf, kann die Freiheit der Tribüne zum Nutzen einer Faktion unterdrückt werden.219 Jeder Abgeordnete kann jederzeit durch seine Wählerschaft zurückgerufen werden. Er hat seiner Wählerschaft monatlichen Bericht über seine Tätigkeit zu erstatten.220 Jeder Kanton wird eine Körperschaft von sieben Kuratoren der Freiheit haben und jedes Departement von einundzwanzig. Diese Körperschaften treten alle drei Monate zusammen, um die Berichte ihrer Abgeordneten zu prüfen und zu entscheiden, ob sie ihre Mandate treu ver waltet haben. Der Abgeordnete wird nicht plädieren dürfen : sein Bericht ist sein Plädoyer.221 Solange die Freiheit nicht tiefe Wurzeln geschlagen hat, wird nicht jeder zur Kuratorschaft zugelassen. Zu viele sind noch rückständig und in alten Vorurteilen befangen. „Il faut donc prévoir et se prémunir contre les défections.“222 Zu Kuratoren können nur Bürger gewählt werden, die das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet haben, vom Ertrag ihrer Arbeit leben, einen unabhängigen Beruf ausüben und nicht im Regierungsdienst stehen.223 Es ist hier nichts über die politische Zuverlässigkeit der Kuratoren gesagt, aber es kann unterstellt werden, dass sie aus Babeufs Reihen kommen sollten. Keine anderen Erwägungen kamen als disqualifizierend in Betracht. Babeuf besteht mit großer Heftigkeit auf dem absoluten, unantastbaren und gleichen Recht jedes Einzelnen, seine Bürgerrechte durch Formung der nationalen Souveränität auszuüben, zur Nationalgarde zu gehören und zu Ämtern gewählt werden zu können. Vor allem sollte nicht Entzug oder Suspendierung solcher Rechte erfolgen bei Personen, die als zahlungsunfähig erklärt worden waren. Er plädiert glühend zugunsten derjenigen, die keine Zeit haben, sich um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern, da sie sich mit öffentlichen Angelegenheiten in einem Geiste „erhabener Desinteressiertheit und Selbstverleugnung“ beschäftigen.224 „Qui s’absorbe exclusivement dans les rêves de bonheur pour la patrie, pour l’humanité, court grand chance de ruine“,225 wie die Lebensgeschichten großer Männer der Antike und seine eigenen Sorgen bezeugen können. Die Ausübung der Souveränität muss in der größtmöglichen Öffentlichkeit vor sich gehen. Die „Assemblée“ muss möglichst große Galerien für das Publi219 220 221 222 223 224 225

Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 111. Vgl. ebd., S. 111 f. Vgl. ebd., S. 118 f. Ebd., S. 119. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 112 f. Ebd., S. 113.

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kum haben. Alle Beratungen müssen öffentlich abgehalten werden, denn Kommissionen sind Zentren für Intrigen, in denen Faktionen ihre Anschläge auf die Freiheit des Volkes vorbereiten. Das Volk muss das unbeschränkte Recht und die Gelegenheit haben, seinen Willen in Form von Petitionen auszudrücken. Es soll ein besonderes Petitionsbüro errichtet werden, das die Petitionen in Empfang nimmt, klassifiziert und an die „Assemblée“ weiterleitet. Das Büro soll tägliche Sitzungen abhalten, alle Petitionen sollen laut verlesen und der Bittsteller benachrichtigt werden, dass seine Bittschrift sich in Bearbeitung befindet. Keine Bittschrift wird direkt an das Büro gesandt. Alle werden durch die örtliche Gemeinde an den Abgeordneten des Ortes gesandt, der sie, bei Strafandrohung von zwanzig Jahren Zwangsarbeit, an das Büro senden muss. Auszüge aus den Bittschriften werden täglich abgedruckt und der „Assemblée“ vorgelegt.226 Letzten Endes würde die Legislatur nur das Recht haben, Gesetze einzubringen, aber nicht, über sie zu beschließen. Es müssen vierzehn Tage vergehen, bevor ein Antrag auch nur diskutiert werden kann. Drei Debatten müssen in Abständen von je zehn Tagen erfolgen. Der Erlass kann erst am vier undvierzigsten Tag aufgesetzt werden. Er wird dann an die Gemeinden gesandt zur Genehmigung oder Einsprucherhebung durch das Volk auf dem Wege der Petitionen. Das Zählen der Petitionen würde innerhalb von sechs Monaten stattfinden.227 Alle diese mühseligen Maßnahmen waren nach Babeufs Behauptung notwendig, um sicher zu sein, dass jede Ansicht, jedes Interesse und jeder Wille berücksichtigt werden und kein anderer als der Volkswille die Oberhand gewinnt.228 Aber solche plebiszitäre, direkte Demokratie ist – wie ander weitig ausgeführt – die Vorstufe zur Diktatur oder versteckte Diktatur. Sie ist eine Einladung an eine totalitäre Partei in der Opposition, zur Unruhe aufzuwiegeln, die Unzufriedenheit und den Willen des Volkes durch Veranstaltung von Massenpetitionen und Kundgebungen und durch Druck von unten zu „organisieren“; und eine Ermutigung einer an der Macht befindlichen totalitären Partei, Volksabstimmungen und Massenresolutionen der Unterstützung herbeizuführen. Es kann nicht anders sein. Denn wo volle Einstimmigkeit postuliert wird, dort gibt es kein Ausweichen vor der Aufzwingung eines einzigen Willens.

226 227 228

Vgl. ebd., S. 116. Vgl. ebd., S. 117. Vgl. ebd., S. 118.

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3. Kann man dem Volke trauen ? Denn letzten Endes traut Babeuf dem Volk nicht mehr als der Nationalversammlung. Schon 1786 brachte Babeuf seine schweren Zweifel über die „manie de la pluralité des voix“229 zum Ausdruck und klagte über das Vor wiegen dummer Mehrheiten. Er klagte darüber, dass diejenigen, deren Ansichten über dem Niveau der Menge standen, als Neuerungssüchtige und „gens à système“230 behandelt würden. Die angeborene Trägheit der Menschen führe sie dazu, Dingen, die sie kennen und an die sie gewöhnt sind, den Vorzug zu geben. Denn jede Veränderung bedeute eine Anstrengung und eine Störung. „La majorité est toujours du parti de la routine et de l’immobilité, tant elle est inéclairée, encroûtée, apathique [...]. Ceux qui ne veulent pas marcher sont toujours les ennemis de ceux qui vont en avant, et, malheureusement, c’est la masse qui s’opiniâtre à ne pas bouger.“231 Vor allem schien die Haltung der Massen im Thermidor und nachher den Anhängern Babeufs ein Beweis dafür, dass die große Mehrheit des Volkes nichts anderes wolle, als in Frieden gelassen zu werden, damit jeder seiner Beschäftigung nachgehen könne. Die Tatsache, dass die Massen, die große Mehrheit der Nation, es zuließen, dass ihnen die Macht und die Rechte, die sie erworben hatten, wieder aus den Händen glitten, und dass sie sich von einer Minderheitsklasse beherrschen ließen, erschien als ernste Warnung. Es war vor allem eine Quelle bitterer Enttäuschung.232 Babeuf schrieb, der glühende Freund der Freiheit, der bereit sei, sich für das Volk zu opfern, fühle sich entmutigt und geneigt, seine Aufgabe aufzugeben : das Volk habe ihn beinah davon überzeugt, dass es unfähig sei, „zu dieser kostbaren Freiheit zu gelangen, und wenn es sie schon erreicht habe, sie zu bewahren“.233 Die Massen seien bereit, jedem zu gehorchen, der den Frieden zu erhalten wisse, und durchaus gewillt, die Monarchie wieder freundlich aufzunehmen. Einige seufzten sogar nach den Fleischtöpfen des Ancien Régime. Sie sähen über jede Verletzung von Prinzipien hinweg, die in ihrer Abstraktheit für sie fiktiv würden. So viele ehrgeizige Agenten seien am Werk, um das Volk in Unwissenheit zu halten über seine Rechte und seine Macht, oder es durch leeres Gerede irrezuführen.234 229 230 231 232 233 234

Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 41. Ebd. Ebd., S. 42. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 29, S. 265; Dommanget, Pages choisies, S. 193 f. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 39, S. 197. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 31, S. 313; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 302, Band 2, Teil 1 :

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„Die Philosophen, die das Glück ihrer versklavten, unglücklichen und unwissenden Mitbürger herbeiführen wollten, wurden gewöhnlich unter der gemeinen Anschuldigung des Ehrgeizes, die heuchlerisch von geschickten Feinden der Gleichheit vorgebracht wurde, mit dem Tode belohnt.“235 Buonarroti, der Verfasser dieser Worte, wird von dem allgemeinen philosophischen Problem gequält, wie den Massen eine tiefe Überzeugung übermittelt werden kann, die der absoluten Wahrheit entspricht, jedoch das Fassungsvermögen der meisten übersteigt. Im Altertum, sagt Buonarroti, pflegten Gesetzgeber zu Religion und religiöser Dichtung zu greifen, entschlossen, lieber Staunen zu erregen als zu überreden. Dies sei in neuerer Zeit nicht zu machen – „ob glücklicher weise oder unglücklicher weise, kann ich nicht sagen“.236 Buonarroti berichtet übrigens, die Verschwörer hätten daran gedacht, ihre Doktrin als ein Dogma der Naturreligion zu verkünden, da sie in den unerschütterlichen und wahren Grundsätzen der Naturreligion und Vernunft begründet sei.237 Das Problem erschien Buonarroti wegen seiner starken Beschäftigung mit dem Problem der „vertu“ noch schwieriger als Babeuf. Was für Babeuf eine Frage des Glücklichseins war, bedeutete für Buonarroti ein Problem von „vertu“. Babeuf war verzweifelt über die Unfähigkeit des Volkes, die großen Prinzipien und seine eigenen wahren Interessen zu sehen, während Buonarroti sich durch die Selbstsucht und das Fehlen jeden Opfergeistes in den Massen verletzt fühlte. Er dachte, die ursprüngliche reine Religion des Christentums hätte die Herzen der Menschen ändern können, wenn sie nicht von machtlüsternen Betrügern so verfälscht worden wäre. „Solche Sittlichkeit ( des wahren Christentums) ist unvereinbar mit dem Materialismus, der die Menschen beeinflusst, in ihrem Verhalten nur ihr eigenes direktes Interesse zu verfolgen und aller Tugend zu spotten.“238 Das Thermidorregime insbesondere war eine Regierung von beschämender Habgier und Selbstsucht. Sogar diejenigen, klagt Buonarroti, die noch kurze Zeit vorher bereit waren, alles aufzugeben, was sie hatten, hingen jetzt mit der ganzen Leidenschaft von Kleinbesitzern an ihrem Besitz.239 Sollten daher diejenigen, die die wahren Interessen des Volkes kennen, das Volk überhaupt nicht beachten ? Es war undenkbar, ohne Bezugnah-

235 236 237 238 239

Défense, S. 52. Vgl. auch Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1: Défense, 42 : „Mais je ne me faisais pas la trop illusoire présomption de les y résoudre [...]; les chances contre la possibilité de l’établissement d’un tel projet sont dans la proportion de plus de cent contre un.“ ( Doch dies wurde in der Verteidigung vor Gericht gesagt.). Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 89. Ebd., Fußnote. Vgl. ebd., S. 104 f. Ebd., S. 89, Fußnote. Vgl. ebd., S. 90.

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me auf die Wünsche des Volkes und den heiligen Grundsatz der Volkssouveränität zu handeln.

4. Die Idee der aufgeklärten Avantgarde Um die Beziehung zum Volkswillen darzulegen, wurde geltend gemacht, es könne an den geheimen Wünschen der Massen kein Zweifel bestehen, möge das Volk noch so zurückgeblieben, unartikuliert und unreif sein. Das Volk würde zweifellos seine Rechte, seine Kraft und seine Interessen erkennen, wenn ihm diese von den richtigen Führern deutlich erklärt würden. Wenn eines Tages das Volk durch eine heftige Erschütterung aus seiner Stumpfheit aufgerüttelt wird, werde es sich schämen, so lange untätig gewesen zu sein. Es braucht daher letztlich kein Widerspruch zwischen der Tätigkeit einer selbsternannten aufgeklärten Avantgarde des Volkes und dem Prinzip der Volkssouveränität zu bestehen.240 Diese Theorie war auch die Basis der Babeuf’schen Revolutionsphilosophie. Das theoretische Problem der Revolution wurde durch zwei von den Gleichen vertretene, aber letztlich widerspruchsvolle Grundsätze kompliziert : dass Anmaßung der Souveränität ein Verbrechen sei, das jeden rechtfertige, das Recht in die eigene Hand zu nehmen und den Usurpator auf der Stelle zu töten; und dass das Recht, sich gegen Unterdrückung aufzulehnen, das heilige Recht und die Pflicht des Volkes, ja jedes beliebigen Teils des Volkes sei. Da eine Revolutionshandlung nicht nur Widerstand, sondern auch ein Versuch war, die Macht zu ergreifen, war es schwer, den Standpunkt zu vertreten, der Revolutionsakt stelle keine Usurpation der Souveränität dar. Er wurde schließlich ausgeführt, ohne dass eine Ermächtigung durch das Volk vorlag. Eine solche Ermächtigung wurde von den Babeuf - Leuten keineswegs als unerlässlich angesehen. In seinem Zustand der Einschläferung und der Täuschung durch seine Unterdrücker brauchte das Volk für gewöhnlich zu lang, bis es erkannte, dass seine Rechte verletzt wurden, und noch länger, bis es sich gegen die Unterdrückung erhob.241 „C’est aux vertus les plus pures, les 240

241

Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 23, S. 7; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Prospectus, S. 3–6; Dommanget, Pages choisies, S. 229–231. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 80 : „Une loi d’Athènes, la plus admirable peut - être de toutes [...] tout citoyen est autorisé à se pour voir contre un jugement de la nation entière, lorsqu’il est en état de justifier qu’il est en contradiction avec les lois établies pour assurer la liberté et les droits sociaux de la majorité du peuple.“ Dieses Zitat stammt urspünglich aus dem von Babeuf herausgegebenen „Correspondant Picard“. Vgl. dazu Thomas, La Pensée socialiste de Babeuf, S. 699. Die Banner der Aufständischen sollten die folgenden Inschriften tragen :

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plus courageuses, qu’appartient l’initiative de l’entreprise de venger le peuple.“242 Ein Bruchteil des Volkes, sogar eine einzelne Person, könne die Notwendigkeit des Aufstands erkennen und entsprechend handeln und hierdurch das Volk zur Erhebung aufrufen. Wie aber, wenn Anarchie, Ungesetzlichkeit aus solchem Blankoscheck zur Revolution folgten ? Die Babeuf’sche Antwort enthielt mehr als ein Argument. Das erste war äußerst optimistisch : Keine Revolutionshandlung würde die Massen mit sich reißen, wenn das Motiv unrein oder eingebildet sei. Eine Revolution breche nur dann aus, wenn die nützlichsten Mitglieder der Gesellschaft durch schlechte Einrichtungen zur Verzweif lung getrieben und gezwungen werden, eine gewaltsame Änderung zu suchen.243 Eine ausdrückliche Ermächtigung war somit nicht notwendig. In der Ordnung der Dinge selbst lagen Ermächtigung und Herausforderung. Die Gesellschaft war begründet worden, um das Glück aller zu sichern. Solange dies nicht erreicht war, solange Ungleichheit und damit Unterdrückung bestand und solange die Fähigkeiten und die Freiheit des Menschen unterdrückt wurden, gab es ein ständiges Recht zur Revolution. Die letzte Revolution war ganz offensichtlich noch nicht zu Ende; sie hatte ihren Lauf noch nicht vollendet, denn sie hatte kein allgemeines Glück gebracht.244 „Ou bien, si la Révolution était finie, elle n’aurait été qu’un grand crime.“245 Dieselbe Beweisführung war gültig gegenüber dem Einwand des Aufstands gegen eine legitime, vom Volk

242 243 244

245

„Quand le gouvernement viole le droit du peuple, l’insurrection est, pour le peuple et pour une portion du peuple, le plus sacré et le plus indispensable des devoirs. [...] Ceux qui usurpent la souveraineté doivent être mis à mort par les hommes libres.“ Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 25. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 170. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 31, S. 316 f.; Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 30. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 36, S. 115 f.; Dommanget, Pages choisies, S. 265 f. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 30. „Révolutionner [...] c’est conspirer contre un état de choses qui ne convient pas; c’est tendre à le désorganiser et à mettre en place quelque chose qui vaille mieux. Or, tant que tout ce qui ne vaut rien n’est pas renversé et que ce qui serait bon n’est pas stabilisé, je ne reconnais point qu’on ait assez révolutionné pour le peuple [...] que cette dernière révolution s’appelle incontestablement la contre - révolution [...], il s’ensuit que la révolution est à refaire, de l’aveu même des contre - révolutionnaires.“ „Sie nennen uns Anarchisten, ‚désorganisateurs‘, uns, die wir wirklich die Gesellschaft und gemeinsames Glück organisieren wollen [...]. Sie selbst sind die wirklichen Anarchisten und Unterdrücker, ‚désorganisateurs‘, die dieses böse und absurde Regime geschaffen haben.“ Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 36, S. 115–117; Dommanget, Pages choisies, S. 265–267. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 30.

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anerkannte Regierung. Ein Volk kann in scheinbarer Freiheit eine schlechte Verfassung akzeptieren, wenn Unwissenheit und Täuschung es daran hindern, sie als tyrannisch zu erkennen. Doch mehr als das. Eine legitime Regierung setze eine Verfassung voraus, die so vollkommen ist, wie sie von Menschen nur gemacht werden kann, eine Verfassung, die alle bekannten Grundsätze sozialer Gerechtigkeit, alle Garantien der Freiheit und der Volkssouveränität in sich verkörpert. Eine Verfassung ohne diese könne nicht eine legitime Regierung erstehen lassen. Und schließlich sei die Verfassung von 1795 nicht von einer Mehrheit in allgemeiner Wahl angenommen worden. Die Verfassung von 1795 habe die wesentlichen Grundsätze der vollen Volkssouveränität, der allgemeinen und gleichen Erziehung und der „aisance de chacun“ ver worfen. Was daher in einer Regierungsform, in der das Volk frei seine Wünsche äußern könne, ein Verbrechen sein mochte, wurde in dem herrschenden System der Unterdrückung zur heiligen Pflicht, insbesondere für die mit Mut, Voraussicht, Tugend und Energie begabten Eiferer des Volkes.246 Unbeschadet aller objektiven Einwendungen gegen diese Ansichten und ihre gefährlichen Folgerungen fand es der Ankläger im Prozess von Vendôme, ebenso wie Robespierres Gegner unter ähnlichen Umständen, außerordentlich schwierig, die Anklage zu vertreten, ohne die große Revolution als Ganzes zu verurteilen. Der Ankläger verurteilte folglich nicht das Phänomen der Revolution als solcher, sondern griff zu einer zweifelhaften Unterscheidung : eine Revolution sei heilig und legitim, wenn, wie 1789, das ganze Volk sie unter einem freien und spontanen Impuls und mit einem „wahrhaft allgemeinen Willen“ mache. Wenn aber nur eine Faktion sich erhebe, um den Frieden und eine rechtmäßige Regierung zu zerstören, dann sei dies ein Verbrechen. Wie konnte man den allgemeinen Charakter der Revolution von 1789 beweisen ? Und wie die revolutionären „journées“ vertreten, die auch mit der größten Phantasie nicht als vom ganzen Volk ausgeführt beschrieben werden könnten?247 Dass kein Widerspruch bestehe zwischen der Idee einer Partei der Avantgarde und der Idee des Allgemeinen Willens, und dass der Allgemeine Wille nicht der spontan zum Ausdruck gebrachte Wille der Einzelnen sei, sondern etwas, das gewollt werden sollte und das nötigenfalls erzwungen werden müsse, behauptete Babeuf von keinem Geringeren als Robespierre gelernt zu haben : Er lehrte – und Babeuf zitiert ihn voller Billigung –, „wahre Gesetzgeber soll246 247

Vgl. ebd., S. 24–27. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 1, S. 74; Boissy d’Anglas stellte fest : „Lorsque l’insurrection est générale, elle n’a plus besoin d’apologie, et, lorsqu’elle est partielle, elle es toujours coupable.“ Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 278. Siehe auch Robespierres Erwiderung an Louvet: Lavisse ( Hg.), Histoire de France contemporaine, Band 2, S. 15.

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ten ihre Gesetze nicht der korrupten Moral derjenigen, für die sie bestimmt sind, anpassen, sondern sie sollten in der Lage sein, die Sittlichkeit des Volkes durch ihre Gesetze wiederherzustellen, diese erst auf Gerechtigkeit und Tugend zu basieren und dann jede Schwierigkeit zu bewältigen wissen, um sie den Menschen aufzuzwingen“.248 Das bedeute nicht, dass der Führer oder die Führer das Volk nicht beachten sollten, während sie seine „Regeneration“ vorbereiteten. Die Massen müssen beteiligt werden. Ihr Interesse müsse geweckt werden. Sie müssen zum Schwingen gebracht werden vor Geschäftigkeit. Aber ihre Aufgabe sei nicht, die Politik zu bestimmen und ihren Willen durchzusetzen. Es sei undenkbar, dass die Führer vom Volke einfach als mit Exekutivaufgaben beauftragte Männer behandelt würden. Die Führer, und nicht die Massen, sollten das Getriebe in Gang setzen. Das Wesen der revolutionären Demokratie liege gerade in dem Gehorsam und der Treue der Massen gegenüber ihren Führern.249 „Ich werde euch mutig machen“, schrieb Babeuf, „wenn es sein muss, gegen euren Willen. Ich werde euch zwingen, euch mit unseren gemeinsamen Gegnern auseinanderzusetzen. [...] Ihr wisst noch nicht, wie und wohin ich marschieren will. Ihr werdet bald meine Richtung klar sehen, und entweder ihr seid keine Demokraten, oder ihr werdet sie für gut und sicher halten.“250 Die Haltung der Führer gegenüber den Geführten wurde von Babeuf als eine Mischung von Mitleid, Verachtung und Liebe gesehen. „L’indignité des hommes ne devait pas l’arrêter dans sa pensée de régénération; qu’il fallait avoir pitié d’eux et les rendre dignes de la liberté.“251 Die Massen könnten jedoch nicht einmal mit der Wahl der Führer betraut werden, wenigstens nicht zu Beginn der Revolution. Das Volk möge unklar die Notwendigkeit einer sozialen Reform fühlen, besitze aber nicht die Klugheit, die richtigen Führer zu ihrer Durchführung zu wählen. Die Wahl müsse denjenigen überlassen werden, die durch ihre Liebe der Gleichheit, ihren Mut, ihre Hingebung und Voraussicht zu dieser äußerst wichtigen Aufgabe befähigt seien, kurzum : der Avantgarde. Aus einer nur theoretischen Frage werde ein dringendes praktisches Problem, wenn der Plan eines Gewaltstreichs ausgeführt werden sollte. Buonarroti sagt, obwohl das Geheime Direktorium der Verschwörung darauf vertraute, dass „die Vereinigung von Autorität und Klugheit“, die in der Avantgarde verkörpert sei, allein das Ziel erreichen könnte, glaubte es dennoch, sogar die Macht mit den besten Absichten in der Welt wäre 248 249 250 251

Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 40, S. 258, Fußnote. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Prospectus, S. 1–4; Dommanget, Pages choisies, S. 228 f. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 35, S. 79; Espinas, La Philosophie sociale, S. 255. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 151.

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ohne die Zuneigung und Mithilfe des Volkes außerstande, den vollen Erfolg der Bemühungen zu garantieren.252 Jedoch abgesehen von der Zweckmäßigkeit war da auch der Grundsatz der Heiligkeit der Volkssouveränität. Es müsse die Gewähr dafür gegeben sein, dass die Elite nicht willkürlich handele, sondern in Übereinstimmung mit dem Volkswillen. Es genüge nicht ganz anzunehmen, die Elite wisse besser, was das Volk wolle, als das Volk selbst; zu handeln, ohne sich zurzeit viel um das Volk zu kümmern, in der Hoffnung, das Volk würde, wenn es erst vor eine vollendete Tatsache gestellt wäre, begeistert bestätigen, dass das, was für es getan wurde, genau das sei, was es immer gewollt habe. Die Anhänger Babeufs erklärten, ihnen schauderte vor dem Gedanken, sie wären eine Gruppe von „verbrecherischen Verschwörern, die im Dunkeln arbeitet“.253 Sie seien nicht eine Handvoll von aufrührerischen Anstiftern, die von ihrem eigenen Vorteil oder von „verrücktem Fanatismus“254 getrieben würden. Sie wollten ihr Ziel durch den Fortschritt von „raison publique et de l’éclat de la vérité“255 erreichen. Das erforderte Bearbeitung der öffentlichen Meinung : Propaganda. Babeuf rühmte sich, entdeckt zu haben, dass in einer Revolution nichts wichtiger sei, als ein sicheres Mittel zu finden, „le bon esprit public“ zu lenken und zu erhalten, „car c’est avec l’opinion public qu’on remue tout.“256 Die Anhänger Babeufs waren fest davon überzeugt, dass die Führer einer revolutionären Partei sich nicht von den Massen isolieren dürfen. Nichts war nach ihrer Meinung eher geeignet, das Volk zu entfremden und zu entmutigen, als verschlossenes Benehmen und geheimnisvolles Intrigieren seiner Führer. Unredlicher Machiavellismus, Heimlichtuerei und Verstellung der Führer schadeten der revolutionären Sache. Propaganda solle mit vollem Mund gemacht werden, so dass sie jeden erreiche – nicht als heimliche Einflüsterung. Die Isolierung eines Häufchens von Aktivisten, die behaupteten, zum Wohle des Volkes zu handeln, ohne sich auf die Volksmeinung und Volkskraft zu stützen, sei dumm, sinnlos und ver werf lich. Alle Unbequemlichkeiten offener Propaganda würden aufgewogen, wenn verglichen mit der Ver wirrung und Gleichgültigkeit des Volkes, das führerlos und ohne Ziel gelassen würde.257 Die 252 253 254 255 256

257

Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 116 f. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 118; Espinas, La Philosophie sociale, S. 280. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 120; Espinas, La Philosophie sociale, S. 280. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 118; Espinas, La Philosophie sociale, S. 280. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 198. Espinas, La Philosophie sociale, S. 280, hebt besonders den Widerspruch hervor zwischen dem Wunsch nach Publizität und den verschwörerischen Absichten. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 37, S. 137 f. Siehe dazu auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Prospectus, S. 5 f.; Dommanget, Pages choisies, S. 231 : „Loin des défens-

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Babeuf - Bewegung konnte zu keiner Entscheidung kommen über das Hauptproblem ihrer Politik : sollte ihr Ziel ein gewaltsamer Putsch sein, der in größter Heimlichkeit von einer kleinen Gruppe von Verschwörern auszuführen wäre, oder eine Bewegung zur Aufklärung und Erziehung der Massen zu revolutionärer Aktion ? Sie waren unfähig zu wählen zwischen Überraschungssieg und Erzwingung einer revolutionären Ordnung einerseits und dem Triumph der Aufklärung in allen Herzen und einer Revolution im Einvernehmen zum mindesten mit den Massen andererseits. Der zweite Weg schien zu lang.258 Die Führer würden in den frühen Stadien der Bewegung verhaftet werden, erklärte Babeuf, und die Kräfte der Reaktion würden alles tun, was in ihrer Macht stand, um das Volk mit Entsetzen zu erfüllen vor der revolutionären Botschaft und ihrer Partei. Ein Gewaltstreich, andererseits, ohne entsprechende Vorbereitung des Volkes könnte die verhängnisvollsten Folgen haben. Die Revolutionäre würden in den Augen des Volkes als Räuber und Mörder erscheinen. Von den Besitzenden gedungene Lehrer und Führer, die deren Usurpationen verteidigen und die Massen in Unwissenheit halten sollten, würden einen heftigen Feldzug gegen die Aufständischen beginnen. Die Menge, die in ihrer Ver wirrung, Täuschung, Erregung, in ihrem Schreck und in ihrer Überraschung, unfähig sein würde zu überlegen und die Bedeutung des Aufstands zu erfassen, würde sich auf ihre Retter stürzen und sie vernichten, und mit ihnen auf Generationen hinaus die Hoffnung auf eine Revolution und Erlösung.259 Die siegreichen herrschenden Klassen würden alles tun, um die Erinnerung an den missglückten Putsch wach zu halten als eine verabscheuungswürdige, „wahnsinnige Ausschweifung verbunden mit

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eurs du Peuple, loin du Peuple lui - même cette diplomatie, cette prétendue prudence machiavélique, cette politique hypocrite qui n’est bonne qu’aux tyrans [...]. Des réflexions, fondées sur tous les exemples, m’ont fait croire que, dans un état populaire, la vérité doit toujours paraître claire et nue. On doit toujours la dire, la rendre publique, mettre le Peuple entier dans la confidence de tout ce qui concerne ses grands intérêts. Les ménagements, les dissimulations, les a parte entre des coteries d’hommes exclusifs et de soi - disant régulateurs, ne ser vent qu’à tuer l’énergie, à rendre l’opinion erronée, flottante, incertaine, et, de là, insouciante et ser vile, et à donner des facilités à la tyrannie pour s’organiser sans obstacles. Éternellement persuadé qu’on ne peut rien faire de grand qu’avec tout le Peuple, [...] il faut [...] lui tout dire, lui montrer sans cesse ce qu’il faut faire, et moins craindre les inconvénients de la publicité dont la politique profite, que compter sur les avantages de la force [...]. Il faut calculer tout ce qu’on perd de forces en laissant l’opinion dans l’apathie [...] et tout ce qu’on gagne en l’activant.“ Und doch bewunderte Babeuf Machiavelli sehr und suchte bei ihm Anleitung, siehe Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 70 f. Vgl. Babeufs Brief an Germain, zit. in Dommanget, Pages choisies, S. 217–221. Vgl. ebd., S. 217 f.

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einem grässlich verbrecherischen Plan, jede vernünftige und gerechte Ordnung zu zerstören“.260 Die wahren Absichten der Verschwörer würden niemals bekannt werden. Babeuf schlug daher einen Mittelweg vor. Nach einer Periode intensivster Propaganda sollten die Aufständischen in einer gründlich indoktrinierten Gegend zuschlagen und sofort dazu übergehen, die von ihnen befür worteten Reformen einzuführen. Dies würde von den lokalen Eiferern mit Begeisterung aufgenommen werden, und das Beispiel würde die Nachbarprovinzen anstecken.261 „Ainsi s’étendrait graduellement le cercle des adhésions“ zur „plebejischen Vendée“.262 Der Zuwachs würde schnell sein, aber nicht zu schnell, um jede neue Ausdehnung im Einklang mit den Gesetzen der Gleichheit zu konsolidieren. Die Hauptsache sei, nicht zu versagen und richtig verstanden zu werden.263 Wegen der offensichtlichen Vorteile, die die Hauptstadt bot, wurde Paris als der Punkt gewählt, in dem der Aufstand beginnen sollte. In späteren Jahren erklärte Buonarroti die Unterschiede zwischen Babeufs und Owens Einstellung. Owen sah die Schaffung kleiner freiwilliger sozialistischer Gemeinden vor, deren Beispiel in zunehmendem Maße befolgt und so allmählich den Endsieg des Sozialismus herbeiführen würde, während Babeuf die Eroberung der zentralen Machtarterie lehrte. Solche Eroberung würde die zwangsweise Einführung der erstrebten Regierungsform im ganzen Land ermöglichen.264 In seinen Erklärungen ist Buonarroti wieder um bemüht, die Grundsätze der Volkssouveränität in „aller nur möglichen Achtung“ zu halten. In Anbetracht der Unmöglichkeit einer Abstimmung in ganz Frankreich, sei „das einzige Mittel, die Volkssouveränität in aller mit den Umständen zu vereinbarenden Achtung zu halten“, gewesen, die Pariser Aufständischen zu ermächtigen, die provisorische nationale Regierung zu wählen.265 Die Ergebenheit des Pariser Volkes an die Sache der Revolution und der Mut, den es in der Vergangenheit bewiesen hatte und voraussichtlich im Laufe des Aufstands wieder zeigen würde, stützten seinen Anspruch, als Beispiel und Exponent des souveränen Willens der Nation zu dienen. Zu dem möglichen Einwand gegen die Usurpierung der Macht sei zu sagen, da es eine heilige Pflicht sei, die Tyrannei zu zerstören, oblag diese Pflicht dem Pariser Volk vor jedem anderen Teil der Nation; denn es war dem Sitz der Tyrannei am nächsten.266 Da der Sturz der Tyrannei 260 261 262 263 264 265 266

Ebd., S. 218. Vgl. ebd., S. 219. Ebd., S. 220. Vgl. außerdem ebd., S. 257. Vgl. ebd., S. 220. Vgl. Robiquet, Buonarroti et la secte des Égaux, S. 273. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 137. Vgl. ebd., S. 137 f.

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ohne Einsetzung einer provisorischen Regierung unvollständig wäre, war es die Aufgabe des Pariser Volkes, eine solche einzusetzen, die „den Grundsätzen der nationalen Souveränität, soweit es die gegebenen Umstände erlaubten, angepasst“ wäre.267

5. Die Theorie der revolutionären Diktatur Nach der Theorie sollte der Moment des Sturzes der alten Regierung das souveräne Volk an die Macht bringen. Denn die uneingeschränkte Volkssouveränität war das Ziel der geplanten Revolution. Doch wenn das Volk nicht reif genug war, die Revolution zu machen, wie konnte ihm vertraut werden, dass es seine souveränen Rechte richtig ausüben würde ? Die Erfahrung der Französischen Revolution, erklärt Buonarroti, hatte gezeigt, dass es zu Beginn einer Revolution „weniger wichtig ist, sogar mit Rücksicht auf die wahre Volkssouveränität selbst ( und um ihretwillen ), uns mit dem Sammeln der Stimmen einer Nation zu beschäftigen, als dafür zu sorgen, dass die oberste Gewalt durch möglichst wenig willkürliche Mittel in solche Hände fällt, die mit Weisheit und Kraft revolutionär sind“.268 Ein Volk, das noch in einer Tradition der Unterdrückung befangen ist, wäre nicht fähig, seine Führer auszuwählen. Eine konstitutionelle Regierungsform, die sich auf Urversammlungen und eine gesetzgebende Körperschaft gründet, könne nicht mit einem Schlag geschaffen werden. Es wäre Wahnsinn, die Nation auch nur einen Augenblick lang ohne Führung zu lassen. Die Ausübung der Souveränität wäre unter solchen Umständen eine reine Fiktion. „Diese schwierige Aufgabe ( die Revolution durchzuführen ) kann nur bestimmten weisen und mutigen Bürgern obliegen, die tief durchdrungen von der Liebe zum Vaterland und zur Menschheit, seit langem die Ursachen des öffentlichen Unglücks ergründet haben, sich von den allgemeinen Vorurteilen und Lastern ihres Zeitalters befreit haben, ihre Zeitgenossen an geistiger Entwicklung überflügelt haben, die Geld und vulgäres Verhalten verachten und ihr Glück darin sehen, sich unsterblich zu machen, indem sie der Gleichheit zum Sieg verhelfen.“269 Babeuf gebrauchte im gleichen Zusammenhang den Ausdruck „dictature de l’insurrection“;270 er verlangte sie für diejenigen, die in dem Aufstand die Initiative ergriffen hatten.

267 268 269 270

Vgl. ebd., S. 138. Ebd., S. 134, Fußnote. Ebd. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 173; auch Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 114.

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Formale Demokratie wird also ver worfen, und die Unvereinbarkeit zwischen dem Ziel der Errichtung einer Demokratie und diktatorischen Mitteln wird nicht eingestanden. „Welchen Umständen“, fragt Buonarroti, „können wir vernünftiger weise den Verlust von Demokratie und Freiheit in Frankreich zuschreiben, wenn nicht den Meinungsverschiedenheiten, den Interessengegensätzen, dem Fehlen von Tugend, Einigkeit und Ausdauer im Nationalkonvent ?“271 Eine starke und unwiderstehliche Regierung, die von einem einzigen Willen beseelt wird, sei nötig, um Gleichheit in einer verderbten Gesellschaft einzuführen. Hätten die Franzosen die Klugheit besessen, „einen Mann von Robespierres Prägung mit der Diktatur zu betrauen [...] dann hätte die Revolution ihr wahres Ziel erreicht“.272 Die Zeitspanne zwischen dem Aufstand und der Einführung einer konstitutionellen Ordnung sei äußerst wichtig. Formale demokratische Grundsätze verlangten von der provisorischen Regierung, sofort die Urversammlungen einzuberufen, um einen Konvent zu wählen. Doch wirkliche Demokratie verlangte gebieterisch die Verlängerung dieser Zwischenzeit. Denn eine bloße Änderung der Form der öffentlichen Ver waltung und der Männer an der Macht sei nicht ein Ziel an sich. Nützliche und dauerhafte Gesetze seien das Ziel : eine soziale Umformung. „Und obwohl das Geheime Direktorium sich der Einsicht nicht verschloss, dass die Art und Weise, in der ein Gesetz erlassen und gehandhabt wird, einen Einfluss haben mag auf die zu errichtenden Institutionen, dienten ihnen die Geschichte und die Französische Revolution als Warnung dafür, dass Ungleichheit der Bedingungen sicherlich bewirkt, die Bürger zu spalten, entgegengesetzte Interessen zu schaffen, feindselige Gefühle zu schüren und die Massen ( die durch sie in Unwissenheit und Leichtgläubigkeit gehalten und zu Opfern übermäßiger Arbeit gemacht werden ) einer kleinen Zahl von informierten und schlauen Männern zu unter werfen, die unter Missbrauch ihrer durch Geschicklichkeit erworbenen Vorzugsstellungen nachher nur darauf sehen, in der Verteilung von Gütern und Vorteilen die soziale Ordnung, die nur ihnen zugute kommt, zu erhalten und zu stärken.“273 Die Aufgabe sei daher nicht nur, das Volk abstimmen und eine Souveränität ausüben

271 272

273

Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 139, Fußnote. Ebd., S. 139 f., Fußnote. Siehe auch Buonarroti, Observations sur Maximilien Robespierre, S. 487. Robiquet, Buonarroti et la secte des Égaux, S. 281 f., hat die Beziehung zwischen Volkssouveränität und dem Allgemeinen Willen im Denken der Babeuf - Bewegung in seltsamer Weise missverstanden. Er argumentiert wie folgt : Während einerseits Buonarroti behauptet, das Volk sei unfähig, sich zu regenerieren und sogar die Führer für eine solche Regeneration zu wählen, erklärt er zur gleichen Zeit, „que la liberté consiste dans la soumission de tous à la volonté générale“ ! Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 132 f.

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zu lassen, sondern es instand zu setzen, sie „wirksam“ auszuüben und nicht „nur fiktiv“.274 Mit anderen Worten, bevor irgendwelche Wahlen stattfänden, sei es die Aufgabe, eine „revolutionäre und provisorische Regierung“ aufzustellen, die in der Lage wäre, das Volk „für immer dem Einfluss der natürlichen Feinde der Gleichheit“ zu entziehen, und „ihm die Einheit des Willens zurückzugeben, die für die Annahme republikanischer Institutionen notwendig ist“.275 Das Volk müsse vorbereitet werden, so zu wählen, wie es wählen sollte. Um dies noch leichter und sicherer zu machen, sollte die provisorische Regierung eine doppelte Funktion erfüllen : dem Volk den Plan einer Gesetzgebung vorschlagen, die einfach und geeignet sei, ihm Gleichheit und die wirkliche Ausübung seiner Souveränität zu sichern; und provisorisch die vorbereitenden Maßnahmen diktieren, die notwendig seien, „um die Nation ihrer Annahme geneigt zu machen“.276 Ausmerzung der Opposition sowie intensive Erziehung und Propaganda seien die beiden Hauptaufgaben. Aus wem sollte diese provisorische Revolutionsregierung oder Diktatur bestehen, diese „außerordentliche und notwendige Autorität, unter der eine Nation in den vollen Besitz der Freiheit gesetzt werden kann, trotz der aus ihrer alten Versklavung herrührenden Verderbtheit und der Fallen und Feindseligkeit innerer und äußerer Verschwörer gegen sie“ ?277 Sollte es eine Diktatur eines Einzelnen oder von Mehreren sein ? Von der aufständischen Führerschaft ausgehend ? Dem aufständischen Pariser Volk aufgezwungen, von ihm angenommen oder gewählt ? Und sollte sie als Exekutivgewalt handeln, ohne dass es eine gesetzgebende Körperschaft gäbe ? Diese Fragen waren gewissermaßen nur ein Teil eines viel tiefer gehenden Problems, welches, wie vorher angedeutet, niemals voll geklärt wurde. Einerseits behaupteten die Gleichen, das Hinwegfegen der gesamten Vergangenheit und die Errichtung einer völlig neuen und bleibenden Ordnung anzustreben. Andererseits proklamierten sie sich als die Erben des am 9. Thermidor unrechtmäßig gestürzten Systems und erklärten als ihre Ziele die Rückkehr zu der Verfassung von 1793 und den Sturz der Nach - Thermidor - Regierung von Usurpatoren und Schändern der Rechte des Volkes.278 Im ersten Fall konnten die Aufständi274 275 276 277 278

Ebd., S. 133. Ebd. Ebd., S. 138 f. ( Bodsons und Darthés Plan einer persönlichen Diktatur ). Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 48–50, 119, 132. Ders., Conspiration, Band 2, S. 114 : „Alors il y a justice, il y a nécessité que les plus intrépides, les plus capables de se dévouer, ceux qui se croient pourvus au premier degré d’énergie, de chaleur et de force, de ces vertus généreuses sous la garde desquelles a été remis le dépôt d’une constitution populaire que tous les Français vraiment libres n’ont jamais oubliée; il y a alors justice et

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schen sich frei fühlen von allen verfassungsmäßigen und rechtlichen Beschränkungen, aber nicht, wenn sie die zweite Haltung einnahmen. Einer von ihnen, Amar, bestand darauf, der richtige Weg wäre, die Montagnard - Abgeordneten, die aus dem Konvent ausgeschlossen worden waren, zurückzurufen und sie als den einzig rechtmäßigen Konvent anzuerkennen, der geeignet und ermächtigt sei, die Regierung des Landes anzutreten. Wie bereits erwähnt, waren die Montagnards selbst damit beschäftigt, einen Aufstand vorzubereiten, um das Vor Thermidor - System wiederherzustellen.279 Es war natürlich, dass die Montagnards sich darauf versteiften, sie stellten bis zur Wahl eines neuen Konvents die einzige legale gesetzgebende Autorität und Volksvertretung dar. Jede verfassungswidrige Vergrößerung ihrer Körperschaft durch Abgeordnete, die nicht in allgemeiner Wahl gewählt worden seien, müsste zwangsläufig als eine Verletzung der Volkssouveränität angesehen werden. Ebenso betrachteten die Montagnards die Anordnungen, deren Ausführung das Geheime Direktorium der Aufständischen zu dem Ausbruch des Aufstands plante, als Verletzung der Rechte des Volkes. Zum Beispiel widersetzten sie sich heftig dem von ihnen als verfassungswidrig bezeichneten Plan, die Wohnungen und den Besitz der Konterrevolutionäre am Tage des Aufstands an das aufständische Volk zu verteilen. Sie machten geltend, diese könnten niemals von Rechts wegen dem Volke zugestanden werden; allenfalls sollte die Verteilung als eine einmalige Ausnahmehandlung der Großmut angesehen werden. Die Montagnards konnten das Geheime Direktorium nicht als die provisorische Regierung betrachten und auch nicht dem Pariser Volke erlauben, es oder seine Mitglieder zur Regierung zu ernennen. Die Aufgabe und das Recht, eine Exekutive zu ernennen, mussten an den Konvent zurückfallen. Äußerstenfalls erklärten sich die Montagnards bereit, die Ernennung einiger Mitglieder des Geheimen Direktoriums zum Exekutivrat zu versprechen.280

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nécessité que ceux - là, convaincus d’ailleurs que l’inspiration de leur propre cœur, ou celle de la liberté elle - même, qui leur fait entendre plus fortement, plus particulièrement sa voix, les autorise suffisamment à tout entreprendre; il y a justice et nécessité que d’eux - mêmes ils s’investissent de la dictature de l’insurrection, qu’ils en prennent l’initiative, qu’ils revêtent le glorieux titre de conjurés pour la liberté, qu’ils s’érigent en magistrats sauveurs de leurs concitoyens.“ Siehe das gesamte Dokument ( Première instruction du directoire secret ) in Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 113–129, sowie Haute Cour de la France ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 172–182, außerdem S. 169–172. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 134 f., 143–146. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 155 f. ( die vom geheimen Direktorium vorgeschlagenen Maßnahmen ), 166–169 ( Bodsons erbitterter Angriff auf die Montagnards, weil sie politisch und moralisch in der Verteidigung der Revolution versagt hatten; auf seiner Seite ist Germain, während Rossignol und Fillon, alte hébertistische Generäle, und der Postreiter Drouet, der Ludwig XIV. in Varennes erkannte, für

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Ein Ausweg aus diesem Dilemma von Legalität und revolutionärer Prozedur wäre die Ausrufung der Diktatur eines Mannes gewesen, der im Namen und zum Besten des Volkes handeln würde, ohne durch irgendeine gesetzgebende Gewalt behindert zu werden. Dies wurde von Darthé und Bodson, einem alten Marat - Schüler, vorgeschlagen, war aber schon vorher ver worfen worden. Es war kein passender Kandidat verfügbar. Diktatur erinnerte zu sehr an Monarchie. Es gab immer die Möglichkeit des Missbrauchs diktatorischer Gewalt, und die öffentliche Meinung hatte ein Vor urteil gegen persönliche Diktatur und hätte sie nicht gebilligt.281 Babeuf war sehr dagegen, möglicher weise weil er wusste, dass er nicht gewählt würde, und niemand anders mit dieser höchsten Macht betraut wissen wollte.282 Ein Kompromiss zwischen Lega-

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Zusammenschluss waren ), 171–175 ( Bedingungen des geheimen Direktoriums und Ablehnung durch die Montagnards ); ders., Conspiration, Band 2, S. 244–253 ( Acte d’insurrection ); Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 82–85. Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 121; Haute Cour de Justice ( Hg.), S. 130 f. : „La dictature de l’autorité, et non la dictature de l’homme [...] serait d’exciter la méfiance; [...] ressemble trop à monarchie. [...] Et s’il n’est point capable ( fehlen zwei Wörter ), vous le déposerez pour le remplacer, vous avilissez votre mesure; et s’il est mal intentionné, et plus fort que vous ? [...]. D’ailleurs je ne connais personne parmi vous [...]. Dictature à chaque circonstance, route ouverte à tous les ambitieux, effaroucherait le peuple.“ [ A. d. Hg. : Talmon hat die Reihenfolge der Originalzitate verändert und sie neu zusammengestellt.] Darthé ( ehemaliger öffentlicher Ankläger am Revolutionstribunal zu Arras ) „est tellement convaincu que la dictature c’est le seul moyen de faire le bien, qu’il n’y aura que la raison politique qui l’en fera départir : ainsi c’est sous ce rapport qu’il faut le combattre“. Siehe Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 130. Vgl. außerdem Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 120 f.; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 138–140. Babeuf leugnete vor Gericht alle diktatorischen Absichten : „Le parti des démocrates ne doit point avoir des chefs.“ Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 95. Siehe weiterhin ebd., S. 95–98, 120–125; Guérin, La Lutte de classes, Band 2, S. 350–354. Germain drängt Babeuf, die persönliche Führerschaft zu übernehmen : „Tu t’es déclaré le tribun du peuple : certes, ce titre, cette qualité dont jusqu’à ce jour tu t’es montré si méritant, t’impose l’obligation de tracer au peuple [...] le plan, le projet d’attaque; je dis plus, tu ne dois t’en reposer sur cela qu’à toi.“ Es folgt die Verurteilung von Meinungsverschiedenheiten und Abweichungen : „Oui, tu es le chef actuel des démocrates qui veulent, à ta voix, fonder l’égalité; tu es le chef reconnu par eux : c’est donc toi qui dois, qui peux seul leur indiquer la voie ou leurs désigner celui qui la leur indiquera.“ Siehe Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 62. Germain war damals erst zweiundzwanzig, Offizier bei den Husaren. Bodson, der alte Hébertist, fordert in einem Brief, der eine scharfsinnige Analyse des psychologischen Faktors enthält, Babeuf auf, die Führung zu übernehmen nicht als Nachfolger von jemand anderem, sondern als ein wirklicher Führer : „Je pense et je suis convaincu que, suivant l’impulsion de ton cœur, la véhémence de tes sentiments, tu y réussiras plus facilement que de suivre les traces d’hom-

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lität und Revolution wurde in der Frage des Revolutionskonventes geschlossen. Das Pariser Volk sollte einen neuen Konvent wählen, der zusammengesetzt sein sollte aus den 70 Montagnard - Abgeordneten und aus je einem Abgeordneten für jedes Departement, zu wählen aus einer vom Aufstandsausschuss vorgelegten Liste demokratischer Patrioten. Die Montagnards wären somit überstimmt. Aber die aufständischen Gleichen, deren Absicht es war, „rückhaltlos und eindeutig zum Volke zu sprechen und seine Souveränität in höchster Achtung zu halten“,283 konnten dem neuen Konvent dennoch nicht ungehinderte Freiheit lassen oder richtiger, konnten dem Konvent nicht ganz trauen, das Werk der Regeneration allein durchzuführen. Eine kleine Körperschaft mit dem ausschließlichen Recht der legislativen Initiative und der Ausführung der von ihr vorgeschlagenen und vom Konvent angenommenen Gesetze schien unerlässlich. Dass diese Körperschaft aus den zuverlässigsten Demokraten, d. h. ausschließlich aus Mitgliedern des Aufstandsausschusses (des Geheimen Direktoriums ) bestehen sollte, verstand sich von selbst –, ungeachtet der zu erwartenden Einwendungen, der Ausschuss hätte den Ehrgeiz, die Macht zu monopolisieren und sein eigenes Fortbestehen zu sichern.284 Es wurde jedoch die Frage aufgeworfen, ob es nötig sei, formale Anordnungen zu treffen, ob nicht die Mehrheit der Verschwörer im neuen Konvent und ihre engen Beziehungen untereinander genügten, um „den Gesetzen den Geist ihrer Unternehmung aufzuprägen und zur obersten ausführenden Gewalt Magistrate zu erheben, die würdig wären, ihre Funktionen auszuüben“.285 Nach langem Zögern, berichtet Buonarroti, wurde beschlossen, das aufständische Volk aufzufordern, dem Aufstandsausschuss allein die Initiative der Einbringung von Gesetzen und ihre Ausführung anzuvertrauen.286 Der Konvent sollte lediglich ein Deckmantel sein, denn die Exekutive sollte das ausschließliche Recht haben, Gesetzentwürfe einzubringen; und zwar eine Exekutive, die nicht von der Legislative gewählt, sondern vom aufständischen

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mes que tu dois avoir le noble orgueil ( quels que soient les ser vices qu’ils ont pu rendre à la patrie ) de dépasser; ne regarde point en arrière, ne vois que le bonheur du peuple, la reconnaissance de la postérité.“ Siehe Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 55–57, Zitat : S. 57. „Crois que l’autorité de Lycurgue, Rousseau, Mably vaut bien celle de nos légistes modernes.“ Ebd. Der Versuch einer Anknüpfung an die Revolutionsregierung war geeignet, viele zu entfremden. Die Menschen waren der Revolution müde und sehnten sich nach Stabilität. Außerdem konnte sich der Schüler und Kollege von Marat und Hébert nicht von einem Groll gegen Robespierre und seine Freunde freimachen, siehe Dommanget, Pages choisies, S. 286 f., Fußnote 2. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 200. Ebd., S. 201. Ebd., S. 201 f. Vgl. ebd., S. 202.

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Volk ernannt würde, das heißt also die selbsternannten Gläubigen. Denn das Wesentliche war, um es noch einmal zu sagen, das Volk nicht frei nach seinem Willen handeln, sondern es das Richtige tun zu lassen, so wie es diejenigen verstanden, die für sich in Anspruch nahmen zu wissen, was für das Volk einzig und allein richtig und gut ist. Die wirkliche Revolution wird nicht allein dadurch ausgeführt, dass eine Avantgarde, die sich bewusst ist, die letzten Wünsche des Volkes zu kennen und zu repräsentieren, das, was recht ist, zur Herrschaft bringt. Die Revolution hat mit der Tatsache zu rechnen, dass in einer sozialen Umgestaltung die Verlierer sich niemals mit ihrem Verlust aussöhnen, sogar wenn der Verlust von einer Mehrheit beschlossen wird. Die Verlierer sind furchtbar in ihrer Stärke und Unbarmherzigkeit, so dass das Volk wählen muss zwischen „der Vernichtung gewisser Verschwörer einerseits und der unvermeidlichen Zerstörung der Rechte des Volkes andererseits“.287 Es ist, wie Buonarroti und Babeuf erkannten, eine Frage von Zielen und Mitteln und von den Zwecken, die die Mittel rechtfertigen. Die Gewaltanwendung wird zur heiligen, wenn auch schmerzlichen Pflicht im Lichte der a priori Erklärung, dass die Verlierer ihre Niederlage niemals als endgültig hinnehmen würden. „Weder Barmherzigkeit noch Besserung konnte von verzweifeltem Stolz erwartet werden.“288 Die verlierende Klasse müsse daher vernichtet werden. „Vorzugeben, Recht und Gleichheit ohne Gewaltanwendung herzustellen in einem Volk, von dem ein großer Teil Gebräuche und Prätentionen angenommen hat, die mit dem Wohlergehen der übrigen Gesellschaft und mit den wahren Rechten aller unverträglich sind, ist ein ebenso unwirkliches wie in der Theorie verführerisches Projekt. Eine solche Reform zu unternehmen und dann vor der Strenge, die es erfordert, zurückzuschrecken, bedeutet nur, die eigene Feigheit und Mangel an Voraussicht einzugestehen.“289 Es sei schlimmer : es bedeute, die Sicherheit des Ganzen den Lastern einer kleinen Zahl zu opfern. Außerdem sei die notwendige Gewalttätigkeit nur ein kleines Maß von Vergeltung und Strafe für Jahrhunderte lange Verbrechen, die die revolutionäre Gewalttätigkeit unvermeidlich machten. Volksaufstände wurden früher in schrecklichen Blutbädern erstickt.290 „Warum haben nicht diejenigen Parteien, die sich darin gefallen, das zu übertreiben, was sie die Auswüchse der Französischen Revolution nennen, sie durch freiwillige Aufgabe ihrer ungerechten Ansprüche verhindert, die ja deren ganze und alleinige Ursache waren ?“291 287 288 289 290 291

Ebd., S. 50, Fußnote. Ebd. A. d. Hg. : Eigentlich heißt es nur : „Pas d’amendement à espérer de l’orgeuil irrité.“ Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 51, Fußnote.

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In einem Regime der Gleichheit stehen diejenigen, die Privilegien und unsoziale Interessen vertreten, „manifest“ außerhalb des „Bereichs der Volkssouveränität“ und der nationalen Einheit, ja sogar außerhalb des Gesetzes. Geschwindigkeit und Stärke des Volkszornes seien, wenn wirksam und in einem frühen Stadium angewandt, geeignet, das viel schlimmere Elend eines langen Bürgerkrieges zu verhindern.292 „Jedes Vorrücken zur Gleichheit hin verhindert die Wiederkehr einer Unzahl von Leiden, und die Danksagungen der befreiten Millionen können, obwohl sie weniger lärmend sind, nicht aufgewogen werden durch das selbstsüchtige Murren von ein paar korrupten Usurpatoren, die zu ihrem eigenen wahren Glück und im Interesse des gesamten Volkes und aller Nachkommenschaft, sei es freiwillig oder durch Gewalt, zu vernünftigeren Gefühlen gebracht werden müssen.“293 Die heilige Gewalt rettet die Verderbten vor der Gewalt ihrer selbstsüchtigen Leidenschaften. So erklärte Babeuf vor Gericht : „Ich machte mich damals frei von aller Rücksichtnahme im Einzelnen und erachtete es als unvermeidliches Übel, dass denjenigen wenigen Kasten ein Joch auferlegt wird, die ihres während Jahrhunderten dieser wertvollen Masse aufzwingen konnten; ich dachte außerdem, dass diese Unterdrückung nicht mehr als eine schwache Vergeltung wäre für die unterdrückende Behandlung von langer Dauer, die dem Volke durch sie zuteil wurde; ich betrachtete diesen Kampf auch als einen Krieg, der in seiner Zielsetzung nützlicher war als irgendein anderer in der Geschichte.“294 Der ehemalige General Rossignol, der Eroberer der Bastille und einer der militärischen Führer der Verschwörung, erklärte, er wolle mit dem Aufstand nichts zu tun haben, wenn nicht „Köpfe fallen wie Hagel“ und wenn der Aufstand nicht einen Terror auslösen würde, der die Welt erzittern ließe. Denn dieser Aufstand wäre unnötig gewesen, wenn die Politik, Köpfe wie Hagel fallen zu lassen, in der Vergangenheit befolgt worden wäre.295 Die Unterdrückung der unterliegenden Klasse sei nicht der einzige Fall, der Gewaltanwendung rechtfertige. Eine Stunde der Entscheidung, in der es auf Einheit des Ziels und planvolle Ausführung ankomme, rechtfertige in gleicher Weise die Ausmerzung ideologischer und taktischer Opposition. Dies ist der Zentralpunkt in Babeufs Apologie der Robespierre’schen Diktatur, die er als „diablement bien imaginée“ bezeichnet, am besten geeignet, die Demokratie

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Vgl. ebd. Ebd., S. 226 f. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 78; Dommanget, Pages choisies, S. 284, Fußnote 1. Vgl. Robiquet, L’Arrestation de Babeuf, S. 296 f.

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zum Sieg zu führen, denn „Robespierrismus ist Demokratie“, „und diese beiden Wörter sind absolut identisch“.296 „Ce dernier pouvait avoir à bon droit l’orgueil d’être le seul capable de conduire à son vrai but le char de la révolution.“297 „Sogar dieser Mann voller Initiative, dieser Mann, der gewusst haben muss, dass er der einzige fähige Führer war, musste sehen, dass alle diese lächerlichen Rivalen, so gut ihre Absichten gewesen sein mögen, alles verlieren und verderben würden. Ich stelle mir vor, dass er sagte : ‚Lasst uns diese lästigen Kleinigkeiten aus der Welt schaffen, ungeachtet aller guten Absichten.‘ Und meiner Ansicht nach hatte er Recht. Die Rettung von 25 Millionen Menschen kann nicht in Frage gestellt werden aus Rücksicht auf ein paar zweifelhafte Einzelpersonen. Ein Regenerator muss weite Ansichten haben. Er muss alles niedermähen, was ihn hemmt, alles, was seinen Weg versperrt, alles, was ihn hindern könnte, sicher das Ziel zu erreichen, das er sich gesetzt hat. Schurken oder Dummköpfe, Anmaßende oder Ruhmsüchtige, es ist alles dasselbe, und ihnen ist nicht zu helfen !“298 Wirklich, solche Gedanken hätten sogar mit ihm durchgehen können, sagt Babeuf. Aber was hätte das geschadet, „si le bonheur commun fût venu au bout“ ?299 Bedeutet das nicht Aufgabe des Postulats der Diktatur der Idee oder der Gruppe zugunsten der Diktatur eines Mannes ? Ja und nein. Denn Robespierre ist, wie bereits angedeutet, die Verkörperung der Sache des Volkes, und nicht ein persönlicher Tyrann; Robespierre ist nicht eine Partei, sondern das Volk. „Le robespierrisme atterre de nouveau toutes les factions; le robespierrisme ne ressemble à aucune d’elles, il n’est point factice ni limité. [...] Le robespierrisme est dans toute la République, dans toute la classe judicieuse et clairvoyante, et naturellement dans tout le peuple.“300 Nicht auf die Form, sondern auf den Inhalt kommt es an.

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Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 52–55, Zitate : S. 52, 54; Dommanget, Pages choisies, S. 284–286, Zitate : S. 254, 256. Vgl. auch Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 40; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 138; ders., Obser vations sur Maximilien Robespierre, S. 486 : Saint - Just hatte Recht, Robespierre als Diktator vorzuschlagen. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 53; Dommanget, Pages Choisies, S. 285. Ebd. Ebd. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 54; Dommanget, Pages choisies, S. 286.

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V. Die Struk tur der Ver schwö rung 1. Organisation und Propaganda Wir können nunmehr versuchen, zusammenfassend die Struktur der Verschwörung des Babeuf und den Plan des Putsches vor dem Hintergrund ihrer ideologischen Prämissen zu betrachten. Das Geheime Direktorium der öffentlichen Wohlfahrt oder, wie es auch genannt wurde, der Aufstandsausschuss, war die oberste Autorität der Verschwörung; es bestand aus knapp über einem halben Dutzend Menschen.301 Der Ausschuss war in seiner ersten Form kaum mehr als ein politisches Seminar, in dem „sie nach Untersuchung der Ursachen des Elends der Nation schließlich das Wissen erwarben, das sie instand setzte, mit Genauigkeit die Prinzipien der sozialen Ordnung zu bestimmen, die nach ihrer Meinung am besten geeignet waren, die Menschheit von ihnen zu befreien sowie ihre Wiederkehr zu verhindern“.302 Es ist klar, der Ausschuss war ein Vorläufer jener revolutionären Gruppen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts, denen die Ausarbeitung der revolutionären Doktrin nicht weniger wichtig war als der revolutionäre Putsch selbst. Buonarroti beschreibt das Ziel des Ausschusses in seiner endgültigen Form als „einen Entschluss, die zerstreuten Fäden der Demokratie in einem einzigen Punkt zusammenzufassen zu dem Zweck, sie auf die Wiederherstellung der Volkssouveränität zu lenken“.303 Das Direktorium teilte Paris in zwölf Arrondissements auf, die von zwölf Hauptagenten geleitet wurden. Der Kontakt zwischen dem Direktorium und den Hauptagenten wurde durch Zwischenagenten unterhalten, von denen nur einem einzigen, Didier, auf Grund seiner außergewöhnlichen Verdienste ein Sitz im Geheimen Direktorium selbst zugestanden wurde. Die Arbeit des Direktoriums war in ein tiefes Geheimnis gehüllt. Die Hauptagenten kannten die Namen der Mitglieder der obersten Körperschaft nicht, und sie unterhielten keinen Kontakt untereinander. Die Zwischenagenten ( oder Agenten ) erhielten tägliche Notizen vom Direktorium, Anordnungen und Befehle, die mit einem Erkennungszeichen für ihre Echtheit versehen waren und unter den Hauptagenten zirkulierten. Deren Aufgabe war es, die Anordnungen des Direktoriums auszuführen; die öffentliche Meinung zu pflegen und zu lenken; 301

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Vgl. Dommanget, Structure, Teil 1 und Teil 2; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 70 f., Fußnote ( Informationen zu Babeuf ), 114–116; Mathiez, Le Directoire, S. 185 f.; Guérin, La Lutte de classes, Band 2, S. 359 f.; Walter, Babeuf, S. 124–129. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 83. Ebd., S. 114.

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Die Struktur der Verschwörung

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Zeitungen, Broschüren und Flugblätter zu verteilen; dafür zu sorgen, dass Plakate durch besondere Brigaden von Plakatklebern an die Mauern geklebt wurden; Freiluftredner auszuwählen und anzuleiten; in Klubs, Vereine und vielbesuchte Kaffeehäuser allmählich einzudringen und sie zu leiten; Berichte zu liefern über den Stand der öffentlichen Meinung; Informationen über Waffenlager und Vorräte von Lebensmitteln und anderen Artikeln zu sammeln und weiterzuleiten; Namen zuverlässiger Männer mit Führerqualitäten vorzuschlagen; Verzeichnisse gefährlicher Personen anzufertigen; Polizei und Regierungsämter zu bespitzeln; und, selbstverständlich, die lokalen Kämpfer für die Tat zu organisieren.304 Die Befehle des Direktoriums bestanden darauf, dass die Agenten ihre Arbeit mit einem minimalen äußeren Aufwand ausführen und nicht den Anschein von Führern erwecken sollten. „Lasst uns die Eitelkeit, in vorteilhaftem Licht zu erscheinen, der Ehre, wirklich nützlich zu sein, opfern“ [...] und dem inneren Bewusstsein, „das unsichtbare Instrument zu sein, durch das wichtige große Triebfedern der Handlung bewegt werden“,305 heißt es in einem 304

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Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 108–129, Dommanget, Structure, S. 181 f. Wer waren die Agenten ? Vgl. dazu Haute Cour de justice ( Hg.), Débats du procès, Band 3, S. 290–304, 328, 341. [ A. d. Hg. : Hierbei handelt es sich um Auszüge aus den Verhören mit verschiedenen Agenten.] Joseph Bodson war einer von ihnen, vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 4 : Discours des accusateurs nationaux, S. 153 f. Die meisten waren untere Ver waltungs - und Justizbeamte des Revolutionsregimes und Thermidorgefangene. Der einzige Arbeiter war Moroy, vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 3, S. 292, 322 f.; Dommanget, Structure, S. 182 f. Siehe außerdem Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 170–179, 201–204 ( Warnungen gegen Regierungsversuche, die Linke zu beschwatzen; die irreführende Rolle der Montagnsards ), 249 ( Verzeichnis von Konterrevolutionären ), 285–297 ( Berichte der Agenten über die Volksstimmung ); Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 103–109, 187, 320– 325; Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 4 : Discours des accusateurs nationaux, S. 29 f. Für ( weitere ) Beispiele von Agentenberichten siehe Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 283–285 : „L’esprit public du 12me arrondissement est dans un état satisfaisant; tous les jours les républicains font des prosélytes. [...] Les murmures du peuple ont été hier des plus véhéments. Le gouvernement y a été maudit avec les plus grandes imprécations; et chacun manifestait le plus grand désir de secouer le joug de la tyrannie directoriale. [...] Cet arrondissement n’est composé que de la classe ouvrière, la plus précieuse de la société, ce qui donne un champ libre aux ennemis de la patrie d’en égarer la majeure partie, mais non sans ressource. [...] L’ouvrier commence à sortir avec plaisir de cet engourdissement, où il avait été retenu par les tanneurs, mégissiers, couverturiers, et autres fabricants dont cette classe dépend pour le travail. Le mécontentement est général contre le gouvernement [...]; Constitution de 93 [...], le nombre des prosélytes s’augmente.“ Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 124; Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 179.

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Rundschreiben. Blinder Gehorsam und rückhaltlose Hingabe wurden von den Agenten verlangt. „Denkt daran, dass ihr nicht mehr Euch selbst gehört“, lautet eine Anordnung. „Alle diejenigen, die die Revolution angefordert hat, werden dem Vaterland Rechenschaft abzulegen haben über jede Handlung und jeden Augenblick ihres Lebens. Es kann keine halben Verschwörer geben. Wehe dem, der das in ihn gesetzte Vertrauen missbraucht.“306 Die Zeitungen der Verschwörung sollten als „Seemannskompass“ dienen. Der „Energiethermometer“ der Massen sollte der „Temperatur“ der Zeitungen genauestens angepasst werden; der Antrieb des Volkes entsprechend erhöht oder verlangsamt werden.307 Obwohl die hauptsächlichsten Befehle des Geheimen Direktoriums eine Bevorzugung zwangloser Zusammenkünfte von kleinen Gruppen in Privathäusern zum Ausdruck brachten, die sich unmerklich zu wohldisziplinierten Zellen entwickeln sollten, erfolgte doch die wichtigste Propagandaarbeit in Kaffeehäusern, in Parks und an öffentlichen Plätzen, die bei den Arbeitern als Treffpunkte nach der Arbeit beliebt waren. Frauen verrichteten Meldedienste, besonders unter den Truppen. Die hübsche Sophie Lapierre bezauberte Soldaten und Zivilisten in dem vielbesuchten Café des Bains Chinois, das in einem bizarren pseudo - chinesischen Stil gebaut war. Sie sang dort patriotische Lieder, deren Refrains von den Gästen mitgesungen wurden.308 „On levait son verre en l’honneur de la Liberté et de l’Égalité, on s’échauffait mutuellement.“309 Propaganda unter den Truppen und in der Polizei war äußerst wichtig. Hier wollte das Geheime Direktorium den Kriegsüberdruss der Soldaten ausnutzen, und sogar ihre Feigheit. Es genügte nicht, nur an das patriotische Gefühl zu appellieren. Alle „Leidenschaften dieser kostbaren Männer“310 mussten aufgerührt und ausgenützt werden. Der Feigling, der sich vor der Front fürchtete oder seine Familie und die ihm Nahestehenden nicht verlassen wollte, konnte in einen tapferen Soldaten der Verschwörung ver wandelt werden. Die Gefah306 307

308 309 310

Dommanget, Structure, S. 183. Vgl. auch Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 4 : Discours des accusateurs nationaux, S. 29 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 126 f.; Dommanget, Structure, S. 193. Mathiez, Le Directoire, S. 191–197, sowie Dommanget, Structure, S. 185 f., weisen darauf hin, dass die Leser des „Le Tribun du peuple“ zumeist alte Terroristen waren, Angehörige des Mittelstands und der freien Berufe sowie Regierungsbeamte Robespierre’scher Färbung, die sich freuten, eine Zeitung zu unterstützen, die das Direktorium heftig angriff. Der „Tribun“ war für arme Arbeiter überhaupt zu teuer, und die Zahl seiner Abonnenten überstieg selten 2 000. „L’Éclaireur“ war billiger und weiter verbreitet. Mathiez bringt Abonnentenverzeichnisse des „Tribun“. Vgl. Dommanget, Structure, S. 194; Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 197. Dommanget, Structure, S. 194. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 193.

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ren der Front sollten übertrieben werden. Die Soldaten sollten durch Versprechungen und Fürsorge „gestreichelt“ und gelockt werden.311 Es gab fünf besondere Agenten für die Arbeit bei den Truppen und in der Polizei.312 Darthé und Germain waren die Oberaufseher.313 Grisel, der „Agentprovocateur“, der den Anschlag verriet und der einer der aktivsten Militäragenten war, trug dazu bei, den Ton der Propaganda in der Armee herabzuwürdigen. Sie bekam durch ihn einen besonders vulgären und abstoßenden Charakter. Aber das stand im Einklang mit seiner Beurteilung des Soldatentyps unter der Herrschaft des Direktoriums. In einem interessanten Bericht an das Geheime Direktorium wies er darauf hin, dass die alten idealistischen Freiwilligen verschwunden seien. Übriggeblieben seien Rekruten, die mit Gewalt in der Armee gehalten wurden. Sie sehnten sich nach dem Ende des Krieges und betrachteten sich als Rekruten der Zwangsarbeit. Andere waren Berufssoldaten, die an wenig anderes als ihre Beförderung dachten. Den Ersten müsse baldige Entlassung versprochen werden, den anderen Beute. Die Soldaten würden für die Idee der Gleichheit recht unempfänglich sein und ihr sogar misstrauen. Kaum zehn Prozent konnten lesen und schreiben.314 Grisel schlug Getränke als das überzeugendste Mittel zur Gewinnung der Truppen vor : „on aurait monté adroitement leur esprit à la hauteur nécessaire“.315 Dafür war Geld nötig. Das war ein sehr knapper Artikel. Das einzige reiche Mitglied der Verschwörung war Félix Lepeletier, aber er war weniger hilfsbereit als man erwartet hatte. Der einzige wesentliche Beitrag kam von dem holländischen Gesandten in Form von zweihundertvierzig Livres.316 „Cette révolution n’est point entreprise par des milords“,317 heißt es in einem Befehl. Die Berichte der Hauptagenten enthalten Klagen darüber, dass die Patrioten ihres Bezirkes meist arm sind. Nur wenige könnten die nötigen Opfer bringen, die Kameraden aus der Provinz gastlich aufnehmen oder auch zu den Druckkosten der Zeitungen und Flugschriften beitragen.318 311

312 313 314 315 316 317 318

Vgl. ebd., S. 194–198. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 330 : „Vous pouvez même les assurer que dès le jour même où ils auront aidé le peuple à ressaisir sa puissance, rien ne leur manquera plus : [...] pour toute la vie à tous les soldats. Ce ne seront plus des promesses éloignées et faciles à éluder que nous donnerons; ce sera la réalité simultanée et immédiate.“ Vgl. Dommanget, Structure, S. 192 f. Zu Spionen der Verschwörung in der Polizei siehe Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 128, 130, 174. Dommanget, Structure, S. 182. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 42–48. Dommanget, Structure, S. 196; Robiquet, L’Arrestation de Babeuf, S. 302. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 165 f.; Haute Cour de Justice ( Hg.), Débats du procès, Band 2, S. 96. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 100. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 109 f.; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 165 f.

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Je offener die Propaganda und die Drohungen eines bevorstehenden Aufstands wurden, umso geringer wurde die Hoffnung, die Regierung überraschen zu können. Babeuf wünschte fast, dass die Regierung von der Vorbereitung des Anschlages wissen möge. Er hoffte, das Direktorium würde Angst bekommen. Er sagte, es würde genügen, wenn die Namen der Führer unbekannt blieben, obwohl man beschlossen hatte, äußerste Heimlichkeit zu bewahren.319 „Es wäre Wahnsinn, unsere feindseligen Absichten vertuschen zu wollen unter dem Vor wand, ihre Wachsamkeit zu entwaffnen“, schrieb Babeuf in seinem Aufruf „Ein dringendes Wort an die Patrioten“, um sie zu warnen, sich nicht täuschen zu lassen durch die Versuche der Regierung, sie durch angebliche demokratische Politik zu beschwatzen.320 Der Plan des Anschlages war der Regierung längst bekannt. „Ich stelle ihnen nicht maskierte, sondern offene Batterien entgegen. Die Gänse, die Gackerer, die Dummköpfe in der Partei der Vorsichtigen werden vielleicht sagen, es wäre bessere Politik, uns durch einige Verkleidung zu decken [...]. Wir können oder wollen nicht länger durch Überraschung siegen, sondern in einer des Volkes würdigeren Weise – durch offene Gewalt.“321 Welche Kräfte standen dem Geheimen Direktorium zur Verfügung ? Buonarroti rechnet, dass außer der „großen Zahl von glühenden Freunden der Revolution“, „ohne die sehr zahlreiche Arbeiterklasse zu zählen, deren Unzufriedenheit und Ungeduld nach allen Richtungen hin durchbrach“, das Geheime Direktorium auf eine Armee von siebzehntausend vertrauen konnte : viertausend „Pariser Revolutionäre“, tausendfünfhundert Vor - Thermidor - Beamte, die vom Direktorium entlassen worden waren, tausend „demokratisch gesinnte“ Kanoniere, die in der Hauptstadt stationiert waren, sechstausend Mann der Polizeilegion, tausend zuverlässige Männer aus der Provinz, tausendfünfhundert Grenadiere der Gesetzgebenden Versammlung, tausend Mann, das heißt das gesamte Korps der Invaliden, und je fünfhundert Mann Militärpersonal in Haft und ehemalige Offiziere u. a. Abgesehen von den Waffen und der Munition, die im Besitz zuverlässiger Militäreinheiten und Parteikämpfer war, rechneten die Verschwörer damit, Waffendepots und Lebensmittellager mit Hilfe ihrer Wächter zu nehmen.322 Alle diese Berechnungen waren wild übertrieben. Wie spätere Ereignisse zeigten, war auf die Truppen kein Verlass, obwohl die Verschwörer fast sicher

319 320 321 322

Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 117. Ebd., S. 235–244, Zitat : S. 240; Dommanget, Pages choisies, S. 291–294, Zitat : S. 293. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 241; Dommanget, Pages choisies, S. 293. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 188 f. ( siehe auch die Fußnote ). A. d. Hg.: Talmons Angaben wurden hier anhand der Quelle korrigiert.

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waren, dass sogar das sehr wichtige Artillerieregiment von Vincennes bereit war, dem Aufstand beizutreten. Und was die Massen betraf, so war die Zeit vorbei, in der die kampfbereiten revolutionären Massen völlig durchorganisiert und in ständiger Bereitschaft waren, wie auf dem Höhepunkt der Revolution in der Kommune, in den Sektionen und den Volksgesellschaften. Das frühe Stadium der Begeisterung hatte einer Stimmung desillusionierter Müdigkeit Platz gemacht.323 Es gibt genügend internes Beweismaterial, aus dem her vorgeht, dass in den letzten paar Tagen vor dem geplanten Ausbruch ( und Sturz ) Babeuf und seine Freunde sehr ner vös waren und sich der Unzulänglichkeit ihrer Vorbereitungen bewusst wurden. Sie drängten die Hauptagenten, die Ungeduld der Kampftruppen zu zügeln, um einen vorzeitigen Ausbruch zu verhindern.324

2. Der Plan des Aufstands Das Zeichen zum Aufstand sollte durch Glockengeläute und Trompeten gegeben werden, nachdem die Aufstandsurkunde, die Revolutionsproklamation des Aufständischen Wohlfahrtsausschusses verlesen worden wäre. Die Urkunde, die mit den Worten begann : „In der Auffassung, dass die Unterdrückung und das Elend des Volkes ihren Höhepunkt erreicht haben, erklären die Demokraten Frankreichs“ das Volk in Erhebung gegen die Tyrannei, mit dem Ziel der Wiederherstellung der Verfassung von 1793.325 Alle Verbrechen des Systems und alle Übel der Verfassung von 1795 wurden in der Proklamation aufgezählt. Sie rief außerdem das Volk auf, von allen Punkten „ungeordnet, wie es gerade kommt“, mit allen Waffen, die ihnen in die Hände gerieten, sich zu den Sammelpunkten zu begeben. Sechs Revolutionsgeneräle, mit ihren Trikolorbändern auf den Mützen, sollten die drei „regulären“ Aufstandsdivisionen befehligen. Sie würden einem Oberbefehlshaber unterstehen. Das Volk sollte Banner tragen, die das heilige Recht zum Aufstand, Tod den Usurpatoren der Volkssouveränität, Wiederherstellung der Verfassung von 1793 und der Ordnung der Freiheit, Gleichheit und Glückseligkeit proklamierten. Alle Schranken der Stadt sollten sofort geschlossen und der Verkehr auf der Seine zum Stillstand 323 324 325

Vgl. Espinas, La Philosophie sociale, S. 293. Mathiez, Le Directoire, S. 146 : Arbeitslose gehen zu den Panthéon - Versammlungen, beschäftigte Arbeiter bleiben weg. Vgl. Espinas, La Philosophie sociale, S. 293; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 151 f.; ders. Conspiration, Band 2, S. 263–271. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, Acte d’Insurrection, S. 244–252, bes. S. 247, Zitat : S. 244; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 192 f. A. d. Hg. : Die Aufstandsurkunde findet sich auch in Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 244–253.

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gebracht werden; jede Bewegung in die Hauptstadt und aus ihr heraus sollte unterbunden werden, mit Ausnahme von eingehenden Lebensmitteln. Die aufständischen Truppen und das Volk sollten, absichtlich vermengt, von den Sammelpunkten zum Nationalen Schatzamt, zur Post, zu den Ministerien und anderen Regierungs - und Ver waltungszentren vorrücken und sie besetzen. Die Regierungstruppen sollten aufgefordert werden, sich den Aufständischen anzuschließen, und es sollten Gerüchte verbreitet werden, nach denen sie es getan hätten. Falls sie sich weigerten und das Volk angriffen, sollten Barrikaden errichtet werden. Die Straßen sollten abgesperrt und Männer, Frauen und Kinder aufgerufen werden, Steine, kochendes Öl und Wasser von den Dächern auf die Armeekolonnen zu schütten.326 Die Aufstandsurkunde verkündete die Auf lösung aller bestehenden Behörden angesichts der Übernahme von Rechten und Macht durch das souveräne Volk.327 Die verschiedenen Dokumente enthalten etwas widerspruchsvolle Anordnungen darüber, was mit den Mitgliedern und Anhängern der bestehenden Ver waltung zu geschehen habe. Die Notwendigkeit „eines großen Beispiels der Gerechtigkeit, das imstande war, in Schrecken zu versetzen“, „heilsame Furcht einzuflößen“ und „die arbeitenden Klassen dem Einfluss der Regierung zu entziehen“328 wurde als selbstverständlich angenommen. Außerdem erschien es wichtig, die Leidenschaften des Volkes aufzupeitschen und es zu ermuntern, Handlungen zu begehen, von denen es kein Zurück mehr gab. Um eine charakteristische Anordnung zu zitieren : „Es ist unbedingt notwendig und sogar von allergrößter Bedeutung, dass einige solche Handlungen erfolgen. Alles Überlegen seitens des Volkes ist zu verhindern. Es ist wesentlich, dass es erst Handlungen begeht, die jeden Rückzug abschneiden.“329 Die Aufstandsurkunde und einige andere Anweisungen sprechen von einem sofortigen Prozess gegen die Mitglieder des Direktoriums und der beiden Räte durch eine eigens ernannte Kommission und im Beisein des Volkes unter der Anklage des Kapitalverbrechens der Usurpierung der Volkssouveränität; hingegen ordnet eine andere Instruktion an ( die belastenden Worte waren ausgestrichen, aber doch noch lesbar ), die fünf Mitglieder des Direktoriums, die sieben Minister, den General der Inneren Armee und seinen Stab, 326

327 328 329

Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 245–249; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 154–158, 192–198; Band 2, S. 245–250. Die Dokumente in Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 55–59, enthalten Anweisungen, die ein richtiges Muster eines Staatsstreichs darstellen. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 240; ders. ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 87, 249; Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 250. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 153 f. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 240.

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den zeitweiligen Kommandierenden und seinen Stab zu töten („tuer“) und im Saal der Fünfhundert „faire main basse sur tout ce qui s’y rendrait“.330 Die Anklage hätte in jedem Fall die Todesstrafe bedeutet. Der einzige wesentliche Unterschied zwischen dem Befehl, auf der Stelle zu töten, und dem eines Prozessverfahrens besteht darin, dass im letzteren Fall eine Klausel das Begnadigungsrecht des Volkes vorsieht für Irrtümer der Vergangenheit, die durch Dienste für den Aufstand abgelöst werden konnten.331 Alle Befehle stimmen überein in dem Punkt unbedingter Notwendigkeit und Pflicht, jeden Abgeordneten, Ver waltungsbeamten, Richter, Offizier, sowie jeden Regierungsbeamten zu töten, der versucht, sich den Aufständischen zu widersetzen oder seine Amtsgewalt auszuüben.332 „Toutes autres exterminations seront déterminées par de nouveaux ordres.“333 Auch Fremde, die auf der Straße angetroffen würden, Führer des Vendémiaire - Aufstands oder jeder, der Alarm schlüge, sollten hingerichtet werden. Ebenso sollten Kauf leute, die ihre Lebensmittellager nicht deklarierten, Bäcker, die sich weigerten zu backen, und Weinhändler, ihren Wein zu verteilen, an den nächsten Laternenpfahl geknüpft werden. Die Direktoriumsmitglieder sollten unter den Ruinen ihrer Paläste begraben werden.334 Es ist anzunehmen, dass diejenigen, die in den Akten der Verschwörer als Feinde registriert waren, ebenfalls aus der Welt geschafft worden wären. „Colérer le peuple“ sollte die Aufgabe von beredsamen und „energischen Patrioten“ sowie von Plakaten und Flugblättern sein.335 Die Befehle schreiben auch vor, die „rührende und überzeugende Beredsamkeit von Frauen“ gegenüber Soldaten anzuwenden, denen sie „Bürgerkronen“ überreichen und die sie „mit all den wirksamen Mitteln, auf deren Ver wendung sie sich so gut verstehen“, anspornen sollten.336 Der Plan der Verschwörung unterstrich, dass es von größter Wichtigkeit sei, das Volk durch sofortige Verteilung von Waren zu befriedigen. Alle Lager von Nahrungsmitteln, Kleidung, Schuhen, Fahrzeugen, Pferden usw. sollten beschlagnahmt und an öffentlichen Plätzen verteilt oder von den Aufstandsbe330

331

332 333 334 335 336

Vgl. Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 2, Teil 1 : Défense, S. 270; Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 238 ( Dokument in der Handschrift Darthés ); ders., Suite de la Copie des pièces saisies, S. 249 f. A. d. Hg. : Siehe auch Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 285 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 196. Man beabsichtigte, Barras eine Chance zu geben : Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 286. A. d. Hg. : An dieser Stelle ist nicht konkret von Barras die Rede. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 249. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 26. Vgl. ebd., S. 238–242; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 197. Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 240; Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 289. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 194; Band 2, S. 289.

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hörden ver wendet werden. Von allen Bäckern sollte verlangt werden, dass sie unentgeltlich Brot backen und auf Rechnung zukünftiger Entschädigungen verteilen. Alle Wohnungen und bewegliches Eigentum von Emigranten, „Verschwörern“, die die „Regierung der Tyrannei“ unterstützten, und aller „Volksfeinde“ sollten beschlagnahmt und an die armen Verteidiger der Revolution verteilt werden. Die Pfandgüter der Armen in den Monts de Piété sollten ohne Bezahlung zurückgegeben werden. Verbannte und geächtete Patrioten sollten aus der von Volksfeinden beschlagnahmten Beute entschädigt werden.337 Buonarroti behauptet, „es wäre falsch zu glauben, das Versprechen einer groß angelegten Güter verteilung“338 widerspräche dem Gemeinschaftsgeist, den man zu erreichen strebte. Die Hauptsache sei der Erfolg, und das Geheime Direktorium fühlte „weder zu große Zurückhaltung noch zu große Eile“.339 Der Akt der sofortigen Verteilung sollte dem Volk einen Beweis der unmittelbar bevorstehenden Erfüllung seiner lang aufgeschobenen Hoffnungen geben, ohne diejenigen, die noch nicht an vollkommene kommunistische Gleichheit glaubten, ungebührlich zu beunruhigen.340 Die augenblickliche Güter verteilung, versichert uns Buonarroti, bedeute weder eine vollständige Enteignung noch eine Politik der Parzellierung ( an Stelle von Kommunismus ). Die Aufstandsproklamation stellte sogar alles Eigentum, öffentliches und privates, unter den Schutz der neuen Nationalversammlung; natürlich nur zeitweise und in der stillschweigenden Voraussetzung, dass nur das Eigentum von Patrioten Schutz verdiente.341 Dies war im Einklang mit der den Robespierre - SaintJust’schen Ventôse - Gesetzen zugrunde liegenden Auffassung, ebenso wie der Beschluss, die Verteilung von Nationalvermögen im Werte von einer Milliarde Franken vorzunehmen, das den „Verteidigern des Vaterlandes“ versprochen worden war. Kommunismus musste schrittweise kommen. Die Massen mussten erst durch die Verteilung von Beute gewonnen und die ganze Grundlage der Achtung des Eigentums erschüttert werden.342 Nachdem die „Tyrannei gebrochen“ und „die von der Natur verliehenen Rechte“ wieder angetreten waren,343 sollte das Pariser Volk aufgefordert werden, eine Verordnung zu genehmigen, die die Regierung ermächtigte, ein neues soziales System einzuführen, das auf dem Grundsatz absoluter Gleichheit, 337 338 339 340 341 342 343

Vgl. Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 86–88, 148–151; Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 155, 196, 203; Band 2, S. 251, 265, 291. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 155. Ebd., S. 155 f. Vgl. ebd., S. 156. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 253; Haute Cour de Justice ( Hg.), Suite de la Copie des pièces saisies, S. 251. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 80 f., 96, 98. Ebd., S. 157.

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allgemeiner Verpflichtung zur Arbeit und uneingeschränkter Verfügungsberechtigung der Nation über alles Vermögen auf französischem Boden basierte. Diese Anordnungen sollten als Verfügungen zur Verbesserung der Verfassung von 1793 abgefasst werden und eine prompte Ausführung der Gesetze darstellen, die die Sicherung dauernder Gleichheit, Freiheit und Glückseligkeit bezweckten. Die neue Regierung sollte der Nation spätestens in einem Jahr über die Durchführung dieser Verordnung Bericht erstatten.344 Dies war ein Kompromiss zwischen zwei Rechtsstandpunkten : dem einen, dass es die Aufgabe des Volkes sei, einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schließen auf der tabula rasa der Vergangenheit und nur auf der Grundlage der natürlichen Rechte und der unbegrenzten Volkssouveränität; und dem anderen, dass nichts anderes beabsichtigt sei, als die widerrechtlich gestürzte Regierungsform von vor dem 9. Thermidor auf der Grundlage der Verfassung von 1793 wiederherzustellen. Der letzte Grundsatz wurde angenommen, doch die Verbesserung der Verfassung von 1793 wurde angeordnet.345 Eine ähnliche Linie wurde in Bezug auf die Aufstellung neuer Amtsgewalten verfolgt. Wir besprachen bereits den Kompromiss, nach dem die neue „Assemblée“ aus den siebzig Montagnardabgeordneten, die vom Konvent ausgeschlossen worden waren, und je einem Abgeordneten pro Departement bestehen sollte; diese sollten von dem „souveränen Pariser Volk“ nach einer vorbereiteten Liste gewählt werden.346 Das souveräne Volk sollte gleichzeitig aufgefordert werden, die Verordnung zu bewilligen, dass der Aufstandsausschuss bis zum vollständigen Erfolg der Erhebung an der Macht bleiben solle, und bis „regenerierende Gesetze“ „in solcher Weise entworfen wurden, dass nicht ein einziger Bürger in Armut im Staate verblieb“.347 Grundsätzlich seien alle Amtsgewalten wieder einzusetzen „wie sie vor dem 9. Thermidor bestanden“.348 In jeder Sektion sollten drei Mitglieder des alten Revolutionsausschusses, die sich „les plus purs“ erhalten hatten, die Initiative ergreifen, um die Vor - Thermidor - Einrichtungen wiederherzustellen.349 Allen Vor - Thermidor - Beamten wurde befohlen, an ihre alten Posten zurückzukehren unter Androhung der Hinrichtung als Verräter. Der Aufstandsausschuss scheint die Ernennung der Amtsgewalten in der Hauptstadt für sich selbst reser viert zu haben.350 Den wieder eingesetzten Behörden wurden besondere Agenten beigeordnet, oder rich344 345 346 347 348 349 350

Vgl. ebd., S. 157 f., 199, 297 f. Vgl. ebd., S. 157; Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 29, S. 266. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 171–177, 182; Band 2, S. 266–268, 292. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 292. Siehe auch Band 1, S. 156 f., 202, 297 f. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 301. Vgl. ebd., S. 195; Band 2, S. 290. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 199–202, 301.

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tiger Kommissare für Departements und Distrikte mit allgemeinen Vollmachten und der Aufgabe, dem neuen Geist zur Herrschaft zu verhelfen. Sie sollten die Apostel der neuen Ordnung sein. Vor ihrer Ernennung sollten sie eine Erklärung über ihr Vermögen abgeben.351 Es war ein besonderes Seminar geplant, das Propagandisten und Führer ausbilden und die neue Ideologie ausarbeiten sollte.352 Besondere Listen alter VorThermidor - Aktivisten und zur Führerschaft qualifizierter „energischer Patrioten“ waren rechtzeitig vorbereitet worden. Sie sollten freie Hand erhalten, alle Maßnahmen zu treffen, die die Situation erforderte. Alle, die im Aufstand nicht aktiv waren, sollten entwaffnet werden, mit Ausnahme der Sansculotten, denn ihre Passivität sei eher einem Mangel an Führung als schlechtem Willen zuzuschreiben. Alle Vor - Thermidor - Gefangenen sollten ins Gefängnis zurückgeschickt werden. Ausnahmen würden im Falle derjenigen gemacht, die freiwillig bereit wären, „ihre Bedürfnisse auf das bloße Existenzminimum einzuschränken“ und den Überschuss an das Volk abzuliefern.353 Wer so unbesonnen wäre, sich zu weigern, sowie verdächtige Fremde und alle Personen, die während des Aufstands verhaftet würden, würden an Orte verschickt, die nicht anders als Konzentrationslager genannt werden können, „Inseln, [...] in Korrektionsorte ver wandelt, [...], unerreichbar gemacht unter einer Ver waltung, die der Regierung direkt unterstellt ist“,354 um diejenigen, die sich versucht fühlen könnten, Blutvergießen zu veranlassen, zu „schrecken und ver wirren“.355 Unzufriedene würden übrigens dazu gebracht, die Bemühungen um eine nationale Regeneration zu unterstützen, „da sie gezwungen wären, wenn auch noch so zögernd, darin ihren einzigen Weg zur Sicherheit zu suchen“.356 Die Kämpfer des Aufstands, Soldaten, würden nach dem Sieg die Erlaubnis erhalten, nach Hause zurückzukehren, jedoch würde erwartet, dass sie freiwillig in der Volksarmee blieben. Sie würden angemessen entlohnt. Die nächsten Angehörigen der Gefallenen sollten Pensionen erhalten und ihre Kinder von der Republik adoptiert werden. Neue Nationalgarden würden so bald wie mög351 352 353 354

355 356

Vgl. ebd., S. 205 f., 304 f. Vgl. ebd., S. 305. Vgl. ebd., S. 303, Band 2, S. 260; Haute Cour de Justice ( Hg.), Copie des pièces saisies, S. 87. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 304. A. d. Hg. : Dieses Zitat wurde etwas korrigiert. Im frz. Original heißt es : „Art. 17 – Les îles Marguerite et Honoré, d’Hières, d’Oléron et de Rhé seront converties en lieux de correction, où seront envoyés, pour être astreints à des travaux communs, les étrangers suspects et les individus arrêtés par la suite de la proclamation aux Français. Art. 18 – Ces îles seront rendues inaccessibles : il y aura des administrations directement soumises au gouvernement.“ Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 306. Ebd.

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lich organisiert.357 „Eine theatralische Entfaltung von Fahnen, als ob sie aus den Wolken niederstiegen“, sollte das Prunkstück bei der Einweihung des Friedens in der regenerierten Republik sein.358 „Inmitten von Applaus, [...] hundertmal wiederholt, werdet ihr den Aufstand instinktiv zu seiner natürlichen Bestimmung marschieren sehen.“359 Was wäre seine natürliche Bestimmung gewesen ? In seiner Geschichte der Verschwörung gibt Buonarroti eine detaillierte Antwort auf diese Frage. Kompetente Historiker wie Mathiez und Lefebvre haben den historischen Wert von Buonarrotis erstaunlich ausführlicher Beschreibung des endgültigen Planes der Gleichen ernsthaft angezweifelt.360 Buonarroti schrieb sein Buch viele Jahre nach den Ereignissen. Es gibt keine Möglichkeit, seinen Bericht mit authentischem Material aus den Tagen der Verschwörung zu konfrontieren und festzustellen, wie viele seiner späteren Gedanken er seinen Kameraden von 1796 unterstellte und in welchem Ausmaß es ihn trieb, unbestimmte und unkoordinierte Vorschläge und Absichten in einen systematischen und zusammenhängenden Gesamtplan zu bringen. Nichtsdestoweniger verleiht die fraglose Wahrheitstreue seiner Rekonstruktion derjenigen Ereignisse, die wirklich stattfanden und entweder durch anderes direktes oder indirektes Beweismaterial bestätigt werden, dem Bericht Buonarrotis über die endgültigen Pläne einen sehr starken Anspruch auf Glaubwürdigkeit. Abgesehen von der Bedeutung, die man Buonarrotis Darstellung des Aufbaus und der Einrichtungen des Babeuf’schen Zukunftsstaates in allen ihren Einzelheiten beimessen oder abstreiten mag, lassen Babeufs Briefe an Coupé und Germain, die letzten Nummern des „Tribun du Peuple“ und die durch die Polizei beschlagnahmten Dokumente kaum einen Zweifel daran bestehen, dass den Urhebern des Planes eine voll ausgeprägte kommunistische und demokratisch - totalitäre Gesellschaft vorschwebte. Die Vorstellung einer solchen Gesellschaft war ein Teil des Mythos, der von der Babeuf’schen Verschwörung – durch Buonarroti – den Jüngern der Revolution im neunzehnten Jahrhundert hinterlassen wurde. Da wir in diesem Werk vor wiegend an dem Entstehen der Religion und des Mythos des revolutionären politischen Messianismus interessiert sind, müssen wir Buonarrotis Schilderung dieses himmlischen Staates auf Erden einen Ehrenplatz einräumen als eines – unter anderen – bedeutenden Elementes in der werdenden Religion der totalitären demokratischen Revolution.

357 358 359 360

Vgl. Dommanget, Structure, S. 194. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 256. Ebd., S. 256 f. Vgl. Mathiez, Le Directoire, S. 212; Lefebvre im Vor wort zu Dommanget, Pages choisies, S. VIII; Guérin, La Lutte de classes, Band 2, S. 377; Walter, Babeuf, S. 256 f.

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VI. Der end gül ti ge Plan 1. Politische Organisation Wesentlich im Denken der frühen Totalitären war ihre Weigerung, das Volk so zu akzeptieren, wie es war : das Volk, das heißt die Gesamtheit der damaligen Generation, die Guten und die Schlechten, die Fortgeschrittenen und die Zurückgebliebenen, mit ihren Wünschen, die aufgeklärt sein mochten oder nicht. Es wäre falsch zu sagen, dass deshalb die Vorstellung vom Volke auf die „Auser wählten“, auf eine Minderheit beschränkt war. Die Masse des Volkes wurde als Volk angenommen oder zum mindesten als fähig, das Volk zu werden; eine Minderheit galt als unrettbar verloren, als gefährlicher, verderblicher Einfluss, der Ausrottung verdiente. Die Robespierristen sahen im Volk eine Gemeinschaft der Tugend mit stark sozialer Färbung. Die Babeuf - Schule ging einen Schritt weiter : für sie war das Volk eine Gemeinschaft von Gleichen (das Wesentliche der Tugend ist Gleichheit und Fehlen von Habgier ) und, noch weiter, eine Gemeinschaft von besitzlosen Arbeitern. Das Ziel der Revolution und der nachrevolutionären Gesetzgebung war, dem regenerierten Volk, dem wahren Volk zur Geburt zu verhelfen durch völlige Ausschaltung der unrettbaren Minderheit, und die Übriggebliebenen richtig zu erziehen.361 Der Nachdruck, der auf die Wechselbeziehungen zwischen Tugend, Demokratie und kommunistischer Gleichheit gelegt wird, ist der eigene Beitrag der Babeuf - Schule und ihr Fortschritt über den Robespierrismus hinaus. Ohne kommunistische Gleichheit konnte es ihrer Ansicht nach keine Demokratie geben, und vice versa. Es ist das Ziel der Gesetzgebung, wie bereits früher erwähnt, das ganze Volk in die Lage zu versetzen, seine Souveränität nutzbringend und wirksam auszuüben, ihm die Mittel zu geben, wirklich souverän zu sein. Dies konnte nur in einem System vollständiger Gleichheit erreicht werden. Dann, und nur dann, würden alle die Elemente verschwinden, die dazu tendierten, den wirklichen Willen und die Interessen des Volkes zu verfälschen 361

Hauptsächliches und fast alleiniges Quellenmaterial für dieses Kapitel ist der zweite Teil von Buonarrotis „Conspiration“, der einen Bericht über die letzten Ziele des Anschlags gibt. Eine weitere wichtige Quelle ist die „Réponse à une lettre signée V. M. publiée et adressée à Gracchus Babeuf“ in Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme ( die Zweifel an der Lebensfähigkeit des kommunistischen Systems ausdrückt ); diese Antwort bildet zusammen mit dem Brief das „Pièce XIII“ der „Pièces justificatives“ in Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 213–229, und ist von Buonarroti selbst geschrieben worden. Sie enthält ein kurz gefasstes Exposé des Babeuf’schen Plans für die Zukunft und eine Antwort auf verschiedene Kritiken.

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und zu verdunkeln. Die Entscheidungen des Volkes würden dann erleuchtete Entscheidungen sein, und als solche würden sie niemals im Gegensatz zur Gleichheit stehen, denn wenn das Volk im Besitz von Kenntnissen und frei von beschränkendem Druck wäre, würde es keine Gesetze gegen sich selbst erlassen. Die Beratungen des Volkes würden dann von jenem Geist der Einmütigkeit getragen, der nach der Babeuf - Schule das Kennzeichen wahrer Demokratie ist.362 Denn ein Volk und eine Demokratie sind nur dann gesund, wenn es in ihnen keine „Verschiedenheit und keinen Gegensatz der Interessen“ gibt.363 Eine Nation kann immer als verderbt erklärt werden, wenn es „in ihrer Mitte eine Klasse von Personen gibt, deren Ansprüche mit dem Wohl der Gesamtheit oder dem anderer Teile unvereinbar sind“.364 Ein einziges ungleiches Individuum widerspricht der Einheit eines Volkes und zerbricht sie. Die Gewährung souveräner Rechte ist also kein Selbstzweck, denn es ist nichts damit erreicht, wenn das Volk nicht für die richtige Ausübung dieser Rechte vorbereitet ist. Mehr als das, solange die Bedingungen für die richtige Ausübung der Souveränität noch nicht bestehen, ist es nicht nur unsinnig, sondern auch gefährlich, die Ausübung der souveränen Rechte durch alle und jeden nicht einzuschränken. Diese Bedingungen umfassen, um es noch einmal zu sagen, die Ausmerzung der unrettbaren Minderheit, die Einführung vollkommener Gleichheit und die geistige Regeneration des Volkes. „Von der Konsolidierung jener Einrichtungen [...] ( der wirtschaftlichen insbesondere ) [...] hing [...] die Vollendung der Revolution ab und die vollständige Ausübung der Volkssouveränität.“365 Mit anderen Worten, „der Tag, an dem das Volk in den friedlichen Genuss der Gleichheit gelangte, wäre derjenige, an dem es imstande wäre, in seiner ganzen Vollständigkeit das Recht auszuüben, über seine Gesetze zu beraten, so wie es in der Verfassung von 1793 geheiligt worden war“.366 In den frühen Stadien könnte es daher nur eine teilweise Durchführung der Verfassung geben, die allmählich erweitert würde. „Bis dahin sollte die souveräne Gewalt dem Volke nur allmählich und nach Maßgabe des Fortschrittes der neuen Methoden gewährt werden.“367 Mit anderen Worten, das Volk würde seine demokratischen Rechte erst nach der Ausschaltung aller Opposition und nach vollständiger Durchdringung des Volkes mit kommunistischen Ideen antreten. 362 363 364 365 366 367

Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 231. Ebd., S. 233. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 217, Fußnote. Ebd., S. 313. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 294 f. Ebd. Vgl. auch ebd., S. 277 f. : Zu Beginn soll die Ver waltung nur aus treuen französischen Staatsbürgern bestehen, nur solchen, die der Nationalen Gemeinschaft angehören.

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Die Babeuf’sche Kristallisation

Die wirklichen Volksbürger der Zukunft sind nicht einfach alle, die auf französischem Boden geboren sind und dort leben, sondern nur diejenigen, die zur Volksgemeinschaft gehören; diese würde gleichzeitig die Wirtschaftsorganisation der Nation darstellen. Alle außerhalb dieses Rahmens stehenden würden als Fremde behandelt. Die wesentliche Befähigung zur Mitgliedschaft wäre Teilnahme am produktiven Schaffen der Nation – Arbeit. Intellektuelle könnten nur gegen Vorlage einer Bescheinigung von „civisme“, das heißt politischer Zuverlässigkeit, aufgenommen werden. Ein Gesetz würde den Termin bestimmen, nach dem niemand, der nicht Mitglied der Volksgemeinschaft war, politische und bürgerliche Rechte ausüben dürfte.368 Nach Vollendung dieser vorbereitenden Aktion würde die Nation nur aus denjenigen bestehen, die an der Gemeinschaft teilhätten. Aber sogar dann würde man nicht automatisch in die Volksgemeinschaft geboren werden, sondern man müsste ihr durch einen feierlichen Vertragsakt beitreten. Buonarroti beschreibt die Zeremonie der Verleihung der Bürgerschaft in wahrhaft Rousseau’schen Ausdrücken : „An bestimmten Tagen sollten junge Männer im vorgeschriebenen Alter und nach Vollendung der durch das Gesetz vorgeschriebenen bürgerlichen und militärischen Ausbildung vor die versammelten Bürger treten und um Eintragung ihrer Namen in das Register bitten. Nach Beratung dieser Versammlung wäre ihnen die Natur des gesellschaftlichen Übereinkommens erklärt worden, die Rechte, die es den Kandidaten gewährt, und die Pflichten, die es ihnen auferlegt, und sie hätten erklären sollen, ob sie einwilligten, ein Teil der französischen Gesellschaft zu werden unter den Bedingungen, die sie gehört hatten und in denen sie in ihrer Erziehung unterrichtet worden waren. Etwaige Ver weigerer wären auf ewig aus der Republik verbannt und an die Grenze geleitet worden, nachdem sie für eine gewisse Zeit mit den Lebensnotwendigkeiten versorgt worden wären. Die Anderen – die in die Bedingungen einwilligten – wären eine feierliche Verbindung mit dem souveränen Volk eingegangen und hätten daraufhin die Abzeichen ihres neuen Standes erhalten. Nachdem sie von den Magistraten in die Bürgertracht gekleidet worden wären, wären sie als französische Bürger begrüßt und ihre Namen in das Bürgerregister eingetragen worden, das voller Prunk in die Mitte des Volkes gebracht worden wäre; dann hätte jeder neue Bürger einen Militärmantel bekommen und eine vollständige Rüstung, in die sein Name eingraviert gewesen wäre, damit die Angst, durch ihren Verlust entehrt zu werden, ihn in der Schlacht entschlossener gemacht und ihn verpflichtet hätte, alles, was sein Land seiner Obhut anvertraute, mit seinem Leben zu verteidigen.“369 368 369

Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 301 f., 306 f. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 234 f.

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Die Nation ist nicht die Summe von Männern, Frauen und Kindern, sondern eine Glaubensgemeinschaft. Darüber hinaus erhält, in wahrhaft Rousseau’scher Tradition, der Einzelne seine eigentliche Persönlichkeit und alle Rechte, die er besitzt, ausschließlich aus dem Gesellschaftsvertrag. Die Babeuf’sche Konzeption der Demokratie370 wird von tiefem Misstrauen gegen eine parlamentarische Vertretung bestimmt. Darum sieht das Programm der „Gleichen“ Kontrollen gegenüber der „Assemblée“ vor, die aus dem Vetorecht des Volkes und einem speziellen Volkstribunat oder Senat als Wächter der Orthodoxie bestehen. Es sollte drei Arten von Souveränitätskörperschaften geben : Die Souveränitätsversammlung ( bestehend aus den Versammlungen der Kommunen und Sektionen ), die zentrale Versammlung der Gesetzgeber ( das heißt die Nationalversammlung ) und die Körperschaft der Konser vatoren des Nationalen Willens, die von den Senaten, den Spezialausschüssen von Zensoren der Orthodoxie in jeder lokalen Versammlung zu wählen waren. Die Konser vatoren sollten die Tribunate des Volkes sein gegen Eingriffe der Gesetzgeber in die Volkssouveränität.371 Jedes Gesetz oder Dekret, das von der Nationalversammlung angenommen würde, müsste an die Souveränitätsversammlung zurückgehen zwecks Genehmigung, Änderungen oder Veto. Die lokalen Souveränitätsversammlungen würden Petitionen und Gesetzesanträge durch die Körperschaft der Konser vatoren an die Nationalversammlung weiterleiten. Buonarroti berichtet, dass es verschiedene Meinungen darüber gab, was im Fall einer tatsächlichen Usurpation von Volksrechten durch die Versammlung der Gesetzgeber geschehen sollte. Einige schlugen vor, die Körperschaft der Konser vatoren sollte das Recht haben, an das Volk zu appellieren; andere wollten, dass die Konser vatoren das Recht hätten, die Dekrete der Nationalversammlung zu suspendieren, bis das Volk Gelegenheit hätte, seinen Willen kundzutun. So groß war das Misstrauen gegenüber einer gewählten Versammlung, die die Macht der Gesetzgebung und der Ausführung ihrer eigenen Beschlüsse in einem hat, dass vorgeschlagen wurde, das Parlament in zwei getrennte Abteilungen zu teilen, eine für Gesetzgebungs - und die andere für Exekutivaufgaben. Buonarroti unterstreicht die Vorteile mehrerer Gesetzgebungsorgane und die vom Faktionsgeist herrührenden Gefahren, die im Wesen einer einzigen Kammer liegen.372 Die Konser vatoren und die Senatoren sollten alte Männer von hohem Verdienst sein, erprobte Verteidiger der Volksrechte. Da jedoch die alten Männer jener Zeit noch zu sehr in den Vorurteilen der Vergangenheit befangen waren, 370 371 372

Vgl. ebd., S. 230, 239, 250–253, 259–262. Vgl. ebd., S. 263–265. Vgl. ebd., S. 265–267.

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Die Babeuf’sche Kristallisation

würde der Prüfstein für die Mitgliedschaft in dieser erhabenen Körperschaft nicht Alter plus Dienstzeit, sondern politische Zuverlässigkeit sein. Nur die ergebensten und würdigsten und vor allem die orthodoxesten Exponenten der Sache der Gleichheit würden gewählt werden. So würde es eine Institution von Wächtern der politischen Orthodoxie geben, die immer gegen die Nationalversammlung an das Volk appellieren könnte. Darüber hinaus würden die Abgeordneten für ihre Meinungen zur Verantwortung gezogen werden.373 Es würde nicht nur Einrichtungen zur Kontrolle der Gesetzgeber in Form von konkurrierenden und kontrollierenden Körperschaften geben, sondern der Inhalt der Gesetzgebung wäre im Voraus umschrieben. Es würde einige unverletzbare Grundsätze geben, die selbst die Souveränitätsversammlungen nicht ohne Gefahr für das Bestehen der Gesellschaft anrühren könnten, wie z. B. unbedingte Gleichheit, Volkssouveränität, die Institution des Staates und die Zusammensetzung der Regierungsgewalten. Es würde festgelegte Termine geben für die Prüfung und, falls nötig, Änderung der Verfassung. Diese periodischen Versammlungen würden kleine Ausschüsse von „weisen Männern“ für die Ausarbeitung von formellen Änderungsvorschlägen ernennen. Neben dieser Einrichtung würden eigens ernannte Kommissare zu bestimmten Zeitpunkten die Zustände im Staat prüfen und Vorschläge für die Behebung von Missständen unterbreiten.374 Der Exekutivrat würde den Status haben und in der Weise ernannt werden, die die Verfassung von 1793 vorschrieb, aber seine Mitglieder würden unter strengere Aufsicht gestellt. Es würde natürlich einen riesigen Beamtenstab geben in einem Staat, der das gesamte System der Erzeugung und Verteilung übernommen hätte. In gewissem Sinn würde jeder Einzelne, da er vom Staat beschäftigt würde, Staatsbeamter sein. Es läge kein Grund vor, von dem Gespenst eines aufgeblähten Beamtenapparates beunruhigt zu sein, sagen Babeuf und Buonarroti. Jeder Magistrat würde durch alle Stufen des öffentlichen Dienstes gehen müssen, es gäbe keinerlei Befreiung. Darüber hinaus müsste jeder Kandidat eine Prüfung in „civisme“ ablegen und sich einer Untersuchung seiner Sitten durch einen Zensor unterziehen. Außerdem wären Beamte in Anbetracht der äußerst detaillierten und strengen Umschreibung von Pflichten und Rechten nicht in der Lage, nicht im Einklang mit dem Volkswillen zu handeln. Überhaupt wäre in einem System der Gleichheit die Kunst des Regierens und Ver waltens so vereinfacht, so sehr zur einfachen Rechenaufgabe geworden, dass jeder Regierungsaufgaben erfüllen könnte. Es wäre daher keine exklusive Klasse von erfahrenen Beamten nötig, und die Gefahr der Usurpation durch solche spezialisierte Gruppe wäre ausgeschaltet. Am 373 374

Vgl. ebd., S. 268 f. Vgl. ebd., S. 269–271.

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Anfang würden nur die politisch zuverlässigsten Revolutionäre für den öffentlichen Dienst ausgewählt, so dass ein wahrhaft republikanischer Geist geschaffen werden könnte. Später würden das System der nationalen Erziehung und die allgemeine Atmosphäre ständiger Debatte eine natürliche Schulung der Jugend für den Staatsdienst darstellen.375

2. Wirtschaftlicher Kommunismus „Große Nationale Wirtschaft“ war der Name für die Babeuf’sche Organisation der Produktion und Distribution.376 Wenn sie erst richtig funktionierte, würde sie keinen Raum lassen für Privateigentum oder für irgendjemand, der nicht von der Organisation erfasst würde. Die Wirtschaftsorganisation der Nation sollte allmählich aufgebaut werden, bis sie alles in Eigentum übernommen hätte, was auf dem Boden der Republik öffentliches oder privates Eigentum sein konnte. Zum Staatseigentum würde sofort erklärt werden : alles bis zum 9. Thermidor nicht verkaufte nationale Eigentum; alles nach den Ventôse - Gesetzen der Konfiskation unterliegende Vermögen; alles durch Gerichtsentscheid ver wirkte Vermögen; von öffentlichen, Gesundheits - , Erziehungs - und Wohltätigkeitsämtern besetzte oder in deren Eigentum stehende Gebäude; alle am Tag des Aufstands von reichen Volksfeinden beschlagnahmten und an arme Patrioten gegebenen Häuser; von seinen Eigentümern freiwillig verlassener Besitz; usurpierter Besitz derjenigen, die sich während der Thermidorreaktion bereichert hatten. Da es Erbschaften oder Vermächtnisse nicht geben würde, fiele das Eigentum von Verstorbenen selbstverständlich der Wirtschaftsorganisation der Nation zu.377 Den Reichen würde geraten, ihren Besitz „mit guter Miene“ rechtzeitig aufzugeben, und damit der gebieterischen Stimme der Gerechtigkeit zu gehorchen, dem Land Erschütterungen und sich selbst viele Unannehmlichkeiten zu ersparen; ferner sich auf ein einfaches Leben zu beschränken unter großzügiger Abtretung ihres Überflusses an das Volk. Direkte Enteignung durch einen Federstrich würde es nicht geben. Es würde die Politik verfolgt, „die Menschen zu veranlassen, aus Notwendigkeit und im eigenen Interesse Besitz zu ächten“, so dass die Reichen keinerlei Freude, Macht oder Gegenleistung

375 376

377

Vgl. ebd., S. 232–234, 271–277. Vgl. ebd., S. 206–218. A. d. Hg. : Auf diesen Seiten findet man allgemeine Erläuterungen zum Thema. Den Großteil der Zitate in diesem Abschnitt findet man in den Dokumenten im 2. Band der „Conspiration“ sowie am Ende des 1. Bandes unter „Décrets économiques“, S. 309–312. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 305 f.

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aus ihrem Reichtum haben könnten.378 Sie würden unter der Last drückender Steuern gebeugt, von der Ver waltung öffentlicher Angelegenheiten ausgeschlossen, allen Einflusses beraubt und außerstande sein, sich irgendwelche besonderen Dienstleistungen oder Genüsse zu verschaffen, da alle Kräfte, die früher im Dienste des Reichtums standen, nunmehr öffentlichen Arbeiten und nationaler Kultur zugewandt würden.379 „Verachtet [...] eine verdächtige Klasse von Fremden, werden sie auswandern und über ihr Vermögen verfügen, oder sie werden schnell durch freiwilligen Beitritt die friedliche und allgemeine Einrichtung der Gemeinschaft besiegeln.“380 Personen beiderlei Geschlechts, die durch „incivisme“, Trägheit, Luxus und liederliche Lebensweise ein schlechtes Beispiel gäben, würden zu Zwangsarbeiten herangezogen. Ihr Vermögen würde von der Wirtschaftsorganisation der Nation beschlagnahmt.381 Kleine Kauf leute, Krämer, Kleinbesitzer, Bauern, Arbeiter und Handwerker, die durch schwere Arbeit, Unsicherheit, ungenügende Löhne und Entbehrungen niedergedrückt waren, würden gern der Einladung folgen, der Wirtschaftsorganisation der Nation beizutreten, um ihre kümmerliche Existenz mit der Sicherheit eines anständigen Lebensunterhaltes zu vertauschen.382 „Lasst uns die Wirtschaftsorganisation der Nation schaffen [...] eingebildete Laffen verhindern, sie durch Sophismen und Übertreibungen zu stören, alle Verästelungen der Staatsgewalt zwingen, im Sinne der Gleichheit zu marschieren, [...] jede Quelle des Hochmutes, die die Illusion trügerischen Prunks zur Schau trägt, zum Versiegen bringen; lasst uns Gold für seine Besitzer lästiger machen als Sand und Steine; lasst uns die ersten Schläge kühn und entschlossen führen und es dann dem natürlichen Streben des Menschen nach Glück und Weisheit überlassen, durch fortschreitende Änderungen ein so erhabenes Unternehmen zu ver vollkommnen.“383 Die Wirtschaftsgemeinschaft würde bald mit der gesamten Nation verschmelzen, und die Nation würde nur aus denjenigen bestehen, die an der Gemeinschaft teilnehmen. „Eine glückliche Änderung der Ansichten [...] würde die unfehlbare Folge solcher Reformation sein.“384 Der Tag würde bald kommen, an dem mahnendes Beispiel und der Zwang der Notwendigkeit gefahrlos ersetzt werden könnten durch Verpflichtung und Einschränkung. „Von dem Zeitpunkt an würde das Wort ‚Eigentümer‘ beginnen, für die Franzosen etwas Barbarisches und Fremdes zu bedeu-

378 379 380 381 382 383 384

Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 310. Vgl. ebd. Ebd., S. 310 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 310. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 311. Ebd., S. 311 f. Ebd., S. 312.

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ten.“385 Es würde, kurz gesagt, der Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit erfolgen. Habgier wäre für immer entthront, und folg lich wären Gesellschaft und Menschen anderen psychologischen und sozialen Gesetzen unter worfen als früher. Die Wirtschaftsgemeinschaft der Nation beruht auf dem Grundsatz des Rechtes aller auf Glücklichsein und der Verpflichtung aller zur Arbeit. Obwohl Fülle das Ziel der allgemeinen Arbeit bildet, sind nur vollkommen gleiche und bescheidene Anteile und Genüsse zulässig. „Was nicht allen zugänglich ist, sollte streng beschnitten werden“, und eine allgemeine „ehrbare Mittelmäßigkeit“ wird das Ziel sein.386 Der Staat ist der einzige Eigentümer, Arbeitgeber und Versorger für jeden Bedarf. Niemand darf sich einer Sache erfreuen, die ihm nicht von der Gemeinschaft der Nation zugeteilt wurde. Es würde gemeinsame Mahlzeiten in jeder Gemeinde geben. Alles Geld würde abgeschafft. So bald wie möglich würde damit begonnen, Gehälter entsprechend den Bedürfnissen des Einzelnen in Waren zu zahlen. Wer Geld in Empfang nähme oder Geld oder Güter hamsterte, würde streng bestraft. Man könnte seine allgemeine Ration nur an seinem Wohnort bekommen, außer in Fällen amtlich genehmigten Umzuges. Transport würde innerhalb der ganzen Republik auf dem Wege der Dienstpflicht, „cor vées“, ausgeführt, insbesondere durch junge Leute, die auf diese Weise die Gelegenheit erhielten, ihr Land und alle seine verschiedenen Bezirke kennen und lieben zu lernen. Schmutzige Arbeiten würden umschichtig im Arbeitsdienst verrichtet. Aller Außenhandel würde durch den Staat erfolgen, und kein Privatmann dürfe Handelsbeziehungen mit dem Ausland unterhalten; überhaupt würde der Außenhandel auf absolute Lebensnotwendigkeiten, die daheim unerhältlich waren, beschränkt. Denn die Einfuhr fremder Waren fördert den Luxus und hat immer einen demoralisierenden Einfluss.387 Das ist die Milch der frommen Denkungsart von Rousseau und Mably. Die Ver waltung der Nationalen Wirtschaftsorganisation würde im Landesmaßstab zentralisiert sein und lokale Unterabteilungen haben. Es wurde als äußerst uner wünscht erachtet, kleine territoriale Produktions - und Konsumtionseinheiten auf der Basis der Autarkie zu schaffen. Der Reichtum jeder Provinz gehört der ganzen Nation, und der nationale Reichtum ist dafür da, dass sich jede Einheit an ihm erfreut. Überschüsse und Knappheit sollten sich untereinander ausgleichen. Eines der Hauptziele der Nationalen Wirtschaftsorganisation war auch, nationale Kohäsion und Solidarität zu fördern.

385 386 387

Ebd. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 207; Band 2, S. 307. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 216 f.; Band 2, S. 310–312, 314–316, 318 f.

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Die Nationale Wirtschaftsorganisation sollte unter die rechtliche Leitung der Obersten Staatsver waltung gestellt werden. Die ganze Republik war in Bezirke aufzuteilen, die benachbarte Departements mit ähnlichen Sparten der Erzeugung umfassten. Die Departementsver waltung war der Bezirksbehörde unterstellt und so fort.388 Die kleinen territorialen Einheiten würden eine wirtschaftliche Organisation haben, die sich auf die Gewerkschaften, oder Klassen, wie Buonarroti sie nennt – Berufsgruppen –, stützt. Jede Gewerkschaft ernennt ihre eigenen Magistrate, die die Arbeit leiten, die Anordnungen der Munizipalver waltung ausführen und in ihrem Eifer beispielgebend sind. Aus gewählten Gewerkschaftsvertretern würde ein Gewerkschaftsrat gebildet und der Munizipalver waltung beigeordnet, um sie in allen Fragen der Verteilung und der Erleichterung und Verbesserung der Arbeit zu beraten. Die Munizipalver waltung regelt die Bedingungen in jedem Produktionszweig und in jeder Klasse von Arbeitern, während die Oberste Ver waltung sich um die Beschaffung von Maschinen, arbeitsparenden Vorrichtungen und um den allgemeinen Schutz der Arbeit zu kümmern hätte. Die Oberste Ver waltung hätte die Macht, Männer und Frauen, die sich unsoziales Verhalten, Müßiggang, Liebe zum Luxus und ausschweifende Lebensweise zuschulden kommen ließen, zu Zwangsarbeit zu ver urteilen, und die Versetzung von Arbeitern entsprechend der nationalen Notwendigkeit vorzunehmen.389 „In der Ver waltung einer sehr ausgedehnten Gesellschaft gibt es eine gewisse Kompliziertheit, die den oberflächlichen Beschauer in Erstaunen versetzt : aber im Grunde ist die ganze Angelegenheit ein einfaches Rechenexempel, das in genauester Ordnung und Regelmäßigkeit funktionieren kann; da der Habgier durch die Errichtung der fraglichen Institutionen jede Nahrung entzogen ist, brauchte man nicht länger die Verluste zu fürchten, die unter der bestehenden Ordnung andauernd durch den Wettbewerb eifersüchtiger Führer und den Diebstahl ihrer Untergebenen entstehen.“390 Und so würde – auch hier – alle wirtschaftliche Ver waltung, die auf einer vollkommenen, allumfassenden und einheitlichen Planung beruht, zur einfachen Rechenaufgabe; und mit der Sicherung vor zukünftiger Not würden alle Ängste, Gier und zersetzenden Gefühle verschwinden. Nach der Abschaffung des Privateigentums, das alle Vorteile des sozialen Staates zunichte gemacht hatte, „würde jeder einzelne fühlen, wie sehr er an dem Wohlergehen all seiner Genossen interessiert ist. Die Wissenschaft des Regierens, die der Widerstreit so vieler entgegengesetzter Interessen gegenwärtig so sehr kompliziert 388 389 390

Vgl. Buonarroti Conspiration, Band 2, S. 313. Vgl. ebd., S. 308–310. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 214.

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macht, wird durch das System der Gemeinschaft zu einer einzigen Berechnung, die kaum irgendjemandes Fähigkeit übersteigt.“391

3. Monolithischer Glaube Eine Gesinnungsgemeinschaft war das Hauptziel und die einzige Gewähr für Erfolg auf politischem sowohl wie auf wirtschaftlichem Gebiet. Solche Gemeinschaft würde mit dem Verschwinden aller Neigung zu Ungleichheit und Privilegien einerseits und durch ein wachsendes Gefühl spontaner und liebender Bejahung der neuen Ordnung andererseits entstehen. Zwang wäre dann unnötig.392 „Das Meister werk der Politik besteht darin, das menschliche Herz durch Erziehung, Beispiel, Überzeugung [...] und durch die Attraktion der Freude so zu verändern, dass es niemals irgendwelche anderen Wünsche hegt als solche, die die Gesellschaft freier, glücklicher und beständiger machen können. Wenn eine Nation diesen Punkt erreicht, hat sie gute Sitten, und dann werden die schwierigsten Pflichten mit Bereitwilligkeit und Freude erfüllt. Dem Gesetz wird spontaner Gehorsam entgegengebracht; die unserer natürlichen Unabhängigkeit auferlegten Beschränkungen werden als Segen betrachtet; vernünftige Vorschläge begegnen keinem Widerstand, und im ganzen Staat herrscht eine Einheit der Interessen, des Willens und des Handelns.“393 Vor allem war es geboten, jedem Geist des Föderalismus und Isolationismus in den verschiedenen Bezirken entgegenzuwirken, insbesondere in den von der Natur bevorzugten Gebieten. Es war außerordentlich wichtig zu verhindern, dass diese sich als gesonderte Einheiten fühlten, unabhängig von und gleichgültig gegenüber dem Schicksal der übrigen; und ihnen das Gefühl zu geben, dass ihr Gedeihen von den anderen abhing und nur durch eine harmonische Gemeinschaft des Willens und Handelns im ganzen Land bewahrt und gefördert werden konnte.394 Dies konnte vor allem durch Gegenseitigkeit des Nutzens erreicht werden, durch angemessene Koordination des Produktionseinsatzes in den verschiedenen Teilen und durch die Kenntnis der Vorteile sozialer Ordnung. „Wenn der Bewohner des Südens weiß, wie nützlich für ihn die Bewohner des Nordens 391 392

393 394

Ebd., S. 244. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 210, 238, 278–294. A. d. Hg. : Auf den genannten Seiten werden allgemeine Aspekte zum Thema aufgeführt, die in diesem Abschnitt teilweise an späterer Stelle in Zitaten aufgegriffen und dann entsprechend belegt werden. Ebd., S. 228 f. Vgl. ebd., S. 255 f.

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sind durch die Vergünstigungen, die sie ihm verschaffen, und durch die brüderlichen Gefühle, die die Übereinstimmung von Sitten und Gesetzen in ihnen erzeugen, fühlt er sich in seiner Seele erhoben, er bewundert den sozialen Mechanismus, in dem so viele Millionen Menschen zusammenwirken, um ihn glücklich zu machen, und er überzeugt sich davon, dass es um seiner Gleichheit willen, an der ihm so viel liegt, notwendig ist, über die Grenzen seiner Gemeinde hinaus den gesamten Bereich der Republik zu umfassen.“395 Hier spricht der Jakobiner, der Prediger der „République une et indivisible“. Aber wirtschaftlicher oder politischer Isolationismus kann nicht wirksam bekämpft werden, wenn man geistigem Isolationismus die Zügel schießen lässt.396 „Soll dem menschlichen Geist freigestellt sein“, fragt Buonarroti, „ohne Führung und ohne Zaum durch die weiten Gefilde der Phantasie zu schweifen ? Soll es ihm überlassen werden, unter dem Vor wand, die Gesellschaft zu verfeinern und zu verbessern, eine Unzahl von eingebildeten Bedürfnissen, Ungleichheiten, Meinungsverschiedenheiten und falschen Glücksvorstellungen in sie hineinzubringen ? Oder sollen der Regsamkeit Grenzen auferlegt und von den Stätten der Erziehung alles ferngehalten werden, was für die Wohlfahrt der Republik nicht unerlässlich notwendig ist ?“397 Es war erwünscht, „ihre Mitbürger von der Belastung überflüssigen Reichtums zu erlösen sowie von dem Hang und den Genüssen, die die Menschen schwächen und die keinen anderen Wert haben als Unterscheidungen zu unterstreichen“.398 Die Gleichen fürchteten die Übel, die aus der Verfeinerung der Kunst entstehen, und erinnerten sich an die Theorie Rousseaus und Mablys, dass Sittlichkeit und Freiheit nie zusammen mit dem Glanz von Kunst und Wissenschaft bestanden hätten. Intellektuelle und künstlerische Verfeinerung erzeugen Geschmack für Luxus, Frivolitäten, ein Streben nach Auszeichnung, Überlegenheit und Privilegien. Sie nähren die Eitelkeit und den Wunsch aufzufallen. Beredte Eitelkeit entwickelt eine gefährliche und verführerische Überredungskunst, die „leichtgläubige Ehrlichkeit irreführt“.399 Die Gleichen wünschten daher, „der falschen Wissenschaft jeden Vor wand zu nehmen, um sich ihrem Anteil an den gemeinsamen Pflichten zu entziehen, jede Gelegenheit, dem Stolz zu schmeicheln [...] und die Leidenschaften mit der Vorstellung eines individuellen Glücks, das dem der übrigen Gesellschaft fremd ist, zu verführen“.400 395 396 397 398 399 400

Ebd., S. 256 f. Ebd., S. 257 f. Ebd., S. 285. Ebd. Ebd., S. 292–294, Zitat : S. 293. Ebd., S. 286.

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Nur sozial nützliche Fächer sollten gelehrt werden. Theologie, zum Beispiel, würde verschwinden, ebenso Jurisprudenz, die weitgehend überflüssig würde durch die Abschaffung des Privateigentums. Das Aufhören besonderer Entlohnung würde bald „die Manie, geistreich erscheinen zu wollen und Bücher zu schreiben“, kurieren.401 Nur die für den Dienst am Land und seine Verteidigung notwendigen Wissenschaften und Künste waren wesentlich. Keine Ansprüche auf Her vorragen aus der strengsten Gleichheit, sei es intellektuell oder sittlich, könnten zugestanden werden, nicht einmal einem Genie. „Die verständige Beschränkung des menschlichen Wissens [...] der Kenntnisse“ war die sicherste Garantie für soziale Gleichheit. Kenntnis von Lesen, Schreiben und Rechnen sollte genügen.402 An den Stätten der Erziehung sollten Werke der Kunst und des Handwerks auf Gegenstände, die „allen leicht mitteilbar“ wären, beschränkt werden, und vermeintliche Eleganz, „Pracht und Feinheiten von Tyrannen und Sklaven“ sollten durch ländliche Einfachheit ersetzt werden.403 Die Presse, die im Kampf gegen Tyrannei und Usurpation der Souveränität eine unschätzbare Waffe war, das beste Mittel zur Verbreitung von Gedanken und Wissen, hatte in der neuen Gesellschaft andere Aufgaben zu erfüllen.404 Nachdem persönliches Eigentum abgeschafft und alle geldlichen Interessen unmöglich geworden waren, müsse man dafür sorgen, von der Presse alle zu erwartenden Dienste zu erhalten, „ohne zu riskieren, dass die Gerechtigkeit der Gleichheit und die Rechte des Volkes in Frage gestellt oder die Republik endlosen und verhängnisvollen Diskussionen ausgeliefert wür-

401 402

403 404

Ebd. Siehe auch Leroux / Reynaud ( Hg.), Stichwort „Babeuf“, S. 327. Vgl. Leroux / Reynaud ( Hg.), Stichwort „Babeuf“, S. 327. Konkret heißt es : „Les seules connaissances nécessaires aux citoyens étaient celles qui devaient les mettre en état de ser vir et de défendre leur partie. Point de corps privilégié par ses lumières; point de prééminences intellectuelles ou morales; point de droit, même au génie, contre la stricte égalité de tous les hommes. Lire et écrire, compter, raisonner avec justesse, connaître l’histoire et les lois de la république, avoir une idée de sa topographie, de sa statistique, et de ses productions naturelles; tel était le programme de l’éducation commune à tout le monde. Cette prudente limitation des connaissances humaines était aux yeux du comité la plus solide garantie d’égalité sociale. S’appuyant sur l’autorité de Rousseau, qui affirme [...] que jamais les mœurs et la liberté n’ont été réunies à l’éclat des arts et des sciences, il avait même été jusqu’à se refuser de prononcer sur l’utilité des perfectionnements ultérieurs des arts et des sciences par des citoyens plus versés que les autres dans ces matières. Du reste, la presse devait être sévèrement renfermée dans le cercle des principes proclamés par la société.“ Siehe auch Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 287. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 286. Vgl. ebd., S. 291.

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den“.405 „La presse devait être sévèrement renfermée dans le cercle des principes proclamés par la société.“406 Niemand darf Meinungen aussprechen, die den geheiligten Grundsätzen der Gleichheit und Volkssouveränität direkt widersprechen. Alle Schriften über die Form der Regierung und ihre Ver waltung sollten gedruckt und auf Verlangen einer Souveränitätskörperschaft oder einer vorgeschriebenen Anzahl von Bürgern im Alter von über dreißig Jahren an alle Bibliotheken gesandt werden. Keine Schrift über irgendwelche angeblichen Enthüllungen würde gestattet. Tatsächlich würden nur diejenigen Schriften verteilt und gedruckt, die von den Konser vatoren des Nationalen Willens als für die Republik nützlich gebilligt würden.407 Schon 1792 protestierte Babeuf dagegen, dass das Theater von Amiens weiter Stücke aufführte, die nach „Aberglauben“ und „Per versitäten“ des Ancien Régime rochen.408 „Ihr könnt nicht zweien Herren dienen“,409 schrieb der tugendhafte Babeuf. In einem Zeitalter der Vernunft und Freiheit sollte das Theater die aufgeklärte Gesinnung der neuen Ära zum Ausdruck bringen und das Volk leiten. In einer grob verletzenden Notiz greift Babeuf den revolutionären Abt Grégoire an, der sich über den Schaden beklagt hatte, der der Kathedrale von Chartres zugefügt worden war : „eine der alten Schändlichkeiten“, nannte Babeuf sie und riet dem Abt, er möge sich schlafen legen.410 Trotz der intellektuellenfeindlichen Philosophie und der spartanischen Einfachheit des Lebens, die sie predigten, waren die Babeuf - Anhänger doch nicht unempfindlich gegenüber dem Einwand, ihr Gleichheitssystem sei dazu angetan, die Kunst zu töten. Einer der Gründe für die Ablehnung von Sylvain Maréchals Manifest der Gleichen durch das Babeuf’sche Direktorium war das Schlagwort „vernichtet alle Kunst und lasst Gleichheit herrschen“ in dem Manifest.411 Die Babeuf’sche Antwort zu dem Problem war die Unterscheidung zwischen individueller Enthaltsamkeit und kollektiver Pracht, zwischen Kunst, die allgemein anspricht, und esoterischen oder in ihrer Formulierung frivolen Exzentrizitäten oder Befriedigungen, für die sie nichts als Verdammung empfanden. Sie betonten den Aufschwung in Wissenschaft und Kunst und die enorme Ausweitung des Publikums, die aus der nationalen Regeneration fol-

405 406 407 408 409 410

411

Ebd. Leroux / Reynaud ( Hg.), Stichwort „Babeuf“, S. 327. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 291 f. Vgl. Dommanget, Pages choisies, S. 134–136. Dommanget, Pages choisies, S. 135. Vgl. Babeuf, Le Tribun du peuple ou le Défenseur des droits de l’homme, Nr. 28, S. 256. A. d. Hg. : Siehe auch Advielle ( Hg.), Histoire de Gracchus Babeuf, Band 1, S. 119. Buonarroti, Conspiration, Band 2, S. 132.

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gen würden; der schöpferische Künstler und Wissenschaftler wären befreit von dem Druck der Not, und die Geldgier würde verschwinden. Kunst und Wissenschaft würden eine soziale Funktion erfüllen, die Instrumente sind, um Kollektivleben her vorzurufen. Sie würden den Charakter des individuellen Selbstausdruckes verlieren und ihr Zweck wäre nicht mehr, die Empfindungen des Einzelnen in seiner persönlichen Verbindung mit dem Werk des Genies zu erregen. Sie würden jedoch unter dem Einfluss des regenerierenden Geistes und im Dienste der Republik einen neuen und feierlichen Sinn erlangen „entsprechend den erhabenen Gefühlen, die eine unermessliche Vereinigung von glücklichen Geschöpfen notwendig gebären muss“, während unter den bestehenden Bedingungen die Massen, die den schönen Künsten völlig fremd gegenüberstehen, einen Verfall der Kultur nicht einmal bemerken würden.412 In dem erhofften System würden „manche Künste, das ist wahr, deren Erzeugnisse nur dazu dienen, die Langeweile eines ganz kleinen Teiles von Parasiten zu mildern und eine riesige Masse Geld in ihre Hände zu pumpen, anderen Platz machen, die das Wohlbefinden der großen Masse der Gesellschaft steigern würden. Doch wo ist der Mann, der diesen glückhaften Wandel bedauern könnte ? Wenn die Wissenschaften und schönen Künste erst von dem Stachel der ewig drückenden, ewig lähmenden Not befreit wären, würde der geniale Mensch keinen anderen Anreiz mehr empfinden als den Drang nach Ruhm und Ehre, und er würde bald das Joch der Schmeichelei und der selbstsüchtigen Mäzene abschütteln, da sein einziges Ziel das Gedeihen des sozialen Körpers wäre. An Stelle von frivolen Gedichten, geschmackloser Architektur, uninteressanten Bildern würden wir Tempel erstehen sehen und erhabene Säulenhallen, in die das souveräne Volk ( das zurzeit schlechter untergebracht ist als das stumpfe Vieh ) sich begeben würde, um in den Monumenten und Werken der Philosophie die Lehre, das Beispiel und die Liebe der Weisheit in sich aufzunehmen.“413 Der utopische und spartanische Charakter der Babeuf’schen kollektiven Polis wird am besten exemplifiziert in der Ideologie des „Zurück aufs Land“.414 Buonarroti, der im Geiste Rousseaus nicht weniger als in dem Robespierres geschult war, sah in den großen Städten „Symptome einer öffentlichen Krankheit, einen unfehlbaren Vorläufer von staatlichen Erschütterungen“.415 Die Übel der alten Staatsform waren für ihn unlösbar ver woben mit den riesigen Städten, die einen Teil des Volkes zu über wältigender Arbeitslast verdammten und den anderen zu demoralisierendem Nichtstun. Das Land ist vernichtet 412 413 414 415

Ebd., S. 219. Ebd., S. 219 f. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 220–224. Ebd., S. 221, Fußnote.

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worden, und die Städte sind über völkert. Diese wurden zum Sitz „wollüstiger Vergnügungen“ für die Reichen, Quelle und Offenbarung der grellsten Ungleichheit, der Habgier, des Neides und der Unruhe.416 Der Landwirtschaft sollte zu ihrem früheren Vorrang verholfen werden. „Landwirtschaft und Künste erster Notwendigkeit sind die wahren, ernährenden Stützen der Gesellschaft, und der Mensch ist von Natur berufen, am Ort der Ausübung dieser Beschäftigungen zu leben, sei es, um den Boden zu bearbeiten, oder die Landwirte mit Waren und Erheiterungen zu versorgen.“417 Buonarroti erkennt durchaus den Beitrag der Großstädte zum Fortschritt der Revolution und gibt zu, dass „sie noch dazu gebracht werden könnten, wirkungsvolle Hilfe bei der Errichtung einer wirklichen sozialen Ordnung zu leisten, vorausgesetzt, dass weise und aufrechte Geister die lenkende Macht über ihre Bewegungen erhielten“.418 Aber es ist unbedingt erwünscht, ihre schwerfälligen Anhäufungen zum Verschwinden zu bringen und ihre Einwohner über das Land zu verstreuen, wo sie in gesunden, freundlichen Dörfern mit einfacher, aber angenehmer Architektur leben sollten.419 Paradoxer weise predigte der kosmopolitische Babeuf’sche Glaube äußerste nationale Isolierung. Aber das geschah im Interesse der Weltrevolution : um das regenerierte Volk zu schützen „gegen die Ansteckung böser Beispiele, die sonst die Stärke der Sitten und die Liebe der Gleichheit schwächen könnten“.420 Buonarroti sagt, die Verschwörer wollten „Schranken, die vor Hindernissen strotzten“, errichten zwischen Frankreich und der Welt, Schranken, die nur geöffnet werden sollten für politische Flüchtlinge, „verfolgte Freunde der Freiheit“, die in Frankreich Zuflucht und eine geistige Heimat suchten.421 Größte Strenge sollte Ausländern gegenüber angewandt werden, die Frivolitäten und ausländische Moden einführen möchten. Alle Ausländer würden strikt über wacht und in einigen Fällen sogar interniert.422 „Diese Vorsichtsmaßregeln gegenüber Ausländern“, sagt Buonarroti, „waren nicht von einem böswilligen Geist der Isolierung diktiert, sondern von dem Wunsch, die Dienste der Menschlichkeit und Brüderlichkeit, die alle Staaten sich gegenseitig [...] in der Wiedergewinnung und Verteidigung ihrer natürlichen Rechte schulden, besser zu erfüllen.“423 Frankreichs Sendung war es, als „leuchtendes Beispiel“ zu glänzen in der Ver wirklichung des Ideals der 416 417 418 419 420 421 422 423

Vgl. ebd., S. 220 f. Ebd., S. 223, Fußnote. Ebd., S. 224, Fußnote. Vgl. ebd., S. 221–225. Siehe auch Leroux / Reynaud ( Hg.), Stichwort „Babeuf“, S. 327. Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 261. Ebd., S. 262. Vgl. ebd., S. 263. Ebd., S. 262, Fußnote.

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Gleichheit. „Solch große Segnung konnte nicht durch Waffengewalt mitgeteilt werden“424 wegen der Invasion, Gewaltanwendung und Beherrschung, die damit verbunden war. Auf bewaffnetes Proselytenmachen wurde somit verzichtet. Die Welt musste durch Beispiel gelehrt werden. Sorgsame Fernhaltung von der neuen sozialen Ordnung alles dessen, was ihre Gründung verzögern oder verhindern könnte, war wichtig; ebenso unnachsichtiger Ausschluss vom Gebiete Frankreichs „jener Scharen von Ausländern, die feindliche Regierungen sicherlich über es ergossen hätten unter dem Vor wand der Menschenliebe und mit dem hinterhältigen Ziel, Zwietracht zu säen und Spaltungen herbeizuführen“.425 Freier Verkehr mit anderen Staaten würde nicht erfolgen, so lange sie nicht dieselben Grundsätze angenommen hätten. Bis dahin hätte Frankreich nur Gefahren für sich in ihren Sitten, in ihren Institutionen und vor allem in ihren Regierungen gesehen. Buonarroti berichtet, man habe geplant, das französische Volk eine Tracht annehmen zu lassen, die es von allen anderen Nationen unterscheiden würde.426 In Angelegenheiten der Religion waren Rousseau und Robespierre die Orakel. Glaube an das Höchste Wesen, die Unsterblichkeit der Seele, die bürgerliche Religion, Belohnung und Strafe nach dem Tod wurden als die Grundlagen der Gesellschaft angesehen. Der Bürger musste einen über den Bereich irdischer Macht hinausgehenden unfehlbaren Richter seiner Gedanken und heimlichen Taten anerkennen und fürchten. Er musste auch überzeugt sein, dass ewige Seligkeit die Belohnung für Ergebenheit gegenüber der Menschheit und dem Vaterland sein würde. Obwohl die Heiligung der Religion notwendig war für die Erhaltung der Moral, wurden die „sogenannten“ Offenbarungsreligionen als Krankheiten angesehen, die allmählich ausgerottet werden müssten.427 Die reine Religion des Evangeliums wäre zweckentsprechend gewesen, aber der Unsinn und die Dummheiten der biblischen Geschichten und der Kommentare haben sie unmöglich gemacht. Es bleibt daher die Naturreligion mit ihren zwei Grundsätzen, dem eines allmächtigen Willens, der über das Weltall herrscht, und dem eines zukünftigen Lebens, „Grundsätze, abgeleitet von der Natur, Vernunft und sozialen Notwendigkeit“.428 Atheismus war für Buonarroti wie für Robespierre gleichbedeutend mit Unmoral und Zynismus. „Le décret qui mit la vertu et la probité à l’ordre du jour fut [...] un coup de foudre“,429 erklärt Buonarroti in einer Apologie der Robespierre’schen Religions-

424 425 426 427 428 429

Ebd. Ebd. Vgl. ebd., S. 226. Vgl. ebd., S. 254 f., bes. die Fußnote S. 255. Robiquet, Buonarroti et la secte des Égaux, S. 327. Ebd., S. 318.

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politik. Gleichheit war „das einzige Dogma, das der Gottheit genehm“ war.430 Religiösen Dienst wünschte er beschränkt auf die Ehrfurcht vor dem Gesellschaftspakt, auf die Verteidigung der Gleichheit und auf gewisse öffentliche Feste.431 „Les dogmes religieux doivent être la sanction de l’ordre social [...] et le culte doit se confondre avec les lois.“432 Dies ist das Ideal der Polis der Antike. Da Erziehung im weitesten Sinn der mächtigste, ja sogar entscheidende Faktor in der Schaffung und Erhaltung einer geistigen Gemeinschaft in der neuen Republik wäre, wäre die Republik der einzige Richter über den der Jugend zu erteilenden Unterricht. Die Erziehung der Jugend könnte nicht mehr dem „ausschließlichen und egoistischen Familiensystem“ überlassen werden.433 „Plus d’éducation domestique, plus de puissance paternelle.“434 „Dans l’ordre social conçu par le comité, la patrie s’empare de l’individu naissant pour ne le quitter qu’à la mort.“435 Wieder um der reinste Rousseau, obwohl nicht der Rousseau des „Émile“. Liebe zum Vaterland müsste zur vorherrschenden Leidenschaft erhoben werden. Durch Erziehung wäre der Gesetzgeber in der Lage, alle Familien - und Ver wandtschaftsliebe diesem Gefühl unterzuordnen.436 Nachdem sie nur von „Gefühlen, die den Grundsätzen des Staates entsprechen, erfüllt wären, würde es ihnen zur Gewohnheit, jede Schönheit und Vollkommenheit, deren Zeuge sie würden, auf das Vaterland – die Herrin aller – zu beziehen und seinen heiligen Gesetzen ihren Reichtum, ihr Wohlergehen und ihre Freuden zuzuschreiben. Da sie ständig zusammen lebten, würden sie bald lernen, ihr Glück mit dem anderer zu mischen und sich von der Ansteckung der Eigensucht fernzuhalten“.437 Erziehung sollte alle Instinkte der Habsucht und den Drang, sich her vorzutun, ausrotten und die natürliche Güte der menschlichen Natur zur vollen Entfaltung bringen. Sie müsse patriotisch, allgemein und gleich sein nach spartanischem Muster, geeignet, die Kraft und Beweglichkeit des Körpers, die Güte und Energie des Herzens und die Entwicklung des Geistes zu pflegen. Die Geschlechter würden streng getrennt gehalten. In der Erziehung der Mädchen würde man sich bemühen, den Geist der Koketterie zu töten und die frühen Geschlechtsregungen zu hemmen. Obligatorische militärische Erziehung für 430 431 432 433 434 435 436 437

Buonarroti, Conspiration, Band 1, S. 255. Vgl. ebd., Fußnote. Weill, Les Papiers de Buonarroti, S. 323. Vgl. Buonarroti, Conspiration, Band 1, 280 f. Generell zum Thema Erziehung siehe ebd., S. 229, 254, 278–284. Ebd., S. 288. Ebd., S. 282. Vgl. ebd., S. 219. Ebd., S. 284.

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jeden Jungen wäre eine Schule der Staatsbürgerschaft.438 Das Erziehungssystem würde unter der Über wachung eines Amtes stehen, das mit „vieillards blanchis dans les fonctions les plus importantes“439 besetzt würde. Es würde ein besonderes Lehrerseminar geben. Was den Inhalt der republikanischen Erziehung und des geistigen Lebens im Allgemeinen betrifft, so legt Buonarroti sehr großes Gewicht auf die Nationalisierung der Freizeit. Individuelle Muße und ungeeignete Ver wendung der Mußezeit erscheinen ihm als die größten Feinde des Systems der Gleichheit und Seelengemeinschaft. Muße dürfe nicht der Wollust oder der Langeweile dienen, und doch dürfe der Staat nicht den Eindruck erwecken, als ob es einen Zwang gäbe in der Ver wendung der Freizeit.440 „Der geschickte Gesetzgeber sorgt dafür, dass die Menschen sich ihnen ( den nationalen Freizeitbeschäftigungen ) freiwillig anschließen.“441 Erziehung würde das zustande bringen. Das Ziel der Freizeitbeschäftigungen ist, „Körper und Seele zu stärken“, „ohne Zwang alle Zufahrtstraßen der Verderbtheit zu verschließen“, „jedem Augenblick des Lebens einen Reiz zu verleihen, Begeisterung für die Tugend zu erwecken und dem Bürger sein Land zum Teuersten auf Erden zu machen“.442 Patriotische und halb - religiöse Feste nach antikem Muster würden ver vielfacht. Sie würden der Gottheit geweiht sein, dem Andenken großer Männer, „den Wundern des Gesellschaftssystems“, dem Einrücken der Jungen in die Armee, ihrer Rückkehr, dem Verscheiden her vorragender Bürger und anderen ähnlichen Staatsgelegenheiten. Sie würden Mut und Freiheitsliebe einflößen und Verdorbenheit verabscheuungswürdig erscheinen lassen. Dann würde es die vier Klassen der häufigen Bürger versammlungen geben : der souveränen Macht, der militärischen Ordnung, des Unterrichtes und der Zensur ( oder Tugendliebe ). Letztere würde ihr Urteil fällen über das Leben und die Moral von Magistraten, jungen Leuten, Verstorbenen und tatsächlich von jedermann. Der größte Einfluss in diesen Versammlungen würde den alten Männern vorbehalten sein. Über jeden Verstorbenen würde gerichtet werden, ob er öffentliche Ehre verdiene oder nicht. Den Kindern derer, die unwürdig befunden wurden, würde verboten, die Namen ihrer Väter zu tragen.443

438 439 440 441 442 443

Vgl. ebd., S. 278–290. Ebd., S. 281. Vgl. ebd., S. 254, 258, 284, 313. Ebd., S. 228. Ebd., S. 227. Vgl. ebd. S. 250–254, 258.

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Schluss fol ge run gen

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Die totalitäre Demokratie ist durchaus kein neues Phänomen und liegt nicht außerhalb des Bereichs der westlichen Tradition; ihre Wurzeln gehen vielmehr auf den gemeinsamen Stamm der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts zurück, von denen sie sich im Laufe der Französischen Revolution als eine separate und unterscheidbare Richtung abzweigte. Seither hat sie in ununterbrochener Kontinuität bestanden. Ihre Ursprünge reichen also viel weiter zurück als auf Systeme des neunzehnten Jahrhunderts, wie zum Beispiel den Mar xismus, denn der Mar xismus war nur eine, wenn auch eingestandenermaßen die wichtigste, unter den verschiedenen Varianten des totalitären demokratischen Ideals, die während der letzten hundertfünfzig Jahre aufeinander gefolgt sind. Die Idee des achtzehnten Jahrhunderts von einer Natürlichen Ordnung (oder einem Allgemeinen Willen) als eines erreichbaren, ja unvermeidlichen und alles lösenden Ziels erzeugte eine Geisteshaltung, wie sie bis dahin auf dem Gebiete der Politik unbekannt war, nämlich das Gefühl eines kontinuierlichen Fortschritts auf eine Endlösung des historischen Dramas zu. Aus dem Erleben einer strukturellen und unheilbaren Krise in der bestehenden Gesellschaft entstand der Antrieb für die totalitäre demokratische Tradition. Die jakobinische Diktatur, die auf die Einsetzung einer Tugendherrschaft abzielte, und der Babeuf’sche Plan einer egalitären kommunistischen Gesellschaft – wobei dieser bewusst dort einsetzte, wo jene aufgehört hatte, und beide mit Nachdruck behaupteten, nichts anderes zu tun als die Postulate des achtzehnten Jahrhunderts zu verwirklichen – waren die beiden frühesten Ausdrucksformen des modernen politischen Messianismus. Sie hinterließen nicht nur einen Mythos und praktische Lehren, sondern sie begründeten eine lebendige und ungebrochene Tradition. Die totalitäre Demokratie entwickelte sich früh zu einer Ideologie von Zwang und Zentralisation, und zwar nicht etwa, weil sie die Werte des liberalen Individualismus im achtzehnten Jahrhundert ver warf, sondern weil sie ihnen gegenüber ursprünglich eine zu perfektionistische Haltung einnahm. Sie machte den Menschen zum absoluten Bezugspunkt. Der Mensch sollte nicht nur von jeder Beschränkung befreit werden. Alle bestehenden Traditionen, alle überkommenen Institutionen und alle gesellschaftlichen Abmachungen sollten über Bord geworfen und neu geschaffen werden mit dem alleinigen Ziel, dem Menschen die Gesamtheit seiner Rechte und Freiheiten zu sichern, ihn von aller Abhängigkeit zu befreien. Sie fasste den Menschen per se ins Auge und entblößte ihn von allen Attributen, die nicht in der allen gemeinsamen Menschlichkeit enthalten sind. Sie sah den Menschen als das einzige Element in der Natürlichen Ordnung, unter Ausschluss aller Gruppen und aller überkommenen Interessen. Um an den Menschen per se heranzukommen, mussten alle Unterschiede und Ungleichheiten beseitigt werden. Und so nahm die ethische Idee der Menschenrechte sehr bald den Charakter eines egalitären Gesellschaftsideals an. Aller Nachdruck wurde auf die Zerstö-

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Schlussfolgerungen

rung der Ungleichheiten gelegt, auf das Niederholen der Privilegierten zur Ebene der allgemeinen Menschheit und auf das Hinwegfegen aller mittelbaren Macht- und Treuezentren, seien es soziale Klassen, regionale Gemeinschaften, Berufsgruppen oder Korporationen. Nichts blieb übrig, was zwischen dem Menschen und dem Staat gestanden hätte. Die Macht des Staates, die nun nicht mehr durch Zwischeninstanzen gehemmt war, wurde grenzenlos. Diese ausschließliche Beziehung zwischen dem Menschen und dem Staat setzte Gleichförmigkeit voraus. Sie vertrug weder die Verschiedenheit, die mit einer Vielheit sozialer Gruppen einhergeht, noch die Verschiedenheit, die aus menschlicher Spontaneität und Empirie folgt. Im Jakobinismus treten Individualismus und Kollektivismus zum letzten Mal in prekärem Gleichgewicht zusammen auf. Es ist die Vision einer Gesellschaft gleicher Menschen, die vom Staat nach einem ausschließlichen und universalen Modell neu erzogen werden. Doch der einzelne Mensch ist wirtschaftlich selbstständig. Er fügt sich der Ordnung des allmächtigen Staates unvermeidlich, aber dabei auch freiwillig ein. Die kommunistische Babeuf-Bewegung sah das Wesentliche der Freiheit schon im Staatseigentum aller Güter und in der Anwendung öffentlicher Gewalt zur Sicherung einer absolut gleichen Verteilung des Volkseinkommens und geistiger Konformität. Der Mensch sollte souverän sein. Die Idee des Menschen per se ging Hand in Hand mit der Annahme, es gäbe einen gemeinsamen Punkt, in dem der Wille aller Menschen notwendiger weise zusammenlief. Die Folge war die Tendenz zur plebiszitären Demokratie, in der die Menschen als Einzelne und nicht als Gruppen, Parteien oder Klassen aufgefordert würden zu wollen. Sogar das Parlament war nicht die letzte Autorität, denn es war auch eine Körperschaft mit einem Eigeninteresse. Der einzige Weg, den reinen Allgemeinen Willen der Menschen zutage zu fördern, war, sie als Individuen diesen Willen äußern zu lassen, und zwar alle zur gleichen Zeit. Es konnte unmöglich erwartet werden, dass alle Menschen, insbesondere diejenigen, die eine privilegierte Stellung einnahmen, ihre Persönlichkeit sofort zu einem gemeinsamen Menschentyp verschmelzen würden. Die uneingeschränkte Volkssouveränität sollte der nicht privilegierten Mehrheit der Nation, das heißt, den Menschen, die der Idee des „Menschen an sich“ am nächsten kamen, die Macht geben, die privilegierte Minderheit durch Überstimmen und, falls nötig, durch direkten Zwang zu beherrschen. Das fanatische Streben nach Volkssouveränität war nicht so sehr von dem Wunsch eingegeben, allen Menschen eine Stimme und einen Anteil an der Regierung zu gewähren, als vielmehr von dem Glauben, die Volkssouveränität würde zu vollkommener sozialer, politischer und wirtschaftlicher Gleichheit führen. Letzten Endes wurde die Volksabstimmung als ein Akt der Selbstidentifizierung mit dem Allgemeinen Willen betrachtet. Diese Auffassung der Volkssouveränität

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Schlussfolgerungen

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setzte sich durch, als man anfing einzusehen, dass der Wille der Mehrheit nicht notwendig mit dem Allgemeinen Willen zusammenfiel. So entwickelte sich das scheinbar ultrademokratische Ideal der uneingeschränkten Volkssouveränität bald zu einem System des Zwangs. Um die Bedingungen für den Ausdruck des Allgemeinen Willens zu schaffen, mussten die Elemente, die diesen Ausdruck verfälschten, entfernt oder ihnen zum mindesten wirksamer Einfluss versagt werden. Das Volk musste von dem schädlichen Einfluss der Aristokratie, der Bourgeoisie, aller egoistischen Interessen und sogar der politischen Parteien befreit werden, damit es das wollen konnte, was es seiner Bestimmung nach wollen sollte. Diese Aufgabe erhielt daher den Vorrang vor dem formalen Akt des Wollens durch das Volk. Sie schloss zwei Dinge ein : das Gefühl eines vorläufigen Kriegszustandes gegen die volksfeindlichen Elemente und eine Bemühung, die Massen neu zu erziehen, bis die Menschen imstande sein würden, frei und willig ihren wahren Willen zu wollen. In beiden Fällen wurde die Idee des freien Selbstbestimmungsrechts des Volkes durch die Vorstellung verdrängt, der Allgemeine Wille sei in ein paar Führern verkörpert, die den Krieg mit Hilfe hoch organisierter Anhängergruppen führten : dem Wohlfahrtsausschuss, der auf eine revolutionäre Weise mit Hilfe der Jakobinerklubs herrschte, und dem Babeuf’schen Geheimen Direktorium an der Spitze der „Gleichen“. In dem provisorischen Revolutions- und Kriegszustand war Zwang die natürliche Methode. Gehorsam und moralische Unterstützung durch einmütige Abstimmung, die den Charakter einer begeisterten Akklamation trug, wurden zur höchsten Pflicht. Die Aufhebung der Freiheit durch die zum Recht erhobene Revolutionsgewalt sollte andauern, bis der Kriegszustand durch einen Zustand automatischer gesellschaftlicher Harmonie ersetzt worden wäre. Der Kriegszustand würde weitergehen, bis die Opposition vollständig ausgeschaltet wäre. Wesentlich ist, dass die Überlebenden und Erben des Jakobinertums und der Babeuf-Bewegung den Fall Robespierres, den Tod Babeufs und den Sieg der Konterrevolution durchaus nicht als das Ende des Revolutionszustandes betrachteten. Nach ihrer Meinung bestand die Revolution fort, auch wenn sie über wältigt war. Sie konnte nicht zu Ende sein, bevor das Revolutionsziel erreicht war. Die Revolution ging weiter und ebenso der Kriegszustand. Solange der Kampf dauerte, war die Avantgarde der Revolution frei von aller Treuverpflichtung gegenüber der bestehenden sozialen Ordnung. Sie war der Treuhänder der Welt von morgen und als solcher berechtigt, alle nötigen Mittel zur Einleitung des tausendjährigen Reiches anzuwenden : Umsturz, wenn sie sich in der Opposition befand, Terror, wenn an der Macht. Das Recht zur Revolution und die ( provisorische ) Revolutionsdiktatur des Proletariats ( oder des Volkes ) sind zwei Facetten derselben Sache. Extremer Individualismus ver wandelte sich so in sein Gegenteil, in ein kollektivistisches System des Zwangs, bevor das achtzehnte Jahrhundert um war.

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Schlussfolgerungen

Alle Elemente und Formen der totalitären Demokratie wurden noch vor der Jahrhundertwende sichtbar oder angedeutet. Von diesem Gesichtspunkt aus bestand der Beitrag des neunzehnten Jahrhunderts in der Ersetzung der individualistischen Prämissen der totalitären Demokratie durch unverhüllt kollektivistische Theorien. Die Natürliche Ordnung, die ursprünglich als im Allgemeinen Willen der Gesellschaft immanent und in den Beschlüssen des souveränen Volkes ausgedrückt aufgefasst worden war, wurde durch eine ausschließliche apriorische Doktrin ersetzt, die als objektiv und wissenschaftlich wahr galt und von der man glaubte, sie gebe eine klare und vollständige Antwort auf alle moralischen, politischen, wirtschaftlichen, historischen und ästhetischen Probleme. Ob sie nun von allen, von einer Mehrheit oder auch nur von einer Minderheit gutgeheißen wurde – die Doktrin beanspruchte absolute Gültigkeit. In dem Ringen um eine natürliche und rationale Gesellschaftsordnung wurde bald mehr ein Konflikt zwischen unpersönlichen und amoralischen historischen Kräften gesehen als ein Kampf zwischen dem Gerechten und dem Ungerechten. Diese Tendenz wurde durch die zunehmende Zentralisation des politischen und wirtschaftlichen Lebens im neunzehnten Jahrhundert bestärkt. Die Organisation des Menschen in der Masse machte es erheblich leichter, Politik in Begriffen allgemeiner Bewegungen und Tendenzen aufzufassen. Nichts war leichter, als die ursprüngliche jakobinische Konzeption eines in der Gesellschaft endemischen Konflikts zwischen den Kräften der Tugend und denen der Selbstsucht in die mar xistische Idee des Klassenkampfes zu übertragen. Schließlich waren die jakobinische und die mar xistische Konzeption von der Utopie, die der Geschichte als Endstadium bestimmt war, einander sehr ähnlich. Beide fassten sie als vollständige Harmonie der Interessen auf, die ohne Gewaltanwendung bestehen würde, obwohl ihre Einführung durch Gewalt, nämlich die provisorische Diktatur, erfolgte. Als eine erobernde und lebenserhaltende Kraft ging der politische Messianismus in Westeuropa bald nach 1870 zu Ende. Nach der Kommune verzichteten die Erben der jakobinischen Tradition auf Gewalttätigkeit und begannen, sich mit legalen Mitteln um die Macht zu bewerben. Sie traten in Parlamente und Regierungen ein und wurden allmählich in das Leben der Demokratien eingegliedert. Der Revolutionsgeist wandte sich nun nach Osten, bis er in Russland sein natürliches Heim fand und dort neue Identität schöpfte aus der Rachsucht, die durch generationenlange Unterdrückung entstanden war, und aus der Prädisposition der Slawen zum Messianismus. Seine Formen wurden in der neuen Umgebung abgewandelt, aber es entstanden in Osteuropa keine gänzlich neuen Gedanken oder Organisationsformen. Die Abwandlungen, die die totalitäre demokratische Strömung im Westeuropa des neunzehnten Jahrhunderts und dann im Osteuropa des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhr, sollen den Gegenstand von zwei weiteren Bänden dieser Untersuchung bilden.

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Schlussfolgerungen

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Die Verfolgung der Genealogie der Ideen gibt Gelegenheit zu einigen Schlussfolgerungen allgemeiner Natur. Die wichtigste Lehre, die sich aus dieser Untersuchung ergibt, ist die Erkenntnis, dass die Idee eines allumfassenden und alles lösenden Glaubens mit Freiheit unvereinbar ist. Die beiden Ideale entsprechen den beiden zutiefst in der menschlichen Natur verankerten Instinkten, dem Sehnen nach Erlösung und der Liebe zur Freiheit. Ein Versuch, beide zur gleichen Zeit zu befriedigen, resultiert zwangsläufig, wenn nicht in völliger Tyrannei und Sklaverei, so zum mindesten in der ungeheuren Heuchelei und Selbsttäuschung, die die Begleiterscheinungen der totalitären Demokratie sind. Das ist der Fluch, der auf allen Erlösungsglauben ruht : Sie werden aus den edelsten menschlichen Impulsen geboren und degenerieren zu Waffen der Tyrannei. Ein ausschließlicher Glaube kann keine Opposition zulassen. Er wird sich immer von zahllosen Feinden umgeben fühlen. Seine Jünger können niemals in einem normalen Leben zur Ruhe kommen. Aus diesem Gefühl der Gefahr heraus entstehen ihre fortwährenden Forderungen nach Schutz der Orthodoxie durch Zuhilfenahme von Terror. Diejenigen, die keine Feinde sind, müssen mit Hilfe von emotionellen Kundgebungen und organisierter Einmütigkeit bei Versammlungen oder Abstimmungen als begeisterte Anhänger erscheinen. Politischer Messianismus ersetzt zwangsläufig empiristisches Denken und freie Kritik durch Beweisführung ex definitione, da er auf apriorischen kollektiven Begriffen basiert, die angenommen werden müssen ungeachtet des entgegenstehenden Augenscheins : Wie selbstsüchtig und schlecht die Menschen auch sein mögen, die zufällig an die Spitze gelangt sind, sie müssen als gut und unfehlbar dastehen, da sie die reine Doktrin verkörpern und die Volksregierung sind; – in einer Volksdemokratie hören die herkömmlichen wetteifernden, anmaßenden und unsozialen Instinkte quasi auf zu bestehen; – ein Arbeiterstaat kann seiner Definition nach nicht imperialistisch sein. Das Versprechen des Zustandes vollkommener harmonischer Freiheit, die nach dem Endsieg der vorübergehenden Revolutionsdiktatur kommen soll, stellt einen Widerspruch in sich dar. Denn abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit – die durch die ganze Geschichte bestätigt wird –, dass Männer an der Macht diese aufgeben, weil sie sich als überflüssig empfinden; abgesehen von der Tatsache des unaufhörlichen Wachstums zentralisierter Formen der politischen und wirtschaftlichen Organisation in der modernen Welt, die die Hoffnung auf ein Verschwinden des Staates illusorisch machen : Die der totalitären Demokratie innewohnende Annahme, dass Freiheit nicht gewährt werden könne, solange eine Opposition oder Reaktion zu befürchten ist, macht die versprochene Freiheit bedeutungslos. Freiheit wird gewährt, wenn es niemanden gibt, der sich widersetzt oder anders ist – mit anderen Worten, wenn sie keinen Sinn mehr hat. Freiheit bedeutet nichts ohne das Recht zum Widerspruch,

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Schlussfolgerungen

ohne die Möglichkeit, anderer Meinung zu sein. Die demokratisch-totalitäre Misskonzeption oder Selbsttäuschung in diesem Punkt ist die reductio ad absurdum der vom achtzehnten Jahrhundert entwickelten rationalistischen Idee des Menschen : des irrationalen Glaubens, dass die irrationalen Elemente in der menschlichen Natur und sogar „verschiedenartige Experimente in der Lebensweise“ nur ein böser Zufall seien, ein unglückliches Überbleibsel, eine zeitweise Verirrung, die mit der Zeit und unter heilenden Einflüssen einem einheitlich rationalen Verhalten in einer integrierten Gesellschaft Platz machen würden. Die Herrschaft der ausschließlichen und alles lösenden Doktrin der totalitären Demokratie läuft den Lehren der Natur und der Geschichte zuwider. Natur und Geschichte zeigen die Zivilisation als die Entwicklung einer Vielheit von historisch und pragmatisch entstandenen Zusammenballungen des sozialen Daseins und sozialen Strebens, und nicht als eine Errungenschaft des abstrakten Menschen auf einer einzigen Daseinsebene. Mit der Ausbreitung des Wohlfahrtsstaates und der von ihm bezweckten sozialen Sicherheit ist die Unterscheidung zwischen der absolutistischen und der empiristischen Einstellung zur Politik wesentlicher geworden als die alte Einteilung in Kapitalismus und soziale Sicherheit gewährenden Sozialismus. Die auffallende Anziehungskraft des politischen Messianismus – wenn wir die Tatsache des amerikanischen kapitalistischen Laissez-faire-Glaubens, der seinerseits auch von Lehrsätzen des achtzehnten Jahrhundert herrührt, beiseite lassen – liegt nicht mehr in seinem Versprechen sozialer Sicherheit begründet, sondern darin, dass er zu einer Religion geworden ist, die tief liegenden seelischen Bedürfnissen entgegenkommt. Die Macht des Historikers oder politischen Philosophen, auf das Geschehen Einfluss zu nehmen, ist zweifellos eng begrenzt, aber er kann die Geisteshaltung beeinflussen, die diesen Entwicklungen gegenüber eingenommen wird. Ähnlich dem Psychoanalytiker, der dadurch heilt, dass er dem Patienten sein Unbewusstes bewusst macht, dürfte der soziale Analytiker imstande sein, den Trieb des Menschen, der die totalitäre Demokratie entstehen lässt, zu behandeln : das menschliche Sehnen nach einer endgültigen Auf lösung aller Widersprüche und Konflikte in einen Zustand völliger Harmonie. Es ist eine unerfreuliche, aber nichtsdestoweniger notwendige Aufgabe, die Wahrheit zu unterstreichen, dass die menschliche Gesellschaft und das menschliche Leben niemals einen Ruhezustand erreichen können. Jene eingebildete Ruhe ist nur ein anderer Name für die Sicherheit, die ein Gefängnis bietet, und das Sehnen danach mag in gewissem Sinn ein Ausdruck der Feigheit und Trägheit sein, der Unfähigkeit, der Tatsache ins Auge zu sehen, dass das Leben eine immer währende und niemals gelöste Krise ist. Alles, was getan werden kann, ist, nach dem Verfahren von trial and error vorzugehen.

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Schlussfolgerungen

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Diese Untersuchung hat gezeigt, dass die Frage der Freiheit unlösbar mit dem wirtschaftlichen Problem verknüpft ist. Die Idee des achtzehnten Jahrhunderts von einer Natürlichen Ordnung, die ursprünglich der Frage nach einer rational geplanten Wirtschaftsordnung auswich, kam erst zu voller Bedeutung und begann die Freiheit zu bedrohen in dem Augenblick, als sie sich mit dem Postulat der sozialen Sicherheit verband. Soll man daher den Schluss ziehen, die auf soziale Sicherheit abzielende wirtschaftliche Zentralisation müsse die geistige Freiheit hinwegfegen ? Das ist eine Frage, die durch den Fortschritt der wirtschaftlichen Zentralisation höchste Bedeutung erlangt hat. Dieses Buch maßt sich nicht an, sie zu beantworten. Möge es genügen, darauf hinzuweisen, dass Freiheit weniger durch objektive Entwicklungen bedroht ist, die quasi von selbst und ohne Beziehung zu einem Erlösungsglauben vor sich gehen, als durch eine ausschließliche messianische Religion, die in diesen Entwicklungen eine feierliche Erfüllung sieht. Selbst wenn der Prozess wirtschaftlicher Zentralisation ( mit sozialer Sicherheit als einzigem milderndem Zug ) unvermeidlich ist, ist es wichtig, dass soziale Analytiker den Menschen die Gefahren vor Augen führen. Das könnte die Wirkung der objektiven Entwicklungen mäßigen.

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Personenverzeichnis Seitenangaben mit Asteriskus beziehen sich auf Fußnoten.

Acton, John Emerich Edward Dalberg, Lord 36*, 93*, 210 Amar, André 283 Anacharsis Cloots ( Johann Baptist Hermann Maria Baron de Cloots ) 195 Antonelle, Pierre - Antoine 247 d’Argenson, Marc - René de Voyer de Paulmy 57*, 258

Brissot, Jaques Pierre 201 Buonarroti, Filippo ( Philippe ) 17, 48, 74, 85*, 101, 121, 218, 247, 256–261, 266, 269, 275 f., 280, 283 f., 286, 289, 297, 301, 304–306, 310 f., 314, 318, 322, 325, 326*, 328–330, 336, 339–343 Burke, Edmund 44*, 72, 103, 201

Babeuf, François Noël 17, 25, 44, 53, 58, 62, 85*, 89, 101, 110, 112, 115, 121 f., 139, 172, 218, 223, 225, 231 f., 238, 245–305, 309, 311–314, 318 f., 325–327, 329–331, 337*, 338–340, 347–349 Bakunin, Michail 19 Barère, Bertrand 139*, 144*, 167, 217 Barnave, Antoine 120, 137* Barras, Paul de 195, 282, 285 f., 287* Baudot, Marc Antoine 217 Belinski, Wissarion 19 Billaud - Varenne, Jacques Nicolas 191, 227 Blanc, Louis 258 Blanqui, Louis - Auguste 18, 258 Bodson, Joseph 280, 308*, 309, 315* Boissy d’Anglas, François - Antoine 250, 300* Bonald, Louis - Gabriel - Ambroise de 18, 44*, 72 Brinton, Crane 27, 140*, 198

Calvin, Johannes 118, 253 Campanella, Tommaso 15, 48 Cambon, Pierre Joseph 200 Camillus 249 Carnot, Lazare Nicolas Marguerite 192, 285 f., 287* Chamberlain, Houston Stewart 21 Chaumette, Pierre - Gaspard 228 Condillac, Étienne Bonnot de 75 Condorcet, Marie Jean Antoine Nicolas Caritat de 59, 64, 69–71, 104, 220 Constant, Henri - Benjamin de Rebecque 18, 62, 151 Coupé, Jacques - Michel ( Coupé de l’Oise ) 272, 278, 288, 291 f., 325 Couthon, Georges 195 Cromwell, Oliver 50 f. Danton, Georges 138, 144, 192, 195 Darthé, Augustin Alexandre 276, 283 f., 286, 309, 317 Debon, Robert François 280, 284 Delacroix, Eugène 257

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Desmoulins, Camille 161, 195, 197, 215 Diderot, Denis 48, 57*, 58, 63 f., 68, 90 f., 105 Didier, Jean - Baptiste 314 Dobroljubow, Nikolai 19 Dolivier, Pierre 223 Drôme, Julien de la 283 Dubois de Fosseux, Ferdinand 245 f. Dubois - Crancé, Edmond Louis Alexis 62 Echnaton, Amenophis IV, Pharao 15 Engels, Friedrich 19, 284* Fichte, Johann Gottlieb 17 Fontenelle, Bernard Le Bovier de 283 Fouché, Joseph 195 Fourier, Charles 17, 26 Fréron,Louis - Marie Stanislas 195 Freud, Sigmund 126 Gensonné, Armand 194 Gentz, Friedrich von 44* Germain, Charles 278, 281, 286, 308*, 309*, 317, 325 Gracchus 224, 249, 259 Grégoire, Abt der Kathedrale von Chartre 338 Grenus, Jacques 276 Grisel, Georges 285, 317 Guizot, François 18 Hareau, Herausgeber „Le National“ 258 Harrington, James 51, 98* Hébert, Jacques - René 193, 195, 310*

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 18, 111 Helvétius, Claude Adrien 16, 27, 58, 64–66, 69, 70*, 73–77, 79– 82, 84, 85*, 96*, 105–107, 220, 257 Herzen, Alexander 19 Hitler, Adolf 21 f. Hobbes, Thomas 46* - 48 d’Holbach, Paul Henri Thiry 16, 27, 58, 63–66, 69*, 73 f., 76–78, 80 f., 83*, 84, 91*, 96, 116 f. Hugo, Victor 257 Hume, David 111 Javogues, Claude 285 Jesus von Nazareth 269 Jogiches, Leo 21 Lamartine, Alphonse de 18 Lamennais, Félicité Robert de 18 Lange, Nicolas de 223 Lapierre, Sophie 316 Laski, Harold 12, 38, 43 f. Lasource ( Alba, Marie - David ) 194 Law, John 117 Lawrow, Pjotr 19 Lefebvre, Georges 222*, 325 Lenin, Wladimir 19 Leopold II., Kaiser 256 Lepeletier de Saint - Fargeau, Felix 208, 276, 284 f., 317 Le Trosne, Guillaume - François 96 Lindet, Robert 217, 276, 285 Locke, John 75, 84, 133 f. Louvet, Jean - Baptiste 167, 300* Ludwig XIV., König von Frankreich 26, 160, 171 Luxemburg, Rosa 19, 21 Lykurg 150, 224, 259, 269, 310*

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Personenverzeichnis

Mably, Gabriel Bonnot de 16, 27, 48, 59, 60* f., 62, 65 f., 67*, 69, 70*, 76–78, 80, 83*, 85*, 96*, 98*, 105–107, 110–115, 117– 119, 121 f., 212, 240, 261, 269, 310*, 333, 336 Maistre, Joseph de 18, 44*, 72 Malebranche, Nicolas 67* Malthus, Thomas Robert 273 Mamiami, Terenzio 259 Marat, Jean - Paul 193, 240, 309, 310* Maréchal, Sylvain 270, 284, 338 Marr, Wilhelm 21 Marx, Karl 17–19, 21, 26, 69, 126, 128, 284* Mathiez, Albert 42*, 67*, 221*, 276, 286, 316*, 325 Mazzini, Giuseppe 18, 258 Michelangelo Buonarroti 256 Michelet, Jules 18 Mickiewicz, Adam 18 Mill, John Stuart 38*, 93* Minos 269 Mirabeau, Gabriel 60*, 79, 118, 220 Momoro, Antoine - François 195, 223 Montesquieu, Charles Louis de 41*, 57*, 68 f., 91*, 246, 269 More, Thomas 48, 269 Morelly, Étienne - Gabriel 16, 27, 41*, 57–59, 62, 64, 66, 68, 70, 74, 76 f., 98, 105–110, 119, 261, 269 Müller, Adam 44* Mussolini, Benito 19 Napoleon Bonaparte 102, 120, 147, 283 Napoleon III. 19

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Netschajew, Sergej 19 Newton, Isaac 77 Owen, Robert 304 Paoli, Pasquale 257 Passeran, Recueil de 104 Petion de Villeneuve, Jerôme 292 Philippeaux, Pierre 195 Platon 15, 48, 78, 269 Prieur, Claude - Antoine ( Prieur de la Côte - d’Or ) 217 Raspail, François - Vincent 258 Raynal, Guillaume Thomas François 269 Renan, Ernest 176 Rivière, Lemercier de la 60*, 84 Robespierre, Maximilien de 17 f., 60, 62, 65, 66*, 67, 84, 89, 112, 116, 137*, 140–143, 144*, 145, 148 f., 151–168, 170–173, 177, 179–190, 193, 195–199, 202–206, 208 f., 212–215, 218–221, 224, 226, 228–236, 238*, 250, 257, 259, 267–269, 273, 274*, 276, 292, 300, 306, 310*, 312 f., 322, 339, 341, 349 Rochefoucauld, François Alexandre Frédéric de 232 Roland, Jean - Marie de La Platière 164, 187, 194 Roland, Jeanne - Marie ( Madame Roland ) 194 Rossignol, Jean Antoine 308*, 312 Rousseau, Jean - Jacques 16, 18, 25, 27 f., 41v, 44, 47*, 48, 60, 62, 64–66, 67*, 68 f., 74, 76 f., 79, 83, 84*, 85, 87–91, 93 f., 95*, 98–103, 105–108, 109*, 113, 115 f., 118, 122, 131 f.,

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145 f., 151–153, 156, 162, 184 f., 204, 212, 219 f., 237, 246, 253–255, 259, 261 f., 269, 271, 310*, 333, 336, 337*, 339, 341 f. Roux, Jaques 223 Saint - André, Jeanbon de 139* Saint - Just, Louis Antoine de 17, 48, 65, 89, 112, 121 f., 141, 143–152, 168 f., 171, 174–176, 178–186, 195–199, 203, 205 f., 208, 210–218, 220, 224, 226–240, 253, 269, 276, 322 Saint - Simon, Henri de ( Claude Henri de Rouvroy, Comte de ) 17 f., 26, 253 Salle, Jean-Baptiste 62 Séchelles, Hérault de 165 Sieyès, Emmanuel Joseph 17, 27, 41*, 68, 101, 104, 120, 125–136, 156, 238* Solon 224 Sorel, George 19 Srissot, Girondist 194

Staël, Anne Louise Germaine de 62 Taine, Hippolyte 27, 40* f. Tallien, Jean Lambert 195 Tencin, Pierre Guérin de 110* Teste, Charles 258 Thompson, James Matthew 140*, 221* Tkatschow, Pjotr 19 Tocqueville, Alexis de 14, 18, 27, 35* f., 38*, 40*, 126 Tooke, John Horne 98 Trélat, Ulysse 258 f. Tschernyschewski, Nikolai 19 Varlet, Jean - François 223 Vergniaud, Pierre 137*, 194, 220, 238* Vincent, François - Nicholas 195 Voltaire (François Marie Arouet) 41*, 64, 220, 253 Wagner, Richard 21 Walter, Gérald 140*, 287*

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Wenn Sie weiterlesen möchten... Clemens Vollnhals (Hg.) Jahre des Umbruchs Friedliche Revolution in der DDR und Transition in Ostmitteleuropa Der Fokus der Darstellung liegt auf der DDR. Thematisiert werden die Voraussetzungen der Transition in den vier Staaten, der Zustand der realsozialistischen Autokratien am Ende ihrer Herrschaft, die Spezifik des Systemwechsels unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Massen und Eliten, sowie schließlich Besonderheiten in der Phase der Etablierung der Demokratie. Ziel von Herausgebern und Autoren ist es, Impulse für die vergleichende Perspektive in der Betrachtung der Entwicklungen in der DDR und ihren Nachbarstaaten zu geben.

Jörn-Michael Goll Kontrollierte Kontrolleure Die Bedeutung der Zollverwaltung für die »politisch-operative Arbeit« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR Jörn-Michael Goll schließt eine große Kenntnislücke zur Herrschaftspraxis der SED; dabei wird nicht nur über, sondern auch mit den »kontrollierten Kontrolleuren« gesprochen. Sie kommen an zahlreichen Stellen zu Wort, ihre Aussagen werden stets kritisch reflektiert. Als Wächter des »Außenhandels- und Valutmonopols« sowie als Zensurbehörde für westliche Literatur war die Zollverwaltung ein wichtiger Garant der Planwirtschaft in der DDR und des Monopols der SED. Daher stand der DDR-Zoll in einem besonders engen Verhältnis zum Ministerium für Staatssicherheit (MfS).

Gerald Hacke Die Zeugen Jehovas im Dritten Reich und in der DDR Feindbild und Verfolgungspraxis In den fünfzig Jahren, in denen in Deutschland Vertreter zweier ideologischer Heilsbotschaften herrschten, war die Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas verboten. Beide Regime glaubten in der Verweigerung eingeforderter Loyalitätsgesten, in der Verneinung jeglicher Wehr- und Kriegsdienste sowie in der illegalen Weiterführung des Glaubenslebens eine unmittelbare Bedrohung für ihre Herrschaft zu erkennen. Viele der Gläubigen ließen ihr Leben, wurden eingekerkert, verloren ihre berufliche Existenz oder wurden anderweitig drangsaliert. Heute sind die Zeugen Jehovas keine »vergessenen Opfer« mehr.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525310113 — ISBN E-Book: 9783647310114

Wenn Sie weiterlesen möchten... Uwe Backes / Patrick Moreau (Hg.) The Extreme Right in Europe Current Trends and Perspectives Der auf eine internationale Konferenz an der Universität Straßburg anlässlich der Europawahlen vom Sommer 2009 zurückgehende Band setzt in mehrfacher Hinsicht neue Akzente: Erstens sind alle Beiträge vergleichend angelegt und überschreiten den nationalen Rahmen. Zweitens ist das östliche Europa in etwa gleichgewichtig vertreten. Drittens behandelt der Band nicht nur den parteiförmig organisierten Rechtsextremismus, sondern bezieht militante Szenen und Subkulturen, manche paramilitärischen Erscheinungen im östlichen Europa, politische Ideen und kulturelle Trends mit ein.

Henrik Steglich Rechtsaußenparteien in Deutschland Bedingungen ihres Erfolges und Scheiterns Die extreme Rechte in Deutschland hat bislang keine dauerhaft erfolgreiche Partei hervorgebracht. Liegen hinter dem Auf und Ab klar identifizierbare Gesetzmäßigkeiten? Sind Faktoren benennbar, die bisher mit Erfolg oder Misserfolg der extremen Rechten einhergegangen sind? Aus den Ergebnissen dieser Analyse lassen sich begründete Aussagen über die Perspektiven einer Partei wie der NPD ableiten. Der Wert der Untersuchung liegt in der systematisierten Zusammenführung und empirischen Überprüfung all dieser Bedingungen in einer Vergleichsstudie. Durch diese Vollerhebung zu den Landtagswahlen in Deutschland zwischen 1990 und 2005 konnte eine Typologie jener Mechanismen erstellt werden, welche Wahlerfolge der extremen Rechten bedingen.

Clemens Vollnhals / Jörg Osterloh (Hg.) NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR In 20 Beiträgen untersuchen die Autoren die Reaktionen der deutschen Öffentlichkeit auf bedeutende Prozesse gegen NS-Täter, die vor alliierten und deutschen Gerichten stattfanden. Sie machen die Unterschiede und die Wechselwirkungen der Strafverfolgung zwischen Ost und West deutlich und zeigen, wie sich die öffentliche Wahrnehmung der Prozesse in den Westzonen und später in der Bundesrepublik in all ihren Widersprüchen entwickelte. Auch in der Sowjetischen Besatzungszone gab es anfangs noch einen gewissen Freiraum, doch bald standen Justiz und Öffentlichkeit im Dienste der SED-Propaganda.

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Die Geschichte der totalitären Demokratie Jacob Talmon Die Geschichte der totalitären Demokratie Band II

Jacob Talmon Die Geschichte der totalitären Demokratie Band III

Politischer Messianismus: Die romantische Phase Wege der Totalitarismusforschung Herausgegeben von Uwe Backes. 2013. 623 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-31009-0 E-Book ISBN 978-3-647-31009-1

Der Mythos der Nation und die Vision der Revolution: Die Ursprünge ideologischer Polarisierung im zwanzigsten Jahrhundert Wege der Totalitarismusforschung Herausgegeben von Uwe Backes. 2013. 751 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-31010-6 E-Book ISBN 978-3-647-31010-7

»Politischer Messianismus« lautet der Leitbegriff des zweiten Bandes, der ein breiteres Spektrum politischer Ideen des 19. Jahrhunderts in den Blick nimmt. Der Begriff »Politischer Messianismus« traf auf die Vertreter des »sozialistischen Messianismus« (von Saint-Simon und Fourier über Fichte bis Marx) zu, weniger hingegen auf Verfechter eines »messianischen Nationalismus« (Lamennais, Michelet, Mazzini, Mickiewicz). Talmon bezieht liberale Gegenspieler (Humboldt, Constant, Guizot, Tocqueville, Lamartine) in die Betrachtung ein und behandelt auch knapp die »konterrevolutionäre Rechte«.

Der 1980 kurz nach dem Tod Talmons in englischer Sprache erschienene 3. Band wird hier erstmals ins Deutsche übertragen. Im dritten Band der Trilogie analysiert Talmon die Wechselwirkung der Totalitarismen und betont die (pseudo-)demokratischen Züge des Faschismus wie des Nationalsozialismus. Während sich die Bände 1 und 2 auf die geistige Genealogie des Linkstotalitarismus konzentrieren, widmet sich dieser Band sowohl dem Linksals auch dem Rechtstotalitarismus.

Band 1–3 komplett: Jacob Talmon Die Geschichte der totalitären Demokratie Wege der Totalitarismusforschung Herausgegeben von Uwe Backes. 2013. 1746 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-31012-0

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525310113 — ISBN E-Book: 9783647310114

Schriften des Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung

Band 48: Jörg Müller Strafvollzugspolitik und Haftregime in der SBZ und in der DDR Sachsen in der Ära Ulbricht 2012. 379 Seiten mit 4 Diagrammen und 3 Organigrammen, gebunden ISBN 978-3-525-36959-3 E-Book ISBN 978-3-647-36959-4 In der DDR-Forschung wurde im Gegensatz zum Untersuchungshaftvollzug des Ministeriums für Staatssicherheit der »normale« Strafvollzug bislang vernachlässigt. Bei Müllers ausführlicher Analyse des Strafvollzugs der SBZ unter Justizverwaltung und des Haftregimes in den Gefängnissen der DDR unter Regie des Innenministeriums steht der Strafvollzug in Sachsen in der Ära Ulbricht im Mittelpunkt. Es wird gezeigt, wie sich das Haftsystem seit Kriegsende entwickelte, veränderte und welche Ziele es verfolgte. Trotz desolater allgemeiner Haftbedingungen war die Justizverwaltung um einen menschenwürdigen Umgang mit den Häftlingen bemüht.

Band 47: Uwe Puschner / Clemens Vollnhals (Hg.) Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte 2. Auflage 2012. 592 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-36996-8 E-Book ISBN 978-3-647-36996-9 Die Analyse der völkisch-religiösen Bewegung im Nationalsozialismus ist für die Religionsgeschichte des »Dritten Reiches« unverzichtbar. Die Hoffnungen der völkisch-religiösen Bewegung, die Machtübernahme der Nationalsozialisten werde einen »neuen Deutschen Glaubensfrühling« einläuten, sollten sich bald als Illusion erweisen. Der deutschchristliche wie auch der konkurrierende »neuheidnische« Flügel scheiterten dabei nicht nur an ihrem Unvermögen, persönliche wie religiös-weltanschauliche Gegensätze zu überwinden. Sie hatten vor allem ihre Handlungsspielräume über- und mehr noch das nationalsozialistische Machtkalkül unterschätzt.

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