Das Reich Gottes in Deutschland bauen: Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung 9783666558078, 3525558074, 9783525558072

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Das Reich Gottes in Deutschland bauen: Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung
 9783666558078, 3525558074, 9783525558072

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VSR

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG DER

HISTORISCHEN KOMMISSION Z U R ERFORSCHUNG DES PIETISMUS

HERAUSGEGEBEN VON

K. ALAND, K. GOTTSCHICK UND E. PESCHKE

BAND 23

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

DAS REICH GOTTES IN DEUTSCHLAND BAUEN EIN BEITRAG ZUR VORGESCHICHTE UND THEOLOGIE DER DEUTSCHEN GEMEINSCHAFTSBEWEGUNG VON

JÖRG OHLEMACHER

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Die ersten 16 Bände dieser Reihe erschienen im LutherVerlag, Bielefeld. Ab Band 17 erscheint die Reihe im Verlag von Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

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der Deutschen

Bibliothek

Ohlemacher, Jörg: Das Reich Gottes in Deutschland bauen: e. Beitr. zur Vorgeschichte u. theolog. P r o g r a m m a t i k d. dt. G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g / v o n J ö r g Ohlemacher. Göttingen: Vandenhoeck u n d Ruprecht, 1986. (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 23) I S B N 3-525-55807-4 NE: GT

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1 9 8 6 Printed in G e r m a n y . - O h n e ausdrückliche G e n e h m i g u n g des Verlages ist es nicht gestattet, das B u c h oder Teile daraus auf f o t o - oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus B e m b o auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz und D r u c k : G u i d e - D r u c k G m b H , T ü b i n g e n . Bindearbeit: H u b e r t & C o . , Göttingen.

Vorwort Der „Neupietismus", der sich mit den Stichwörtern Evangelische Allianz, Gnadauer Verband, landeskirchliche Gemeinschaft verbinden läßt, ist vielen unbekannt. Das liegt zum einen sicher an der besonderen Entwicklung der Gemeinschaften innerhalb der Landeskirchen, die eigentlich nur Mitgliedern der Bewegung verständlich ist, zum andern steht die Beschäftigung mit der Gemeinschaftsbewegung in der Regel in einer polemischen Grundsituation, - sei es aus vorwerfenden oder apologetischen Interessen. Diese Ausgangslage schlägt sich auch in der Literatur nieder. Die letzte größere Erweckungsbewegung, die fast das ganze damalige Deutsche Reich im Ausgang des 19. Jahrhunderts erfaßt hatte, stand schon früh unter dem Verdikt, eigentlich kein ernstzunehmender Gesprächspartner zu sein, weil ihr eine theologische Grundlegung fehle. Mit Pragmatikern wollte und will man sich nicht auseinandersetzen. Im besten Falle unterstellte man den Vertretern der Bewegung noch, die alten Anliegen des Pietismus erneuern zu wollen, - aber eigentlich ist mit dieser Unterstellung dann nur der erste Vorwurf noch erhärtet. Ein Interesse dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, inwieweit die Vorwürfe stichhaltig sind bzw. wenn nicht darzustellen, worin denn eine „Theologie der Gemeinschaftsbewegung" besteht. Im ersten Stadium der Planung und bei Archivarbeiten erstreckte sich das Arbeitsvorhaben noch auf die Darstellung der Zeit von den Anfängen bis zum 1. Weltkrieg. Das Erscheinen einer Dissertation (D. Lange) zum selben Thema in der D D R hat zu einer Modifizierung des Arbeitsvorhabens gefuhrt und die Vorgeschichte der Gemeinschaftsbewegung in das Zentrum des Interesses gerückt. Hier in den Wurzeln der sich formierenden Bewegung waren die geistigen Antriebskräfte zu suchen und zu finden, die ζ. T. bis heute unverändert die Gestalt der Bewegung bestimmen. Die vorliegende Arbeit wurde im Juni 1983 von der Kirchlichen Hochschule Bethel als Dissertation angenommen. Zu danken habe ich vor allem Herrn Prof. Dr. Gerhard Ruhbach, der die Beschäftigung mit der Gemeinschaftsbewegung angeregt, das Werden der Arbeit geduldig begleitet und zuletzt auch das Erstgutachten erstellt hat. Mein Dank gilt auch dem Korreferenten, Herrn Dr. habil., Dipl.-Psych. Gerhard Besier. Zu danken habe ich ferner vielen Institutionen und Einzelpersonen, ohne deren Unterstützung die Arbeit nicht hätte geschrieben werden können. Namentlich ist vor allem der Vorstand des Gnadauer Verbandes zu nennen, der mir vertrauensvoll Zugang zu den Archivalien und der gesammelten Spezialliteratur gestattete. In gleicher Weise hat auch der Direktor desjohan5

neums in Wuppertal, Johannes Berewinkel, über Jahre hin Anfragen geduldig beantwortet und bei Besuchen alle erdenkliche Unterstützung gewährt. Der Direktor der Pilgermission St. Chrischona in Riehen bei Basel, Edgar Schmid, ist in diesem Zusammenhang ebenso zu erwähnen wie Robin Brookes, der ehemalige Direktor von SPCK, London, und Dr. John Bowden, der Direktor von S C M Press, London, denen ich wichtige Hinweise für den angelsächsischen Bereich verdanke. Herr Prof. Dr. Erich Beyreuther, München, hat mich auf manches schwer zugängliche Material aufmerksam gemacht. Aufschlußreiche Gespräche konnte ich auch mit den inzwischen verstorbenen Christian H. Krust, Darmstadt, und Ernst Giese, Marburg, führen. Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen sein, daß nicht alle erbetene Hilfe gewährt wurde - alte Vorurteile zwischen den Gemeinschaften und der Theologie als Wissenschaft sind zählebig. Die Drucklegung dieser Arbeit wurde ermöglicht durch Zuschüsse des Gnadauer Verbandes, der Vereinigten Evangelisch Lutherischen Kirche Deutschlands, der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, meiner Heimatkirche und der Evangelischen Kirche von Westfalen. Ich danke den Zuschußgebern und sehe in der Gemeinsamkeit zwischen Neupietismus und Landeskirchen ein ermutigendes Zeichen. Ferner danke ich der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus für die Aufnahme der Arbeit in ihre Reihe. U m die Texterfassung hat sich Frau Marienhagen verdient gemacht. Bei den vielfältigen technischen Problemen, die das neue Verfahren der Umsetzung der Diskette auf Fotosatz mit sich brachte, war der Leiter der Herstellungsabteilung des Verlages, Herr Gottfried Pfabe, beharrlich und hat schließlich auch einen guten Lösungsweg gefunden. Zwei Jahre liegen zwischen dem Abschluß der Dissertation und dem Druckbeginn; eine Frist, die sich aus der Erprobung neuer technischer Möglichkeiten in der Herstellung des Buches ergab. Der Zeitraum gab Gelegenheit, inzwischen erschienene Literatur einzuarbeiten. Göttingen, im Herbst 1985

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Jörg Ohlemacher

Inhalt

Vorwort

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I. Einleitung

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1. Vorbemerkung 2. Ein Konflikt bestimmt die Literatur zur Geschichte der Gemeinschaftsbewegung. Problemskizze 3. Die wichtigste Literatur Paul Fleisch Hans von Sauberzweig Dieter Lange Christian Hugo Krust Hermann Klemm 4. Was ist die „Gemeinschaftsbewegung"? Der Ertrag und die Probleme des Forschungsstandes 5. Die Aufgabenstellung

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II. Der Entwurf zum Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Konferenz von 1886

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1. Die Vorgeschichte zum Entwurf 2. Der Entwurf-Analyse Die „Zeichen der Zeit" Die kirchliche Lage Ziele Mittel zur Erreichung der Ziele 3. Zwischenergebnis im Hinblick auf die Verfasser Das Lebensgefiihl und die Zeitdeutung Die Position der Verfasser innerhalb der Volkskirche Das Verständnis von „Gemeinschaft" Der Umgang mit der Tradition 4. Die Herkunft der Verfasser 1. Eduard Graf von Pückler 2. Jasper von Oertzen 3. Andreas Graf von Bernstorff 5. Ergebnis

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III. Das Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Konferenz von 1887 1. Die Vorgeschichte zum Einladungsschreiben 2. Das Einladungsschreiben-Analyse Die Zeichen der Zeit Die kirchliche Lage Ziele Mittel zur Erreichung der Ziele Inhaltliche Änderungen gegenüber dem Entwurf 3. Zwischenergebnis im Hinblick auf die Verfasser Das Lebensgefiihl und die Zeitdeutung Die Posistion der Verfasser innerhalb der Volkskirche Das Verständnis von Gemeinschaft Das Verständnis von Evangelisation Der Umgang mit der Tradition Die Anschauungen vom Reich Gottes 4. Die Herkunft der Verfasser Das Protokoll vom 14. 4.1887 Theodor Christlieb Johann Gottlob Pfleiderer Elias Schrenk Friedrich Fabri 5. Ergebnis IV. Die theosophisch-pietistische Reich-Gottes-Konzeption der Süddeutschen und ihre theologischen Implikationen und Konsequenzen Formale Konsequenzen Christologische Implikationen Anthropologische Implikationen Rechtfertigung und Heiligung Ekklesiologische Implikationen Implikationen des heilsgeschichtlichen Konzeptes Die Implikationen für den Gebrauch der Bibel Implikationen fur die Wahrnehmung der Wirklichkeit V. Die Reich-Gottes-Konzeption der norddeutschen Pietisten, ihre theologischen Implikationen und Konsequenzen 1. Voraussetzungen 2. Das Reich Gottes bei Wichern Formale Konsequenzen Christologische Implikationen Anthropologische Implikationen Rechtfertigung und Tat (Heiligung) 8

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Ekklesiologische Implikationen . . Implikationen des heilsgeschichtlichen Konzepts Die Implikationen fur den Gebrauch der Bibel Implikationen fur die Wahrnehmung der Wirklichkeit VI. Der Heilsweg der Heiligungsbewegung 1. Voraussetzungen 2. Theodorjellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum . 3. Das Reich Gottes in der Heiligungstheologie Th.Jellinghaus' Formale Konsequenzen Christologische Implikationen Anthropologische Implikatioen Rechtfertigung und Heiligung - der Heils weg 1. Die Heilsannahme 2. Der Gnadenstand 3. Das Stufenschema Die inhaltliche Unterscheidung der Stufen Die Aneignung der Heiligungskräfte Jesu Das Erreichen der zweiten Stufe Der Heiligungsglaube der zweiten Stufe Das Beharren auf der zweiten Stufe Die Heiligungsgewißheit Ekklesiologische Implikationen Implikationen des heilsgeschichtlichen Konzepts Implikationen für den Gebrauch der Bibel Implikationen fur die Wahrnehmung der Wirklichkeit VII. Zur „Theologie der Gemeinschaftsbewegung" VIII. Quellen-und Literaturverzeichnis IX. Anhang: Ausgewählte Quellen 1. Kriterien der Auswahl 2. Zur Quellenlage 3. Quellen

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Nr. 1 Auszüge aus dem Bericht des Missionsdirektors Johannes Wangemann über „Pearsall Smith" und die Versammlungen zu Brighton in ihrer Bedeutung fur Deutschland" von 1876

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Nr. 2 Theodorjellinghaus, Die Heiligungskraft des Blutes Jesu. Rede bei den Oktober· Versammlungen zu Gernsbach 1878

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Nr. 3 Jasper von Oertzen, Kirche und Gemeinschaft, 1880

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Nr. 4 Vertrauliche Mitteilungen Nr. 1. Entwurf einer Einladung zu einer freien (Konferenz christlicher Männer aus ganz Deutschland von 1886

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Nr. 5 Einladung zu einer freien Konferenz christlicher Männer aus allen LandeskirchenDeutschlands(undderdeutschenSchweiz)inBerlin.27.28.29.Sept.l887 . .

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Nr. 6 Auszüge aus dem Protokollbuch desjohanneum in Barmen 1. Fünfte Sitzung vom 11. Januar 1887 2. Sitzung der General Conferenz (des Deutschen Evangelisationsvereins) imjohanneum, 13. u. 14. April 1887 3. Sitzung vom 13. Dezember 1887

238

Nr. 7 Theodor Christlieb, Die Bildung evangelistisch begabter Männer zum Gehilfendienst am Wort und dessen Angliederung an den Organismus der Kirche. Vortrag vom 9. August 1888

247

Nr. 8 Das Gästebuch des Wiesbadener Pfarrers Theodor Ziemendorff

274

Nr. 9 Die Beziehungen der Vertreter des süddeutschen Pietismus

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Nr. 10 Die Beziehungen der Vertreter des norddeutschen Pietismus

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Nr. 11 Arbeitszusammenhänge der Süddeutschen und Norddeutschen

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X . Register Namenregister Sachregister

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I. Einleitung ί. Vorbemerkung Der Gegenstand dieser Untersuchung kann nicht als allgemein bekannt vorausgesetzt werden. Auch Kirchengeschichtler von Profession verbinden meist nur vage Vorstellungen mit dem Begriff „Gemeinschaftsbewegung". Es gibt keine befriedigende Kurzauskunft, die an dieser Stelle eingebracht werden könnte. Der Blick in die neueren übergreifenden Darstellungen der Kirchengeschichte entspricht diesem Befund. Im Grundriß von Kurt Dietrich Schmidt bleibt die Erwähnung der Gemeinschaftsbewegung marginal 1 , in der gerafften Darstellung der Kirchengeschichte der Neuzeit von Hans-Walter Krumwiede 2 fehlt sie ebenso wie in Bernd Moeliers „Geschichte des Christentums in Grundzügen" 3 , der „Oekumenischen Kirchengeschichte" 4 , Ekkehard Mühlenbergs „Epochen der Kirchengeschichte" 5 und Martin Greschats Darstellung des 19. Jahrhunderts6. Auch in Kurt Alands „Geschichte der Christenheit" vermißt man die Behandlung der Gemeinschaftsbewegung 7 . Erst in dem thematisch auf das 19. und 20. Jahrhundert eingegrenzten Beitrag Karl Kupischs zum Handbuch „Die Kirche in ihrer Geschichte" findet man unter der Überschrift „Evangelisation und Erweckung" einen Überblick über die Gemeinschaftsbewegung und ihre Vorgeschichte. 8 Kupisch ordnet sie ein in den Zusammenhang zunehmender Unkirchlichkeit 1 Kurt Dietrich Schmidt, Grundriß der Kirchengeschichte. 4. (= 3.) Auflage, Göttingen 1969, s. S. 489 u. 519. 2 Hans-Walter Krumwiede, Geschichte des Christentums III. Neuzeit: 17. bis 20. Jahrhundert. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1977. Ebenfalls Fehlanzeige in: Hans-Walter Krumwiede, Martin Greschat, Manfred Jacobs, Andreas Lindt, Neuzeit. 2. Teil: 1870-1975. In: Kirchenund Theologiegeschichte in Quellen. Ein Arbeitsbuch von Heiko A. Oberman, Adolf Martin Ritter und Hans-Walter Krumwiede. Neukirchen 1980. 3 Bernd Moeller, Geschichte des Christentums in Grundzügen. 2. völlig neu bearbeitete Auflage. Göttingen 1979, S. 358. 4 Raymund Kottje und Bernd Moeller (Hrsg.), Oekumenische Kirchengeschichte, Bd. III: Neuzeit. 2. durchges. und verb. Auflage. Mainz/München 1979. 5 Ekkehard Mühlenberg, Epochen der Kirchengeschichte, Heidelberg 1980. 6 Martin Greschat, Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne. (Christentum und Gesellschaft, Bd. 11). Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1980. 7 Kurt Aland, Geschichte der Christenheit, Bd. II. Von der Reformation bis in die Gegenwart. Gütersloh 1982. Immerhin wird im Zusammenhang mit der Inneren Mission das Umfeld der Gemeinschaftsbewegung erwähnt, S. 311. 8 Karl Kupisch, Die deutschen Landeskirchen im 19. und 20. Jahrhundert (Die Kirche in ihrer Geschichte, Bd. 4. Lieferung R, 2. Teil), Göttingen 1966, 84-87.

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der Bevölkerung und Unfähigkeit der Kirche, dieser zu begegnen. Als Voraussetzung nennt er die im angelsächsischen Raum entstandene Verkündigungsform der „Evangelisation", an die die Gemeinschaftsbewegung angeknüpft habe. Zur direkten Vorgeschichte zählt er die 1874/75 entstandene Evangelisationsbewegung in Oxford und Keswick. An ihr hätten Vertreter des deutschen Pietismus 9 teilgenommen, und deren Versuche, die dort empfangenen Anregungen auch in Deutschland fruchtbar zu machen, seien dann seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgreich gewesen. 1 0 Oft „unter Neubelebung älterer pietistischer Gruppen" sei es zur Bildung von Gemeinschaften gekommen, die sich innerhalb und außerhalb der Landeskirchen organisiert hätten. 11 „Sozial gesehen wurden von ihr meist nur die mittleren Schichten der Bevölkerung erreicht, nicht zum wenigsten solche, die in der Landeskirche wirkliche Gemeinschaft vermißten. Es steht aber außer Frage, daß durch die großen Evangelisationsveranstaltungen und den intimeren Charakter des Lebens in den Gemeinschaften selbst und der dort gepflegten Seelsorge zahllose Menschen zum Glauben und zu einem bekennerhaften Christentum kamen." 1 2 Als „tiefe Krisis" der Gemeinschaftsbewegung fuhrt Kupisch die Auseinandersetzung mit der Pfingstbewegung und ihrer Anschauung von der Heiligung des Christen an. Insgesamt sieht er in der Gemeinschaftsbewegung eine „Erweckung", die ihre tiefste Wirkung auf die evangelische Jugendarbeit (Christlicher Verein Junger Männer, Schüler-Bibel-Kreise, Deutsche Christliche Studentenvereinigung) gehabt habe. 13 Diese Annäherung an das Thema „Gemeinschaftsbewegung" mit den Orientierungsdaten letztes Viertel des 19. Jahrhunderts als Entstehungszeitraum, angelsächsische Einflüsse, Evangelisation und Gemeinschaftsbildung soll noch in einer anderen Richtung vertieft werden, die auch schon bei Kupisch angeklungen ist, die Verbindung zum Pietismus. Der Nestor der deutschen Pietismusforschung nach dem zweiten Weltkrieg, Martin 9 Ebd., S. 85; vgl. unten VI. 1. 10 Kupisch ist in der Hinsicht zu korrigieren, daß sich die Versammlungen in Oxford und Keswick an bewußte Christen richteten und ihnen eine Vertiefung in der Heiligung ermöglichen sollten. Sie waren keine Erweckungsversammlungen. Zur gleichen Zeit (1874) hielten aber in Schottland und Irland die amerikanischen Laien-Evangelisten Dwight Lyman Moody und Ira D. Sankey große Versammlungen ab, die eine Erweckung auslösten. Auf die unzulässige Vermischung dieser beiden Veranstaltungsreihen weist schon F. Fabri hin (Zum Neuen Jahre, S. 15, Anm.). Eine differenzierte Darstellung der „Segenstage von Oxford" fehlt noch und kann im Rahmen dieser Arbeit auch nicht geboten werden; vgl. aber unten VI, 1. 11 Kupisch, a . a . O . , S.86. 12 Ebd. Die Materialbasis fur dieses Urteil Kupischs liefert die von ihm angegebene Literatur nicht. Es dürfte überhaupt schwierig sein, ausreichende Quellen für eine sozialgeschichtliche Beurteilung der Gemeinschaftsbewegung zu gewinnen. Ansatzpunkte wären immerhin die Personalakten der Ausbildungsstätten fur Prediger und Evangelisten, gelegentlich auftauchende Listen der Teilnehmer von Konferenzen und ggf. alte Mitgliederlisten der Gemeinschaften. 13 Ebd. Vgl. auch Kupischs Darstellungen der Geschichte des C V J M und der D C S V , s. Literaturverzeichnis.

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Schmidt, ordnet die Gemeinschaftsbewegung in seiner knappen Darstellung des Pietismus als „Neupietismus" ein, der die Anliegen des alten Pietismus der Barockzeit, vermittelt über die Erweckungsbewegungen zu Anfang des 19. Jahrhunderts, weitervertreten habe. Besonders hebt er die Verbindungslinien zur angelsächsischen Heiligungsbewegung und das zumeist vorherrschende „Mißtrauen gegen wissenschaftliche Theologie" hervor. 1 4 Mit dem Verweis auf den Zusammenhang mit dem Barockpietismus lassen sich die Orientierungsdaten ergänzen u m die Stichworte: Glaube an die unbedingte Autorität der ganzen Bibel, Bekehrung, Wiedergeburt und Heiligung. 1 5 Neben dieser groben zeitlichen und theologiegeschichtlich-thematischen Einordnung der Gemeinschaftsbewegung gibt es noch einen anderen, naheliegenden Weg der Annäherung: die Frage nach der Gemeinschaftsbewegung heute. Gibt es sie noch und wenn ja, in welcher Gestalt? Die Gemeinschaftsbewegung heute wird vornehmlich durch den Gnadauer Verband repräsentiert, in dem fast dreißig Gemeinschaftsverbände zusammengeschlossen sind. 1 6 Die Mitgliederzahl wird auf etwa 300 000 geschätzt. Die Zentren liegen in den traditionellen Erweckungsgebieten Württemberg, Siegerland und Wuppertal. Mit dem Gnadauer Verband steht zum Beispiel die „Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium" (seit 1966) 1 7 in enger Arbeitsgemeinschaft. Sie kennt kein festes Mitgliedschaftsverhältnis und ist besonders durch die Gegenveranstaltung zum „Deutschen Evangelischen Kirchentag", dem „Gemeindetag unter dem Wort" hervorgetreten. Der Protest gegen Rudolf Bultmanns „Entmythologisierungsprog r a m m " gehört ebenso zu den Themen der neuen Gemeinschaftsbewegung 14 Martin Schmidt, Pietismus. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1972, S. 155 f. So auch Erich Beyreuther, Kirche in Bewegung. Geschichte der Evangelisation und Volksmission. (Studien für Evangelisation und Volksmission 7), Berlin 1972, S. 184. In der Tat gibt es in den Biographien der Theologen der Gemeinschaftsbewegung so etwas wie ein Grundmuster: Die Enttäuschung über die Theologie während des Studiums und der Bruch mit ihr nach bestandenem 2. Examen (also nach der Sicherung einer bürgerlichen Existenz im Pfarrerberuf). Oft haben sie durch Laien die entscheidende geistliche Umkehrerfahrung gemacht. Vgl. die entsprechenden Passagen in den Biographien von Samuel Keller, Heinrich Dallmeyer, Theodor Haarbeck, Walter Michaelis, Jonathan Paul, Ernst Modersohn und Otto Stockmayer. So auchj. Schneider, Das Neue Testament in der Frömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung, S. 17f. Zur methodischen Orientierung: E. Hoerning, Art. Biographie, Biographieforschung. In: E K L 3 , Bd. I, Göttingen 1985, Sp 504-507. 15 Die Stichworte ließen sich leicht erweitern und haben in dieser Form nur die Aufgabe, den gegebenen Zusammenhang anzuzeigen. Wie problematisch der allgemeine Verweis auf den Pietismus dann im einzelnen ist, dazu vgl. unten. Vor gleichen Schwierigkeiten steht z . B . auch die Näherbestimmung des Begriffs „Fundamentalismus"; vgl. J. Barr, Fundamentalismus. München 1981, bes. S. 25-30 und die „Einführung in die deutsche Ausgabe" von G. Sauter, S. 9-23. 16 Vgl. ferner. Werner Paschko, Art. Gemeinschaftsbewegung. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 200-204 und Kurt Heimbucher, Art. Gnadauer Verband. Ebd. S. 212. 17 Vgl. Hartmut Stratmann, Kein anderes Evangelium. Geist und Geschichte der neuen Bekenntnisbewegung. Hamburg 1970. Über die aktuellen Vorgänge in der Gemeinschaftsbewegung informiert seit 1973 der Informationsdienst der Evangelischen Allianz (idea), Wetzlar.

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wie die kritische Haltung zum Oekumenischen Rat der Kirchen in Genf. Die seit etwa fünfzehn Jahren gebräuchliche Selbstbezeichnung „evangelikal" weist auf den engen Zusammenhang zu verwandten Gruppierungen aus dem angelsächsischen Raum. Diese wenigen Stichworte sollen genügen, um - wiederum nur grob von der Gegenwart her eine Annäherung an die Thematik dieser Untersuchung zu ermöglichen. Auf zwei grundsätzliche Probleme bei der Behandlung des Themas soll noch hingewiesen werden. Die kritische bis ablehnende Haltung in der Gemeinschaftsbewegung gegenüber der theologischen Wissenschaft hat die Verständigung zwischen Gemeinschaftsbewegung und Hochschultheologie sehr erschwert. Die Vermittlungsversuche von der Gemeinschaftsbewegung nahestehenden Theologen wie Hermann Cremer, Adolf Schlatter, Martin Kahler und Karl Heim 1 8 sind, aufs Ganze gesehen, ein Sonderweg geblieben, der weder innerhalb der theologischen Wissenschaft noch in der Gemeinschaftsbewegung als vermittelnde Gesprächsbasis aufgenommen worden ist. Das Interesse der Gemeinschaftsleute war die praxis pietatis und nicht die theologische Durchdringung ihrer Voraussetzungen. Darum ist es auch sicher nicht zufällig, daß in den oben genannten Überblicksdarstellungen die Erwähnung der Gemeinschaftsbewegung fehlt. Beide Seiten sind einander fremd, und Versuche der Verständigung scheitern bis heute oft schon an Verstehensschwierigkeiten: Man hat keine gemeinsame Sprache. Vorurteile der Vertreter der wissenschaftlichen Theologie gegenüber den „unkritischen Pietisten" haben an diesem Prozeß ihren Anteil. Wenn im folgenden der Versuch unternommen wird, die theologischen Voraussetzungen der Gemeinschaftsbewegung zu erfassen und darzustellen, ist das zugleich ein Versuch, für einen künftigen Dialog eine Gesprächsgrundlage zu schaffen. Das andere Problem ist mit dem ersten verbunden und mit dem Begriff „Bewegung" gegeben. 1 9 Einer Bewegung haftet begriffsnotwendig etwas 18 Vgl. die Darstellung und Charakterisierung der „positiv-kirchlichen" Gruppe bei Friedrich Mildenberger, Geschichte der deutschen Evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert. (Theologische Wissenschaft, B d . 10), Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1981, S. 151-166. Mildenberger rechnet auch Reinhold Seeberg dieser G r u p p e zu. Hermann Cremer gab zusammen mit A d o l f Schlatter seit 1897 die „Beiträge zur Förderung christlicher Theologie", das literarische Instrument der „Positiven" heraus. N a c h Cremers T o d (1903) trat Wilhelm Lütgert an seine Stelle. Es wäre aufschlußreich zu untersuchen, wie die Herausgeber mit einzelnen Heften der B F c h T h auf Vorgänge innerhalb der Gemeinschaftsbewegung reagierten und Einfluß zu nehmen suchten. Hier muß der Hinweis genügen, daß während der Auseinandersetzungen zwischen der aufkommenden Pfingstbewegung und der Gemeinschaftsbewegung als Heft 3/1908 von W. Lütgert „Freiheitspredigt und Schwarmgeister in Korinth" und als Heft 3/1909 von demselben „ D i e Irrlehrer der Pastoralbriefe" erschienen. 19 Ü b e r den B e g r i f f „ B e w e g u n g " ist im kirchenhistorischen Kontext noch k a u m reflektiert worden. Im Z u s a m m e n h a n g der Auseinandersetzung mit der .Glaubensbewegung Deutsche Christen' schrieb Karl Barth: „ D e r heilige Geist braucht keine .Bewegungen'. U n d die allermeisten . B e w e g u n g e n ' hat wahrscheinlich der Teufel erfunden." (Karl Barth, Theologische

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Fließendes, Konturloses an. Allerdings ist mit dem aus der Physik entlehnten Hintergrund des Begriffes auch durchaus die Möglichkeit der Gesetzmäßigkeit und der Ordnung gegeben. Ob aber ein solcher .ordnungsgemäßer' Verlauf einer Bewegung gewährleistet ist, entscheidet sich vor allem daran, was der Auslöser, die Kraftquelle der Bewegung ist. Nach diesem movens wird mit der Themenstellung „Vorgeschichte" gefragt. Im Selbstverständnis der Mitglieder ist es klar, daß es sich bei der Gemeinschaftsbewegung um einen vom Geist Gottes gewirkten Aufbruch handelt. Wie kann man aber sachgemäß, mit welchen Kriterien und historographischen Methoden erkunden, ob dieses Urteil zutreffend ist? „Der Geist weht, wo er will" (Joh. 3, 8),- über die subjektive Äußerung eines Individuums hinaus, daß es vom Heiligen Geist erfaßt und getrieben sei und gegebenenfalls noch den Hinweis auf die Früchte seines Tuns wie das Zeugnis der Gemeinschaft, in der es steht, ist keine Materialgrundlage für ein Urteil zu gewinnen. Es ist hinlänglich bekannt, daß solcher Befund vieldeutig bleibt. Die „Bewegung" entzieht sich dem Zugriff, stellt das kritische Instrumentarium des Untersuchenden von vornherein in Frage. Es ist nicht von ungefähr, daß die Gruppen, die im Verlauf der Kirchengeschichte mit dem Begriff „Bewegung" belegt wurden oder ihn auf sich selbst angewendet haben, immer eine kirchen- und theologiekritische Intention hatten. Seien es die mönchisch-asketischen Bewegungen des Mittelalters oder die Bauernbewegungen der Reformationszeit wie die Täuferbewegungen bei Zürich oder Münster, - sie waren neben anderen Motiven von einem starken kirchenkritischen Impuls getrieben. Die Berufung auf das Wirken des Geistes Gottes ist solchen Bewegungen gemein. „Geist" kann in diesem Zusammenhang zum Gegenbegriff von „Institution" werden. Bewegung steht leicht im Vorhinein gegen verfaßte Kirche. Für den Gang der Untersuchung ist dieser Aspekt mitzubedenken. 20 Existenz heute!, neu hrsg. v. Hinrich Stoevesandt, ThExh 219, München 1984, S. 81 f.) Zur Charakterisierung von Bewegungen vgl. Herman Nohl, Die Deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme (1911). In: ders., Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankfurt 1949, S. 2838. Positiv faßt Martin Fischer das Verhältnis von Kirche und Bewegung („Lebensbewegungen") in seinem Aufsatz „Die bleibende Bedeutung des Pietismus", in: Ders., Überlegungen... Berlin 1963, S. 239-264. Der nicht minder problematische Begriff „Gemeinschaft" (communio oder congregatio?) wird im Laufe der Untersuchung entfaltet. Siehe unter III, 3, IV, V, VI. Vgl. die allgemein gehaltene knappe Charakterisierung bei Erwin Fahlbusch, Kirchenkunde der Gegenwart (Theologische Wissenschaft, Bd. 9), Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1979, S. 138. 20 Gerhard Ebeling konstatiert für diesen Zusammenhang das noch nicht ausgetragene Problem des Verhältnisses der „Reformation zum Schwärmertum". G. Ebeling, Kirchengeschichte als Auslegung der Heiligen Schrift. In: ders., Wort Gottes und Tradition. Studien zu einer Hermeneutik der Konfessionen. 2. Aufl. Göttingen 1966, S. 20. Die oben beobachtete kirchenkritische Tendenz der „Bewegungen" ergibt sich aus dem Geistbegriff, der eine Unmittelbarkeit zu Gott setzt und damit jeden institutionellen Kirchenbegriff auflöst „überhaupt aus der Geschichtlichkeit in die wesenhafte Unsichtbarkeit" (Ebeling, ebd.). Es ist sicher nicht zufällig, daß zu den Unterzeichnern des Einladungsschreibens zur ersten Gnadauer Konferenz

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Unerledigt ist noch die Frage nach den angemessenen Kriterien und Methoden, wenn der Versuch unternommen wird, die Gemeinschaftsbewegung in ihren Anfängen zu untersuchen. Von der kurz umrissenen Feststellung der Differenz zwischen „Kirche" und „ B e w e g u n g " her legt es sich nicht nahe, Kriterien zu wählen, die systematisch-theologischen Lehrentwürfen von „Kirche" verpflichtet sind. 2 1 Zu leicht käme es zu einer Überfremdung mit nicht angemessenen Kategorien und Theorien, die den Blick fur die Eigenart der „ B e w e g u n g " verstellten. 2 2 Vielmehr wird der Versuch unternommen, die Schwerpunkte der theologischen Betrachtung, wie sie in der Gemeinschaftsbewegung selbst und in der verwandten Allianzbewegung gesetzt worden sind, zur

Rudolf Sohm gehörte. (Beleg: J. Ohlemacher, Quellen, S. 33). Zu den anthropologischen Voraussetzungen des Geistbegriffs vgl. G. Sauter, Geist und Freiheit. Geistvorstellungen und die Erwartung des Geistes. In: EvTh 41. J g . München 1981, S. 212-223. 21 Zur Frage nach dem Ort der Kirchengeschichte als theologischer Disziplin und insbesondere ihrem Verhältnis zur systematischen Theologie vgl. Gerhard Ruhbach, Die Kirchengeschichte. In: Wenzel Lohff, Ferdinand Hahn (Hrsg.), Wissenschaftliche Theologie im Überblick, Göttingen 1974, S. 39-47; und ders., Kirchengeschichte (Studienbücher Theologie), Gütersloh 1974, S. 111-117 (dort auch die wichtigste Literatur). Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung: „In der Wertschätzung der Tradition unterscheidet sich der Kirchenhistoriker insofern vom systematischen Theologen, als er das gesamte vorhegende Quellenmaterial zur Kenntnis nimmt und auslegt, aber nicht von vornherein ausscheidet, was für ihn unbrauchbar erscheint." G. Ruhbach, Kirchengeschichte, S. 115. 22 Auch wenn man die Dominanz eines bestimmten systematisch-theologischen Ansatzes vermeiden will, bleibt die Frage nach der Art der unvermeidlichen Perspektivität jeder Kirchengeschichtsschreibung. Darauf hat nachdrücklich Norbert Brox hingewiesen: Fragen zur „Denkform" der Kirchengeschichtswissenschaft. In: Z K G 90. Bd. (Vierte Folge XXVIII) Heft 1, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1979, S. 1-21. Der Aufsatz beschreibt eher ein Dilemma, als daß er eine Lösung zeigte. - Einen guten Einblick in den Stand der Diskussion der allgemeinen Geschichtswissenschaft bietet Sonderheft 3 von „Geschichte und Gesellschaft": Jürgen Kocka (Hrsg.), Theorien in der Praxis des Historikers. Forschungsbeispiele und ihre Diskussion. Göttingen 1977; s. bes. Jürgen Kocka, Gegenstandsbezogene Theorien in der Geschichtswissenschaft. Schwierigkeiten und Ergebnisse der Diskussion. S. 178-188. Wichtig ist vor allem die Einsicht in die Wechselbeziehung von Gegenstand, Theorie und Methode: Es „muß die Wahl, die Bildung und die Modifizierung der die Untersuchung leitenden Theorien und Begriffe, die Eigenarten des jeweiligen Untersuchungsgegenstandes in Rechnung stellen." Ebd. S. 183. - Zur Problematik des Theoriebegriffs in der Theologie vgl. Gerhard Sauter, Grundzüge einer Wissenschaftstheorie der Theologie. In: G. Sauter, u. a. Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie. Die Theologie und die neuere wissenschaftstheoretische Diskussion. Materialien - Analysen - Entwürfe. München 1973, S. 211-332, bes. S. 260, 299-308, 314f. Einen ähnlichen Ansatz vertritt auch im Zusammenhang eines Überblicks über die neuere Täuferforschung Abraham Friesen: „The only useful approach to the problem . . . is to investigate individuals and movements in depths without prejudice to any,norm' or all-inclusive category, and then compare and contrast these with the others" . . . Social Revolution or Religious Reform? Some Salient Aspects of Anabaptist Historiography. In: Hans-Jürgen Goertz (Hrsg.), Umstrittenes Täufertum, 1525-1975. Neue Forschungen. 2. Aufl. Göttingen 1977, S. 236. Über die offene Methodendiskussion in der Täuferforschung, in der es auch um Bewegungen geht, informiert die Einleitung von H.-J. Görtz, a. a. O . , S. 7-18.

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Grundlage der Systematik dieser Untersuchung zu machen. Die Bewegung wird ,beim Wort' genommen. So ergibt sich zum einen die Frage nach der Rolle der „Väter" im Glauben, die vor allem die Teile II und III bestimmt. Zum andern kommen die einzelnen „Lehrstücke" in den Blick (Teile IV VI), die in Traktaten, populärem Schrifttum und Mitarbeiter-Fortbildungsliteratur ζ. T. bis heute begegnen. Die Begriffe sind häufig unter das Vorzeichen „Implikationen" gesetzt; damit soll von vornherein deutlich gemacht werden, daß die Lehrstücke oft nur indirekt, als stillschweigende Voraussetzungen, ζ. B. im Zusammenhang von Praxisprogrammen vorkommen und nur aus diesen Zusammenhängen erhoben werden können. Über die Berechtigung und Grenzen dieses Verfahrens der Rekonstruktion ist dann im Schlußteil (VII) zu handeln. Da der Standort des Verfassers in dem, was er entdeckt, eine nicht unerhebliche Rolle spielt, 23 soll nicht unerwähnt bleiben, daß er erste Erfahrungen mit dem Christentum solchen Christen verdankt, die in den U m kreis der Gemeinschaftsbewegung gehören. Auch wärend des theologischen Studiums und in der Gemeindearbeit kam es im Zusammengehen wie in der Auseinandersetzung zu Begegnungen mit Vertretern der Gemeinschaftsfrömmigkeit und ihrer Weltsicht. Die aus diesen Begegnungen erwachsenen Erfahrungen schlagen sich auch in der Methode dieser Arbeit nieder. Nach dem Überblick über die Literatur zum Thema, der Formulierung der Aufgabenstellung (Teil I), wird in der Analyse der ersten grundlegenden Texte der Gemeinschaftsbewegung zugleich nach dem Standort der Verfasser dieser Texte gefragt und der Untersuchung ihrer Herkunft, sowohl im Hinblick auf ihren Stand, ihre Bildung, ihre Berufserfahrung als auch besonders im Hinblick auf ihre christliche Prägung, Raum gegeben (Teile II u. III). 24 23 Vgl. die illustrativen Beispiele bei G. Ruhbach, Kirchengeschichte, S. 20-26. N. Brox, a. a. O., S. lOf., dort neuere Literatur. Richard Bergeron fordert ζ. B. vom Konfessionskundler neben einer guten Kenntnis des Bereiches und einer angemessenen Untersuchungsmethode „ein Gespür fur die fundamentalen Einsätze". R. Bergeron, Zu einer theologischen Interpretation der neuen Religionen. In: Concilium, 19. Jg., Η. 1, Zürich, Köln, Mainz 1983, S. 75. 24 Wer im Rahmen von Kirchengeschichte nach den Beweggründen einer christlichen Bewegung fragt, muß zwangsläufig die Glaubenserfahrungen und -prägungen der Menschen, die in ihr stehen, in den Blick nehmen. .Jenseits aller Relativitäten der Geschichte und der irdischen Realität als solcher muß diese Kern- oder Grunderfahrung in ihren verschiedensten Formen das letzte Objekt jeglicher Erforschung des religiösen Phänomens bilden." Peter L. Berger, Der Zwang zur Häresie. Religion in einer pluralistischen Gesellschaft. Frankfurt 1980, S. 67. Solche Untersuchung kommt an die Grenze dessen, was mit Methoden der Geschichtswissenschaft zu erschließen ist, in dem innersten Glaubenserleben, das sich zwischen Mensch und Gott ereignet. Dennoch ist die Untersuchung soweit als möglich zu treiben, und in ihr bleibt der Kirchengeschichtler bei seiner Sache. - Zum Verhältnis von allgemeiner Geschichtswissenschaft zur Kirchengeschichte vgl. Kurt Dietrich Schmidt, Zur Grundlegung der Kirchengeschichte. In: Ders., Gesammelte Aufsätze, hrsg. von Manfred Jacobs, S. 314-325 und G.Ruhbach, Kirchengeschichte. S. 117f.

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Die Ergebnisse der Untersuchung der Texte und Personen werden dann in den Zusammenhang von Entwürfen übergreifender Weltsicht gestellt, in deren Zusammenhang die Vertreter der werdenden Gemeinschaftsbewegung stehen (Teile IV - VI). Den Abschluß bildet der Versuch einer möglichst aspektreichen Beurteilung. 25 Im Anhang werden einige Quellenstükke mitgeteilt, die ζ. T. als Belege für die Untersuchung selbst, ζ. T. aber auch als exemplarische Texte zur Vorgeschichte der Gemeinschaftsbewegung dienen sollen. In den Anmerkungen wird, wo es geboten erscheint, auf Entwicklungen in der Gemeinschaftsbewegung hingewiesen, die den zeitlichen Rahmen der Untersuchung überschreiten. Dieser Versuch, die wirkungsgeschichtlichen Linien auszuziehen, dient nicht nur der Anregung der weiteren Forschung zum Thema, sondern soll vor allem dazu helfen, den hermeneutischen Zirkel, der den überwiegenden Teil der Literatur zum Thema bestimmt und von dem im nächsten Abschnitt zu handeln ist, zu durchbrechen und die dort präjudizierten Ergebnisse wieder in sachgemäße Fragestellungen einzubinden. Der Mangel an Belegen in der zum Thema vorliegenden Literatur wie die Korrektur bisheriger Forschungsergebnisse anhand der Quellen machten es notwendig, den Belegen im Anmerkungsapparat wie in der Darstellung zuweilen breiteren Raum zu geben.

2. Ein Konflikt bestimmt die Literatur zur Geschichte der Gemeinschaftsbewegung. Problemskizze

Das Ereignis, das den archimedischen Punkt der Arbeiten zur Geschichte derGemeinschaftsbewegung bestimmt, istdiel909 vollzogene Trennungvon der Pfingstbewegung. Die Interessen der Geschichtsschreiber sind von zwei Grundintentionen bestimmt: Die einen wollen nachweisen, daß die Pfingstbewegung eine folgerichtige Entwicklung in der Gemeinschaftsbewegung darstelle und das Programm der Gründungszeit in Wahrheit verwirkliche, die anderen betrachten die Pfingstbewegung als eine von außen in die Gemeinschaftsbewegung hineingetragene Störung, die die „Väter" zu Recht ausgeschieden hätten. Da beide Positionen aus ihrer Sicht die Vor- und Frühgeschichte der Gemeinschaftsbewegung je unterschiedlich darstellen, soll der zu Grunde liegende Konflikt noch etwas verdeutlicht werden. Am 15. September 1909 verabschiedeten und unterzeichneten im St. Michaelshospiz in Berlin 56 Männer, zum Teil mit leitenden Funktionen in der Gemeinschaftsbewegung und in der Evangelischen Allianz betraut, eine 25 „Zum Zweck der Interpretation muß der Kirchenhistoriker allen sich anbietenden Methoden offen sein, der pragmatischen, der ideengeschichtlichen usw., keine grundsätzlich ausschließen, aber auch keine grundsätzlich herrschen lassen." Ebeling, a. a. O., S. 15.

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Erklärung gegen die Pfingstbewegung. Sie wollten mit einer klaren Stellungnahme die Gefahr einer Spaltung der Gemeinde Gottes abwehren. 2 6 Die Folge der Erklärung war dann tatsächlich die Spaltung - sofern diese nicht de facto schon vorher vollzogen war. Fortan gab es neben der innerkirchlichen Gemeinschaftsbewegung und der Allianz eine sich getrennt entwickelnde außerkirchliche Pfingstbewegung. 2 7 Von ihren Kritikern ist der Gemeinschaftsbewegung nach 1909 immer wieder zum Vor wurf gemacht worden, sie habe mit dem Ausscheiden der Pfingstbewegung aus ihren Reihen das eigene Programm verraten. Gehörte nicht das Verlangen nach Ausrüstung mit mehr Kraft aus der Höhe, nach neuen Gnadenheimsuchungen des Heiligen Geistes zu den Grundanliegen der Väter der Gemeinschaftsbewegung? 2 8 Implizit haben die Unterzeichner der Berliner Erklärung auf diesen späteren Vorwurf schon geantwortet: „Wir sind darüber klar, daß die Gemeinde Gottes immer wieder erneute Gnadenheimsuchungen des hlg. Geistes erhalten hat und bedarf." 29 Nur sei in der Pfingstbewegung eben nicht der Heilige Geist am Werk sondern Satan. 30 U n d in einer eschatologischen Wendung heißt es am Schluß des argumentierenden Teils der Berliner Erklärung: „ Wir erwarten nicht ein neues Pfingsten; wir warten auf den wiederkommenden Herrn." Im Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Konferenz 1888 liest man: „Es g i l t . . . mit neuen Kräften von Oben ausgerüstet zu werden. Wo Geist ist, da sind auch Kräfte, und w o Kräfte und Gaben von Oben 3 1 sind, da sind auch Wirkungen . . . Wollen wir mit der Kraft des Evangeliums größere Wirkun26 Vgl. die Formulierung im ersten Absatz der „Einladung zur Sitzung am 15. September 1909 in Berlin". In: Ohlemacher, Quellen, S. 105. 27 Christian Hugo Krust, der Geschichtsschreiber der deutschen Pfingstbewegung, setzt den Anfang der Pfingstbewegung mit der Hamburger Konferenz vom 8 . - 1 1 . Dezember 1908 und sieht den entscheidenden Riß zwischen Gemeinschaftsbewegung und aufkommender Pfingstbewegung während der Brieger Woche 1905 entstanden. C. H. Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung. S. 59-64 u. 36-39; vgl. P. Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, S. 77-88, der ebenfalls in der Hamburger Konferenz den Beginn der organisierten Pfingstbewegung sieht. - Entscheidend für die außerkirchliche Stellung ist die Aufhebung der Abendmahlsgemeinschaft mit der Landeskirche, die der geistige Führer der aufkommenden Pfingstbewegung, Jonathan Paul (1853-1931), implizit mit der Verweigerung seiner Unterschrift unter das während der Gnadauer Vorstandssitzung vom 22./23. Oktober 1908 beschlossene Abendmahlsrundschreiben vollzog. Vgl. den handschriftlichen Brief Jonathan Pauls an Walter Michaelis vom 18.2.1909 (Gnadauer Archiv). Das Abendmahlsrundschreiben ist abgedruckt in: J. Ohlemacher, Quellen, S. 73 f. Mit Brief vom 2.11.1909 legte J. Paul seinen Sitz im Gnadauer Vorstand nieder (Gnadauer Archiv). 28 Vgl. die Formulierungen im Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Pfingstkonferenz, in: Ohlemacher, Quellen, S. 27-34, besonders S. 28. Es fuhrt hier zu weit, läßt sich aber leicht belegen, daß die fuhrenden Männer der Gemeinschaftsbewegung zum Beispiel während der Gnadauer Pfingstkonferenzen immer wieder solchen Hoffnungen Ausdruck gaben. 29 Berliner Erklärung vom 15.9.1909. In: Ohlemacher, a.a.O., S. 110. 30 Berliner Erklärung, a.a.O., S. 108. 31 Vgl. Berliner Erklärung: „Die sogenannte Pfingstbewegung ist nicht von oben, sondern von unten", ebd.

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gen erzielen, so ist der Weg hierzu vor allem, uns und Vielen ein reicheres Maß des Geistes und damit auch der Kraft zu erbitten . . , " . 3 2 Ausdrücklich wird dieses Anliegen in den Vordergrund der Einladung gestellt. Zugleich kann man sagen: „die Sache des Reiches Gottes geht auch unter uns voran, mächtiger, denn je in einerfrüheren Zeit. "33 Schon diese wenigen Formulierungen zeigen, daß die Kritiker der Gemeinschaftsbewegung zumindest Anhalt haben, wenn sie auf die Hoffnungen und Zielsetzungen der Anfänge verweisen. Das Programm der Gemeinschaftsbewegung ist in der Tat eng mit der Bitte nach mehr Geistesausrüstung verknüpft. Bis hierher könnte man folgern, daß die hochgesteckten Erwartungen der Anfangszeit nicht durchgehalten werden konnten, auch die Pfmgstbewegung diesen Erwartungen nicht entsprach und insofern eine folgerichtige Entwicklung in der Trennung von ihr vorliege. Diese Einschätzung wird dadurch in Frage gestellt, daß die Unterzeichner der Berliner Erklärung erklären, die Pfingstbewegung sei vom Ausland importiert und stelle gerade kein genuines Produkt der Gemeinschaftsbewegung dar, 3 4 allenfalls hätten bestimmte Mängel innerhalb der Gemeinschaftsbewegung der Bewegung „die Wege geebnet". 3 5 Da die Vertreter der Pfingstbewegung zuvor aber Glieder der Gemeinschaftsbewegung waren oder aus Allianzkreisen stammten, die der Gemeinschaftsbewegung nahestanden, legt sich die Frage dringlich nahe, wie sich denn deren Erwartungen vor Entstehung der Pfingstbewegung zu den in der Pfingstbewegung formulierten Erwartungen verhalten. O b es charakteristische Unterschiede gibt, die die Rede von einem Einbruch von außen rechtfertigen? Die Fragestellung wird vertieft, wenn man feststellt, daß in einem Entwurf zu dem Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Konferenz 3 6 das Verlangen nach vermehrter Geistesausrüstung ganz fehlt. Im Entwurf erwartet man von einem „Meinungsaustausch" angesichts scharfer Gegensätze im Reiche Gottes die Verhinderung von Fehlentwicklungen wie „zur Zeit der ersten Gemeindebildung". „Auch heute gibt es Männer in unserem Vaterlande, welchen der Aufbau des Reiches Jesu Christi hoch über allen menschlichen Parteiungen und Meinungen steht, und darum kann auch das, was in der apostolischen Zeit sich als wirksam erwies, unseren jetzigen Verhältnissen zum Heil und Segen gereichen." 37 Nicht in einem Mehr an geistlichen Gaben sehen die Verfasser des Ent32 Einladungsschreiben, a.a.O., S. 28. 33 Ebd. S. 27. 34 Berliner Erklärung, a. a. Ο., S. 108. 35 Ebd., S. 109. 36 „Vertrauliche Mitteilung Nr. 1. Vorläufiger Entwurf. Einladung zu einer freien Conferenz Christlicher Männer aus ganz Deutschland". Siehe im Anhang Nr.4, und bei Ohlemacher, Quellen, S. 24-26 (Erstveröffentlichung). 37 Anhang, S. 230.

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wurfs das Heilmittel für die bestehenden Mißstände und Aufgaben, sondern in einer Beratung christlicher Männer unter ausdrücklicher Berufung auf die „Grundprincipien" der Reformation, die „der Kirche diejenige Kräftigung verleihen, welche sie gegenüber der immer bewußteren Feindschaft breiter Massen und gegenüber der bedrohlichen Macht Roms in unseren Tagen so dringend bedarf. " 3 8 Hier wird anders gewichtet als im Einladungsschreiben. So tritt neben die bekannte Differenz in der Perspektivität der Literatur zur Gemeinschaftsbewegung noch eine nicht berücksichtigte Differenz in ihren ersten Äußerungen. Die Berücksichtigung beider Differenzen ist für den weiteren Gang der Untersuchung mitbestimmend.

3. Die wichtigste Paul

Literatur

Fleisch

Grundlegend für die Erforschung der Geschichte der Erweckungsbewegung vom Ausgang des 19. Jahrhunderts bis zum ersten Weltkrieg sind die Arbeiten von Paul Fleisch.39 Er hat in mühevoller Kleinarbeit die Literatur der Gemeinschaftsbewegung und Pfingstbewegung gesammelt, gesichtet und ausgewertet. Wann immer es ihm möglich war, hat er ihre Konferenzen besucht und mit mancher der leitenden Gestalten in Briefwechsel gestanden. 40 Bei aller Sympathie für die Gemeinschaftsbewegung und ihre Ziele bewahrte er eine kritische Distanz, die ihn die Entwicklungen der Gemeinschaftsbewegung schärfer sehen ließ, als es den Vertretern derselben oft lieb war. In der zweiten Auflage von „Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland" (1906) nennt er seine Absicht: „Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß mein Buch nicht ein Beitrag zur Bekämpfung, sondern zur historischen Würdigung der Bewegung sein möchte . . . ". 41 Fleisch ist in der dritten Auflage 42 seines Hauptwerkes „Die moderne 38 Ebd. 39 S. im Literaturverzeichnis. 40 Für die Einschätzung seiner Bemühungen sei auf seine Autobiographie, „Erlebte Kirchengeschichte. Erfahrungen in und mit der hannoverschen Landeskirche." Hannover 1952, verwiesen. 41 P. Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. 2. vermehrte und umgearbeitete Auflage, Leipzig 1906, S. IV. 42 Von Seiten der Gemeinschaftsbewegung wurde Fleisch als Vertreter des strengkonfessionalistischen Luthertums empfunden, der von vornherein im Verdacht stand, die überwiegend distanzierte bis ablehnende Haltung der meisten Kirchenregierungen gegenüber der Gemeinschaftsbewegung zu teilen. P. Fleisch konstatierte selbst, daß seine Arbeit „scharf die prinzipielle Unterschiedenheit lutherischer Art von der in den meisten Gemeinschaften herrschenden zeigt, ist nicht zu vermeiden." Die innere Entwicklung der deutschen Gemeinschaftsbewegung in den Jahren 1906 und 1907. Leipzig 1908, S. IV. Vgl. die im ganzen ablehnende Beurteilung von Fleischs Schriften von August Dallmeyer in: Der Reich Gottes Arbeiter, 6, 1909, 37f., 138-140 (hier die Kurzformel, die für Gemein-

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Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Erster Band: Die Geschichte der deutschen Gemeinschaftsbewegung bis zum Auftreten des Zungenredens (1875-1907)", vom „Sturm der Pfingstbewegung", der eine „gänzliche Umgestaltung der Gemeinschaftsbewegung" zur Folge gehabt habe, bestimmt. Er will zeigen, „wie allmählich sich die Konstellation herausbildete, die der Pfingstbewegung vorherging", 43 dies umso mehr, als sich bei den Gemeinschaftsleuten die Neigung bemerklich mache, „die Verantwortung für die verhängnisvolle Pfingstbewegung von sich abzuschieben. " 44 In diesem Sinne sieht er die eigentliche „Vorgeschichte" der Gemeinschaftsbewegung in der Oxforder Heiligungsbewegung und beobachtet von daher konsequent den Gang der Geschichte unter dem Blickwinkel, wie sich die Gemeinschaftsbewegung als Heiligungsbewegung entwickelt habe. Andere Strömungen und Anknüpfungsmöglichkeiten in den verschieden geprägten Erweckungsgebieten werden besonders im Hinblick auf ihre Stellung zur Heiligungsbewegung befragt. In der Darstellung ist seine Gliederung in Vorgeschichte, Anfänge, Entwicklung und Ausbreitung bis 1902, neue Strömungen 1902-1905, die Erweckung von 1905 und ihre Folgen, unwidersprochen geblieben. In den Vorworten der drei Auflagen und in der Beurteilung, die den ersten beiden Auflagen angefügt ist, zeigt sich das Bemühen Fleischs, aus einer ihm bewußten theologisch-kirchlichen Distanz heraus der Bewegung gerecht zu schaftsleute Prägekraft hatte: „Was von .Fleisch' ist, das ist Fleisch" . . . ) und ders. a. a. Ο 10, 1913, S.22f., 70, 154-162 u. 232-236 (Offener Briefwechsel mit P. Fleisch). Daß es neben Ablehnung auch durchaus anerkennende Stimmen gab, belegt u. a. eine Äußerung des Herausgebers der Gemeinschaftszeitschrift „Licht und Leben", Joseph Gauger: „Fleisch ist auch kein solcher Unmensch, daß er sucht, wie er die Gemeinschaftsbewegung erschlage. Er steht auf fremdem Standpunkt, das ist sein Mangel; möchte aber objektiv u. gerecht urteilen, das ist seine Tugend." BriefJ. Gaugers an Walter Michaelis v o m 15.6.1909 (Gnadauer Archiv). Ausgewogen erscheint die Beurteilung des Leiters der württembergischen altpietistischen Gemeinschaften, Christian Dietrich, in einer Rezension zu P. Fleisch, „Die innere Entwicklung der deutschen Gemeinschaftsbewegung im Jahre 1906 und 1907", in dem offiziellen Organ des „Deutschen Verbandes fur evangelische Gemeinschaftspflege und Evangelisation, Philadelphia" 19, 1909, H. 3, S. Vif.: „Pastor Fleisch sieht mit dem Auge des Historikers der Gemeinschaftsbewegung auf die Finger. Er weiß die Schäden und Schwachheiten, die sich da und dort zeigen, wohl zu entdecken und zu beleuchten. So ist sein Buch ein Spiegel fur die Gemeinschaftsbewegung. Sie muß die oft herbe Kritik ertragen, wenn sie demütig genug ist, daraus lernen. Freilich, Pastor Fleisch ist kein Gemeinschaftsmann; er sieht die Bewegung als ein außer ihr Stehender mit den Augen des Lutheraners an, der in der ganzen Bewegung nicht etwas Notwendiges und Dankenswertes sieht, sondern etwas, was die Kirche eben ertragen muß. Wir vermissen bei ihm, daß er für die N o t der Kirche und der Seelen nicht dieselbe tiefe Empfindung hat wie für die Schäden und Schwachheiten der Gemeinschaft. Wenigstens scheint es uns so. Doch solltejeder, der in der Gemeinschaftsbewegung eine verantwortliche Stellung hat, Pastor Fleisch's Kritik lesen und auf sich wirken lassen." 43 tung noch 44

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Vorwort, S. III. In der 2. Auflage ging es Fleisch noch um die Darstellung der Ausbreider Bewegung, und er hat ausdrücklich das Kapitel über die Heiligungsbewegung, das in der 1. Auflage zu finden war, ausgelassen. P. Fleisch, a. a. O . , S. IV. Ebd. S. IV.

werden. 45 Diese Distanz hat dem Sammeln und der Darstellung als solcher wenig geschadet; das Interesse an dem, was gewesen ist, das ihn regierende positivistische Verständnis von Geschichtsschreibung macht seine Arbeiten bis heute zu den detailreichsten, umfangreichsten und somit unentbehrlich. 46 Was am ehesten bei ihm vermißt werden muß, ist die Bereitschaft, die Gemeinschaftsbewegung als eigenständigen Versuch, auch in theologischer Hinsicht, zu sehen, Antworten auf die Herausforderungen ihrer Zeit zu geben. Dieses Defizit hängt allerdings mit der o. g. Distanz zusammen. Die Position Fleischs im Luthertum seiner Zeit hatte für seine theologischen Urteile und Wertungen in bezug auf Vorgänge innerhalb der Gemeinschaftsbewegung natürlich Folgen. Die Auswahl seiner Quellen ist ζ. B. von einem starken Interesse bestimmt, die Differenz der Bewegung zur landeskirchlichen Verfassung herauszustellen; und so sehr er sich bemüht, die Gemeinschaftsbewegung aus ihren eigenen Voraussetzungen zu verstehen, 47 gelingt es ihm doch schwer, bestimmte Züge, die ihr spezifisch eigen sind und die sich in der religiösen Tradition, aus der er stammt, nicht oder in anderer Gewichtung finden, zu würdigen. Dies trifft ζ. B. für die „ReichGottes"-Vorstellungen wie für den Heiligungsernst zu. Auch der Stil der Gemeinschaftsfrömmigkeit mit Gebetsgemeinschaften und der Wortverkündigung durch Laien bleibt ihm fremd. Entschieden ist mit diesen Feststellungen die Frage nach der Berechtigung und ausreichenden Begründung seiner Urteile nicht. Sie müssen jeweils an ihrem Ort geprüft werden. Zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit den Ergebnissen seiner Arbeiten ist es in der Zeit bis zum 1. Weltkrieg innerhalb der Gemeinschaftsbewegung kaum gekommen. Neben dem theologisch-kirchlichen Gegensatz ist für diese mangelnde Rezeption sicher auch die Zusammensetzung der Gemeinschaften aus einer relativ kleinen Anzahl von Mitgliedern mit wissenschaftlicher Vorbildung gegenüber weniger Gebildeten und einer daraus resultierenden spezifischen Lesekultur in Anschlag zu bringen. 47a 45 Vgl. auch das begleitende Vorwort zur 1. Auflage von D. Behrmann: „In dem vorliegenden Werke ist ein Versuch gemacht, die Ursprünge jener Bewegungen darzulegen und nach diesen Ursprüngen und nach ihrer Entwicklung zu beurteilen. Diese Beurteilung geschieht vom Grunde der evangelisch-lutherischen Kirche aus"... 46 Dies gilt, auch wenn Karl Kupischs Urteil, daß „die Schriften von Paul Fleisch . . . veraltet" sind, sicher zutrifft. K. Kupisch, Bürgerliche Frömmigkeit im Wilhelminischen Zeitalter, in: Hans-Joachim Schoeps (Hrsg.), Zeitgeist im Wandel, S. 59. Zur positiven Wertschätzung der Arbeiten Fleischs siehe auch Walter J. Hollenweger, Enthusiastisches Christentum, S. 207u. 216. 47 Vgl. die Inhaltsverzeichnisse der drei Auflagen seiner Geschichte der modernen Gemeinschaftsbewegung . 47 a Für die Rezeption von Literatur spielt die Zugehörigkeit bestimmter Verleger zur Gemeinschaftsbewegung eine ebenso wichtige Rolle wie das „imprimatur" durch die Verfasserschaft anerkannter Führer und Geistesverwandter. Als Grundlage für eine Analyse könnte die „Bibliotheca theologica oder geordnete Ubersicht aller auf dem Gebiet der evangelischen Theologie in Deutschland neu erschienenen Bücher", Göttingen 1848-1898 (begründet und

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Hans von Sauberzweig Den Rang eines offiziösen Geschichtswerks der Gemeinschaftsbewegung nimmt Hans von Sauberzweigs „Er der Meister - wir die Brüder. Geschichte der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung 1888-1958" ein. Von Sauberzweig, selbst Mitglied des Gnadauer Verbandes, hat unter der Prämisse, daß es sich bei der Gemeinschaftsbewegung um einen von Gott gesegneten neuen Aufbruch handele, eine heilsgeschichtlich orientierte Darstellung des Verlaufs der Geschichte der Gemeinschaftsbewegung gegeben. In einem Nachwort unter der Überschrift „Geschichte Gnadaus" macht er seine Position deutlich: „Wir haben versucht, ein möglichst objektives Bild der Geschichte Gnadaus zu geben auf Grund der uns vorliegenden Tatsachenberichte. 48 Darum möge es uns erlaubt sein, ein persönliches, subjektives Zeugnis als Abschluß hinzuzufügen. Der Verfasser bekennt, in den Kreisen der Gemeinschaftsbewegung den Weg zu dem lebendigen, gegenwärtigen Christus und dem in Ihm beschlossenen Heil gefunden zu haben. Noch mehr: Die wertvollsten Anregungen und Anleitungen zur Führung seines Pfarramtes verdankt er der Gemeinschaftsbewegung. Darum ist es sein Herzenswunsch, daß Gott die deutsche Gemeinschaftsbewegung benutzen möge, noch vielen anderen zu demselben Glück zu verhelfen. Möchte dazu auch das vorliegende Buch einen kleinen Beitrag liefern!"

Die werbende Absicht, die im letzten Satz zum Ausdruck kommt, steht zumindest in Spannung zu dem behaupteten Anspruch auf Objektivität und der „Herzenswunsch" hat wohl doch etwas mit der Art der Darstellung zu tun. Wie wenig der Tatsachenbegriff Sauberzweigs etwa damit zur Deckung zu bringen ist, zeigt sich schon daran, daß er fast alle Nachweise für seine Ausführungen schuldig bleibt. Zwar hat er Literatur und Quellen benutzt, aber es wird nicht deutlich, wo und in welcher Weise. Schon wegen dieser Differenz in der Anlage des Werkes scheidet ein direkter Vergleich mit den Arbeiten Fleischs aus. Die Eigenart der Darstellung wird noch einmal ganz deutlich in dem begleitenden Vorwort des langjährigen Vorsitzenden des Gnadauer Verbandes, Hermann Haarbeck: „Gnadau ist nicht aus menschlicher Überlegung, Planung und Organisation entstanden, sondern ist Frucht der Erweckungsbewegungen. - Das Nach-Denken und zuerst herausgegeben von Carl Joh. Fr. W. Ruprecht, später erweitert auch auf internationale Literatur), dienen. Vgl. den Versuch von Rudolf Mohr, Art. Erbauungsliteratur III. Reformations- und Neuzeit. In: T R E , Bd. 10, 1982, S. 51-80. Mohr legt erste Schneisen in das unübersichtliche Gebiet; bes. die Kriterienfrage muß noch weitergeführt werden (S. 71-73). 48 Anders als Fleisch reflektiert Sauberzweig seine eigene Perspektivität nicht. Von dieser ist aber die Verwendung des Tatsachenbegriffs abhängig. Vgl. das unten im Zusammenhang mit dem „Reichsblick" Ausgeführte, IV S. 124. - Es gibt keine „Tatsachen" per se, sondern nur Urteile über Sachverhalte. Zur Perspektivität vgl. Rudolf Vierhaus, Wie erzählt man Geschichte? Die Perspektive des Historiographen. In: Siegfried Quandt und Hans Süssmuth (Hrsg.), Historisches Erzählen. Form und Funktionen. Göttingen 1982, S. 49-56.

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Nach-Erleben dieser reichen Segensgeschichte, die uns in dem vorliegenden Buch ausgebreitet wird, helfe uns zur Stärkung im Glauben, daß unser Herr selbst Seine Gemeinde sammelt, schützt und erhält, und sei uns zugleich verpflichtender Aufruf, von Ihm allein alles Leben zu erwarten. " 4 9

Eine „Segensgeschichte" wird angeboten zur Glaubensstärkung und diese heilsgeschichtliche Vorentscheidung mit seelsorgerlicher Zielsetzung bestimmt in der Tat die Perspektive Sauberzweigs. 50 Dieser Denkrahmen entstammt wie entspricht den ureigensten Anschauungen in der Gemeinschaftsbewegung seit ihren Anfängen. 51 Wer sich in die Mentalität und das Selbstverständnis der Gemeinschaftsbewegung einfühlen will, findet darum bei ihm Anleitung. Im verstehenden Nachvollziehen aus der Position der Entscheidungen des Gnadauer Vorstandes liegt seine Stärke. Kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Position kommt in dem Ansatz Sauberzweigs nicht vor. Gelegentliche selbstkritische Äußerungen erscheinen eher als von der Evidenz der Vorgänge her abgenötigt und haben keine Konsequenzen für die Darstellung. Gegenüber Fleisch bringt er kein grundsätzlich neues Material. Als Mitglied des Gnadauer Vorstands in der DDR standen ihm zwar auch die Vorstandsprotokolle zur Verfügung, es wird aber nicht deutlich, in welcher Weise er sie verwendet. Die Hälfte des über 500 Seiten starken Buches widmet Sauberzweig der Darstellung des Zeitraumes von den Anfängen bis zum ersten Weltkrieg; direkt berühren die Seiten 180 - 213 die Auseinandersetzungen mit der aufkommenden Pfingstbewegung. Sauberzweig beginnt seine Darstellung mit einem kurzen Referat über die ersten anderthalb Jahrtausende der Kirchengeschichte, wobei er in der alten Kirche die Montanisten und in der Reformationszeit Kaspar Schwenckfeld quasi als geistesverwandte Vorläufer der Gemeinschaftsbewegung beson-

49 Hans von Sauberzweig, Er der Meister - Wir die Brüder. S. 499. Genaue Angaben sind nicht möglich. Gelegentlich kann man aus Auflagezahlen in Relation zu den geschätzten Mitgliederzahlen der Gemeinschaftsbewegung (wie ζ. B. im kirchlichen Jahrbuch) auf Verbreitung und damit Lesegewohnheiten schließen. Auch die Analyse der Werbetexte fur Bücher und Broschüren in den Periodika der Gemeinschaftsbewegung lassen gewisse Rückschlüsse auf Leserinteressen zu. Zum zeitgenössischen Lese- und Leserverhalten fehlt es auch fur den nichtreligiösen Bereich der Literatur noch an Untersuchungen. Einige Hinweise: Das Gros der Veröffentlichungen der Gemeinschaftsbewegung liegt bei einem Preisniveau von 0.10-1.50 Mark, wobei zum Teil noch Mengenpreise eingeräumt werden. Eine schon etwas geringere Titelanzahl liegt fur die Preisgruppe bis 2.50 Mark vor. Eine dritte Gruppe geht bis 5 Mark fur Leinwand-Bände, die fur Andachts- und Predigtbücher wie Lebensberichte eingeräumt erscheint. Eine Ausnahme bildet signifikant Theodor Jellinghaus' „Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum", das es bei einem Preis von broschiert 4.80 Mark, gebunden 6 Mark, bis 1903 schon zu fünf Auflagen mit 10.500 Exemplaren gebracht hatte (vgl. den Text der Verlagsanzeige in: Theodor Jellinghaus, Der Brief Pauli an die Römer, S. 324). 50 Zum Begriff und zur Sache der Heilsgeschichte vgl. die immer noch grundlegende Arbeit von Gustav Weth, Die Heilsgeschichte. München 1931. 51 Vgl. unten Kap. IV u. V.

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ders hervorhebt. Die Hälfte dieses Überblicks von 50 Seiten ist dem Frühpietismus und den Erweckungsbewegungen gewidmet. Als unmittelbare Wurzeln der Gemeinschaftsbewegung sieht Sauberzweig auf der Folie eines allgemeinen kirchlich-sittlichen Niedergangs und dem „Wiederaufleben des Rationalismus in der Form des theologischen Liberalismus" 52 neben dem „alten Pietismus und den Erweckungsbewegungen" des 19. Jahrhunderts und der Diasporaarbeit der Brüdergemeine, vor allem die „von Amerika und England herüberkommende Art der Evangelisation". 53 Dann werden die Oxforder Heiligungsversammlungen und die Evangelisationsarbeit des Deutsch-Amerikaners von Schlümbach genannt. Der direkte Vorläufer sei der Evangelisationsverein. Eine Übersicht über die „Väter Gnadaus" steht noch vor der Darstellung der ersten Gnadauer Pfingstkonferenz. Im weiteren Aufbau folgt Sauberzweig Fleisch nicht. In großen Linien werden nach der Darstellung der „Gemeinschaftsbewegung in Gesamtdeutschland" die „Gemeinschaftsbewegung in den einzelnen deutschen Landesteilen" und dann noch „Besondere Werke der Deutschen Gemeinschaftsbewegung" 54 jeweils von ihrer Entstehung bis 1958 dargestellt. Zwar setzt Sauberzweig mit der Darstellung der Mißstände der Zeit ein, bezieht aber im Folgenden die Arbeiten der Gemeinschaftsbewegung nicht mehr auf diese Ausgangssituation. Vielmehr ist er an der Ausgestaltung des corpus der Gemeinschaftsbewegung und seinem Weg interessiert. Die „Welt" kommt nur als Arbeitsfeld in den Blick. Ein Versuch, die theologische Antwort der Gemeinschaftsbewegung auf die Herausforderungen ihrer Zeit darzustellen, fehlt bei Sauberzweig. Ihm ist die praktische Frömmigkeit Antwort genug.

Dieter Lange

Eine dritte Arbeit, die die Geschichte der Gemeinschaftsbewegung (von ihren Anfängen bis zum Jahr 1923) darstellt, liegt in der Jenenser Dissertation (1977) von Dieter Lange vor. 55 Er, selbst Mitglied des Gnadauer Verbandes in der DDR, widmet von den 311 Seiten, die seine Darstellung umfaßt, 226 Seiten der Zeit bis 1910. Auch er hat das Ziel, „in objektiver Weise darzustellen." 56 Die grundsätzlich positive Stellung zur Gemein52 Sauberzweig, a. a. O., S. 760f. 53 Ebd. 54 Sauberzweig, a. a. O., S. 466-496; mit den „besonderen Werken" sind u. a. die Ausbildungsstätten, Missionswerke und Jugendorganisationen gemeint. 55 Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung. Gießen/Dillenburg 1979. Vgl. zum Folgenden meine Rezension in: Theologische Beiträge, 13. Jg., Heft 3,1982, S. 137f. 56 Vorwort, S. 11; implizit kommt dieser Selbstanspruch auch in der Kritik an Paul Fleisch

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schaftsbewegung, die der Verfasser einnimmt und die auch die Art seiner Darstellung beeinflußt, kommt im Vorwort zum Ausdruck: „Aufs Ganze gesehen möchte die Untersuchung ein bescheidener Beitrag sein, um bestehende Mißverständnisse zu beseitigen und Interesse an einer geistlichen Bewegung zu wecken, die auch heute noch ihren besonderen Auftrag in Evangelisation und Gemeinschaftspflege innerhalb unserer Kirche wahrnimmt und zu innerer Festigung des Gemeindelebens einen wesentlichen Beitrag leistet." 57 Der apologetische Charakter, der aus diesen Zeilen spricht, prägt insgesamt die Untersuchung. In der Formulierung „ein Sauberzweig mit Anmerkungen" könnte man Stil und Intention des Verfassers zusammenfassen. In der grundsätzlich positiven Grundhaltung zum „besonderen Auftrag" der Gemeinschaftsbewegung liegt die Grenze dieser Untersuchung. Eine Auseinandersetzung mit gegensätzlichen Einschätzungen findet nicht statt. So fehlt zum Beispiel die Diskussion mit den Ausführungen P. Fleischs, der zwar als der eigentliche Historiker der Gemeinschaftsbewegung gelobt, dem aber im gleichen Atemzug an entscheidender Stelle die Kompetenz abgesprochen wird: „Aufs Ganze gesehen hat aber seine Gemeinschaftschronik, trotz einer Fülle richtiger Beobachtungen über Einzelgeschehnisse, eine zu farblose und einseitige Wirkung. Der Darsteller beurteilt die Gemeinschaftsbewegung von seinem lutherischen Vorverständnis aus und findet damit fiir das zentrale Anliegen der Gemeinschaften, wonach die Gotteskindschaft durch Bekehrung und Wiedergeburt gegeben ist, kein Verständnis. Aus diesem Grunde kommt die Darstellung von Paul Fleisch einer objektiven Wiedergabe der historischen Gegebenheiten nicht in allem nach." 58

Diese Urteile, die in der Arbeit Langes nicht mit Nachweisen ihrer Berechtigung und Richtigkeit erhärtet werden, ersparen dem Verfasser, wie oben gesagt, die Auseinandersetzung mit Fleisch.59 Seine Ausführungen werden bei Lange nur noch illustrativ als Beleg übernommen. Bezeichnend sind bei Lange im Stile der oben zitierten Ausführungen viele Pauschalur-

zum Ausdruck, S. 12. An anderer Stelle heißt das Vorhaben des Autors „Wissenschaftliche Bearbeitung" (S. 14), wobei offen bleibt, was unter „wissenschaftlich" zu verstehen ist. 57 Vorwort, ebd. 58 D. Lange, S. 12. In seiner Beurteilung spiegelt sich die oben in der Einleitung angesprochene Frage nach der angemessenen Theorie und Methode der Kirchengeschichtsschreibung in der Zuspitzung auf die persönliche Glaubenseinstellung des Historikers. Indirekt spricht er jedem, der nicht im Stand der „Gotteskindschaft durch Bekehrung und Wiedergeburt" steht, die Fähigkeit zu einem angemessenen Urteil ab. Es wäre nicht uninteressant zu erfahren, nach welchen Kriterien die rechte Gläubigkeit festgestellt wird. Vgl. Ruhbach, Kirchengeschichte, S. 117. 59 Auch Darstellungen anderer Verfasser, die die Gemeinschaftsbewegung kritisch beurteilen, werden erst gar nicht erwähnt und fehlen auch im Literaturverzeichnis, vgl. Rezension oben Anm. 55.

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teile, die nicht näher belegt werden. 6 0 Dazu kommen unpräzise oder fehlende Zeitangaben und die unkritische Übernahme von früheren Urteilen aus der Literatur der Gemeinschaftsbewegung. 61 Als gravierender Mangel muß vor allem das Fehlen von theologisch eindeutigen Kategorien angesehen werden. Es findet keine Beurteilung in Form einer kritischen Bewertung statt. Trotz dieser Mängel ist die Arbeit Langes zu berücksichtigen. Seine Sicht der Personen und Ereignisse bildet ein geschlossenes Ganzes und repräsentiert selbst Tradition und Wirkungsgeschichte der Gemeinschaftsbewegung . Lange sieht im Anschluß an Thimme zwei Grundlinien, die zur Gemeinschaftsbewegung fuhren. Eine „deutsch-reformatorisch-pietistische" und eine „angelsächsisch-methodistisch-oxforder" Richtung. Eine kritische Sichtung der Vorarbeit Thimmes, die zudem keine historische, sondern eine religionssoziologische sein will, nimmt Lange nicht vor. Damit enthebt er sich wie die anderen vorher genannten Geschichtsschreiber der Gemeinschaftsbewegung der Aufgabe, zu fragen, welche theologischen Implikationen diese Nomenklaturen enthalten und ob diese Kombinationen wirklich zutreffend, wenn überhaupt möglich, sind. Die eigentlichen Anfänge der Gemeinschaftsbewegung liegen dann nach Lange in der Heiligungsbewegung und in vorlaufenden Gemeinschaftsgründungen bis hin zum Evangelisationsverein. 62

Christian Hugo Krust

Wenn auch die Anfänge der Gemeinschaftsbewegung nicht im Zentrum der Arbeit des langjährigen Vorsitzenden des Mülheimer Gemeinschaftsverbandes stehen, ist seine Position doch typisch für eine ganz bestimmte Auffassung, die innerhalb und außerhalb der Gemeinschaftsbewegung gewirkt hat. 6 3 Für Krust ist die Pfingstbewegung ganz eindeutig aus der Gemeinschaftsbewegung hervorgegangen. Beide haben ihre gemeinsame Vorgeschichte in Vollkommenheits- und Heiligungslehre John Wesleys, den Erlebnissen der Geistestaufe bei Charles G. Finney, Asa Mahn und W. E. Boardman, den Oxforder Versammlungen des Robert P. Smith von 1874 und den daran anschließenden Keswick-Konferenzen. Als direkte „Nach60 Vgl. nur S. 26 (3.), 42 (d), 45: „Das stagnierende geistliche Leben in England"; 51: zu Otto Stockmayer: „Er war eine geheiligte Persönlichkeit"... 61 Langes Umgang mit der Literatur kann insgesamt als eklektisch bezeichnet werden. Was ins eigene Bild paßt, wird aufgenommen, was nicht paßt, wird nicht berücksichtigt. 62 Lange, S. 12-14. Vgl. die im Charakter ähnliche Darstellungsweise bei J. Drechsel, Das Gemeindeverständnis in der Deutschen Gemeinschaftsbewegung. Gießen, Basel 1984; auch Drechsel kommt nicht zu einem eigenständigen theologischem Urteil. 63 C. H. Krust, 50 Jahre deutsche Pfingstbewegung. Mülheimer Richtung. Altdorf, o. J. (1958).

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Wirkungen von Oxford und Keswick in Deutschland" werden dann verschiedene Gemeinschaftsgründungen und die Aktivitäten Graf Pücklers in Berlin, Jasper von Oertzens in Schleswig-Holstein, die Evangelisationsarbeit Elias Schrenks, die Gründung des Evangelisationsvereins und des Johanneums durch Theodor Christlieb in Bonn und die erste Gnadauer Konferenz angesehen. 64 In ähnlicher Art wie von Sauberzweig, ohne die Urteile und Zitate zu belegen, verwendet er von den rund 240 Seiten, die seine Darstellung umfaßt (1901-1958), etwas mehr als die Hälfte für die Zeit bis zum 1. Weltkrieg. Seine Beurteilung ist gegenüber den innerhalb der Gemeinschaftsbewegung stehenden Autoren eigenständig. Trotz vieler Einseitigkeiten und Verkürzungen verdient diese Geschichte der Pfingstbewegung wegen ihrer eigenen Sichtweise Beachtung. Eine Schwierigkeit, die die ganze Darstellung durchzieht, liegt in seinem Verständnis von Heilsgeschichte, in dem Menschenwerk und Geisteswerk, unmittelbare Einwirkung „von Oben" und die Kontinuität des Wirkens Gottes in der Geschichte seiner Christenheit einander gegenüberstehen. Im Geleitwort heißt es, „daß diese „Pfingstbewegung" an vielen Orten der Erde, bald da, bald dort, ohne besondere menschliche Vermittlung einfach wie Feuer aufgeflammt i s t . . . ". 6S Der erste Satz der Darstellung lautet dann: „Was wir heute „Deutsche Pfingstbewegung" nennen, ist kein plötzlich entstandenes, geschichtsloses Gebilde." Beide Zitate stammen vom gleichen Verfasser. 66

Hermann

Klemm

Bisher sind geschichtliche Überblicksdarstellungen in den Blick genommen worden. Ihnen muß an die Seite die Biographie Elias Schrenks von Hermann Klemm gestellt werden. 67 Er hat in die Darstellung des Lebensganges dieser einen prägenden Figur der Gemeinschaftsbewegung so vielfältiges Material einbezogen, daß man sein Buch getrost als ein Schlüsselwerk für die weitere Erforschung dieser letzten deutschen Erweckungsbewegung bezeichnen darf. 68 Im ausfuhrlichen Anmerkungsteil finden sich wie in keinem anderen Werk zum Gegenstand reiche Angaben über Personen und Ereignisse, besonders auch über die Beziehungen der Personen untereinan64 Krust, a.a.O., S. 29-31. 65 Ders., a.a.O., S. 13. 66 Diese Anlage der Argumentation, Beurteilung und Darstellung auf zwei Ebenen liegt, wie zu zeigen sein wird, in der Konsequenz des Denkrahmens, der in der Gemeinschaftsbewegung (und nicht nur hier) vorherrschend ist. 67 H. Klemm, Elias Schrenk. Der Weg eines Evangelisten. Hrsg. durch das Elias SchrenkInstitut. Wuppertal 1971. 68 K. Kupisch, a. a. O, S. 59, attestiert Klemm, daß er einen „auch historisch zuverlässigen Überblick über die Bewegung" gebe.

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der, belegt. Es hängt sicher mit der ungewöhnlich vielgestaltigen christlichen „Karriere" Schrenks zusammen, daß Klemm ein so materialreiches Buch vorlegt. Aber er hat die zum Teil schwierig zu erhellenden Zusammenhänge und Hintergründe einer außergewöhnlichen Kenntnis ζ. T. entlegener Literatur in übersichtlicher Weise dargestellt und das eigene Urteil, wenn auch mit großer Sympathie für Schrenk, nicht zurückgehalten. Für die Geschichte der Anfänge der Gemeinschaftsbewegung ist diese Biographie so ertragreich, weil Schrenk schon in dem, was man als ihre Vorgeschichte bezeichnen kann, mit vielen der Anreger und fuhrenden Gestalten entweder befreundet war oder in Arbeitskontakt mit ihnen stand. In der Perspektive dieser Biographie liegen die Anfänge der Gemeinschaftsbewegung in dem Zusammentreffen kräftiger Anregungen zur Evangelisationsarbeit aus dem angelsächsischen Raum mit Elementen des württembergischen Pietismus und der Heiligungsbewegung. Entscheidend sind fur Klemm die großen Führerpersönlichkeiten. Die Lebensspanne Schrenks von 1831 bis 1913 wie seine Wirksamkeit in fast ganz Deutschland und der Schweiz umfassen zeitlich wie räumlich den Wirkungsbereich der Anfänge der Gemeinschaftsbewegung. Mit der Konzentration auf den Werdegang Elias Schrenks entgeht Klemm der Engfuhrung auf die Entscheidung im Zusammenhang der Berliner Erklärung. In derselben Konzentration liegt aber auch die Grenze der Verwendbarkeit des Buches im Rahmen dieser Untersuchung. Schrenk steht - wie zu zeigen sein wird - in einer der mehreren Traditionslinien, die in der Gemeinschaftsbewegung zusammenlaufen. So erfaßt Klemm nicht das Ganze, sondern nur einen - wenn auch wesentlichen - Ausschnitt ihrer Geschichte. Eine Fundgrube sind die sorgfältig erstellten Register (Personen, Orte, Sachen) und die Literaturverzeichnisse. 69

4. Was ist die Der Ertrag und die Probleme des

Gemeinschaftsbewegung?

Forschungsstandes

Versucht man, einen ersten Überblick über die genannte Literatur auf einen Nenner zu bringen, läßt sich sagen, daß die Gemeinschaftsbewegung mit unterschiedlichen Akzentsetzungen als das Zusammenwirken verschiedener Kräfte bezeichnet wird. Genannt werden: a) die pietistischen Gemeinschaften, die auf den Barockpietismus zurück-

69 Neben den genannten Untersuchungen sind auch noch die Arbeiten von P. Scharpff, D. Brockes, L. Tiesmeyer, E. v. Eicken, L. Thimme, K. Reuber, W. Michaelis, K. KupischundE. Beyreuther (Titel siehe im Literaturverzeichnis) zu nennen, die aber entweder nur Teilaspekte behandeln oder gegenüber den genannten keine wesentlich neuen Einsichten bieten.

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gehen und sich besonders in Württemberg und am Niederrhein bis ins 19. Jahrhundert als „die Stillen im Lande" erhalten hatten; b) Anknüpfung an die Erweckungsbewegungen in verschiedenen Teilen Deutschlands in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts; c) der Einfluß der angelsächsischen Evangelisationsmethoden; d) der Einfluß der angelsächsischen Heiligungsbewegung; e) Aufnahme einer enthusiastisch-eschatologischen Strömung, die sich an die Wirksamkeit des älteren Blumhardt anschloß; f) Aufnahme von Ideen Wicherns zur Volksmission und Evangelisation; g) die Diasporaarbeit der Brüdergemeine und h) neue Erweckungen im Vorfeld der aufkommenden Gemeinschaftsbewegung. Dieser Differenzierung gegenüber erscheint die zusammenfassende Formulierung H. Brandenburgs zu pauschal: „Die moderne Gestalt des Pietismus wird im deutschen Sprachgebiet Gemeinschaftsbewegung genannt." 7 0 Doch markiert sie die Fragestellung, ob und inwiefern all diesen unterschiedlichen Strömungen etwas Gemeinsames anhaftet; denn immerhin ist— das kann man aus dem Rückblick sagen - tatsächlich eine vieltausendköpfige, gutorganisierte Gruppierung in Deutschland und darüber hinaus auch in der Schweiz und in Österreich entstanden, die mit dem einen Begriff „Gemeinschaftsbewegung" bezeichnet wird. Was konnte die Vielen in den verschieden geprägten Gebieten einen (und wer blieb u. U . draußen vor)? Gleich welche Kombination aus den oben genannten „Kräften" von den Autoren gewählt wird - sie ist problematisch; denn den Pietismus und die Erweckungsbewegung gibt es einer begrifflichen Reinkultur entsprechend nicht. Ganz unabhängig von dem, was in der Forschung als „gültig" anerkannt ist, kann man sagen, daß die Pietismusforschung der letzten Jahre gerade die Vielgestaltigkeit des Phänomens „Pietismus" unterstrichen hat; 71 auch fur die Erweckungsbewegungen im Anschluß an die Befreiungskriege gilt das. 7 2 Zur angelsächsischen Heiligungsbewegung gibt es nur anfangsweise Versuche von Fleisch und Hadorn. 7 3 Es fehlen noch systematisch70 H. Brandenburg, Artikel Pfingstbewegung. In: RGG V, 3. Aufl., Spalte 163. 71 Vgl. die Beiträge in den Jahrbüchern zur Geschichte des neueren Protestantismus „Pietismus und Neuzeit", Bände 1-3, Bielefeld 1974ff., Band 4ff., Göttingen 1979ff. 72 Vgl.: E. Beyreuther, Die Erweckungsbewegung. (Die Kirche in ihrer Geschichte. Bd. 4, 1). Göttingen 1963. F. Kantzenbach, Der Weg zur evang. Kirche vom 19. zum 20. Jhdt. Gütersloh 1968. 73 Fleisch, Zur Geschichte der Heiligungsbewegung. 1. Heft: Die Heiligungsbewegung von Wesley bis Boardman. Leipzig 1910. - Die geplante Fortsetzung, Vorwort S. 4, ist nicht erschienen. Es existiert lediglich ein maschinenschriftliches Manuskript Fleischs „Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxford 1874 bis zur Oxfordgruppenbewegung Frank Buchmanns." o. J. Walter Hadorn, Die Heiligung mit besonderer Berücksichtigung der Heiligungsbewegung und ihrer Geschichte bis in die Gegenwart. 2. Aufl. Neukirchen o. J. (1. Aufl., Neukirchen 1902).

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theologische und kirchengeschichtliche Untersuchungen, besonders auch territorial-kirchengeschichtliche, die zeigen könnten, welche Ausprägungen die Heiligungsschriften und Versammlungen bewirkt haben. 74 Ähnlich unabgeschlossen sieht es für die Einflüsse Wicherns, Blumhardts und der Brüdergemeine aus. Solange man nicht genauer weiß, was man inhaltlich miteinander verbindet, bleiben die möglichen Kombinationen in ihrer Aussage beliebig. Auch ein anderer Weg zur näheren Bestimmung der Eigenart der Gemeinschaftsbewegung fuhrt nicht weiter: Die Anfänge der Gemeinschaftsbewegung werden vor die Folie einer düsteren Schilderung der kirchlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse der Zeit (zweite Hälfte 19. Jahrhundert, Stichworte: Industrialisierung, Entkirchlichung der Massen, nicht ausreichende kirchliche Versorgung, antichristliche Agitation eines aggressiven Sozialismus/Kommunismus, blanker Materialismus der Gründerjahre etc.) gestellt, 75 damit wenigstens klar wird, wogegen die Initiatoren gemeinsam aufgebrochen sind. Es wird quasi ein Gegenbild errichtet, das jedoch nicht eigentlich die Funktion hat, die religiös-soziokulturelle Aufbruchssituation zu bezeichnen; denn sonst müßte im Gang der Untersuchungen darüber Rechenschaft gegeben werden, inwiefern es denn mit einer gemeinsamen Zielsetzung gelungen ist, die adäquate Antwort auf die Herausforderungen der Zeit zu geben. Das aber unterbleibt. Im Fortgang interessiert nur die „innere" Geschichte. Allenfalls kommt noch die „Kirche" in den Blick, wenn es um Konflikte mit ihr geht, oder man eine Bestätigung für die eigene Einschätzung von Kirche und Theologie finden will. Mit anderen Worten, die Geschichtsschreibung zur Gemeinschaftsbewegung beschränkt sich im wesentlichen auf die Darstellung der inneren Entwicklung ohne Berücksichtigung der synchronen Zeitereignisse und konkurrierenden Unternehmungen, die Probleme der Zeit in Angriff zu nehmen. 76 Es bleibt bei einer Verhältnisbestimmung zu sich selbst, bei der Beschreibung der „Ausbreitung", der „Organisation" und den Konflikten. 74 Ein lohnendes und überschaubares Aufgabengebiet wäre es zum Beispiel, die jährlichen Heiligungskonferenzen in Gernsbach/Baden zu untersuchen, die seit der 2. Hälfte der 70er Jahre unter der Schirmherrschaft des Barons von Gemmingen (1837-1911) jährlich abgehalten wurden. 75 Vgl. H. v. Sauberzweig, a. a. O., S. 53-56, 67f., D. Lange, a. a. O., S. 26-29. 76 Inwieweit die vorgestellte Art der Geschichtsschreibung mit dieser Beschränkung einen Reflex auf eine ebensolche Beschränkung innerhalb der Gemeinschaften bzw. der Entwicklung der Gemeinschaftsbewegung darstellt, soll hier schon einmal als Fragestellung genannt werden. Im einzelnen nennt Fleisch folgende Anknüpfungsmöglichkeiten fur die Gemeinschaftsbewegung: Die aus der Arbeit der Christentumsgesellschaft in Basel hervorgegangene Ausbildungsanstalt St. Chrischona und die von ihr gegründeten Gemeinschaften (S. 38-42), die vom älteren Blumhardt und seiner Reich-Gottes-Vorstellung herkommenden Reichsbrüder und ihre Gemeinschaftsbildungen (S. 43-53), die auf freikirchliche Anregungen zurückgehenden Gründungen von Gemeinschaften in Berlin (S. 54-57),

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Wenn so resümiert werden muß, daß weder die Traditionen, aus denen die Gemeinschaftsbewegung stammt (und damit auch ihre theologischen Profile) als ausreichend erklärt gelten können, noch ihr praktisches Programm gegenüber den Herausforderungen der Zeit in angemessener Weise dargestellt ist, 77 ergeben sich daraus Forderungen für die eigene Aufgabenstellung. Positiv kann als der bisherige Ertrag der Forschung festgehalten werden, daß die Gemeinschaftsbewegung auf verschiedene und verschiedenartige Traditionen und Einflüsse zurückgeht. Auch über das Gewicht dieser Voraussetzungen gibt es mit unterschiedlicher Akzentsetzung eine ungefähre Verständigung. Nur ist noch ganz ungeklärt, inwiefern aus den Verschiedenheiten ein Gemeinsames werden konnte.

5. Die

Aufgabenstellung

An diesem Punkt setzt das Interesse der vorliegenden Untersuchung ein. Es wird gefragt nach dem, was das Zusammenwirken verschiedener Traditionen ermöglichte. Anders gesagt: Gibt es eine Theologie

der

Gemeinschaftsbewegung?

Der Einsatz für die Untersuchung wird da gewählt, wo zum ersten Mal belegbar wird, daß es Bestrebungen zur Vereinigung verschiedener „Kräfte" gibt. In den Personen, die an solcher Bemühung mitwirken, werden dann auch die Traditionen zu greifen sein, die tatsächlich für eine Vorgeschichte der Gemeinschaftsbewegung zu reklamieren sind. Im engeren Sinne thematisch geht es somit um die unmittelbare Vorgeschichte der ersten Gnadauer Gemeinschaftskonferenz von 1888, an der über einhundert Vertreter verschiedener christlicher Vereine und freier Werke und Organisationen teilnehmen konnten. 78 Wenn es gelingt, den gemeinsamen Nenner zu bestimmen, der es ermöglicht hat, daß aus unterschiedlichen Traditionen die von der älteren Erweckungsbewegung und von Anstößen Johann Hinrich Wicherns bestimmten Gemeinschaften in Schleswig-Holstein (S. 58-62), den reformierten Altpietismus im Siegerland, in Wuppertal, im hessischen Hinterland und in Nassau und Frankfurt (S. 62-66), den südwestdeutschen Altpietismus in Baden, der Pfalz und Rheinhessen-Starkenburg (S. 66-69) und die altpietistischen Gemeinschaften in Württemberg (S. 70-78). 77 So sind die praktischen Arbeiten der Gemeinschaftsbewegung bei P. Fleisch, H. v. Sauberzweig und D. Lange, dargestellt, aber nicht unter der Perspektive, ob mit diesen Werken die Intentionen der Initiatoren der Bewegung durchgehalten worden sind oder wie sich diese gegebenenfalls verändert haben. 78 Vgl. die Einfuhrung in den „Konferenzbericht über die erste Gnadauer Pfingstkonferenz vom 22. - 24. Mai 1888" mit einem Überblick über die Teilnehmer in: Ohlemacher, Quellen, S. 33 f.

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und Intentionen eine Bewegung wurde, könnte damit auch ein neuer Ansatzpunkt für Beurteilung und Darstellung der Gemeinschaftsbewegung und ihrer Geschichte insgesamt gewonnen werden. Ebenso wäre es dann möglich, die adäquate Ebene für den Vergleich mit anderen theologischen Entwürfen zu bestimmen. Die gewählte Aufgabenstellung schließt eine Beschränkung ein. Wenn vor allem nach der Theologie der Gemeinschaftsbewegung im Stadium ihrer Formierung gefragt wird, können das praktische Programm und seine Durchführung schon aus Umfangsgründen nicht mit dargestellt werden, was zugleich auch eine Überschreitung des gesetzten zeitlichen Rahmens bedeutete. Damit fallt einerseits die Überprüfung der praktischen Seite jener herauszuarbeitenden Theologie aus, andererseits spiegelt sich aber in der Weise, wie die Initiatoren der Gemeinschaftsbewegung die „Welt" in den Blick nehmen, schon so viel von der Anlage der späteren praktischen Arbeiten wider, daß die Beschränkung in Kauf zu nehmen ist. 79

79 In den Anmerkungen wird an einigen Stellen auf die praktischen Konsequenzen des theologischen Denkrahmens verwiesen.

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II. Der Entwurf zum Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Konferenz von 1886 1. Die Vorgeschichte zum

Entwurf

D e n Anstoß fur die erste Gnadauer Konferenz sieht P. Fleisch in der Generalversammlung des Evangelisationsvereins i m April 1887. 8 0 Wie aus der Biographie des Grafen Eduard v o n Pückler, die H e d w i g v o n Redern, 8 1 die spätere Schriftleiterin v o n „Auf der Warte" 82 , verfaßt hat, ersichtlich, gab es aber schon i m Herbst 1886 einen Briefwechsel zwischen Jasper v o n Oertzen und v o n Pückler, der einen v o n Pückler verfaßten ersten Entwurf eines Einladungsschreibens zur Folge hatte. H. v. Redern zitiert v o n Oertzen: „Schreibe umgehend einen Aufruf, mit dem wir in die Öffentlichkeit treten. Du mußt die Not der Zeit, des Volkes und der Kirche schildern und den Weg der Hilfe zeigen. Wirf Dich auf die Knie, schreie um Hilfe von oben und laß Deine Feder vom Heiligen Geist leiten. Übrigens wird es mir täglich klarer, daß die Wiederkunft des Herrn viel, viel, viel näher bevorsteht, als wir denken, vielleicht auch, als wir beide ahnen, und daher gilt es die Zeit auszukaufen!" 83 A u f den Entwurf Pücklers reagierte v o n Oertzen: „Carissime. Diesmal sind wir wieder ganz einig, mein lieber, lieber Pückler." (Er hat Pastor Ninck den Entwurf zur Prüfung gegeben und ebenfalls dessen Zustimmung gefunden). „Je länger wir an der Einladung herumdoktern, desto schlechter wird sie. Worauf kommt es denn überhaupt an? Erstens, daß diese Pietistenversammlung endlich stattfindet; zweitens, daß das Langesche Referat gehalten wird; drittens, daß die Evangelisationsfrage einmal öffentlich besprochen, und viertens, die Gemeinschaftsfrage anerkannt wird. Diese vier Hauptpunkte erreichen wir so. Wenn wir uns aber erst über den Wortlaut wirklich einigen wollen, so müssen wir die Versamm-

80 P. Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, 3. Aufl., S. 88. 81 Geboren am 23.4.1866, gestorben am 22.5.1935; vgl. Günter Balders, Artikel Redern, Hedwig von. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 434. 82 Seit 1904 neben dem „Allianzblatt" (1890£f.), das offizielle Organ der deutschen evangelischen Allianz (siehe im Literaturverzeichnis). 83 H. von Redern, Berufen mit Heiligem Ruf. Leben und Dienst des Grafen Eduard von Pückler nach Aufzeichnungen und Briefen. Berlin 1925, S. 71. - Von Redern gibt selten genaue Daten an. Der Herbst 1886 läßt sich aber daraus erschließen, daß sie zum einen mitteilt: „Im Herbst hatte ihm Oertzen geschrieben.. ."(ebd.) und die Einladung dann zum Mai 1887 (s. unten) ergeht.

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lung noch zwei bis drei Jahre hinausschieben. Pückler, Fabri, Christlieb, Oertzen haben feste Schädel, zu ihrer Ehre sei es gesagt. Ich schlage daher vor, daß wir uns hierbei beruhigen und dem Herrn die Sache befehlen." 84 Die Überschrift z u m E n t w u r f des Aufrufs, der von Graf von Bernstorff, J. v. Oertzen und Graf Pückler unterschrieben war, lautet: „Einladung zu einer freien Konferenz christlicher M ä n n e r aus allen Landeskirchen Deutschlands i m Mai 1887 in Berlin." 8 5 D e r i m Gnadauer Archiv erhaltene Abzug des E n t w u r f s mit den handschriftlichen Korrekturen von Oertzens spricht nur v o n einer „Einladung zu einer freien Conferenz christlicher Männer aus ganz Deutschland". 8 6 N a c h den Erinnerungen Walther Alfred Siebeis 87 ging d e m allen eine Begegnung zwischen von Oertzen u n d seinem Vater, Jacob Gustav Siebel, 8 8 in seinem Elternhaus 1886 voraus. D e r Vater „legte es d e m Gastfreund auf Herz und Gewissen, es als einen göttlichen Auftrag zu übernehmen, irgendw o i m Mittelpunkt von Deutschland eine Konferenz als Sammelpunkt für gleichgesinnte innerkirchliche Freunde des Reiches Gottes z u s a m m e n z u r u fen, u m die Weckung u n d Pflege des christlichen Lebens von dort aus anzuregen. Das war die Geburtsstunde der Gnadauer Konferenz und damit der neueren deutschen Gemeinschaftsbewegung. " 8 9 Oertzen habe bald darauf einige Freunde nach H a m b u r g „zu einer vertraulichen Aussprache über obige A n r e g u n g " eingeladen. 9 0 Lange nennt als Teilnehmer dieser Z u s a m m e n kunft: Rektor Dietrich/Stuttgart, Pastor N i n c k / H a m b u r g , Jacob Gustav Siebel/Freudenberg, Professor Christlieb/Bonn, Elias Schrenk/Bern, Friedrich Wolfgang Geß/Basel, Carl Friedrich Wilhelm Pirscher/Brauchitschdorf, Bernstorff/Berlin und Friedrich Fabri/Barmen. 9 1 Inhaltlich ist über diese Konferenz nichts bekannt. D a so für die Zeit der Entstehung der Gnadauer Konferenzen nur mit d e m E n t w u r f des Einladungsschreibens u n d den Unterschriften der drei U n t e r zeichner überprüfbare Daten vorliegen, sollen sie in einem ersten Schritt genauer untersucht werden. 84 H. v. Redern, a. a. O., S. 72. 85 Ebd. 86 Abgedruckt in: Ohlemacher, Quellen, S. 24-26; siehe im Anhang Nr. 5. 87 W. A. Siebel, 40 Jahre Gnadauer Konferenz 1888-1928. Bethel 1928. 88 G. Siebel (1830-1894),Präses des Vereins für Reisepredigt (Siegerland) von 1875-1893. Vgl. Jakob Schmitt, Die Gnade bricht durch. Aus der Geschichte der Erweckungsbewegung im Siegerland, in Wittgenstein und den angrenzenden Gebieten. 3. durchges. Aufl. Gießen und Basel 1958, S. 342-358. W. A. Siebel, a. a. O., S. 1 f., vgl. J. Schmitt, a. a. O., S. 354f. und H. Klemm, Elias Schrenk, S. 570, Anm. 5. 89 W. A. Siebel, a.a.O., S. 4. 90 W. A. Siebel, a.a.O., S.2. 91 D. Lange, a.a.O., S. 79f. (ohne Quellenangabe!). P. Fleisch erwähnt die Konferenz nicht, auch fehlen Hinweise in den Biographien C. Dietrichs und J. von Oertzens, die Lange als Teilnehmer nennt. Immerhin hielt sich E. Schrenk im Januar 1887 in Hamburg auf, vgl. H. Klemm, a. a. O., S. 346 und Anm. 119 ebd.

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2. Der Entwurf-

Analyse

W e l c h e Z i e l e , A b s i c h t e n u n d k o n k r e t e n P l a n u n g e n enthält der erste E n t w u r f ? D e r Verfasser stellt sie in e i n e n Z u s a m m e n h a n g m i t einer A n a l y s e der Zeitlage.92

Die „Zeichen

der

Zeit"

D i e Z e i t ist g e p r ä g t v o n scharfen G e g e n s ä t z e n ! Einerseits die G l e i c h g ü l tigkeit der M a s s e n - andererseits e i n „geistliches E r w a c h e n " i n k l e i n e n u n d größeren Kreisen.93

Die kirchliche

Lage

D i e K i r c h e ist in m e h r f a c h e r W e i s e gefährdet. N a c h a u ß e n h i n steht sie i n d o p p e l t e r Frontstellung; e i n m a l „ g e g e n ü b e r der i m m e r b e w u ß t e r e n F e i n d schaft breiter M a s s e n 9 4 u n d g e g e n ü b e r der b e d r o h l i c h e n M a c h t R o m s . " 9 5 D a s n e u e r w a c h t e geistliche L e b e n ist m i t einer L a i e n b e w e g u n g v e r b u n d e n , die sich „aber z u m T h e i l n o c h n i c h t " in d e n r i c h t i g e n B a h n e n b e w e g t . M a n c h e „Laienprediger (haben sich) in e i n e n b e k l a g e n s w e r t e n G e g e n s a t z z u d e n I n s t i t u t i o n e n der V o l k s k i r c h e d r ä n g e n lassen, o b g l e i c h sie d e r s e l b e n noch a n g e h ö r e n . 9 6 D a b e i g e h t eine tiefe S e h n s u c h t n a c h einer nicht n u r Die Namen der vermutlichen Teilnehmer können hier vernachlässigt werden. Daß diese Sitzung stattgefunden hat, läßt sich aus einem Hinweis von W. A. Siebel, a.a.O., S. 2, erschließen: „Noch nie habe ich Vater so begeistert von einer Reise heimkehren sehen wie damals." 92 Im folgenden wird der Text (siehe Anmerkung 86) nur noch mit „Entwurf und Seitenzahl zitiert. 93 Entwurf, S. 24. 94 Zum politischen Aufstieg der Sozialdemokratie, die hier gemeint ist, vgl. W. Treue und K. Born, in: Bruno Gebhard, Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. III. In Verbindung mit Karl Erich Born, Max Braubach, Theodor Schieder und Wilhelm Treue, hrsg. von Herbert Grundmann. 8. vollständig neu bearb. Aufl., Stuttgart 1960, S. 300-307. Zur antikirchlichen Agitation in der Arbeiterschaft vgl. K. Kupisch, Zwischen Idealismus und Massendemokratie, Berlin 1955. Zum Empfinden des Bürgertums gegenüber dem Emporkommen des Vierten Standes vgl. Gerhard Ritter, Die Dämonie der Macht. Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit. (= 5. umgearb. Aufl. von: Machtstaat und Utopie), Stuttgart 1947. 95 Die Erfahrung, daß der deutsche Katholizismus gestärkt aus dem Kulturkampf hervorgegangen war, steht hinter dieser Wendung. Die doppelte Frontstellung gegen Sozialismus und Katholizismus entspricht der Haltung des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Beide waren ihm „geborene Gegner Deutschlands". Heinrich Bornkamm, Die Staatsidee im Kulturkampf. In: HZ 170, 1950, S. 288. Vgl. Georg Franz-Willing, Kulturkampf gestern und heute. München 1971, S. 56. 96 Entwurf, S. 24. Woran hier im einzelnen gedacht ist, wird nicht klar gesagt. Aus dem 37

ideellen, sondern auch thatsächlich sich bekundenden Gemeinschaft der Gläubigen durch die Kreise der Erweckten, welche, da ihr nicht in genügender Weise Rechnung getragen wird, oft ungesunde Verhältnisse erzeugt. " 9 7 Die Pfarrerschaft ist geteilt; die einen begünstigen die neue „ B e w e g u n g " oder rufen sie gar hervor - die anderen bekämpfen sie als „revolutionär" oder blicken doch scheel, „weil ungelehrte Leute und Laien ein Zeugnis von Jesus ablegen".98 N a c h innen gibt es also Konflikte durch die Gegensätze zwischen A m t s trägern und Laienpredigern, wohl auch der Amtsträger gegeneinander. Mangelnde Gemeinschaftsangebote der Kirche führen zu Spannungen. Noch gehören manche Laienprediger der Landeskirche an, aber in dieser F o r m u lierung schwingt schon mit, daß es leicht auch eine außerkirchliche Entwicklung geben k a n n . 9 9

Ziele Erklärtes Ziel ist der „ A u f b a u des Reiches Gottes innerhalb der Volkskirche", übergreifender und möglicherweise in einer gewissen Spannung zur ersten Formulierung: „ . . . daß das Reich Gottes sich in Deutschland i m Frieden erbaue. " 1 0 ° Gesamtduktus des Entwurfs geschlossen, scheint es sich um Proselytenmacherei von freikirchlichen Gruppen innerhalb der Landeskirchen zu handeln. Besonders die Heilsarmee, die 1886 in Berlin mit ihrer Arbeit begonnen hatte, wurde in der Presse scharf attackiert. Vgl. auch P. Fleischs kurze Charakterisierung der Wißwässer-Bewegung in Baden, a. a. O., S. 67 f. Adam Wißwässer hatte für seine Gemeinschaften eine gesonderte Abendmahlsfeier eingerichtet. Vgl. auch Erich Beyreuther, Der Weg der evangelischen Allianz in Deutschland. Witten 1969, S. 58. Th. Christlieb, Zur methodistischen Frage in Deutschland, 2. Aufl. Bonn 1882. 97 Ebd. 98 Ebd. „Revolutionär" ist in diesem Zusammenhang ein massiver Ausdruck und wird sonst vor allem auf die Sozialisten angewendet. Hinter diesem Begriff steht das „Trauma" der französischen Revolution. Europa hatte die erste „Volksherrschaft" und den Sturmlauf des Napoleon Bonaparte als einen .Einbruch dämonischer Mächte' in die Staatsordnungen der alten Monarchien erlebt, die als Garanten einer göttlichen Weltordnung galten. Alle weiteren Demokratisierungsversuche standen somit unter Verdacht. Wer als Revolutionär galt, legte sich mit einer göttlich-legitimierten Ordnung an! Daß dieser Anspruch auch für die Ordnung der Kirche galt, hatte die Religionspolitik Friedrich Wilhelms III. deutlich gemacht. Vgl. G. Ruhbach, Die Religionspolitik Friedrich Wilhelms III. von Preußen, in: B. Moeller und G. Ruhbach (Hrsg.), Bleibendes im Wandel der Kirchengeschichte, Tübingen 1973, S. 307-330. Symptomatisch fur die Revolutionsfurcht ist ein Text von Ernst Moritz Arndt im „Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann" (1813), in dem mit Bildern aus der Apokalypse des Johannes Napoleon als Ausgeburt der Hölle vor Augen gemalt wird. Insel-Ausgabe Leipzig, o. J. (1937), S. 20 u. 22. Es muß in diesem Rahmen bei wenigen Hinweisen bleiben. Vgl. die in Anm. 94 aufgeführte Literatur. 99 Hier ist vor allem an die wachsende Allianz-Bewegung zu denken wie an die Möglichkeit der Freikirchen. Vgl. E. Beyreuther, Der Weg der evangelischen Allianz in Deutschland. Witten 1969. 100 Entwurf, S. 24f. Zumindest sind zwei verschiedenartige räumliche Vorstellungen ange-

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Mittel zur Erreichung der Ziele

Es muß unterschieden werden zwischen grundsätzlichen und praktischen Mitteln. Im Rückblick auf die „Grundprincipien der Kirche der Reformation" und die „großen Tage der Reformation" wird die Forderung nach „Mitarbeit aller gläubigen Glieder der Gemeinde beim Aufbau des Reiches Gottes" neben „der Nothwendigkeit und biblischen Begründung eines geordneten Amtes in der Kirche" in Erinnerung gebracht, die seinerzeit erhoben worden sei. „Auch haben sie (die Reformatoren) den Gläubigen nicht zugemuthet, sich unterschiedslos mit allen Namenchristen auf einen Standpunkt zu stellen, sondern, und zwar namentlich Luther, eine Sammlung der Gläubigen innerhalb der Volkskirche energisch gefordert." 101 Die Rück-

sprachen. Vgl. zur Berufung auf die Reformation den Unionsentwurf von Friedrich Wilhelm III in G. Ruhbach (Hrsg), Kirchenunionen im 19. Jahrhundert, 2. Auflage Gütersloh 1968, S. 34f. 101 Rekurriert wird hier auf verschiedene Äußerungen Luthers zum Gemeindeaufbau. Vgl. die Zusammenstellung der entsprechenden Passagen bei P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung2, S. 239-241. Der locus classicus, der sowohl im Frühpietimus wie auch in der weiteren Entwicklung der Gemeinschaftsbewegung immer wieder zur Begründung der eigenen Praxis diente, ist Luthers Äußerung in: „Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes" (1526): „Aber die dritte Weise (des Gottesdienstes), welche die rechte Art der evangelischen Ordnung (an sich) haben sollte, dürfte nicht so öffentlich auf dem Platz unter allerlei Volke geschehen. Sondern diejenigen, die mit Ernst Christen sein wollen und das Evangelium mit der Tat und dem Munde bekennen, müßten sich mit Namen (in eine Liste) einzeichnen und sich etwa in einem Haufen für sich allein versammeln zum Gebet, (die Schrift) zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werke zu üben. In dieser Ordnung könnte man die, welche sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern, ausstoßen oder in den Bann tun nach der Regel Christi Matth. 18, 15 ff. Hier könnte man den Christen auch ein gemeinsames Almosen auferlegen, das man freiwillig gäbe und unter die Armen nach dem Vorbild Paulus austeilte (2. Kor. 9,1). Hier bedurfte es nicht vieler und großer Gesänge. Hier könnte man auch Taufe und Sakrament auf eine kurze feine Weise halten und alles aufs Wort und Gebet und die Beichte richten. Hier müßte man einen guten kurzen Unterricht über das Glaubensbekenntnis, die 10 Gebote und das Vaterunser haben. In Kürze: Wenn man die Menschen und Personen hätte, die mit Ernst Christen zu sein begehrten, die Ordnungen und Regeln dafür wären bald gemacht. Aber ich kann und mag eine solche Gemeinde oder Versammlung noch nicht ordnen oder anrichten. Denn ich habe noch nicht die Menschen und Personen dazu, ebenso sehe ich auch nicht viele, die sich dazu drängen. Kommt's aber dazu, daß ich's tun muß und dazu gedrängt werde, so daß ich's mit gutem Gewissen nicht lassen kann, so will ich das Meine gerne dazu tun und auf das Beste, so wie ich's vermag, helfen. Bis dahin will ich's bei den angeführten zwei Weisen (des Gottesdienstes) bleiben lassen und öffentlich unter dem Volk solchen Gottesdienst über die Predigt hinaus fördern helfen, um die Jugend zu üben und die anderen zum Glauben zu rufen und anzureizen, bis daß sich die Christen, welche das Wort mit Ernst meinen, von selbst finden und auf einer Änderung bestehen (auf daß nicht eine Spaltung draus werde, wenn ich's von mir aus betreiben wollte. Denn wir Deutschen sind ein wildes, rohes, tobendes Volk, mit dem nicht leicht etwas anzufangen ist, es treibe denn die höchste Not)." Zit. nach Kurt Aland (Hrsg.), Luther Deutsch, Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 6: Martin Luther. Kirche und Gemeinde. 2. erw. und neubearb. Aufl., Stuttgart/Göttingen 1966, S. 89f. (= WA 19, 75).

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kehr zu diesen Grundprinzipien wird dem Bedürfnis „der Gläubigen nach Mitarbeit und Gemeinschaft unter einander" abhelfen und zugleich die Kirche in der Bedrohung durch die äußeren Feinde festigen. Das praktische Mittel soll eine „Konferenz, etwa im Monat Mai 1887, in Berlin" bilden. Wie in apostolischen Zeiten „tiefgehende Meinungsverschiedenheiten" behoben wurden, indem man „zu einem Meinungsaustausch" zusammenkam und so Zwietracht überwunden und gefährdeter Friede immer wiederhergestellt wurde, 1 0 2 so sollen jetzt „alle christlichen Männer, denen es ernst damit ist, daß das Reich Gottes sich in Deutschland in Frieden erbaue", aufgefordert werden, zusammenzukommen. Als Mittel zur Beratung der anstehenden Fragen und zur Verständigung wird die „Konferenz" eingesetzt. 103 Die einzuladenden Männer sind in besonderer Weise qualifiziert, das was eine „gedeihliche Fortentwicklung" hindert, aus dem Weg zu räumen. Denn wie in apostolischer Zeit es „den versammelten Männern ernst war, den Willen Gottes zu erforschen", so gibt es auch heute „Männer in unserem Vaterlande, welchen der Aufbau des Reiches Jesu Christi hoch über allen menschlichen Parteiungen und Meinungen steht, und darum kann auch das, was in der apostolischen Zeit sich als wirksam erwies, unseren jetzigen Verhältnissen zum Heil und Segen gereichen. " Als Zweck der Konferenz wird formuliert: „1) Die oben angedeuteten Principien klar zu legen und zu versuchen, ob es nicht mit Gottes Hilfe gelingen möchte, die entstandenen Schwierigkeiten zu beseitigen. 2) Durch gemeinsames Gebet und Pflege brüderlicher Gemeinschaft neue Kraft zu schöpfen für die Reichsgottesarbeit und für die bevorstehenden Kämpfe, die uns nicht erspart bleiben können." 102 Angespielt wird wohl auf die Apostelversammlung, von der in Apostelgeschichte 15 die Rede ist. Das Wunschdenken, das in den Vorstellungen zum Ausdruck kommt, daß in den apostolischen Zeiten jeder Konflikt auf diese Weise hätte beigelegt werden können, steht im Zusammenhang mit einer allgemeinen Hochschätzung der apostolischen Zeiten in der Literatur der Gemeinschaftsbewegung. Für die nicht bereinigten Konflikte vgl. n u r l . Kor. 3,1-4. 18-23. 103 Die „Konferenz" ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Aufkommen des christlichen Vereinswesens ein Instrument der stärker demokratisch strukturierten kirchlichen Organisationen geworden. Sie hat neben den von Kirchenverwaltungsorganen und geistlichem Stand bestimmten Synoden eher den Charakter eines „freien" Zusammenschlusses. Zur Konferenz gehört ein Komitee, das für Organisierung und Durchführung derselben zuständig ist. Eine spezielle Untersuchung der Konferenzen in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts fehlt noch. Zu den Konferenzen der Gemeinschaftsbewegung vgl. Alfred Roth, 50 Jahre Gnadauer Konferenz in ihrem Zusammenhang mit der Geschichte Gnadaus, Gießen 1938. (Im wesentlichen eine Zusammenstellung der Konferenzthemen und Redner). Es sei hier schon daraufhingewiesen, daß im Hinblick auf die Gnadauer Konferenzen sehr auf die Auswahl der Referenten, die Gesprächsfuhrung und die Möglichkeiten, vom Plenum aus in die Aussprachen einzugreifen, geachtet werden muß. Als prägendes Vorbild kann die evangelisch-kirchliche Konferenz, 1852ff. gelten. Vgl. Herrmann Freiherr von der Goltz, Art. Konferenz, evangelisch-kirchliche. In: RE Bd. 103, 1901, S. 662-670. E., Beyreuther, Kirchein Bewegung, S. 110 (Lit.).

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D e m ersten Zweck sollen drei Referate dienen. N u r zu dem ersten hatte der vorgesehene Referent schon zugesagt. 1. Referat: „Die Berechtigung, die Nothwendigkeit und die Grenzen der Laienthätigkeit", Referent: Konsistorialrat Lange. 1 0 4 2. Referat: „Der Segen christlicher Gemeinschaft und die nothwendige Organistion derselben in Stadt und Land", Referent: Superintendent Schmalenbach. 1 0 5 3. Referat: „Was lehrt die heilige Schrift über Heiligung?", Referent: Generalsuperintendent Braun. 1 0 6 Unter dem Stichwort, Specialkonferenzen' wird noch als Thema im Sinne der ersten Zwecksetzung genannt: „Welche Stellung nehmen wir der Bewegung gegenüber ein nach größerer Selbständigkeit der Kirche?" 1 0 7 Ebenfalls unter dem Stichwort .Specialkonferenzen' werden dem zweiten Zweck der Konferenz folgende Themata zugeordnet: „Gebetsversammlungen und Gebetsgemeinschaften. Bibelstunden und Bibelbesprechungen. Die fundamentale Bedeutung des Wortes Gottes für alle Lebensgebiete." 104 Joahnn Peter Lange (1802-1884), Konsistorialrat, hat die Einfuhrung Theodor Christliebs als Universitätsprediger am 25.10.1868 vorgenommen. Lange, in Bonn promoviert, war Prof. für Prakt. Theologie in Zürich 1841-1854 und Bonn 1854-1884, seit 1875 Oberkonsistorialrat. Vgl. A. Rosenkranz, Das Evang. Rheinland . . ., Düsseldorf 1958, S. 293. H. Klemm (Personenregister) erwähnt ihn nicht. Vgl. P. Fleisch, Entwicklung, S. 14. - Immerhin ist zu konstatieren, daß ein Vertreter der Kirchenbehörde das Referat über die Laientätigkeit halten sollte. Auch D. Lange, Eine Bewegung, S. 81, macht keine näheren Angaben. 105 Theodor Schmalenbach (1831-1901), Vertreter der ravensbergischen Erweckung, zu der Zeit Superintendent in Mennighüffen. Schmalenbach tritt nur bei der ersten Gnadauer Konferenz als Redner auf. Das könnte bedeuten, daß er später nicht mehr eingeladen worden ist. Ob eine Differenz im Kirchenverständnis zu den in der Gemeinschaftsbewegung vorherrschenden Ursache fur diese weitere Nichtberücksichtigung Schmalenbachs als Begründung in Frage kommt, kann hier nur als Vermutung geäußert werden. Vgl. Theo Sundermeier, Das Kirchenverständnis in der Ravensberger Erweckungsbewegung. In: Jahrbuch des Vereins für westfälische Kirchengeschichte (hrsg. von Wilhelm Rahe) 53./54. J g . 1960/61, Bethel 1962, S. 117-132. 106 Theodor Braun (1833-1911), Generalsuperintendent der Neumark, stammte aus der ostwestfälischen Erweckung und war mit Friedrich von Bodelschwingh befreundet. Vgl. Ohlemacher, Quellen, S. 18. 107 Uber die unterschiedlichen Motive zur Trennung von Kirche und Staat wie die Haltung des Reichskanzlers Otto von Bismarck und die preußische Kirchenpolitik s. Gerhard Besier, Preussische Kirchenpolitik in der Bismarckära. Die Diskussion in Staat und Evangelischer Kirche um eine Neuordnung der kirchlichen Verhältnisse Preußens zwischen 1866 und 1872. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 49), Berlin, New York 1980; bes. S. 500-505. 536. Rudolf von Thadden bezeichnet die zu starke Obrigkeitsbindung als die „Achillesferse" der evangelischen Kirche im preußischen Staat. In: ders., Kirche im Schatten des Staates. Zur Problematik der evangelischen Kirche in der preußischen Geschichte. In: HansJürgen Puhle u. Hans-Ulrich Wehler, Preußen im Rückblick. (Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft6) Göttingen 1980, S. 146-175.

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Die Abende sollen „geselliger Gemeinschaft gewidmet sein", bei denen dann auch aus den „verschiedenen Arbeitsgebieten" informiert werden soll. Zum Beschluß des Einladungsschreibens werden „auch alle christlichen Frauen, namentlich solche, die mitarbeiten" eingeladen von der Tribüne aus, die Beratungen zu verfolgen, „an den mehr geselligen Zusammenkünften des Abends aber ihre persönliche Theilnahme uns zu schenken".

3. Zwischenergebnis

im Hinblick auf die Verfasser

Überblickt man diese ersten festen Daten, die sich für die Entstehung der Gnadauer Konferenz und der Gemeinschaftsbewegung erheben lassen, so kann man einige Feststellungen treffen, die für den weiteren Gang der Ereignisse nicht ohne Belang sind.

Das Lebensgefuhl und die

Zeitdeutung

Die Zeit drängt, die Wiederkunft des Herrn steht nahe bevor und „daher gilt es die Zeit auszukaufen!" (v. Oertzen). Jetzt ist zugleich Kampf- und Segenszeit. Die Gegensätze verschärfen sich. Die noch gleichgültigen großen Massen werden auch in immer bewußterer Feindschaft vorgestellt und in einem Atemzug mit der „bedrohlichen Macht Roms" genannt. Man braucht Zurüstung „für die bevorstehenden Kämpfe, die uns nicht erspart bleiben können". Auch in der Volkskirche ist Kampf.

Die Position der Verfasser innerhalb der

Volkskirche

Die Verfasser sind und verstehen sich als Mitglieder der Volkskirche. Sie bejahen die Notwendigkeit „eines geordneten Amtes in der Kirche". Allerdings konstatieren sie, daß gegenüber den Tagen der Reformation in der evangelischen Kirche wesentliche Elemente verloren gegangen seien: die aktive Mitarbeit von Laien auch in der Wortverkündigung und eine spezielle Form der Gemeinschaft der Gläubigen. An der Wiedergewinnung dieser verlorengegangenen Elemente wollen die Verfasser mitarbeiten und so zur notwendigen Stärkung der Volkskirche beitragen.

Das Verständnis von

„Gemeinschaft"

Innerhalb der Volkskirche kann und soll es nach Meinung der Verfasser eine besondere „Sammlung der Gläubigen" geben. Schon die Reformatoren hätten es den (wahrhaft) Gläubigen nicht zugemutet, „sich unterschiedslos 42

mit allen Namenchristen auf einen Standpunkt zu stellen". Luther und die Grundprinzipien der Reformation wie „eine tiefe Sehnsucht nach einer nicht nur ideellen, sondern auch thatsächlich sich bekundenden Gemeinschaft der Gläubigen", die durch die „Kreise der Erweckten" geht, werden für die Berechtigung des Anliegens reklamiert. Eine deutliche Unterscheidung zwischen „Erweckten" bzw. „Gläubigen" einerseits und „Namenchristen" andererseits wird vollzogen.

Der Umgang mit der Tradition

Der Rekurs auf die Grundprinzipien der Reformation beschränkt sich auf zwei Anliegen: 1. „die Mitarbeit aller gläubigen Glieder der Gemeinde beim Aufbau des Reiches Gottes" und 2. die „Sammlung der Gläubigen innerhalb der Volkskirche". Ob diese beiden Anliegen zurecht als Grundprinzipien der Reformation bezeichnet werden können, bleibe an dieser Stelle noch unerörtert. Wichtig ist, daß sich die Verfasser auf die reformatorische Tradition berufen und sich dann ihrerseits an ihr messen lassen müssen.

4. Die Herkunft der Verfasser

Es legt sich nahe, die Aussagen, die in dem ersten Entwurf zur Konferenz auf die Erweckten bezogen sind, auch auf die Verfasser anzuwenden: „Christliche Männer aus allerlei Volk haben angefangen, die Befehle des Herrn zur Arbeit in seinem Reiche auch auf sich zu beziehen, und hingenommen von der Herrlichkeit des Berufes, dem Herrn und König des Himmelreiches zu dienen, kennen sie nichts Höheres auf Erden, als ihr Leben in den Dienst ihres Heilandes und Erlösers zu stellen." Sie sind aufjeden Fall die Männer in unserem Vaterlande, welchen der Aufbau des Reiches Jesu Christi hoch über allen menschlichen Parteiungen und Meinungen steht . . . " . In einem nächsten Schritt soll versucht werden, den biographischen Hintergrund und den geistigen Standort der Initiatoren des Entwurfs zu umreißen.

1. Eduard Graf von Pückler108

wurde am 13.9.1853 als Sohn des Grafen Erdmann Pückler und dessen Frau Gräfin Berta Pückler, geborene Gräfin Pückler, in Rogau/Schlesien 108 Der folgende Überblick über den Lebenslauf Eduard von Pücklers ist ganz auf die

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geboren. 109 Nach Unterricht durch einen Hauslehrer auf dem väterlichen Gut und dem Besuch der Ritterakademie in Liegnitz leistete Eduard von Pückler seinen Militärdienst bei Husaren in Bonn und war dort zugleich in der juristischen Fakultät immatrikuliert. 110 1875 hatte er einen schweren Unfall, „daß die Ärzte an seinem Leben verzweifelten. Manche nervösen Erscheinungen in seinem späteren Leben hingen wohl mit diesem Ereignis zusammen. " ι η Nach der Fortsetzung des Studiums in Leipzig absolvierte er das juristische Referendariat in Wiesbaden, Muskau, Görlitz und Berlin. 112 Seine Wendung zu einem aktiven christlichen Leben beschreibt er in der Rückschau so: „Meine Bekehrung fällt in das Jahr 1878, w o ich den HErrn, ich kann sagen, ohne Vermittlung eines Menschen, fand, und zwar durch das Licht, das von den Einsetzungsworten des heiligen Abendmahls ausstrahlte."113 Sofort nach seinem Bekehrungserlebnis übernahm er eine Sonntagsschulgruppe in seiner Kirchengemeinde und setzte diese Tätigkeit auch nach seiner Übersiedlung nach Breslau 1880 fort. 114 Wichtig ist in dieser Zeit der Kontakt zu Eberhard von Rothkirch und Panthen, einem um einJahr älteren Mitschüler von der Ritterakademie.115 1881 zog von Pückler nach Berlin, und „Rothkirch und Pückler traten nun gemeinsam in die 1864 begründete Sonntagsschule in der Oranienstraße ein, an der Graf Bernstorff und der spätere Generalsekretär der Christlichen Vereine junger Männer, Christian Phildius, damals Vorsitzender des „Christlichen Vereins junger Kaufleute" in Berlin, tätig waren und die Graf Andreas Bernstorff mitbeDarstellung Hedwig von Rederns, „Berufen mit heiligem Ruf. Leben und Dienst des Grafen Eduard von Pückler nach Aufzeichnungen und Briefen" angewiesen. Gelegentliche Hinweise an anderen Orten fuhren nicht wesentlich über ihre Darstellung hinaus. Die Biographie wird im folgenden als „Berufen mit heiligem R u f ' zitiert. Vgl. Ulrich von Hassell, Eberhard von Rothkirch und Panthen. Ein Lebensbild nach Briefen und Aufzeichnungen. 2. Aufl. Berlin 1913 passim. Aus der Darstellung der persönlichen Freundschaft von Pücklers mit von Rothkirch ζ. T. mit Briefzitaten belegt - werden die Urteile Hedwig von Rederns bestätigt, vgl. ebd. Register. Ein ausgeschnittener Nachruf von Johannes Kühne „Graf Pückler im Felde" fand sich in dem von mir erworbenen Exemplar der Biographie. Seine Herkunft konnte bisher nicht verifiziert werden. Der Nachruf enthält Tagebuchaufzeichnungen des Autors aus Begegnungen mit v. Pückler in der Zeit von 1914—1917. 109 Berufen mit heiligem Ruf, S. 5. Als Geschwister werden ein zwei Jahre älterer Bruder Max und zwei jüngere Schwestern erwähnt, a. a. Ο., S. 6. Vgl. den Namen von Pückler mehrfach im Gästebuch von W. Ziemendorf, Anhang Nr. 8. 110 Ebd., S. 7, vgl. 9ff., 21 ff. 111 Ebd., S. 25 f., er war von einem Lastwagen überfahren worden. 112 Ebd., S. 26-34. 113 Ebd., S. 35f.; vgl. J. Kühne: „Zwischen allerlei Geplauder sprach er (Pückler) über seine religiöse Entwicklung. „Bei meiner Konfirmation durch Pastor Penzig in Liegnitz bin ich tüchtig angefaßt. Als Student in Leipzig lebte ich im Faust: es ist herrlich, wie er einem (sie!) hungrig macht. Eine Predigt in Leipzig über „Alles ist eitel" hat mich einmal mächtig gepackt. Der Geschichtsschreiber Wolfgang Menzel hat in mir die Überzeugung gefestigt, daß die Völker mit ihrer Religion leben und sterben"." a. a. O., S. 139f. 114 Berufen mit heiligem Ruf, S. 37, 39. 115 Vgl. obenAnm. 108, Berufen mit heiligem Ruf, S.39f.

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gründet hatte. " 1 1 6 In dieser Zeit hat Pückler immer wieder depressive Phasen durchlebt. 1 1 7 Im Dezember 1882 bestand er das Assessorenexamen. Während der Examenszeit nahm er an den Versammlungen teil, die der Deutschamerikaner Friedrich von Schlümbach 1 1 8 auf Einladungen von Pastor Christlieb 1 1 9 und Hofprediger Stoecker 1 2 0 in Berlin hielt, Evangelisationsversammlungen im Stile Moodys in Bierlokalen und anderen großen Versammlungssälen außerhalb der Kirchen. „Es gab einen ungeheuren Z u lauf zu seinen Versammlungen, deren er täglich mehrere hielt. Er hat den 116 Ebd., S. 44. Zu Graf Bernstorff vgl. unten II.4.2. Zu C . Phildius, auf den hier nicht näher eingegangen werden muß, vgl. U . v. Hasseil, a. a. O . (nach Register) und Karl Kupisch, Der Deutsche C V J M . Aus der Geschichte der Christlichen Vereine Junger Männer Deutschlands. Kassel, o . J . , bes. Kap. 5, S. 22-26; auch: U . v. Hasseil, Erinnerungen aus meinem Leben. Berlin 1919. 117 Berufen mit heiligem Ruf, S. 28. 43. 45 f. Dem Versuch, aus dem Text des Lebensbildes Schlüsse auf die psychische Struktur von Pücklers zu erheben, ist zu widerstehen. Die Methoden der Psychoanalyse sind aus dem Gespräch zwischen Therapeut und Klient entwickelt, und konstitutiv fur den angenommenen Heilungsprozeß sind Erinnerungen, Phantasien und Träume. In solcher Weise können Texte nicht .antworten'! Wegen der m. E. unzulässigen Übertragung der Methode können alle Versuche der Psycho-Historie nur in stark eingeschränktem Maße berücksichtigt werden. - Walter Michaelis spricht sehr allgemein von Beeinträchtigungen, die „in Graf Pücklers Natur und Veranlagung" lagen, in: Gnadauer Gemeinschaftsblatt, 9. J g . , S. 133. Zur Frage der Psycho-Historie vgl. die Problemanzeige von H . - U . Wehler, Geschichte und Psychoanalyse (S. 79-94), und ders., Geschichte und Psychohistorie (S. 95-105). In: ders., Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung, Göttingen 1980. 118 Friedrich von Schlümbach (1842-1901), Württemberger, mit 17 Jahren nach Amerika ausgewandert, wurde bei einer Evangelisation Dwight Lyman Moodys für ein aktives Christentum gewonnen und wirkte von da an als Methodistenprediger. Auf Empfehlung Theodor Christliebs von Adolf Stoecker eingeladen, evangelisierte er 1883 fünf Monate lang in Berlin. Er wirkte zuletzt für eine unierte Gemeinde in Amerika. Genauer Aufschluß über seinen Lebensgang und seine Lehranschauungen sind nicht zu gewinnen. Vgl. Hans Brandenburg, Art. Schlümbach, Friedrich von. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 462. Karl Kupisch, a. a. O . , S. 138, Anm. 20 (Literatur), P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 3 , S. 54f. Ein eigener Bericht zur Ε vangelisationstätigkeit von Schlümbachs mit dem Akzent auf der Rolle Adolf Stoeckers bei Einladung und Durchführung der Berliner Veranstaltungen findet sich bei (ohne Verf.) Adolf Stoecker und die Evangelisation, a) Schlümbach kommt nach Berlin. In: Adolf Stoecker, Erbe und Verpflichtung. Gedenkbuch zum 80. Jahresfeste der Berliner Stadtmission. Berlin 1957, S. 124-128. Vgl. auchM. v. Oertzen (Mein Leben, S. 43f.), die ein Auftreten von Schlümbachs in Mecklenburg kurz schildert. Über die Bekehrung von Schlümbachs (ohne Beleg) und seine Berliner Tätigkeit vgl. Ulrich von Hasseil, Eberhard von Rothkirchen und Panthen, a. a. O . , S. 94-99. Über spätere Wirksamkeit von Schlümbachs und seine Arbeitsmethoden s. ebd. S. 100-106. 119 Zu Theodor Christlieb vgl. unten III. 4.2. 120 Adolf Stoecker (1835-1909), seit 1874 Hof- und Domprediger in Berlin, seit 1877 Leiter der Berliner Stadtmission. Vgl. den allerdings stark wertenden Art. von K. Kupisch, Stoecker, Adolf. In: E K L III; Sp. 1152f. (dort Lit.). Stoecker war 1881-1893 und 1896-1906 Reichstagsabgeordneter der von ihm mitgegründeten Christlich-Sozialen Arbeiterpartei für Siegen i. W. Seine Wähler kamen vor allem aus den Kreisen der kirchlichen Gemeinschaftsbewegung. Vgl. Helmut Busch, Die Stoeckerbewegung im Siegerland. Ein Beitrag zur Geschichte der Christlich-sozialen Partei. (Ungedruckte Dissertation) Marburg 1964, bes. S. 126-129.

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Boden Berlins für wirkliche Reichsgottesarbeit zubereitet", erinnerte sich von Pückler später. 1 2 1 „Am Schluß einer jener Versammlungen am Wedding forderte mich Pastor von Schlümbach zu einem Projekt auf, das er vorhatte. Wir hatten alle das Gefühl, daß das, was uns Gott hier geschenkt, gepflegt und die Bewegung weitergeführt werden müsse. Dazu war es nötig, das junge Leben in einem eigenen Heim zu konzentrieren." 122 Erst wurde unter von Schlümbachs Leitung der erste Christliche Verein Junger Männer in Berlin am 22. Januar 1883 mit von Rothkirch als Präses, von Bernstorff als Vizepräses und von Pückler als Vorstandsmitglied unter insgesamt 16 Versammelten gegründet. Dann folgte am 12. Januar 1883 die Eröffnung des „Christlichen Vereinshauses" (in einem früheren Tanzlokal) mit von Pückler als Vorsitzendem. 123 Letzte Bedenken, diese Arbeit als Laie außerhalb des kirchlichen Rahmens zu übernehmen hatte von Schlümbach in einem Brief zerstreut. Mit Hinweis auf verschiedene Bibelstellen hatte er die Berechtigung der selbständigen Arbeit von Laien dargelegt und kam dann auf die deutschen Verhältnisse zu sprechen: „Es gibt unendlich viele Beweise in der Heiligen Schrift, daß Gott will, daß in Seinem Reiche allerlei Arbeit getrieben werde. Was Deutschland am meisten not tut, ist Laientätigkeit. Alle Länder, selbst Frankreich, sind darin weiter. Hier, w o die meisten tüchtigen Kräfte zu finden sind, schläft alles, und deshalb gehen Hunderttausende zugrunde, o, welch ein Elend: D a schiebt immer einer die Last auf den anderen, statt alles zu vergessen und Christum zu lieben. Es ist tatsächlich wahr, das deutsche Volk geht unter aus Mangel an christlicher Tätigkeit. Manche Theologen lehren oft, was nichts taugt; die Bibel zersetzen sie und lassen nur gelten, was in ihren K r a m paßt. Nein, es muß anders kommen. Die gläubigen Männer müssen geschart werden und an systematische christliche Tätigkeit gesetzt, dann k o m m t neues Leben, und Kaiser und Reich sind gesichert, und das Reich Gottes faßt wieder Wurzel in den Herzen. N u n Gott befohlen, lieber Herr Graf, stehen Sie fest für den HErrn, der Arbeit harrt viel Ihrer und Gott wird es unter Ihren Händen segnen . . . " 1 2 4

Tatkräftig unterstützt wurde von Pückler von dem Berliner Pastor Diestelkamp. 1 2 5 Seine etwas schwache Gesundheit beeinträchtigte ihn zwar immer wieder, „und dennoch", schrieb er am 17. Februar 1883 nach Hause, „weiß ich, daß es des HErrn Wille ist, daß ich hier stehe. Man kann deshalb, wenn man so gewiß ist wie ich, über das Praktische oder Unpraktische meines Lebensweges nicht disputieren. Es gibt nur eine Frage die mit entscheidet, und das ist die: Was ist des HErrn Wille? Im übrigen ruht Sein 121 Berufen mit heiligem Ruf, S. 49. 122 E b d . , S. 49f. 123 E b d . , S. 50-52. 124 E b d . , S. 51. 125 Diestelkamp (1833-1912), Pastor an der Nazareth-Kirche in Berlin, emeritiert 1903. Diestelkamp wird in vielen Publikationen zur Gemeinschaftsbewegung erwähnt, genaue Lebensdaten und nähere Information über seine christliche Prägung und sein Werk sind nicht zu gewinnen. In der Nazareth-Gemeinde begann Friedrich von Schlümbach seine Evangelisation. V g l . : Die Warte 2, 1903, N r . 20, S. 8.

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Segen so sichtlich auf unserem Werk, daß wir nur von Herzen dankbar sein können." 126 Anläßlich seiner bevorstehenden Entlassung aus der militärischen Dienstpflicht schrieb er am 6. Juni 1883: „Gleich und gleich gesellt sich gern! In diesem Sprichwort ist der Grund enthalten, warum ich am Umgang mit den Kindern der Welt keinen Geschmack mehr finden kann... Den Willen Gottes können wir nur aus der Bibel entnehmen. Darin steht aber geschrieben, daß der Welt Freundschaft Gottes Feindschaft ist, und daß die Welt die Kinder Gottes hassen muß, weil sie eben von Gott und nicht von der Welt sind." 127 In einem Aufruf aus demselbenjahr wird deutlich, wie er die Zeitsituation deutete: „Berlin ist eine kleine Welt; wie alle Landesteile darin vertreten sind, so wirkt auch Berlin bis in alle Teile bedeutungsvoll ein; und von großer Wichtigkeit ist es, wie hier die Entscheidung zwischen Licht und Finsternis fällt. Noch sind die Türen für das Evangelium aufgetan, und je unmittelbarer es an die Seelen herangebracht wird, desto vollkommenere Aufnahme findet es." 128 Hedwig von Redern ordnet Aussagen über die Kirche, die sie einem Redemanuskript entnommen hat, in diesen Zeitabschnitt ein: „Wir stehen in der Kirche. Meine Überzeugung ist die, daß der Christ nichts, was er ist, nur zum Schein sein darf. Entweder wir treten aus oder wir sind loyal, d. h. wir freuen uns nicht, wenn die Gemeinschaften auf Kosten der Kirche zunehmen, sondern wir arbeiten, um der Kirche zu helfen. Selbstverständlich können wir auf diesem Wege auch nicht alle Pastorenherzen gewinnen. Wo einer wirklich die redliche Hilfe nicht will, heißt es, den Staub von den Füßen schütten und von dannen gehen. Aber sonst richten wir mit Demut und Liebe mehr aus als mit dem Richtgeist. Auf unserem Panier aber steht in erster Linie nicht die sichtbare, sondern die unsichtbare Kirche." 129

Vom März bis August 1885 folgte er einer Einladung von Schlümbachs nach Nordamerika. Auf dem Wege dorthin kommt er mit Evangelisationsveranstaltungen in London in Berührung: „Ich muß sagen, daß die Bestrebungen der hiesigen Christen meine vollste Bewunderung erregen. Es sind gegenwärtig hier zwei amerikanische Evangelisten tätig, Moody und Sankey, von denen der eine predigt und der andere singt. Man findet die Versammlungen an allen Straßenecken angezeigt, und das Interesse der ganzen Stadt dreht sich um dieselben. Ein Komitee hat zwei eiserne Hallen errichtet, die je 6000 Menschen fassen. Dieselben werden alle vier Wochen abgebrochen und an anderer Stelle wieder aufgerichtet. Diese Hallen sind bei jeder Versammlung bis auf den letzten Platz gefüllt, und zwar wochentags zweimal und sonntags viermal. Die Reden kann ich leider nicht verstehen, wohl aber die prächtigen Gesänge! Das Werk wird von ganz wenigen

126 Berufen mit heiligem Ruf, S. 55. 128 Ebd., S. 57.

127 Ebd., S. 56. 129 Ebd., S. 66.

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Männer getragen, aber eben von solchen, die keine andere Passion haben, als dem HErrn zu dienen." 130 1886 wurde der Christliche Verein in „Christliche Gemeinschaft" „St. Michael" umbenannt, 131 im November desselben Jahres nahm von Pückler Abschied aus dem Staatsdienst. Seit 1884 verband ihn eine enge Freundschaft mit dem Generalsuperintendenten Theodor Braun, der ihm zeitweilig riet, noch Theologie zu studieren. 132 In dieser Zeit (1887) trat im Zusammenhang der Spannungen zwischen Hofprediger und Kaiserhaus eine Entfremdung zwischen ihm und Stoecker ein und von Pückler schied aus dem Komitee der Berliner Stadtmission aus, dem er bis dahin angehört hatte. 133 Aus vielen Passagen seiner Briefe spricht der „vaterländische Geist", seine unverrückbare Verehrung fur das Kaiserhaus und das Festhalten an der göttlichen Aufgabe der Monarchie. 134

2. Jasper von

Oertzen135

wurde am 10. August 1833 in Rostock als drittes Kind des damaligen Rates an der Justizkanzlei und späteren Ministerpräsidenten von Schwerin, 130 Ebd., S. 61 f. 131 Ebd., S. 63. Vgl. Max Diedrich, Geschichte der Christlichen Gemeinschaft St. Michael. Berlin 1883-1958. Berlin o.J. (1958). 132 Berufen mit heiligem Ruf, S. 67. 133 „In jener Zeit auch war es, wo Pückler fühlte, daß seine Wege von denen Stöckers abwichen. Damals hatte sie dieselbe glühende Liebe zu den Brüdern aus dem Arbeiterstande verbunden, aber wie Pückler schon gemerkt hatte, ehe seine Arbeit begann, daß er sich ganz von der Politik darin trennen müßte, so konnte er dem immer mehr in die Öffentlichkeit geschobenen Hofprediger mit seinen weitgehenden irdischen, sozialen Reformgedanken nicht folgen. Er trat aus dem Stadtmissionskomitee aus, in das man ihn gewählt hatte." Ebd. S. 69. Der Anlaß der Entfremdung wird auch aus den ebd. mitgeteilten Auszügen eines Briefes von Stoecker nicht klar. Der Biograph Stoeckers, Dietrich von Oertzen, konstatiert für die 2. Jahreshälfte 1886 (Generalsynode im Oktober) ein verstärktes Eintreten Stoeckers nach mehr Selbstständigkeit der evangelischen Kirche vom Staat. Ein Anliegen, dem von konservativen Kreisen und vor allem vom Reichskanzler heftig widersprochen wurde. Es ist gut denkbar, daß an dieser Stelle ein Dissens zwischen von Pückler und Stoecker entstand. Vgl. D. von Oertzen, Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte. Bd. I, Berlin 1910, S. 354-358. Vgl. auch W. Michaelis, a. a. O., S. 136. Stoecker hat den Weg der späteren Gemeinschaftsbewegung auch literarisch kritisch kommentierend begleitet. Vgl. bes. seinen gedruckten Vortrag „Sündlosigkeit und Heiligung", Berlin 1898, in dem er sich mit Jonathan Pauls Anschauungen von Sünde und Heiligung auseinandersetzte. Stoecker blieb wegen seines Siegener Reichstagsmandates auf die Unterstützung der Gemeinschaftskreise angewiesen. Vgl. oben, Anm. 120. Zu Stoecker vgl. G. Brakelmann, die soziale Frage des 19. Jahrhunderts, 7. Aufl. Bielefeld 1981, S. 162-174. 134 Berufen mit heiligem Ruf, S. 73f., 146, 171-192 (Stellungnahmen aus der Zeit des 1. Weltkrieges). 135 Maßgebend ffir den folgenden Überblick über Jasper von Oertzens Lebenslauf ist die Biographie, die sein Bruder Dietrich von Oertzen verfaßt hat: Jasper von Oertzen ein Arbeiter im Reiche Gottes. Ein Lebensbild. 3. Aufl., Hagen, o. J. Gelegentliche Hinweise an anderen Orten fuhren nicht über diese Darstellung hinaus. Die Biographie wird im Folgenden als

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Jasper von Oertzen, 1 3 6 und der aus der Hamburger Kaufmannsfamilie Schuback 1 3 7 stammenden Mutter geboren. Der phantasievolle und wenig angepaßte Jasper machte Eltern und Erziehern, zuerst auf dem Rittergut Leppin und dann im Königlich Preußischen Kadettenhaus in Potsdam das Erziehen schwer. 1 3 8 In einem Internat bei Halle a. S. schloß er die Schulzeit a b . 1 3 9 Weil er den strengen Anforderungen der preußischen Militärprüfungen nicht gewachsen schien, wurde er v o m Vater als Offiziers-Anwärter in die österreichische Armee geschickt. 1 4 0 1858 mußte er aufgrund eines Lungenleidens den Dienst quittieren. In dieser Krankheitszeit erlebte er eine bewußte Wende zum christlichen Leben und Glauben hin, die sein Biograph, der Bruder Dietrich von Oertzen, so beschreibt: „In einer Nacht, in der er schon von kalten Schweißen, den sicheren Begleitern der Schwindsucht geplagt wurde, fühlte er sich vor das große „Entweder-Oder" gestellt, vor die Entscheidungsfrage: T o d oder Leben? Gottes Gnade half ihm hindurch zu dem rechten Entschluß und von nun an ging es innerlich und äußerlich aufwärts." 1 4 1 Mit Hilfe des Vaters lernte Jasper nun die Praxis der Gutsverwaltung und erhielt von dem Vater 1861 das Rittergut Sassen zum Geschenk. 1 4 2 Nicht zuletzt wegen seiner angeschlagenen Gesundheit, aber auch weil er als Landwirt keinen Erfolg hatte, verpachtete er nach einigen Jahren das Gut und zog nach Berlin, wo er „in christlichen Kreisen Gemeinschaft" suchte. 1 4 3 .Jasper von Oertzen" zitiert. Vgl. M. v. Oertzen, Mein Leben. Eine Selbstbiographie. 4. Aufl., Lahr-Dinglingen, o. J. (M. v. Oertzens Ehemann, Friedrich von Oertzen, war ein Vetter Jaspers, ebd., S. 31). 136 Der Vater gilt als Träger der Erweckungsbewegung in Mecklenburg. Vgl. Erich Beyreuther, Erweckungsbewegung, S. 44. Vgl. Jasper von Oertzen, S. 11 f. 137 Der Vorname der Mutter wird in der Literatur nicht erwähnt. Zu ihrer aus der Erwekkungsfrömmigkeit gewonnenen christlichen Haltung vgl. M. v. Oertzen, a. a. O, S. 22. - „Sie war schon früh durch eine gläubige Freundin, die ihrerseits mit Amalie Sieveking befreundet war, auf den Boden des biblischen Christentums geführt worden und stets bemüht, auch ihre Kinder in diesem Glauben zu erziehen. An Mühe und Arbeit hat es ihr nicht gefehlt, da sie 13 Kindern das Leben schenkte." Jasper von Oertzen, S. 13. 138 er war ein wilder und überaus schwer zu leitender Junge" .. ..Jasper von Oertzen, S. 13, vgl. die angeführten Beispiele S. 14-17. 139 Ebd., S. 17. Dort beeindruckte ihn vor allem der Tholuck-Freund Friedrich Ahlfeld (1810-1884). „Wenn er in späteren Jahren Leipzig berührte, versäumte er niemals, den alten Lehrer zu besuchen, auch wohl zu beichten und das heilige Abendmahl zu empfangen." Ebd. 140 Ebd., S. 17f. 141 Ebd., S. 19. 142 Ebd., S. 21. 143 Ebd., S. 22, mit wem im einzelnen von Oertzen zusammenkam, ist nicht ganz klar. Eduard von Pückler fügte im Nachruf (Baron Jasper von Oertzen. In: Philadelphia 3, Nr. 12, S. 177-180) Erinnerungen aus Gesprächen mit Jasper von Oertzen für diese Zeit an: „Einem unbestimmten Drange folgend reiste ich (von Oertzen) bald zu Pastor Wiehern nach Hamburg, bald nach Bad Boll, bald nach irgend einem andern für gesegnet gehaltenen Platz, ohne zu wissen, was ich den Männern, die mich über den Zweck meines Kommens befragten, antworten sollte. Plötzlich war ich da, plötzlich verschwand ich wieder, und zwar ebenso unklar als ich gekommen.", a. a. O., S. 178. Nach Pücklers Bericht fällt das Traumerlebnis erst in die Zeit

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Entscheidend wurde für ihn die Begegnung mit Johann Hinrich Wichern, der damals ganz in Berlin lebte. 144 „Im Verkehr mit diesem gesegneten Manne reifte allmählich in Jasper der Entschluß, sein Landgut ganz zu verlassen . . . und seine ganze Kraft in den Dienst der christlichen Liebesarbeit zu stellen." . . . „Den letzten Anstoß, seine Gedanken und Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen, bekam dann Jasper durch einen merkwürdigen Traum, von dem er gelegentlich vertrauten Freunden erzählte, einen Traum, der die Wirkung hatte, daß ihm die Vergebung seiner Sünden zur vollen Gewißheit wurde. " 1 4 S Seit 1868 begann er eine engere Arbeitsgemeinschaft mit Wichern, der ihn zu theologischer Arbeit anhielt. 146 Jasper schrieb in der Zeit an seinen Vater: „Ich mache kirchengeschichtliche, Bibel- und allerhand theologische Studien, und suche außerdem das ganze Gebiet der Inneren Mission zu durchdringen und zu beherrschen, und das ist ein ganz gehöriges Studium Es wird mir immer klarer, dieser Suche. Vgl. ebd. Gustav Ihloff, Im Weinberge des Herrn. Fünfzig Jahre Evangelisation und Gemeinschaftspflege in Schleswig Holstein, Neumünster 1907. Er bringt eine eigene Version des „Bekehrungsweges": „Im Jahre 1861 übernahm er in Ostpreußen das Gut Sassen. Hier war es, wo der Herr zuerst mächtig an sein Herz klopfte, um ihn nicht nur zu retten fur seinen seligen Himmel, sondern um ihn auch tüchtig zu machen zu einem Rüstzeug in Seiner Hand. Jasper von Oertzen, der als Patron der Kirche äußerlich die kirchlichen Gebräuche streng innehielt, hatte nämlich in der Heuernte an einem Sonntage einfahren lassen, da es an den Wochentagen meistens regnete. Hierüber machte ihm sein Pfarrer Vorwürfe, indem er auf das schlechte Beispiel hinwies, das er, als der Herr seiner Leute, durch diese Übertretung des 3. Gebotes gäbe. Diese Ermahnung wurde in der Hand des HErrn das Mittel, um ihn auf seine Sünden aufmerksam zu machen. Er lernte sichjetzt trotz seiner äußeren scheinbaren Frömmigkeit als arm und elend, jämmerlich, blind und bloß kennen. In seiner Sündennot suchte er den Verkehr mit D. Wiehern, dem Begründer des Rauhen Hauses in Hamburg. Hier erfuhr er etwas von der vergebenden und erlösenden Macht des Blutes Christi. Die gemachte Erfahrung war so mächtig bei ihm, daß er beschloß, sein Gut zu verkaufen, um hinfort dem HErrn sein Leben und seine Kräfte zu weihen." Ebd., S. 43f. 144 Zu J. H. Wichern (1808-1881) vgl. unten Kap.V. Wann genau und unter welchen Umständen der Kontakt zu Wichern zustande gekommen ist, läßt sich nicht feststellen. Wiehern war seit 1857 Oberkonsistorialrat im Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin und zugleich Vortragender Rat für das Strafanstalts- und Armenwesen im preußischen Ministerium des Innern. Vgl. Gottholf Donndorf, Art. Wichern, Johann Hinrich. In: EKL III, Sp. 18011803. E. v. Pückler, in: Philadelphia, a. a. O., S. 178f., berichtet: „Wir wissen nur, daß er bald nach seiner Bekehrung mit Männern wie Minister von Bethmann-Hollweg und Dr. Wichern in Berlin zusammengeführt wurde, von beiden viel Segen empfangen und so mehr und mehr innerlich gefördert den Entschluß faßte, sich ganz dem Dienste Gottes zu weihen und sich hiezu die ihm noch fehlende Ausbildung soviel als angängig darreichen zu lassen. So trat er 1873, also 20 Jahre vor seinem Tode, noch als Lernender in die Brüderschaft des Rauhen Hauses ein und genoß noch eingehender wie in Berlin die Unterweisung des ihm stets unvergeßlichen Begründers der Inneren Mission (Wichern)." 145 Jasper von Oertzen, S. 22. 146 D. von Oertzen gibt nur eine sehr allgemeine Auskunft über die tatsächliche Gestalt dieser Zusammenarbeit („zahlreiche Arbeiten"), legt aber alles Gewicht auf die biblischtheologische Grundlegung, die Wichern Jasper von Oertzen vermittelte. Da bei Jasper auf diesem Gebiet keine Vorbildung bestand, kann man folgern, was sich auch später belegen läßt, daß er in Zukunft Wicherns Positionen vertrat. Vgl. im Anhang Nr. 3.

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daß die Innere Mission, gerade von Laien getrieben, aber in den Dienst der Kirche gestellt, auch eine kirchenpolitische Bedeutung hat. Die Innere Mission muß, wie ein Guerilla-Krieg gegen alle Schäden und Notstände in unserem Volksleben gefuhrt werden; sie soll die dogmatischen Predigten ins Praktische übersetzen, und diejenigen Pastoren, die über lauter abstrakten theologischen Studien die Wirklichkeit übersehen, daran mahnen, daß sie durch Werke barmherziger Liebe ihren Worten Nachdruck geben. Daß ich hier nur religiösen Gefühlen lebe, mußt du übrigens nicht glauben, ich treibe auf dem Zentral-Bureau viel sehr nüchterne Arbeit. Gefiihliges Wesen läßt der Verkehr mit Wichern auch gar nicht zu. Wichern ist durch und durch praktisch und spricht nie ohne bestimmten Anlaß von religiösen Dingen. . . . Ich will mich zunächst in meinem Christen-Beruf immer fester machen und dann allerdings hoffe ich eine praktische Arbeit zu finden. Ich dränge mich aber in keiner Beziehung vor, sondern stelle die Sache dem Herrn ganz anheim und bitte ihn besondes, mich vor aller Eitelkeit zu bewahren. " 1 4 7 In einem Brief aus der gleichen Zeit schrieb er im Hinblick auf den Streit u m die Kirchenverfassung in Preußen, die nach dem deutsch-österreichischen Krieg und den preußischen Annexionen entstanden war: 1 4 8 „Ich wenigstens habe mir fest vorgenommen, und werde es mit des Herrn Hilfe auch durchführen, mich nie mehr über kirchenpolitische und theologische Fragen zu streiten, am wenigsten über Bekenntnisfragen. Es ist eine Frucht meiner diesmaligen Winterstudien, die Erkenntnis, daß man durch Dispüte auf diesem Gebiet Gottes Reich auf Erden nicht baut und ausbreitet, sondern . . . hindert." 1 4 9 Überkonfessionelle Weite verraten die Zeilen: „Die Fassung, in der Luther versucht hat, die ewige Wahrheit in ein Bekenntnis zu formulieren, halte auch ich für die relativ beste, und für den besten Weg, zu Christo zu gelangen. A u f dies Ziel aber k o m m t es doch an. U n d wenn Glieder anderer Konfessionen auf anderem Wege zu demselben Ziele kommen, so werden wir uns solchen doch nie und nimmer schroff oder feindlich gegenüberstellen. Sondern das sind dann unsere wahren Brüder in Christo, unsere Glaubensbrüder. " 1 S 0 Über seine berufliche Zukunft schrieb er im Winter 1869 an 147 Jasper von Oertzen, S. 25 f. 148 Vgl. zum Ganzen der ζ. T . erbittert geführten Auseinandersetzung die umfassende Darstellung von Gerhard Besier, Preussische Kirchenpolitik, und ders., Neulutherische Kirchenpolitik im Zeitalter Bismarcks (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 26/27), Gütersloh 1982. 149 Jasper von Oertzen, S. 27. Es soll hier nur daraufhingewiesen werden, daß von Oertzen mit dieser Haltung ein Anliegen des Frühpietismus aufnahm, das schon Philipp J a c o b Spener in seinen Pia desideria vertreten hatte. Vermittelt war ihm diese Haltung wohl durch J . H . Wichern, vgl. unten S. 156. 150 E b d . , S. 28. Vgl. die Formulierungen in den Statuten des Deutschen Zweiges der Evangelischen Allianz (damals noch „Evangelischer B u n d " ) von 1857; aus dem § 3: „Der Z w e c k des Evangelischen Bundes ist die Beförderung treuer Bruderliebe unter den Gliedern des Leibes Jesu Christi und die Beseitigung der Entfremdung, die so lange unter ihnen in den verschiedenen Abteilungen der Evangelischen Kirche geherrscht hat." Zitiert nach Erich

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den Vater: „Ich stehe so, lieber Papa, daß ich den Herrn bitte, mich zu fuhren, wie Er will, und ich habe den Glauben, daß er mich fuhren und leiten wird zu meinem Heil, und vielleicht auch so, daß ich gewürdigt werde, etwas beizutragen zur Ausbreitung und zum Bau seines Reiches. Ich will mich ihm ganz hingeben mit allem, was ich weiß, kann, habe und vermag, und wenn ich auch vielfach untreu bin - Er, der Herr, ist desto treuer. " 1 S 1 1870 übertrug ihm Wichern die Leitung des Pensionats im „RauhenHaus" in Horn bei Hamburg, eines Instituts zur Erziehung schwererziehbarer Jugendlicher begüterter Eltern. 1 5 2 Sein sozialpolitisches Programm, ganz in den Linien Wicherns, formulierte er in einem Vortrag vom 9. Mai 1871 und kam dabei auch auf die „Arbeiterfrage" zu sprechen: „ V o r allem, bitte ich Sie, lassen wir uns nur nicht blenden durch die glänzenden politischen Errungenschaften des letzten Krieges! Die politische M a c h t unseres Vaterlandes wird und kann nur Bestand haben, wenn sie a u f fester sozialer Grundlage beruht. W i r stehen in derselben Gefahr, der Frankreich jetzt zu erliegen droht. Die Partei derer, die Nichts besitzen und alles erstreben, die internationale ArbeiterAssoziation, diese rote Liga, hat ihre Fäden über ganz E u r o p a gesponnen; die Solidarität der Interessen, wie sie es nennen, verbindet ihre Glieder in leidenschaftlichem Eifer und fanatischer W u t nicht nur gegen alle göttlichen, sondern auch gegen alle menschlichen Ordnungen, denen sie offen den Krieg erklärt haben! . . . Zeigen wir den Arbeitern im Geiste des großen Arbeiterfreundes, dem wir alle Arbeit gemacht haben mit unseren Sünden, daß wir auch Kommunisten sind, und daß es einen wahren, einen evangelischen Kommunismus gibt. "1S3

Nach Differenzen mit Wichern schied von Oertzen 1875 aus der Arbeit des Rauhen Hauses aus und übernahm bis 1884 die Leitung der neugegründeten Hamburger Stadtmission. 154 Die neue Tätigkeit brachte ihn in engen Beyreuther, Der Weg der Evangelischen Allianz in Deutschland. Witten 1969, S. 21. - Zusammen mit J . H. Wichern nahm J . von Oertzen an den Berliner Allianz-Gebetsversammlungen von 1870 teil. Vorsitzender des „Komitees des deutschen Zweiges der Evangelischen Allianz" war zu der Zeit Andreas Graf Bernstorff (vgl. unten II.4.3). Vgl. E. Beyreuther, a. a. O . , S. 51. Eine Reaktion auf dieses öffentliche Auftreten liegt in den Briefen des Vaters und D. von Oertzens vor, die ihm zu mehr Zurückhaltung rieten und ein Gespräch mit dem „gemeinsamen Freunde Friedrich von Bodelschwingh" empfahlen. Jasper von Oertzen, S. 36-39. Vgl. auch P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 3 , S. 58. 151 Jasper von Oertzen, S. 34. 152 Ebd., S. 48, der Biograph schildert die Tätigkeit Jaspers, der selbst einmal als schwer erziehbar gegolten hatte, als erfolgreich. Sein Verhältnis zu Wiehern wird als herzlich-freundschaftlich dargestellt, ebd., S. 40f., 53. 153 Ebd., S. 49f. 154 Ebd., S. 57. D. v. Oertzen nennt keine Einzelheiten fur das Auseinandergehen. -Jasper zog aus dem „Rauhen Haus" aus in die Stadt, wo er dann Nachbar des Lutherischen Pastors Karl Wilhelm Theodor Ninck (1834-1887), dem Begründer der Deutschen Seemannsmission, wurde. Ninck arbeitete ganz in den Linien Wicherns. Von Oertzen und Ninck waren und blieben einander freundschaftlich verbunden. Vgl. Friedrich S. Rothenberg, Art. Ninck, Karl W. Th., in: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 388. Auch: M. von Oertzen, a. a. O., S. 31 f., Jasper von Oertzen, S. 58.

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Kontakt mit Pastoren und kirchlichen Verwaltungsstellen. Er war entsetzt: „Die Hamburger kirchlichen Zustände sind wirklich alles erlaubte Maß überschreitend, die Leute sind in vielen Kirchen geradezu beim Heidentum angelangt. Nur an einigen wenigen Kirchen sind noch gläubige Geistliche. Und angesichts solcher Zustände streitet man über die konfessionellen Auffassungen des heiligen Abendmahls:" 1 5 5 Im Jahresbericht der Stadtmission von 1879 stellte er als Hauptursache der „Schäden, an denen unser ganzes Volksleben krankt", 1S6 fest: „Es ist die Konfirmationspraxis in den großen Städten im Allgemeinen und ganz besonders hier in Hamburg. Die Kirche arbeitet hier, wie uns scheinen will, fort und fort an ihrem eigenen Untergang; was in der Theorie so herrlich und schön gedacht ist, wird durch die momentane Praxis nicht zum Segen, sondern zum Fluch für Tausende, so lang ζ. B . ein Geistlicher 700 bis 800 Kinder verfuhrt, von dem das Herz nichts wissen kann. . . . Die ganze Welt jener der Kirche Entfremdeten ist nichts anderes als die Masse der Konfirmierten, die ohne Ausnahme alle vor Gott und seiner Gemeinde ihr feierliches Gelübde, Eigentum des Herrn bleiben und als die Seinen wandeln zu wollen, in der Konfirmation abgelegt, darauf, mit dem Segen der Kirche und mit dem Recht von Abendmahlsgenossen feierlich ausgestattet, zur Versiegelung ihres Glaubens und zur Vergewisserung ihrer Sündenvergebung an den Tisch des Herrn getreten sind, und dort seinen Leib und sein Blut empfangen haben. U n d wer könnte in Abrede stellen, daß gerade aus der Schar dieser Konfirmierten sich alljährlich die Zahljener Entfremdeten, die Stadt und Land unübersehbar erfüllen . . . verstärkt und vermehrt?" 1 5 7

1873 übernahm er zudem den Vorsitz des schleswig-holsteinischen Vereins für Innere Mission und war seit 1880 Präses des Norddeutschen Männer· und Jünglings-Bundes. Freundschaftlich war er mit Stoecker verbunden, organisierte und leitete Treffen mit Arbeiterführern zur Verständigung über die „Soziale Frage" 1 5 8 und war bemüht gegen die wachsende Anzahl „sozialistischer Blätter", die seiner Meinung nach die untersten Schichten des Volkes vergifte, eine „auf positiven Grundlagen" ruhende gute Presse ins Leben zu rufen. 1 5 9 Unter seiner Initiatitive und Mitarbeit sind viele christliche Vereinshäuser, Herbergen zur Heimat, Verpflegungsstationen für die „Brüder von der Landstraße" entstanden. An der Errichtung einer Arbeiterkolonie für Schleswig-Holstein wirkte er ebenso mit wie an einem 155 Jasper von Oertzen, S. 63. 156 E b d . , S. 68. In den folgenden Ausführungen erweist s i c h j . von Oertzen wieder ganz als Schüler Wicherns. Er wendet dessen Analyse auf die Hamburger Verhältnisse an. Vgl. Karl Janssen, Wichern Leben und Wirken. In: Johann Hinrich Wichern, Ausgewählte Schriften, B d . 1, S. 18; und vor allem: J . H. Wichern, Die A u f g a b e der evangelischen Kirche, die ihr entfremdeten Angehörigen wiederzugewinnen. (1869), a. a. O . , bes. S. 246-252. 157 Jasper von Oertzen, S. 70. 158 E b d . , S. 95. In diesem Z u s a m m e n h a n g erwähnt der Biograph auch die grundsätzliche Z u s t i m m u n g zu den Initiativen A d o l f Stoeckers, den er einige Male nach H a m b u r g zu Vorträgen eingeladen habe. E b d . , S. 97. 159 E b d . , S. 99f.

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Trinker-Asyl für Mecklenburg. 1 6 0 Seine politische Position wird aus einem nicht mehr datierbaren Aufruf deutlich: „Auf sozial-wirtschaftlichem Gebiet sind wir der Ansicht, daß, wenn nicht eine vollständige Auflösung eintreten soll, die in einen unsittlichen Kampf Aller gegen Alle ausgeartete freie Konkurrenz durch öffentliches Recht und korporative Institutionen gezügelt werden muß (Kleingewerbe und Handwerk), daß die Interessen und die sittlich-politische Bedeutung des Grundbesitzes den Interessen und der Stellung des beweglichen Kapitals gegenüber wieder in ihr Recht eingesetzt werden müssen." 1 6 1 Letztlich forderte er somit die Rückkehr zur alten Ständeordnung und die Wiedereinsetzung des landbesitzenden Adels in seine politische Führungsrolle. Die Evangelisationsversammlungen von Schlümbachs in Berlin verfolgte er aufmerksam und bat seinen Bruder Dietrich, „als stiller Kritiker ab und zu von diesen Versammlungen Notiz zu nehmen und mir Mitteilung zu machen, ob es wirklich gelingt, in die entkirchlichten Massen von Berlin Zündstoff zu tragen. Da wir eventuell auch hier im Januar (1882) vorgehen wollen, so verfolge ich die Sache mit großem Interesse, und traue Dir ein nüchternes Urteil zu." 1 6 2 Als Vorsitzender des Vereins für Innere Mission bemühte sich Jasper von Oertzen um ein gutes Verhältnis zu den Pastoren, wie ζ. B. aus einem Aufruf von 1880 deutlich wird: „ . . . Der Pastor sollte nicht ungünstig oder gar argwöhnisch auf die Versammlungen und die Tätigkeit der Sendboten blicken, der Sendbote darf seine Leute nicht als etwas besonderes gegenüber der Gemeinde betrachten, darf sie nicht abschließen von der Kirche, sie nicht zu einer ecclesiola in ecclesia machen. Wir haben daher auch das Prinzip der eingeschriebenen Mitglieder ganz abgeschafft, damit die Grenzen nach Seiten der großen Gemeinde immer fließend bleiben, damit sich kein Kastengeist ausbilde.... Die Sendboten sind Laien, und wenn sie andre Laien in den einzelnen Gemeinden gewonnen haben, so helfen diese ihnen in ihrer Arbeit, wenn auch nicht berufsmäßig. Der Pastor muß sich als der Führer dieser arbeitenden Laien ansehen, nicht als ihr Gegner. Nur dann behält die Kirche die Bewegung, die nun einmal begonnen und sich sicherlich nicht mehr aufhalten läßt, in ihrer Hand. " 1 6 3 160 Ebd., S. 107. 161 Ebd., S. 99. 162 Ebd., S. 105f. In: „Adolf Stoecker, Erbe und Verpflichtung", ebd., S. 125, wird behauptet, Theodor Christlieb habe zur Berufung von Schlümbachs ein Komitee gebildet, dem neben Adolf Stoecker auch Jasper von Oertzen angehört haben soll. Diese Behauptung läßt sich nicht belegen, und die Darstellung von Oertzens läßt sie als nicht zutreffend erscheinen. P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 3 , S. 57, notiert nur, daß Jasper von Oertzen von Schlümbach .aufnahm'. Auch Gustav Ihloff (Bearbeiter), Im Weinberge des Herrn oder Fünfzig Jahre Evangelisation und Gemeinschaftspflege in Schleswig-Holstein. Neumünster 1907, der einen ausfuhrlichen Abschnitt Jasper von Oertzen widmet (S. 42-62), ist kein diesbezüglicher Hinweis zu entnehmen. 163 Jasper von Oertzen, S. 120. Vgl. im Anhang Nr. 3 den Vortrag im Zusammenhang, den Ihloff, a. a. O., S. 46-53, abdruckt.

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Aufschlußreich für seine Haltung gegenüber der Kirche ist eine Äußerung in Zusammenhang mit der Gestalt von Schlümbachs: „Es ist mir auch so gegangen wie gewiß vielen von uns, als ich zum Leben kam und hindurchdrang. Soll ich mich der oder jener Partei anschließen? ich bin alles mögliche gewesen: ich war baptistisch, methodistisch, irvingianisch angeweht, ich habe alles durchkämpfen müssen. Aber ich habe das daraus gelernt, daß es in allen diesen Gemeinschaften menschelt wie in den großen Kirchen. Später ist mir der Blick aufgetan worden für die Bedeutung der Volkskirche und zwar durch einen Christen, der von Nord-Amerika kam. Fr. von Schlümbach sagte mir einmal: „Redet ihr in Deutschland doch nicht v o m Heidentum. Ihr wißt gar nicht, was das ist. Was neben den Christengemeinden in Amerika von heidnischen Wesen herläuft, davon habt ihr gar keinen Begriff. Wenn ich hier in Europa eine Ansprache halte, da finde ich Verständnis. Woher kommt das? Das Volk ist getauft, und das ist nicht gleichgiltig; sehr oft ist christliche Kindererziehung darauf gefolgt und viele sind durch einen gläubigen Konfirmanden-Unterricht hindurchgegangen; darin liegen große Segnungen"." 1 6 4

3. Andreas Graf von Bernstorff,165 geboren am 2 0 . 5 . 1 8 4 4 in Berlin und dort auch am 21.4.1907 gestorben, schätzte seine eigene Rolle bei der Begründung der Gnadauer Konferenz so gering ein, daß er sie in seinem autobiographischen Lebensabriß „Er hat alles herrlich gemacht" nicht einmal erwähnt. 1 6 6 Als Sohn des preußischen Diplomaten, Albrecht Graf von Bernstorff 1 6 7 wuchs er in verschiedenen euro164 Jasper von Oertzen, S. 136. Diesem Selbstzeugnis entspricht die Charakterisierung Paul Fleischs: „Er stand seit seiner Erweckung auf Allianzstandpunkt, lernte jedoch immer mehr die Landeskirche schätzen." a. a. O . , S. 58. 165 Dem folgenden Uberblick über Leben und Wirken des Andreas Graf von Bernstorff wird zugrundegelegt: ders., Er hat alles herrlich gemacht. Eine autobiographische Skizze. Hamburg, o. J . (1906); im folgenden zitiert als „Autobiographische Skizze"). Das von Hedwig von Redern verfaßte Lebensbild (Andreas Graf von Bernstorff, Schwerin 1909) war mir nicht zugänglich. Da die zuverlässigen Quellen spärlich sind, ist dieser Überblick kürzer gefaßt. H. von Sauberzweig gibt auch im Literaturverzeichnis keine Quelle für seinen Lebensabriß Graf Bernstorffs an (S. 122-126). D . Lange verweist bei seinen Angaben auf von Sauberzweig (S. 73, Anm. 146). Vgl. die Nachrufe in: Der Reichgottesarbeiter 4, 1907, 81-85, Philadelphia 17, 1907, S. 65 u. Evangelisches Allianzblatt 17, Nr. 19, S. 149f. Vgl. auch P. Fleisch, a . a . O . , S. 167-170. 166 In der Tat lag sein Hauptwirkungsfeld in der Allianz-Arbeit. Vgl. P. Scharpff, Geschichte der Evangelisation, S. 247: „ . . . sein Berliner Haus diente jahrzehntelang . . . als Treffpunkt der Berliner Allianzfreunde." Vgl. unten Anm. 180. So mag seine Rolle bei dem Zustandekommen der 1. Gnadauer Konferenz auch geringer zu veranschlagen sein als die von Pücklers und von Oertzens. - Eine generelle Zurückhaltung in Äußerungen zur eigenen Person wird in Bernstorffs „Laienbetrachtung über die Pastoralbriefe," (1898) deutlich. Sie wird ihm auch posthum bescheinigt. Vgl. Evangelisches Allianzblatt 17, Nr. 18, S. 142 (anonym). 167 Albrecht Graf von Bernstorff überbrachte im Auftrag Friedrich Wilhelms IV. 1855 dem

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päischen Hauptstädten auf. In die Londoner Dienstzeit seines Vaters (1854— 1860) fiel die Begegnung mit dem Begründer englischen Allianz, Sir Culling Eardley, 168 1 858. „Dieser Mann war ein warmherziger und entschiedener Christ. Seine Hausandachten, in denen er frei aus dem Herzen betete, machten einen tiefen Eindruck auf mich." 169 Als Nachwirkung dieser Begegnung las er viel im Neuen Testament. „Damals fiel mir Abbots „YOUNG CHRISTIAN" in die Hände . . . Das Buch machte mir den eigentlichen Hauptinhalt des ganzen Christentums recht klar-nämlich, daß wir Sünder vor Gott sind, daß aber einer, Christus, unsere Strafe getragen hat." 170 Den entscheidenden letzten Anstoß erhielt er durch ein Traktat des Bischofs von Liverpool, Ryle. „Es war ein kleines Blättchen von zwei Seiten und trug die Überschrift: „Don,t be afraid" (Fürchte dich nicht). Darin war u. a. zu lesen: „Wie viele Bibeln würden gelesen werden, wenn die Besitzer es wagten: Wie viele Knie würden sich im Gebet beugen, wenn die Furcht vor Freunden, Kameraden usw. es nicht verhinderte!" Ich mußte mir sagen: das ist ja ganz mein Fall! So half mir der heilige Geist, die letzte Fessel zu zerreißen, und ich vollzog an jenem Abend meine bewußte Übergabe an den Herrn." 171 Er begann, erst englische, dann deutsche, Traktate selbst zu verfassen, die er auch drucken ließ. „Auch in den Jahren 1860 und 1861, wo ich als Primaner in Dresden auf dem Gymnasium war, verteilte ich auf Sonntagsspaziergängen öfters Traktate und legte auch in meinen deutschen Aufsätzen ein Zeugnis für das Christentum a b . . . . Ich stand damals ziemlich allein, habe aber das erste Jahr nach meiner Bekehrung zu fleißigem Bibelstudium verwandt. Ich suchte mir zu allen christlichen Lehren die Bibelstellen selbst heraus, um allein auf dem Boden des Wortes Gottes zu stehen und ich habe dieser Zeit für mein ganzes späteres Leben viel verdankt." 172 Auf Wunsch des Vaters begann er ein Jurastudium in Berlin. 173 Nebenbei hörte er theologische Vorlesungen. „Oberhofprediger D. Kögel 174 wünschPräsidenten der britischen Allianz, Sir Culling Eardley, ein Einladungsschreiben für die folgende internationale Allianz-Konferenz nach Berlin (1857). Vgl. E. Beyreuther, Der Weg der Evangelischen Allianz in Deutschland, Wuppertal 1969, S. 29. N a m e und Herkunft der Mutter waren nicht zu erschließen. 168 Zu Sir Culling Eardley vgl. E. Beyreuther, a . a . O . , S. 14f. (Verbindung zu J. H. Wichern), S. 18. 29-37, 43; P. Scharpff, a. a. O., S. 247. 169 Autobiographische Skizze, S. 5. 170 Ebd., S.6. 171 Ebd. u. S. 7. 172 Ebd., S . 8 f . P. Fleisch, a . a . O . , S. 167f. zitiert aus Hedwig von Rederns Biographie (S. 22), etwas anderslautend: „Ich suchte mir zu allen einzelnen Lehren die Stellen in der Bibel zusammen und schrieb sie aus. So lernte ich nicht nur die Schrift kennen, sondern meine Glaubenslehre baute sich ohne menschliche Dazwischenkunft auf die Schrift auf." Fleisch urteilt dann: „Als ob nicht die Zusammenstellung der „einzelnen Lehren" und diese Art Benutzung der Schrift schon auf einen ganz bestimmten Typus des Christentums zurückführten!" 173 P. Fleisch, ebd., Anm. nennt als zweiten Studienort Heidelberg. 174 Johannes Theodor Rudolf Kögel (1829-1896), seit 1863 H o f - und Domprediger in

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te sehr den Eintritt von jungen Leuten aus meinen Kreisen in das Pfarramt und redete mir zu. Meine englischen Freunde waren meist dagegen. - Wenn ich die Sache nach Ablauf des juristischen Studiums aufgab, so war es, weil schon immer das Zeugen von Laien mich begeistert hatte.... Ich habe diesen Entschluß auch nie bereut - ich glaube sicher, es war Gottes Weg für mich. Mein Leben lang schätze ich mich glücklich, als Laie das Evangelium predigen zu dürfen." 175 1864 bis 1903 versah Bernstorff verschiedene Ämter im Staatsdienst;176 Legationssekretär in Washington, Landrat in Ratzeburg und zuletzt Mitarbeiter im Kultusministerium in Berlin waren die wichtigsten Stationen. 177 Berlin, Mitglied des Evangelischen Oberkirchenrats, seit 1880 Oberhofprediger und zeitweilig zugleich Generalsuperintendent der Kurmark. Vgl. G. Besier, Preußische Kirchenpolitik in der Bismarckära, S. 180, Anm. 362 (dort Literatur), u. ö. 175 Autobiographische Skizze, S. 10. - O b w o h l gut zehn Jahre später verfaßt, seien hier doch einige diese Einstellung weiter charakterisierende Zeilen aus den „Laienbetrachtungen über die Pastoralbriefe" zitiert: Unter Bezugnahme auf 1. Timotheus 1, 2-7, schreibt er: „Solche Spitzfindigkeiten finden wir auch noch in derjetzigen Christenheit. Aber kitzliche (sie!) theologische Fragen dienen nicht zur Besserung. Wir sollen nicht der Schrift Meister sein wollen, sondern kindlich annehmen, was sie uns sagt. Wir sollen Gottes Wort so treiben, daß es zu unserer eigenen und unserer nächsten Besserung dient. Worauf es ankommt, ist die Liebe." a . a . O . , S.7. 176 Es ist bemerkenswert, daß von Bernstorff trotz seiner vielen (s. unten) Ehrenämter den Staatsdienst nicht, wiez. B. Eduard von Pückler, quittierte. - Ein Motiv fur diese Entscheidung könnte in seiner Hochschätzung der monarchischen Staatsverfassung liegen, die in der eben (Anm. 175) zitierten Auslegung der Pastoralbriefe zum Ausdruck kommt. Unter Bezugnahme auf 1. Timotheus 2, 1-4, heißt es da: „Ja, das Wachstum des Reiches Gottes auf der ganzen Erde soll uns am Herzen liegen. Wir sollen uns eins fühlen mit den Christen aller Völker und aller Zungen und für sie beten, daß sie im Glauben wachsen - wir sollen aber auch beten für alle Namen-Christen, Juden, Muhamedaner und Heiden, daß sie zum rechten Glauben kommen. Eine Beschränkung der Gebete auf unsere Nation ist nicht christlich. Dann sollen wir aber vor allem beten fur die Könige und alle Obrigkeit. Der Grund ist sogleich angegeben - damit wir ein ruhiges und stilles Leben fuhren, und zwar in Gottseligkeit und Ehrbarkeit, d. h. in einer Lebensgemeinschaft mit Gott und so, daß wir auch vor den Menschen alle Gesetze erfüllen. Der Staat kann keine Christen machen - er kann von Niemandem die Bekehrung erzwingen - das ist auch nicht sein Beruf - aber er kann so geordnete äußere Verhältnisse herbeiführen, daß die Verkündiger des Evangeliums ungehindert ihres Berufs warten und Seelen zu Christo fuhren können. Als Pfarrer Blumhardt im März 1888 in Berlin predigte, konnte er es unserem eben heimgegangenen großen Kaiser, Wilhelm I., nachrühmen, daß unter ihm das Reich Gottes sich bei uns habe frei entwickeln können. Das war ein großes Lob. In unserer Zeit sind furchtbare Mächte der Bosheit vorhanden. Daß sie nicht wilder hervorbrechen, liegt an der starken monarchischen Gewalt. Wir wissen vielleicht gar nicht, wieviel wir es unserem Kaiser Dank schuldig sind, daß wir noch ungehindert fur das Reich Gottes arbeiten können. Darum schon allein müssen wir für ihn beten - und nicht bloß Sonntags im allgemeinen Kirchengebet, sondern täglich, allein und gemeinsam. Aber die Könige brauchen nicht bloß deshalb so sehr unsere Fürbitte, weil soviel von ihnen abhängt, sondern auch weil sie so vielen Gefahren ausgesetzt sind. Sie stehen auf einsamer Höhe und haben selten jemanden, der ihnen aufrichtig die Wahrheit sagt. Darum hat Gott aber auch gerade gesagt, daß Er die Herzen der Könige lenkt wie Wasserbäche." 177 „Er . . . arbeitete als Legationssekretär in Dresden, London, Wien und Washington, war 1874 bis 1880 Landrat von Lauenburg und wurde dann ins Kultusministerium nach Berlin

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Den Überblick über seine Mitarbeit in christlichen Organisationen leitet er so ein: „Ich bin bei sehr vielen Arbeiten beteiligt gewesen. Wohl weiß ich, daß mir einige nur zugefallen sind wegen meiner sozialen Stellung im Leben, andere wegen meiner Kenntnisse fremder Länder und besonders der englischen und französischen Sprache. 178 ... Da ich während eines sehr guten Konfirmandenunterrichts, dem ich übrigens immer dankbar geblieben bin, in der deutschen lutherischen Kirche in London, . . . die Lebenseindrücke von anderer Seite empfing, ist es begreiflich, daß ich mich niemals zur konfessionellen Seite neigte ...", 1 7 9 Es wurde 1869 in das Komitee der Evangelischen Allianz berufen und wurde 1870 Vorsitzender des deutschen Zweiges. 1 8 0 Als Nachfolger des Baron Moritz von Ungern-Sternberg übernahm er den Vorsitz der „Deutschen Evangelischen Buch- und Traktatgesellschaft", redigierte 18Jahre lang das Erbauungsblatt „Die Friedenshalle", begründete mit anderen zusammen die erste Sonntagsschularbeit 1864 in Berlin, engagierte sich im Komitee des Evangelisationswerks in Spanien, dessen Vorsitzender er 1887 wurde, Schloß sich dem ersten Christlichen Verein Junger Männer in Berlin an und wurde dessen Vizepräsident. 1884 präsidierte er der Konferenz des Weltbundes der CVJM in Berlin und nahm an allen weiteren Weltkonferenzen teil. 181 Für die Gemeinschaft im Berliner Westend kaufte er 1896 ein Versammlungshaus, hielt dort wöchentlich Bibelstunden und Sonntags versammlungen. Im selben Jahr gründete er die Gemeinschaft Südost in Berlin und übernahm 1894 auch den Vorsitz des schleswig-holsteinischen Gemeinschaftsvereins als Nachfolger seines Freundes J. von Oertzen. 182 berufen."P. Fleisch, a. a . O . , S. 167Anm. (ohne Beleg). Seine letzte Amtsbezeichnung lautete: Wirklicher Geheimer Oberregierungsrat und Vortragender Rat im Kultusministerium und Kammerherr. Vgl. (o. Verf.) Graf Andreas Bernstorff, Ein zweifach Geadelter. In: Evangelisches Allianzblatt 17, Nr. 19, S. 149. Über sein Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst berichtet Hans von Sauberzweig, a. a. O., S. 123f.: „Die diplomatische Laufbahn, in der sich der Graf einige Zeit versuchte, fand 1873 in Washinghton ein jähes Ende. Dorthin war er als Legationssekretär bei der Deutschen Botschaft berufen worden. So wie es Bernstorff in Deutschland selbstverständlich geworden war, so suchte er auch jenseits des Ozeans fur seinen Herrn zu tun. Man holte ihn in christliche Versammlungen. Als er einmal über das Thema der Sonntagsheiligung sprach, griffen deutsche Zeitungen in den USA seine Rede auf, verstümmelten sie und beschuldigten ihn, er habe die Deutschen in Amerika als Sabbathschänder beschimpft. Bernstorffs Chef, der Herr von Schlötzer, konnte den religiösen Eifer seines Legationssekretärs nicht verkraften. Ein Telegramm Bismarcks rief diesen an das Krankenbett seines Vaters in London und damit für immer aus dem diplomatischen Dienst." 178 Autobiographische Skizze, S. 12. 179 Ebd., S. 13f. Vgl. P. Fleisch, ebd. 180 Diesen Vorsitz mußte er noch im gleichen Jahre wegen einer Versetzung ins Ausland aufgeben. Seit 1880 gehörte er wieder dem Komitee an und wurde von 1891 bis zu seinem Lebensende 1. Vorsitzender. Vgl. E. Beyreuther, a . a . O . , S. 51. Auch: Erich Geldbach, Art. Bernstorff, Andreas Graf von. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 59. 181 „Von 1884 bis 1905 leitete er die Konferenzen des Weltbundes der Christlichen Vereine Junger Männer." Nachruf im Evangelischen Allianzblatt, a. a. O., S. 150. 182 Zusammen mit Jasper von Oertzen u n d j . H. Wichern gestaltete er 1870 die Gebetsversammlungen der Allianz in Berlin. Vgl. E. Beyreuther, a . a . O . , S.51.

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Immerhin aus der Rückschau (1906) formuliert, kann die Haltung von Bernstorffs mit seinen Worten charakterisiert werden: „Auch heute glaube ich noch, daß es für einen gläubigen Christen einfach unmöglich ist, nicht mit Hand anzulegen am Aufbau des Reiches Gottes. Wo das der Fall wäre, ist noch etwas nicht in Ordnung." 1 8 3

5. Ergebnis

Versucht man aus diesen Lebensabrissen ein Fazit im Hinblick auf ihre Bedeutung, ihren Einfluß auf die entstehende Gemeinschaftsbewegung und die Gnadauer Konferenzen zu ziehen, kann man folgende Feststellungen treffen: Ein ehemaliger Offizier (Jahrgang 1833), ein ehemaliger Diplomat (Jahrgang 1844) und ein Jurist (Jahrgang 1853), alle drei von preußischem, norddeutschen bzw. ostdeutschem Adel unterzeichnen den Aufruf. 1 8 4 Alle drei sind unverheiratet. Sie sind vor ihrer Bekehrung keiner besonders geprägten christlichen Gruppe verpflichtet. Alle drei - der Diplomat und der Jurist haben England und Amerika bereist - haben internationale Erfahrungen und Verbindungen. Alle drei haben sich von einem Deutschamerikaner (von Schlümbach) für die Idee der Evangelisation gewinnen lassen. Sie sind Mitglieder der Volkskirche, fühlen sich aber einem überkonfessionellen Christentum mehr verpflichtet als irgendeiner Art von Konfessionalismus. Theologische Streitfragen halten alle drei für unfruchtbare Bemühungen. Alle drei sind von ihrem Stand und von ihrer Ausbildung her für Leitungsaufgaben prädestiniert. Sie sind durch ererbten Besitz finanziell so unabhängig, daß sie auf Erwerbsarbeit verzichten und sich ganz ihren christlichen Aktivitäten widmen können. Alle drei haben Funktionen und Gesinnungsgenossen (hier wird aus Gründen, die später genannt werden sollen, der Begriff „Brüder" vermieden) in ähnlichen oder den gleichen Vereinen und Komitees wie CVJM und Allianz. Von ihrem Herkommen her ist es nicht verwunderlich, daß sie politisch für die alte Ständeordnung optieren, kaisertreu sind und die zunehmende politische Einflußnahme der Arbeiterschaft und ihrer Organisationen vor allem als Bedrohung der (gottgewollten) Ordnung empfinden. 183 Autobiographische Skizze, S. 7 f. 184 Scharpff, a . a . O . , S. 283, hebt hervor, daß „auffallend viele Männer und Frauen des Adels" Träger der B e w e g u n g waren, und zählt neben den schon genannten auf: Von Rothkirch, Graf Harrach, von Kunowski, von Hasseil, von Starck, General von Patow in Zinnitz, Rittergutsbesitzer Hennig v o n j a g o w in Calberwisch, Oberstleutnant von Knobelsdorff, Generalleutnant von Viebahn, Baron Werner von Thiele-Winckler und seine Schwester E v a , Carl de Neufville, Emil Moritz von Bernus in Frankfurt, und fugt auch eine Auflistung der adligen Frauen an: H e d w i g von Redern, Frau von Plüskow, Frau von Oertzen, Frau von B ü l o w , Frau von Huchstetter, die Gräfinnen Elisabeth und Marie Esther von Waldersee, Fräulein von Maitzahn, T o n i von Blücher, Ida von Hindenburg und Ada von Kursenstjerna. Ebd. u. S. 284.

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Soziale Probleme kommen in ihren Blick, werden (und auch das ist bei dem Herkommen nicht verwunderlich) aber nicht unter ökonomischen Gesichtspunkten, sondern als Folgen einer fortschreitenden „Entkirchlichung" gesehen. Diese Analyse steht in einem Wechselverhältnis zu dem fundamentalistischen Bibelverständnis (Biblizismus) der drei theologischen Autodidakten. Unter endzeitlichen biblischen Aussagen und Kategorien deuten sie die bestehenden gesellschaftlichen Umwälzungen und die Konflikte mit der katholischen Kirche wie die Unfähigkeit der bestehenden protestantischen Kirchenorganisation, mit den Schwierigkeiten umzugehen, als Symptome (Wehen der Endzeit) des Zeitabschnittes in der Geschichte des Reiches Gottes, in dem es notwendig Kämpfe zwischen Licht und Finsternis, zwischen Satan und Christenvolk geben muß. Auf diesem Hintergrund entwickeln sie eine pragmatische Strategie an Handlungsmodellen - gewonnen aus der angelsächsischen Evangelisationsbewegung, der Gemeinschaftsbildung des Früh-Pietismus 18S und im Rückgriff auf dessen Legitimationsbegründung in Luthers diesbezüglicher Äußerung in der 'Deutschen Messe'.

185 Zur Gemeinschaftsbildung im Früh-Pietismus vgl. Kurt Schuster, Gruppe, Gemeinschaft, Kirche. Gruppenbildung bei Zinzendorf (Theologische Existenz Heute, NF, Nr. 85), München 1960. Auch: (trotz z.T. überzogener Urteile): Martin Scharfe, Die Religion des Volkes, Kleine Kultur- und Sozialgeschichte des Pietismus. Gütersloh 1980, bes. S. 63-67.

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III. Das Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Konferenz von 1887 1. Die Vorgeschichte zum

Einladungsschreiben

Im Anschluß an die Wuppertaler Festwoche 1887 tagte am 13. und 14. April 1887 die „periodisch wiederkehrende Generalkonferenz des deutschen Evangelisationsvereins im Johanneum zu Bonn". 186 Auf dieser Sitzung wurde die „Einladung zu einer freien Konferenz christlicher Männer aus allen Landeskirchen Deutschlands (und der deutschen Schweiz) in Berlin 27. 28. 29. Sept. 1887." abgefaßt und verabschiedet. 187 Neben den schon bekannten von Bernstorff, von Oertzen und von Pückler waren anwesend: der Bonner Praktische 186 Der „Deutsche Evangelisationsverein" kann als eine Vorläuferorganisation der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung angesehen werden. 1883 hatte Theodor Christlieb zur Errichtung einer Evangelisten-Ausbildungsstätte in Bonn ein Haus - das „Johanneum" - erworben. Dort traf sich auf seine Einladung hin vom 18. - 20.3.1884 ein Kreis von Männern, um die Frage der Evangelisation für Deutschland zu beraten. Z u diesem Kreis gehörten neben anderen auch Elias Schrenk, E. von Pückler, J. von Oertzen und Graf Bernstorff, die dann auch mit anderen das Komitee des Evangelisationsvereins bildeten. Der Verein stellte später Elias Schrenk als ersten Evangelisten an. Der förmliche Beschluß, die Arbeit der Evangelistenschule als Ausbildungsstäte aufzunehmen, wurde während der Generalkonferenz vom 31.3. 2.4.1886 gefaßt. Neben Christlieb, von Oertzen, von Pückler, von Bernstorff und Schrenk waren auch Adolf Stoecker und Friedrich von Schlümbach als Gäste erschienen. Als ersten Inspektor gewann man im selben Jahr Prof. Dr. Gottlob Pfleiderer (vgl. unten III. 4. 3.). Z u m Evangelisationsverein vgl. H. Klemm, a. a. O . , S. 260-266. 303-309. P. Fleisch, a. a. O . , S. 8287. D. Lange, a. a. O., S. 73-78. Es geht hier vor allem darum, die Verbindung der Personen untereinander deutlich zu machen. Eine detaillierte Untersuchung des Evangelisationsvereins gibt es noch nicht. Zur Satzung des Vereins s. J. Ohlemacher, a . a . O . , S. 23, zur Zielsetzung und Arbeitsweise der Evangelistenschule Johanneum s. ders., a. a. O., S. 48-51 u n d : . . . die in der Kraft Evangelisten sein. Fünfzigjahre Evangelistenschule Johanneum 1886-1936. Festschrift zur Jubelfeier. (Hrsg. v o m Vorstand desjohanneums). Wuppertal-Barmen o. J. (1936), bes. S. 5. 12-14. 187 Aus dem Gnadauer Archiv liegt eine handschriftliche Fassung dieses Einladungsschreibens vor, die geringfügig von dem i n j . G. Pfleiderer (Hrsg.) Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz . . . , Gnadau 1888, S. 2-13, veröffentlichten abweicht. Die handschriftliche

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Theologe Prof. Dr. Theodor Christlieb, 188 der ehemalige Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft Dr. Friedrich Fabri, 189 Bad Godesberg, der Prediger Elias Schrenk, 190 Marburg, und die Pastoren Julius Dammann, 191 Essen, Julius Kraft, 192 Berlin, und Theodor Ziemendorff, 193 Wiesbaden. Ohne Namensnennung werden summarisch aufgeführt: ,das Bonner Lokalkomitee und einige liebe Gäste aus Rheinland, Westfalen und der deutschen Schweiz.' 194 Die ausfuhrliche Begründung zu der Konferenzeinladung wurde einem Ausschuß aufgetragen, über dessen Zusammensetzung unten zu berichten ist. Christlieb, Schrenk, von Bernstorff, von Oertzen, von Pückler und Ziemendorff wie Dammann gehörten seit 1884 dem Komitee unter dem Namen „Deutscher Evangelisationsverein" an. Auch dieses Komitee war auf Anregung von Schlümbachs (in einem Gespräch mit Christlieb) entstanFassung trägt im Kopf die Vermerke „Entwurf' (links) und „Vertrauliche Mittheilungen" (rechts). Der Verfasser ist nicht zu ermitteln; die Handschrift stimmt allerdings mit der in den Protokollbüchern des Johanneums der Zeit überein und läßt a u f j . G. Pfleiderer schließen: Mit roter Tinte hat der spätere Vorsitzende Walter Michaelis in den Kopf der ersten Seite geschrieben: „Entwurf der Einladung zur ersten Gnad. Konf.". Am Ende findet sich mit Bleistift (sonst Tinte) der Vermerk: „Hieher die Namen der Einladenden (aiphabet, geordnet): Brief folgt". Der Notiz ist zu entnehmen, daß je ein Abzug mit einem Begleitschreiben an einen Kreis von Männern geschickt wurde, die dann schriftlich ihr Einverständnis erklärten, daß sie bereit waren, als Einladende zu zeichnen. Das Verfahren war wohl wegen der großen räumlichen Entfernungen zwischen den infrage kommenden Persönlichkeiten geboten. Die Vielzahl der Unterschriften unter dem Einladungsschreiben (vgl. Ohlemacher, a. a. O., S. 32f.) ist so leicht zu erklären. Wichtig ist fur die Abfassung des Schreibens, daß es also nicht nur unter dem Aspekt, wer die Verfasser waren, zu beurteilen ist, sondern auch unter dem, wen sie mit dem Inhalt zum verantwortlichen Mittun gewinnen wollten. 188 Vgl. unten, III. 4. 2. 189 Vgl. unten, III. 4. 5. 190 Vgl. unten, III. 4. 4. 191 Ernst Julius Franz Friedrich Damman (1840-1908), seit 1885 Pastor an der Pauluskirche in Essen, seit 1887 Herausgeber des Gemeinschaftsblattes „Licht und Leben". Literatur bei H. Klemm, Elias Schrenk, S. 574, Anm. 79 b. 192 Julius Adolf Gottlieb Kraft (1825-1895), zuletzt Pfarrer an der Zions-Gemeinde in Berlin, in der Friedrich von Schlümbach 1883 erfolgreich evangelisiert hatte. Vgl. Klemm, a. a. O, S. 555, Anm. 34, u. S. 266, wo die Notiz steht, daß Kraft für das Komitee der Evangelistenschule Johanneum neben anderen vorgeschlagen war. 193 Theodor Ziemendorff (1837-1912), seit 1869 Pfarrer in Wiesbaden, Leiter und Begründer der Stadtmission ebd. Seit 1886 Mitglied des Evangelisationsvereins. Er stand der Heiligungsbewegung nahe, und in seinem Haus hielt Theodor Jellinghaus (s. unten VI. 2.) jährlich eine „Bibelschule" ab. 1887 evangelisierte Elias Schrenk auf seine Einladung hin in Wiesbaden. Mit freundlicher Genehmigung von Frau Pfarrerin Adelheid Ziemendorff, Gießen, als Enkelin können im Anhang als Nr. 8 die Eintragungen aus dem Gästebuch von Theodor Ziemendorff mitgeteilt werden. Vgl. Ohlemacher, Art. Ziemendorff, Theodor. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 543. 194 Zum Ganzen vgl. im Anhang den vollständigen Wortlaut des Protokolls. H. Klemm, a. a. O., S. 330 f. nimmt nur marginal auf den Text Bezug. Ohne Quellenangabe, sehr pauschal und offenbar ohne Kenntnis des Textes sind die Ausführungen D. Langes, a. a. O., S. 82. - Die übrigen Teilnehmer der Sitzung müssen hier nicht berücksichtigt werden.

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den. Z u m Bonner Komitee gehörte der erste Lehrer der Evangelistenschule „Johanneum", D r . Gottlob Pfleiderer. Nach dem Protokollbuch d e s j o h a n neums hat H. Klemm den Verlauf der Sitzung skizziert. „Die Herbstversammlung 1887 in Berlin kam nicht zustande. Es war schon nicht ganz leicht gewesen, den Aufruf, auf den es ja so viel ankam, weil er doch in den weitesten Kreisen werben sollte, herauszubringen. So verschiedenartige Leute wie die damaligen Freunde des Evangelisationsvereins unter einen H u t zu bringen, war nicht einfach. Die Brüder in Berlin merkten es an O r t und Stelle am deutlichsten, daß sich gerade dort ein besonders starker kirchlicher Widerstand erhob und auch die politische Lage fur die Sache nicht günstig war. Sie rieten darum, die Tagung nach dem stillen Brüdergemeineort Gnadau zu berufen." 1 9 5 Das Treffen fand dann v o m 22. bis 24. Mai, in der Pfingstwoche 1888 statt. 1 9 6

2. Das Einladungsschreiben - Analyse Wie beim E n t w u r f soll zunächst ein Überblick über den Wortlaut des Textes gegeben werden, wobei im folgenden das Einladungsschreiben schon im Vergleich zum E n t w u r f dargestellt wird. Das Einladungsschreiben 1 9 7 unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von dem ersten Entwurf. Es ist fast dreimal so lang wie der erste Text und hat in seiner Ausführlichkeit eher den Charakter einer Programmschrift als den einer Einladung. In dem Bestreben, möglichst viele der potentiellen Gleichgesinnten für die Konferenz zu gewinnen, liegt sicher ein Grund für den vermehrten U m f a n g . Dieses Ziel scheint auch erreicht worden zu sein, denn es liegen immerhin fünfundvierzig Unterschriften zur Einladung vor. Der Aufbau ist derselbe geblieben wie im Entwurf: Allgemeine Zeitanalyse, Kirchliche Lage, Ziele bzw. Aufgaben und zuletzt Mittel zur Erreichung der Ziele und damit der Zweck der Konferenz. 1 9 8

195 H. Klemm, a.a.O., S.331. 196 S. J. G. Pfleiderer (Hrsg.), Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz ..., Gnadau 1888. Die Konferenz selbst kann hier nicht mehr berücksichtigt werden. Der Wechsel des Ortes, der sicher von pragmatischen Gesichtspunkten bestimmt war, sollte auch von seinem grundsätzlichen Charakter her bedacht werden: Aus der politischen Zentrale in den abgeschiedenen Ort der Brüdergemeine. Vgl. im Anhang Nr. 6 die Sitzung vom Dezember 1887. 197 Vgl. im Anhang Nr. 5, auch: Ohlemacher, Quellen, S. 27-33. 198 Im Hinblick auf III. 4., 1-5, wird diese Analyse vor allem zur Erhellung des inneren Duktus durchgeführt. Die sachlich-inhaltliche Kommentierung folgt dann in Verbindung der Vorstellung der Urheber und ihrer theologischen Voraussetzungen.

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Die „Zeichen der Zeit" War die Zeitanalyse im E n t w u r f auf das „Reich Gottes" bezogen, k o m m t jetzt das .öffentliche Leben' in den Blick: „Wir leben in einer ernsten, bewegten Zeit, die erfüllt ist von tiefgreifenden Fragen, von scharfen Gegensätzen in allen Gebieten des öffentlichen Lebens." Diese Feststellung gilt auch für das .religiöse Leben unseres Volkes'. In proportionalem Verhältnis wächst die Macht bewußten Unglaubens mit der Schar der Gläubigen. Lokalisiert werden diese Verhältnisse besonders „in unsern großen Städten und in den bevölkerten Fabrikbezirken", und es wird erkannt, daß sich mit der neuen Situation „neue Aufgaben" stellen für alle, „die der Überzeugung sind, daß das Evangelium von Christo Jesu eine Kraft Gottes zur Rettung und Seligmachung aller Menschen in allen Zeiten ist." 1 9 9

Die kirchliche Lage Im Rückblick auf die letzten fünfzig Jahre wird erst einmal eine positive Bilanz gezogen: Verdienste der äußeren und inneren Mission, „Heranziehung der Frauenwelt in der Diakonissensache und verwandten Liebesdiensten", Arbeit der Stadtmission, rechte Verkündigung, zunehmendes aktives Engagement .christlicher Männer als allerlei Volk'. „Ja wir dürfen sagen: die Sache des Reiches Gottes geht auch unter uns voran, mächtiger, denn je in einer früheren Zeit."200 Im folgenden k o m m t dann die kirchliche Lage nur noch im Z u s a m m e n hang mit den programmatischen Forderungen der Verfasser in den Blick und bildet so etwas wie eine negative Folie, eine Sammlung von Defiziten: 2 0 1 - „dem Streit der theologischen und kirchlichen Parteiung"; 2 0 2 - die neueren presbyterialen und synodalen Ordnungen werden als grundsätzlicher Fortschritt anerkannt, 2 0 3 „obgleich wir uns dessen wohl bewußt 199 Ohlemacher, a. a. O., S. 27. 200 Ebd. Sperrdruck und Kursivsetzungen im Original werden im Folgenden durch Kursivsetzung wiedergegeben. 201 Die Defizite werden in der Reihenfolge ihrer Nennung aufgeführt. 202 Dieser Streit ist ausfuhrlich dargestellt bei G. Besier, a. a. O., passim. In F. Mildenbergers "Geschichte der deutschen evangelischen Theologie im 19. und 20. Jahrhundert,, k o m m t der Faktor der Auseinandersetzungen um die Verfassung der Kirche im Ganzen zu kurz. Die Klage über die Streitsucht der Theologen gehört zum festen Kanon der gravamina der Pietisten seit Spener. Vgl. Philipp Jacob Spener, Pia Desideria (hrsg. von Kurt Aland). 3. Aufl. Berlin 1964. (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen 170), S. 20-27. 203 Z u r presbyterial-synodalen Kirchenverfassung vgl. G. Besier, Preußische Kirchenpolitik, passim. Besier resümiert, daß sich zwischen 1866 und 1872 „das Prinzip der konsistorialsynodalen Mischverfassung in Preußen" durchgesetzt habe, die „kurz darauf unter Falk (preußischer Kultusminister, d. Verf.) in allen preußischen Kirchenprovinzen Eingang" fand. Ebd.,

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sind, daß in der G e m e i n d e J e s u j e d e äußere B e r u f u n g nur s o w e i t ihren Z w e c k w a h r h a f t erfüllen kann, als d i e zur M i t a r b e i t Berufenen vom Geiste des Glaubens erßllt und getragen sind."204 D e r Fortschritt w i r d s o g l e i c h f u n d a m e n t a l infrage gestellt in der H i n s i c h t , - daß die äußere B e r u f u n g s o l a n g e nichts tauge, als die innere f e h l e . 2 0 5 Verstärkt w i r d diese indirekte Kirchenkritik d a n n n o c h d u r c h die f o l g e n d e Passage, die d e n „ B e w e i s , daß ein Glaubenstrieb zur M i t a r b e i t an d e n A u f g a b e n des R e i c h e s G o t t e s . . . w i r k s a m g e w o r d e n ist", in d e n freien W e r k e n (fraglos!) g e g e b e n sieht (und e b e n n i c h t s o fraglos in d e n kirchlichen Bemühungen). - „Es ist eine u n l e u g b a r e T h a t s a c h e , daß an v i e l e n O r t e n , n a m e n t l i c h in d e n g r ö ß e r e n Städten das geistliche A m t , auch w o T r i e b u n d W i l l e h i e z u kräftig v o r h a n d e n sind, v ö l l i g außer Stande ist, d e n i h m gestellten A u f g a b e n in B e z u g a u f V e r k ü n d i g u n g des E v a n g e l i u m s u n d S e e l s o r g e n o c h i r g e n d w i e gerecht zu w e r d e n . " 2 0 6

S. 536. - Von den bisher genannten Personen hatte sich allein Friedrich Fabri mit mehreren Kampfschriften an den Auseinandersetzungen um eine Reform der preußischen Kirchenverfassung beteiligt. Vgl. dazu Besier, a.a.O., passim, bes. S. 68-81 (dort Lit. von F. Fabri zum Verfassungsstreit) u. S. 500-505. Vgl. auch: Klaus J. Bade, Friedrich Fabri und der Imperialismus in der Bismarckzeit. Revolution - Depression - Expansion. Freiburg/Zürich 1975, S. 3033 u. 43-53. 204 In der weiteren Geschichte der Gemeinschaftsbewegung hat diese Forderung zum Beispiel bei den Aufnahmebedingungen der Evangelisten-Schulen eine entscheidende Rolle gespielt. Vgl. die Aufnahmebedingungen des Johanneums I, 1: „Das erste Erfordernis bei der Aufnahme . . . ist persönliche Erfahrung der Gnade Jesu Christi" ..., Ohlemacher, a. a. O., S. 48; vgl. P. Fleisch, a.a.O., S. 85-87 und 207f. U m die Frage nach den Kriterien zur Beurteilung des Glaubensstandes hat es später manchen Streit gegeben. Unkritisch D. Lange, a.a.O., S. 76f. 205 Die Klage über den Mangel an „geistlicher Qualifikation" des Pfarrerstandes gehört ebenfalls zum Kanon des Pietismus. Vgl. nur Ph. J. Spener, a. a. O., S. 15-18. - Daß mit der Differenzierung zwischen äußerer und innerer Berufung der altkirchliche Donatisten-Streit seine thematische Wiederaufnahme findet, soll hier wenigstens angemerkt werden. Die Auseinandersetzungen der Gemeinschaftsleute mit „ungläubigen" Pfarrern hat hier ihren Ort und kulminiert später in der Abendmahlsfrage. 206 Als Beispiele werden in der Gemeinschaftsliteratur vor allem Hamburg und Berlin mit Parochien von 60-90000 Gemeindegliedern angeführt, die von einem einzigen Pfarrer versorgt werden sollten. In der Zeit von 1816 bis 1913 stieg die Bevölkerung Deutschlands infolge hygienischen und medizinischen Fortschritts von ca. 25 auf ca. 65 Millionen Einwohner. In der 2. Hälfte des Jahrhunderts intensivierte sich dieser Prozeß und verband sich mit dem anderen, durch die Konzentration der Industrien bedingten, zu einer gewaltigen Bevölkerungsverdichtung. „Mit der Verwandlung vom Agrar- zum Industriestaat verschob sich die Bevölkerungsverteilung zugunsten der mittleren und großen Städte." Um 1800 gab es in Deutschland 2 Großstädte (über 100000 Einwohner), Berlin und Hamburg, 1850-4, 1871-8, 1880-14, 1890-26. „Die Konzentration vieler Menschen auf geringem Raum war am deutlichsten in Berlin. Im Reichsgebiet von 1913 wohnten 1830je Quadratkilometer 55,1871-76, 1900-104 Menschen, in Berlin entsprechend 6679, 13951, 29793." Nach: W. Treue und Κ. E. Born, in: Bruno Gebhardt, Handbuch der deutschen Geschichte, Band III. In Verbindung mit Karl Erich Born, Max

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- Es gibt Versuche, die entfremdeten Massen auf dem Wege der Evangelisierung zu erreichen. Unverständnis und offener Widerspruch aus kirchlichen Kreisen sind die Reaktionen auf diese Strategie. Geschichtlich gesehen kein Wunder: „Zerteilt in eine Menge kleiner und kleinster, unter sich völlig getrennter, ganz staatskirchlich organisierter Landeskirchen, ist naturgemäß da und dort ein formal-büreaukratischer Geist in der Organisation und Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten vorwiegend geworden." 2 0 7 - Als positives Beispiel wird den deutschen Landeskirchen die sonst ,so stark katholisierende' englische Episkopalkirche vorgehalten, die seit neuestem „auch Laien durch eine besondere Weihe zum Evangelistenamt" berufe. 2 0 8 - „So lange die Kirche deutscher Reformation dem hier vorliegenden Bedürfnis gerecht zu werden vermag, haben freie Vereinigungen gläubiger Kreise doppelt Recht wie Pflicht, fur die Arbeit der Evangelisation... einzutreten." - Es geht bei diesen Anliegen nicht u m „kirchenpolitische, nicht Verfassungsreformen, nicht Dotationen der Kirche", 2 0 9 sondern u m den Bau des Reiches Gottes „in allerlei Weise mit den Mitteln des Gebetes und des Glaubens, mit den Mitteln Seines Geistes und Seiner Kraft." Die Möglichkeiten der Kirche werden den Möglichkeiten des Reiches Gottes formal-syntaktisch und inhaltlich gegenübergestellt. In den abschließenden drei Punkten, die die Überzeugungs-Grundlage für die Teilnehmer der Konferenz darstellen sollen, wird die Institution „Kirche" noch einmal unter einschränkenden Perspektiven gesehen: 1. Kirchliche O r d n u n g e n sind zu achten - aber das Recht auf Laienmitarbeit steht über einem einseitig amtsorientierten Kirchenverständnis. 2 1 0 2. Privaterbauung bietet eine wichtige Ergänzung zu den Gottesdiensten; ja, sie ist „für neuerweckte Christen oft eine unentbehrliche Stütze und heilsame Bewahrung" (unausgesprochen: die die Kirche nicht leistet!); sie

Braubach, Theodor Schieder und Wilhelm Treue hrsg. von Herbert Grundmann. 8. Aufl. (vollständig neubearb.) Stuttgart 1960, S. 300-307. 207 Diesen Vor wurf hatte Friedrich Fabri in seinen kirchenpolitischen Schriften wiederholt erhoben. Zuletzt in „Wie weiter? Kirchenpolitische Betrachtungen zum Ende des Kulturkampfs." Gotha 1887, vgl. S. 78f. Das ganze Programm Fabris läßt sich unter die Überschrift „Entstaatlichung der Kirche" stellen, s. a. a. O., S. 92 ff. 208 Konstatiert werden soll hier nur der Blick auf das englische Vorbild. Zur „Auffrichtung und fleissige Übung deß Geistlichen Priesterthums" vgl. Philipp Jacob Spener, a. a. O., S. 5861.

209 Das sind alles Themen, die im „Entwurf noch gar nicht im Blick waren, die aber in der genannten Schrift F. Fabris eine große Rolle spielen. Von „Dotationen der Kirche" ist von allen mir bekannten Schriften der Gemeinschaftsbewegung nur hier die Rede. In der genannten Schrift Friedrich Fabris, die ungefähr im gleichen Zeitraum wie das Einladungsschreiben entstanden ist, wird ausfuhrlich über die Frage der finanziellen Zuwendungen (Dotationen) des Staates für die evangelische und katholische Kirche gehandelt (vgl. S. 105-110). 210 Hier liegt das gleiche Gewicht vor wie bei Ph. J. Spener, a. a. O., S. 58 f.

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bietet „ A n t r i e b zur Vertiefung des inneren L e b e n s " u n d bietet einen g e w i s sen E r s a t z „für m a n g e l n d e K i r c h e n z u c h t . " 2 1 1 U n a u s g e g l i c h e n z u m G e s a m t d u k t u s ist d e r d r i t t e P u n k t f o r m u l i e r t ,

der

w o h l die m a s s i v e K r i t i k w i e d e r a u f f a n g e n soll: 3.

D i e Volkskirche

sei als e i n göttlicher

Segen

zu achten u n d „der Einfluß des

g e o r d n e t e n A m t e s in ihr zu s t ä r k e n . . . ; daß d a h e r separatistische T e n d e n z e n und unevangelische, s c h w ä r m e r i s c h e Heilsmethoden ferne zu halten seien" . . . A b e r v o n solchen Praktiken hatte m a n sich s c h o n v o r h e r d i s t a n z i e r t . 2 1 2 D i e F r o n t s t e l l u n g g e g e n ü b e r der katholischen K i r c h e , die i m

Entwurf

n o c h eine w i c h t i g e R o l l e gespielt hat, k o m m t in d e r E i n l a d u n g n i c h t m e h r

Ziele D a s Globalziel w i r d auch in e i n e m globalen Z u s a m m e n h a n g

formuliert:

„ D a s E v a n g e l i u m w i r d in d i e s e r W e l t z e i t u n t e r allen V ö l k e r n u n d i n a l l e n J a h r h u n d e r t e n n u r v o n einer Minderzahl w a h r h a f t verstanden u n d i m G l a u -

211 Vgl. Ph. J . Spener, a . a . O . , S. 59 und sein Vorschlag zur Errichtung von Collegia pietatis (S. 77f.) mit Friedrich Fabris Vorstellungen. Frappant ist die Ähnlichkeit in den Intentionen, die beide für die Qualifikationen der Amtsträger äußern. Spener: „Ein rechter Theologus wird nicht durch verstehen oder lesen oder tiefsinnen sondern durch lebenja durch sterben und verdamnuß." (a. a. O . , S. 77). Fabri: „Der junge evangelische Theologe soll ein Prediger des Evangeliums werden, des Evangeliums, das er nur aufgrund voller und freier persönlicher Überzeugung mit Kraft und Erfolg verkündigen k a n n . . . nicht Bücher, nicht Lehrer, als solche sind hierbei das entscheidende, sondern die innere, sittlich-religiöse Grundhaltung des Menschen und seine ihm innerlich gewisse Berührung mit dem in Christo sich offenbarenden lebendigen Gott." (a. a. O . , S. 100). 212 das Eindringen ausländischer Sendboten, die neben der Erbauung und Evangelisation separatistische Zwecke verfolgen" . . . , Ohlemacher, Quellen, S. 29. U m die Stärkung der Kirche und des Amtes ging es auch P h . J . Spener, a. a. O . , S. 67ff., und vielen Trägern des FrühPietismus, nur gab man den Begriffen eine eigene Füllung! 213 Dies ist umso auffallender als in der späteren Literatur der Gemeinschaftsbewegung die Anti-Rom-Haltung, die sich im Protestantismus im Gefolge des Kulturkampfes verstärkt hatte, kräftig zum Ausdruck kommt. Vgl. auch im Anhang Nr. 6: Noch während der Sitzung am 13. April 1887 hat die Frontstellung gegen die römisch-katholische Kirche eine Rolle gespielt! Auch an dieser Stelle scheint F. Fabris Einfluß greifbar, der in „Wie weiter?" a. a. O . , S. 81, im Sinne seiner kirchenpolitischen Interessen sehr ausgewogen und versöhnlich argumentiert: „Man müßte j a blind sein, um zu verkennen, daß trotz allen Gegensatzes der Protestantismus und der Katholizismus doch auch in der Gegenwart nicht unwesentliche gemeinsame Interessen haben. Wir hoffen auch, daß der heute den letzteren so übermächtig beherrschende ultramontane Geist in kommenden Zeiten wieder einmal einer freieren und milderen Richtung weichen werde; wieja alles in dieser Welt in stetem Flusse ist. Bei der römisch-katholischen Kirche aber alles ins Üble zu kehren, scheint uns nicht Ausdruck wahrhaft evangelischen Geistes, sondern Zeugnis protestantischer Voreingenommenheit."

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ben ergriffen. U m so mehr gilt es, diese Minderzahl zu mehren, so viel wie möglich Allen und auf allerlei Weise das Evangelium anzubieten. " 2 1 4 Für diesen Z w e c k müssen erst einmal die innerlichen Voraussetzungen in Vertiefung der christlichen Erkenntnis und Wachstum des inneren Lebens geschaffen werden. Die Frage der „Mitarbeit der „Laien", der Nichtgeistlichen" wie das Verlangen nach „Pflege der Gemeinschaft" und die Notwendigkeit einer „freien Evangelisationsarbeit" sollen als notwendige und sachgerechte Einrichtungen notfalls auch gegen den Willen der Kirchenregierungen durchgesetzt werden, u m das Globalziel zu verwirklichen. Die Konferenz verfolgt längerfristige Absichten: „Aber auch hiezu bedarf es des Z u s a m menschlusses in weiteren Kreisen, einer gewissen freien Organisation, u m nicht nur die Mittel zu beschaffen, sondern auch die Gaben zu prüfen und Unberufene ferne zu halten. " 2 1 S Die notwendigen Organisations-, Finanzund Personalfragen sind im Blick. In diesen Zielformulierungen gehen die Verfasser der Einladung über die entsprechenden im E n t w u r f hinaus; der weltweite Zusammenhang, die genauen Teilzielformulierungen und der Blick auf zukünftige N o t w e n d i g keiten verrät ein geschlossenes Konzept, während im E n t w u r f noch sehr viel offener formuliert wurde.

Mittel zur Erreichung der Ziele Auch hier m u ß wie im E n t w u r f wieder zwischen grundsätzlich-theologischen und praktischen Mitteln unterschieden werden. N e u ist gegenüber dem E n t w u r f die Hervorhebung der unbedingten Priorität einer Besserung des inneren Lebens. 2 1 6 Methodisch liegt hierin die Voraussetzung, wenn man die gesteckten Ziele erreichen will: „Alle w a h r h a f t e B e s s e r u n g , aller w i r k l i c h e Fortschritt, z u m a l i m religiösen Leben, r u h t zunächst a u f innerlichen V o r a u s s e t z u n g e n . N u r w o V e r t i e f u n g der christlichen E r k e n n t n i s u n d W a c h s t u m des inneren Lebens v o r a u s g e h t , w e r d e n j e n e K r ä f t e f r e i g e m a c h t u n d e n t w i c k e l t , w e l c h e u n s nicht n u r v o n d e m Streit der t h e o l o g i s c h e n u n d kirchlichen P a r t e i u n g ferne halten, s o n d e r n in ihrer B e t h ä t i g u n g auch u n a u f h a l t bar, weil m i t v e r b o r g e n e r göttlicher K r a f t w i r k e n d , nie leer z u r ü c k k o m m e n . In diesem Blick d ü r f t e es v o r allem die Lehre von der Heiligung, von dem neuen Leben in

214 Einladungsschreiben, Ohlemacher, Quellen, a. a. O., S. 27. 215 Ebd., S. 31. 216 Mit dieser Akzentsetzung klingen Verbindungen zu Traditionen der Mystik an, die Kurt Reuber (Mystik in der Gemeinschaftsfrömmigkeit der Heiligungsbewegung. Gütersloh 1938) eingehender untersucht hat. Sowohl die Wahl seiner Paradigmen wie sein Begriff von Mystik und die Vernachlässigung der Untersuchung des übergreifenden Denkrahmens der Mystiker im Vergleich zu dem in der Gemeinschaftsbewegung vorherrschenden, geben seinen Ergebnissen nur begrenzte Aussagekraft. Immerhin kommt er zu interessanten Einzelbeobachtungen und sieht eher intuitiv als methodisch klar erschlossen vieles in angemessener Weise.

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Christo sein, deren tiefere Erkenntnis und Erfassung in den Kreisen der an Christum Gläubigen not thut. Es gilt nicht nur die innere Beziehung der Heiligung zur Erlösung in schrift- und erfahrungsgemäßer Weise richtig zu erkennen, sondern unter solcher Erkenntnis und Erfahrung auch mit neuen Kräßen von Oben ausgerüstet zu werden. Wo Geist ist, da sind auch Kräfte, und wo Kräfte und Gaben von Oben sind, da sind auch Wirkungen (1 Kor. 12; Gal. 5,22; Ephes. 5,9). Wollen wir mit der Kraft des Evangeliums größere Wirkungen erzielen, so ist der Weg hierzu vor allem, uns und Vielen ein reicheres Maß des Geistes und damit auch der Kraft zu erbitten, zu Gefäßen der Gnade uns zubereiten und heiligen zu lassen. Wo dieser Zug kräftig waltet, da wird auch der Trieb nach Gemeinschaß der Gläubigen sich nicht nur lebendig regen, sondern auch in allerlei Weise seine Befriedigung suchen undfinden."217 Anklänge an die Heiligungslehre hat es im E n t w u r f nur in der Form des in Aussicht genommenen Referates des Generalsuperintendenten Braun gegeben. In der Begründung zur Einladung hat sie keine Rolle gespielt. Neben diesem Rekurs auf die Heiligungslehre fällt die Bezugnahme auf Luther und die Grundprinzipien der Reformation nicht mehr so sehr ins Gewicht. Sie „beweisen" nur, daß sich die Verfasser auf dem rechten Wege befinden.

Inhaltliche Änderungen gegenüber dem Entwurf Auch die geplante Konferenz erhält gegenüber dem E n t w u r f eine andere Stellung in der Strategie und eine andere Qualität. Wollte man dort die „Principien" auf der Konferenz klar legen und versuchen, die „entstandenen Schwierigkeiten zu beseitigen". So hat man hier schon die Prinzipien vor der Konferenz klargelegt. Galt die Einladung dort,allen christlichen Männern', „denen es Ernst damit ist, daß das Reich Gottes sich in Deutschland i m Frieden erbaue". So sind hier nur noch die erwünscht, „welche mit uns nachstehende Überzeugung teilen", und ausdrücklich „im Anschluß und auf G r u n d " der Darlegungen des Einladungsschreibens ergeht die Einladung. Die Bedingungen für die Teilnahme liegen also nicht nur in den genannten drei Überzeugungs-Thesen, sondern auch in der Ü b e r n a h m e der ganzen „Darlegungen". Die Begründung der Konferenz als Mittel der Konfliktlösung in dem biblischen Modell des Apostelkonzils, wie sie im E n t w u r f erfolgt war, entfällt ganz. Die Konferenz soll auch überhaupt nicht mehr der Konfliktlösung dienen, sondern der Durchsetzung einer bestimmten Strategie. „Der Zweck dieser Konferenz ist somit: I. Auf Grund der biblisch-reformatorischen Grundanschauungen das 217 Einladungschreiben, a. a. O., S. 28. Die Absätze sind zur Verdeutlichung der gedanklichen Gliederung vom Verfasser eingezogen worden.

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Recht der gemeinschaftlichen Privaterbauung, der Gemeinschaftspflege, der Evangelisation, sowie der Laienthätigkeit überhaupt in ihrem Verhältnis zum geordneten A m t und den Organen der Kirche klar zu stellen. 2 1 8 II. Durch brüderliche Gemeinschaft und Gebet sich neu zu stärken für die vielfachen Aufgaben, welche die Arbeit für das Reich Gottes uns in der Gegenwart vorlegt." Gleich der erste Punkt der Tagesordnung macht die Entschlossenheit der Verfasser noch einmal deutlich; denn neben Begrüßung und Mitteilungen stehen gleich „Wahlen" a n . 2 1 9 Das erste Referat-Thema blieb gleich, nur der Referent wechselte, statt Lange - Fabri. 2 2 0 Neu aufgenommen wurde das zweite Referat: „Die Notwendigkeit der organisierten Evangelisation neben dem pastoralen Amt und ihre Bedeutung fir das kirchliche Leben", Referent: J. von Oertzen. 2 2 1 Übereinstimmend mit dem Entwurf ist das dritte Thema: „ Was lehrt die heilige Schrift über Heiligung", anstelle des vorgesehenen Superintendenten Braun steht General-Superintendent a. D., D. th. Friedrich Geß. 2 2 2 Bei diesem nach dem 218 Es ist hier wichtig, die Gegenüberstellung von Recht und Kirche als Institution zu beachten. Das Recht der eigenen Anliegen wird von den Verfassern mit den für Protestanten wichtigsten Argumenten behauptet: Bibel und Reformation. In der Gemeinschaftsbewegung wird auch später ein Rechtsbegriff vertreten, der der von Rudolph Sohm (1841-1917) entwikkelten Auffassung sehr nahe kommt, nach dem das Kirchenrecht mit dem Wesen der Kirche im Widerspruche stehe. Das gleichzeitige Bleiben im Rahmen der verfaßten Kirche führte in der Gemeinschaftsbewegung zu einer ständigen Spannung. Eine Geschichte der Gemeinschaftsbewegung ließe sich von dem in ihr vorherrschenden Verständnis des Rechts her konzipieren. Zu R. Sohm vgl. Dieter Stoodt, Art. Sohm, Rudolph. In: E K L I I I , Sp 990-992 (Lit.), und: R . Sohm, Kirchengeschichte im Grundriß. 21. Aufl. Emmishofen o.J. (1. Aufl. 1887!), S. 27: „Wo Christus ist, da ist die Kirche. Sie erscheint, handelt in jeder Versammlung der Gläubigen. W o auch nur 2 oder 3 in Christi Namen versammelt sind, da ist Christus der Herr mitten unter ihnen, und darum ist in ihnen die Christenheit versammelt und wirksam mit allen ihren Gnadengaben. Es bedarf keines menschlichen Priestertums. Injeder Versammlung der Gläubigen ist die rechte Taufe und das rechte Abendmahl, ist die volle Gemeinschaft mit Christo, dem einzigen Hohenpriester und Mittler seiner Gläubigen. Es bedarf noch weniger einer rechtlichen Verfassung. Ja, jede rechtliche Verfassung i s t ausgeschlossen!" Vgl. S. 28. 143f. 219 In der handschriftlichen Fassung der Einladung fehlt der Passus zum ersten Abend noch ganz. Z u m einen handelt es sich da noch um den Entwurf, zum anderen verrät der ganze Duktus des Einladungsschreibens eine zielbewußte Entschlossenheit und dazu passen dann auch solche Konkretionen. Zum „Setting" der Konferenz gehörten in Anlehnung an das Vereinsrecht der Zeit Vorsitzender, Komitee und Wahlen. Wahlberechtigt waren laut Konferenzbericht nur die Unterzeichner der Einladung. (Vgl. J . G. Pfleiderer (Hrsg.), Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz, Gnadau 1888, S. 20. Zum Vereinswesen: Friedrich Naumann, Die sociale Bedeutung des christlichen Vereinswesen. Göttingen 1895, bes. die auf S. 1 vorangestellten Thesen. 220 In der handschriftlichen Fassung der Einladung ist noch Lange als Referent vorgesehen, der dann aber kurzfristig absagen mußte. V g l . J . G. Pfleiderer, a . a . O . , S. 40. 221 Da die Planung der Konferenz besonders im Vergleich zum Entwurf sehr durchdacht erscheint, ist zu beachten, daß dem Laien unter den Referenten das eigentliche Hauptreferat zugedacht worden ist. 222 Wolfgang Friedrich Geß (1819-1897), 1850 bis 1864 theologischer Lehrer am Basler Missionshaus (zusammen mit Carl A. Auberlen und Christoph J . Riggenbach) war Elias

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Duktus der Einladung entscheidenden Thema war nach der handschriftlichen Fassung Prof. D. Aug. Herrn. Francke, Kiel, als Referent vorgesehen. 2 2 3 Etwas verändert lautet bei Beibehaltung des in Aussicht genommenen Referenten Schmalenbach die Formulierung des vierten Hauptreferates: „Die Gemeinschaft der Heiligen und die notwendige Organisation der christlichen Gemeinschaften in Stadt und L a n d " . 2 2 4 Von den im Entwurf unter „Specialkonferenzen" rangierenden Themen sind die beiden ersten beibehalten worden, während das Kirche-Staat-Thema wie das sehr allgemeine vierte Thema fallengelassen wurden. 2 2 5 Der Zusatz über die Gestaltung der Abende und die Teilnahme der Frauen fehlt in der Einladung. 2 2 6 Dafür sind im Programm Abendversammlungen ohne geselligen Rahmen ausgewiesen. Eine straffe Organisation läßt sich also v o m Anfang bis zum Ende des Programms verfolgen.

Schrenks theologisches Vorbild. Seit 1864 Professor fur Systematische Theologie in Göttingen, ab 1871 in Breslau, war er zuletzt (1880-1884) Generalsuperintendent in Posen. Seinen Ruhestand verlebte er in Wernigerode. Lit. bei H. Klemm, a. a. O., S. 475, Anm. 74. Es gibt keinen Hinweis in der Literatur auf eine besondere Berührung Geß' mit der Heiligungsbewegung. Auch seine Ausführungen bei der Gnadauer Konferenz und die kritischen Stimmen zu seinem Referat machen deutlich, daß er nicht als Vertreter der Heiligungsbewegung selbst anzusehen ist. V g l . J . G. Pfleiderer, a . a . O . , S. 127-150undP. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 3 , S . 9 3 f . Die von D. Lange angeführte Stellungnahme des Pfarrers Ernst Lohmann (1860-1936) findet sich im Konferenzbericht in anderem Zusammenhang (a. a. O., S. 204f.), vgl. Lange, a. a. O . , S. 91. Zur Theologie des Württembergers Geß vgl. auch Wilhelm Schmidt, Art. Geß, Wolfgang Friedrich, in: R G G VI 3 (01). 223 Prof. D. August Francke (1853-1891), Neutestamentier in Kiel, sein N a m e taucht sonst nicht im Zusammenhang mit der Literatur der Gemeinschaftsbewegung auf. Ihm war das Thema zugedacht: „Was lehrt die heil. Schrift über Heiligung und die Gemeinschaft der Heiligen". 224 In der handschriftlichen Fassung: „Notwendige Organisation der christlichen Gemeinschaften in Stadt und Land." 225 Auch in der handschriftlichen Fassung ist noch von „Specialconferenzen" die Rede, und für das Bibelstundenthema wurden neben Friedrich Heinrich Julius Coerper (1874—1924, seit 1885 Inspektor der Evangelischen Gesellschaft in Elberfeld und Mitglied des Komitees der Evangelistenschule Johanneum) von Pückler und Pastor Ernst August Leonhard Müller, Barmen (1839-1925, seit 1868 Pfarrer in Barmen-Gemarke) genannt. Handschriftlich ist dann 'von Pückler' durchgestrichen. Vgl. Friedrich Coerper, Fünfzig Jahre der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland in Elberfeld-Barmen. Elberfeld o.J. (1898), S. 144-153. Lit. zu F. Coerper bei H. Klemm, a . a . O . , S.563, Anm. 5 e. Zu E. Müller vgl. H. Klemm, a . a . O . , S. 594, Anm. 30 c (und nicht wie S. 413 versehentlich 30 b!). 226 In der handschriftlichen Fassung heißt es: „Die Abende der 3 Tage sollen freien geselligen Zusammenkünften gewidmet sein, an denen Mittheilungen aus den verschiedenen Arbeitsgebieten erfolgen werden." Daß sowohl die besondere Rollenzuweisung für die Frauen aus dem Entwurf (Zuschauer!) wie ihre Erwähnung überhaupt entfallen, soll hier wenigstens konstatiert werden. Die Rolle der Frauen in den Gemeinschaften zu untersuchen, wäre eine lohnende Aufgabe. Lit.: Paul Fabianke, Die Arbeit der Frau in den Gemeinschaften. Striegau 1902.

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3. Zwischenergebnis im Hinblick auf die Verfasser Auch nach diesem Überblick über die i m Einladungsschreiben berührten Themen soll wie beim E n t w u r f aufgrund der Textanalyse festgehalten werden, was sich für den Verfasserkreis erschließen läßt. Eine Bewertung und Einordnung der Feststellung soll erst im nächsten Kapitel erfolgen (IV).

Das Lebensgejuhl und die Zeitdeutung Sowohl was die Analyse der „Weltzeit" angeht als auch die Vorstellung der notwendigen Strategien spricht aus der Einladung ein hohes Selbstbewußtsein. Konnte man aus dem E n t w u r f deutliche Anspielungen auf die .Kämpfe der Endzeit' heraushören, scheint die Einladung solcher Dramatik entkleidet. Eher ist ein Optimismus zu spüren, daß man Mittel und Wege weiß, die anstehenden neuen Aufgaben zu lösen. Der Begriff des „Reiches Gottes" hat sich verändert. 2 2 7

Die Position der Verfasser innerhalb der Volkskirche Die schon im E n t w u r f erkennbare kirchenkritische Haltung, die aber dort auf jeden Fall in den Dienst an der Kirche eingebunden ist, erscheint hier erheblich gesteigert, wie die Zusammenstellung oben deutlich belegt. Soweit die N a m e n der Teilnehmer an der Sitzung bekannt sind, gehören sie der Kirche an, aber sie sind entschlossen, das als notwendig Erkannte notfalls auch ohne Unterstützung der Kirche oder gegen sie durchzusetzen. Ja, wenn man die Aussage über die Reformunfähigkeit der Kirche ernst nimmt, m u ß der zukünftige Kurs der Verfasser gegen die Kirche gerichtet sein. Unausgeglichen dazu steht die „Überzeugung", „daß jedoch die bei uns bestehende Volkskirche als ein göttlicher Segen zu achten und der Einfluß des geordneten Amtes in ihr zu stärken sei!"

Das Verständnis von Gemeinschaft Der „Trieb nach Gemeinschaft der Gläubigen" wird sich im Gefolge einer verstärkten Beschäftigung mit der Heiligungslehre und in deren Gefolge gemäß einer neuen Ausrüstung mit Kräften von Oben .nicht nur lebendig regen, sondern auch in allerlei Weise seine Befriedigung suchen und finden'. Eine solche Ableitung des Gemeinschaftsverständnisses aus der Heiligung kennt der E n t w u r f nicht. Während es dort noch u m die „tiefe Sehnsucht" 227 Vgl. dazu unten S. 76-78.

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nach Gemeinschaft der Gläubigen geht, wird der Ausgangspunkt hier bei den .gläubigen Kreisen' genommen und nur noch die Forderung nach „Ausbreitung von religiösen Privatversammlungen" erhoben. Diese „Pflege der Gemeinschaft in den Kreisen der Gläubigen" wird als Schutz vor separatistischen Fehlentwicklungen den Kirchen zur Förderung dringend anempfohlen. Die angestrebte Gemeinschaft ist exklusiv „Gemeinschaft der Gläubigen", 2 2 8 die der Kirche mit ihren Wünschen und Bedürfnissen gegenübertritt. Allerdings fehlt die Kontrastierung zu den „Namenchristen" aus dem Entwurf. Die Kennzeichen der „Gemeinschaft" sind: 1. ihre Arbeit, ihr unbedingter Einsatz in christlichen Werken der Liebe und des Glaubens; 2. ihre Auffassung v o m Leben als Dienst für den Herrn; 3. ihre Vertiefung in die Heiligung; 4. in ihr wird das Recht auf Mitarbeit der Laien unbestritten anerkannt; 5. sie bildet die , Stützpunkte und Träger kirchlichen Gemeindelebens'; 6. sie gleicht bestimmte Mängel der Kirche aus.

Das Verständnis von Evangelisation In den begründenden Ausführungen des Entwurfs taucht nicht einmal der Begriff „Evangelisation" auf. Laienprediger werden nur im Zusammenhang von Konflikten mit der Landeskirche erwähnt und ob im Referat von Lange über Evangelisation gehandelt werden sollte, ist nicht bekannt, läßt sich aber aus dem oben angeführten Brief von von Oertzen an von Pückler schließen. Das Vorzeichen, unter dem die Evangelisationsarbeit steht, liegt in den Notständen dieser Weltzeit. Weil nur eine Minderzahl das Evangelium wahrhaft versteht, „gilt es, diese Minderzahl zu mehren, so viel wie möglich Allen und auf allerlei Weise das Evangelium anzubieten". Erste Versuche der „evangelisierenden Thätigkeiten" im Zusammenhang mit der Arbeit der Stadtmissionen werden als bedeutend gewertet. Aber die veränderten Verhältnisse im Gefolge der fortschreitenden Industrialisierung fordern die neue Strategie auf breiterer Basis: „Millionen leben heute dahin, ohne daß ihnen das Evangelium angeboten, ihnen in Liebe mit Rat und That nachgegangen und ihrer geistlichen Verödung zu steuern versucht wird. Aus dieser Thatsache ergibt sich unaufhaltbar das Bedürfnis nach Mitarbeit der Gläubigen und die Notwendigkeit einer freien Evangelisationsarbeit." Da die Kirche aus mannigfachen Gründen nicht dazu fähig ist, „neue Wege zu beschreiten", 228 Zur Exklusivität vgl. das Referat Th. Schmalenbachs auf der 1. Gnadauer Konferenz, der besonders die lateinische Fassung von Confessio Augustana VIII in der Formulierung „vere credentium" hervorhob. Vgl. J. G. Pfleiderer, a. a. O., S. 153, dazu P. Fleisch, a. a. O., S. 94f. Zum Text der Confessio Augustana s.: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 6. durchges. Aufl. Göttingen 1967, S. 62.

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müssen andere Kräfte in die Bresche treten. „Da die dem Christentum entfremdeten Massen längst nicht mehr in unsere Kirchen k o m m e n , so müssen wir ihnen nachgehen von Haus zu Haus, sie einladen und evangelisierend in Sälen, Hallen oder sonst an öffentlichen Orten in ihren Reihen zu wirken versuchen." Wir, - das sind „freie Vereinigungen gläubiger Kreise", die sich auch einen gewissen organisatorischen Rahmen schaffen müssen, u m sowohl den finanziellen als auch den sachlich qualifizierten Rahmen für die eigenen Anstrengungen zu finden. Der Möglichkeit der Verwirklichung des eigenen Vorschlags, daß die Kirche ein eigenes Evangelistenamt einrichte, stehen die Verfasser der Einladung eher skeptisch gegenüber. „Aber ob ein kirchliches Evangelistenamt bei uns zu gestalten ist oder nicht - in j e d e m Falle begehren wir", daß auch Laien neben den entsprechend begabten Pfarrern das Recht zur evangelistischen Tätigkeit eingeräumt wird. Als Qualifikationsmerkmaie für solche Personen werden aufgeführt: 1. Schriftverständnis, 2. Lebenserfahrung, 3. lebendiger Glaubenstrieb 4. die Gabe, fesselnd und volkstümlich zu reden. Im Einzelfall will man diese Gaben prüfen und „Unberufene" fernehalten. Insgesamt muß ein Bewerber als ,νοη Gott berufen' gelten. Es fragt sich allerdings bei diesen Kriterien sehr, mit welchen Mitteln man sie überprüfen will. U n t e r Hinweis auf den Laienstatus der ersten Apostel wird den Kritikern der Evangelisationssache dreierlei entgegengehalten: 1. „Solches wehren zu wollen, hieße die kirchliche Lage und die religiösen Aufgaben der Gegenwart verkennen und gegen die gewichtvolle apostolische Regel: „Den Geist dämpfet nicht!" (1. Thess. 5, 19) sich verfehlen." 2. Wenn die Evangelisationsbewegung eine Sache ist, die der Heilige Geist Gottes bewegt, dann ist nicht mehr erstaunlich, daß es nur noch u m das „Recht" der Evangelisation in der Zwecksetzung der Konferenz gehen kann. Evangelisation und Gemeinschaftspflege sind eng aufeinander bezogen. 3. D e m Angebot des Evangeliums m u ß das Nachgehen in „Liebe mit Rat und T h a t " folgen. Es wird allerdings im Einladungsschreiben nur an M ä n ner i m Evangelisten-Amt gedacht. 2 2 9 229 Zum Verhältnis von Evangelisation und Gemeinschaftspflege vgl. P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 2 , (1906) S. 276-282. Fleisch gibt zu bedenken, daß die Reihenfolge de facto umgekehrt ist: Mit der Gemeinschaft wird erst die Basis fur Evangelisation geschaffen! - Kurz zuvor (1905) hatte Elias Schrenk in seiner Autobiographie die Vermischung von Evangelisation und Gemeinschaftspflege bemängelt: „Eine der vielen Ursachen der Bekämpfung der Evangelisation ist das Zusammenwerfen von Evangelisation und Gemeinschaftspflege, was nur verwirren kann. Wollen wir klar werden, so müssen wir uns mit allen kirchlichen Ämtern immer wieder auf biblischen Boden stellen. Der Apostel Paulus unterscheidet in Epheser 4,11 das Evangelisten- und das Hirtenamt klar voneinander. Blicken wir auf das Missionsgebiet des damaligen Juden- und Heidentums, oder auf das Gebiet der heutigen äußeren Mission, so

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Der Umgang mit der Tradition Die theologischen Aussagen in der Heiligungslehre, wie sie zuerst in O x f o r d 1 8 7 4 / 7 5 besonders von Robert Pearsall Smith ( 1 8 2 7 - 1 8 9 8 ) formuliert worden waren, erhalten einen zentralen Platz in der Argumentation der E i n l a d u n g . 2 3 0 Dagegen erscheint der Rekurs auf Martin Luthers Ausführungen in der Schrift „Die deutsche Messe" (1526) wie im E n t w u r f nur im Sinne einer Bestätigung der eigenen Position. Ja, man sieht sich sogar als Erfiiller des Anliegens Luthers: „Gott sei Dank fehlt es heute auch nicht an den „rechten Leuten", u m solche Pflege christlicher Gemeinschaft in sehr vielen fordert schon der gesunde Menschenverstand eine Scheidung von Evangelisten und Hirtenamt. Der Evangelist ruft zu Christo, der Hirte weidet die zu Christo gekommenen Schafe. Der Evangelist ist der Vorläufer des Hirten." E. Schrenk, Pilgerleben und Pilgerarbeit. Kassel 1905, S. 203. Vgl. Gerhard Ruhbach, Elias Schrenk - Bahnbrecher der Evangelisation in Deutschland. In: Theologische Beiträge 13. J g . , Η. 1, 1982, S. 13. Schrenk leitet seine Unterscheidung von den verschiedenen Gnadengaben (unter bezug auf 1. Kor. 12) ab, die die Verschiedenheit der Ämter begründeten, nennt aber keine praktikablen Kriterien und Verfahrensweisen fur die Auswahl derer, die ein Amt innehaben sollen. Vielmehr argumentiert er mit seinen Erfahrungen, (a. a. O . , S. 204-212). Der Erfolg legitimiert letztlich den Charismatiker. Die Anerkennung und damit Bestätigung in seinem Amt erfährt er aufgrund seines Erfolges durch seine Anhänger. In welche Dilemmata dieses charismatische Amtsverständnis fuhrt, läßt sich besonders deutlich an Gestalten wie Robert Pearsall Smith (1827-1898) und Jonathan Paul (1853-1931) zeigen. In dem Moment, in dem die allgemeine Anerkennung nicht mehr gegeben war, fehlten den Kritikern der Charismatiker die Argumente. Galten vorher keine überprüfbaren Kriterien gegenüber den „geheiligten Persönlichkeiten", ließen sie sich im Nachhinein schwer einbringen. Eine künftige Darstellung der Geschichte der Gemeinschaftsbewegung muß diese Voraussetzungen im Amtsverständnis beachten, die zum großen Teil auf dem Verzicht einer theologischen Durchdringung der eigenen Praxis seitens der Vertreter der Gemeinschaftsbewegung beruhen. Zu den Gründen dieses Verzichts vgl. unten IV., V., VI. Schrenk selbst ist diesen Gefahren im ganzen entgangen, indem er mit wenigen begründeten Ausnahmen dort evangelisierte, wo eine Kooperation mit dem Vertreter des Pfarramtes gesichert war. Vgl. Ruhbach, a. a. O . , S. 19, Abschn. 9. Wie schwer den Vetretern der kirchlich orientierten Gemeinschaftsbewegung später die Auseinandersetzung mit den enthusiastischen Gruppen fiel, wird besonders deutlich in den Vorbereitungen der Eisenacher Konferenz vom 2. - 3.4.1908. Diese Konferenz ist bisher in den Darstellungen noch nicht berücksichtigt worden. Es gelang nicht, für eine Lehrauseinandersetzung mit dem Charismatiker Jonathan Paul, eine Persönlichkeit zu finden, die ihm argumentativ begegnen konnte. (Vgl. die im Gnadauer Archiv im Ordner von 1908 zusammengefaßten Briefwechsel, vervielfältigten Rundschreiben und die Liste der Teilnehmer.) Es ist nicht von ungefähr, daß bei dem Mangel an kognitiv-argumentativen Möglichkeiten der Auseinandersetzung stark auf affektives Material zurückgegriffen wurde (Erfahrungsberichte) und Denkfiguren der Dämonologie zur Verwendung kamen. (Vgl. das Material, das bei der Berliner Sitzung vom 15. September 1909, bei der das Häresieurteil über Jonathan Paul und seine Anhänger gefällt wurde, dem Entscheidungsprozeß zugrunde lag. Im Gnadauer Archiv in verschiedenen Ordnern, u. a. in dem von 1909). Es muß hier bei diesen wenigen Hinweisen bleiben. 230 Zu Robert Pearsall Smith und den von ihm vertretenen Heiligungs-Anschauungen vgl. P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 3 , S. 15-31; Erich Geldbach, Art. Smith, Robert Pearsall. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 480. Vgl. auch unten Kap. VI. 1.

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Gemeinden ins Leben zu rufen und zu fördern." Wieder werden die „Grundprincipien der Reformation" pauschal für die Berechtigung des eigenen Anliegens reklamiert. Auch die verwendeten Bibelstellen haben illustrierenden Charakter. Allerdings gewinnen die Apostel der Urkirche als Laien eine normative Funktion im Zusammenhang der Argumentation. 2 3 1 Positiv wird auch auf die im Südwesten (Württemberg) und Westen (Siegerland und Wuppertal) schon als „althergebrachte Sitte" der Privaterbauungs-Versammlungen als beherzigenswerter Tradition hingewiesen; denn sie „sind, wie jeder mit ihrer Geschichte Vertraute anerkennen wird, eine wesentliche Grundlage des lebendigen, auch praktisch thätigen Christentums, das wir seit lange in den bezeichneten Gebieten finden. " 2 3 2 Bevor nun wie oben nach der Herkunft der Verfasser dieser Einladung gefragt werden soll, ist noch der grundlegende Unterschied in der Anschauung v o m Reich Gottes zu markieren, der zwischen Entwurf und Einladung besteht.

Die Anschauungen vom Reich Gottes Im Entwurf umfaßt der Begriff Reich Gottes die ganze Welt, 2 3 3 auch wenn im Näheren nur von den Verhältnissen in Deutschland gehandelt wird. In diesem Reich kann man mitarbeiten, ja man kann zu seiner weiteren Ausbreitung, dem „Aufbau des Reiches Gottes", beitragen. Unter den gegenwärtigen Zeichen der Zeit ist diese „Reichsgottesarbeit" als Kampfzeit qualifiziert und wird es auch in Zukunft sein. Reich Gottes und Reich Jesu Christi werden synonym verwendet. Träger der Arbeit im Reich Gottes sind „christliche Männer aus allerlei Volk" bzw. alle „gläubigen Glieder der 231 Zu dem Ort des typologischen Denkens im Denkrahmen der Vertreter der Gemeinschaftsbewegung vgl. unten IV., V . , VI. 232 Ohlemacher, a . a . O . , S . 2 9 . Vgl. P. Fleisch, a . a . O , S. 62-78, der diese Sichtweise aufnimmt und sich deutlich von Pauschalurteilen, wie sie im Gefolge der einseitigen Darstellung der Geschichte des Pietismus seitens Albrecht Ritschis entstanden waren, unterschied. Vgl. ζ. B . den Artikel „Pietismus" in Lexikon fur Theologie und Kirchenwesen, Leipzig 1882, S. 546-548, der so eingeleitet ist: „Pietismus (neulat.), eine krankhafte Form der Frömmigkeit (pietas), die, nach Umständen und Persönlichkeiten zu verschiedenen Zeiten verschieden gestaltet, bald in einseitigem Betonen einzelner Glaubenslehren, bald in überspannten und exzentrischen Gefühlen, bald in skrupulöser Ängstlichkeit, baldendlich in einem separatistischen Treiben ohne Maß und Ziel, immer in unruhigem und ungesundem Streben nach Heil und Gnade sich kundgibt." Die Polemik gegen „den Pietismus" gab es allerdings auch schon vor Ritschis Arbeiten. Vgl. die Erfahrungen Wicherns bei M . Gerhardt, Johann Hinrich Wichern III, 1931, S. 342-344. 233 Der erste Satz lautet im Entwurf: „Wer auf die Zeichen der Zeit achtet, wird finden, daß überall im Reiche Gottes scharfe Gegensätze sich geltend machen." Von Oertzen korrigiert den zweiten Halbsatz: „Daß auf allen Gebieten fast, namentlich aber im Reiche· Gottes". In der Korrektur verändert sich somit der Reich-Gottes-Begriff von einer umfassenden Größe zu einem Gebiet, zu einem Teilbereich der Wirklichkeit.

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Gemeinde". Aus gemeinsamem „Gebet und Pflege brüderlicher Gemeinschaft" kann man fur die Arbeit im Reich Gottes neue Kraft schöpfen. Diese Arbeit gilt dem Verfasser von Pückler im engeren dem „Aufbau des Reiches Gottes innerhalb der Volkskirche". Diese Kirche ist also nicht eo ipso der O r t des Reiches Gottes in dieser Welt bzw. in Deutschland. In der Einladung ist im Verhältnis zur Textmenge entscheidend weniger v o m Reiche Gottes die Rede. 2 3 4 Werden dort alle Überlegungen in den Zusammenhang des Reiches Gottes gestellt, erscheint hier die Rede v o m Reich Gottes untergeordnet. Vorgeordnet erscheint die Zeit, die „Weltzeit". In ihr geht es mit der „Sache des Reiches Gottes" durch die Aktivitäten der „gläubigen Kreise unseres Volkes" „mächtiger, denn je in einer früheren Zeit" voran. Hier kann man mitarbeiten an den „Aufgaben des Reiches Gottes". Voraussetzung fur solche Mitarbeit ist, daß die Berufenen „vom Geiste des Glaubens erfiillt und getragen sind". Mit Geist oder Kräften von O b e n wird man aber ausgerüstet, wenn man sich in die Heiligungslehre vertieft. „Mitarbeit am Reiche Gottes" ist Pflicht aller Gläubigen. Ein Vergleich des Punktes 2 in der Zwecksetzung der Konferenz sei zur Verdeutlichung angeführt: Entwurf Durch gemeinsames Gebet und Pflege brüderlicher Gemeinschaft neue Kraft zu schöpfen für die Reichsgottesarbeit, und für die bevorstehenden Kämpfe, die uns nicht erspart bleiben können.

Einladung Durch brüderliche Gemeinschaft und Gebet sich neu zu stärken für die vielfachen Aufgaben, welche die Arbeit für das Reich Gottes uns in der Gegenwart vorlegt.

Steht man im E n t w u r f im Reich Gottes, so herrscht in der Einladung eherein Subjekt-Objekt-Verhältnis vor, man steht dem Reich Gottes gegenüber und kennt die Mittel u m die gegenwärtigen Aufgaben fiir das Reich Gottes zu bewerkstelligen. Im E n t w u r f ist „Reichsgottesarbeit" fimktional zu verstehen, während „Arbeit für das Reich Gottes" in der Einladung instrumental verwendet ist. Unausgeglichen wie schon bei der Wertung der Volkskirche findet sich in der Einladung eine Formulierung, die wahrscheinlich christologisch zu verstehen ist. „Was uns hier anliegt und bewegt, was zu dieser Einladung uns zusammenführt, ist der Wunsch, ist die Bitte zum Herrn, daß Er Sein

234 Im Entwurf sechsmal, in der Einladung fünfmal; dieser statistischen Beobachtung k o m m t im Zusammenhang der übrigen Charakteristika Bedeutung zu.

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Reich unter uns bauen wolle in allerlei Weise mit den Mitteln des Gebetes und des Glaubens, mit den Mitteln Seines Geistes und Seiner Kraft." Nach der Feststellung der Differenzen zwischen E n t w u r f und Einladungsschreiben soll nun nach den Verfassern des Einladungsschreibens gefragt werden. Wieder in der Absicht, über die Personen die geistigen Zusammenhänge und Traditionen kennenzulernen, die zu den Sätzen, F o r mulierungen und Aussagen der Einladung gefuhrt h a b e n . 2 3 5

4. Die Herkunft der Verfasser 1. Das Protokoll vom

14.4.1887

Bisher hat man nicht versucht, über die Feststellung der Zusammensetzung der Mitglieder des Evangelisationsvereins hinaus Angaben über die Endredaktion des Einladungsschreibens zu machen. Eine neuerliche D u r c h sicht der Protokollbücher des Johanneums hat ein weiterführendes Ergebnis gebracht, das die oben vermutete Mit-Autorschaft Friedrich Fabris bestätigt.236 Auszug aus dem Protokollbuch zur Sitzung am 1 4 . 4 . 1 8 8 7 v o r m i t t a g s : 2 3 7 „Anwesend v. Mitgliedern des Comiteßs: D. Christlieb, Insp. Pfleiderer, d. H. Grafen v. Bernstorffu. Pückler, J. v. Oertzen, Schrenk, Obcrf.(örster) Witt, 2 3 8 d. Past. Kraft u. Ziemendorff. Als Gäste: D. Fabri von Godesberg, P. Videbantt, 239 Vischer, 240 it. Consul ν. 235 Ein rein funktionales Textverständnis, das allein nach Gehalt und Wirkungsgeschichte von Texten fragte, könnte nur einseitige Pauschalurteile zeitigen. Da sowohl bei Theologen wie bei Sozialwissenschaftlern und Historikern Tendenzen in dieser Richtung zu beobachten sind, sei in Abgrenzung auf diese Gefahr der Verkürzung hingewiesen. Vgl. Anders Jeffner, Kriterien christlicher Glaubenslehre. Eine prinzipielle Untersuchung heutiger protestantischer Dogmatik im deutschen Sprachbereich, Uppsala, Göttingen 1977. Hans-U. Wehler, Anwendung von Theorien in der Geschichtswissenschaft. In: ders., Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Göttingen 1980, S. 206-223. Wehler zeigt hier ein hohes Problembewußtsein, erliegt aber in seiner Darstellung „Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918", 2. Aufl. Göttingen 1975, zumindest im Hinblick auf die Darstellung der protestantischen Landeskirchen selbst den von ihm genannten Gefahren der Einseitigkeit und Verzerrung. Vgl. a. a. Ο . , S. 118-120. Zu Wehler: Reinhart Staats, Das Kaiserreich 1871-1918 und die Kirchengeschichtsschreibung. Versuch einer theologischen Auseinandersetzung mit Hans-Ulrich Wehlers „problem-orientierter historischer Strukturanalyse". In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 92,1981, S. 69-96. 236 Vgl. oben Anm. 203, 207, 209, 211, 213. 237 Vgl. im Anhang den ganzen Text des Protokolls, Nr. 6. Abkürzungen im Protokoll sind, wenn es dem besseren Verständnis dient, in Klammern mit Kursivschrift ergänzt. 238 Nicht zu verwechseln mit Pastor Johannes Eduard Gottsched Witt (1832-1910) in Havetoft, Schleswig-Holstein, der später eine fuhrende Rolle in der schleswig-holsteinischen Gemeinschaftsbewegung spielte. 239 Viedebantt begegnet nur in diesem Zusammenhang; nähere Lebensdaten waren nicht zu ermitteln.

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Basel, Gust. Siebel von Freudenberg, Insp. Cörper 241 v. Elberfeld, d. Pastoren Bockmühl 2 4 2 v. Jüchen, Conrad v. Cronenberg, 2 4 3 Kerwer von Eitorf, 2 4 4 die Studenten Schiitters 245 u. Vogel, 2 4 6 Cand. theol. Christlieb 247 und unsere 3 Evangelisten, 2 4 8 dazu Cand. Weigle 249 ." 240 Adolf Vischer-Sarasin (1839-1902). Kaufmann und Vertreter der Anschauungen der Heiligungsbewegung in Basel. Lit. s. H. Klemm, a. a. O, S. 543, Anm. 3. W. Hadorn nennt ihn als Mitglied des Komitees der Basler Mission. W. Hadorn, Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen. Konstanz, Emmishofen o.J., S. 500. 241 Friedrich Heinrich Julius Coerper (1849-1924) studierte in Erlangen, Tübingen, Bonn Theologie. 1885 wurde er Inspektor der Evangelischen Gesellschaft in Elberfeld und von 1887 an Pfarrer in Unterbarmen. Vgl. Ernst Buddeberg, Pastor Fritz Coerper. Ein Volksmissionar. Elberfeld o. J. (1925); zu seiner Rolle in der Gemeinschaftsbewegung vgl. bes. S. 131-142. Buddeberg hebt die Freundschaft F. Coerpers mit E. Schrenk besonders hervor (a.a.O., S. 150). Vgl. auch F. Coerper, Fünfzig Jahre der Evangelischen Gesellschaft für Deutschland in Elberfeld-Barmen. Eine Festschrift. Elberfeld o.J. (1898), bes. S. 95: „Unter dem Eindruck der kirchlichen und religiösen Notstände, der sozialen und ultramontanen Gefahren traten 1887 einige Männer im Anschluß an die Wupperthaler Festwoche zusammen und beschlossen, zur Evangelisation und Gemeinschaftspflege die lebendigen Glieder der Kirche zu sammeln ...". 242 Wilhelm Peter Bockmühl (1852-1923) studierte in Leipzig, Tübingen und Bonn Theologie. Seit 1883 war er Pfarrer in Jüchen. Er nahm an der Sitzung des Evangelisationsvereins vom 23.3.1886 teil, tritt aber sonst nicht hervor. Vgl. H. Klemm, a. a. O., S. 303. 243 Johann Reinhold Cronenberg (1838-1903) studierte in Halle Theologie und war seit 1876 Pfarrer in Cronenberg. Auch er nahm an der Sitzung des Evangelisationsvereins am 23.3.1886 in Bonn teü. Vgl. H. Klemm, ebd. 244 Georg Wilhelm Ulrich Kerwer (1861-1928) studierte in Erlangen, Halle und Bonn Theologie. Seit 1887 war er Pfarrer in Eitorf und nahm ebenfalls an der Sitzung am 23.3.1886 teil. Vgl. H. Klemm, ebd. 245 Nähere Lebensdaten zu Schitters ließen sich nicht ermitteln. In der Literatur zur Gemeinschaftsbewegung taucht sein Name sonst nicht auf. 246 Ob es sich bei Vogel um den späteren Pastor in Eitorfjulius Vogel (1863-1913) handelt, ist nicht mit Sicherheit auszumachen. Dafür spricht dessen Verbundenheit mit dem Sohn Theodor Christliebs, Alfred, der als nächster (s. d. folgende Anmerkung) genannt wird. Vgl. Heinrich Klein, Alfred Christlieb. Der Pfarrer von Heidberg. Siegen und Leipzig o.J. (1934), S. 92f. (H. Klemm, a. a. O., S. 603, Anm. 33, versehentlich: „S. 87"). 247 Alfred Christlieb (1866-1934), Sohn Theodor Christliebs, hatte Elias Schrenk zum Paten und den späteren Generalsuperintendenten Theodor Braun (vgl. oben Anm. 106) als Religionslehrer. Er studierte in Basel, Bonn und Halle (bei Martin Kähler) Theologie. 1893/94 unterrichtete er als Kandidat am Johanneum. Ab 1896 war er Pastor der Gemeinde Heidberg im Oberbergischen. Vgl. H. Klein, a.a.O., passim. Arno Pagel, Art. Christlieb, Alfred. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 114. ... die in der Kraft Evangelisten sein. Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Evangelistenschule Johanneum 1886-1936. Wuppertal-Barmen o.J. (1936), S. 21. Der ältere Sohn Theodor Christliebs, Theodor Friedrich Christlieb (1862-1935), kommt hier nicht in Frage. Er hatte zu der Zeit sein Studium schon abgeschlossen. Vgl. H. Klemm, a. a. O, S. 554, Anm. 15 a. 248 Es handelt sich um Hermann Dannert (1862-1936), vgl. H. Klemm, a.a.O. S. 592, Anm. 15 e (Lit.) und: . . . die in der Kraft Evangelisten sein, a. a. O., S. 24-27; als zweiter ist Eugen Zimmermann (1862-1927) zu nennen, vgl. . . . die in der Kraft Evangelisten sein, ebd.; der dritte ist Eduard Klundt (1858-1922), vgl. H. Klemm, a. a. O., S. 534. 249 Wilhelm Weigle (1862-1932), studierte zu der Zeit Theologie in Bonn, vor allem von Th. Christlieb geprägt, gründete er mit Alfred Christlieb und Hans Mockert 1883 die SchülerBibelkreis-Bewegung und begann später in Essen eine vorbildliche Jugendarbeit. Vgl. Hartwig

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Nach Gebet und einer Bibelbetrachtung zu Eph. 4, 11-16 unter dem Motto „Der Herr beruft" heißt es: „Dies bildete die passende Einleitung zu den 3 Traktanden dieses Tages. Vorbereitung einer großen v o m 27. - 29. Sept. in Berlin zu veranstaltenden Versammlung christlicher Männer aus den Landeskirchen Deutschlands, die über 1. Berechtigung, Notwendigkeit u. Grenzen der Laienthätigkeit, über 2. das Verhältnis der organisierten Evangelisation zu dem pastoralen A m t und die Bedeutung desselben für das kirchliche Leben, und 3. - weil alles kräftige Wirken u. Arbeiten von der Vertiefung im Heiligungsleben ausgehen muß, über Heiligung und Gemeinschaft der Heiligen eingehend handeln soll. Z u Grunde gelegt w u r d e diesen Verhandlungen der v. D . Christlieb abgefaßte und von Pfl.(eiderer) mitberathene „Vorläufige E n t w u r f einer Einladung" usw., die gedruckt und vertheilt wurde. Sie ist im Archiv des Johin(neums) niedergelegt. Das Resultat dieser eingehenden Verhandlungen ist zusammengestellt in der zuletzt von D. Fabri gemeins.(am) mit Schrenk, Herrn v. Oertzen u. Graf Pückler redigierten „Einladung", die als vertrauliche Mittheilung von noch einer Reihe abwesender Brüder, die mit uns einig sind in den Hauptgedanken unterschrieben w u r d e u. gleichfalls im Archiv deponiert ist."

Die Charakterisierung der Atmosphäre, die der Protokollant Pfleiderer anfügt, erschließt zu ihrem Teil das Selbstverständnis des Kreises: „Es wehte durch die ganze Berathung ein heiliger Ernst, der von der Überzeugung getragen wurde, daß diese Gegenstände ebenso für unsere Evangelisationssache wie für die Z u k u n f t der Landeskirchen von entscheidendem Einfluß sein werden. Br. (uder) Schrenk gab den Rath, daß man a) Nichts zu erkämpfen suche, was man schon hat b) „ " „ " , was man noch nicht braucht. Nicht viele Berathungen bringen uns vorwärts, sondern der Herr selbst öffnet durch seine Legitimation unserer Arbeit neue u. weitere Thüren. N u r nicht an Thüren drücken, w o man noch nicht hineinwill. Wir müssen zuerst arbeiten in den Kreisen, w o die Evangelis.(ation) schon Hausrecht besitzt. Nicht zu vergessen ist, daß die Arbeit eine ganz andere ist in Norddeutschi, (and), eine andere in Mitteldeutschi. u. wieder eine andere in Süddeutschland. Allgemein war die Überzeugung, daß man neuen Wein nicht in alte Schläuche fassen darf. M a n kann nicht kopieren. Auch die Form der W ü r t t e m b . Gemeinschaften scheint sich überholt zu haben. Der Hl. Geist muß Raum haben für N e u b i l d u n gen. Der Bann, der auf unserer Kirche liegt, ist der, daß noch immer der Geistliche der einzige M u n d der Gemeinde ist, statt daß 20 reden, das ganze Volk m u ß sich betheiligen. Das ist Gemeinschaft. Der hl. Geist 2 5 0 muß sich im Leib Christi frei bewegen, dazu müssen wir ihm R a u m schaffen." Lücke, Art. Weigle, Wilhelm. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 525f. (Lit.); Karl Kupisch, Studenten entdecken die Bibel, Hamburg 1964, S.24f.; H. Klein, a.a.O., S. 14. Den Anstoß fur die Sammlung der Schüler hatte Weigle (nach Kupisch, ebd.) auf dem Ersten deutschen Nationalfest der evangelischen Jungmännerbünde 1882 erhalten, das von Fritz von Schlümbach angeregt worden war. 250 Die in vielen Quellen der Gemeinschaftsbewegung begegnende Abkürzung der dritten

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Weder die Vorlage Christliebs noch das Original des Verhandlungsergebnisses mit den erwähnten Unterschriften sind erhalten. Bei der im Gnadauer Archiv vorliegenden Abschrift scheint es sich um eine Kopie des Verhandlungsergebnisses zu handeln. Festzuhalten ist, daß die Vorlage von Th. Christlieb unter Mitwirkung von J. G. Pfleiderer251 erstellt worden ist; Mindestens ebenso wichtig ist, daß ein Gast, nämlich F. Fabri, maßgeblich an der Schlußredaktion beteiligt worden ist. 252 Elias Schrenk wird zusammen mit Oertzen und Pückler nachgeordnet genannt. Die so ermittelten Autoren der Einladung sollen nun ihrer Herkunft nach vorgestellt werden.

2. Theodor

Christlieb253

wurde am 7.3.1833 in Birkenfeld bei Neuenbürg in Württemberg (Schwarzwald) als Sproß einer alten württembergischen Pfarrersfamilie geboren. Sein Vater, Mag. Heinrich Christlieb (1797-1873), zuerst Pfarrer in Birkenfeld, dann Dekan in Heidenheim und schließlich in Ludwigsburg, war Verfasser einer Trostbibel und gehörte dem Pietismus an. Die Mutter Amalie, geb. Schmoller, stammte ebenfalls aus einem pietistisch geprägten Pfarrhaus.254 Es ist wenig aus seiner Jugendzeit bekannt. H. Klemm teilt aus dem handschriftlichen Lebenslauf Christliebs die Passage mit: „Schon in Person der Trinität ist auffällig. Läßt sie auf einen inflationären Gebrauch schließen oder eher auf eine Unsicherheit im Umgang mit diesem Theologoumenon? Auffällig ist auch, daß „heilig" ohne erkennbare Systematik einmal klein und einmal groß geschrieben wird. Dem entspricht die in der Heiligungsbewegung zu beobachtende Unschärfe bei der Fassung des Geistbegriffes, die zwischen einem Personenbegriff uhd einer Art gratia infusa changiert. Vgl. unten Kap. VI. 251 Das Urteil in der Literatur ist darin einhellig, daß Pfleiderer gegenüber Christlieb an Originalität weit zurückblieb. Vgl. ζ. Β. H. Klemm, a. a. O., S. 333: „Pfleiderer allein konnte niemals ersetzen, was er mit Christlieb zusammen gewesen waf." 252 In welcher Weise F. Fabri und Th. Christlieb übereinstimmten, sollen die folgenden Ausführungen deutlich machen. Nach H. Klemm, a. a. O., S. 180, gab es eine erste Fühlungnahme zwischen Fabri, Christlieb und Schrenk bereits im Oktober 1878. In den Protokollen des Evangelisationsvereins taucht Fabris Name zum ersten Mal bei der Sitzung vom 23.3.1886 auf. Vgl. H. Klemm, a. a. O., S. 303. J. F. G. Goeters, Theodor Christlieb, datiert den Beginn der Freundschaft zwischen Fabri und Christlieb in das Jahr 1875. Vgl. Goeters, a. a. O., S. 117f. Beide gründeten dann 1880 den westdeutschen Zweig der Evangelischen Allianz. Vgl. E. Beyreuther, Der Weg der Evangelischen Allianz in Deutschland, S. 54. - Es ist nicht bekannt, warum Fabri nicht Mitglied des Evangelisationsvereins geworden ist. 253 Eine ausreichende Biographie Christliebs gibt es nicht. Informativ: Eugen Sachsse, Art. Christlieb, Theodor. In: RE IV3, S. 1 -4. J. F. G. Goeters, Theodor Christlieb. In: Bonner Gelehrte. Bonn 1968, S. 103-120 (Lit.), allerdings ohne Belege, aber zuverlässig. H. Klemm, a. a. O, passim. P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung3, S. 82-87 u. ö. D. Lange, a. a. O., S. 7178 u. ö. H. von Sauberzweig, a. a. O., S. 90-94. H. Klein, a. a. O., S. 7-10 u. ö. 254 Vgl. J. F. G. Goeters, a.a.O., S. 104f. Heinrich Christliebs Großvater war Schüler Johann Albrecht Bengels; ders. ebd.

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frühester Jugend, wo ich zu Hause, in der Schule und Kirche bereits Eindrücke der Gnade empfing, stand mein Entschluß fest, mich dem Predigtamte zu widmen, und dieser Entschluß ist auch später nie in mir wankend geworden. " 2SS Über eine eigene Bekehrung hat sich Christlieb nie geäußert. „Es hat den Anschein, daß seine Frömmigkeit, seine Theologie und sein Amtsverständnis folgerichtig und ohne Bruch auf dem im Elternhause gelegten Grund erwachsen sind. " 2S6 Sein Weg führte über die Klosterschule Maulbronn ins Tübinger Stift (1851-1855) zum Studium. Von seinen theologischen Lehrern zog ihn am meisten Johann Tobias Beck (1804-1878) an. Nach dem ersten theologischen Examen im Herbst 1855 war er für den Beginn der kirchlichen Laufbahn noch zu jung und übernahm für einige Monate eine Hauslehrerstelle in einer adligen französischen Familie in Montpellier. 257 Im Herbst 1856 wurde er vom Vater in Ludwigsburg ordiniert und blieb ihm als Vikar. Die Arbeit ließ ihm so viel Zeit, daß er eine Dissertation über Johannes Scotus Eriugena abschließen konnte, mit der er im Juli 1857 in Tübingen zum Dr. phil. promoviert wurde. 258 Von Mai 1857 bis in den Sommer 1858 war er Pfarrverweser der Gemeinde Ruith in Stuttgart und unterhielt in der Zeit insbesondere Beziehungen zur Brüdergemeinde, zur separierten Gemeinde in Korntal und zur Basler Mission. 259 Eine Fülle neuer Erfahrungen, die sein Engagement in der aufkommenden Gemeinschaftsbewegung später mitbestimmte, brachte seine Berufung an die neugegründete deutsche Gemeinde im Stadtteil Islington im Norden von London (1858-1865). Er führte dort neben der württembergischen Agende auch das Gesangbuch seiner Heimat ein. Über eine Neuaufnahme in 255 H. Klemm, a. a. O., S. 93; vgl. J. F. G. Goeters, ebd. 256 J. F. G. Goeters, a. a. O., S. 106. 257 „Mediterranes Volksleben und französische Liberalität sind dem frommen, auf strenge Zucht bedachten jungen Schwaben ein Greuel geblieben, so daß er sich auf mehreren Reisen an der Schönheit der Landschaft und an kulturgeschichtlichen Reminiszenzen entschädigen muß. Nebentöne in dem hier erwachsenen literarischen Erstling, den „Skizzen aus Südfrankreich", daß auch in höheren französischen Gesellschaftsschichten Neigung zu Republikanismus und Sozialismus sowie Verachtung, ja Abneigung gegen Preußen begegnen, offenbaren, daß der junge Württemberger politisch entschieden monarchistisch, protestantisch-konservativ und preußisch-deutsch gesinnt ist. "J. F. G. Goeters, a. a. O., S. 106. 258 Die Dissertation trug den Titel: „Das System des Johannes Scotus Erigena in seinem Zusammenhang mit dem Neuplatonismus, Pseudodionysius und Maximus Confessor." 1860 erschien sie überarbeitet und erweitert in Druck und blieb lange Zeit des Standardwerk zu Eriguena. Vgl. E. Sachsse, a. a. O., S. 1; J. F. G. Goeters, a. a. O., S. 106. 259 Vgl. J. F. G. Goeters, a. a. O., S. 106. Sachsse, ebd.: „Hier wurde er mit den Stundenleuten bekannt, er besuchte ihre Versammlungen und lernte sie schätzen. Er war lutherisch nach Erziehung und Uberzeugung, aber die Bekehrung des Herzens und der aufrichtige Glaube galt ihm mehr als die korrekte Dogmatik; auch mit Reformierten hielt er innere Glaubensgemeinschaft, der exklusive Konfessionalismus der strengen Lutheraner wie der Ritualismus der englischen Hochkirche waren ihm gleich zuwider. Später hielt er sich zur Partei der Positiven Union."

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die Gemeinde mußte der Kirchenvorstand förmlich beschließen. Auf Antrag ihres Pastors nahm die Gemeinde im Herbst 1859 die Confessio Augustana Variata nach dem pfälzischen Formular an und wurde dadurch zur ersten konsensus-unierten deutschen Gemeinde in England. Unter Christlieb entstanden Gebetstunden für die Gemeindeglieder, eine Sonntagsschule, regelmäßiger Religions- und Deutschunterricht und ein reges Vereinswesen. In Anwesenheit des preußischen Gesandten, Albrecht Graf von Bernstorff, konnte die Gemeinde 1862 eine eigene Kirche einweihen. Für die „Neue Evangelische Kirchenzeitung" schrieb er in dieser Zeit Berichte über das englische kirchliche Leben. Besondere Aufmerksamkeit widmete er den Erweckungen in Irland, Schottland und England, „in denen er sichtbare und das kirchliche Leben erneuernde Werke des Heiligen Geistes" sah. 260 Christlieb stand „auf dem Boden der Evangelical Alliance" und förderte die Arbeit der Evangelical Society, für die er im Winter 1863/64 apologetische Vorträge in englischer Sprache in der Albion Hall in London hielt. 261 Neben diesem Engagement in der Allianz, die er als ein „göttliches Unionswerk" 262 erachtete, beeindruckten ihn vor allem die diakonischen und evangelistischen Bemühungen der verschiedenen Denominationen, in der Großstadtsituation Londons an die Kirchenfernen heranzukommen. Prägend waren für ihn die Eindrücke aus den evangelistischen Predigten des Baptisten Charles Huddon Spurgeon. Persönliche Freundschaft verband ihn mit seinem anglikanischen Nachbarpfarrer William Pennefather, „der seine evangelistische Predigt mit der Begründung einer ganzen Reihe von diakonischen Anstalten verband und in der von ihm begründeten MildmayConference alle gleichgerichteten Kräfte im Norden Londons über die Denominationsschranken hinweg zu einer Aktionsgemeinschaft zusammenschloß". 263 260 Vgl. zum Vorstehenden vor allem Goeters, a. a. O., S. 107. Zu den Erweckungen hatte auch Friedrich Fabri in der Zeit einen kritischen Bericht gegeben, in: ders., Die neuesten Erweckungen in Amerika, Irland und anderen Ländern. Barmen 1860. Fabri bemängelte (wie Christlieb in seinen Berichten) vor allem den drängerischen Bekehrungseifer, das Herbeizwingenwollen einer Erweckung durch verschiedene Vertreter, sieht aber im Ganzen auch viel Positives und empfiehlt die Einhaltung der apostolischen Regel: „Prüfet Alles, und das Gute behaltet", a. a. O., Vorwort, S. III. 261 Goeters, ebd. Diese Vorträge hat Christlieb dann noch einmal als Stadtpfarrer von Friedrichshafen in St. Gallen auf Einladung der dortigen Evangelischen Gesellschaft gehalten. Sie sind unter dem Titel „Moderne Zweifel am christlichen Glauben für ernstlich Suchende erörtert" (2. erw. Aufl., Bonn 1870) erschienen. Zur Charakterisierung der Schrift vgl. Goeters, a. a. O., S. 109. Für diese Arbeit erhielt Christlieb am 7.5.1870 den theologischen Ehrendoktor der Berliner Universität. Goeters, a. a. O., S. 110. 262 J. F. G. Goeters, ebd. 263 Ebd. Zu Ch. H. Spurgeon (1834-1892) vgl. Günter Balders, Art. Spurgeon, Charles Haddon. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 489f. (Lit.). Spurgeon hat als erster praktische Hilfsbücher fur evangelistische Predigt verfaßt, die auch in deutscher Sprache erschienen sind und viele Auflagen (bis heute) erlebt haben. Vgl. H. Klemm, a.a.O., S. 500, Anm. 19. Zu Pennefather vgl. ebd. Anm. 18 b.

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In London heiratete er die älteste Tochter des Indien-Missionars Johann Jakob Weitbrecht, 2 6 4 Emily. Aus der Ehe gingen drei Söhne und drei Töchter hervor. 2 6 5 Seit dieser Verbindung läßt sich bei Christlieb ein starkes Interesse für die äußere Mission feststellen, das sich auch in Veröffentlichungen niederschlug (siehe unten). Im Rückblick nannte er als wichtige Eindrücke aus seiner Londoner Zeit: „Was ich in E n g l a n d besonders achten und schätzen lernte, das ist vor allem der Ernst, der überall mit der B e k e h r u n g gemacht wird, der klare und scharfe U n t e r schied, den auch die Gemeinden zwischen Bekehrten und Unbekehrten und H a l b b e kehrten ziehen, das ernste Dringen auf persönliche Wiedergeburt jedes Einzelnen, die T r e u e der evangelischen Geistlichen in der Seelsorge, das rege Mitwirken der Laien zur E r b a u u n g der Gemeinde, die Teilnahme der Kirchenältesten an der Seelsorge, die Opferwilligkeit von arm und reich und die ganze lebendige Selbsttätigkeit der Gemeinde, die sich nicht bloß erbauen läßt, sondern auch sich selbst erbaut nach d e m Wort des Apostels 1. Petr. 2,5: „ B a u e t euch zu d e m geistlichen H a u s e als die lebendigen S t e i n e ! " 2 6 6

Er hatte die Erfahrung einer freien, v o m Staat völlig unabhängigen Gemeinde gemacht und pflegte auch später von Deutschland aus weiter regen Kontakt zu den leitenden Männern der evangelischen Allianzarbeit in England. In diesen Zeitabschnitt fiel auch der Beginn der Freundschaft mit dem damaligen Missionar der Basler Missionsgesellschaft, Elias Schrenk. 2 6 7 1865 bis 1868 folgte er einem R u f als Pfarrer und Hofprediger an die Sommerresidenz des württembergischen Königshauses nach Friedrichshafen am Bodensee. 2 6 8 Von 1868 bis zu seinem T o d e 1889 übernahm er die Praktisch-theologische Professur an der Bonner Universität und zugleich die Stelle des Universitätspredigers. 2 6 9 Auch Carl Heinrich Rappard (1837-1909), der Inspektor der Chrischona-EvangelistenSchule, war zu der Zeit in London. Vgl. H. Klemm, a.a.O., S.94; Dora Rappard, Carl Heinrich Rappard. Ein Lebensbild. Gießen 1910, S. 62. 264 Johann Jakob Weitbrecht (gest. 1852) war verheiratet mit Martha Edwards, der ersten Missionarin in Kalkutta. Zu den späteren Verbindungen der Familie Christlieb mit der Familie Weitbrecht vgl. das Photo in H. Klein, a. a. O., S. 96a, aufgenommen anläßlich der Goldenen Hochzeit Wilhelm Weitbrechts in London. 265 Ermitteln lassen sich die Namen von Theodor (1862-1935), später Pfarrer in Mettmann bei Düsseldorf; Alfred, s. o. Anm. 247; Helene, später verheiratet mit dem englischen Missionsarzt Satton; Marie, später Diakonisse und Missionarin; eine Tochter, deren Vorname nicht zu ermitteln ist, die später mit einem Mr. Boardman in England verheiratet war. Vgl. H. Klein, a. a. O., S. 98; H. Klemm, a. a. O., S. 554, Anm. 15 a. 266 H. Klein, a . a . O . , S. 7. 267 Vgl. H. Klemm, a.a.O., S. 93. Schrenk war damals auf einer Kollektier- und Werbereise für die Basler Goldküstenmission. 268 Vorher hatte Christlieb schon Rufe als Repetent an das Tübinger Stift und auch eine Pfarrstelle in Breslau abgelehnt. Zugleich lag ein Ruf an die lutherische Petrigemeinde in St. Petersburg vor. Vgl. Goeters, a. a. O., S. 107f. In dieser Zeit verschaffte er sich die Hochschätzung des späteren deutschen Kaiserhauses. Vgl. Goeters, a.a.O., S. 109. H. Klein, a.a.O., S. 10. 269 Zur Stellung Christliebs innerhalb der Fakultät vergl. ausfuhrlich Goeters, a . a . O . ,

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Verschiedene Rufe an andere Universitäten und seine zweimalige N o m i nierung für eine Hofpredigerstelle in Berlin zeigen die Wertschätzung, die er genoß. Die Verdoppelung der Studentenzahlen der theologischen Fakultät schrieb der Kurator in einem Bericht an den Kultusminister der Wirksamkeit Christliebs zu. Neben seinen praktisch-theologischen Vorlesungen und Seminaren bot er von Anfang an eine Vorlesung zur Missionsgeschichte an. „So hat er in B o n n und im allgemeinen die Missionswissenschaft akademisch eingebürgert, worin ihm nach seinem T o d e noch sein engster Freund Friedrich Fabri, der ehemalige B a r m e r Missionsinspektor, 1889 bis 1891 als Honorarprofessor folgte. " 2 7 0 Die Gründung eines Missionsvereins in B o n n brachte ihm den ersten Kontakt zu Friedrich Fabri, dem Inspektor der Rheinischen Missionsgesellschaft. Mit ihm zusammen trat er auch 1875 bei einer Vortragsreise des Hauptvertreters der angelsächsischen Heiligungsbewegung, Robert Pearsall Smith, für eine wohlwollende Beurteilung von dessen Anschauungen vor der Pfarrerschaft Wuppertals ein: „Es liegt in der englischen und amerikanischen Art des Christentums ohne Frage vieles, was uns Deutschen zunächst etwas befremdlich ist, bei dem wir uns fragen müssen, ob wir das je nachahmen können und sollen, ob wir es nach unserer Eigentümlichkeit, nach unserer ganzen nationalen Artung und besonders nach unserer kirchlich theologischen Bildung auch annehmen dürfen. . . . Man hat oft geglaubt, es stecke hinter dieser Bewegung etwas von Sektiererei. Und es ist wahr, es mögen manche da und dort Versuche gemacht haben, diese Bewegung fur ihre speziell kirchlichen und denominationeilen Zwecke auszubeuten. Aber Herr Smith steht allen diesen Tendenzen für seine Person ganz fern. Er steht einfach im Dienste des Evangeliums. Er fühlt sich gedrungen, das, was er selbst in so kindlichem Glauben ergriffen hat, und was ihn nun beseligt, auch andern ans Herz zu legen. Er streitet für keine Kirche, er will im Dienste keiner Partei stehen, sondern allein im Dienste des Herrn." 2 7 1 In dieser Zeit predigte er auch auf den Siegerländer Missionsfesten und unterstützte die Arbeiten des Reisepredigervereins. 2 7 2 Seine in England S. 110-114. Zur bisher kaum bekannten Rolle Christliebs als Mitglied der rheinischen Provinzialsynoden und Generalsynoden vgl. ebd., S. 115-117. Goeters kennzeichnet Christlieb als „Mann des Ministers von Mühler" (Heinrich von Mühler, preußischer Kultusminister von 1862-1872), während er das Verhältnis zu dessen Nachfolger Paul Ludwig Adalbert Falk (preußischer Kultusminister 1872-1879) als „kühl" einstuft. Zu von Mühler vgl. G. Besier, Preußische Kirchenpolitik, passim. 270 Goeters, a. a. O . , S. 112. Mit Gustav Warneck (1834-1910) gründete Christlieb 1874 die „Allgemeine Missions-Zeitschrift", die erste wissenschaftliche Missionszeitschrift in Deutschland überhaupt. 271 Paul Fabianke, Was muß die Deutsche Gemeinschaftsbewegung festhalten? Dresden 1925, S. 27 f. Vgl. zum Auftreten R. P. Smith's: R. Steiner, Pearsall Smith im Wuppertal. In: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 22, 1973, S. 195-228. 272 Zur Verbindung Christliebs mit den Kreisen der Siegerländer Erweckungsbewegung vgl. Jakob Schmitt, Die Gnade bricht durch. 3. Aufl. Gießen/Basel o.J. (1958), S. 352f. E. Beyreuther, Der Weg der Evangelischen Allianz in Deutschland. Witten 1969, S. 53f. Goeters, a . a . O . , S. 113.

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g e w o n n e n e Hochschätzung der evangelistischen Predigt k a m auch darin z u m Ausdruck, daß er die deutsche Übersetzung und Bearbeitung der Lebenserinnerungen des amerikanischen Evangelisten Charles G. Finney 2 7 3 i m Jahre 1879 veranlaßte und mit einem empfehlenden V o r w o r t versah. A m 6. Oktober 1880 wählte man ihn fur neun Jahre z u m Vorsitzenden des Westdeutschen Komitees der Evangelischen Allianz, sein Stellvertreter w u r d e Friedrich Fabri. 2 7 4 Im selben Jahr erschien in vierter Auflage sein Überblick über den Stand der Weltmission, in dessen Schlußkapitel seine Sicht des Christentums mit Kritik an der wissenschaftlichen T h e o l o g i e einhergeht: „Der theologischen Jugend aber - mindestens in Deutschland deren Blick so leicht an einzelnen, besonders historisch-kritischen Detailfragen oft von geringer Bedeutung hängen bleibt, ja die oft den ganzen Fortschritt der Theologie fast nur nach neuen Fündlein und Hypothesen der Gelehrten zu bemessen gewöhnt wird, ohne daß ihr für den Fortschritt der Kirche Christi im großen das Auge geschärft würde, ihr sollte in unserer Zeit der wahre und weite Reichsblick noch ganz anders als bisher geöffnet werden, damit sie ein regeres Interesse an dem Fortschritt des Evangeliums in ihr A m t mitnehme . . . " . 2 7 5 In der Vielgestaltigkeit der evangelischen Kirchentümer, die auf d e m Missionsfeld tätig sind, lag nach Christliebs Urteil nicht nur die Wurzel für unerfreuliches Konkurrenzdenken, sondern auch die Chance zu einer ö k u menischen Zusammenarbeit. W e n n man zu vernünftiger Arbeitsteilung findet, „dann werden die vielerlei Gaben und Kräfte der verschiedenen Kirchenkörper ohne Vermischung, aber in brüderlicher Zusammengliederung sich zu einer Reichsarmee ergänzen, die im stände ist, wahrhaft ökumenische Weltmission zu treiben. Denn nicht diese oder jene kirchliche Form, wohl aber das Eine Evangelium vom Reich hat die Verheißung ewiger Dauer und der Verbreitung auf der ganzen Welt." 2 7 6 Unter Hinweis auf Matth. 24 (Predigt des Evangeliums - falsche Propheten) schloß er in bezug auf Deutschland: „Die Reichspredigt in aller Welt geht heute zusammen mit dem vielfachen Zerfall des Glaubens in der Christenheit... dann brauchen wir heute die Mission mehr als je auch zur Verteidigung des Christentums in der Zeit vor dem Ende." 2 7 7 U n d trotz aller noch bestehender Schwierigkeiten, „zum Eifer in der Reichssache des Herrn nehmen wir aber auch den großen Trost mit, daß heute wie nie 273 Charles Grandison Finney (1792-1875) gilt als erster Berufsevangelist. Vgl. Erich Geldbach, Art. Finney, Ch. G. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 175 (Lit.); Η. Klemm, a. a. Ο., S. 260. Abweichend von Klemm und unrichtig teilt Goeters mit, daß nicht die Biographie Finneys, sondern die „Lectures on Revivals" als „Evangelistik" auf Veranlassung Christliebs in deutscher Sprache erschienen. 274 Vgl. E. Beyreuther, a. a. O., S. 54. 275 Theodor Christlieb, Der gegenwärtige Stand der evangelischen Heidenmission. 4. Aufl. Bonn 1880, S. 135. Im Hinblick auf Kap. IV, in dem die Theologie Friedrich Fabris exemplarisch dargestellt wird, wird an dieser Stelle Christlieb etwas ausführlicher belegt. 276 Ebd., S. 141. 277 Ebd., S. 143

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zuvor die Arbeit vorwärts geht, daß der Herr handgreiflicher als je an vielen Orten seiner Sache Bahn b r i c h t . . . Je näher dem Ende, je rascher wird die Entwickelung gehen. Die Weltmissionsperiode, in deren Anfang wir jetzt eingetreten sind, wird die letzte sein . . . Ohne im geringsten den Zeitpunkt näher bestimmen zu wollen, dürfen wir es doch heute schon (im Blick auf die Mission in allen Kontinenten) aussprechen: wir nähern uns trotz unserer Fehler und Schwächen dem großen Zeitpunkt, w o eine Ernte anbricht, die alle bisherigen Proportionen unendlich übersteigen wird. "27a

Wegen seines Engagements in der Allianz und seiner Zusammenarbeit mit freikirchlichen Kreisen handelte sich Christlieb viel Kritik innerhalb der Bonner Fakultät ein. „Zum offenen Ausbruch kamen die theologisch-kirchenpolitischen Differenzen... im Sommer 1882 durch einen Christlieb tief diskreditierenden Skandal. Er wurde ausgelöst durch Anna von Weling, die unter dem Pseudonym Hans Tharau im Frühjahr 1882 in einem Roman „Die Studiengenossen" die Mitglieder der Bonner theologischen Fakultät porträtiert hatte. 279 Anna von Weling, 280 die in ihrem Christentum von den englischen Erweckungen angeregt war und später die Begründerin der freikirchlich orientierten Blankenburger Allianzkonferenzen wurde, legte in der Beurteilung der Professoren den Maßstab ihrer erwecklichen Frömmigkeit an. „Im Bilde des einzig rechtschaffenen theologischen Lehrers und Predigers Markus Treuwart war Christlieb unschwer erkennbar. Es hat Christlieb nichts geholfen, sich von dem Buche sofort distanziert, mit der Verfasserin sofort und auf die Dauer jeglichen Umgang abgebrochen, die Restauflage des Buches aufgekauft und vernichtet zu haben. Der Geruch der moralischen Mitverantwortung blieb an ihm haften." 281 Christlieb war 278 Ebd., S. 145. 279 Goeters, S. 112; vgl. E. Sachsse, a. a. O., S. 2. 280 Anna von Weling (1837-1900) berief1886 die erste Allianzkonferenz nach Bad Blankenburg im Harz ein (28 Teilnehmer); 1890 gründete sie das „Evangelische Allianzblatt" (bis 1940), in dem prinzipielle Kritik der Volkskirche zum Programm gehörte. Vgl. den Text von „Prospekt". In: Evangelisches Allianzblatt 1, Nr. 1 (1. Okt.), 1890, S. 1: „Das „Evangelische Allianzblatt" ist kein Kirchenblatt, es vertritt weder die Sonderinteressen irgendeiner Kirchengemeinschaft, noch tritt es mit ein in die in unseren Tagen so lebhaft geführte Debatte über Kirchenpolitik im Allgemeinen. Dem Gedanken einer kirchlichen Allianz fernstehend, da nach unserer Ueberzeugung fur eine solche der Schriftboden ermangelt, - erstrebt das Evangelische Allianzblatt, ganz im Sinne des HErrn und Seines Wortes, eine schriftgemäße Allianz, d. h. die wahre innere Vereinigung aller Gläubigen, unter welchen wir alle diejenigen verstehen, welche durch die Kraft des heiligen Geistes aus Gott geboren sind (Joh. 3, 3); das Zeugnis dieses Geistes für sich haben (Rom. 8, 16) mit ganzem Ernste der Heiligung nachjagen, ohne welche wird Niemand den HErrn sehen, und auf das Kommen des HErrn warten (Phil. 3, 20; Joh. 11, 51, 52; u. 17, 23; Rom. 12, 4; Eph. 4, 3-6.)." Zu Anna von Weling vgl. Friedrich S. Rothenberg, Art. Weling, Anna von. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 527. E. Beyreuther, a. a. O., S. 66f. 72. P. Scharpff, a. a.O., S. 247255. 281 Goeters, a. a. O., S. 113. - In diesem Konflikt zwischen Christlieb und Anna von Weling wird man wohl den Anfangsgrund für das spätere spannungsvolle Verhältnis zwischen Gemeinschaftsbewegung und Allianzbewegung der Blankenburger Richtung sehen müssen.

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daraufhin zeitweise in der Fakultät völlig isoliert. Im Septemberheft der „Kirchlichen Monatsschrift", dem Organ der „Positiven Union", zu deren Mitherausgebern Christlieb gehörte, 2 8 2 nahm er zu dem Konflikt Stellung. In einem Artikel „Zur methodistischen Frage in Deutschland", der später auch als Broschüre vertrieben wurde, hob er den Wert des bestehenden Landeskirchentums hervor, empfahl aber zur Beseitigung „für ihn unbestreitbar vorhandener kirchlicher Mißstände" die Verstärkung der persönlichen Seelsorge und die „Organisierung eines innerkirchlichen Evangelisteninstituts". 283 Diese Gedanken setzte er selbst in die Tat um. Am 21. Oktober 1883 gründete er in Bonn nach dem Erwerb eines geeigneten Hauses mit Freunden die erste Evangelistenschule in Deutschland, das Johanneum, und im Anschluß daran den Deutschen Evangelisationsverein in einer Konferenz vom 18. bis 20.3.1884, an der u. a. E. von Pückler, J . von Oertzen, A. Graf von Bernstorff und Elias Schrenk beteiligt waren. 2 8 4 Für den Evangelisationsverein arbeitete Elias Schrenk probeweise im August und September 1884 in Bremen, Quedlinburg und Frankfurt so erfolgreich, daß er sich 1886 dem Drängen Christliebs nachgebend entschloß, der erste Berufsevangelist in Deutschland zu werden. 2 8 5 Das Johanneum nahm erst 1886 den Lehrbetrieb auf. Neben Christlieb unterrichteten der vom Evangelisationsverein als Inspektor berufene Johann Gottlob Pfleiderer und Friedrich Fabri. 2 8 6 Wie sehr diese praktischen Arbeiten in die akademische Lehrtätigkeit Christliebs eingebunden waren, zeigen die folgenden Auszüge aus seiner HomiletikVorlesung, die er neunzehnmal in Bonn, zuletzt im Wintersemester 1888/ 89, gehalten hat. 2 8 7 Es heißt da in kritischer Absetzung zu der weit vertretenen Auffassung von Homiletik als „Theorie der Gemeindepredigt":

Auch die Aufsplitterung der Allianzbewegung selbst hat hier ihren Grund; immerhin war Christlieb Vorsitzender des Westdeutschen Zweiges der Allianz. Diese Aspekte sind bisher in der Geschichtsschreibung zur Allianz-Bewegung noch nicht berücksichtigt. 282 Vgl. E. Sachsse, a. a. O . , S. 1.; Goeters, a. a. O . , S. 116. Christlieb war zusammen mit einem Schwager A d o l f Stoeckers, dem Langenberger Pastor Wilhelm Krüger, offizieller Vertrauensmann der „Positivien U n i o n " im Rheinland. Vgl. Goeters, a. a. O . , S. 113. 283 Goeters, ebd. Vgl. Th. Christlieb, Zur methodistischen Frage in Deutschland. 2. Aufl. B o n n 1882. 284 Die Einzelheiten der Geschichte der Gründung des Johanneums können in diesem Zusammenhang übergangen werden. Vgl. die aus umfassender Quellenkenntnis gewonnene komprimierte Darstellung bei H . K l e m m , a. a. O . , S. 260-266. P. Fleisch, Gemeinschaftsbeweg u n g 3 , S. 83-87. 285 Vgl. H . K l e m m , a . a . O , S . 2 6 7 - 2 8 4 . E. Schrenk, a . a . O . , S. 190-193. K . Weber, Elias Schrenk und seine Botschaft. 2. Aufl. Metzingen 1962, S. 26f. 286 Vgl. unten III.4.3. 287 Posthum herausgegeben von J . G. Pfleiderers Nachfolger als Inspektor a m Johanneum, Theodor Haarbeck (1846-1923): Theodor Christlieb, Homiletik. Basel 1894. Z u Haarbeck vgl. vor allem Johannes Haarbeck, D . T h e o d o r Haarbeck. Direktor der Evangelistenschule Johanneum in W.-Barmen. Ein Lebensbild. Neukirchen o. J . (1935).

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„Hierbei wird aber der Predigtzweck in Anbetracht unserer heutigen kirchlichen Bedürjhisse doch viel zu eng und einseitig gefaßt. Wir stoßen deshalb hier gleich auf einen Punkt, j a einen Hauptpunkt, an d e m die bisherige Homiletik entschieden der Fortbildung bedarf. D a r f ich denn - vollends in unseren Staatskirchen - die „ G e m e i n d e n " ohne weiteres als aus Gläubigen bestehend voraussetzen? Entsteht denn bei der heutigen Zersetzung der Gemeinden durch U n g l a u b e n , Indifferentismus, j a Atheismus bis hinab in den Arbeiterstand das Bedürfiiis der Neuevangelisierung, einer N e u g e w i n n u n g für den Glauben bei Unzähligen nicht unabweisbar? O d e r soll etwa die Kirche diese A u f g a b e i m m e r nur den Außerkirchlichen überlassen?" 2 8 8 Im Z u s a m m e n h a n g dieser Argumentation forderte er als neue Unterdisziplin der H o m i l e tik die „Evangelistik, d. h. A n w e i s u n g zur V e r k ü n d i g u n g des E v a n g e l i u m s vor den noch nicht, bzw. nicht mehr G l a u b e n d e n " . 2 8 9 Grunderfordernisse für den Prediger waren für Christlieb „die persönliche Heilserkenntnis und Heilserfahrung oder der eigene Herzensglaube und die Salbung durch den heiligen Geist", eine durch göttliche Erleuchtung erlangte, „erfahrungsmässige Einsicht in dieselbe (HeilsWahrheit), in ihren Plan und Z u s a m m e n h a n g , ihren Wert, ihre göttliche K r a f t und erneuernde W i r k u n g " . 2 9 0

Wo bei den Schülern des Johanneums entsprechende Bildungsvoraussetzungen bestanden, erhielten sie einen Gasthörerstatus an der Bonner theologischen Fakultät. Bei den Abschlußprüfungen wirkte als Mitglied des K o n sistoriums in Koblenz das Bonner Fakultätsmitglied Prof. Wilhelm Krafft mit. 2 9 1 „Bereits im Herbst 1887 trat der erste Absolvent in Berlin unter Stoecker, mit dem sich das Komitee 1886 bei einer Sitzung dort verständigt hatte, in die Arbeit der Stadtmission ein. 2 9 2 Christlieb hat sein früher T o d 288 Th. Christlieb, Homiletik, S. 5. 289 Ebd., S.4. 290 Ebd., Vorwort, S . X X . Vgl. zur Würdigung von Christliebs Homiletik Goeters, a . a . O . , S. 114f., E. Sachsse, a . a . O . , S. 2. 291 Vgl. Goeters, a . a . O . , S. 119. Es bedeutet eine ebenso bedenkliche wie signifikante Engfuhrung, daß in den Darstellungen von H. von Sauberzweig und D. Lange als offiziösen Selbstdarstellungen der Geschichte der Gemeinschaftsbewegung die Rolle Christliebs in seiner Lehrtätigkeit und die Rückbindung seines Engagements an die theologische Arbeit vernachlässigt werden. Sie vollziehen damit eine Abkoppelung der Gemeinschaftsbewegung von der Theologie auf der historiographischen Ebene, die so nicht im Interesse Christliebs lag, den sie doch zugleich als „Vater" der ganzen Bewegung hochschätzen! Vgl. H. von Sauberzweig, a.a.O., S. 90-94, und D. Lange, a . a . O . , S. 71-78; gerade der erste Absatz Langes (S. 71) erweist sich so als eine Aneinanderreihung von Leerformeln. Wilhelm Krafft hatte in Bonn zusammen mit Christlieb im Gegensatz zu dem 1849 gegründeten liberalen evangelisch-theologischen Studentenverein in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre den „Theologischen Studentenverein" mit mehr „positiver Richtung" gegründet. Vgl. E. Dresbach, Pragmatische Kirchengeschichte der preußischen Provinzen Rheinland und Westfalen. Meinerzhagen 1931, S. 757. Der Tod Christliebs und die Verlegung der Evangelistenschule Johanneum nach Barmen 1893 bedeuten nicht nur eine Orts Verlegung, sondern auch das Ende der organisatorischen Verbindung zu einer theologischen Fakultät! 292 Goeters, ebd. A. Stoecker war zusammen mit F. von Schlümbach Gast der Konferenz des Evangelisations Vereins vom 23./24. März 1886 und stellte die Arbeit des Vereins in engen Zusammenhang mit Wicherns Anliegen. Vgl. den eigenhändigen Eintrag Stoeckers ins Protokollbuch des Johanneums von 1886. Vgl. H. Klemm, a. a. O., S. 307.

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gehindert, dieses Werk bei einer geplanten Verhandlung im Zentralausschuß für Innere Mission in deren Organismus eingegliedert zu sehen." 2 9 3 An allen Internationalen-Allianz-Konferenzen der Jahre hatte Christlieb als Redner teilgenommen (New York 1873, Basel 1879, Kopenhagen 1884), und er war es, der zusammen mit Adolf Stoecker den Deutsch-Amerikaner Friedrich von Schlümbach 1882 zu einer fünfmonatigen Evangelisation nach Deutschland berief. Christlieb starb am 15. August 1889 an einem Gehirnschlag. 2 9 4

3. Johann Gottlob

Pßeiderer295

Pfleiderer führte das Protokoll in der Sitzung des Evangelisationsvereins vom April 1887. Über seine Rolle bei der Entstehung des Entwurfs zur Einladung zusammen mit Christlieb läßt sich nichts Genaueres sagen. Auch die Quellen zur Ermittlung seiner Lebensdaten geben nur dürftiges Material her, so daß seine Vorstellung entsprechend kürzer ausfallen muß. 2 9 6 Johann Gottlieb Pfleiderer wurde am 17. März 1825 in Waiblingen/ Württemberg geboren. Nach dem Philologie- und Theologiestudium in Tübingen und einer Hilfslehrerzeit in Stetten wurde er von 1848 bis 1880 Leiter der Knabenerziehungsanstalt in Korntal. 2 9 7 Zusammen mit seiner Frau kaufte er 1852 das Gebäude und führte es in eigener Regie in den Rang einer international bekannten Erziehungsanstalt. 298 Den religiösen Unterricht gestaltete er nach einer von ihm verfaßten .Evangelischen Glaubensund Sittenlehre'. 299 In dem Vorwort zur ersten Auflage von 1874 macht er deutlich, welche Absicht er mit der Herausgabe seines Katechismus verband: 293 Goeters, ebd. 294 Vgl. Goeters, ebd., S. 118. 120; E. Beyreuther, Kirche in Bewegung, Geschichte der Evangelisation und Volksmission, 1968, S. 192f. 295 Goeters, ebd., S. 119, versehentlich „Georg" anstatt Gottlob. Uberhaupt besteht viel Unsicherheit in den Angaben zu seiner Person: J . Haarbeck, a. a. Ο . , S. 100, fuhrt ζ. Β . einen Dr.-Titel Pfleiderers an, der sonst nur noch auf dem Titelblatt seiner „Glaubens- und Sittenlehre" belegt ist. - Es ist sonst nur von einer Frau Pfleiderers die Rede, Haarbeck, a. a. O , S. 117, spricht von seiner „Familie". 296 Hauptquelle ist Johannes Hesse, Korntal einst und jetzt, Stuttgart 1910, bes. die S. 122— 128. Selbst der sonst gut informierte H. Klemm kann nur dürftige Angaben machen, a. a. O , S. 564, Anm. 23. 297 Als cand. theol., frischverheiratet, übernahm Pfleiderer im Revolutionsjahr diese Aufgabe. Vgl. Hesse, a. a. O . , S. 125. 298 „Von 1848 bis 73 waren im Pfleiderschen Institut 1074 Zöglinge: Aus Deutschland 455, darunter aus Württemberg 287, aus Preußen 42, Bayern und Pfalz 29, Baden 79, Hessen 12, Elsaß und Lothringen 6; aus Österreich-Ungarn 63, aus Frankreich 35, der Schweiz 194, Italien 11, Großbritannien und Irland 180, Holland und Belgien 4, Schweden 21, Norwegen 3, Rußl.ind 11; aus Asien 53, Afrika 10, Amerika 41, Australien 3 . " Vgl. Hesse, a. a. O . , S. 241. 299 J . G. Pfleiderer, Evangelische Glaubens- und Sittenlehre für Höhere Schulen sowie zum Selbstunterricht. 3. Ausgabe Bonn 1885 (1. Aufl. 1874).

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„Schon ist der Same des Unglaubens der letzten Jahrzehnte aufgegangen. D i e Sittenlosigkeit n i m m t überall in hohen und niederen Kreisen in erschreckender Weise überhand. Das früher so kernhafte Bürgerthum deutscher N a t i o n ist bereits in der beklagenswerthesten Weise v o m Geiste der Unsittlichkeit und des Materialismus angefressen. N i c h t nur v o m Standpunkt der Religiosität, sondern schon v o m Standpunkt des Patriotismus und der allgemeinen Menschenliebe ist es hohe Zeit, mit Aufbieten aller geistigen Mittel d e m eingerissenen U e b e l Einhalt zu thun. Mit d e m Glauben an Gott, als der höchsten sittlichen Auktorität, schwindet auch die Anerkennung jeder menschlichen gottgeordneten Auktorität, der pietätsvolle Gehorsam gegen die obrigkeitlichen Gewalten und damit die innere Kraft und der sittliche Halt einer N a t i o n . . . . So m ö g e denn dieses B ü c h l e i n . . . unter Gottes Segen die christliche Erziehung der theuren Jugend unseres Volkes, auf welcher die H o f f n u n g der Z u kunft ruht, in seinem Theile fördern. " 3 0 0

Der Katechismus selbst ist nach dem Vorbild des Heidelberger Katechismus in Fragen und Antworten aufgebaut und enthält Memorierstoffe zu jedem Abschnitt. Er stellt ein Kapitel „Die Grundvoraussetzungen der christlichen Glaubens- und Sittenlehre" voran, 301 aus dem deutlich wird, daß er sein theologisches Rüstzeug aus der Geistigkeit des württembergischen-theosophisch-orientierten Pietismus empfangen hat. 302 In diesen Rahmen zeichnet er, vor allem an lutherischen Lehraussagen orientiert, die einzelnen Lehrstücke ein. In der Heilsordnung unterschied er sechs Stufen: 1. Die Erwählung, 2. die Berufung, 3. die Wiedergeburt, 4. die Rechtfertigung, 5. die Heiligung und 6. die Verherrlichung. 303 Der Gnadenerwählung Gottes, die aller menschlichen Glaubensleistung vorausgeht, folgt die Berufung des Sünders zum Reich Gottes, die in „Erweckung" und „Erleuchtung" wirksam wird. 304 Die „Wiedergeburt i s t . . . eine sittliche Schöpfung, der Beginn eines neuen geistlichen Lebens, die Einpflanzung des Lebens Jesu Christi in die Seele durch den heiligen Geist, wodurch wir der göttlichen Natur theilhaftig, Kinder Gottes und Erben des ewigen Lebens werden. " 3 0 5 Als die menschliche „Thätigkeit" bei der Wiedergeburt sieht er die Bekehrung an, die ihm willentlicher Bußakt ist. Gottes Handeln geht auch hier in jedem Fall voraus, wenn auch gilt, daß .Wiedergeburt und Bekehrung in der Erfahrung gewöhnlich zusammenfallen'. 306 - Die Rechtfertigung wird mit der Wiedergeburt nicht in Zusammenhang gebracht. Sie erscheint vor allem im Gegensatz zur katholischen Lehrauffassung 307 und im Gegenüber zur Heiligung; Heiligung ist „das fortwährende Wachsthum in der Gnade und Gottseligkeit durch die einwohnende Kraft des heiligen Geistes, bis wir das Ziel der Vollkommenheit in Christo erreichen. " 3 0 8 Die Verherrlichung ist der Wiederkunft Christi vorbehalten. 300 302 304 306 308

Ebd., S.VII. Vgl. dazu unter Kap. IV. Ebd., S. 173f. Ebd., S. 176-178. Ebd.

301 303 305 307

Ebd., S. IX-XVIII. Pfleiderer, a.a.O., S. 171. Ebd., S. 175. Ebd., S. 182.

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Dieser Wiederkunft geht eine „Periode der Ausreifung des Guten und des Bösen" voraus. 309 In diesem antagonistischen Geschehen erwartet er auf der Seite des Guten: 1. Eine neue Geistausgießung nach Joel 3, 1-5, 2. eine erneuerte Missionstätigkeit, „wodurch das Evangelium in größeren Dimensionen unter die Heiden getragen wird" und 3. eine teilweise Zuwendung des Volkes Israel zum Christentum. Auf der Seite des Bösen: 1. „ein durch schimmernde Weltweisheit und hoffärtigen Bildungsdünkel gefälschtes und getrübtes Christenthum und ein diesem entsprechendes Erkalten der Liebesthtätigkeit", 2. ein allgemeiner Sittenverfall, 3. ein Zusammenbruch der „göttlichen Ur- und Grundordnungen des Familien- und Staatslebens", 4. Verfolgung der Gläubigen, die Widerstand leisten, 5. Gottlose Weltmacht in Verbindung mit falscher Prophetie, 6. das Auftreten des Antichrist. Die Auswirkungen im weltweiten Zusammenhang sind Revolutionen und Kriege wie auch Hungersnöte, Seuchen und Naturkatastrophen. 310 Während des Auftretens von Robert Pearsall Smith 1875 in Korntal wurde Pfleiderer für die Anliegen der Heiligungsbewegung gewonnen. 311 Wegen Arbeitsüberlastung gab er 1880 die Leitung der Korntaler Erziehungsanstalt auf, verkaufte sie wieder an die Gemeinde und behielt nur ein kleines Haus, das später sein und seiner Frau, die ihn um zehn Jahre überlebte, Alterssitz werden sollte. 312 Er wechselte auf die Stelle eines stellvertretenden Schulleiters an das von der Evangelischen Gesellschaft unterhaltene staatlich anerkannte Privatgymnasium, die Lerber Schule in Bern. 313 Hier unterrichtete von 1868 bis 1883 sein späterer Nachfolger im Johanneum Theodor Haarbeck. Dieses Gymnasium besuchten auch die Kinder von Elias Schrenk, der zu der Zeit von der Evangelischen Gesellschaft in Bern angestellt war, und hier kam er auch in Kontakt mit Theodor Christlieb, der ihn dann 1886 in das Inspektorat desjohanneums berief. Zum 1. April des Jahres nahm er die Stelle an und wurde zugleich Generalsekretär des Evangelisationsvereins. Nach Christliebs Tod wirkte er noch bis 1893 als theologischer Lehrer seit 1890 unter dem neuen Inspektor. Seit August 1893 war er dann wieder in Korntal, wo er am 23. Dezember 1897 starb. 314 309 Ebd., S. 184; vgl. S. 131: „Der Abschluß dieser Weltzeit durch die Wiederkunft Christi ist, wie die Entwicklung der Weltgeschichte überhaupt, nicht einseitig Sache der göttlichen Weltregierung. Die Nähe oder Ferne derselben hängt von Bedingungen ab, deren Erfüllung in die Hänge der Menschen gelegt sind (ζ. B. von der Missionierung der Heiden durch die Christen)." 310 Ebd., S. 184-186. 311 Hesse, a. a. O., S. 151. Diese Haltung brachte ihn in einen gewissen Gegensatz zu dem Leiter Korntals, Pfarrer Jakob Heinrich Staudt, einem Schwager J. C. Blumhardts. Vgl. Hesse, a.a.O., S. 103ίΓ. 151 f. 312 Hesse, a.a.O., S 127. 313 Ebd. Zu Theoderich von Lerber (1823-1901) und seiner Schule vgl. H. Klemm, a. a. Ο., S. 382 (Lit. S. 537, Anm. 13); J. Haarbeck, a. a. O., S. 54-60. 314 Hesse, a. a. O., s. 192. Pfleiderer hatte mit dem Tode Christliebs aus Gesundheitsgründen sein Amt als Leiter desjohanneums niedergelegt. Vgl. J. Haarbeck, a. a. O., s. 101-108. Zu

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4. Elias Schrenk ist neben Christlieb und Pfleiderer der dritte Süddeutsche, der zum engeren Kreis der Verfasser der Einladung zur ersten Gnadauer Konferenz zählt. Sein Lebensweg ist der vielgestaltigste im Kreis der Personen, um die es in dieser Untersuchung geht. Kein anderer hat so unterschiedliche Frömmigkeitsbewegungen seiner Zeit verarbeitet und durchlebt. 315 Die Erfahrungen, die er gewonnen hat, spiegeln sowohl ein gutes Stück der Geistigkeit und Frömmigkeit in der Aufbruchszeit der Gemeinschaftsbewegung wieder als sie auch später in seiner reifen Gestalt ihr zugute gekommen sind. Der Darstellung seines Lebensganges wird aus diesem Grunde mehr Raum gegeben, und an den entscheidenden Wendepunkten seines Lebens wird er dann auch ausfuhrlicher als andere zitiert. Mit diesem Akzent auf der inneren Entwicklung tritt die Darstellung seines beruflichen Werdegangs nur insofern etwas zurück als für seine Tätigkeit als Evangelist auf die ausfuhrliche Darstellung von H. Klemm und den zusammenfassenden Überblick von G. Ruhbach 316 verwiesen werden kann. Am 19. September 1831 wurde Elias Schrenk in der evangelischen Diasporagemeinde Hausen ob Verena am Rande des Schwarzwaldes bei Spaichingen geboren. 317 Sein Vater, ein gelernter Schneider, betrieb neben seinem Handwerk einen Gemischtwarenhandel und eine kleine Landwirtschaft. Die drei Kinder der Schrenks mußten früh mit Hand anlegen, besonders als der Vater 1836 arbeitsunfähig wurde und dann im Dezember 1841 gestorben war. Zuhause lernte er eine einfache lutherische Frömmigkeit mit den Beziehungen Christliebs zur Evangelischen Gesellschaft in Bern und zu Pfleiderer vgl. H. Klemm, a. a. O., S. 260. 308. 315 Z u m besseren Verständnis des Folgenden seien hier schon einmal die verschiedenen Stationen von Frömmigkeit, die Schrenk durchlebte, aufgelistet. Hervorzuheben ist, daß jeder dieser Stationen ein bestimmtes Verständnis von Wirklichkeit inhärent ist. Es spricht für eine hohe Anpassungsleistung Schrenks, daß er die Übergänge mit ihren spezifischen Initiationen leisten konnte: Als Kind erlebt er eine lutherisch geprägte Jesu-Blut-Mystik der Großmutter. Als Schüler wird in ihm durch einen Lehrer die Liebe zur Mission geweckt. Als Jugendlicher begegnet ihm der T y p des sozial-engagierten Pietisten, der ihn ermutigt, den Weg in die Mission zu gehen. Als Missionsschüler erlebt er dann eine rechte pietistische Bekehrung und „innere Reinigung". Eine neue Erfahrung bringt eine „Gnadenheimsuchung" in Form einer Heilung durch die Jungfer Trudel, als er schon als Kurpfarrer amtiert. Eine „Versiegelung durch den Heiligen Geist" erlebt er als Missionar nach dem Vorbild August Hermann Franckes. Als Prediger erfährt er im Zusammenhang der Heiligungsbewegung eine „neue Ausrüstung mit dem heiligen Geist", u m dann als Evangelist die Erfahrung zu machen, daß durch seine Predigt und Seelsorge Erweckungen ausgelöst werden. 316 Gerhard Ruhbach, Elias Schrenk - Bahnbrecher der Evangelisation in Deutschland. In: Theologische Beiträge 13, 1982 Η. 1, S. 6-19 (Lit.). 317 Die folgende Nachzeichnung des Lebensganges Elias Schrenks ist vor allem an der ersten Auflage seiner Autobiographie orientiert: Elias Schrenk, Pilgerleben und Pilgerarbeit. Kassel 1905 (zit.: Schrenk, Pilgerleben). Zur Heimat Schrenks vgl. ders., Pilgerleben, S. 7-10; Klemm, a . a . O . , S. 11-14.

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Hausandacht und regelmäßigem Beten kennen. 318 - 1847 begann er in Tuttlingen eine kaufmännische Lehre, wechselte 1852 als Handlungsgehilfe nach Donaueschingen und dann noch einmal nach Freiburg zu den Gebrüdern Mez (vor allem Seidenhandel). In seinem Chef, Karl Mez, 319 begegnete ihm ein tiefreligiöser Mann, der als Mitglied der liberalen Fortschrittspartei und der Frankfurter Nationalversammlung ebensoviel Gespür fur die Herausforderungen seiner Zeit bewies wie in seinem unternehmerischen Planen. Die sozialen Nöte seiner Arbeiter nahm er mit Maßnahmen in die Struktur seiner Betriebe bis hin zu fortbildenden Freizeitangeboten auf. In den 70er Jahren entwickelte er dann genossenschaftliche „Mitbestimmungsmodelle" in seinen Industriebetrieben, die ihrer Zeit weit voraus waren. 320 Seine unternehmerische Tätigkeit sah er als Gottesdienst an. 321 In ihm lernte Schrenk einen Christen kennen, der viele unterschiedliche Züge in sich vereinigte: In Herrnhuter Kreisen für ein tätiges Christentum gewonnen, hatte er eine ausgeprägte Vorliebe für Luthers Predigten, achtete die Bibel in den Grenzen des von J. A. Bengel geprägten Biblizismus, lebte in einer an Blumhardt erinnernden intensiven Reichsgotteserwartung, 322 engagierte sich in den schwärmerischen Richtungen der Templer 323 und Irvingianer324 318 Klemm, a. a. O., S. 15, verweist darauf, daß in den Hausandachten Benjamin Schmolcks (1672-1737) „Gottgeheiligte Morgen- und Abendandachten" im Gebrauch war. Vgl. auch Schrenk, a.a.O., s. 7f. Eindrücklich blieb Schrenk für sein ganzes Leben das Vertrauen der Großmutter in die „Kraft des Blutes Jesu". Ders. ebd. Der frühe Tod des Vaters bedeutete fur Elias Schrenk erst einmal das Ende aller Berufswünsche. Der Vater hatte ihm das Theologiestudium zugedacht. Schrenk, a.a.O., S. 10; vgl. Klemm, a. a. O., S. 13. 319 Zu Karl Mez (1880-1877) vgl. vor allem die sozialgeschichtlich akzentuierte Darstellung von Wolfram Fischer, Karl Mez (1808-1877). Ein badischer Unternehmer im 19. Jahrhundert. In: ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung. Göttingen 1972, S. 443-463. Dem Profanhistoriker Fischer gelingt es eindrücklich, die religiöse Verankerung der wirtschaftlichen Unternehmungen von Mez nachzuzeichnen. Vgl. auch E. Beyreuther, Art. Mez, Karl. In: Evanglisches Gemeindelexikon, S. 552. H. Klemm, a. a. O., S. 25-27. 320 Einzelheiten würden hier zu weit fuhren. Zu seinem Modell in der Mechanischen Baumwollweberei in Schopfheim, Baden, in der die Arbeiter mit 100:70 die Stimmenmehrheit besaßen, vgl. W. Fischer, a. a. O., S. 456f. 321 Zu dem organischen Ineinander von Geschäft und religiöser Einstellung teilt Fischer, a. a. O., S. 445 f., Passagen aus Briefen von Karl Mez mit. Vgl. auch die Tagebuchnotiz a. a. O., S. 463. 322 Vgl. Klemm, a. a.O., S. 25f. 323 Die Tempelgesellschaft, von Christoph Hoffmann (1815-1885) gegründet, propagierte unter endzeitlichen Perspektiven eine Sammlung des Volkes Gottes in Palästina und gründete z. B. in Haifa, Jaffa und Jerusalem Siedlungen. Vgl. Erich Geldbach, Art. Tempelgesellschaft. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 503. Johannes Seitz, Erinnerungen und Erfahrungen, 2. Aufl. Chemnitz 1921, S. 26-61. Mez kannte Hoffmann aus der Frankfurter Nationalversammlung und unterstützte ihn mit Geld. Vgl. H. Klemm, ebd. Fischer, a. a. O., S. 461 f. 324 Die nach Edward Irving (1792-1834) benannten Irvingianer (heute: Katholisch-apostolische Gemeinde) entstanden in einer von apokalyptischen Gedanken geprägten Erweckung in Schottland und England zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Sie betonten besonders die Gaben der Glossolalie und Prophetie. - Mez hatte auch persönlichen Kontakt zu dem Pfarrer von Illen-

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u n d pflegte zugleich einen überkonfessionellen Austausch mit p r o m i n e n t e n K a t h o l i k e n . 3 2 5 i m R ü c k b l i c k schrieb Schrenk in E r i n n e r u n g an den Einfluß v o n K a r l M e z a u f sein L e b e n :

„Freiburg bildete einen W e n d e p u n k t

in

m e i n e m L e b e n für Z e i t u n d E w i g k e i t . . . U n k l a r w a r ich ein J a h r v o r h e r d o r t a n g e k o m m e n ; i c h g e h ö r t e seit J a h r e n n i c h t r e c h t d e r W e l t an, u n d g e h ö r t e d o c h a u c h n i c h t G o t t an. Als J ü n g e r J e s u d u r f t e ich F r e i b u r g verlassen. " 3 2 6 E i n e m lang g e h e g t e n W u n s c h folgend trat er a m 2 5 . 8 . 1 8 5 4 n a c h anfänglic h e m W i d e r s t a n d d e r M u t t e r in das B a s l e r M i s s i o n s h a u s ein, u m M i s s i o n a r z u w e r d e n . W ä h r e n d d e r e i n j ä h r i g e n Z e i t in d e r „ V o r a n s t a l t " l e r n t e e r i n seinen

Lehrern

vor

allem

Mitglieder

der

Hahn, sehen

Gemeinschaften

kennen.327 „ D i e wichtigste E r f a h r u n g w ä h r e n d meines Aufenthaltes in der Voranstalt, m a c h te ich in V e r b i n d u n g m i t H e r r n Pfarrer v o n B r u n n , 3 2 8 der damals in Kleinbasel wirkte. E r hatte an den Sonntag A b e n d e n offene Konferenzen m i t j u n g e n M ä n n e r n , die ich auch besuchte; v o n B r u n n w a r ein Gebets- und Glaubensmann. E r legte auch K r a n k e n die H ä n d e a u f und sie w u r d e n besser. W e n n er das V a t e r u n s e r . . . betete, s o fühlte m a n etwas v o n einer Geistesbewegung. E r redete m i t uns j u n g e n Leuten aus lebendiger E r f a h r u n g m i t einer solchen Geistesmacht über das B l u t J e s u Christi, w i e ich es n o c h nie g e h ö r t hatte. Ich w a r hiefür offen, denn . . . meine selige G r o ß m u t t e r (hat mir) s c h o n als kleines Knäblein etwas v o n der Kraft des Blutes J e s u Christi in mein H e r z hineingebet. Ich litt, w i e so viele j u n g e Leute an verderbter Phantasie. Als nun H e r r Pfarrer v o n B r u n n m i t M a c h t v o n der Kraft des Blutes J e s u Christi zur E r l ö s u n g , zur Reinigung und zur B e w a h r u n g redete, ergriff ich es i m Glauben und erfuhr eine tiefgehende innere Reinigung. Das w a r m i r eine herrliche E r f a h r u n g . . . Innere A b s a g e an die Sünde und völliges Vertrauen a u f J e s u Blut führt z u m Sieg. " 3 2 9

schwang, Samuel Gottfried Christoph Clöter (1823-1894), der eine nahe bevorstehende Geistesausgießung erwartete. Ein anderer Anhänger Clöters war Rektor Christian Dietrich (1844— 1919) in Stuttgart, der später in der Gemeinschaftsbewegung einflußreiche Führer der Württemberger Altpietisten. Vgl. H. Klemm, a. a. O . , S. 26 und 417, Anm. 65. W. Fischer, a. a. Ο . , S. 462. A. Weber, Art. Katholisch-apostolische Gemeinden. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 392. Hermann Petrich, Unsere Sekten, Freikirchen und Weltanschauungsgesellschaften. Berlin 1928, S. 115-120. Gotthold Schmid, Von Kraft zu Kraft. Rektor Dietrichs Lebensgang und Lebenswerk. Stuttgart 1919, S. 71. 325 Klemm, ebd., nennt Alban Stolz und Johann Baptist Hirscher. Vgl. W. Fischer, a. a. O . , S. 462: Den Kampf gegen die freisinnige Partei innerhalb der Synode führte Mez „mit solch fanatischem Eifer . . . , daß er sogar erwog, sich mit den Katholiken zu verbünden, um den „Antichrist", den er vor den Toren lauern sah, zurückzuschlagen." 326 Schrenk, a. a. O . , S. 36. 38. Entscheidend war für ihn der .christliche Anschauungsunterricht' durch Mez, a. a. O . , S. 37. 327 Die Hahn'schen Gemeinschaften in Baden und Württemberg gehen auf das Wirken des theosophischen Denkers Johann Michael Hahn (1785-1819) zurück. Neben Erbauungsstunden entwickelten die schnell wachsenden Gemeinscvhaften eine starke Liebestätigkeit. Vgl. E. Beyreuther, Art. Hahn'sche Gemeinschaften. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 242. Die Lehrer Schrenks in der Zeit waren Johannes Kolb (1810-1894) und Christian Friedrich Krauß (1824-1907). Vgl. Schrenk, a. a. O . , S. 42; Klemm, a. a. O . , S. 31 f. 328 Jakob von Brunn (1797-1861). Vgl. Klemm, a. a. O . , S. 32 und 474, Anm. 57 (Lit.). 329 Schrenk, a. a. O . , S. 45 f. Vgl. Klemm, a. a. O . , S. 33. 95

Im Missionshaus prägten ihn dann nach dem einjährigen Propädeutikum, das vor allem der Bibelkunde gewidmet war, profilierte Lehrer: Der spätere Ordinarius für Neues Testament und Systematische Theologie in Göttingen (1864) und Breslau (1871) und Generalsuperintendent von Posen Wolfgang Friedrich Geß; 330 der Basler Theologieprofessor Karl August Auberlen 331 und der Inspektor der Missionsgesellschaft Friedrich Joseph Josenhans. 332 Sie brachten ihm das Erbe des württembergischen Pietismus mit Bengels Reichstheologie ebenso nahe wie Johann Tobias Becks kritische Gedanken zu aller Reichsgottesarbeit und Schleiermachers Hochschätzung der religiösen Individualität. „Josenhans hat Elias Schrenk zeitlebens zum Missionar gemacht, der das Pastorsein wie das Feuer fürchtete. Josenhans hat ihn gründliche Arbeit gelehrt, auch bei der Heidenmission und der Evangelisation der Massen. Josenhans' Ideal der Missionsgemeinde als „die ihres Unterschieds vom Reich Gottes und zugleich ihrer Verpflichtung zur Arbeit am Reich bewußte Gemeinde gläubiger Christen, die, innerhalb der bestehenden Kirche lebend, ihrer Organisation zu einer neuen Kirche harrt", ist das Urbild der missionarisch tätigen Gemeinschaft, die Elias Schrenk statt der „Stunde" vorschwebte. Von Josenhans wurde das Feuer der Hoffnung auf die letzten Dinge immer neu auch in seinem Schüler entzündet. " 3 3 3 In die Vorstellungswelt Johann Christoph Blumhardts führte ihn besonders Theodor Haug 334 ein, ein anderer Lehrer des Missionshauses, der an sich eine Glaubensheilung in Bad Boll erfahren hatte. Unter dem Druck der Vorbilder in seinen Lehrern und der entschiedenen Glaubensstellung, die von dem angehenden Missionar erwartet wurde, kamen ihm Zweifel an seiner Berufung: 335 „Je mehr ich mich in die Schrift einlebte, desto klarer wurde es mir, daß mir die innere Versiegelung meines Gnadenstandes durch den heiligen Geist nach Ephes 1,13

330 Zu Geß vgl. oben Anm. 222. 331 Κ. A. Auberlen (1824-1864), Schüler Franz von Baaders (1765-1841), Vermittler der theosophischen Weltsicht Friedrich Christoph Oetingers (1702-1782), war ein enger Freund Friedrich Fabris. Vgl. unten IV. 332 J. Josenhans (1812-1884) war von 1849-1879 Inspektor der Basler Mission. Vgl. Klemm, a. a. O., S. 36-39. Schrenk, Pilgerleben, S. 46f. 333 Klemm, a.a.O., S.39. 334 T. Haug (1830-1907), ein Schüler Johann Tobias Becks, unterrichtete nur kurze Zeit in der Basler Missionsschule. Bei ihm lernte Schrenk Latein. Vgl. Klemm, a. a. O., S. 36 335 Im folgenden wird ausfuhrlich zitiert, weil der Text nicht nur fur Schrenk exemplarischen Charakter hat. Die .Zwischenbilanz' gehört als fester Bestandteil zu den Biographien der späteren Führer der Gemeinschaftsbewegung. Inhaltlich wird hier die Frage nach der Heilsgewißheit gestellt. Vgl. besonders das umstrittene Selbstzeugnis Jonathan Pauls auf der Gnadauer Konferenz von 1904 (permanentes Freisein von der Sünde), der auf seine Weise die .Gewißheit seines Gnadenstandes' formulierte (Ernst Giese, Jonathan Paul. Ein Knecht Jesu Christ. Leben und Werk. 2. Aufl. Altdorf 1965, S. 91-93). - Schrenk gewinnt (wie Paul) die Gewißheit aus einer neuen „Erfahrung", und es zeigt sich nicht nur bei ihm, daß solche Gewißheit nach einer gewissen Zeit nach einer Steigerung in einer erneuten Erfahrung verlangt.

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und 4,30 fehle. In dieser Überzeugung wurde ich bestärkt durch das Lesen der Biographie von Aug. Herrn. Franke. Ich war ja von Kind auf nie ungläubig; wenn mich in meinen ersten 22Jahren irgendjemand gefragt hätte, wie hoffst du selig zu werden, so hätte ich wohl ohne Besinnen geantwortet: allein durch Jesum Christum, den Gekreuzigten. Aber ich hatte jahrelang nicht viel von diesem Glauben, er hatte fur mein Herz und Leben wenig erneuernde Kraft. In Freiburg kam ich zum lebendigen Glauben, der sich fest an das Wort hält, und mich auch in einen ganz andern Umgang mit Gott brachte. Ich konnte auf Grund des Wortes fest an die Vergebung meiner Sünden im Blute Jesu glauben, und hatte Frieden mit Gott. Aber dieser Friede war kein beständiger, es kam immer wieder Unruhe in mein Herz in Betreff meines Gnadenstandes. Die Notwendigkeit der Versiegelung durch den heiligen Geist wurde mir immer klarer. So gewiß es nach der Schrift ein Innewohnen des heiligen Geistes gibt, so gewiß gibt es eine Versiegelung; beides läßt sich nicht trennen. Wer die Versieglung durch den heiligen Geist bestreitet, bestreitet auch das Innewohnen des Geistes und setzt sich in Widerspruch gegen die Schrift.... Nach monatelangem Ringen erbarmte sich der Herr meiner und begegnete mir. Eines Abends, es war schon dunkel geworden, ging ich spazieren im Garten des Missionshauses und betete. Nicht etwa durch Nachdenken, sondern als Gabe stand auf einmal das Wort Offenbar. 7,13-17 in göttlicher Beleuchtung vor meiner Seele: sie haben ihre Kleider gewaschen, und haben sie helle gemacht im Blute des Lammes. Darum sind sie vor dem Stuhl Gottes usw., und der Geist Gottes sagte mir: das gehört dir. Vom Moment an erfüllte heilige Ruhe und Stille mein Herz, wie ich das nie vorher erfahren hatte; der Herr hatte mich heimgesucht. Von jenem Abend an ... blieb mir mein Gnadenstand gewiß. Ist mir schon vorher das Blut Christi teuer gewesen, so war es mir von dort an noch köstlicher und unentbehrlicher .. .". 336 Die nervlichen Anspannungen waren in der Zeit so stark, daß Schrenk an schweren psychosomatischen Störungen litt und die Ausbildung unterbrechen mußte. Nach einer erfolglosen Kur, die ihm Karl Mez finanziert hatte, 337 „kam mir der Herr zu Hilfe: eine innere Stimme sagte mir klar: gehe nach Männedorf. Damals leitete Jungfer Trudel die bekannte Anstalt in Männedorf am Züricher See." 338 Weil Josenhans etwas gegen „Frauenarbeit" hatte, reist Schrenk erst zu J. C. Blumhardt nach Bad Boll, fand aber keine Heilung und dann über einen längeren Aufenthalt in Davos endlich doch nach Männedorf, w o er unter Gebet und Handauflegung der Trudel Heilung fand. „Es war eine herrliche Gnadenheimsuchung, die ich in jenen drei Tagen erfuhr. Das Wort in Luk. 5,17 und 6,19 und 8,46: „und die Kraft des Herrn ging von ihm und half jedermann," durfte ich am eigenen Leib buchstäblich erfahren. Von jenem unscheinbaren, buckeligen, aber nach Natur und Geist reich begabten Weiblein ging 336 Schrenk, Pilgerleben, S. 49-51. 337 Ebd., S. 51. Vgl. Klemm, a. a. O., S. 40-44. 338 Schrenk, ebd., S. 51. Dorothea Trudel (1813-1862) unterhielt in Männedorf am Zürichsee mehrere Häuser und übte nach der Praxis Johann Christoph Blumhardts die Gabe der Krankenheilung aus. Vgl. Friedrich S. Rothenberg, Art. Trudel, Dorothea. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 510f.

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Gotteskraft aus, u n d ich b e k a m eine reelle Kraftmitteilung für m e i n e n inneren und äußeren M e n s c h e n . Aber n o c h mehr: in j e n e n drei T a g e n ö f f n e t e der Herr mir den Blick in die Schrift, u n d ich erkannte, daß der Heiland der Evangelien ein Heiland für Seele und Leib sei. W i e o f t durfte ich das nachher i m Lauf der Jahre erfahren." 3 3 9

Er nahm die Arbeit wieder auf, mußte aber bald wegen starker Leberschmerzen noch einmal Hilfe in Männedorf suchen und fand sie auch. 340 Am 5. Juni 1859 wurde Schrenk in Nagold zum Pfarrer ordiniert und am 17. Juni als Generalkassier der Missionsgesellschaft an die Goldküste abgeordnet. Neben Verwaltungsarbeiten und pfarramtlichen Aufgaben vermerkte Schrenk für diese Zeit besondere Erfahrungen in der Frage der Sklavenhaltung, mit der .Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit' der englischen Kolonialsoldaten. Er sorgte dafür, daß die Taufpraxis ernster gehandhabt wurde und veranlaßte eine der ersten Ordinierungen eines einheimischen Pastors. 341 Geprägt war dieser erste Afrikaaufenthalt auch durch immer wiederkehrende Fieberanfälle, Leberentzündungen und Gallenkoliken. „Einmal hatte ich so starke Krämpfe, die gegen das Herz zogen, daß ich jeden Augenblick mein Ende erwartete. Mein Leben zog an meinen Augen vorbei, und ich war innerlich sehr arm und ausgezogen; aber das Blut Jesu Christi war mein Trost, sodaß ich in vollem Frieden hätte scheiden können." 342 Immer wieder wird in der Autobiographie auch deutlich, wie unglücklich er darüber war, daß er über lange Phasen nicht zu der Arbeit kam, für die er sich eigentlich berufen fühlte; Entscheidungen der Basler Missionsleitung verhinderten das ebenso wie unverhoffte Todesfälle im Mitarbeiterkreis. 343 Schließlich zwang ihn eine chronische Ruhrerkrankung zu einem dreizehnmonatigen Erholungsurlaub in Europa. 344 Die meiste Zeit verbrachte er davon in England mit Kollektieren für den Bau einer Küstenstraße. Der Erfolg war mäßig, er machte aber in dieser Zeit wichtige Bekanntschaften. Christlieb gehört dazu, Spurgeon und die Quäker: „Ich lernte vorzügliche Geistmenschen unter ihnen kennen, mit denen ich von Herzen verbunden wurde. Bekanntlich haben die „Freunde" keine Sakramente, sie fassen alles geistig auf; ich lernte aber damals gründlich verstehen, daß Herz und Gesin-

339 Schrenk, ebd., S. 58. Vgl. H. Klemm, a.a.O., S. 47f. Schrenk hielt seit dieser Zeit Kontakt zum Männedorfer Krankenhaus. Seine eigene Praxis der Handauflegung, von der er nie Aufhebens machte, rührt anfänglich aus dieser Zeit. - Für seine späteren Auseinandersetzungen mit der Pfingstbewegung war es wichtig, daß er diese ,Gabe der apostolischen Zeit' schon praktiziert hatte. 340 H. Klemm, ebd. 341 Vgl. Schrenk, a. a. O, S. 59-85. Klemm, a. a. O., S. 50-87. Die Einzelheiten des ersten Afrikaaufenthaltes können hier übergangen werden. 342 Schrenk, ebd., S. 89. 343 Ebd., S. 85-89. 344 Vgl. zum Folgenden Schrenk, ebd., S. 93-102.

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nung eines Menschen unvergleichlich besser sein können als seine Dogmatik." 345 1865/66 verbrachte er in Heiden in der Schweiz346 zur Erholung und sah im Rückblick in dem Kreis, der sich dort um ihn bildete, die Wurzel für seine spätere Evangelisationsarbeit in täglichen Bibelauslegungen und Sprechstunden. „Der Herr war sichtbar unter uns, und ohne Wollen stand ich mitten in einer gesegneten Evangelisationsarbeit. Den Namen Evangelisation kannte man damals in der Schweiz und in Deutschland noch nicht, wir nannten es tägliche Versammlungen. . . . Die Gegner der Evangelisation haben beharrlich behauptet, ich hätte die Evangelisation den Methodisten „abgeguckt", nein, ich habe sie dem heben Gott abgeguckt: Heiden ist der Ausgangspunkt meiner Evangelisationsarbeit." 347

Der Aufenthalt in Heiden war durch Männedorfer Freunde vermittelt worden. Während dieses Schweizer Jahres lernte er auch seine Frau Berta, die Tochter des Pfarrers Johann Rudolf Tappolet 348 in Ottenbach, Kanton Zürich, kennen, die auch zu Männedorf Beziehung hatte. 349 Aus der Ehe gingen elf Kinder hervor, von denen zwei starben. Mit ihr verbrachte er den zweiten Afrikaaufenthalt an der Goldküste von 1866-1872.350 Gegen die gefühlsbetonten Methoden der benachbarten methodistischen Mission setzte er, zeitweilig für die gesamte Basler Missionsarbeit an der Goldküste verantwortlich, bewußt einen nüchternen Taufunterricht mit strengen Aufnahmebedingungen. Die vermehrte Arbeitsbelastung im Amt des Generalpräses brachte ihm ein Herzleiden ein, fur das er nicht zuletzt den Sparmaßnahmen der Mission die Schuld gab, die dem Missionar für die Überbrükkung langer Wege auf Schusters Rappen verwiesen. Das erste Kind der Schrenks starb im Alter von elf Monaten. „Ich hatte unmittelbar vorher die Dogmengeschichte von Baur in Tübingen gelesen. Wie dankte ich meinem Gott an jenem Abend, daß ich keinen Baurschen, sondern einen biblischen Heiland hatte." 351 Den deutsch-französischen Krieg 1870/71 erlebte er aus eigener Perspektive: „Wir Deutsche in der Ferne hatten damals den tiefen Eindruck, daß Deutschland gegen eine katholische Macht kämpfe, und es ein Krieg sei für die Existenz unserer evangelischen Kirche. Die Entwicklung der römischen Kirche seit 1870 hat diese Anschauung bestätigt. Was wäre aus der deutschevangelischen Kirche geworden, wenn Napoleon gesiegt hätte?" 352 345 Ebd., S. 96. Hier zeigt sich ein Dilemma, das die Geschichte der Gemeinschaftsbewegung durchzieht: Die Herzen lassen sich nicht so leicht prüfen wie eine Lehraussage! 346 Vgl. zum Folgenden Schrenk, ebd., S. 103-108. 347 Ebd., S. 103f. Vgl. G. Ruhbach, S. 11. 348 J. R. Tappolet (1808-1875). Vgl. H. Klemm, a. a. O., S. 98f. 349 Ebd. 350 Vgl. zum Folgenden Schrenk, a.a.O., S. 109-141. Auch hier kann nur ganz gerafft zusammengefaßt werden. 351 Ebd., S. 121. 352 Ebd., S. 129. In dieser Äußerung Schrenks spiegelt sich die zu der Zeit allgemeine

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G e s u n d h e i t l i c h e R ü c k s i c h t e n z w a n g e n d a n n die F a m i l i e z u m A b b r u c h d e r Z e i t in A f r i k a . 3 5 3 E s f o l g t e n ein E r h o l u n g s a u f e n t h a l t in d e r S c h w e i z m i t e i n j ä h r i g e r K u r p f a r r e r z e i t in D a v o s u n d e i n Z w i s c h e n s p i e l in E n g l a n d 1 8 7 4 / 7 5 , w o e r n a c h d e m V o r b i l d des R a u h e n H a u s e s in H a m b u r g e i n e E r z i e h u n g s s t ä t t e a u f b a u e n sollte. D e r P l a n z e r s c h l u g sich, a b e r e r l e r n t e in d i e s e r Z e i t die E v a n g e l i s t e n M o o d y u n d S a n k e y k e n n e n u n d w a r b e s o n d e r s v o n der überdenominationellen Arbeitsweise der beiden beeindruckt: „Das eigentümliche und fruchtbare in M o o d y s Arbeit w a r die Tatsache, daß allabendlich bis achtzig Geistliche aller Denominationen, die Hochkirchlichen, katholisierenden, ausgenommen, a u f der Plattform saßen, und in den N a c h v e r s a m m lungen brüderlich mit M o o d y zusammenarbeiteten, u m die E r w e c k t e n sofort in bleibende Pflege zu übernehmen. M a n hatte nur ein Ziel: Sünder zu retten; darum segnete Gott diese einmütige Arbeit reichlich." 3 5 4 E r nahm auch an den großen Heiligungsversammlungen im Mai 1875 in B r i g h t o n teil. „Was mich betrifft, so wurde ich auch gesegnet. D o c h ich hatte das Gute, das sie boten, schon lange vorher erlebt, und die schwache Seite, die sie zeigten, hatte ich schon Vorjahren ü b e r w u n den. Die schwache Seite w a r der Mangel an tiefer schriftgemäßer Erkenntnis der Sünde, der seine Konsequenzen in der ganzen Heilslehre z i e h t ! " 3 5 5 V o n 1 8 7 5 - 1 8 7 9 w a r er dann Missions-Reiseprediger der Basler M i s s i o n m i t W o h n s i t z in F r a n k f u r t u n d m a c h t e viele positive E r f a h r u n g e n m i t den Kirchenbehörden,

die s e i n e r A r b e i t w o h l w o l l e n d

gegenüberstanden.356

„ A u ß e r m e i n e r R e i s e p r e d i g t h a t t e i c h a u c h die M i s s i o n s k a s s e , e i n s c h l i e ß l i c h d e r H a l b b a t z e n k o l l e k t e f u r M i t t e l d e u t s c h l a n d , u n d die R e d a k t i o n des m o natlichen Starkenburger Missionsblattes."357 T r o t z s e h r e r f o l g r e i c h e r A r b e i t m a c h t e i h m die n o t w e n d i g e H i n t a n s e t z u n g d e r F a m i l i e bei seiner R e i s e - t ä t i g k e i t s e h r z u s c h a f f e n , s o d a ß e r 1 8 7 9 g e r n d e m R u f d e r „ E v a n g e l i s c h e n G e s e l l s c h a f t " in B e r n , 3 5 8 i h r P r e d i g e r z u Abneigung gegen die Machtansprüche des „Ultramontanismus", die durch die UnfehlbarkeitsErklärung für den Papst auf dem ersten Vatikanischen Konzil noch verstärkt wurde. Mit Napoleon ist wohl der III. gemeint. Vgl. im Anhang Nr. 6 Schrenks Bericht vom 13.4.1887. 353 Vgl. zum Folgenden Schrenk, ebd., S. 142-160. 354 Ebd., S. 354. Vgl. G. Ruhbach, a . a . O . , S. 8, der darauf hinweist, daß Schrenk später Schriften Moodys übersetzte und herausgab. Uber den Einfluß Moodys auf Adolf Stoecker vgl. E. Beyreuther, Kirche in Bewegung, S. 189-191. 355 Schrenk, a . a . O . , S. 157. In den Berichten zu den Versammlungen ist Schrenk nicht aufgeführt. 356 Ebd., S. 161-169. 357 Ebd., S. 165. 358 Da Schrenk sowohl in der Schweiz wie in Deutschland mit ,der Evangelischen Gesellschaft' zusammenarbeitete, werden ihre Unterschiede hier kurz charakterisiert. Die „Evangelische Gesellschaft fiir Deutschland" war eine Gründung, die auf die Anregungen Johann Hinrich Wicherns zur Evangelisation und Volksmission 1848 zurückging. Sie wurde am 25. August 1848 in Elberfeld auf Initiative der Pastoren L. Feldner, Elberfeld, Andreas Bräm (1797-1882), Neukirchen, Carl Eduard Nathanel Krafft (1859-1927), Düsseldorf, und Direktor Georgi in Düsselthal gegründet von einem Kreis von 53 Pastoren und, anderen gläubigen Männern' .Vgl. F. Coerper, Fünfzig Jahre Evangelische Gesellschaft für Deutschland, S. 2-8. Eugen Jochums,

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werden, folgte. 359 „Da ich keinerlei Hoffnung mehr hatte, nach Afrika zurückkehren zu können - obgleich ich und meine Frau es sehr wünschten360 so wird man begreifen, daß ich meine Kinder gern selbst erzogen hätte; das ließ mich eine feste Stellung wünschen. Dann hatte ich als Missionsprediger gar keine Seelsorge, ich war jahraus, jahrein nur Redner, was mich oft unglücklich machte .. ,". 361 In Bern - von 1879 - 1886 - wurde er gegen seine ursprüngliche Absicht in die Evangelisationsarbeit hineingezogen; 362 weil sich keine anderen geeigneten Kräfte finden ließen, „bekam ich den Eindruck, Gott will es, daß ich Evangelist sei" . . . „Im zweiten Jahr zeigte mir der Herr, daß ich in keiner Kirche mehr arbeiten soll, auf deren Kanzel die Gottessohnschaft Jesu Christi und das Blut Jesu Christi keine Heimstätte hatten...". 3 6 3 Art. Evangelische Gesellschaft für Deutschland. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 161 (Lit.), der allerdings die Urheberschaft Wicherns nicht nennt. Die Evangelischen Gesellschaften in der Schweiz haben andere Ursprünge. Sie haben alle ihre Vorbilder in der französischen und Genfer Gesellschaft, die als Reaktion auf die geistige Herausforderung der französischen Revolution gegründet wurden. - In Bern hatten sich seit 1819 kleinere christliche Initiativgruppen gebildet, die sich am 3. September 1831 zur „Evangelischen Gesellschaft" zur „Ausbreitung des Reiches Gottes im allgemeinen" zusammenschlossen. Gemeinschaftspflege, Ausbreitung der reinen Lehre im Sinne der reformierten Bekenntnisse, Schriftverbreitung, Bibelverkauf, Schaffung einer religiösen Leihbücherei sowie die Unterstützung der Heidenmission waren die selbstgewählten Aufgaben. Vgl. H. Klemm, a . a . O . , S. 193f. Paul G.Möller, Art. Evangelische Gesellschaft (Schweiz). In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 161 (Lit.). W. Hadorn, Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen, S. 447-467. Auch A. Köberle, Elias Schrenk, Ein Evangelist von Gottes Gnaden. In: Theologische Beiträge 13, 1982 Η. 1, S. 23. 359 Z u den Hintergründen seiner Entscheidung vgl. Klemm, a. a. Ο . , S. 189 f. Ein Schwager Schrenks, Hans Bäschlin (1843-1920), mit einer Schwester seiner Frau verheiratet, war zu der Zeit (1871-1908) Sekretär der Evangelischen Gesellschaft. Zusammen mit Theodor Christlieb war er Pate von Schrenks Sohn Paul (geb. am 14.7.1871 in Afrika). Vgl. Klemm, a . a . O . , S. 190; Schrenk, a . a . O . , S. 168, vgl. 138. Hadorn und Klemm charakterisieren den Kurs der Berner Evangelischen Gesellschaft als „neben der Kirche" laufend, aber nicht gegen die Kirche gerichtet. Die fuhrenden Kräfte waren der schon bekannte Theoderich von Lerber (vgl. oben, Anm. 313) und Friedrich Gerber (1828-1905), der Direktor des Lehrerseminars. Vgl. Hadorn, ebd., Klemm, a . a . O . , S. 195-197. 360 Klemm, a . a . O . , S. 192 teilt aus einem Brief Schrenks v o m 15.9.1879 die Passage mit: „Es kostete mich seinerzeit eine Art von Vernichtung, nicht mehr nach Afrika zu kommen, und ich habe mich von dieser Vernichtung nie ganz erholt." 361 Schrenk, a. a. O., S. 168. Es ist ein Verdienst Klemms, daß er die Vielfalt der Motive Schrenks in der Entscheidung für die Berner Predigerstelle entfaltet (a. a. O., S. 189-193); dieser Aspekt ist noch zu ergänzen. 362 Die Berner Gesellschaft unterhielt in etwa 150 Ortschaften zu der Zeit Filialen. „14 Versammlungshalter waren haupt- oder nebenamtlich fur die Gesellschaft tätig, überdies 2 Stadtmissionare, die man gemeinsam mit dem Evangelisch-kirchlichen Verein besoldete, 2 Kolporteure, 4 Bürobeamte, welche auch zeitweilig evangelistisch tätig waren." Klemm, a . a . O . , S. 197. Die Versuche, andere Mitarbeiter mit der Gabe zur volkstümlichen Erwekkungspredigt zu gewinnen, die Schrenk zusammen mit dem Komitee der Gesellschaft unternahm, waren erfolglos. Vgl. Schrenk, a. a. O., S. 174. G. Ruhbach, a. a. O., S. 11. 363 Schrenk, a . a . O . , S. 174f. Mit den Gedanken der inneren Mission war Schrenk spätestens bei einem dreiwöchigen Aufenthalt im Rauhen Haus im Mai 1874 vertraut worden. Er traf

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Schrenks Tätigkeit fur die Evangelische Gesellschaft war in den ersten Jahren außerordentlich erfolgreich. 364 Er füllte den großen Versammlungssaal, der etwa 600 Personen faßte, vorher waren es etwa 70 regelmäßige Besucher, und erreichte, daß für die Sonntagabendveranstaltungen der Kirchgemeinderat schon im September 1880 die Nydeckkirche, die noch 500 Plätze mehr hatte, zur Verfugung stellte. Auch dieser neue Versammlungsraum wurde durch seine Ausstrahlung übervoll. Schrenk richtete neu Missionsstunden und Gebetsstunden ein, teilte mit das Abendmahl in den Stunden aus, das erst jüngst eingeführt worden war, „um ein Gegengewicht gegen den wachsenden Reformgeist in der Landeskirche zu schaffen." 365 Aus seiner seelsorglichen Tätigkeit ergaben sich zwei regelmäßige Sprechstunden in der Woche. Für die „gebildeten Mädchen" begann er einen „Töchterverein". 366 Daneben predigte er in den Landgemeinden und auf den vierteljährlich stattfindenden Männerversammlungen. Höhepunkte waren die Jahresfeste der Evangelischen Gesellschaft im Sommer, bei denen unter anderem auch Theodor Christlieb auftrat und die Allianzgebetswochen im Januar, die zusammen mit den Methodisten und der Freien Gemeinde veranstaltet wurden. „Seit 1875 führt sie die Glieder der verschiedenen Kirchen auf dem Boden der Heiligungsbewegung zusammen." 367 Deren Führer Carl Heinrich Rappard368 und Otto Stockmayer 369 verbanden sich mit Elias Schrenk zu einer lebenslangen Freundschaft. bei der Gelegenheit auch mit J. H. Wichern und Jasper von Oertzen zusammen. Vgl. Klemm, a.a.O., S. 155f. Zu diesem Entschluß hatte beigetragen, daß Schrenk in seinen Bemühungen je länger je mehr auf die Mitarbeit der „gläubigen" Pastoren angewiesen war, wenn seine Evangelisationserfolge nicht ein Strohfeuer bleiben sollten. Vgl. Schrenk ebd. 364 Vgl. zum Folgenden Klemm, a. a. O., S. 198-203. 365 Ebd., S. 200. 366 Ebd., S. 200f. 367 Ebd., S. 203. Zur Heiligungsbewegung vgl. unten Kap. VI.l. 368 Vgl. oben Anm. 267. Zu seinen Erfahrungen mit der angelsächsischen Heiligungsbewegung vgl. vor allem Dora Rappard, a. a. O., S. 150-173. 369 Otto Stockmayer (1838-1917) stammt aus Aalen am Kocher/Württemberg. Nach der Schulzeit am Eßlinger Gymnasium und dem Seminar in Schöntal studierte er in Tübingen Theologie und erwähnt im Rückblick aus der Zeit besonders Johann Tobias Beck (1804-1878). Während des Studiums wurde er Mitglied einer Freimaurerloge. Während der Zeit einer Anstellung als Hauslehrer in der französischen Schweiz erlebte er seine Bekehrung und wirkte dann als Pfarrer in verschiedenen Gemeinden, der von Alexandre Vinet (1797-1847) gegründeten freien waadtländischen Kirche. Eine neue Wendung erhielten sein Leben und seine Verkündung durch die Begegnung mit R. P. Smith und der Heiligungsbewegung, deren Anschauungen er fortan als Reiseprediger vertrat und ihnen eine eigene Ausprägung gab. 1878 richtete er in Hauptwil/Schweiz ein Seelsorge- und Erholungsheim ein, in dem er auch die Gabe der Heilung praktizierte. Stockmayer war später ein gefragter Redner bei den Konferenzen der Gemeinschaftsbewegung, hat aber durch eine Sonderlehre von der „Auswahlentrückung der Brautgemeinde" (von der er sich 1909 distanzierte) in den Auseinandersetzungen um die aufkommende Pfingstbewegung auch verwirrend gewirkt. Seine Schriften werden bis heute aufgelegt. Vgl. Alfred Roth, Otto Stockmayer, Ein Zeuge der Nachfolge Jesu Christi, Gotha 1925. (Davon eine geschönte Fassung: Ders., Otto Stockmayer. Leben, Lehre und Werk. 3. Aufl. Gießen/

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In der Zeit traf Elias Schrenk und seine Frau, die bereits mit sieben Kindern nach Bern übergesiedelt waren, ein harter Schlag, der aber auch zu einer neuen Glaubenserfahrung führte. Im Alter von 18 Monaten starb seine jüngste Tochter Maria an den Folgen einer Lungenentzündung. 3 7 0 In einer Reise nach England suchte er neue Orientierung. „Ich hatte gehört und gelesen, daß damals englische Christen viel weiter seien in der Heiligung als wir auf dem Kontinent; deshalb wollte ich sie sehen; wünschte auch die Heilsarmee kennen zu lernen. Die Christen mit „reinem Herzen" fand ich nicht; dagegen die Heilsarmee lernte ich gründlich kennen mit Licht und Schatten. " 3 7 1 Eindruck machten ihm das Ehepaar B o o t h 3 7 2 und ihr Engagement für die „verkommenste Bevölkerung", kritisch sah er, daß sie außerhalb der Kirche arbeiteten. Auch störte ihn das treiberische aufgeregte Drängen zu Bekehrung und Buße. 3 7 3 Wichtiger wurde ihm eine andere Erfahrung: „Was mir aber der Herr während jenes Aufenthaltes in L o n d o n schenkte, b e k a m ich nicht in V e r s a m m l u n g e n , sondern in der Stille. Ich logierte bei lieben englischen Freunden, die den ganzen T a g in der Arbeit standen, sodaß ich viel allein war. D o r t in der Stille begegnete mir der Herr, legte mich tief in den Staub und schenkte mir eine neue A u s r ü s t u n g durch Seinen G e i s t . " 3 7 4

Schon vor diesem Erleben hatte er die Erfahrung von Heilungen durch Gebet und Handauflegung an sich selbst und anderen gemacht, nun legt er selbst die Hände auf, und Menschen wurden gesund. „Von jener Zeit an kamen Kranke zu mir, und ich hatte auf dem Lande im Zusammenhang mit Evangelisation der Stille besondere Krankenversammlungen. Dabei machte ich einzelne liebliche Erfahrungen von Heilung; aber viele wurden nicht g e s u n d . " 3 7 5 Der Biograph Schrenks schließt aus vielen Einzelheiten, daß Basel o. J. (Copyright 1962). Klemm, a. a. O., S. 538, Anm. 36 (Lit.). Maria Vetter, Evangelist Jakob Vetter. Ein Lebensbild. Geisweid 1922, S.46 u.ö.Johannes Seitz, a . a . O . , S. 121-145. Fleisch, Manuskript, Kp. II. 370 Schrenk, a.a.O., S. 175. 371 Ebd. Die Lehre vom „reinen Herzen" als einer bestimmten Stufe in der Heiligungsfrömmigkeit spielte von R. P. Smith bis zu Jonathan Paul hin eine wichtige Rolle in den von der Heiligungsbewegung beeinflußten Kreisen. An ihr haben sich u. a. die Auseinandersetzungen mit der Pfingstbewegung aktualisiert. Vgl. unten Kap. VI. 3. d. 3. P. Fleisch, Manuskript passim. Alfred Roth, Fragen der Heiligung, die immer wieder aufgeworfen werden. Neumünster o. J. 1931. Vgl. auch zum ganzen Vorstellungskomplex K. Reuber, Mystik in der Heiligungsfrömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung. Gütersloh 1938, S. 72-192, bes. S. 113ff. 372 William Booth (1829-1912), Begründer der Heilsarmee, Evangelist, tatkräftig von seiner Frau Catherine, geb. Mumford, unterstützt. Der deutsche Zweig der Heilsarmee wurde 1886 in Stuttgart gegründet. Vgl. H. Krüger, Art. Heilsarmee. In: E K L II, Sp. 85-97. Erwin Fahlbusch, Kirchenkunde der Gegenwart, S. 179-182. Erich Geldbach, Art. Heilsarmee. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 251. 373 Schrenk, a.a.O., S. 175f. 374 Ebd., S. 177. 375 E. Schrenk hat die Ausübung der Glaubensheilung nicht in den Vordergrund seines Redens und Handelns gestellt. Im Gegensatz zu vielen berufsmäßigen „Heilern" konnte er auch

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Schrenk nach dem Tode seiner Tochter neu offen war für die Fragestellungen der Heiligungsbewegung: „Hast du the higher christian life? Bist du wirklich geheiligt?" 376 Die Erfahrung seiner neuen Geistesausrüstung habe er dann unter dem Einfluß der Boardmanschen Auffassung von der Heiligung 3 7 7 gemacht. Ein Wechsel in der Evangelisationsarbeit Schrenks zeigte sich wenige Monate später bei einer Großveranstaltung in Basel. Nach Art der englischen und amerikanischen Vorbilder ließ man es nicht mehr bei Ansprachen und Gebetsgemeinschaften bewenden, sondern forderte die „Erweckten" zu öffentlichen Bekenntnissen auf und hielt Nachversammlungen mit den Bekehrten, - ganz im Stile der Heiligungsbewegung. 378 „Es war ein reich gesegneter Winter, in welchem ich auf diese Weise arbeitete; wir bekamen eine Geistesbewegung. Das hatte aber seine Folgen." 3 7 9 - Schrenks Arbeit geriet in einen Sog von Kritik und Anfeindung, die ungeschicktes Vorgehen der Heilsarmee in verschiedenen Orten der Schweiz hervorgerufen hatte. Auch sein Berner Komitee wollte die neuen Wege nicht einfach mitgehen, und so trat eine allmähliche Entfremdung zwischen ihm und der Evangelischen Gesellschaft ein. Schrenk selbst ordnete diese Auseinandersetzungen als eine notwendige Folge der Wirkungen des Geistes ein: „Wir sollten beten um eine neue Ausgießung des heiligen Geistes, um Zurüstung auf die Zukunft des Herrn. Wir sollten uns nicht davor fürchten, daß, j e näher das Ende komme, desto mehr Kampf entstehe." 380 In diese Zeit - 1884 - fiel dann schon die erste Anfrage Th. Christliebs an E. Schrenk, als Evangelist in Deutschland zu arbeiten. 381 Nach erfolgreichen Versuchen in Frankfurt, Bergen, Hanau, Cassel, Heidelberg und Bonn zog er mit der Familie im Oktober 1886 nach Marburg und dann 1890 nach Barmen. 3 8 2 den Mißerfolg zugeben. Vgl. ders., Heilung durch den Glauben. In: ders., Seelsorgerliche Briefe für allerlei Leute. Kassel o. J . , S. 152-158. U n d : ders., Seelsorgerliche Briefe . . . , 3. B d . , Kassel o . J . , (1911), S. 62-65. 376 H . K l e m m , a . a . O . , S. 217. 377 Z u William E d w i n B o a r d m a n vgl. P. Fleisch, Zur Geschichte der Heiligungsbewegung. Leipzig 1910, S. 122-131. Im Hause Boardmans nahm Schrenk an Heiligungsversammlungen teil. K l e m m , ebd., vermutet mit guten Argumenten, daß Rappard ihn nach England begleitete. 378 Vgl. zu der achttägigen Veranstaltung v o m 1 . - 9 . Oktober 1932, an der auch Rappard und Stockmayer mitwirkten, K l e m m , a . a . O . , S. 222-232. Schrenk, a . a . O . , S. 178f. D o r a Rappard, a.a. O . , S. 186-190. 379 Schrenk, a . a . O . , S. 179 380 K l e m m , a. a. O . , S. 380, Vgl. dazu den 1. Absatz des Einladungsschreibens, J . Ohlemacher, Quellen, S. 27. 381 Vgl. G. Ruhbach, a. a. O . , S. 11. Als Vorläufer Schrenks als Evangelist in Deutschland hat Samuel Hebich (1803-1868) zu gelten, der als Reiseprediger im Dienst der Basler Mission stand. Vgl. Hans Brandenburg, Art. Hebich, Samuel. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 247. Zur Unterscheidung von Reisepredigt und Evangelisation vgl. Christlieb im Anhang Nr.7. 382 Auch hier kann nur wieder gerafft zusammengefaßt werden. Vgl. die ausfuhrliche Darstellung bei K l e m m , a . a . O . , S . 2 0 - 3 0 2 . Schrenk, a . a . O . , S. 190-193. Zur Schwere der

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Bis zur Aprilsitzung des Evangelisationsvereins 1887 hatte Schrenk in Deutschland seit 1884 schon mehr als 20 mehrtägige Evangelisationen in deutschen Städten gehalten, darunter in Bremen, Frankfurt, Bonn, Kassel, Heidelberg und Wiesbaden. 3 8 3 Er hat als erster das Programm J. H. Wicherns zur Evangelisation in Deutschland 3 8 4 in die Tat umgesetzt und mit seiner Praxis die der folgenden Evangelisten vorgezeichnet. 3 8 5 E r war in der Tat der „Bahnbrecher der Evangelisation in Deutschland". 3 8 6

Entscheidung, dem R u f Th. Christliebs zu folgen vgl. Schrenk, a . a . O . , S. 192: „Es war mir ungemein schwer, mich innerlich von Bern loszumachen, meine Frau und ich waren fest angewachsen. Dazu waren die Kinder in vorzüglichen, christlichen Schulen. Ich stand im 55. Jahr als Vater von 8 Kindern, hatte beim Austritt aus meiner Reiseprediger-Stellung die Pension fahren lassen; war es richtig, wenn ich sie noch einmal fahren ließ? Der Herr gab Schritt für Schritt Klarheit, nachdem meine Frau und ich diese Fragen 2 Jahre lang bewegt hatten. Ein alter württembergischer Bruder sandte mir die Hälfte der Umzugskosten nach Deutschland; das war ein deutlicher Wink." 383 Vgl. die Statistik bei H. Klemm, a . a . O . , S. 626f. Vor Schrenk hatten nur Samuel Hebich und F. von Schlümbach in Deutschland evangelisiert. Warum Schrenk, a. a. O . , S. 197, Hebich nicht erwähnt, ist unklar. Vgl. für die Zeit nach April 1887 Klemm, S. 627ff., und G. Ruhbach, a. a. O . , S. 12, der aus der 4. Auflage der Lebenserinnerungen Schrenks eine Notiz 1906 mitteilt: „Überschaue ich meine Arbeit in den letzten 22 Jahren, so habe ich in 93 Städten und 20 Dörfern gearbeitet, in 43 Städten 2-, 4-, 6-, 8- bis 11 mal. In einer Reihe von Städten werde ich alle 2 Jahre gerufen. In hundertsechs fällen haben mich Presbytherien gerufen, an anderen Orten geschah es von kirchlichen Komitees und Vereinen. Der öftere R u f in dieselbe Stadt sowie der R u f durch Presbytherien beweist, daß die Evangelisation Heimatrecht in der Kirche gefunden hat; das war der nächste Zweck meiner Arbeit." 384 Zu Wiehern vgl. unten V.2. Es darf natürlich nicht übersehen werden, daß bei Wichern Volksmission Verkündigung und Diakonie zugleich bedeutete und Schrenk nur die eine Seite verwirklichte. Auch die angelsächsichen Einflüsse auf Schrenk sind genannt worden. Trotzdem bleibt, daß er das Programm Wicherns in seinem Teil in die Tat umsetzte. Vgl. E. Beyreuther, Kirche in Bewegung, S. 112. 189. 196 f. H. Klemm, im Zusammenhang mit den Aufgaben des Evangelisationsvereins, a. a. O . , S. 304, urteilt: „Was Wichern bei dem großen Umfang seiner Beziehungen zu den einzelnen Landeskirchen nicht möglich war, die Reisepredigt in der ganzen Kirche durchzusetzen, das konnte Christlieb und den seinen bei ihrem wesentlich enger gespannten Horizont organisatorisch erst recht nicht gelingen. Es blieb nur der Weg der praktischen Arbeit übrig, der, wenn starke Persönlichkeiten zur Verfügung stehen, tatsächlich verheißungsvoll war." Vgl. ders., S. 155f., anläßlich der Begegnung Schrenks mit Wichern im Mai 1874: „Schrenk und Wiehern sind stärker innerlich verwandt, vor allem in ihren Gedanken über Reisepredigt, als sie sich wirklich berührt haben. Wichern ist Schrenk nicht Antwort auf sein Suchen und Fragen gewesen, sondern im besten Falle Mitstreiter und ehrwürdiges Vorbild. Bedeutsamer als die Tatsache, daß sich Schrenk mit der Person Wicherns traf, war .., daß er den im Werke geformten Geist des Mannes begegnete, einem Geiste, an dem Schrenk bald eine tiefe Gemeinschaft der Grundanschauung entdecken mußte." Vgl. Schrenk, a. a. O . , S. 147. 385 Im Zusammenhang dieser Untersuchung würde es zu weit fuhren, der Evangelisationspraxis im einzelnen nachzugeben. Vgl. die zusammenfassende Darstellung seiner Tätigkeit und ihrer Grundsätze bei G. Ruhbach, a. a. O . , S. 12-19 und im Anhang Nr. 6 Schrenks Grundsätze und Einzelheiten. 386 Diese Formulierung taucht schon in einer epd-Meldung vom 21.10.1913, dem Todestag Schrenks, auf, nach einem nicht identifizierten Zeitungsausschnitt vom 22.10.1913.

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5. Friedrich

Fabri387

Fabri wird im Protokollbuch des Johanneums an erster Stelle der Redaktoren des Einladungsschreibens genannt. E r wurde am 12. Juni 1824 in Schweinfurt als Sohn des Pfarrers und Sekundarlehrers und späteren Dekans von W ü r z b u r g 3 8 8 geboren. Der Vater war Vermittlungstheologe und stand dem neu erwachenden lutherischen Konfessionalismus skeptisch gegenüber. Zwischen 1841 und 1845 studierte Friedrich Fabri in Erlangen und Berlin Theologie bei Ranke, Schelling, Steffens, Ritter, Marheinecke, N e ander, Hengstenberg und Theremin. Aus seiner Erlanger Zeit hob er später noch besonders Karl von Raumer h e r v o r . 3 8 9 Als Student trat er der studentischen Verbindung der Bubenreuther bei, die in diesen Jahren einige hervorragende Mitglieder h a t t e . 3 9 0 1 846 besuchte er das Predigerseminar in M ü n chen. In das Jahr 1847 fiel seine Promotion zum Dr. phil. 3 9 1 1848 wurde er zum Stadtvikar in Würzburg berufen und 1851 zum Pfarrer der Gemeinde 387 Wegen der reichen literarischen Tätigkeit Fabris muß wieder etwas weiter ausgeholt werden. Bisher umfangreichste Bibliographie bei Klaus-J. Bade, Friedrich Fabri, S. 524-528. Literatur zu Fabri bei Klemm, S. 493, Anm. 18. G. Besier, Ziff. Kirchenpolitik, S. 68, Anm. 61. Vgl. im Folgenden Lebensabriß bei Bade, a. a. O . , S. 30-33; K. Kupisch, Art. Fabri, Friedrich. In: R G G II 3 , Sp. 855. Fabri ist zeitlebens ein Broschürenschreiber gewesen. Zum großen Teil handelt es sich um Stellungnahmen und Kampfschriften zu kirchen- oder kolonialpolitischen Tagesfragen, die sich zudem über einen Zeitraum von mehr als 40 Jahren verteilen. Trotz dieser thematischen und zeitlichen Verstreutheit lassen sich bei Fabri schon früh, spätestens seit „Der sensus communis" (1861) Grundlinien eines theosophisch-theologischen Konzepts erkennen, die er beibehalten hat. Von daher ist es zulässig, aus Schriften unterschiedlicher Zeiten und Anlässe Zitate für ein systematisches Gesamtbild heranzuziehen, ohne sich dem naheliegenden Vorwurf des methodischen Eklektizismus aussetzen zu müssen. Der diesbezügliche Vorwurf K . J . Bades, a. a. O . , S. 19, gegenüber W. R. Schmidt ist darum zurückzuweisen. Die andere Kritik Bades an Schmidt, daß er einen quasi unpolitischen Missionsmann und Kolonialpolitiker aus apologetischen Interessen heraus konstruiere, scheint berechtigt. - Eine endgültige Klärung kann nur eine noch ausstehende gründliche Würdigung des Theologen Fabri bringen. 388 Der Vater, Dr. Ernst Friedrich Wilhelm Fabri, wurde 1829 nach Bayreuth, 1836 als Dekan nach Würzburg berufen. Die Mutter, Sophia Helena Christiana Fabri (1799-1846), war die Tochter des Schweinfurter Arztes und Gerichtsphysikers Johann Elias Schmidt, der eine Freiin von und zu der Tann geheiratet hatte. Lit. bei Bade, a. a. O . , S. 378, Anm. 4. - Aus der Ehe gingen noch vier Töchter hervor: Louise, Johanna, Sophia und Anna. 389 Wolfgang R . Schmidt, Mission, Kirche und Reich Gottes bei Friedrich Fabri, hebt (S. 15) besonders hervor, daß sich Fabri über die theologischen Vorlesungen hinaus eine breite Bildung verschafft habe: „So hörte er außer philosophischen Vorlesungen bei von Raumer Naturgeschichte und Pädagogik mit den Prädikaten vorzüglich und augezeichnet, bei Doederlein griechische Literatur, bei Kastner Physik und eine Enzyklopädie der gesamten Naturwissenschaft, beide mit der Note vorzüglich, bei von Staudt Elementarmathematik (vorzüglich), bei von Siebold Vergleichende Anatomie mit dem Prädikat ausgezeichnet." Vgl. auch Bade, a.a.O., S.31. 390 Mit dem späteren Göttinger Professor der Physiologie Rudolf Wagner blieb Fabri ebenso in Verbindung wie mit dem Staatsrechtslehrer Ludwig Karl James Aegidi, der 1871 als Legationsrat ins Auswärtige Amt eintrat. Vgl. Bade, a. a. O , S. 31.

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Bonnland bei Würzburg. Im Hause seines Vaters traf er auch mit J. H. Wichern zusammen und wurde von ihm nachhaltig beeinflußt. 391i Im selben Jahr heiratete er die Tochter eines reichen Gutsbesitzers aus Südhannover; 392 aus der Ehe gingen acht Kinder hervor, von denen vier frühzeitig starben. „Von Würzburg aus ist Fabri öfters in Möttlingen gewesen. Diese Besuche müssen den jungen Fabri entscheidend geprägt haben. Sie waren für ihn eine „Glaubensstärkung". Der „Möttlinger Zustand (war) nichts Außerordentliches, sondern im Grunde der normale christliche Zustand." 393 Die „Erscheinung Blumhardts" war „bedeutsam", da sie zu der Hoffnung Anlaß gab, „daß das, was er begonnen . . . , bald in weiteren Kreisen Anerkennung und Anwendung finden werde. " 3 9 4 ... In diese Zeit - etwa seit 1845 - (fiel) auch das Studium der Theosophen Jakob Böhme (1575-1624), Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782) und Franz von Baader (1765-1841), und zwar im „Zusammenhang mit seiner Abkehr vom kirchenpolitischen Konfessionalismus innerhalb der Kirche in Bayern. In diesen Jahren muß Fabri

391 Das Thema der nicht mehr auffindbaren Dissertation: .Johannes Scotus, mit dem Beinamen Erigena, dargestellt nach seinem Leben und seinen Schriften." Ausfuhrlich zur Promotion vgl. Bade, a. a. O . , S. 379 f. Anm. 20, der mit seinen Angaben weit über Schmidt (S. 16) hinausfuhrt. O h n e daß hier weitere Schlüsse daraus gezogen werden können, bleibt festzuhalten, daß Christlieb und Fabri über die gleiche Person ihre Dissertation verfaßt haben. 391 a Wiehern war v o m 18. - 20. Juni 1849 auf einer Werbereise fur die Anliegen der Inneren Mission Gast bei Dekan Fabri. A m 20. Juni beschloß die „Kirchliche Konferenz Unterfrankens" unter dem Vorsitz Fabris als erste süddeutsche Organisation den Anschluß an den „Centralausschuß für Innere Misson". Vgl. Martin Gerhardt, Johann Hinrich Wiehern, Bd. II, S. 178-180. Während des elften Kirchentags in Barmen, 1860, wohnte Wichern bei Friedrich Fabri. Vgl. ebd. Bd. III, S. 321, Anm. Bade, a. a. O . , Kap. 2.1 „Revolution und Innere Mission", (S. 36), vermutet sogar, daß Fabris Vater mit Wiehern befreundet war. Er weist dann ebd. Anm. 41 daraufhin, daß Fabri „bis in die Formulierungen" hinein Wicherns Gedanken in seinen ersten eigenen Schriften aufnahm. In „Die materiellen Nothstände der protestantischen Kirche Bayerns" sind diese Verwandtschaften besonders deutlich; direkt: vgl. ebd. S. 15. 23. 392 Henriette Brandt aus Uslar. Julius Rößle, D., Friedrich Fabri. Z u r 50. Wiederkehr seines Todestages am 18. Juli 1891. In: Deutsches Pfarrerblatt 45, 1941, S. 257. 393 Fabri, Im Lenze der Liebe, S. 163 f. 394 Ebd., S. 79. Inwiefern die Vorstellungen Blumhardts die Reich-Gottes-Konzeption Friedrich Fabris beeinflußt haben, ist im einzelnen noch nicht untersucht. Auf Einflüsse weisen Bade, a . a . O . , (S.32) und Schmidt, a . a . O . , (S. 16f. und 96-104) hin. Zur Reich-GottesAnschauung Blumhardts vgl. G. Sauter, Die Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt, S. 16-73, bes. III. Theologiegeschichte. Die theologiegeschichtliche Herkunft des Begriffes „Reich Gottes" bei Blumhardt (a. a. O., S. 62-70). Sauter sieht thematische Verwandtschaften zu den Anschauungen der württembergischen theosophischen Tradition (bes. zu Bengel und Beck), die auch fur Fabri eine Rolle spielen. Sauter räumt ein, daß solche Einflüsse „in für uns heute verborgenen Kanälen" weiterliefen (S. 69) und befreit sich und andere mit dieser Einsicht von dem Zwang, direkte Abhängigkeiten konstruieren zu müssen. Ein guter inhaltlicher Überblick über Blumhardts Reich-Gottes-Konzeption findet sich jetzt auch in der Erlanger Dissertation (1976) von Michael T. Schulz, Johann Christoph Blumhardt, Leben - Theologie - Verkündigung, bes. die S. 165-216. Göttingen 1984. Zu Fabris ReichGottes-Konzeption vgl. unten IV.

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auch Carl August Auberlen (1824-1864) begegnet sein", 395 den er später als seinen „nächststehenden Freund" bezeichnete. 396 In seiner Zeit als Pfarrer in Bonnland veröffentlichte Fabri neben sozialkritischen Schriften eine Arbeit über „Die Bedeutung der Theosophie für das Zeitbedürfnis einer christlichen Religionsphilosophie" (1853) und die „Briefe gegen den Materialismus" (1855), die in Auseinandersetzung mit den geistigen Strömungen seiner Zeit die Herausbildung einer eigenen Sicht der Welt- und Kirchengeschichte in den Traditionslinien der Theosophie anzeigten. 397 Von 1857 bis 1884 kam Fabri als 1. Inspektor der Rheinischen Mission nach Barmen. Auberlen hatte ihn empfohlen. 398 Seine Hauptaufgabe innerhalb der Mission bestand anfangs darin, Streit, der um die konfessionelle Ausrichtung der Arbeit entstanden war, zu schlichten. 399 Schon in seinem 395 Schmidt, a. a. O., S. 16. Genauer wieder Bade, a. a. O., S. 32 und Anmerkungen 32-35 aufS. 381. Bade weist auf die Rezeption Schellings durch Fabri hin und den besonderen Einfluß, den der Erlanger Philosoph Emil August von Schaden (Bade versehentlich E. R. von Schaden, S. 32) (1814-1852) in der Vermittlung theosophischer Anschauungen auf Fabri hatte. Z u m Begriff der Theosophie vgl. Wolfgang Philipp, Art. Theosophie. In: EKL III, Sp. 14231426 (Lit.). Die christliche Theosophie ist der Versuch, das Verhältnis von Gott, Welt, Mensch und Natur in einer die Gesamtgeschichte von Anfang bis Ende in ihren Zusammenhängen deutenden Weise mit „spekulativer Methode" zu begreifen. Es dominieren in ihr aus der Naturbeobachtung abgeleitete organologische Begriffe und Kategorien. Der Mensch und die Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen sind in einen kosmologischen Prozeß eingebunden, an dessen Ende die vollkommene Harmonie des Göttlichen mit der Natur und der Menschheit gedacht wird. Z u Fabris theosophischer Konzeption vgl. unten, IV. Es sei schon hier vermerkt, daß von Schaden über seinen Schüler Philipp Theodor Culmann (1824—1863) erheblichen Einfluß auf die Gemeinschaftsbewegung gewonnen hat. Culmanns unvollendetes Werk, Die christliche Ethik (Kaiserslautern 1863, 18732, 19264, 1927 s ), ist in Gemeinschaftskreisen viel gelesen und empfohlen worden. S. unten bei Th. Jellinghaus, Kap. VI; auch Ch. Dietrich, eine zentrale Figur in der späteren Gemeinschaftsbewegung schätzte das Buch hoch ein: „Ich habe sehr viel daraus gelernt und halte es für eines der bedeutendsten Bücher des vorigen Jahrhunderts." Gotthold Schmid, Von Kraft zu Kraft, S. 213. Ein kurzer Lebenslauf Culmanns ist der 5. (= 4.) Aufl. der Ethik vorangestellt (S. XI - XVI). 396 Schmidt, a. a. O . , S. 150, Anm. 28. Bade, a. a. O . , S. 381, Anm. 35, dort eine genauere Darstellung der Beziehung Fabris zu Auberlen und Lit. 397 Über die Wirkungen seiner Veröffentlichungen in der Zeit s. Bade, a . a . O . , S. 32f. Einen ersten Überblick über die wichtigsten Veröffentlichungen Fabris gibt Schmidt in einer synoptischen Tabelle (allgemeine Biographie, Theologie Mission, Publikationen Fabris, Kirchenpolitik, Sozialpolitik - Kolonialbewegung), Anhang II. 398 Die Rheinische Mission hatte zunächst Auberlen selbst gewinnen wollen. Schmidt, a . a . O . , S. 1 6 . - „ W a r u m gerade Fabri, derein theologischer Außenseiter war und nach eigener Aussage von der Missionsarbeit nichts verstand, in den Kreis der pietistisch oder konfessionell ausgerichteten Missionsinspektoren der Barmer Gesellschaft berufen wurde, ist schwer zu erklären. Die Vermutung liegt jedoch nahe, daß man sich in Barmen von Fabri, der als allem Konfessionalismus fernstehend galt, eine Vermittlung in konfessionellen Fragen erhoffte, welche die Missionsarbeit belasteten und den leitenden Inspektor Wallmann zum Rücktritt veranlaßt hatten." Bade, a. a. O., S. 33. 399 Eine ausfuhrliche Darstellung auf dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Union und Konfession seit den Anfängen der Rheinischen Missionsgesellschaft gibt Theo

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ersten Rundschreiben an die Missionare macht Fabri deutlich, daß für ihn Union nur als „Konsensusunion" 4 0 0 denkbar war. Wobei er diesen Begriff mit einer eigenen Deutung füllte, die weit über das hinausführte, was man üblicherweise darunter verstanden hatte: „Union ist aber nicht im entfremdeten Sinn als Zeichen einer Partei zu verstehen, es soll vielmehr „die Gesinnung, der Geist, in dem wir unsere Arbeit treiben, bezeichnet und ausgesprochen sein." 4 0 1 Das Einende steht über dem Trennenden. 4 0 2 „Es handelt sich darum, die confessionellen Unterschiede und die durch sie bedingte allgemeine Lage der Christenheit von einem höheren, die Gegensätze überschauenden Gesichtspunkte" zu betrachten. Dazu gehört nicht viel Gelehrsamkeit, „wohl aber ein festverwurzelt Herz, das . . . mit erleuchtetem Blick Fleisch und Geist, Gesetz und Evangelium, Welt und Reich Gottes scharfund klar" zu unterscheiden weiß. Diesen Blick gewinnt man durch „Versenkung in das Wort der Wahrheit" und durch fortschreitendes Eindringen in den ganzen Ratschluß Gottes zum Heile der Welt." Alle Weltzeit, alle Kirchenzeit ist nur Zeit der Einladung. Der Blick a u f s Ende, der „Reichsblick", macht frei vom Irrtum menschlicher Lehre, die nie vollkommen sein kann. „Unsere heimathlichen confessionellen Händel haben eben darin ihren letzten Grund, daß man den rechten biblischen Reichsblick verloren, das Geschichtliche als solches überschätzt und damit das wahre geistliche Maß des göttlichen Wortes in der Beurtheilung der Zeit, ihrer Zeichen und Bedürfnisse so vielfach eingebüßt hat." 4 0 3 Was sich in diesem ersten Rundschreiben an geschichtstheologischer Sicht anbahnte, fand in den folgenden Jahren Fortsetzung und Reife in den Schriften „Die Entstehung des Heidenthums und die Aufgabe der Heidenmission" (1859); „Die neuesten Erweckungen in Amerika, Irland und anderen Ländern" (1860); „Der sensus communis", „Die Erweckungen auf deutschem Boden" (1861). 404 Sundermeier, Mission, Bekenntnis und Kirche, S. 29-61. Abgekürzt lassen sich die virulenten Fragestellungen innerhalb der Missionsgesellschaft so beschreiben: Z u m einen war unklar, in welchem Verhältnis die Rheinische Missionsgesellschaft zur Rheinisch-Westfälischen Provinzialkirche stand und ob sie deren Bekenntnisstand teilte; dann ergaben sich auf dem Missionsfeld Fragen der Abendmahlsgemeinschaft mit Missionaren anderer ζ. B. methodistischer Gesellschaften und die Frage nach dem Bekenntnisstand der neugegründeten Missionskirchen. Aktualisiert wurden diese Probleme durch die lutherische Option des baltischen Hereromissionars Carl H u g o Hahn. Entscheidungsschwäche des Vorstandes der Rheinischen Missionsgesellschaft hatte bis zum Eintritt Fabris zur Zurspitzung der Konflikte um die Unionsfrage geführt. Vgl. L. von Rohden, Geschichte der Rheinischen Missionsgesellschaft. Barmen 1888, S. 96-102. E. Dresbach, a. a. O., S. 689f. Zur Unionsfrage auch G. Ruhbach (Hrsg.), Kirchenunionen im 19. Jahrhundert, S. 5f. 400 Fabri im Quartalsschreiben vom 26. Oktober 1857. 401 Ebd. 402 Sundermeier, a. a. O., S. 49 mit Bezug auf das o. g. Quartalsschreiben. 403 Sundermeier, a. a. O., S. 49f. Vgl. Schmidt, a. a. O., S. 22f. 404 Fabri erwähnt in „Der sensus communis, das Organ der Offenbarung Gottes in allen Menschen" (1861), daß er „wohl zehn Jahre gebraucht" habe, um die Konsequenzen des theosophischen Denkansatzes an der Bibel zu überprüfen und auszuloten (S. 34).

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Im Vorwort zu den Vorlesungen über „Die Entstehung des Heidenthums und die Aufgabe der Heidenmission" (1859) stellte Fabri die Forderung nach einer , biblischen Metaphysik' auf, die in der heutigen Zeit dem Anwachsen der materialistischen Weltanschauungen und ihren axiomatischen Grundvoraussetzungen die .Grundbegriffe der heiligen Schrift', entgegenstellt. 405 Solche „philosophia sacra" gewann Fabri in engem Anschluß an O e tinger. 4 0 6 In „Der sensus communis", dem Schlüsselwerk für sein theosophisches Konzept, stellte Fabri die Grundfrage: „ Wie steht die Welt zu Gott und Gott zur Welt, abgesehen von der Offenbarung in Christo? Oder bestimmter, giebt es auch in dem natürlichen Menschen noch eine verborgene Offenbarungsstätte des lebendigen Gottes? " 407 Mit Oetinger nahm er an, daß in jedem Menschen ein „göttlicher Lebensfunke (vorhanden ist), durch welchen er mit dem Reiche des Lichtes in Beziehung steht", „eine verborgene Offenbarungsstätte des lebendigen Gottes". 4 0 8 Dieser Funke, der auch „in allen Menschen sich regende Zug des 405 Fabri, Die Entstehung des Heidenthums, S. VIII f. 406 ich kenne nur einen einzigen Theologen, der mit der ganzen Kraft seines schier alle Gebiete der Erkenntniß umfassenden Geistes, gepaart mit dem seltensten Scharfblick für die verborgenen Tiefen des göttlichen Wortes, auf dieses Problem (sc. des sensus communis oder des allgemeinen Wahrheitsgefuhls) in immer neuer durch sein ganzes Leben fortgesetzter Beleuchtung wirklich eingegangen ist. Ich meine den sei. Prälaten Oetinger. An diesen werde ich mich daher vielfach anlehnen...". Fabri, Der sensus communis, S. 7, vgl. S. 17. 30. 37. 407 Ebd., S.5. 408 Ebd. Auf dem knappen Raum von 60 Seiten (plus Anhang) zeichnet Fabri die Auffassungen Oetingers nicht im einzelnen nach, sondern setzt sie voraus. Eine konzise Zusammenfassung der sensus-communis-Lehre Oetingers bietet Sigrid Grossmann, Friedrich Christoph Oetingers Gottesvorstellung, S. 106-111. Diese Zusammenfassung folgt hier zum besseren Verständnis der Voraussetzungen Fabris. „Sensus ist nach Oetinger "unmittelbare Empfindung, als unmittelbares Erfassen der beobachtbaren und nicht beobachtbaren Gegebenheiten... sein Wert liegt darin, daß ihm Gewißheit wird ohne Beobachten und Vergleichen einzelner Fakten, die zum Ganzen erst zusammengesetzt werden müssen . . . Er ist weiterhin in jedem wirksam, nicht nur in wenigen Auserwählten, . . . darum wird er auch ein allgemeiner genannt: weil er der gesamten Menschheit zugeeignet ist. Dieser Gemeinschaftsbezug soll allerdings keine Vereinerleiung ausdrücken; jeder Mensch bleibt ein Individuum, denn der sensus communis entwickelt sich in einem jeden gesondert. Was ihn auszeichnet dadurch, daß er in allen Menschen ist, ist ein Gemeinschaft stiftendes, ein zur Gemeinschaft befähigendes Element. Sensus communis als „ein Mitwissen mit Gott, mit anderen Menschen und mit sich selbst" befähigt den Menschen zur Teilhabe an einer Gemeinschaft, die ihre eigentümliche Begabung und Aufgabe hat; durch diese Teilhabe ist der Mensch verantwortlich für die Gemeinschaft insofern, als er sich eben als Teil dieser Gemeinschaft verstehen kann und auch verstehen muß. Gemeinschaft heißt hier aber bei Oetinger die Bereitschaft zu einer gemeinsamen Aufgabe: ein Teil sein, ein Stück in dem Heilsplan Gottes sein, weil sich Gott durch Menschen offenbart - anders ausgedrückt: „daß man an seinem Teil und in seinem Lauf ein Werkzeug der allgegenwärtigen Weisheit sei".,, Mit dem sensus communis "ist eigentlich der Mensch in die Ebenbildlichkeit Gottes gesetzt, weil er - wie Gott - die Dinge innerlich zu durchdringen vermag; aber dieses Vermögen ist durch den Fall Adams verloren worden. U m nun wirklich die „wahre Idee vom sensus communis" zu haben, muß sich der Mensch dem „ursprünglichen Trieb der göttlichen Weisheit" aus freier Entscheidung anvertrauen, er muß sich darauf einlassen, ihn in sich wirken lassen; aber das

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Natürlichen zum Göttlichen, dieses allgemeine Gefühl der Billigkeit, des Rechtes und der Wahrheit" genannt werden kann, heißt sensus communis (allgemeines Wahrheitsgefühl, im Englischen: common sense). 409 Der sensus communis wird nach verschiedenen Seiten hin ausgedeutet. Einmal hat er die Qualität des Gewissens, - „ein Sensorium oder Fühlungswerkzeug für Wahrheit, Recht und Licht, und ein verborgener Richter über das, was nützlich und schädlich, was gut und böse ist." Mit dieser richterlichen Funktion erweist sich aber, „daß in dem Gewissen eine Beiwohnung Gottes im Menschen thatsächlich vorhanden ist." 4 1 0 Diese Anwesenheit Gottes im Menschen wird aber auch von daher begründet, daß Gott überhaupt seine ganze Schöpfung durchwaltet und als Gesetzgeber sowohl der natürlichen Gesetze wie der moralischen über die Einhaltung dieser Gesetze wacht. 411 Der Sitz des sensus communis im Menschen ist der Verstand oder die Vernunft. 412 Aber nicht alle Menschen haben ihn in gleichem Maße, er kann stärker ausgebildet oder „durch Irrtum und Lüste in einem Menschen verdunkelt oder verderbt" sein. 413 Das Mehr oder Weniger an Durchbildung mit dem sensus communis ist einmal von dem Willen des Menschen abhängig, der auf die Stimme Gottes in seinem Gewissen antwortet oder sich verschließt. Dann hängt sie davon ab, wieweit sich der Mensch dem Wirken des sensus „in allem rein Menschallein reicht nicht aus . . . der Mensch muß lernen an und aus den Aussagen und Inhalten der Bibel - „ohne heilige Schrift kriegt man sie nicht". Erst dann wird der sensus communis die „Werkstatt, worein die göttlichen Kräfte durchs Wort Gottes gepflanzt werden"! Nochmals: „Der sensus communis ist das Verborgene der Menschen, ein stilles Gefühl (sensus tacitus) der Ewigkeit", er ist „reine Neigung auf Gott", „Neigung oder Vorempfindung", die jedoch „erweckt" werden muß. Dies geschieht durch die heilige Schrift . . . ; „hernach wird er (der sensus communis) auch in jedem Mannesalter, in jedem Jahrhundert durch ein gewisses Maß der nutzbarsten Wahrheiten nach der Haushaltung Gottes bestätigt . . . Wohlgemerkt: der sensus communis muß "erweckt,, werden; ist er es, dann bringt er das, was neben die Argumentationen der Vernunft gehört, damit Einsicht erreicht wird." Belege für die Oetingerzitate, ebd.). 409 Fabri, a. a. O., S. 10, unter Verweis auf Sprüche 20: Die Leuchte des Herrn ist injeglicher Seele. 410 Ebd., S. 24. Eingeleitet wird dieser Gedanke mit dem Hinweis auf Rom. 2, 14f. (S. 23) und in diesem Zusammenhang die Auffassung (Rousseaus) abgewiesen, das Gewissen sei „ein Produkt der Erziehung". 411 „Ohne bleibende, lebendige und kräftige Assistenz oder Beiwohnung des Gesetzgebers in dem ganzen Gebiete des von ihm Gesetzten giebt es überhaupt nie und nirgends ein effektiv wirksames Gesetz." (S. 16) - „Gott trägt alle Dinge, das ganze All mit der Kraft Seines Wortes, mit dem Hauch Seines Geistes." (Ebd., S. 14). In diesem Zusammenhang polemisiert Fabri gegen einen überzogenen Anspruch .heutiger Naturforscher', die die Unabhängigkeit der Naturgesetze vom Schöpfer behaupteten (S. 17 f., hier auch ein ausfuhrliches Oetinger-Zitat). 412 „Und diese verborgene Offenbarungs-Stätte Gottes in ihm ist sein geistiges Wesen, sein Verstand oder seine Vernunft." (Ebd., S. 21). Diesen Gedankengang leitet Fabri von R o m . 1, der .allgemeinen Offenbarung Gottes über alle Menschen' her, ebd. S. 19-22. 413 Ebd., S. 43.

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liehen, in der Natur im weitesten Sinne, in Wissenschaft, Staat, Kunst und Gesellschaft" öffnet, die doch „Offenbarungen des allgegenwärtigen Gottes und Seiner Wirklichkeit" sind. 4 1 4 Und schließlich helfen auch das Vorbild Christi, der den sensus communis in Vollkommenheit besaß, die Bibellektüre und die Predigt. 4 1 5 Da des Bestreben des sensus communis auf möglichst weitgehende Durchbildung des Menschen zielt, kann auch gesagt werden, daß er „zu Christo hin" treibt. 4 1 6 Ein Widerspruch zwischen revelatio generalis und revelatio specialis ist ausgeschlossen: „Denn die allgemeine Gottesoffenbarung, deren Organ das allgemeine Wahrheitsgefühl ist, und die Gnadenoffenbarung in Christo, deren Organ der Glaube ist, sind beide Offenbarungen des Einen lebendigen Gottes und können daher sich niemals widersprechen." 4 1 7 Als kritische Kriterien für das Erkennen des Wirkens des sensus communis übernahm Fabri von Oetinger ,das Notwendigste, das Nützlichste, das Einfältigste'. 418 Der sensus communis muß aber auch noch in der geschichtlichen Dimension entfaltet werden, die Fabri ihm beigemessen hat. Denn „kraft des in ihm wohnenden und wirkenden sensus communis erkennt der Mensch verborgener Weise auch in all diesen Beziehungen und Ereignissen (sc. der alltäglichen Ereignisse) bei einigem Nachdenken die Gegenwart und Wirksamkeit Gottes, und wird so an den Führungen und Schickungen der Völker wie einzelner Menschen und seines eigenen Lebens, an Jammer und Noth, Glück und Unglück, Lust und Freude den Finger des unsichtbar und doch überall wirkenden Gottes inne." 4 1 9 Diese gedankliche Einbindung des Handelns 414 Ebd., S. 31 f. in einem Zitat von Auberlen. Fabri gewinnt mit der Übernahme dieses Gedankens einen positiven Zugang zu allen Bereichen von Kultur und Gesellschaft und exemplifiziert im zweiten Teil (ab S. 32 „praktische Folgerungen") an Beispielen aus Literatur, Politik, Mission und Pädagogik, wie der sensus communis hier wirkt, welcher Nutzen aus seinem Wirken gezogen werden kann und welche Grenzen zu beachten sind. 415 Ebd., S. 32. Christus ist die höchstmögliche Durchdringung eines Menschen mit dem sensus communis. Vgl. auch ebd. S. 78 (Zitat: Anm. 43 am Ende). Unausgeglichen steht dazu die Rede von Christi Heilswerk S. 44, die erst im Zusammenhang von Fabris Reich-GottesAnschauung erhellt werden kann (s. unten Kap. IV). 416 Ebd., vgl. Sundermeier, S. 51. 417 Fabri, a. a. O . , S. 54. Wird ein Widerspruch empfunden, so liegt das am .verfinsterten Menschenherz', am ,Unverstand' (ebd.). 418 Ebd., S. 31, in einem Oetinger-Zitat aus Auberlen, Die Theosophie Oetingers nach ihren Grundzügen, s. S. 64, Anm. 5. „Mit diesen drei Eigenschaften des Nothwendigsten, des Nützlichsten und des Einfältigsten läßt sich die Gottheit überall bekleidet fühlen und finden." Oetinger, ebd. - Die drei Kriterien sieht Fabri in Rede und Wandel Jesu verwirklicht (S. 37) und verbindet mit ihnen implizit und explizit, besonders mit dem dritten Kriterium, Kritik an der Universitätstheologie (S.39f.). Vgl. Sundermeier, a . a . O . , S. 50, und Großmann, a . a . O . , S. 76 ff. Auch den Entwurf einer Ethik hält Fabri auf dieser Grundlage fiir möglich, ebd., S. 45 f. 419 Fabri, a. a. O . , S. 27 f. Fabri beruft sich in der Folge aufJohann Georg Hamann (17301788) und die Lehre von der gratia praeveniens. Sundermeier, a. a. O . , S. 51 f., verweist auf das Geschichtskonzept Auberlens, dem Fabri hier folge.

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Gottes in die kleinen und großen Geschehnisse der Weltgeschichte hat Folgen. In, mit und unter dem Weltgeschehen geschieht Offenbarung, ereignet sich Heilsgeschichte. Weltereignisse sind Offenbarungsträger. Das paradoxe Ineinander von Weltgeschichte und Heilsgeschehen, wie es das Alte und Neue Testament darlegt, wird in ein kontinuierliches Nacheinander aufgelöst. „Gottes Handeln geschieht nicht in schöpferischer Vollmacht als je und je neues eschatologisches Eingreifen, es ist reichs- und heilgsgeschichtliches Tun, d. h. es verläuft in den Gesetzen der natürlichen Lebensordnungen." 4 2 0 Wer dank des in ihm wirkenden sensus communis den Reichsblick 4 2 1 hat, „steht über allem Parteihader und -streit; denn er kennt Ausgangspunkt und Ziel allen Geschehens. Er steht gleichsam auf der Seite Gottes. Das befreit zu sachlicher Distanz und gibt einen objektiveren Blick. Diese Sachlichkeit erfordert andererseits auch verstärktes Engagement zu .weltlichem' Tun."422 Geschichte geriet bei Fabri aber noch unter den besonderen Aspekt des Reiches Gottes und seiner Entwicklung. Für Fabri gibt es „drei LebensCentra": 4 2 3 das Reich Gottes, das Reich der Welt, das Reich des Teufels, oder: das Reich des Lichts, das Reich des Zwielichtes und das Reich der Finsternis. Das Verhältnis der drei Reiche ist ein Kampfverhältnis zwischen „Licht" und „Finsternis" im Bereich des „Zwielichtes". Beide Reiche b e m ü hen sich u m den Bestand der Welt, beide kämpfen „sichtbar und unsichtbar" u m dieses Objekt. „Eine Ausgangsposition im Reich der Welt für diesen Kampf hat das Reich Gottes in dem sensus communis, das Reich der Finsternis in der Sünde." Fabri kann v o m Reich Gottes sowohl als von einem gegenwärtigen als auch von einem zukünftigen reden: „Man kann in diesem Reich arbeiten, es gibt „kräftige" Ausbr.üche und Niederlagen dieses Reiches. Andererseits ist dieses Reich zukünftig: Mit der Lehre v o m Reich Gottes geht die christliche Hoffnungslehre einher. " 4 2 4 Diese doppelte Struktur des Reiches Gottes hat eine formale und eine christologische Begründung: „Gleichbleibend ist fur ihn die Ewigkeitsstruktur des Reiches als reine Gegenwart, Licht, Leben, Frieden etc., davon zu unterscheiden dagegen ist die Gestalt, in der sich das Reich Gottes hier und jetzt offenbart. - In dem Reich der Welt ist das Reich Gottes in der Verborgenheit und darum in der Niedrigkeitsgestalt d a . . . . Die Herrlichkeit 420 Sundermeier, a. a. O., S. 51 f. 421 Oetingers „Zentralschau", als die „Gewißheit vermittelnde Erkenntnisform" (Grossmann, a. a. O., S. 103) kann man als eine Steigerung des „Reichsblickes" ansehen. Da an der Frage eines Mehr an geistlicher Erkenntnis in der späteren Gemeinschaftsbewegung Konflikte entstanden, wird schon hier auf eine mögliche Wurzel verwiesen. 422 Sundermeier, a. a. O., S. 52. 423 Fabri, a. a. O., S. 5. Vgl. zum Folgenden S. 77 und die zusammenfassende Darstellung bei Schmidt, a. a. O., S. 96f. 424 Fabri, Die Stellung des Christen zur Politik, S. 17. 113

des Reiches Gottes ist (aber) im Grunde genommen da, sie ist für den Glaubenden sehbar, erlebbar, lebbar. Die Niedrigkeitsgestalt der Herrlichkeit des Reiches Gottes hängt aber für Fabri zusammen mit der Menschwerdung und mit dem Leben Christi. In Analogie zum Leben und Sterben des Christus, in Analogie zu seiner Herrlichkeit und Niedrigkeit, gestaltet sich das Reich Gottes in dieser Welt. Wie in Jesus von Nazareth die Herrlichkeit Gottes, so ist auch im „Gewand" der Niedrigkeit der Herrlichkeit des Reiches Gottes da. - Dieses Schema von Niedrigkeit und Herrlichkeit hat Fabri auch auf den Ablauf der Zeitgeschichte angewandt. Ist die Zeit bis zur Parusie die Zeit der offenbaren Niedrigkeit des Reiches Gottes, so ist die Zeit nach der Parusie die Zeit der offenbaren Herrlichkeit des Reiches Gottes. Fabris Eschatologie . . . gehört also in die Lehre vom Reich Gottes. Der Glaube lebt geradezu von dem „Ausblick auf die kommende Vollendung" .. .„Geduld", „Eilen und Warten", überhaupt die Heiligung ist eben darin begründet, daß Gott sein Reich in der Gestalt der Herrlichkeit heraufführt." 4 2 5 Allgemeine Weltgeschichte und Reichsgeschichte sind nach Fabri sowohl eindeutig unterschieden als auch unmittelbar auf einander bezogen: Das Reich der Welt ruht nicht wie das Reich Gottes auf den „Real-Principien" des Wortes Gottes; 4 2 6 darum ist sein Ziel auch das Ende und es ist unsinnig, „specifisch christliche Forderungen" 4 2 7 an seine Geschichte zu stellen. „Das Reich Gottes als Botschaft des Evangeliums, von Christen gebracht, ist ein „schlechthin Neues" in dieser Welt, es ist ein „universelles Reich" und überdauert alle Weltreiche. " 4 2 8 Der Kampf zwischen Gottesreich und Reich der Finsternis, der auf ein „Entweder-Oder" hinausläuft, ist die „eigentliche Folie der Menschheitsgeschichte" . 4 2 9 Das Reich Gottes geht auf Vollendung, die Welt geht aufs Ende 425 Schmidt, a . a . O . , S. 98f. Zitate aus verschiedenen „Berichten der Rheinischen Missionsgesellschaft" 1866-1877, Belege bei Schmidt, a. a. O . 426 Fabri, D i e Stellung des Christen zur Politik, S. 35; ders., Die politischen Ereignisse des S o m m e r s 1866: Die heilige Schrift „offenbart uns das Gesetz des neuen Lebens, sie enthüllt uns Gang und Ziel des Reiches Gottes, von dessen Anfängen bis zu seiner Vollendung, aber sie giebt nirgends in direkter Weise uns Belehrung über die Stellung des Christen zu politischen Fragen." E b d . , S. 4, vgl. S. 7. Vgl. Christlieb, Moderne Zweifel a m christlichen Glauben, S. 147. 427 Fabri, a . a . O . , S . l l . 428 Schmidt, S. 100, unter Bezug auf: Die politischen Ereignisse, S. 2, und: D i e Stellung des Christen zur Politik, S. 19. 429 Fabri, Briefe gegen den Materialismus, 2. Aufl., S. 160. Was dieser Antagonismus für den Einzelnen bedeutet, wird in „ D e r sensus c o m m u n i s " , S. 77f., deutlich: „ N u n stehen dem Menschen nach seinem verborgenen Geistesleben in dieser Zeitlichkeit drei Reiche offen, das Reich Gottes (das Licht), das Reich der Welt (das Zwielicht) und das Reich des Teufels (die Finsterniß). Bei all seinen Produktionen empfängt er aus einem dieser Reiche seine inspirierende Begeisterung, wobei jedoch insofern Mischungsverhältnisse gewöhnlich stattfinden, als d ä m o nische Inspiration mit Inspirationen des Weltgeistes meist verbunden auftritt und andererseits, w o Gottes Geist wirksam geworden ist, dieser u m der Sünde und Schwachheit des Menschen willen mit Welt-Elementen (wenn diese, wie bei den heiligen Schriftstellern nicht durch

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zu. Sie wird nie eine christliche Welt werden. „Vielmehr zeigt gerade der moderne Unglauben, der sich als „religiöse Unwissenheit", als Materialismus, als Entchristlichung darstellt, daß sich auch die Geschichte der Welt in folgerichtiger Evolution vollzieht. Aber diese Evolution, in der die Geschichte des Reiches der Finsternis sichtbar wird, steht unter dem Zeichen der Devolution aufs Ende hin. Für das Verstehen dieses göttlichen Geschichtswillens bedarf es eben des „prophetischen Wortes", oder anders gesagt: U m Weltgeschichte zu analysieren, muß man im Reiche Gottes sein, dessen Ziel und Geschichte kennen. " 4 3 0 Im Reich Gottes ist man aber durch die Wiedergeburt, im Glauben an Christus, denn: „In Christo allein erwacht der Mensch wieder zu einem universellen, gottmenschlichen B e w u ß t sein."431 In den mehr als 25 Jahren Missionsarbeit als Inspektor der Rheinischen Missions-Gesellschaft erschloß sich für Fabri, der vor seiner Berufung nach Barmen wenig Kenntnis von der Mission hatte, eine neue Dimension der Wirkungsweise des sensus c o m m u n i s . 4 3 2 „Fabri entdeckt voll Staunen, wie in der Gegenwart alle Völker und Länder der Erde in einen geheimen Kontakt, in eine Gemeinschaft der Interessen und der innersten Bezüge getreten sind wie nie zuvor. Der sichtbar werdende Einheitsbezug der Menschen weist auf das Nahen der Endzeit. In höchstem Maße aber ist die besondere göttliche Wirkung fern gehalten werden) sich noch verbunden zeigt. Auch auf diesen Ternar . . . ließe sich der ganze Inhalt der christlichen Glaubenslehre zurückfuhren; und so lange man denselben in seiner tiefen Bedeutung nicht erkannt hat, wird man über Propheti, Magie und vieles andere kaum eine klare Vorstellung gewinnen. . . . Der sensus communis hat es nun offenbar mit dem zweiten dieser zwei Reiche, dem des Zwielichtes zu thun, und zwar sofern eben das Licht noch „scheinet in der Finsterniß". Als Mensch gewordener Logos ist dieses Licht aber nicht mehr nur „scheinend" in der Finsterniß, sondern als leuchtende Gnadensonne „in diese Welt gekommen"." Dies Zitat hier so ausfuhrlich, weil in der Gemeinschaftsbewegung später große Unsicherheit in der Beurteilung der Phänomene des „Zwielichts" bestand. 430 Schmidt, a . a . O . , S. 101; vgl. Fabri, Briefe gegen den Materialismus, passim. Ders., Staat und Kirche, S. 151 ff. Vgl. auch Sundermeier, a. a. O . , S. 52. Vgl. im Gnadauer Archiv die Briefe und Rundschreiben zur „Kasseler Bewegung". 431 Fabri, Die Entstehung des Heidenthums, S. 144. Vgl. Anmerkung 43. Wie sich bei Fabri individuelles Glaubensleben und Heils-Geschichte durchdringen, wird in einem Gedankengang deutlich, den er unter Aufnahme der Unterscheidung von drei Offenbarungsstufen bei Franz von Baader (Durchwohnung, Beiwohnung und Inwohnung Gottes in der Kreatur) entwickelt: „Offenbar entsprechen diese drei Stufen dem Vater, dem Sohne und dem heiligen Geiste und den drei Perioden der Welt- und Heils-Geschichte. Der Vater durchwohnt die Creatur, der Sohn (Logos) wohnt ihr bei, der heilige Geist wohnt ihr ein. Die Sphäre des sensus communis ist die der Durchwohnung; so jedoch, daß in ihr auch schon eine Sollicitation der Beiwohnung (durch den Logos) stattfindet; zum Vollzuge der Beiwohnung (zur Sohnschaft, zum Vaternamen) kommt es erst in der Bekehrung, und zur Inwohnung (des Vaters und Sohnes in Kraft des heiligen Geistes) erst durch die Wiedergeburt und Heiligung. A u f die Weltperioden gedeutet, so leben wir seit 1800 Jahren in der zweiten, der des Sohnes. Es ließe sich sonach die ganze Heils-Geschichte, wie der ganze Inhalt der Theologie, auf Grund jenes Ternars darstellen und entwickeln." Fabri, Der sensus communis, S. 63. Zu diesem Periodisierungsmodell vgl. Gustav Weth, Die Heilsgeschichte, bes. Teil B. „Die individuelle Heilsgeschichte in ihrem Verhältnis zur universalen Heilsgeschichte", S. 180-229.

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Die Aussage von Matth. 24,14 verband Fabri mit Matth. 24,12: „In Zeiten des Abfalls . . . soll sie (sc.: die Heidenmission), zugleich zu einem Zeugnis über die abgefallene Christenheit ihre Ausbreitung gewinnen. Die Heidenmission ist somit ein Zeichen dafür, daß die Welt in die „antichristliche Periode" ingetreten ist. " 4 3 4 Diese antichristliche Periode ist für Fabris heilsgeschichtliches Verständnis die Periode, in der die Kirche in die apostolische Ursituation zurückkehrt: „ N a c h d e m die G e s c h i c h t e f ü n f z e h n h u n d e r t J a h r e l a n g in allen n u r m ö g l i c h e n V e r s u c h e n , eine w a h r e u n d dauerhafte, eben so sehr d e m W e s e n der K i r c h e w i e des Staates entsprechende Allianz z w i s c h e n beiden zu b e g r ü n d e n , sich v e r g e b l i c h e r g a n g e n hat, sind w i r j e t z t wieder zu d e m ersten, ältesten u n d natürlichen Verhältnisse beider zu einander: der T r e n n u n g der K i r c h e v o m Staat, z u r ü c k g e k e h r t . " 4 3 5

Für den Anbruch dieser neuen Periode der Kirchenzeit sprachen für Fabri der „fortschreitende Materialismus und seine spezielle Ausgestaltung in der Naturwissenschaft..., die Revolution, die Entwicklungen im übrigen Europa, in Nord-Amerika, die alle auf die „Auflösung" der christlichen Staatsidee hinauslaufen, . . . auch die kirchlichen Bewegungen in Bayern und Baden sowie die Einführung der Zivilehe in Preußen." 436 Im Zusammenhang dieser reichsgeschichtlichen Ortsbestimmung war für Fabri klar, daß das anbrechende Zeitalter auch eine Verfolgungszeit für die Kirche bringt. 4 3 7 - Den Begriff der Kirche entwickelt Fabri wieder in Anlehnung an Auberlen zweilinig wie seinen Reichsbegriff. Der wirklichen und unsichtbaren Kirche steht die Interims-Kirche gegenüber. „Die Kirche ist . . . eine göttliche Stiftung „von Oben", d. h. ist sie eine Institution der 432 Z u den U m s t ä n d e n seiner B e r u f u n g vgl. Bade, a. a. O . , S. 33. Schmidt, a. a. O . , S. 16. 433 Sundermeier, a . a . O . , S. 53. Vgl. Fabri, D i e Entstehung des Heidenthums, Anlage 2, bes. S. 167; auch ders., Die Politischen Ereignisse des Jahres 1866, S. 2f. Sundermeier verweist noch auf die Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 1861, S. 5f. und 1878, S. 5. 434 Schmidt, a. a. O . , S. 107. Vgl. Fabri, Entstehung des Heidenthums, S. 79f. Vgl. oben, III.4.2, Theodor Christliebs ganz gleichlautende Einschätzung. 435 Fabri, D i e politische B e w e g u n g , S. 22. M a n muß sich bei dieser Formulierung allerdings die wirklichen Verhältnisse im Jahre 1848 (der Entstehungszeit der Schrift) vor A u g e n halten. Immerhin zeigt sich in ihr eine Denkrichtung, die Fabri lebenslang beibehalten, allerdings auch auf das kirchenpolitisch Machbare hin modifiziert hat. Vgl. Besier, Preußische Kirchenpolitik, S. 77. 436 Vgl. Fabri, Die politische B e w e g u n g , S. 12f.; ders., Staat und Kirche, S. 151 f. 169ff.; ders., Politik, S. 66f. 437 Vgl. im Einladungsschreiben die einfuhrenden Sätze, Ohlemacher, a . a . O . , S. 27. In gleicher Tendenz und noch deutlicher formuliert i m Entwurf: „die bevorstehenden K ä m p f e , die uns nicht erspart bleiben können", ebd., S. 25. Vgl. auch im Anhang N r . 6.

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„Gottesordnungen des jetzigen Weltalters", eine niedrigere im Vergleich zu „einer vollkommeneren Erscheinung des Himmelreiches". 4 3 8 Das Ende dieser Institution ist die Wiederkunft Christi, ihr Anfang und die bleibende Grundlage ist die geschehene Ausgießung des Heiligen Geistes. Als Leib Christi ist die Kirche grundsätzlich eine Kirche, als Braut Christi ist sie eschatologische Größe, ihr Herr ist Jesus Christus, der sie zusammen mit dem Heiligen Geist regiert und leitet. An allen Punkten der Lehre Fabris von der Kirche zeigt sich die konstitutive Bedeutung des Heiligen Geistes.... Auf die Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes hat „der Herr Seine Kirche gebaut" . . . „es giebt nichts Realeres, Mächtigeres als diesen Geist von Oben" . . . „Er vermittelt Licht und Leben, das die Kirche in dieser Welt auszubreiten berufen ist." 4 3 9 Schriftgrund für die pneumatische Konstitution der Kirche ist Matth. 18, 19-20: „Unter der realistischen, biblischen, die „reformatorischen Symbole" sprengenden Lehre vom Heiligen Geist wird die Kirche zu einer durch und durch pneumatischen Größe. " 4 4 0 „Die Kirche Christi ist ja nicht das Terrain äußerer Institute und O r d n u n g e n ; krafterfiillte, von O b e n erleuchtete, in einem heiligen Wandel stehende Persönlichkeiten, das sind die eigentlichen, treibenden Organe, deren der Herr sich je und j e zur Leitung und weiterem Fortschritt Seines Reiches auf Erden bedient." 4 4 1

Dieses geistige Konzept stand auch hinter allem kirchenpolitischen Engagement Fabris. Er griff mit einem eigenen Verfassungsentwurf in die Fragen ein, die durch den Gebietsgewinn Preußens 1866 kirchenrechtlich entstanden waren. „Jede Verfassungs-Reform, die das Grundwesen der Kirche als eine Stiftung von Oben her mißkennt . . . ist verwerflich" 442 ; von diesem Grundsatz ausgehend schlug er eine Entstaatlichung der Kirche in der Weise vor, „daß die Evangelische Landeskirche der älteren preußischen Provinzen in einzelne konfessionshomogene Provinzialkirchen dezentralisiert wird und eine föderative Zusammenarbeit in einem obersten Rat aller evangelischen Kirchen stattfindet." 4 4 3 1868 promovierte die Bonner theologische Fakultät Fabri honoris causa zum Doktor der Theologie. 4 4 4 Zwischen Januar und August 1871 fungierte 438 G. Besier, Mission and Colonialism in Friedrich Fabri's (1824—1891) Thinking. Kopenhagen 1982, S. 89. Vgl. Fabri, Die politische Lage, S. 28. Schmidt, a. a. O., S. 117. Vgl. auch unten IV. 439 Fabri, Staat und Kirche, S. V; ders., Über Kirchenzucht, S. 97 ff. 440 Fabri, Über Kirchenzucht, S. 98f. Ders., Wie weiter?, S. 88f. Schmidt, a. a. O., S. 117. 441 Fabri, Über Kirchenzucht, S. 84f. Vgl. Besier, Preußische Kirchenpolitik, S. 73. 442 Fabri, Die politische Lage, S. 28; ders., Wie weiter?, S. 88. 92. Vgl. Besier, a . a . O . , S. 70. 443 Besier, a. a. O., S. 70 f. Fabri konnte sich allerdings mit diesen Vorschlägen nicht durchsetzen. Vgl. dazu ebd., S. 77 u. 551-520. 444 Da das Bonner Universitätsarchiv während des Zweiten Weltkrieges verbrannt ist, lassen sich fur die Begründung dieses Verfahrens keine Hinweise gewinnen.

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er - allerdings glücklos - als Berater in Kirchenfragen beim preußischen Gouverneur im Elsaß Graf von Bismarck-Bohlen. 4 4 5 In seinen kolonialpolitischen Schriften vertrat Fabri ein enges Miteinander von Christianisierung und der Vermittlung wesentlichen Kulturgutes, plädierte für eine aktive Kolonialpolitik Deutschlands und war durch seine Schlüsselpositionen in verschiedenen Organisationen ein wichtiger Gesprächspartner des Reichskanzlers Otto von Bismarck. 4 4 6 Fabri schied 1884 aus dem Dienst der Rheinischen Mission aus, nachdem er im Vorjahre noch unter vielen Ehrungen sein fünfundzwanzig]ähriges Dienstjubiläum hatte begehen können. 4 4 7 In seine Barmer Zeit fiel auch 1874 der Auftritt des Hauptvertreters der angelsächsischen Heiligungsbewegung, Robert Pearsall Smith. Fabri war an den Veranstaltungen beteiligt u. a. mit Th. Christlieb und hat sich auch schriftlich zur Heiligungsbewegung geäußert; 4 4 8 er ordnete die Anliegen Smith's in seine Auffassung der Aufgabenstellungen der Zeit folgendermaßen ein: „Kirchliche und kirchenpolitische Pläne und B e m ü h u n g e n machen es nicht, so notwendig dieselben an ihrer Stelle auch sein m ö g e n . S a m m l u n g der Gläubigen, 445 Zu der Episode in der Zusammenarbeit mit Friedrich Alexander Graf von BismarckBohlen, dem Generalgouverneur von Elsaß-Lothringen, vgl. G. Besier, a. a. O., S. 505-511. Ob in dem Scheitern seiner kirchenpolitischen Modell-Pläne für Elsaß-Lothringen und dem darin beschlossenen Ende seiner möglichen kirchlich-politischen Karriere ein Motiv liegt, das Fabri in Zukunft zu stärkerem Engagement in der Evangelisations- und Allianzsache brachte, läßt sich hier nur als Vermutung einbringen, aber nicht belegen. Literarisch hat Fabri sein Programm der Trennung von Kirche und Staat weiter vertreten (vgl. nur seine Schriften: Gedanken zur bevorstehenden Generalsynode, Gotha 1874; Nach der Generalsynode . . . Gotha 1876; Wie weiter?... Gotha 1887). Vgl. auch Schmidt, a. a. O., S. 18. 446 Im Zusammenhang dieser Untersuchung kann und muß auf das kolonialpolitische Konzept Fabris, das von K.-J. Bade eine gründliche Darstellung erfahren hat, nicht näher eingegangen werden. Es bleibt allerdings einer noch zu schreibenden Gesamtwürdigung Fabris vorbehalten, die Integration seiner verschiedenen Aktivitäten in sein geistiges Gesamtkonzept darzustellen und zu würdigen. Im folgenden Kapitel wird versucht, Ansätze für diese Aufgabe zu erarbeiten. Vgl. auch den knappen Überblick bei G. Besier, Mission and Colonialism, S. 91-93. 447 Über die Beweggründe Fabris für sein Ausscheiden im einzelnen ist keine letzte Klarheit zu gewinnen. Das Scheitern der von ihm ins Leben gerufenen Missionshandelsgesellschaft und der damit verbundene Pressewirbel werden ihren Teil zu seiner Entscheidung beigetragen haben. Vgl. L. von Rohden, Geschichte der Rheinischen Missions-Gesellschaft, S. 399-404 (dort auch eine Würdigung der Leistungen Fabris für die Missionsgesellschaft). Zur von Anfang an umstrittenen Handelsgesellschaft vgl. ebd., S. 327-331. 448 Vor allem: Friedrich Fabri, Zum neuen Jahre. Eine Betrachtung über Epheser 3, 14-19, nebst Bemerkungen über die Oxforder Bewegung. (Abdruck aus den „Berichten der Rheinischen Missions-Gesellschaft", Januar und Februar 1875.) Barmen, o. J . (1875). Fabri entfaltet im ersten Teil (S. 1-14) seine eigene Heiligungslehre, die sich mit der von Th. Jellinghaus (vgl. unten Kap. VI) weitgehend deckt und geht dann erst auf die Oxford-Bewegung und Smith ein. Wie im Einladungsschreiben formuliert, sieht Fabri hier in einer Vertiefung der Heiligung der Gläubigen die Voraussetzung für ein Vorankommen des Reiches Gottes (S. 13): „Was da Noth thut, sind neue tiefere Antriebe von Oben her, Lebenskräfte, die das Herz erfassen, den Willen stärken, die Liebe beflügeln. Wo eine solche Bewegung die Herzen durchdringt, da heben sich unzählige Verlegenheiten und Nöthe wie von selbst."

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tiefere Begründung in der Wahrheit, völligere Hingabe an den Herrn und seine Reichssache, tiefere Einwurzelung in der Liebe Christi, das sind die Erfordernisse, die uns in erster Linie not tun, auch unter den Bedrängnissen dieser Tage. Es regt sich aber manches Vorzeichen, als wenn solches auch in weiteren Kreisen erkannt und ergriffen werden sollte. Hierher dürfen wir vor allem eine B e w e g u n g rechnen, welche im letzten Jahr in England entstanden, ihr Schwingungen soeben auch nach Frankreich, in die Schweiz fortsetzt und auch in manchen Kreisen Deutschlands bereits Widerhall findet." 4 4 9

Durchaus kritisch nahm er zu manchen Ausführungen Smith's Stellung: er monierte die Bekehrungsstatistiken, warnte vor einem möglichen U m kippen von Heiligungseifer in Selbstgerechtigkeit und vor der Gefahr einer „sündlosen Vollkommenheit" als Ziel der irdischen Christenexistenz. 450 Im Ganzen begrüßte er aber die Grundanliegen der Heiligungsbewegung als einer von Gott gesegneten Bewegung: „Die Schrift redet aber so von der Heiligung, daß man sieht: es muß dem wirklichen und gleichmäßigen Glauben an Christus möglich sein, einen gleichmäßigen Sieg über jede erkannte Sünde davonzutragen. Das Kreuz Christi hat uns von der Strafe der Sünde freigemacht und ist das Mittel, durch welches wir auch von ihrer Macht frei werden. Der Weg hierzu besteht im Glauben, daß wir uns als solche achten, deren Fleisch mit Christo gekreuzigt ist und die durch die Glaubensgemeinschaft mit Christi Kreuz und T o d nunmehr der Sünde abgestorben sind. " 4 S 1

Für Fabri brachte die Heiligungsbewegung nichts grundsätzlich Neues in der Lehre, namentlich bei Gerhard Tersteegen fand er ihre Anliegen vorgebildet 452 „Das wirklich Besondere ist vielmehr dieß, daß die Menge der Anwesenden unter der Betrachtung jener Wahrheiten von einer Bewegung des Geistes ergriffen wurde, und unter derselben ihrer Viele unmittelbare Gnaden- und Geistes-Wirkungen an ihren Herzen tief und freudig verspürten. " 4 S 3 Er erhoffte sich von ihren Impulsen ein längst notwendiges Erarbeiten der Lehre vom „heiligen Geiste" 454 und wünscht, daß „die aus Oxford gegebene Anregung sich in weitere Kreise bei uns" fortpflanze. 455 Nach seinem Ausscheiden aus der Missionsgesellschaft 1884 hat Fabri keine neue berufliche Stellung gesucht. Er lebte in Bad Godesberg und verfaßte weitere kolonial- und kirchenpolitische Schriften. 456 In dieser Zeit war er dann auch frei für seine ehrenamtlichen Tätigkeiten im Rahmen der von Theodor Christlieb angeregten Aktivitäten im Evangelisationsverein

449 Ebd., S. 14. Vgl. Steiner, a.a. O., S. 201 f. Vgl. im Einladungsschreiben auch Ohlemacher, a. a. O., S. 31: „Wir haben nicht kirchenpolitische, nicht Verfassungsreformen . . . im Auge." 450 Fabri, a.a.O., S.23-31. 451 Ebd., S. 20. Vgl. S. 17. 453 Ebd., S. 24. 452 Ebd., S. 23, vgl. S. 29 Anm. 454 Ebd., S. 29. 455 Ebd., S. 31. 456 L. von Rohden, a.a.O., S.400. Vgl. zu den Schriften die synoptische Tabelle bei Schmidt, a. a. O., Anhang II.

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und in der Allianz. 457 Im Oktober 1889 ernannte ihn die Bonner theologische Fakultät zum Honorarprofessor 458 und er blieb bis zu seinem Tod am 18. Juli 1891 das Bindeglied zwischen demjohanneum und der Fakultät. 459 Wie bei Elias Schrenk mußte auch bei Friedrich Fabri die Schilderung des Werdegangs breiter angelegt werden, um mit der Gesamtpersönlichkeit auch sein geistiges Konzept in den Blick nehmen zu können, das ihn mit Christlieb, Pfleiderer und Schrenk verband.

5. Ergebnis

Versucht man, aus diesen Lebensabrissen ein Fazit im Hinblick auf die entstehende Gemeinschaftsbewegung zu ziehen, so überrascht zuerst, daß wie bei den preußischen Adligen - auch bei den Süddeutschen eine Gruppe mit relativ geschlossenem geistigem Konzept begegnet. Ein ehemaliger Inspektor einer Missionsgesellschaft (Jahrgang 1824), ein erfahrener Pädagoge und Theologe (Jahrgang 1825), ein ehemaliger Missionar, Pastor, Prediger und jetzt erster Evangelist in Deutschland (Jahrgang 1831) und ein Theologieprofessor (Jahrgang 1833), alle südlich der Mainlinie geboren, drei von ihnen Württemberger, alle theologisch ausgebildet, haben den Entwurf der Einladung in entscheidender Weise verändert. Da die Rolle Pfleiderers nicht genauer zu bestimmen ist, wird er im weiteren Verlauf dieser Auswertung nicht mehr berücksichtigt. Fabri, Schrenk und Christlieb sind durch Herkommen, Studium und Bekanntenkreis dem geistiggeistlichen Konzept der württembergisch-pietistischen Theosophie verbunden, wie sie sich mit den Namen Johann Albrecht Bengel, Friedrich Christoph Oetinger, Phillip Matthäus Hahn über Johann Tobias Beck und CarlAugust Auberlen vermittelt, darstellt. 460 Im Näheren ist es eine bestimmte geschichts-theologische Einsicht in den Gang des Reiches Gottes, der ge457 Diesen oben bei Christlieb schon erwähnten Verbindungen werden hier nicht noch einmal wiederholt. R. Schmidt, a. a. O, S. 19, behauptet zwar (unter Hinweis auf Hermelink) die Mitgliedschaft Fabris im Evangelisationsverein. Sie läßt sich aber nicht belegen. Auch der ebd. behauptete „Gegensatz zu den radikalen Vertretern der Heiligungsbewegung" wird von Schmidt nicht belegt und entbehrt vorerst der Begründung. 458 Auch hier gilt das in Anm. 444 Ausgeführte. 459 Es läßt sich mit guten Gründen vermuten, daß die Bonner Fakultät mit der Verleihung der Honorarprofessur an Fabri nach Th. Christliebs T o d die von ihm vertretenen missionswissenschaftlichen Veranstaltungen fortgesetzt wissen wollte. Fabri scheint diese Gelegenheit wenig genutzt zu haben. Vgl. G. Besier, Mission and Colonialism, S. 85. 460 Es fällt auf, daß im Evangelischen Gemeindelexikon Bengel und Oetinger im Gegensatz zu den anderen Genannten keine Personenartikel erhalten haben; obwohl sie die anderen an Wirkung bei weitem übertrafen, werden sie summarisch unter „Pietismus" abgehandelt. Droht hier eine wichtige Tradition bei den Enkeln des Pietismus verlorenzugehen? U n d könnte es sein, daß eine von Amerika herkommende Prozeß-Theologie näher bei den theosophischen „Vätern" steht als die Vertreter des heutigen Pietismus?

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meinsame "Reichsblick,,, der die Männer verbindet. 461 Alle drei haben Beziehungen zu Johann Christoph Blumhardt in Bad Boll. Alle drei haben internationale Erfahrungen und sind besonders vom angelsächsischen Christentum angeregt; sie sehen in der englischen Evangelisation ein Modell, das auf deutsche Verhältnisse angepaßt und für sie fruchtbar gemacht werden soll, und haben sich mit der Heiligungsbewegung letztlich zustimmend auseinandergesetzt. Alle drei sind seit Jahren miteinander befreundet, und gemeinsame Arbeit in außerkirchlichen Organisationen (Allianz, Evangelisationsverein) verbindet sie. Alle drei sind gefragte, einflußreiche Konferenzredner und Prediger. Alle stehen in einer Tätigkeit, die es ihnen erlaubt, ein überkonfessionelles Christentum zu vertreten. Nicht zuletzt sind alle drei Ehemänner und Väter. Man muß sich diese vielfältigen Bezüge untereinander verdeutlichen, um das Gewicht der von ihnen vertretenen Positionen bei der Richtungsgebung in der Einladung zur ersten Gnadauer Konferenz im Gegenüber zu den preußischen Adligen recht einschätzen zu können. Formal gesehen gab es mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes zwischen den beiden Gruppen: Die gemeinsame Einschätzung des Ernstes der Zeiten, das gemeinsame Interesse am Fortgang des Reiches Gottes und in diesem Zusammenhang die Forderung nach Sammlung der Gläubigen und einer unabhängigen Evangelisationsarbeit und die Deutung der Zeit unter biblisch-endzeitlichen Kategorien. Ebenso formal, d. h. am Vergleich der beiden Schreiben unter Berücksichtigung des biographisch Erhobenen, liegt das Trennende in einer wesentlich schärferen Kirchenkritik auf Seiten der Süddeutschen und ihrer Hereinnahme der Anliegen der Heiligungsbewegung. Gemeinsam ist überra-schenderweise aber auch den Nichttheologen wie den Theologen eine gewisse Distanz, um nicht zu sagen Geringschätzung, gegenüber der Universitätstheologie, die ihrer Meinung nach weithin Quisquilienstreit betreibe, Sonderpfündlein pflege und ihrer Verantwortung für Kirche und zukünftigen Pfarrerstand nicht gerecht werde. 4 6 2 Mit einer solch formalen Bestimmung ist aber noch wenig geholfen. U m die Weichenstellungen für die zukünftige Gemeinschaftsbewegung voll zu erfassen, muß auch nach den theologischen Konsequenzen aus der Übernahme der theosophischen Reich-Gottes-Konzeption in ihrer Verbindung mit dem Gedankengut der Heiligungsbewegung in das Einladungsschreiben gefragt werden. Dieser Aufgabe ist das nächste Kapitel gewidmet, wobei vor allem auf die Ausarbeitungen Fabris, der als einziger dieser Gruppe seinen Denkrahmen elaboriert und expliziert hat, zurückgegriffen wird.

461 Für die Explikation der Inhalte sei auf das folgende Kapitel IV verwiesen. 462 Vgl. oben, Anm. 202.

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IV. Die theosophisch-pietistische Reich-Gottes-Konzeption der Süddeutschen und ihre theologischen Implikationen und Konsequenzen Formale

Konsequenzen

Zuallererst wird man sagen können, daß es mit der doppellinigen ReichGottes-Konzeption und der ihr entsprechenden Kirchenlehre gelingen konnte, alle die Kräfte und Strömungen anzusprechen, die man in der Zeit „Pietisten" oder „Stundenleute" oder die „Stillen im Lande" nannte. Der württembergische Pietismus als die bedeutendste Gruppe hatte mit dem Konzept keine Probleme, aber auch lutherischer Pietismus der Nordprovinzen wie reformierter Pietismus des Siegerlandes und des Wuppertals wie auch die Anhänger der Minden-Ravensburger Erweckungsbewegung fanden in den Formulierungen der „Einladung" ihre Anliegen im Kern wieder. Die Kreise, die sich an Kirchenleuten wie Wichern, Stoecker oder Löhe orientierten, waren mit vielen Formulierungen angesprochen ebenso wie die anders geprägten Anhänger Blumhardts. Das offene Reich-Gottes-Konzept ließ viele verschiedenartige Regungen als Auswirkungen des Geistes von Oben zu, der sensus communis hielt aus der Sicht Fabris, Christliebs und Schrenks diese Vielfalt .zusammen. Eine gewisse Unscharfe der Formulierung ließ genug Spielraum, die Einladung imje eigenen Sinne aufzunehmen. Aber mit der Übernahme dieses Konzeptes waren auch bestimmte christologische, pneumatologische und ekklesiologische Implikationen gegeben, die für eine Beurteilung der Anfänge der Gemeinschaftsbewegung wichtig sind.

Christologische

Implikationen

Wenn, wie oben zitiert, Fabri in Anlehnung an Oetinger formulieren kann, daß ,der Mensch in Christo allein wieder zu einem universellen, gottmenschlichen Bewußtsein erwacht', 463 dann wird das Werk Christi im Rahmen des Reiches Gottes auf den Erkenntnisvorgang im Menschen bezogen. „In diesem Satz wird das Heilswerk Christi in unerlaubter Weise 463 Vgl. Fabri, Entstehung des Heidenthums, S. 44.

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verkürzt. Fabri ermißt nicht, quot sit ponderis peccatum! Der Rechtfertigungsbegriff der Reformatoren wird in organologische Kategorien umgebogen. Das forensische Moment fällt unter den Tisch, allein die Wiedergeburt bleibt. Sie wird aber nicht als eschatologische Neuschöpfung verstanden. In ihr ereignet sich die „untrennbare Verbindung des Sichtbaren mit dem Unsichtbaren". " 4 6 4 Glauben ist die „Anerkenntniß des Wesens und der Wirklichkeit der in Christus geschehenen Offenbarung" 465 - diese Anerkenntnis vollzieht sich als „Gerechtmachung", ihr voraufgeht die Erwählung, sie ist „auf einzelne Persönlichkeiten" bezogen, „zugerechnete" Gerechtigkeit. Im Glauben, d. h. als Gerechtfertigter, steht der Mensch in der von Christus gestifteten unzerreißbaren „Liebesgemeinschaft" mit Gott. 466 Entscheidend für das richtige Verständnis dieser Formulierungen ist, daß auch die Christologie Fabris in seine „philosophia sacra" eingebunden ist. Wenn Gott als allgegenwärtig wirkende Macht durch den „sensus communis" von jedem Menschen erkannt werden kann, dann ist die Offenbarung in Christus nicht ein Neuanfang, kein Bruch mit dem bisherigen, keine radikale Scheidung, Verdammnis und Begnadigung, sondern Steigerung, nicht Neuschöpfung, sondern Vollendung. Der „sensus communis" treibt zu Christus hin; denn Christus besaß „diesen göttlichen Sinn in der allervollkommensten Weise", „und durch dessen Geist (sc. bekommt) er erst die volle Weihe". 467 Die Begegnung mit Christus ist für den Menschen zwar unverzichtbar, aber sie bewirkt nur eine Steigerung dessen, was im Menschen selbst angelegt ist.

Anthropologische

Implikationen

„Die Leuchte des Herrn ist in jeglicher Seele, wievielmehr in den Dienern Jesu Christi. " 4 6 8 Zwangsläufig verändert sich die Stellung des Werkes Christi, wenn es trotz Adams Fall ein Kontinuum göttlich-menschlicher Beziehung im Menschen gibt. 469 „Die Lehre vom sensus communis ist eben nichts anderes, als die Lehre von jenem .gewissen, dunklen Fünklein der Gotteserkenntniß', welches die Concordienformel selbst - freilich nicht ohne inneren 464 Sundermeier, a. a. O., S. 158, Anm. 164. Nach der in der Einleitung genannten Aufgabenstellung (s. o. S. 33 f.) sollte erst einmal der theologische Denkrahmen der Süddeutschen selbst in seinen Zusammenhängen erhoben werden, bevor im Vergleich mit anderen theologischen Konzeptionen geurteilt werden kann. Trotzdem kommt ab und zu hier schon, besonders im Zusammenhang der Sekundärliteratur, lutherische Theologie mit einem gewissen Recht in den Blick, weil die Verfasser des Einladungsschreibens sich selbst auf die reformatorische Tradition berufen. 465 Fabri, Die Unions- und Verfassungsfrage, S. 31. Vgl. Schmidt, a. a. Ο., S. 118. 466 Fabri, Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 1882, S. 8ff. Vgl. Schmidt, ebd. 467 Fabri, Der sensus communis, S. 31 f. Vgl. Sundermeier, a. a. O., S. 51. 468 Ebd., S. 31; vgl. Sundermeier, a. a. O., S. 155, Anm. 132. 469 Vgl. Grossmann, a. a. O., S. 110, zu den bei Fabri vorausgesetzten Anschauungen.

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Widerspruch mit anderen ihrer Sätze - auch im natürlichen Menschen anerkennt." 4 7 0 Es verwundert d a r u m nicht, daß Fabri i m Anschluß an Oetinger u n d Auberlen die Erbsündenlehre Augustins zurückweist. 4 7 1 D e r Mensch, der v o m sensus c o m m u n i s gefuhrt in der Begegnung mit Christus Einsicht in den Plan des Reiches Gottes b e k o m m e n hat, der besitzt den „Reichsblick"! Alles ist unverständlich: Christus, seine Zeugen, die Geschichte der Kirche, w e n n dieser „Blick in das wundersame Wechselverhältnis von Herrlichkeit und Niedrigkeit nicht . . . zu einem feststehenden Grundblick g e w o r d e n ist. " 4 7 2 D i e Heilsgewißheit des Menschen hängt am Reichsblick in ihm, nicht am opus alienum in Christus. D e r Einzelne ist mit seiner „Heilsgeschichte" in die Geschichte der ganzen Menschheit eingebunden! „Fabri ist durchdrungen von d e m Gedanken der ursprünglichen Einheit der Menschheit und der Geschichte. Diese Einheit, die durch des Menschen H o c h m u t beim T u r m b a u zu Babel zerbrochen w u r d e , die sinnbildlich u n d vorausweisend im „umgekehrten Babel", im Pfingstwunder, dargestellt wurde, wird endgültig in der letzten Zeit wieder verwirklicht werden. „Das Ende soll in den A n f a n g zurückfuhren". " 4 7 3 Der Reichsblick als Konstitutivum des Heilsstandes, der Einsicht in solche übergreifenden Z u s a m m e n h ä n g e verschafft, hilft zur gelassenen distanzierten Betrachtung des Weltgeschehens. 4 7 4

Rechtfertigung und Heiligung Es ist angesichts des verbalen Rekurses auf Luther u n d die Reformatoren in der „Einladung" und angesichts des alten Streites zwischen Vertretern des 470 Fabri, a. a. O . , S. 64. Diese Stelle macht exemplarisch deutlich, wie w e n i g die generalisierenden Feststellungen K u r t Reubers, a. a. O . , S. 104ff., die in der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g w i r k e n d e n Traditionen treffen. Reuber reflektiert gar nicht darüber, welches „ O r g a n " i m M e n s c h e n die v o n i h m beobachtete „ E r l e u c h t u n g " denn ermöglicht. 471 Fabri, a . a . O . , S. 44. 472 Fabri, Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 1870, S. 1, im Anschluß an 2. K o r . 8 u n d 9 formuliert. Fabri spricht auch v o m , Centraiblick', vgl. ders., Z u m neuen Jahre, S. 5, o d e r , A u g e des Geistes', ebd., S. 11. Vgl. auch die „biblisch-psychologische" A r g u m e n t a t i o n in: ders., D e r sensus c o m m u n i s , S. 10-17. 473 Fabri, Die E n t s t e h u n g des H e i d e n t h u m s , S. 59. Vgl. T h e o d o r Christlieb, M o d e r n e Z w e i f e l a m christlichen Glauben, S. 145f.: „Fallen auch natürliche u n d übernatürliche G o t t e s erkenntniß f u r jetzt noch vielfach auseinander, so sollen sie doch einst völlig ineinander aufgehen. O f f e n b a r u n g u n d N a t u r entwickeln sich E i n e m g r o ß e n Ziel entgegen, an d e m sie sich z u s a m menschließen. Die V o l l e n d u n g der Einen ist zugleich die der A n d e r n . Die stete T e n d e n z der O f f e n b a r u n g , N a t u r zu w e r d e n , sich auf E r d e n i m m e r m e h r einzubringen, u m diese i m m e r völliger zur O f f e n b a r u n g s s t ä t t e Gottes zu machen, sie soll einst ganz verwirklicht w e r d e n : D a s vollendete Reich Gottes wird beides sein höchste O f f e n b a r u n g u n d höchste N a t u r . " Vgl. auch Sundermeier, a. a. O . , S. 52. 474 Reuber, a. a. O . , S. 105 f., v e r w e n d e t den Begriff „Zentralschau" individualistisch v e r engt u n d o h n e den H i n t e r g r u n d bei O e t i n g e r zu beachten.

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Pietismus und lutherischer Theologie wichtig, die Lösung dieses Lehrstücks im Konzept der theosophischen Reich-Gottes-Konzeption zu kennen. Begrifflich wird es schwierig, weil Fabri, Schrenk und Christlieb die Sprachfiguren lutherischer Theologie verwenden, diese aber vom theosophischen Konzept her zu interpretieren sind. Das Wichtigste an der Rechtfertigung ist ihre Erfahrbarkeit. Der Erfahrungsbegriff, den Fabri verwendet, leitet sich wieder von Oetinger her und wird von ihm in doppelter Weise gefüllt. 475 Einmal ist Erfahrung von der „ E m p f i n d u n g " her bestimmt; sie bedeutet „so viel, als eine Sache an sich selbst bemerken, da man sich von äußern Gegenständen zurückzieht, und nur auf das achtet, was in einem v o r g e h t " 4 7 6 und ist also ein zutiefst innerlicher Vorgang beim Menschen. Zur „Erkenntnis" wird „ E m p f i n d u n g " durch Sprache. U n d an diesem Punkt erhält die Sprache der Bibel ihre wichtige Funktion. „Empfinden geht dem Erkennen voraus - das will Oetinger festhalten gegenüber all denen, die ihr Heil im Reflektieren, Schlußfolgern und Deduzieren allein suchen, die die Erkenntnisfähigkeit als das betonte Wesensmerkmal des autonomen Ich ansehen. Aber dennoch gilt: Empfindung und Erkenntnis gehören unabdingbar zusammen, weil sie im Miteinander von Wahrnehmung als Erlebnis und Reflexion durch das Bewußtsein die beiden Bereiche des Menschen verklammern und die Trennung von Objektivem und Subjektivem überwinden." 4 7 7 Neben Empfinden und Erkennen gehört aber auch der „sensus communis", jene durch das Wort der Bibel erweckte „reine N e i g u n g auf G o t t " zur Konstitutierung von Erfahrung. 4 7 8 Sensus communis und Empfindung, das Unmittelbare ist für Oetinger die Grundlage der Erfahrung.479

Im Glauben vollzieht sich fur Fabri die „thatsächliche persönliche Erfahrung des in Christo der Welt gewirkten Heiles". Diese Erfahrbarkeit der Rechtfertigung ist die eigentliche „Grenze"; scheinbar subjektiv, weil personal, ist „dieses Kriterion" das „Objektivste", das es gibt", weil der Gläubige dieses „täglich sich erneuernde, innere Erlebnis" mit „innerer Sicherheit und Gewißheit in sich selber" trägt. 4 8 0 Diese „innere Erfahrung" ist der einzige Beweis für das Christentum, weil sich hier die göttliche Offenbarung nicht nur als eine im historischen Sinne „geschichtliche", sondern als eine, weil auf „göttlichem Wirken beruhende, bleibende Thatsache" in ihrem „EwigkeitsCharakter" als „gegenwärtig, d. h. wirksam e r w e i s t " . " 4 8 1 - D i e Objektivität des Heilsgeschehens im zugesprochenen Wort wird in die Erfahrung des frommen Subjektes verlegt. Die „Heiligung" ist nun nicht einfach die andere Seite der Rechtfertigung. „Wohl ruhen Heiligung und Glauben auf einer 475 Es wird an dieser Stelle wieder auf die o. g. Arbeit von S. Großmann zurückgegriffen. 476 E b d . , S. 105. 477 E b d . , S. 106. 478 E b d . , S. 111. 479 E b d . , S. 113. 480 Fabri, Vorwort zu T h . Weber, S . V . Vgl. ders., Z u m neuen Jahre, S . 8 f . ; Schmidt, a . a . O . , S. 118. 481 Fabri, Berichte der Rheinischen Missions-Gesellschaft 1879, S. 4.

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Grundkraft, und im Glauben wird die unzertrennte Wirkung des unzertrennten Christus übernommen: die Versöhnungsgnade und die Einwohnung Christi. Aber diese „Einwohnung" 482 Christi zielt über die im Glauben zugerechnete Gerechtigkeit hinaus auf eine im Heiligen Geist „durch den Glauben gewirkte Lebensgerechtigkeit". In dieser „Ausgestaltung und Erstarkung des neuen Lebens" geht es um Freiheit, Stärke, Völligkeit, um „etwas Ganzes in der Kraftwirkung des Heiligen Geistes!"483 In der immer „thätigen" Liebe, dem „Fundament" des neuen Lebens, zeigt sich das Maaß des Glaubens und das Maaß der Einwohnung Christi. " 4 8 4 In der Heiligung gibt es ein „Wachsthum", es gibt einen „Unterschied von Glauben und Glauben", „Graden und Stufen". Das liegt darin begründet, daß erstens alles „Ewigkeits-Leben" „wachsthümlich" ist, 48s zweitens, daß die Erkenntnis der Versöhnungs- wie Heiligungsgrundlage, Christus, „noch nicht unsere Heiligung" selbst ist, und drittens, daß die Heiligung selbst sich „nur in und an den Aufgaben des neuen Lebens selber nach göttlichem Willen durch seinen Geist persönlich sich auswirken" kann. 486 „Heiligung ist damit in der individuellen Erwählung Gottes und der individuellen Wirkung des Heiligen Geistes begründet. " 4 8 7 Der Gefahr, die Heiligung bis zum Perfektionismus der Sündlosigkeit betreiben zu wollen, entgeht Fabri mit seiner doppelten Reich-Gottes-Konzeption: solange die Gläubigen im Reich Gottes der Niedrigkeit leben, ist keine Vollkommenheit zu erreichen, sie bleibt dem Reich Gottes in Herrlichkeit vorbehalten.

Ekklesiologische

Implikationen

Schon aus der Auffassung der Rechtfertigung folgt, „daß es keine, in gängigem Sinne, objektiven Kennzeichen der Kirche gibt, es sei denn diesen Selbsterweis Gottes durch die „innere Erfahrung" der Rechtfertigung an dem einzelnen." 488 Es bedarf auch keiner objektiven Kennzeichen in den Symbolen der Kirche, denn „nach des Herrn eigener Definition ist Seine Kirche da, wo zween oder drei in Seinem Namen versammelt und unter sich Eins (symphonisch) geworden sind. Und diese Definition aus des Herrn Mund wird denn auch die richtigste bleiben bis an's Ende dieses Weltlaufes." 489 Die Bekenntnisse der Kirche, - alles was zu ihrem Institutionscha482 483 484 485 486 487 488 489

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Ebd., S. 11. Fabri, Z u m neuen Jahre, S. 4f. Ebd., S. 7-10. Ebd., S.7. Ebd., S. 24f. Schmidt, a . a . O . , S. 119. Fabri, Uber Kirchenzucht, S. 66 f. Ders., Berichte der Rheinischen Missions-Gesellschaft 1868, S. 1.

rakter gehört, wird fur die Kirche der Zukunft keine Bedeutung mehr haben; „die Kirche der Endzeit wird auf dem Prinzip der freien Assoziation beruhen". Ihr Heraustreten aus der Verborgenheit, ihre Sichtbarkeit, geschieht in ihren „Werken". Die Gemeinde in Piladelphia (Offb. 3, 7 ff.) ist ein Abbild der endzeitlichen Kirche. Sie ist „gewiß keine kirchlich konstituirte, sie hat weder bischöfliche noch consistoriale noch presbyteriale Verfassung, sie ist eine verborgene und doch offenbar durch ihre ,Werke'." 490 Für Fabri und Christlieb war die Mission vor allem das Werk, an dem die wahre Kirche erkannt werden kann. In der Missionstätigkeit erweist sich die Missionsgemeinde schon gleichnishaft als das verborgene, eschatologische „Philadelphia". Die Missionsgemeinden rekrutieren sich aber aus den Erweckten, aus den Wiedergeborenen. „Der Trend der Zeit geht zu „dem ursprünglichen christlichen Individialitätsprincipe zurück". 491 Das organisch, wachstümlich sich entfaltende Vereinschristentum wird an die Stelle der Staats- und Landeskirchen treten. Das Ende gleicht dem Anfang. Die Zeit ist erfüllt." 492 Die notae ecclesiae sind ihre Werke und nicht mehr an erster Stelle Wortverkündigung und Sakramente. Die Sakramente bleiben für Fabri weiter die biblisch gebotene Praxis der Gemeinde, aber sie konstitutieren nicht mehr die Kirche. Das Abendmahl ist nicht Bekenntnisakt der Gemeinde, sondern allenfalls Bekenntnisakt des Einzelnen, für Fabri aber auch das nicht im konfessionellen Sinne, sondern allenfalls deswegen, weil ζ. B. die lutherische Form des Abendmahls, an der er festhalten will, nach seiner Schrifterkenntnis die angemessene ist. 493 Es ist nun noch nach den Implikationen der pneumatischen Fassung des theosophischen Kirchenbegriffs (vgl. oben S. 116f.) zu fragen. „An allen Punkten der Lehre Fabris von der Kirche zeigt sich die konstitutive Bedeutung des Heiligen Geistes für die Lehre von der Kirche." 494 Auf die Gegenwart und Wirksamkeit des Heiligen Geistes hat „der Herr seine Kirche gebaut". 495 Die „Existenz der größten und trotz aller Feinde beharrlichsten Realität, Seiner Kirche", ruht „ganz auf dem Geist", und „es giebt nichts Realeres, Mächtigeres als diesen Geist von Oben". Es ist der Heilige Geist „die Fülle aller wahren göttlichen Idealität selber". 496 Er vermittelt Licht und Leben, das die Kirche in dieser Welt auszubreiten berufen ist. Er stiftet die „Lebensgemeinschaft", die die einzige „ideale" und „richtigste" Defini490 Sundermeier, a . a . O . , S. 54, unter Verweis auf Fabri, Berichte der Rheinischen Missions-Gesellschaft 1859, S. 4. 491 Fabri, Die Entstehung des Heidenthums, S. 182. 492 Sundermeier, a. a. O., S. 55. 493 Ebd., S. 94f., mit Verweis auf Evangelisches Gemeindeblatt 8, 1863, das mir nicht zugänglich war. 494 Schmidt, a . a . O . , S. 117. 495 Fabri, Berichte der Rheinischen Missionsgesellschaft 1860, S. 236; 1864, S. 3. 496 Fabri, Über Kirchenzucht, S.97ff.

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tion der Kirche im Anschluß an Matth. 18, 19-20 zur Grundlage hat. 4 9 7 Schon mit dem Lebensgemeinschaft stiftenden Werk des Heiligen Geistes steuert Fabri der Gefahr entgegen, daß die Kirche seiner Vorstellung zur bloßen Summe der einzelnen Christen wird. Aber den eigentlichen Zusammenhalt stiftet der sensus communis. Die Begrifflichkeit Fabris unterscheidet nicht mehr streng zwischen dem Wirken beider, wobei von Oetinger her eben der sensus Anknüpfungspunkt im Menschen ist, der Heilige Geist Kraftwirkung aus der oberen himmlischen Welt. - Auskunft über Kriterien zur Beurteilung der Geistwirkungen, die über das erkennende Empfinden des Einzelnen hinausgehen, kann man bei solcher pneumatologischer Konstruktion von Fabri nicht erhalten. Das ist umso mißlicher, als er - wie oben (III. 4.5) angeführt - in dieser letzten Zeit sowohl mit vermehrten Kraftwirkungen „von Oben" rechnet wie mit entsprechenden Gegenaktivitäten von Unten aus dem Reich der Finsternis. 498 So blieb es schon bei der Beurteilung der angelsächsischen Erweckungen und der im Wuppertaler Waisenhaus 1860/61 bei der Polarität: Prüfet die Geister! - Dämpfet den Geist Gottes nicht! Für den, der den Reichsblick hat, scheint auch die Gabe der „Geisterprüfung" gegeben, ist er selbst doch eine mit Geist von Oben erfüllte Persönlichkeit. 499 In dieser letzten Zeit geht es um die „Sammlung einer Auswahl", die „Einladung und Sammlung zur Hochzeit des Lammes", aber diese Sammlung vollzieht sich im Verborgenen, sie geschieht „unter der Evangeliumsverkündigung sozusagen von selbst". 500 Fabri entgeht der Gefahr eines Auszugs der Erweckten aus der Kirche oder einer sichtbaren Unterscheidung zwischen Gemeinde und Kerngemeinde, indem er konsequent an der Niedrigkeitsgestalt der Kirche auch in diesem letzten Abschnitt der zu Ende gehenden Weltzeit festhält. Die Gestalt der Kirche in der Welt ist immer „Mischgestalt". 501 Für Fabri hat von Anfang an

497 Ebd. Vgl. ders., Die Entstehung des Heidenthums, S. 158; ders., Wie weiter?, S. Vif. Vgl. auch Schmidt, a. a. O., S. 117. 498 Vgl. obenS. 114f. 499 Die Frage nach der Begabung zur „Prüfung der Geister" hat in den späteren Auseinandersetzungen zwischen Gemeinschaftsbewegung und Pfingstbewegung eine große Rolle gespielt. Da objektive Kriterien zur Feststellung dessen, wer die Gabe besitzt und wer nicht, fehlten, verliefen diese Konflikte verwirrend. Vgl. im Gnadauer Archiv das Material (im Ordner von 1909), das den Teilnehmern der Sitzung v o m 15.9.1909 als Material vorgelegen hatte, passim. 500 Fabri, Über Kirchenzucht, S. 64f. Vgl. ders., Berichte der Rheinischen MissionsGesellschaft 1859, S. 135. 501 Fabri, Die Entstehung des Heidenthums, S. 161. Fabri hat an keiner Stelle im Zusammenhang sein Kirchenverständnis systematisch entfaltet. In seinen Schriften k o m m t je nach Zielsetzung der eine oder andere Aspekt zum Tragen. Die systematische Leistung ist v o m Leser seiner Veröffentlichungen zu erbringen und kann nur dann ohne Verzerrung gelingen, wenn zum einen das theosophische Grundkonzept Fabris beachtet wird und die Überprüfung am Gesamtwerk Fabris erfolgt.

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die Kirche Kampf nicht nur „nach außen", sondern auch „nach innen". Für diese doppelte Frontstellung gibt es zwei theologische Gründe: 1. Auf Grund von göttlicher Zulassung sind die Reiche der Finsternis, der Welt und das Reich Christi nicht sichtbar „innerlich und äußerlich geschieden in ihrer Gestalt", 2. auch der Wiedergeborene ist .nicht ohne Rückfall in die Sünde und Haß wider Christus', d. h. der iustus ist zugleich peccator. 3. Fabri fuhrt die historische Entwicklung an. Sie setzte damit ein, daß „manche Christen wurden, ohne das unterscheidende Kennzeichen des christlichen Charakters - die Wiedergeburt und Erneuerung durch den Heiligen Geist - zu haben". 5 0 2 Trotz dieses Festhaltens an der Mischgestalt kann Fabri aber „innerhalb des weiten Rahmens der Einzelgemeinde eine freie, aber desto innigere Sammlung aller erweckten Glieder der Gemeinde" fordern. Dabei benutzt er das Bild, „daß die Gesamtgemeinde faktisch „zwei, aber - was durchaus festzuhalten - feoncentrische Kreise" hat. Im Gegensatz dazu behauptet der Separatismus die „Excentrizität" der Gemeinde. In dem größeren bzw. äußeren Kreis der kirchlichen Gesamtgemeinde sind die, „die der Kirche in höherem oder niederem Grade entfremdet sind", in dem kleineren Kreis die „mehr oder minder erweckten Christen". Zwischen beiden besteht ein „specifischer Unterschied": die Wiedergeburt. Das heißt aber, daß die „Christenmengen" ein „Objekt der Mission" werden." Die beiden Kreise werden durch die Taufe und das Abendmahl zusammengehalten. 5 0 3 Ein Pfarrer hat als Aufgabe darum auch immer die Gesamtgemeinde, wie Fabri die Ämter in der Gemeinde „im Grunde auch nur als delegierte Funktion der Gesamtgemeinde" versteht. Das allgemeine Priestertum der Gläubigen ist der alleinige Grund, von dem sich überhaupt Ämter in der Gemeinde ableiten lassen. „Träger des Amtes ist grundsätzlich die Gemeinde". 5 0 4 Mit dieser komplexen Konstruktion von Kirchenlehre gelingt es einerseits, in den bestehenden kirchlichen Verhältnissen aktiv zu sein und andererseits unter Berücksichtigung der historischen Bedingtheit ihrer Formen und O r d n u n g e n an ihrer Weiterentwicklung zur philadelphischen Ausgestaltung zu arbeiten. Wie lange welche Formen und O r d n u n g e n zu halten und zu stützen sind, bleibt aber auch hier im Ermessen des Reichsblicks, der Einsicht in den Fortgang des Reiches Gottes hat! Eine weitere Schwierigkeit bringt die Vorstellung von den konzentrischen Kreisen in Verbindung mit dem Amtsverständnis: Man stelle sich vor, der Pastor einer Gemeinde wird nicht zum Kreis der mehr oder weniger Erweckten gerechnet und wird 502 Fabri, Über Kirchenzucht, S. 65. Vgl. Schmidt, a.a. O., S. 120. 503 Ebd., S. 88-93. 504 Ebd., S. 82£F.; bes. S. 31 These 4 und passim. Vgl. oben, Anm. 218, das Zitat von Rudolph Sohm. Zur Tradition dieses Verhältnisses von Amt und Gemeinde vgl. Kurt Schuster, Gruppe, Gemeinschaft, Kirche. Gruppenbildung bei Zinzendorf. München 1960.

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damit zum Missionsobjekt. Handelt man sich mit diesem Kirchenverständnis nicht v o m Ansatz her Schwierigkeiten ein, die zu Auseinandersetzungen mit dem bestehenden Kirchenwesen fuhren müssen? Auseinandersetzungen, die dann aber unter reichsgeschichtlichen Begriffen eher als Folgen der letzten endzeitlichen Kämpfe gesehen werden können, denn als Folgen einer problematischen Auffassung von der Kirche. Ebenso schwierig scheint es, auf Dauer eine Zweiteilung der Gemeinde in der Praxis zu verhindern; was sich bei Fabri auf dem Papier unter der Evangeliumsverkündigung ganz von selbst und unorganisiert als S a m m lung der Erweckten vollziehen soll, steht doch in Konkurrenz zu der anderen Aussage, daß man die Kirche sehr wohl an ihren Werken erkennen kann. Verschärft wird diese Fragehinsicht noch, wenn man die Herausbildung der philadelphischen Auswahlgemeinde miteinbezieht; wer sich qua Kraftwirkungen von O b e n und sensus communis in dieser letzten Zeit mit anderen Erweckten verbunden weiß, muß der sich nicht - besonders wenn die ,reichsgeschichtlich notwendigen', Auseinandersetzungen zunehmen - mit den Gleichgesinnten zusammenschließen? - Den Anschauungen eines „higher christian life", wie sie in der Heiligungsbewegung vertreten wurden, kam die pneumatische Kirchenlehre wie die Heiligungsanschauung der theosophischen Theorie sehr entgegen. 5 0 5

Implikationen des heilsgeschichtlichen Konzeptes Für die Deutung der Zeit war bei Fabri - wie oben (III.4.5) angeführt - die Einsicht in den Stand der Entwicklung des Reiches Gottes der Schlüssel. Die Zeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft Christi faßt Fabri unter dem Begriff der „Kirchenzeit" oder der „neutestamentlichen Kirchenzeit" zusammen. 5 0 6 Er teilt sie in fünf Perioden ein: 1. Trennung von Staat und Kirche bis zum Jahre 325; 2. „Cäsaropapie" und 3. „päpstliche Universalmonarchie" im Mittelalter; 4. beginnende „Auseinandersetzung" von Staat und Kirche im Gefolge der Reformation; 5. Trennung von Staat und Kirche. 5 0 7 Da die 2. und 3. Periode der Kirchenzeit, die unter dem Leitbild der „christlichen Völkerrepublik", also der Einheit von Staat und Kirche stehen, eigentlich eine Periode sind, kann Fabri auch von vier Perioden der Kirchenzeit sprechen. Für die erste, die „apostolische" Periode der Kirchenzeit, ist 505 Dies sei schon einmal im Vorgriff auf Kap. VI hervorgehoben. Vgl. ebd. 506 Vgl. Fabri, Die Entstehung des Heidenthums, S. 54. 71. Schmidt, a.a.O., S. 212, Anm. 268, verweist noch auf ein Rundschreiben Fabris vom 26.10.1857, das mir nicht zugänglich war. 507 Fabri, Über Kirchenzucht, S. 31 ff.; ders., Die Entstehung des Heidenthums, S. 149ff.

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die „Verfolgung", für die zweite Periode die „Verweltlichung" der Kirche charakteristisch. 5 0 8 O b w o h l die Reformation grundsätzlich die erste Periode im Ansatz wieder aufgenommen hat und damit die vierte Periode präformierte, gestaltete sich dennoch ein neuer „protestantischer Cäsaropapism u s " 509 Mit dem Beginn der vierten Periode der Kirchenzeit beginnt sich der „Kreislauf zu schließen. Die Kirche kehrt wieder zurück in die Ursituation der „apostolischen" Kirche, d. h. es vollzieht sich wieder die „bestimmte Trennung des Staates und der Kirche".510 Diesem Gang der Kirchengeschichte entspricht auf der Seite des Reiches Gottes ein ebensolcher „ordo t e m p o r u m " , die „Heils-Ökonomie" der Reichsgeschichte. 5 1 1 Nach einer vorgeschichtlichen Zeit, in der die Menschheit ein einheitliches Gottes- und Weltbewußtsein und damit auch eine gemeinsame Sprache besaß, ist im T u r m b a u zu Babel, Genesis 11, diese Einheit zerbrochen. 5 1 2 „Die „Zertheilung" der Sprache in die Sprachen der Menschheit, in die Völker, beruht auf dem von Gott gewirkten inneren, als richterlichen Akt zu wertenden Zerbruch des ursprünglich einheitlichen Gottesbewußtseins. Es vollzog sich eine „Alteration", eine Verdunkelung und Zerbrechung des Gottes- und damit des Menschheitsbewußtseins. . . . Mit diesem Gericht Gottes beginnt nun die Geschichte, genauer gesagt: Das Gericht „ist" die allgemeine Grundlage, auf welcher die Geschichte der Menschheit r u h t . " 5 1 3 Die Alteration des Bewußtseins bedeutet „ U m f l o rung, Verschleierung des Bewußtseins". Diese „ U m f l o r u n g " wirkt sich auf Israel und alle anderen Völker aus und damit bis zum „tausendjährigen Friedens-Reiche". 5 1 4 Die Erscheinung Jesu Christi und das Pfingstereignis werden so nicht zur „ Vollendung, sondern zum Anbruch eines neuen Tages für das Reich Gottes auf Erden". 5 1 5 Die in „Christus wieder hergestellte Einheit des Menschengeschlechts" ist „rein sittlich-geistlicher Beschaffenheit", ist „Weissagung". Z u einer „die physischen Trennungs-Momente" aufhebenden Wiedervereinigung k o m m t es erst in zukünftigen „Perioden der göttlichen Haushaltung". Das heißt aber in unserem Zusammenhang, „daß die „großen Grundlinien" der Völkergeschichte durch den „Anbruch des Reiches Gottes auf Erden" nicht aufgehoben sind." 5 1 6 508 Fabri, Die Stellung des Christen zur Politik, S. 37 ff. 509 Ebd., S.46ff. 510 Ebd., S. 37, vgl. ders., Staat und Kirche, S. 156. Vgl. Schmidt, a.a.O., S. 114f. 511 Vgl. zum Folgenden Schmidt, a. a. O., S. 101-104, dem im Ganzen in seiner Darstellung zuzustimmen ist. 512 Fabri, Die Entstehung des Heidenthums, S. 41, vgl. S. 21. 513 Schmidt, a. a. O., S. 102, unter Verweis auf Fabri, a. a. O., S. 145 f., und die Abhängigkeit Fabris von Gedanken Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings (1775-1854). Darüber hinaus wäre auch noch der Einfluß C. A. Auberlens genauer zu untersuchen. 514 Fabri, a.a.O., S. 42ff. Vgl. S. 24. 35 ff. 58.117. Zu einer Ausgestaltung der MilleniumsVorstellung kommt es bei Fabri nicht. 515 Ebd., S. 63. 516 Ebd., S. 62-64.

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Das ganze Ziel der Reichsgeschichte besteht darin, das ursprüngliche einheitliche Gottes- und Weltbewußtsein der Menschheit wiederherzustellen. Nach dem „Plan Gottes" vollzieht sich der Weg dahin in mehreren Etappen, wobei dem „Volk Israel" eine zentrale Stellung z u k o m m t . 5 1 7 Die „Stellung der Juden und Heiden im Reiche Gottes" und das „Geheimnis des göttlichen Reichsplanes" haben zur Voraussetzung, daß aus der einen Menschheit viele Völker entstehen. 5 1 8 „Danach erwählt Gott ein Volk, und die Völker gehen ihre Wege; dann beginnt die Zeit der Völker, und das Volk (Israel) wird verworfen; danach wird Israel als Volk wieder angenommen, und dieses Volk holt die Völker heim. A m Ende steht die mit Gott versöhnte Menschheit." 5 1 9 Geschichte ist mit dieser Konzeption Verlaufsgeschichte, deren Anfang und Ziel man kennen kann, die man in Etappen einteilt und innerhalb derer die Erfahrungen eingeordnet werden können. Das Kommende, das Eschatologische ist schlicht das Ende einer innerweltlichen Zeitstrecke. „Bestimmte Geschehnisse (die Ausbreitung der Gemeinde, die Vollendung der Mission, das Auftreten antichristlicher Strömungen und schließlich des Antichrist selbst) gelten als reale Vorzeichen des Endes, das dann wiederum selbst das Ende einer verlaufenden Zeitstrecke darstellt. So wird die Eschatologie, wie es allem Geschehn innerhalb der Verlaufszeit eigen ist, verrechetibar, und zwar auf Grund innerweltlicher Faktoren." 5 2 0 Der Tag des Herrn k o m m t nun nicht mehr wie der Dieb in der Nacht, sondern am Ende der vierten Periode der Kirchenzeit. Ziel des Heilshandelns Gottes ist n u n auch nicht mehr die Rettung der Sünder, sondern die Rettung der Welt, die Wiedergewinnung der großen Harmonie von Gott-Welt-Menschheit. 5 2 1 Das Heilsgeschehen in Christus wird seines eschatologischen Charakters entkleidet und als eine Station in den Heilsweg der Geschichte eingezeichnet. „Die geschichtlichen Entwicklungen und Ereignisse werden zu einem Gestaltungsfaktor der empirischen Kirche." Eine christologische Grundlegung der Kirche gibt es im theosophischen Verständnis nicht. 5 2 2 Die Periodisierung der Geschichte und die Einsicht in ihren Ablauf hat aber auch eine Entleerung der Geschichte zur Folge. Wichtig ist das Aktuelle, das gegenwärtige Weltgeschehen. Die vergangenen Perioden sind überwundene Abschnitte, die keine zukunftsweisende Kraft haben können. Allenfalls kann aus ihnen noch Material entnommen werden, das unter der Perspektive der (bekannten!) zukünftigen Gestalt der Kirche Bestand hat. Anders gesagt, der eklektische U m g a n g mit der Geschichte ist mit der 517 Ebd., S. 43. 518 Ebd., S.52f. 68. 519 Schmidt, a. a. O., S. 103. 520 Otto Weber, Grundlagen der Dogmatik. Band II., S. 739 (im Zusammenhang einer Erörterung der „Heilsgeschichte"). 521 Zu diesem von Oetinger vorentwickelten Ziel vgl. Großmann, a. a. O., S. 113. 522 Vgl. Schmidt, a. a. O., S. 142f.

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h e i l s g e s c h i c h t l i c h e n K o n z e p t i o n gesetzt. Letztlich hat Fabri „ m i t H i l f e der T h e o s o p h i e die Totalität des R e i c h e s G o t t e s in g e s c h i c h t l i c h e P r o g r e s s i o n aufgelöst".523

Die Implikationenßir

den Gebrauch der Bibel

W e r als W i e d e r g e b o r e n e r m i t H i l f e des H e i l i g e n Geistes u n d des s e n s u s c o m m u n i s E i n s i c h t in A n f a n g , G a n g u n d Z i e l der H e i l s g e s c h i c h t e G o t t e s m i t der W e l t u n d der M e n s c h h e i t hat, d e m f ü g t sich die B i b e l i n dieses K o n z e p t ein. U n t e r dieser V o r a u s s e t z u n g 5 2 4 k a n n Fabri d e u t l i c h e A u s s a g e n ü b e r die alleinige G e l t u n g der B i b e l m a c h e n . Sie ist „allein die Quelle und Norm aller Lehre und allen Glaubens in der K i r c h e " . 5 2 5 „Lehre" w i r d hier „ G l a u b e n " 523 Ebd., S. 138. 524 Die Vorordnung des Reichsblickes im hermeneutischen Prozeß muß beachtet werden. Sie entspricht der Vorordnung des Vorhandenseins eines sensus communis im natürlichen Menschen vor aller Glaubenserkenntnis aufgrund der Bibel! 525 Fabri, Zum neuen Jahre, S. 20. Da Fabri sich in seinem Schriftverständnis ganz in der Denktradition Oetingers befindet, seien hier im Referat die Grundlinien von Oetingers Sicht der Bibel, wie sie S. Großmann treffend entwickelt hat, vorgestellt: „Die Bibel ist „das von Gott eingegebene Wort, von den Propheten und Aposteln unter göttlicher Autorität und Wirksamkeit in verschiedenen Epochen der göttlichen Hausordnung aufgezeichnet, als eine zureichende und deutliche Richtschnur zur Unterweisung der Menschen über Alles, was sie zu glauben und zu tun haben, um Gott zu verherrlichen, ihren Wandel zu heiligen und das ewige Leben zu erlangen." Die heilige Schrift umfaßt „die Gesamtheit der heilsgeschichtlichen Vorgänge von Anbeginn der Welt bis ans Ende, Ursprung, Laufund Ziel der Gemeinde Gottes." Altes und neues Testament bauen organisch aufeinander auf. Die biblischen Schriften bilden für Oetinger „ein Gebäu und Gewebe, dessen Teile alle ineinandergehen" . . . Das bedeutet zunächst, daß es keine Schriftstellen gibt, die durch besondere Bedeutsamkeit ausgezeichnet wären; es bedeutet zum anderen, daß vermeintlich zentrale Themen nicht ausgegrenzt werden dürfen - dies verbietet das als Gesamtheit angelegte Wort Gottes Alten und Neuen Testaments." Aber nicht durch Addition der Schriften wird ihre Vollständigkeit erzielt: „für Oetinger ist die Bibel ebenso ein Gewebe und eine „vollständige Symphonie" - das Ganze ist also schon im Einzelnen wahr; das Ganze, die Wahrheit als Ganzes, wird in jedem Einzeltext repräsentiert. Bildet die Gesamtheit der Schriften und bilden Einzelschriften je für sich die Ganzheit ab, läßt sich Ganzheit sowohl in der Gesamtheit wie in der Einzelheit ausmachen, so ist die Bibel als ein organisches Gefuge zu verstehen, dessen Ganzheit durch das Einzelne im Ganzen zu begreifen ist." Oetinger befindet sich mit dieser Anschauung von organischer Ganzheit in Übereinstimmung mit Grundsätzen Bengels. „Beide setzen mit dem Begriff des Organismus voraus, daß die Offenbarung gewachsen ist" . . . „Die Schrift ist an sich klar und leicht zu verstehen, aber am klarsten dem, der es der höchsten Güte zutraut, daß sie nicht anders könne, als einfältig und verständlich zu sein." In Auseinandersetzung mit Aufklärungstheologen und der aufkommenden historisch-kritischen Methode besteht seine grundsätzliche Forderung „im Hintanstellen des eigenen Fündleins: die Schrift muß aus sich selbst erklärt werden". Großmann, a. a. O., S. 77-82, Oetinger, Belege ebd. Hier wie in der gesamten Beurteilung der Theologie Friedrich Fabris wird von der Annahme ausgegangen, daß „Der sensus communis" seine zentrale Schrift ist, die wiederum in Oetingers 133

vorgeordnet, und das ist nicht zufällig, vor allem entfaltet die Bibel einen detaillierten Plan Gottes mit der Menschheit. 526 Fabri drückt diesen Gedanken auch in den organologischen Kategorien Oetingers aus: „ D a s E v a n g e l i u m ist seinem innersten Wesen nach Leben, d a r u m auch B e w e g u n g und Fortschritt; aber weil es auf festem und unbeweglichem, v o n O b e n gezeugten G r u n d e ruht, ist seine L e b e n s b e w e g u n g nicht planlos und zerfahren, sondern maaßvoll, rythmisch, wachsthümlich, v o n Gott präformiert, und d a r u m festen, i m göttlichen Heils- und Liebesrath vorgebildeten Zielpunkten sich e n t g e g e n b e w e g e n d . " 5 2 7

Manche Bibelstellen ermöglichen „Centraiblicke", aus denen „immer wieder neue Glaubenskraft, neue Freudigkeit" geschöpft werden könne. 5 2 8 Besonders die Klarheit und Einfachheit der Schrift, die auch Oetinger hervorhebt, haben es ihm angetan, „die größte Tiefe bei der größten Faßlichkeit und geradsinnigen Einfalt". 5 2 9 Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, daß der hermeneutische Schlüssel in der Einsicht in den göttlichen Heilsplan liegt. „Ciaritas scripturae" j a aber nur vermittelt durch Heiligen Geist von Oben und sensus communis! Im Zusammenhang dieses Denkens kommt den apokalyptischen Texten der Bibel in Kombination mit der Einschätzung, in der letzten Periode der Kirchenzeit zu leben, eine besondere Bedeutung zu. Bei Fabri und Christlieb ist schon das Beispiel der philadelphischen Idealgemeinde ein Indiz für diesen Sachverhalt. Christus ist in diesem Konzept nicht die kritische Mitte der Schrift. Wenn die Auslegung an die Einsicht der Erweckten gebunden wird, allerdings mit der Verpflichtung, die eigene Erkenntnis an dem Gesamtzeugnis der Schrift zu überprüfen, ergibt sich zum einen eine grundlegende Ablehnung der historisch-kritischen Bibelauslegung, aber zum anderen kann auch durch die genannte Verpflichtung das eigene Zeugnis der Bibel gar nicht zum Zuge kommen; denn das erkennende Subjekt ist bei der Überprüfung durch den Reichsblick geleitet. Ein Zirkel, der in letzter Konsequenz deutlich macht, daß die Bibel im theosophischen Konzept nur der Bestätigung des im Vorhinein erkannten Heilsplanes Gottes dienen kann. Die biblischen Geschichten werden zu Exempeln der ewigen Wahrheit Gottes. Die Entleerung des geschichtlichen Gehaltes, die schon bei dem Begriff des Reiches Gottes und der Kirchenlehre zu konstatieren war, trifft auch für Gedankengängen wurzelt. Vgl. oben II.4.5. und Fabri, ebd., bes. S. 37. 39 der ausdrückliche Bezug auf Oetinger. 526 Vgl. vor allem Fabri, Die Entstehung des Heidenthums, S. 41 ff. und passim. 527 Fabri, Berichte der Rheinischen Missions-Gesellschaft 1866, S. 2. 528 Fabri, Zum neuen Jahre, S. 5. - Bei der Auslegung von Eph. 3, 14-19, ebd., S. 4-14, ist zu beachten, daß Fabri sein Verständnis von Heiligung gegenüber dem der Heiligungsbewegung profilieren und explizieren will. 529 Fabri, Der sensus communis, S. 38, vgl. den Zusammenhang S. 37-43. Vgl. zu Oetinger Anm. 525.

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die Anschauung von der Bibel im theosophischen Konzept zu. Die Folge ist ein aktualistischer Biblizismus, der die biblischen Texte jeweils nach ihrer Bedeutung in bestimmten reichsgeschichtlichen Situationen befragt. Die Grenze einer irrtumslosen Bibelauslegung ist bei Fabri wieder mit der Anschauung von der gegenwärtigen Zeit als der Zeit der Niedrigkeit gegeben; zu dieser Zeit gehört auch die Möglichkeit des Irrens.

Implikationen fiir die Wahrnehmung der Wirklichkeit Wenn Geschichte nur unter reichsgeschichtlichen Kategorien in den Blick genommen werden kann, wenn der „Reichsblick" von vornherein auf die Bedeutung der geschichtlichen Ereignisse für den Fortgang des Reiches Gottes beschränkt ist, kann von den Vertretern einer solchen Konzeption nicht erwartet werden, daß sie wirtschaftliche Entwicklungen oder gesellschaftspolitische Veränderungen unter weltimmanenten Kategorien angehen. Die „Konstruktion der Wirklichkeit" innerhalb der theosophischen Reich-Gottes-Konzeption ist derart geschlossen (organische Ganzheit), daß sie für die Tagesfragen nur eine religiöse Antwort geben kann. Vom inneren Anspruch der Vertreter der theosophischen Reichsgotteskonzeption her ist das zugleich die realistischste, die überhaupt gegeben werden kann.

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V. Die Reich-Gottes-Konzeption der norddeutschen Pietisten, ihre Implikationen und Konsequenzen 1. Voraussetzungen Die Analyse des „Entwurfs" und und der „Einladung" hat ins Auge fallende Unterschiede erbracht (vgl. obenS. 121), deren Hintergrund in einer Richtung geklärt worden ist. Die theosophisch-theologische Grundkonzeption der .Süddeutschen' ließ sich aus den Schriften Friedrich Fabris erheben. Schwieriger ist es, den entsprechenden theologischen Hintergrund der .Norddeutschen' zu erschließen. Zum einen haben sie kein theologisches Studium absolviert und zum anderen haben sie auch keine theologischliterarische Tätigkeit entfaltet, die für eine Analyse Stoff ergäbe. In ihren Aufgabenfeldern spielte das mündliche Wort, die Rede, eine wichtige Rolle 5 3 0 und besonders aus der Zeit vor 1888 gibt es kaum Aufzeichnungen solcher Reden. Wenn im Folgenden trotzdem der Versuch unternommen wird, den theologischen Hintergrund der .Norddeutschen' zu erschließen, so gilt es vorab, das Vorgehen zu klären. Eduard von Pückler und Jasper von Oertzen vor allem, aber auch Andreas Graf von Bernstorff haben sich seit ihrer Bekehrung in Arbeiten engagiert, die in der Intention des Programmes der Inneren Mission von Johann Hinrich Wichern 531 liegen. Sie stehen in Ar-

530 Dies ist ein Charakteristikum von Bewegungen, vgl. oben Anm. 19. 531 J. H. Wicherns (1808-1881) Biographie kann hier im einzelnen unberücksichtigt bleiben. Vgl. die dreibändige Biographie von Martin Gerhardt, Johann Hinrich Wichern. Ein Lebensbild. Hamburg 1927ff. und ders., Der junge Wichern, Jugendtagebücher.J. H. Wicherns. Hamburg 1925. Während seiner Studienjahre in Göttingen und Berlin wurde er vor allem von Friedrich Lücke (1791-1850), dessen Gönner und Lehrer Friedrich Schleiermacher (1768-1834), August Neander (1789-1850) und Emst Freiherr von Kottwitz (1757-1843), der zentralen Figur der norddeutschen Erweckungsbewegung, beeindruckt. Bei Hausbesuchen in Hamburg lernte er das Verwahrlosungselend vieler Kinder aus der Arbeiterschicht kennen und gründete 1833 als Rettungsanstalt das „Rauhe Haus", dem er 1844 die erste Diakonenanstalt Deutschlands anschloß. Auf dem Kirchentag 1848 hielt Wichern seine berühmt gewordene Stegreifrede, in der er sein Programm der Inneren Mission entwickelte. Sie erschien als „Denkschrift an die deutsche Nation" (1849) und ist die Programmschrift der Diakonie schlechthin geworden. Noch während des Wittenberger Kirchentages wurde der „Centraiausschuß der deutschen evangelischen Kirche" mit Wichern als Vorsitzendem gegründet. Er entfaltete eine reiche literarische und Vortragstätigkeit und regte zu vielen diakonischen Gründungen an. Er konnte auch Friedrich Wilhelm IV. für seine Ideen gewinnen. 1857 wurde er zum Oberkonsistorialrat im Evangelischen Oberkirchenrat in Berlin und zugleich Vortragenden Rat fur das Strafanstalts- und 136

beitsgemeinschaft mit Adolf Stoecker, der von Wichern selbst als Fortsetzer seines Programms angesehen worden ist. 5 3 2 Jasper von Oertzen als die fuhrende Figur im Kreis dieser Männer, 5 3 3 hat sein theologisches Rüstzeug und seine praktische Ausbildung von Wichern selbst vermittelt bekommen und war über lange Jahre auch sein persönlicher Vertrauter. 5 3 4 Seine, wie Wicherns Lebenslinie, laufen in der Begegnung mit der Erweckungsbewegung zusammen. 5 3 5 Diese Gründe scheinen ausreichend, die theologische Konzeption Wicherns als geistigen Hintergrund der .Norddeutschen' anzusehen. 5 3 6 Dabei ist zu beachten, daß mit dieser Entscheidung die norddeutschen Pietisten nicht als originäre Denker, sondern als Verwerter vorgegebener Einsichten in den Blick kommen. Sicher stehen auch die .Süddeutschen' auf den .Schultern' ihrer theosophischen Vordenker, aber sie, vor allem Fabri, haben auf der theologischen Ebene weitergearbeitet. Von Oertzen, von Pückler und von Bernstorff füllen dagegen auf der praktischen Seite einen gegebenen theologischen Rahmen aus. Von vornherein ist zudem in Betracht zu ziehen, daß es in der Rezeption Wichernscher Gedanken zwischen der Hamburger Prägung von Oertzens, der Berliner Prägung von

Armenwesen im preußischen Ministerium des Innern berufen. 1874 beendete schwere Krankheit, die schließlich zu seinem Tode führte, seine Wirksamkeit. Werke Wicherns: Johann Heinrich Wichern, Sämtliche Werke. (7 Bände). Hrsg. von Peter Meinhold, Berlin und Hamburg 1962 ff. Vorzugsweise wegen der leichteren Zugänglichkeit benutzt: Johann Hinrich Wiehern, Ausgewählte Schriften. (3 Bände). Hrsg. von Karl Janssen, Gütersloh 1979. 532 Vgl. M. Gerhardt, Wichern, Bd. III, S. 506. 533 Dies kommt besonders darin zum Ausdruck, daß von Oertzen nach dem Tode Th. Christliebs zu dessen Nachfolger als Vorsitzender des Evangelisationsvereins (der Laie folgt dem Theologieprofessor!) gewählt wurde. Vgl. P. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 3 , S. 86. 534 Vgl. oben II.4.2 und Gerhardt, a . a . O . , S.507f. 516. 520. 527. Auch: Lange, a . a . O . , S. 29 (ohne Belege). 535 Jaspers Vater war eine zentrale Figur in der mecklenburgischen Erweckungsbewegung und war mit den Gebrüdern Stolberg, Wilhelm von Raumer und Otto von Gerlach befreundet. Vgl. oben Anm. 136. Zu Wicherns Begegnung mit Baron von Kottwitz vgl. Gerhardt, Der junge Wiehern, S. 240. 246; und ders., Wichern, Bd. I, S. 97 f. 536 Es gehört zu den Verdiensten Ludwig Thimmes, Kirche, Sekte und Gemeinschaftsbewegung, bes. S. 180-187, auf diesen Hintergrund hingewiesen zu haben. In der Gemeinschaftsbewegung selbst ist, soweit mir ersichtlich, diese Beziehung nicht als konstitutiv für die ganze Bewegung eingeschätzt worden. Die einseitige Fixierung auf die Heiligungsbewegung hat hier den Blick getrübt. Sie geht bei P. Fleisch soweit, daß er fur J. von Oertzen eine Berührung mit der Heiligungsbewegung postulieren muß; vgl. Fleisch, a. a. O. 3 , S. 58: „Wann und wie die Oxforder Bewegung ihn berührt hat, ist mir nicht möglich festzustellen. Seltsamerweise ist dieselbe in seiner Biographie nicht erwähnt." Selbst der sonst geschichtsbewußte langjährige Vorsitzende des Gnadauer Verbandes, Walter Michaelis, erwähnt in seiner Autobiographie, Erkenntnisse und Erfahrungen aus 50jährigem Dienst am Evangelium, im Kapitel „Ursprung und Wesen der Gemeinschaftsbewegung" (S. 96-103) Wichern nicht. Lange, ebd., weist auf die Bedeutung Wicherns fur die Gemeinschaftsbewegung zwar hin, für seine Darstellung bleibt dieser Hinweis aber ohne Folgen. Von Sauberzweig, a . a . O . , S. IX, rechnet ihn jedenfalls nicht zu den „Vätern Gnadaus".

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Pücklers und der angelsächsischen Prägung von Bernstorffs Unterschiede gibt. 5 3 7 2. Das Reich Gottes bei Wichern Für Wichern ist Theologie im wesentlichen „Betrachtung der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Geschichte des Reiches Gottes. Sie ist . . . Geschichtswissenschaft, und ihr Geschichtsbild ist es, das alles andere bestimmt. Wicherns Theologie ist Geschichtstheologie." 538 Das Schema, das seinem Geschichtsbild zugrundeliegt, hat fünf Stufen: Die Vorgeschichte der besonderen Offenbarung besteht aus Schöpfung und Sündenfall. Die alttestamentliche Geschichte ist bereits „Reichsgeschichte". Als Mitte der Geschichte steht die „Gründung des Reiches Christi" da. Es folgt der Verlauf des Reiches Christi bis 1840; dann folgen die Zukunft und das Ende. Dies ist zunächst nur ein Schema, das der Entfaltung bedarf. Wesentlich ist, daß es sich um ein Geschehen handelt, Offenbarung ist nicht bloß Mitteilung neuer Erkenntnis, sondern tatsächliche Mitteilung göttlichen, heilsamen Lebens, also geschehene Geschichte. 539 537 Hierzu läßt sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung und auch aus grundsätzlichen Gegebenheiten (vgl. oben Anm. 530) nichts Genaues fur den Zeitraum dieser Untersuchung erheben. Ebensowenig lassen sich die Einflüsse Friedrich von Schlümbachs genauer einschätzen, weil die Quellenlage ganz unbefriedigend ist. Vgl. K. Kupisch, Der deutsche CVJM, S. 138, Anm. 20. 538 Janssen, Wiehern Bd. I, S. 23. Im Folgenden werden bei Bezugnahmen auf Janssen dessen extensive Hervorhebungen nicht mitvollzogen. Sie waren wohl bei dem kaum noch zumutbaren Kleindruck in der Taschenbuchausgabe nötig. - Für die Anfuhrung der Schriften Wicherns gilt im übrigen ähnliches wie bei Fabri (vgl. oben Anm. 501). Auch bei Wiehern liegt ein Grundkonzept vor (das es darzustellen gilt), von dem er nicht wesentlich abgewichen ist. Obwohl sich die Gedankenführungen Wicherns, die im Folgenden zur Darstellung kommen, an vielen Stellen belegen lassen, wird eher exemplarisch verfahren, weil mit der Häufung der Zitate keine neuen Aspekte hinzugewonnen würden. Vgl. zur folgenden Überblicksdarstellung der Reich-Gottes-Konzeption Wicherns Janssen, Wichern, Bd. I, S. 23-35, und die Belege aus einer Vorlesung Wicherns von 1840 (ebd., S. 23). 539 Zu diesen „alten Typen heilsgeschichtlicher Betrachtung" vgl. G. Weth, Die Heilsgeschichte, S. 123f. 126-136. Janssen, a. a. O, S. 24, weist auf die seit 1841 bestehende Freundschaft Wicherns mit dem späteren Erlanger heilsgeschichtlich orientierten Theologen Johann Christian Konrad von Hofmann (1810-1877) hin, konstatiert aber, daß Wicherns Geschichtstheologie schon vor Beginn dieser Freundschaft ausgearbeitet vorlag. Vgl. Wichern, Christliche Erziehungs- und Unterrichtslehre (1845/46), § 7 a, Was ist das Reich Gottes? In: Meinhold, Wichern, Bd. 7, S. 268-272. Vgl. S. 127f. Zur besonderen Hervorhebung des Jahres 1840 als Chiffre für das Revolutionserlebnis 1848 vgl. Wiehern, Die innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation. In: Janssen, Wichern, Bd. 3, S. 172 (Im Folgenden zit.: Wiehern, Denkschrift), und Wichern, Die wahre Gemeinde des Herrn (1839). In: Meinhold, Wiehern, Bd. I, S. 72. - Diese Streitschrift kann man auch als Folie des Einladungsschreibens zur 1. Gnadauer Konferenz lesen!

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Dieses Geschehen ereignet sich von primären Voraussetzungen aus, die Wichern als Schöpfung und Fall kennzeichnet. Schöpfung und Sünde bilden also miteinander das, was die Gegenwart und überhaupt die Geschichte des Menschen konstituiert. Für Wichern gehört die Sünde konstitutiv zum geschichtlichen Weltbestand. Für ihn geht die Sünde (Weltreich der Sünde) dem Gottesreich immer wieder genau zur Seite. Die Weltgeschichte ist als K a m p f zwischen den beiden Reichen charakterisiert. Zwischen dem Weltreich der Sünde und dem Reiche Gottes tobt in dieser Weltzeit der Entscheidungskampf. „Dieser K a m p f ist das eigentliche Thema, der eigentliche Inhalt der Weltgeschichte. Beide Reiche befinden sich dabei in einem ständigen Fortschritt, der freilich nicht kontinuierlichen Charakter hat, sondern vielmehr seine von Gott geordneten Zeiten und Jahre und Jahreszeiten zum Kennzeichen h a t . " 5 4 0 Jeder Fortschritt des Gottesreiches ruft sofort eine Reaktion in einem erneuten Aufbruch des Weltreiches der Sünde hervor. Dieses gegen das J a des Gottesreiches gestellte Nein des Weltreiches hat nicht minder seine einheitliche fortschreitende Geschichte, erklärt Wichern. Es ist ein K a m p f auf Leben und Tod, in dem die beiden Reiche stehen, ein Kampf, der gewiß Überwindungskampf ist, aber in dem kein Ende abzusehen ist, bevor Christus k o m m t . 5 4 1 Von Anfang an ist die Weltgeschichte charakterisiert als Geschichte des Kampfes zwischen den Weltreichen der Sünde und des Glaubens. Wichern fragt in erster Linie von den Ereignissen im Reiche Gottes aus nach den verschiedenen Stadien dieses K a m p f e s . 5 4 2 Schöpfung und Sündenfall weisen die Verlorenheit der Welt auf. Ihnen tritt Gott entgegen, indem er sich zu dem Elend und zu der N o t der sündigen Menschheit neigt. 5 4 3 Dies geschieht 540 Janssen, Wichern, Bd. I, S. 25. Vgl. Gerhardt: Wichern, Bd. 3, S. 442f., Bd. I, 72ff. 80. 541 Vgl. die eindrückliche Illustration dieses antagonistischen Prinzips bei Wiehern, Denkschrift. In: Meinhold, Wichern, Bd. 1, S. 314f.: „Der Tag der Ausgeburt der Revolution sollte der Tag der eigentlichen Geburt der inneren Mission werden. - Mit dem Schluß der Befreiungskriege in Deutschland beginnt die heimatliche Arbeit des nun offenbar gewordenen Umsturzes, bis dahin von wenigen beachtet und gekannt und deswegen nur selten gefurchtet und lediglich mit polizeilichen Waffen bekämpft. Dem selben ganz parallel entwickelte sich von dem selben Zeitpunkte an innerhalb unserer Kirche bei wachsender Predigt des Evangeliums die Glaubensmacht der Liebe gegen die verlassenen Glieder der Gemeinde, von den großen Massen ebensowenig beachtet und gekannt wie die heraufziehende Revolution" . . . „Ein solcher Tag des Schreckens und der Gerichte mußte anbrechen; von Gottes Hand mußte der Schleier weggezogen werden, der bis dahin das in der Kirche wohnende und wuchernde Verderben verhöhnt hatte. Täuschung war nun nicht mehr möglich gegenüber dem jetzt mit offenem Visier und erhobenem Schwerte unter uns freigelassenen Feinde, dem das Volk in Scharen zufiel. Das war aber auch der Tag, in welchem die innere Mission von oben mehr Segen denn j e empfangen sollte." . . . 542 Gerhardt, Wichern, Bd. I, S. 74 f., weist auf den Einfluß Friedrich Lückes aufwiehern in der Ausbildung seiner Reich-Gottes-Theologie hin. Vgl. zu Lücke: Martin Cordes, Freie christliche Aktion als Herausforderung fur Kirche und Theologie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum evangelischen Vereinswesen in Göttingen und zur Theologie Friedrich Lückes. Göttingen 1982, S. 140-173, bes. S. 147-149 „Der eigene Weg Wicherns". 543 In diesem Gedanken hat auch das pädagogische Wirken Wicherns seine Wurzel. Er stellt

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in der Vorgeschichte der christlichen Offenbarung. Gottes erwählende Liebe neigt sich zunächst zu Abraham und zu dem Volke Israel, aus dem er sich ein Volk zu einer Gottesfamilie erbaut. Die Kennzeichen der alltestamentlichen Zeit sind Verheißung und Hoffnung „als Vorgeschichte der christlichen Offenbarung". Die Zeit des Alten Testaments ist wie alle Zeiten der Geschichte des Gottesreiches vom Kampf geprägt. Es geht auch durch Zeiten, in denen die Liebe Gottes verhüllt ist, Zeichen des Gerichtes, denen eine um so herrlichere Offenbarung dieser Liebe folgt. Die Verheißung ist dem Gesetz vorgeordnet und letzteres kommt insbesondere in der Gestalt eines falschen Kirchen- und Priestertums in den Blick. Auf die Zeit der Verheißung folgt die Stiftung des Reiches Christi. Auf Christus zielt die Geschichte des alten Bundes, er bildet den Mittelpunkt der Geschichte. 544 Er erfüllt zunächst das, was im Alten Testament schon begonnen hat: Christi Erscheinung ist die volle Offenbarung der Diakonie. Schon der Gott des Alten Testaments ist Diakon seines Volkes, jetzt gewinnt er universalen Charakter. Das Werk Christi wird als Fortsetzung und Vollendung der Diakonie Gottes im Alten Bunde gedeutet. Sie aber führt nun zur Aufrichtung einer Christengemeinde, die eine Menschheitsbedeutung besitzt. Die neue Christengemeinde wird das wahre Israel, das wahrhaftige Haus Gottes, die echte Gottesfamilie; in ihr ersteht als in einem neuen Schöpfungswunder die erstorbene Menschheit in der Liebe, und die Liebe wird zur Liebespflege. Aus der Diakonie an dem erwählten Volke ist nunmehr die Diakonie geworden, deren Dienst auf Neuschöpfung der Menschheit in der Christengemeinde abzielt. In der Überwindung der nationalen Einschränkung liegt der entscheidende Fortschritt gegenüber dem Alten Bund; zugleich ist auch das Gesetz abgetan. Es ist grundsätzlich ersetzt durch die Lebensordnung des Heiligen Geistes, der Christi Geist und damit der unversiegliche Gottesquell der Liebe ist. Dieser Gedanke geht parallel zu dem anderen, daß Christus nach Vollendung seines Werkes nicht nur der Herr der Christenheit, sondern auch der Welt ist. Auch seine über die Welt ausgeübte Herrschaft wird als das Reich Christi bezeichnet. Dieses erscheint also in der zweifachen Gestalt der Gemeinde und der Weltherrschaft Christi. Diese Weltherrschaft Christi ist nur für den Glauben sichtbar. Sie ist es, die dem Gliede der streitenden Kirche Kraft und Liebe zum Kampfe um die Welt zu geben hat. Sie gibt dem Ringen um das künftige Gottesreich Dynamik und Kraft. Insbesondere gibt sie Zuversicht auf das Verheißungswort Christi. 545 sich in die Bewegung des Erbarmens Gottes hinein. Vgl. nur Wichern, Besprechungen über die Idee des Rauhen Hauses und dessen Beziehungen. In: Meinhold, Wichern, Bd. 7, S. 17f. Auch ders., Erziehung und Unterricht, § 1, a. a. O., S. 306. U n d aus Wicherns Pädagogik Vorlesung von 1841/42, a . a . O . , S. 38, die Formulierung: „Die ganze Welt ist eine Gemeinschaft, in welcher Christus tätig ist, sündige Menschen zu erziehen." 544 Vgl. Wichern, Denkschrift. In: Janssen, Wichern, Bd. III, S. 149. 162f. 545 Vgl. Janssen, Wichern I, S. 26f., Belege ebd.

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Das Reich Gottes ist nicht mit der Kirche identisch und ebensowenig ist es mit der Christenheit identisch als der Gemeinschaft der Gläubigen. Es ist vielmehr im strengen Sinne Herrschaft Christi und wird durch ihn allein bestimmt und begrenzt. Wo immer Menschen Christus als ihren Herrn anerkennen, da ist das Reich Gottes wirksam. Von hier aus gelangt Wichern gelegentlich zu Formulierungen, die zunächst überraschen. Er spricht wiederholt von der „großen evangelischen Volkskirche" als der, „wenn auch nur als vorläufig gegebenen weltgeschichtlichen Form des Reiches Gottes". 5 4 6 Man mißversteht diesen Satz dann, wenn man seinen Zusammenhang übersieht. Das Reich Gottes besteht vor allem anderen aus seinem Haupt, dieses aber ist der für die Sünden der Welt gestorbene, auferstandene und erhöhte Retter aller Menschen und König aller Völker, die er mit seiner allmächtigen Hand in seinem Wort und mit der göttlichen Stiftung seines Gnadenwillens in den Sakramenten umschlossen hält. Weil das Reich Gottes sich in Wort und Sakrament auswirkt und betätigt, darum kann die Volkskirche als Trägerin der Wortverkündung und Verwalterin der Sakramente als vorläufige und weltgeschichtliche, also im gegenwärtigen Laufe der Weltgeschichte hervorist tretende Form des Reiches Gottes bezeichnet werden. Sie ist die Form, in der Gott in der Weltzeit zwischen Christi Menschwerdung und Wiederkunft seine Weltherschaft ausübt, und aus diesem Grunde ist sie Form des Reiches Gottes. Der Gang des Reiches Gottes in der Geschichte der Kirche zeigt immerein Janusgesicht: Die Kirche hat einerseits die ihr sich stellenden Aufgaben angepackt, aber auch immer wieder gerade das versäumt, worauf es angekommen wäre: „das Ringen darum, alles in den Bereich der Herrschaft Christi Übernommene - sowohl alle Individuen wie alle kulturellen und geistigen Mächte - in den Dienst der Herrlichkeit Gottes zu stellen." 547 So wird die Geschichte des Reiches Gottes für Wichern zum Bußruf an die Gegenwart. Gegenwart aber darf nicht nur von der Vergangenheit her beurteilt werden. Zu ihrer Erschließung gehört der Blick in die Zukunft und auf das Ende. Wicherns Theologie ist eschatologisch ausgerichtet. Er ist der Überzeugung, daß die Gemeinde Christi nichts ohne Vergangenheit und Geschichte und nichts ohne Zukunft, d. h. ohne Hoffnung ist. Zukunft und Ende der Weltgeschichte sind deshalb ein wesentliches Thema des theologischen Denkens. Diese Zukunft kann ihrem Wesen nach aber nicht Zweck des christlichen Handelns der Gegenwart sein, weil die Vollendung nur das Werk Seiner Hände sein kann, damit ihm alle Ehre allein gebühre. Wichern rechnet mit einem werdenden Reiche Gottes, das Christus durch Wort und Sakrament schafft, das grundsätzlich unverfugbar ist und das aufgrund des Verheißungswortes geglaubt werden soll. Eine chiliastische 546 Vgl. Janssen, a. a. O., S. 28, Beleg ebd. 547 Janssen, a. a. O., S. 29. Vgl. Wichern, Denkschrift. In: Janssen, Wichern, Bd. III, S. 164.

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Eschatologie hat Wichern stets und grundsätzlich abgewehrt, als deren Vertreter er die Irvingianer und Pietisten bezeichnet. 548 Diese Vollendung freilich ist nicht einfacher Endpunkt einer allmählichen Entwicklung. Sie vollzieht sich durch ein Gericht hindurch, das in Ausscheidung aller Ungerechtigkeit und derer, die nicht die Gerechtigkeit liebhaben, besteht und durch dieses Gericht hindurch dazu fuhrt, daß auch das Leben der Völker durch Gottes Gnade geheiligt und verklärt werden wird. Ziel der Weltvollendung ist, daß alle menschlichen Gemeinschaften, also auch die Familie, die Nation und endlich die Menschheit in der vollkommenen Gottesfamilie vollendet werden. 549 Erst wenn man so die Zukunft und das Ende des Gottesreiches in der Anschauung Wicherns umrissen hat, kann man seine Einschätzung der Gegenwart in den angemessenen Zusammenhang bringen. „Sie ist qualifiziert durch einen neuen Höhepunkt des Kampfes zwischen Weltreich und Gottesreich: Das Antichristliche und Antichristische wurde plötzlich offenbar als organisierendes Prinzip, das sich nun der ewigen geoffenbarten Wahrheit, gewaffnet mit Hohn, Verachtung oder Frevel, entgegenstellte. Aber eben diesem Hervorbrechen des Weltreiches der Sünde entspricht ein ebenso deutliches Hervortreten eines neuen Lebens. Die Gegenwart hat Entscheidungscharakter für die Welt. Wichern wertet seine Zeit als Wendepunkt der Weltgeschichte, als Grenzstein zwischen der alten und neuen Zeit in unserer Kirche, als neuanbrechendes Zeitalter der Welt, weil er sie zu den großen Krisen der Weltgeschichte rechnet. Für die Christenheit ist die Gegenwart als Erfahrung der Krise eine Zeit der Buße. Unermüdlich hat Wichern diesen Bußruf ergehen lassen. „Demütigen wir uns alle vor dem Herrn. Es ist hier eine gehäufte Schuld nicht der einzelnen, sondern der Gesamtheit, eine Schuld nicht bloß dieses Geschlechts, sondern eine ererbte und eine von Jahrhundert zu Jahrhundert vererbte Schuld; eine Schuld, die jetzt im neuanbrechenden Zeitalter der Welt gesühnt werden soll"." So kennzeichnet Wichern diese Krisis im Jahre 1848.550

548 Bei dieser Kritik hat Wichern allerdings nur den „separatistischen" Pietismus vor Augen. Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke erkannte er als Vorläufer der Inneren Mission an. Vgl. Wichern, Denkschrift. In: Janssen, Wichern, Bd. III, S. 165: „Die Erneuerung der Verkündigung des allgemeinen Priestertums aus Speners Herz und Mund, die Glaubens- und Gebetstat des erbarmungsreichen Kinderfreunds in Halle waren Vorbilder dessen, was nach späteren Tagen im Vaterlande geschehen sollte." Vgl. dazu Gerhardt, Wiehern, II, S. 143. 549 Vgl. Janssen, Wiehern, Bd. I, S. 30f. Zum Heilsuniversalismus vgl. Weth, a.a.O., S. 172-179. 550 Vgl. Wiehern, Denkschrift. In: Janssen, Wichern, Bd. III, S. 149f. 292f. Vgl. Janssen, Wichern, Bd. I, S. 34. E. Beyreuther, Kirche in Bewegung, S. 113 f. - Aus der Betroffenheit der Ereignisse heraus geschrieben ist: J. H. Wiehern, Die Revolution und die innere Mission. In: Meinhold, Wiehern, Bd. I, S. 129-132.

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Formale

Konsequenzen

Wie bei dem theosophischen Konzept wird man auch von dieser ReichGottes-Vorstellung sagen können, daß sie von ihren großen Themen her: Der Gang des Reiches Gottes in der Geschichte, der Kampf zwischen göttlichen und widergöttlichen Mächten, die jetzige Zeit ist Entscheidungszeit, zu der Vorstellungswelt der „erweckten Kreise" jener Zeit paßte. Allerdings sind auch gravierende Unterschiede zur theosophischen Konzeption z. B.in der Bewertung der Kirche sichtbar geworden. Diese Unterschiede sollen im Folgenden vertiefend dargestellt werden.

Christologische

Implikationen

Die Erscheinung Christi bildet die Mitte der Zeiten. Von ihm her wird die Urgeschichte „Vorgeschichte der Offenbarung", das Alte Testament ist Verheißung auf ihn hin und seit seiner Erscheinung und Auferstehung bestimmt er als der lebendige Herr der Reichs- und Weltgeschichte den Gang der Geschichte. Diese Herrschaftsverhältnisse sind aber nur dem Glaubenden einsichtig und erschlossen. Wie Christus der Herr der Geschichte ist und so der zeitliche Aspekt seiner Herrschaft zum Ausdruck kommt, so ist er auch als das „Haupt" Herr der Gemeinde und macht sie zum Raum seiner Herrschaft in der Weltgeschichte. Die Zukunft wird durch Christi Streit wider die Sünde bestimmt, und das Ende fuhrt er in einer für Menschen nicht vorher berechenbaren souveränen Weise herbei. Als Urbild der Diakonie erfüllt sich seine Liebe in doppelter Weise: „Einmal unmittelbar, indem er sich dienen läßt, dann aber dadurch, daß er sich mit seinen geringsten Brüdern identifiziert und das, was seine Jünger ihnen antun, als sich selbst angetan erklärt. " s s l Wichern „verstand das Evangelium von Christus als Tatwort Gottes, als Geschichte begründendes Ereignis, das Wort und Tat herausforderte und das verborgene Handeln Christi in dem Geschehen der Zeit zu erkennen und zu glauben suchte. " 5S2 Die Rede vom heiligen Geist ist streng christologisch bestimmt. Er ist die Wirkkraft der Liebe Christi und weist auf das Verheißungswort von Christus. Die große „Denkschrift" von 1849 leitete Wichern mit der „Tatsache der Erscheinung Christi" ein und beschließt sie mit der Zuversicht, „daß keine Macht der Welt den Arm des Herrn zu brechen vermag, der mit dem Schwert des Wortes und dem Schild des Glaubens seine Gemeinde zum Siege gewappnet und als der Auferstandene sich selbst ihr zum Retter und Führer aus Not und Tod erboten hat!" 553 551 Janssen, Wichern, Bd. I, S. 26. 552 Ders., Wiehern, Bd. III, S. 356. 553 Wichern, Denkschrift, ebd., S. 343. 143

Anthropologische

Implikationen

Der Mensch lebt, ob er es weiß oder nicht, im Gegenüber zu dem in Christus geoffenbarten Gott. Er erfährt von diesem grundlegenden Verhältnis aus der göttlichen Offenbarung. Sie beurkundet „zunächst das Verhältnis der menschlichen N a t u r zu dem Wesen, welches ihr ihre Bestimmung gegeben hat, samt ihrem U r s p r u n g und ihrem Entwicklungsgang, auf welchem sie diese Bestimmung allein erreichen kann." 5 5 4 So erfahrt der Mensch, daß er in der Sünde lebt und kann sich für ein Leben mit Gott entscheiden. Im Menschen gibt es ein Rezeptivum, das die Annahme des Heils ermöglicht. 5 5 5 Mit seiner Entscheidung gewinnt er Anschluß an das Reich Gottes und „das lebendige Christentum ist nichts anderes als der Besitz des in Christo erschienenen und bestehenden Reichs Gottes." 5 5 6 Zugleich wird der Mensch in den Kampf des Reiches Gottes hineingezogen; denn „das lebendige Christentum ist untrennbar von diesem K a m p f ' . . , 5 5 7 Als Glied des Reiches Gottes steht der glaubende Mensch der Welt gegenüber. 5 5 8 Als neue Qualität hat er den „neuen Lebensgeist aus Gott" empfangen, der sich in seiner ganzen Lebensgestaltung auswirken soll. 5 5 9 - Nach Wichern verleiht dieser Geist zugleich Freiheit und befreit v o m Gesetz, von j e d e m Gesetz, das als Z w a n g empfunden werden kann. Dieser Geist, der die Existenz des Menschen als Christ bestimmt, „ist wesentlich eine Macht außer uns, zunächst in Gott, welcher sich uns darstellt, teils in dem unmittelbaren oder unvermittelten Willen Gottes (oder Christi), teils in dem Willen des Staates, teils in dem Willen des Hauswesens, zu dem wir gehören Die „christliche Gesinnung" folgt diesen Impulsen des Geistes, „weil sie will, denn sie fühlt und weiß sich eines mit dem Willen und der Macht, die außer ihr waltet." 5 6 0 Den Gedanken, daß der Geist Gottes Leben und Freiheit schenkt, zieht Wichern noch in einer anderen Richtung aus: Der Geist konstituiert die menschliche Existenz als geschichtliche Existenz. Er nennt die „Formung und Gestaltung, die von dem schöpferischen Leben des Geistes a u s g e h t . . . die Geschichte (des Menschen und seines Geschlechtes), so daß ein Leben des Geistes ohne Geschichtlichkeit nicht gedacht werden kann". 5 6 1 Mit dieser Verwobenheit in die Geschichte hat der Mensch nun 554 Wichern, Christliche Erziehungs- und Unterrichtslehre. 3. Entwurf. In: Meinholdt, Wichern, Bd. 7, S. 233. 555 Wichern, Pädagogik fur das Rauhe Haus. In: Meinholdt, Wiehern, Bd. 7, S. 37. 556 Wichern, Unterricht über Innere Mission. In: Meinholdt, Wiehern, Bd. 7, S. 323. 557 Ebd., S. 324. 558 Wichern, Pädagogik fur das Rauhe Haus, ebd., S. 38. 559 Ebd., S. 99. 560 Wiehern, Christliche Erziehungs-und Unterrichtslehre. In: Meinholdt, Wiehern, Bd. 7, S. 274. Die Anklänge an die Wirkungsweise des sensus communis, wie sie Fabri entfaltet hat, (vgl. oben III.4.5) sind deutlich. Allerdings nennt Wiehern, ebd., S. 237, die Theosophie zusammen mit der Mystik eine „Schwärmerei des Verstandes", von der er sich distanziert. 561 Ebd., S. 274. Vgl. die Konsequenzen, die Janssen, Wiehern, Bd. II, S. 12, aus diesem

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auch Anteil an dem Rhythmus, der für das Reich Gottes in der Geschichte bestimmend ist. Auch das persönliche Leben wird zur Kampfesstätte zwischen Gott und Welt, zwischen Sünde und Gnade. Auch dieser Kampf verläuft krisenhaft und auch für ihn gilt, daß Zeiten der Bedrohung gleichzeitig die Wendung zum Besseren in sich tragen.

Rechtfertigung und Tat

(Heiligung)

Wer den Zuspruch der völligen Vergebung in Christus angenommen hat, wer also durch das Christusgeschehen gerechtfertigt ist, der lebt im Wirkungsbereich des Geistes Christi. „Die Sünde wird tatsächlich beseitigt und ausgeschaltet, wo Christi Geist zu wirken beginnt, und an ihre Stelle tritt die Liebe, in der sich Liebe zu Christus und Liebe zu den Brüdern zu innerer Einheit verbinden." 562 Es liegt in der Idee vom göttlichen Diakonat, daß Wichern einerseits die dogmatischen Formulierungen der lutherischen Rechtfertigungslehre gebraucht, sie aber andererseits mit neuer Füllung versieht: der Platz, den bisher die Sünde eingenommen hat im Menschen, den nimmt jetzt die Liebe Christi ein. Es liegt andererseits auch am oben benannten Offenbarungsbegriff, der immer Tatoffenbarung meint: Gottes offenbarendes Handeln setzt Geschehen in Gang, wie im Großen der Geschichte so auch im Einzelnen. Wem er die .Rechtfertigung des Sünders allein durch den Glauben an Jesum Christum, den Sohn des lebendigen Gottes' offenbart, in dem fängt er selbst im Glauben an zu handeln. 5623 Letztlich hängt dieses Verständnis aber an der Konstruktion des Geschichtsablaufs, an dem strengen Gegenüber von Weltreich der Sünde und Gottesreich, eine Struktur, die sich im Einzelnen wiederholt. So gewiß der Glaube Wissen von der Heilstatt Gottes ist, so gewiß ist er auch Leben aus Gott. Glaube als Leben aus Gott kann nur geschehende Tat sein, sofern er sich an den Mitmenschen wendet. Liebe ist der der Welt zugewandte Glaube. „Wo das Reich Gottes wirklich im Menschen ist, und der Mensch es wirklich hat, da ist es nicht anders möglich, als daß der Besitzer es nicht bloß für sich hat und behält, sondern es auch andern und dahin bringen will, bei denen und wo es bis dahin nicht gewesen " S63 Gottes Heiliger Geist wirkt selbstverständlich Glauben und Gemeinschaft, damit aber auch die Diakonie. Die liebende Tat nimmt die Stelle der Gedanken zieht. Vgl. auch D. Weth, S. 108f., der herausstellt, daß von Hofmann ähnliche Gedanken entwickelt hat. Die Formulierungen sind bei Wiehern zum Teil so unscharf, daß dem Urteil Janssens zuzustimmen ist (a. a. O., Bd. 1, S. 20): „ . . . im Grunde ist es so, daß Wichern eben doch weniger theologisch faßbar ist als vielmehr von seiner Frömmigkeit her begriffen werden muß." Vgl. auch Gerhardt, Wichern, Bd. 1, 1927, S. 202. 562 Vgl. Janssen, Wiehern, Bd. 1, S. 32. 562a Janssen, a. a. O., S. 28. 563 Wiehern, Unterricht über Innere Mission. In: Meinhold, Wiehern, Bd. 7, S. 323.

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Heiligung ein, und aus dem Ineinander von Glaube und Liebestat erwächst die Heilsgewißheit. Die Gestalt der liebenden Tat ist die innere Mission, „das Leben des Geistes der gläubigen Liebe." 564

Ekklesiologische

Implikationen

In Bezug auf das Volksganze, auf die Gemeinschaft, kennt Wichern drei göttlich gestiftete Ordnungen im Reich Gottes: den Staat, die Familie, die Kirche. Alle drei sind in ihren Aufgaben voneinander geschieden, haben aber ihre gemeinsame Mitte in der göttlichen Stiftung. „Die Volkskirche ist Wicherns eigenster Gedanke.... Der Begriff hat mehrere Seiten. Er bezeichnet zunächst weiter nichts als die Kirche, die dem Volke das Evangelium schuldig ist. Für ihn bleibt es also bezeichnend, daß das Gegenüber zwischen Kirche und Volk gewahrt bleibt. Die Volkskirche geht nicht aus dem religiösen Leben eines Volkes hervor, sondern aus der Sendung ihres Herrn. Sie ist Stiftung, der die Sendung an die Gemeinschaft des Volkes und der Welt eingestiftet ist. Das ökumenische Moment der Kirche ist voll gewahrt worden. Wichern kann sich keine Kirche vorstellen, die nicht katholischen Charakter besitzt. " 5 6 5 Konstituiert wird die Kirche durch die Taufe, und Wiehern geht davon aus, daß in den Getauften der Geist Gottes und Christi zur Wirkung kommt, „so wird der Begriff der Volkskirche schließlich zugespitzt auf die Kirche als pneumatische Gemeinschaft. Die Kirche als Institution soll zugleich Kirche der Gemeinschaft, Gemeindekirche sein. Freilich ist dies lediglich eine Zukunftshoffnung, aber eben doch ein Leitbild, das Wichern bestimmt." 566 Der Staat hat als göttliche Stiftung „sein Eigenrecht und seine Eigenverantwortung" . . . In strenger Trennung der beiderseitigen Einflußsphären und Lebenssphären steht er neben der Kirche. „Die Christlichkeit des Staates und der Kirche werden sich da am reinsten verwirklichen, wo beide sich gegenseitig als auf diesem Fundament eins anerkennen, als wo zugleich beide in Kraft dieser einen Grundlage ihre Gebiete aufs schärfste voneinan-

564 Wichern, Denkschrift. In: Janssen, Wichern, Bd. 3, S. 154. 565 Janssen, a.a.O., S. 37, der daraufhinweist, daß zwar Schleiermacher (Der christliche Glaube, 2. Aufl., 1830, Bd. 2, S. 4) den Begriff „Volkskirche" zum ersten Mal verwendet. „Es ist aber zu beachten, daß es hier nur unbetont und im übrigen als rein technische Bezeichnung fur eine Kirche gemeint ist, die gebietsmäßig den Bereich eines Volkes erreicht. Erst Wichern hat dem Gedanken das Gepräge gegeben, das bis in die Gegenwart hineinwirkt." (Ebd.). Zum Einfluß Friedrich Lückes auf die Herausbildung des Begriffes vgl. Martin Cordes, a.a.O., S. 140 ff. 566 Janssen, a. a. O., S. 38. Die Begrifflichkeit Wicherns darf nicht überinterpretiert werden. Er verwendet die einzelnen Begriffe oft austauschbar.

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der sondern und jeden Übergriff in das Gebiet des anderen um des Gewissens willen meiden. " 5 6 7 Die Kirche kann und darf nicht Staatskirche sein. In dieser Rechtsform ist sie ständig gefährdet. Sie wird zur Dienerin des Staates, zur religiösen Seite des Staatslebens. Zwar hat Wichern nie eine vollständige Trennung zwischen Staat und Kirche gefordert, wohl aber eine strenge Unterscheidung zwischen den beiderseitigen Aufgaben. Die durch die Kindertaufe konstituierte Volkskirche erfüllt ihre angemessene Funktion im Reiche Gottes durch rechte Verkündigung des Evangeliums und die rechte Sakramentsverwaltung. „Damit ist aber die Frage nach dem Amte gestellt. Das Amt der Kirche mit seiner Funktion der Verkündigung und der Sakramentsverwaltung steht für Wichern ohne allen Zweifel im Mittelpunkt seines Denkens. Mit der hohen Schätzung der Sakramente ist bereits die volle und uneingeschränkte Anerkennung des Amtes ausgesprochen. Aber dieses Amt ruft durch Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung selbst die Kräfte des allgemeinen Priestertums hervor. " 5 6 8 „Das allgemeine Priestertum und das Amt heben einander nicht auf, sondern bilden in ihrem rechten Zusammensein erst die Kirche in ihre rechte Gestalt hinein." 569 Wichern konstruiert also keine Polarität zwischen Amt und allgemeinem Priestertum, sondern wahrt entschieden das Amt als Grundlage der Kirche. Aber dieses Amt ist nun seinerseits nicht etwa das alleinige Subjekt des kirchlichen Handelns. Im Glauben, den die Verkündigung durch Wort und Sakrament weckt, arbeitet vielmehr die Gemeinde ihrerseits ebenfalls als Subjekt des kirchlichen Handelns. Sie ist also Objekt und Subjekt des kirchlichen Handelns zugleich - und Wichern hat dies auch ausdrücklich ausgesprochen. Das allgemeine Priestertum geht aus dem Wirken des Amtes hervor; es soll und muß indessen Raum zu eigenständiger Tätigkeit gewinnen. Diese Tätigkeit bezeichnet Wichern als den „Raum der inneren Mission". 570 Noch von einer anderen Seite her wird das allgemeine Priestertum bei Wichern ins Recht gesetzt. In den Trägern des allgemeinen Priestertums sieht er die charismatischen Gaben und Kräfte sich auswirken, von denen Paulus spricht. „Die Persönlichkeit selbst nämlich redet und soll es auch; d. h. das Wort Gottes soll jedesmal eine Tat und die Gabe einer Begabung, eines Charisma sein; nicht zuerst einer Kunst, die man erlernt, wiewohl die Kunst der Rede die Gabe nicht ausschließt. " 5 7 1 U m Raum für das Charisma 567 Mahling, Wichern III, S. 179. 568 Janssen, a. a. O., S. 39. 569 Wichern, Denkschrift. In: Janssen, Wichern, Bd. 3, S. 291. Und vgl. Mahling, Wichern III, S. 517: „Ich verstehe und kenne kein allgemeines Priestertum in der evangelischen Kirche ohne das Amt, und kenne kein Amt ohne allgemeines Priestertum." 570 Janssen, a. a. O., S. 39, unter Verweis auf Mahling, Wichern III, S. 516. 571 Mahling, Wiehern III, S. 1140.

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zu schaffen, fordert Wichern unter Hinweis auf internationale Vorbilder immer wieder die Anerkennung der Laienpredigt. Auch sie kann Aufgabe des allgemeinen Priestertums werden. Vor allem aber wird es die Aufgabe des allgemeinen Priestertums, das weite Feld der sozialen und kulturellen Fragen zu beantworten. Damit taucht nun aber die entscheidende Dialektik zwischen Reich Gottes und Kirche auf: die Kirche als Institution wird immer wieder durchbrochen und in ihrem Handeln durchkreuzt durch das Reich Gottes, das sich zwar der Kirche bedient, aber doch ihr gegenüber frei bleibt. „Die richtige Unterscheidung und Verknüpfung von Reich Gottes und Kirche" 5 7 2 ist geradezu ein Hauptanliegen Wicherns. Dabei ist die Kirche zunächst „die Totalität der geschichtlich gewordenen und noch werdenden Institutionen mit ihren wechselnden Ordnungen und Einrichtungen, wie sie von Menschen gehandhabt werden. Von ihr unterscheiden wir das himmlische Haupt mit seinem Reich, das sich zwar in diese niedrige Gewandung kleidet und dieselbe im göttlichen Wort und Sakrament durchleuchtet, aber seine selbständigen Wege geht und den Weinberg anderen austeilen kann . . . Soweit die äußere Institution der Kirche mit diesen höheren Ordnungen (des göttlichen Reiches, wie sie in der Heiligen Schrift geoffenbart sind) übereinstimmt, so weit verwirklicht sie das Reich Gottes; wo sie von diesen Ordnungen abweicht, widerspricht sie ihm und wird zuletzt seine Widersacherin". 5 7 3 Es kann also ein Gegenüber zwischen Amt und Reich Gottes geben und damit auch eine „Freiheit des Charismas vom Amte, sofern es menschliche Institution ist." 5 7 4 In der Denkschrift kann sich Wichern auch eine Situation vorstellen, in der die Volkskirche geistlich so entleert ist, daß die freien Vereinigungen des allgemeinen Priestertums die Funktion der Kirche übernehmen müssen 5 7 5 und damit zu Repräsentanten des Reiches Gottes in der Weltgeschichte werden. Weil das allgemeine Priestertum durch das Amt geweckt wird, gehört auch das Gebiet der inneren Mission in den Rahmen der Ekklesiologie. Die innere Mission ist ja nichts weiter als der wie von selbst zur Tat werdende Glaube (s. oben unter „Rechtfertigung und Tat (Heiligung)"). Die innere Mission hat also eine dreifache Begründung in der Anschauung vom allgemeinen Priestertum, in der Charismenlehre des Neuen Testaments und in der Tatfolge des Glaubens. Wichern sieht sich in der Entfaltung seiner Anschauungen von der Liebestätigkeit der christlichen Gemeinde in einer Linie mit Luther, Francke, Spener und englischen Vorbildern, ohne jedoch

572 Mahling, Wichern III, S. 942. 573 Ebd., S. 950. 574 Janssen, Wichern, Bd. 3, S. 39f. Vgl. Wichern, Denkschrift. In: Janssen, Wichern, Bd. 3, S. 291. Hier sieht Wichern im Rahmen der inneren Mission glückliches Zusammentreffen von Charisma und Amt möglich. 575 Wiehern, Denkschrift. Ebd., S. 329ff.

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eine direkte Abhängigkeit zu konstruieren; er distanziert sich von allem gefühligen und sektiererischen Pietismus. 5 7 6 Neben diesen theologischen und kirchengeschichtlichen Linien ist für Wicherns Konzept der inneren Mission seine Deutung der Gegenwart entscheidend: „Die tiefste Quelle des Unheils, das über den Staat hereingebrochen ist, liegt in der Entfremdung und dem Abfall des Volkes von dem Wesen und Leben derjenigen Sittlichkeit, die ihr Maß und ihre Regel, wie ihren Grund und ihr Ziel allein im Evangelio hat. Wir sprechen von einer Entfremdung des Volkes von Gott und verstehen unter Volk nicht eine gewisse Schicht der Gesellschaft, sondern das Ganze derselben, alle Stände, die unteren und oberen, alle Parteien, denn jener Schaden, die Wurzel alles Unheils, wirkt in allen mit treibender Kraft. " S 7 7 Diese Deutung der 48er Revolutionen als Offenbarwerden der „verderblichen Mächte" 5 7 8 bestimmt die Aufgabenstellung der inneren Mission. „Als der wilde O r k a n und das vulkanische Beben Europa zu erschüttern begann und auch Deutschland in das Meer der Revolution hinabstürzte und Seuchen, Aufruhr und Krieg die Gerichte Gottes verkündeten, sahen in denselben jene Wartenden die Geburtswehen eines neuen besseren Zeitalters im Reiche Gottes. Als der tiefe sittliche Verfall, die bodenlose E n t f r e m d u n g und der weitverbreitete Abfall v o m Evangelio in zahlreichen Gestalten des Schreckens offenbar wurde und dennoch nur wenige den eigentlichen Feind, der doch schon seit Jahrzehnten und länger den festen Boden unterwühlt hatte, erkannten, war schon seit längst im Schoß eines tiefbegründeten Teils der Christenheit eine Macht erwachsen, die das nun hervorbrechende U n heil in seiner Quelle erkannt und ihm bereits die Axt an die Wurzel gelegt hatte." 5 7 9 Es sind die Erweckungsbewegungen, auf die Wichern hier abhebt und in deren Gegenbewegung gegen das Weltreich der Sünde er nun seine eigenen Pläne stellt. Wie das Weltreich der Sünde bei Familie, Staat und Kirche seine U m s t u r z versuche ansetzt, so m u ß die innere Mission eben hier auch gegensteuern: „Diese Heiligtümer, die in ihr dienenden Ämter und die ihnen angehörenden Güter auch ihresteils in der Kraft und durch Taten des christlichen Geistes zu wahren, in ihnen wieder die Quellen der Wahrheit und des Heils zu öffnen, Christum unter den Massen des von ihm entfremdeten Volkes wieder als den gemeinsamen Herrn und Grund, als das gemeinsame Band und Z e n t r u m dieser dreifachen O r d n u n g - in ihrer Art - zur Anerkennung zu bringen, ist der bewußte Beruf der inneren Mission. " 5 8 0 In der Familie geht es u m die Wiederherstellung der Hausstände in christlich-ethischer wie in wirtschaftlich-sozialer Hinsicht. Im Staat geht es im Anschluß an R o m . 13 darum, die „göttliche Stiftung der Obrigkeit und ihr Recht und die Freiheit des Volkes als in ihr wurzelnd wieder zur Anerken576 Ebd., S. 165f. 578 Ebd., S. 149.

577 Ebd., S. 172. 579 Ebd.

580 Ebd., S. 153.

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nung zu bringen". Zugleich geht es darum, den Staat „zur Anerkennung zu bringen, daß auch seine letzten Lebensquellen in Christo und nirgends anderswo zu suchen sind. V o m Staat erwartet die innere Mission zunächst nichts als die Gewährung des Rechts der freien Assoziation für ihre Zwecke, ohne welche sie nicht zur vollen Wirksamkeit gelangen kann, so wie des Rechts zu j e n e m freien Dienste, der freilich auch verschmäht oder v o m Staat so wenig erzwungen als von der inneren Mission j e aufgenötigt werden kann."581 In der Kirche und nicht neben der Kirche, sondern als Lebensäußerung der Kirche geschieht die Arbeit der inneren Mission. Sie richtet sich darum nur an die Getauften, „und die Getauften gelten ihr nie als Heiden. Denn der eigentümliche Wert der Taufe, als hochheiligen Sakraments, ist ihr u n u m stößlich; sie vergißt es darum nie, daß sie mit solchen zu handeln hat, welchen der Herr im Sakrament sich bereits zugewendet." 5 8 2 Die innere Mission achtet die Grenzen der Konfessionen, ist aber im Tiefsten ö k u m e nisch und universal: „die innere Mission, diese aus Gottes Geist flammende Tatsache der in Christo wurzelnden und waltenden Liebe und Barmherzigkeit der Christenheit, diese Selbstverklärung des alles Verlorene rettenden Gottmenschen" . . . ist „das große praktisch katholische M o m e n t , welches die verschiedenen Kirchen und christlichen Nationalitäten anfängt zu durchdringen und innerlich zu einigen". 5 8 3 Letzter Zielpunkt der Arbeit der innerkirchlichen Mission ist es, dahin zu wirken, „daß zuletzt im Umkreis der evangelischen Kirche kein Glied derselben mehr sei, das nicht das lautere Wort Gottes in rechter, d.h. gerade ihm eignender Weise hörte und die sich ihm darbietende Gelegenheit zu diesem Hören fände, auch ohne sie zu suchen. Es m u ß nicht geruht und nicht gerastet werden mit Erforschung der Mittel und Wege, bis der Weg zu diesem Ziel angebahnt ist; es muß keine Schwierigkeit entgegentreten, die nicht in ein neues Förderungsmittel zur Erreichung dieses Zieles verwandelt w ü r d e . " 5 8 4 Die „Mittel, die zu j e n e m Ziel fuhren können", die Betätigungsfelder der Liebe Christi, die in den Gaubenden die Liebestaten wirkt, müssen nun mitgenannt werden, weil sie ja zugleich Reaktion auf die Deutung der Gegenwart sind. Wichern nennt in der Denkschrift von 1849 die folgenden Gegenmittel i m m e r mit dem Blick auf internationale Vorbilder auch aus anderen Kirchentümern: 1. Unterstützung aller Arbeiten zur Bibelverbreitung; denn: „Die gründliche, radikale Besserung aller Schäden des Volkes ist nicht möglich, wenn nicht das Volk wieder zum Wort Gottes als seiner rechten Lebensquelle zurückgeführt wird".S8S 2. Wiedererrichtung der Hausgottesdienste; dazu als Hilfen Bibellesepläne, die 581 582 583 584 150

Ebd., S. 153f. Ebd., S. 154. Vgl. Wiehern, Unterricht über Innere Mission, a. a. O., S. 423f. Wichern, Denkschrift. A. a. O., S. 155f. Ebd., S. 186. 585 Ebd., S. 187.

Einrichtung von Bibelstunden, Unterstützung aller Bemühungen zur Verbreitung der christlichen Literatur, Einrichtung von christlichen Schwerpunktbibliotheken in den Schulen, Fabriken, Dörfern und Stadtteilen, Unterstützung der Traktatarbeit und die Gründung und Verbreitung christlicher Zeitschriften. 5 8 6 „Allein die Meinung wäre irrtümlich, daß alles, was dem kirchlichen Notstand gegenüber geschehen muß, nur durch das gedruckte Wort erstrebt und erreicht werden könnte. Dies ist freilich der leichteste, aber nicht der alleinige Weg, der zum Ziele führt. Was unsere kirchlichen Zustände vor vielen anderen erfordern, ist die einfache, schlichte, volkstümliche Wieder- und Weiterverbreitung der evangelischen Grund- und Elementarwahrheiten durch solche Personen, die von Haus aus befähigt sind, die Verbindung zunächst des unteren Volkes mit dem kirchlichen Amt und Gottesdienst wieder zu vermitteln." 5 8 7 Also 3. Kolporteure, „die mit Bibeln, Traktaten und guten christlichen Büchern das Volk aufsuchen sollen". 5 8 8 Das englische Vorbild 5 8 9 ist in Deutschland noch lange nicht erreicht. 5 9 0 „Das bloß durch die Buchdruckerpresse vermittelte oder gesprächs- und besuchsweise gebrachte Wort kann aber, gegenüber dem vorhandenen Bedürfnis, wo es darauf ankommt, Tausende und Abertausende wieder zu wecken und für weite brache Strecken des Kirchenlandes vollständige geistliche Bewirtschaftung einzuführen, nicht genügen, es muß die lebendige Verkündigung in unmittelbarer Rede und in andauernder Pflege hinzukommen." Er fordert die Ausbildung und Entsendung 4. der Laienprediger. „Es muß das Evangelium wieder" von den Dächern,, gepredigt, es muß auf den Märkten und Straßen frei angeboten und gepriesen werden, wenn die Massen nicht anders zu erreichen sind; Dies muß geschehen, in neuer kräftiger anregender Weise geschehen, damit wieder alle die Predigt hören, damit, was Tausenden ein veraltetes und wertloses geworden, denselben wieder ein neues und teures Lebensgut werden könne. . . . Unsere Kirche muß in den Besitz des Instituts der wandernden oder Reise- und Straßenprediger gelingen; die Kolporteure und das gedruckte Wort gehen ihnen voran oder folgen ihnen nach oder begleiten sie, so daß die Verkündigung in der eigentlichen Predigt, im Gespräch und in der schriftlichen Form miteinander Hand in Hand wirken. Es versteht sich nach unseren aufgestellten Grundsätzen von selbst und liegt in der Natur der Sache, daß diese Prediger nicht neue Gemeinden bilden sollen; sondern ihre Aufgabe bleibt, dem bestehenden lebendigen Kern der geordneten Gemeinden die abgestorbenen Glieder als neue, frische, gesunde Kräfte zurückzufuhren.... Ihr Amt würde in dem Maße verschwinden, als die Gemeinden und die Kirche wieder genesen würden. " S 9 1 Wichern verweist auf die Anregungen Gustav Werners und Friedrich Fabris, die in die gleiche Richtung zielt. 5 9 2 5. Hilfsprediger und Bethäuser sind notwendig, „da seit Eintritt der Revolutions-

586 Ebd., S. 186-197. 587 Ebd., S. 197. 588 Ebd. 589 Weil der Ursprung der Heiligungsbewegung im angelsächsischen Bereich lag, blieb bei den deutschen Anhängern die Haltung gegenüber allem Fremden zwiespältig. Man sprach von „Ausländerei". Indirekt nimmt auch Christlieb in seiner Rede während der Wuppertaler Festwoche auf diese verbreitete Einstellung Bezug. (Anhang Nr. 7). 590 Wichern, Denkschrift. A. a. O . , S. 200. 591 Ebd., S. 200f. 592 Ebd., S. 202.

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periode das Kirchenregiment u m so viel weniger als früher imstande sein wird, die ausreichende Zahl von Pfarrern anzustellen und Kirchen zu bauen." 5 9 3 6. Es sollen die Einzelgemeinden aktiviert werden, in der Art, daß der „gesunde Teil der Gemeinde" sich „für die innere Mission an der Gemeinde" betätigt. 5 9 4 Der „Geist des kirchlichen Mitarbeitens" soll sich ausbreiten. 5 9 5 7. Speziell für die Arbeit in den Großstädten entwirft Wichern „das H o f f nungsbild der deutschen Stadtmission". Vorbilder bieten ihm Arbeiten der römischkatholischen Kirche in Frankreich und Initiativen in England. Mitarbeiter zu gewinnen, sieht Wichern als lösbares Problem, Er erwartet sie vor allem von Männern „aus höheren Ständen der Gesellschaft" 5 9 6 , die die Führungsrolle übernehmen sollen, wie das in England und Frankreich schon der Fall ist. „Eine zweite Reihe von Arbeitern sind die, welche von ihrem übrigen Beruf die Zeit zu solcher Arbeit abgewinnen müssen, aus allen Ständen und Klassen der Gesellschaft." 5 9 7 Eine dritte G r u p p e bilden die Berufsarbeiter der inneren Mission, vorab die Theologen. „Die innere Mission m u ß zu d e m Zwecke ein M o m e n t der pastoralen Vorbildung werden", indem sie in das Studium und die Kandidatenzeit integriert w i r d . 5 9 8 Für Kolporteure, Stadtmissionare u. a. m u ß ein eigener praxisnaher Ausbildungsgang geschaffen werden. Die soziale Arbeit, die Wichern ebenfalls neben der kirchlichen Arbeit der inneren Mission zuordnet, richtet sich vor allem an die unteren Volksschichten, die besonders der antichristlichen Agitation der Kommunisten ausgesetzt sind. 5 9 9 Wichern sieht auch Schuld der oberen Stände an der schwierigen Lage der A r m e n und empfiehlt u. a. Selbsthilfeorganisation der Hilfsbedürftigen. 6 0 0 Immer bildet die Gegnerschaft des antichristlichen Sozialismus und K o m m u n i s m u s das Gegenüber zur Arbeit der inneren Mission, trotzdem sieht er in dieser Gegenmacht „die entstellten, aber doch wahrheittragenden Z ü g e des Angesichts einer tiefgebeugten, schmerzerfüllten M e n s c h h e i t . . . die sich in sozialer Beziehung nach Erlösung und Wiedergeburt sehnt; sie weiß und versteht es aber noch nicht, soll es jedoch noch erfahren, daß ihre H o f f n u n g nur durch das Evangelium Erfüllung zu erwarten h a t . " 6 0 1 Ausfuhrlich n i m m t W i e h e r n in der D e n k s c h r i f t zur Frage der Organisation der inneren M i s s i o n Stellung, w o b e i er auf die s c h o n b e s t e h e n d e n W e r k e Bezug nimmt. D i e O r g a n i s a t i o n stellt er i m B i l d e des O r g a n i s m u s vor, in d e m es kleinere u n d größere Einheiten gibt: persönliche Arbeit Einzelner, freie V e r e i n e für lokale E i n z e l z w e c k e , Vereine für innere M i s s i o n auf O r t s e b e n e ( G e m e i n d e verein), konföderierte Vereine auf Orts-, Kreis- oder P r o v i n z e b e n e . 6 0 2 S p e zialfall sind die Stadtmissionen, die innerhalb der Parochialgrenzen arbeiten sollen, Provinzialvereine für innere M i s s i o n , landeskirchliche Vereine u n d 593 Ebd., S. 203. 594 Ebd., S. 206. 595 Ebd., S. 207. 596 Ebd., S. 216. 597 Ebd., S. 217. 598 Ebd., S. 218. 599 Ebd., S. 229. 600 Ebd., S. 247. 601 Ebd. Vgl. Wichern, Kommunismus und die Hilfe gegen ihn. (1848). In: Meinholdt, Wichern, Bd. 1, S. 133-151. Hier wird besonders deutlich, daß Wichern in dem Gegner zugleich das Arbeitsfeld sieht. 602 Wichern, Denkschrift. In: Janssen, Wiehern, a. a. O., S. 306-313. 152

zuletzt ein allgemeiner Kirchenmissionsverein als Zusammenschluß der landeskirchlichen Vereine mit einer jährlichen Konferenz. 6 0 3 Wie verhält sich nun diese erhoffte Organisation zu den vorgegebenen kirchlichen Strukturen? Muß es nicht zu Spannungen, ja zum Riß quer durch die Gemeinden kommen? Wichern setzt ganz auf das freiwillige Zusammenspiel von Amt und Charisma von kirchlicher Institution und allgemeinem Priestertum. Eine Unterordnung der inneren Mission unter die Kirchenverwaltung kann es nicht geben, das würde die freie Entfaltung des Geistes hindern. Hinter der Grundstruktur der inneren Mission als „freier Verein" steht die durch die Verkündigung ausgelöste Tatwirkung des Liebesgeistes Christi. Wichern rechnet jedenfalls damit, daß es auch in den Kirchenverwaltungen Christen gibt, die von diesem Geist getrieben sind und so die Sache der inneren Mission zur Sache der Kirche als Institution machen. „Die letzte Folge dieses freien Bundes zwischen Amt und innerer Mission wäre die immer völligere kirchliche Organisation derselben, geboren aus der freien Einigung des allgemeinen Priestertums mit dem Amt, wo beide einander die der Kirche nötige Handreichung tun, in welcher die Verjüngung der Kirche sich immer offenbarer vollziehen und dieselbe zur Volkskirche ausgeboren werden kann. So könnte auch das Kircheninstitut wieder um so sicherer in den Besitz des großen Gutes kommen, das in dem Zusammentreffen der Gabe mit dem Amt besteht." 6 0 4 Den Konfliktfall spielt Wichern da durch, wo sich ein Prediger der inneren Mission verschließt: „Wir sind hier immer davon ausgegangen, daß der Prediger dem Gemeindeverein mit angehört, und zwar in derjenigen freien Verbindung, welche gerade das Zeugnis seiner Liebe zur Gemeinde und zum Amt, das er in der Gemeinde verwaltet, ist. Schließt der Prediger sich aber aus oder widersteht er gar der derartigen Tätigkeit, dämpft er den Geist, der sich in dieser Gestalt in der Gemeinde betätigen will, so ist er selbst derjenige, welcher das bessere Gedeihen des Gemeindelebens hindert und dem Amte schadet. U m solches Nichtanschlusses willen darf aber die Arbeit nicht unterbleiben, sondern sie wird dann von denjenigen Gemeindemitgliedern, die diesen Beruf der Christen gegenüber dem Notstand erkennen, unternommen werden; aber nun u m so viel vorsichtiger, damit nicht die Gemeinde darüber verstört und damit alles vermieden werde, was Absonderung und Sektiererei veranlassen könnte. Diese Gefahr könnte entstehen, je mehr der Träger des Amtes sich grundsätzlich von der Gemeindearbeit absondert" .. . 6 0 S Es ist sicher nicht zufällig, daß Wichern im Anschluß daran auch klarstellt, daß dem Pfarrer nicht qua Amt automatisch die Leitung der örtlichen Arbeit der inneren Mission zusteht: „Es muß derjenige gesucht werden, der fur das „Amt" die „Gabe" (das Charisma) und die Zeit hat; ist dies der Pfarrer, so tue

603 Ebd., S. 334.

604 Ebd., S. 329.

605 Ebd., S. 311.

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er freudig, was dieses seines Amtes ist. Ist er es aber nicht, so freue er sich des Herrn, der in die Gemeinde solchen Reichtum der Gabe gegeben hat. " 6 0 6 Aber auch die Leitungsaufgabe der Laien hat ihre problematische Seite. Manche Arbeit lebt nur aus der Aktivität einzelner und wenn diese ausfallen, bricht auch die ganze Arbeit zusammen; denn der Organismus der inneren Mission „ist kein Mechanismus, der durch ein Gesetz, Befolgung von Statuten usw., sondern eben ein Organismus, der lediglich durch eine ihm entsprechende, ihn füllende Geistesarbeit gehalten und getragen werden kann. Die größte Kunst des Organisierens besteht darin, den Geist so zu gestalten, daß er durch den Organismus, als eine belebende und belebte, Geist vermittelnde Gliederung, weiterlebt, indem in diesen Organismus die Veranlassung gelegt wird, daß sich die Gabe des Organisierenden multipliziere. Die Kraft der Sache m u ß nicht in der einen Person, sondern durch diese in dem einen Geist, der das Ganze trägt und dann in ihnen Gaben weckt und Personen bildet, ruhen. " 6 0 7 Unausgeglichen bleibt hier das freie Wirken des Geistes neben einer zu bewerkstelligenden Übertragung des Geistes, die Gestaltung des Geistes durch Menschen, stehen. In dem von Wichern erhofften Falle gelingt es aber, den kirchlichen Institutionen, die Sache der inneren Mission zu ihrer eigenen Sache zu machen und so zu einer Erneuerung des Kirchenwesens bis hin in eine N e u oder Umgestaltung der Verfassungsstruktur der Kirche. „Das kirchliche Institut, auch in seiner obersten Spitze, würde zuletzt durch den Geist der Liebe veranlaßt werden, sich diese freien Liebesämter als freie Hilfen der Kirche und als schönste Zierde des Ganzen in ihr verfaßliches Leben hineinzubilden. " 6 0 8 Daß diese Umgestaltung eine deutliche Kritik an dem jetzt bestehenden Kirchenwesen bedeutet, erläutert die auf die „oberste kirchenverfaßliche Stelle" gerichtete Erwartung: „Was die innere Mission dort (beim Pfarramt) hoffen muß, nämlich die Anerkennung der nichtamtlichen, sondern freien Verbindung zwischen dem A m t und der inneren Mission, muß sie hoffen, hier, an der ersten Kirchenstelle, anerkannt zu sehen in der Kraft und Fülle des Geistes, der alle Träger des Amtes der Kirche durchdringen soll, und zwar in der Form eines Zeugnisses, eines fortgehenden Zeugnisses für das Werk der in der Gemeinde erstehenden oder zu erweckenden christlichen Liebe, eines Zeugnisses gegen die ganze Kirchengenossenschaft.609 Dies Zeugnis könnte aus keinem anderen Geist geboren werden als aus dem Geist, der zugleich die Buße und die Liebe erwirkt: die Buße, die sich vor dem Herrn

606 Ebd., S. 312, unter Anspielung auf Calvins Vier-Ämter-Lehre. 607 Ebd., S. 318f., Anm. 7. 608 Der hier deutliche Organismusgedanke (Erbe der Romantik, Schelling, Oetinger) war auch schon bei Fabri begegnet. 609 Hervorhebung von mir.

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über das bisherige Versäumnis der Arbeit in der Kirche selber richtet: die Liebe, die in diesem Zeugnis in die Gemeinden hineinströmt." 6 1 0

Implikationen des heilsgeschichtlichen Konzepts Das Konzept Wicherns zur Erfassung der Geschichte m u ß in engem Zusammenhang damit gesehen werden, daß es der Legitimierung der Arbeit der inneren Mission dienen soll. Von daher ist seine Konstruktion der Geschichte des Reiches Gottes bestimmt mit seinen Interpretamenten: Diakonat Gottes und Jesu Christi, die Liebestat als Tatseite des Glaubens, einerseits die revolutionäre Bedrohung, andererseits die Chance eines neuen Zeitalters im Reich Gottes. Durch Christus als die Mitte aller Zeiten gewinnt Wichern nicht nur die Mittelachse in einer verlaufszeitlichen Vorstellung von Kirchengeschichte, sondern auch ein inhaltliches Prinzip zur Bewertung von geschichtlichen Vorgängen. Die gesamte Kirchengeschichte kann er als Material heranziehen, wenn es darum geht, die Linien des jetzt geforderten Tatchristentums zurückzuverfolgen. Dabei sieht er aber durchaus auch kritisch die Grenzen und das Versagen früherer Epochen. Es bleibt bei der Dialektik von gelingendem und mißlingendem T u n in der Geschichte der Kirche, ein Gang auf der Weltebene, der v o m unverrechenbaren Fortschreiten des Reiches Gottes begleitet wird. Wichern muß darum wedereine Kirchengeschichte als Verfallsgeschichte noch als Erfolgsgeschichte k o n struieren. Kirchengeschichte und Weltgeschichte sind miteinander in dem Herrsein Christi verklammert. Letztlich ist diese Geschichte, auch wenn es durch Kämpfe geht und durchs Gericht, Heilsgeschichte. Ein Heil, das der Herr selbst für die ganze Menschheit herauffuhrt. Mit dem Gerichtsgedanken vermeidet Wichern die sonst naheliegende Vorstellung von einer Wiederbringung aller Dinge. Bei ihm steht am Ende das Idealbild der apostolischen Zeit wieder auf: „Wenn in Z u k u n f t ein gedeihliches Zusammengehen von A m t und Charisma erreicht sein wird, . . . schließt sich nicht hier die Geburtsstätte der apostolischen Diakonie auf? Wir sagen apostolischen, denn es will uns bedünken, als ob das, was für heute wirklich möglich ist, die apostolische Diakonie noch nicht ist; zu ihr gehört nicht bloß das „zu Tische dienen", sondern der ganze Armendienst auch mit der Verkündigung des Gottes Worts aus der Fülle des Heiligen Geistes und der Kraft. So wird sich auch heute der Dienst an den A r m e n gestalten müssen zu einem Zeugnis für sie gegen die Leugner des Glaubens und die Verführer des Volks, wie dort Stephanus den Widersachern nicht bloß im Rat, sondern auch in Schulen und Versammlungen der Ausländer und Gebildeten widerstand, in seinem A m t als Diener und Bewahrer der Armen, die ihm wie seinen Genossen anvertraut waren. In demjenigen, was die 610 Wichern, Denkschrift. In: Janssen, a. a. O., S. 328.

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innere Mission erfleht, liegt nicht ausschließlich dies, aber doch zugleich auch nebst anderem der Anfang solcher apostolischen Diakonie, deren erster Träger, mit wie eines Engels Angesicht, dies A m t mit dem Tode versiegelt hat. Es gilt, dies Siegel wieder zu lösen! So hebt die Kirche den Schatz, der ihr sich in der inneren Mission erschließt, und ihre Z u k u n f t wird der Herrlichkeit wieder ähnlicher werden, die sie hatte, als sie unter apostolischer Pflege sich täglich mehrte! Allein dies scheint ein fernes, wenn auch gehofftes Ziel, nach welchem die innere Mission sich streckt, der Kirche zu Dienst bereit, auf daß sie dies Ziel, so Gott es will, erreiche! Die H o f f n u n g kann sie nicht lassen!" 611 Mit seinem heilsgeschichtlichen Konzept gelingt es Wichern einerseits ganz in den gegenwärtigen Strukturen zu arbeiten, zugleich aber an ihrer Verbesserung mit einem gewissen Ziel zu arbeiten. Als Schlüssel für die Verhältnisse dient ihm seine Interpretation der Krise: Je mehr sich das Weltreich der Sünde regt, desto mehr gibt es auch im Reiche Gottes zu tun. Seine Zeit war für ihn immerhin die, in der der Anfang der apostolischen Diakonie und damit der Beginn der letzten Zeit eingeläutet wurde.

Die Implikationen fir den Gebrauch der Bibel Der Biograph Wicherns, Martin Gerhardt, verweist auf eine Notiz Wicherns am Abschluß seines Theologiestudiums in seinem Tagebuch: „Seit mich das Streben bewegt, die Lehre von der Versöhnung allein aus der Schrift, unabhägig von allen Zutaten bis 1831, zu erkennen, habe ich in dieser Hinsicht oft unseren Herrn gebeten, er möge es mir nicht fehlen lassen an der Gabe der Auslegung und der heilsamen Erkenntnis seiner Worte." 6 1 2 Wichern wird zum „schlichten Bibeltheologen" 6 1 3 , der nichts weiter will, als sich der Autorität der Heiligen Schrift unterwerfen. 6 1 4 Z u einer kämpferischen Absage an die Theologie als Wissenschaft ist es bei Wichern nicht gekommen, wohl aber zu gelegentlichen kritischen Bemerkungen wegen ihres mangelnden Praxisbezuges. 6 1 5 Wichern hat sein Schriftverständnis 611 Ebd., S. 329f. 612 Gerhardt, Der junge Wichern, S. 248. 613 Ders., Wichern I, S. 89. 614 Janssen, Wichern, Bd. 1, S. 20. 615 Vgl. Wiehern, Beleuchtung des Theologen und seines Briefes an einen Nichttheologen fur praktische Hamburger von einem praktischen Hamburger. Meinholdt, Wichern, Bd. 1, S. 17-34. Deutlicher noch ders., Das rationalistische Papsttum und das Recht der protestantischen Gemeinde gegen dasselbe nebst etlichen anderen die Praxis betreffenden Stücken. Auf Veranlassung „des zweiten Briefes an einen Theologen an einen Nichttheologen" infolge „einer Beleuchtung" etc. abermals fur praktische Hamburger von einem praktischen Hamburger. (1839), ebd., S. 35-56, wo klar wird, daß er nicht gegen die Theologie allgemein polemisiert, sondern nur gegen „die Rationalisten". Vgl. auch ders., Denkschrift, in: Janssen, Wichern, Bd. 3, S. 167.

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nicht systematisch entfaltet. Es muß aus seinen auf die Praxis gerichteten Schriften erhoben werden. Im Zusammenhang mit der Frage der religiösen Unterweisung wird das Verhältnis von Reichs-Konzeption und Bibel deutlich: „Das Ziel des biblischen Geschichtsunterrichts muß es sein, nachdem zunächst soviel irgend möglich die einzelnen Geschichtsteile bekannt geworden und die Vorführung der großen Persönlichkeiten des Alten und Neuen Testaments, vor allen Dingen aber der einzigen Person des Erlösers, als das Α und Ο von allem, geschehen ist, dann auch soweit irgend möglich . . . den organischen Zusammenhang dieser Geschichte des Reiches Gottes zum Bewußtsein zu bringen. Die Erkenntnis des Zusammenhangs dieser mit innerer Notwendigkeit fortschreitenden Tatsachen des Heils, welche auf eine immer reichere Erfüllung hindrängen, erzeugt ihresteils mehr als anderes die Gewißheit, daß es sich hier um eine Geschichte und um die Entfaltung einer von Gott geoffenbarten Wahrheit handelt; sie schließt in sich den Geist, der auch in den Hörern . . . wieder lebendig werden soll und will. Die damit zusammenhängende Aufgabe ist, . . . bewußt zu machen, daß die in dieser Geschichte im einzelnen und im ganzen waltende Hand dieselbe ist, welche auch die Geschichte des einzelnen Menschen leitet, und in demselben dieselbe Geschichte erzeugen will, die in der Person Christi endet, weil alle sollen zur Erkenntnis der Wahrheit und damit zur lebendigen Erkenntnis Christi geführt werden!" 6 1 6 Es ist deutlich: die Gewißheit kommt aus der Kenntnis des Heilsplanes Gottes. Die biblischen Texte sollen den Stoff zu einer unmittelbaren Identifikationsmöglichkeit bieten. Man muß diese eine hermeneutische Voraussetzung Wicherns kennen, um die andere richtig einordnen zu können: „Von dem lebendigen Christus kann nur lebendig, d. h. lebenwirkend zeugen, wer mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört, was er (Christus) selbst gelebt, gesehen, gelehrt und getan hat und noch tut." 6 1 7 Die Begegnung mit dem Christus zu ermöglichen, ist das letztlich seelsorgerliche Ziel aller Beschäftigung mit der Bibel, wobei auffällt, daß Wichern auch da, wo er den Jesus der Evangelien meint, vom Christus spricht: „Von allem, wohin in unseren Tagen auf dem kirchlichen Gebiete aller Augen sich richten, ist das Höchste und Bedeutungsvollste, nämlich die Person Christi selbst in ihrer Einzigkeit, und zwar die ganze geschichtliche Erscheinung derselben, wie Christus in die Welt gekommen, geleibt und gelebt, geredet und gewirkt, gelitten, gestorben, auferstanden und gen Himmel gefahren ist." 6 1 8 Das ist eine Geschichte, „in der alles auf das einzelne und einzelnste ankommt". Es gibt „nichts Wichtigeres als diese Erkenntnis der reinen, einfachen, lebendigen Geschichte Christi, einer Geschichte die die Lebens616 Wichern, Rettungshäuser als Erziehungshäuser in Deutschland. Kap. XI: Die religiöse Bildung und Pflege. In: Janssen, Wichern, Bd. 2, S. 297 f. 617 Wichern, Die Aufgabe der evangelischen Kirche, die ihr entfremdeten Angehörigen wiederzugewinnen. In: Janssen, Wichern, Bd. 1, S. 233. 618 Ebd., S. 232.

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macht aller Geschichte jedes einzelnen Menschen werden will. . . . Die genaue Kunde dieser Geschichte würde auch dahin fuhren, zu verstehen, wie das Leben Christi das Fundament alles Lebens und aller Lehre der Kirche ist. Wäre aller der leidige heute wieder aufgelebte theologische Konfessionshader in unserer Kirche möglich, und könnte er, was er wirklich schon wieder tut, hineinwirken in die Gemeinden und in die Gemüter der Gläubigen, sie zu zertrennen, wenn man durch das Leben Christi die Bekanntschaft mit Christo gemacht, wie vor ihm alles dergleichen als trennende Macht nicht zu Worte k o m m e n , nicht stehen und nicht bestehen kann? Wäre es bei solcher persönlichen Bekanntschaft noch möglich, daß die Gemüter sich durch die Angriffe jener leichtfertigen Kritik bewegen ließen und nicht vielmehr dadurch noch fester gestellt würden? M u ß nicht derjenige, welcher die Person Christi als solche in ihrer Herrlichkeit erkannt hat, selbst zu einer Lebensquelle und zu einem unüberwindlichen Zeugen der in Christo erlebten Wahrheit Gottes auch für die der Kirche Entfremdeten werden? . . . Nicht was wir etwa Geistreiches über ihn hören, sondern er selbst in seiner Niedrigkeit und Hoheit, in seiner D e m u t und Gottesherrlichkeit ist das Leben und das ewige Leben." 6 1 9 Die Wahrheit Gottes in Christus soll in der Begegnung mit den biblischen Texten erfahren, gehört und gesehen werden. Keine geschichtliche Distanz m u ß überbrückt werden, der Anschluß an die Geschichte des Reiches Gottes in Christus gelingt direkt: Das Wort Gottes ist „nie ohne den Geist Gottes; derselbe waltet in diesem Wort mit seiner Freiheit und seinem Reichtum, und zwar für diejenigen, welche in der ihnen von Gott verliehenen, sie konstituierenden Freiheit willens und imstande sind, entweder das Wort anzunehmen oder dasselbe zu verwerfen, zum Glauben zu k o m m e n oder sich von ihm weg, beziehungsweise gegen ihn zu wenden." 6 2 0 Es entsteht ein ideales Bild: Wer sich auf die Seite des Reiches Gottes gestellt hat, steht in Eintracht mit den anderen, die ebenfalls U m g a n g mit Christus pflegen und alle zusammen praktizieren die Tatseite des Glaubens. Störungen sind in diesem Bild der Harmonie nicht vorgesehen. Es liegt wohl an dem strengen Dualismus seiner Reich-Gottes-Konzeption, daß Wichern kaum biblische Texte zum Thema Sünde traktiert. U n t e r den gegenwärtigen Aufgabenstellungen ist er mehr an dem interessiert, was für die Aufgaben der inneren Mission auf der Seite des Reiches Gottes im Alten und Neuen Testament vorabgebildet ist und k o m m t so zu einer typologischen Auslegungsmethode, 6 2 1 wie ja auch oben schon deutlich geworden ist, daß das Leben Christi ein Vorabbild für das Leben jedes Einzelnen ist. Im Zusammenhang seiner Vorschläge fur eine Reform des Strafvollzugs gerät 619 Ebd., S. 233. Zu den Streitigkeiten um kirchliche Union und Kirchenverfassung, auf die Wichern anspielt, vgl. Kurt Aland, Geschichte der Christenheit, Bd. 2, S. 295-301. (Erster Überblick). Ausfuhrlich: Besier, Preußische Kirchenpolitik, passim. 620 Ebd., S. 288. 621 Zum Inventar der Methoden der Heilsgeschichtler vgl. Weth, a. a. O., S. 119-136.

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Wichern so die Bibel zum Anschauungsbuch: „Das rückwärts strahlende Licht der in Christi geoffenbarten Wahrheit fuhrt uns in die Geschichte des in seiner Art unvergleichlichen, ehrwürdigen, erbadeligen Volkes, das durch die Verwandtschaft mit diesem seinem ewigen, gekrönten Haupte in die Geschichte aller Reiche der Welt bedeutungsvoll verflochten war und bleibt und die in seiner Entwicklung bis zur Erscheinung Christi, namentlich da, w o es mit der Geschichte unserer Völker verknüpft wird, merkwürdige Blicke in das Los der Gefangenenwelt eröffnet. . . . Für uns ist hier von besonderem Wert, daß in diesem Volk zuerst die Gefangenschaft, das Gefangensein in so hoher Bedeutung hervortritt und in das Licht des göttlichen Reiches gestellt w i r d . " 6 2 2 Das erste Gefängnis der Weltgeschichte wird mit dieser Sicht das des Potiphar in Ägypten, der erste Gefangene Joseph, der erste „Pfleger der Gefangenen stellt sich hier uns dar, es ist Jehovah selbst" und Joseph wird der „erste menschliche Gefangenenpfleger". „Dies erste Sichtbarwerden des Fingers Gottes in den Gefängnissen zeigt aufkeimende Gnadengedanken, die einst in größerer Reife an den Orten der Strafe offenbar werden und Früchte tragen sollten. " 6 2 3 Das erste nationale Gefängnis w u r d e für Israel Babylon und in Bezug auf Christus heißt es: „Sein ganzes öffentliches Leben selbst aber war von Anbeginn an mit dem Vorgefühl einer ihm bevorstehenden Gefangenschaft und eines ihm drohenden obrigkeitlichen Gerichts erfüllt. " 6 2 4 Letztlich geht es bei der Schriftbetrachtung Wicherns u m die Erhebung des ,idealen Gehalts' u m die ,ewige Wahrheit Gottes'. 6 2 5 Weil er das Prinzip des Reiches Gottes kennt, wird ihm die Bibel zur Illustration der vorab erkannten Wahrheit. In dieser Weise bestimmt, wie bei der theosophischen Reich-Gottes-Konzeption, die Einsicht in den Gang der Weltgeschichte den U m g a n g mit der Bibel. Die Verkündigung des Gotteswortes setzt, findet sie Glauben, den Anfang für solche höhere Einsicht.

Implikationen für die Wahrnehmung der Wirklichkeit Der strenge Dualismus zwischen Reich Gottes und Weltreich der Sünde, der sich auch i m Einzelnen wiederholt, hat wie oben schon angedeutet Folgen. Zuerst für die Persönlichkeit des einzelnen Glaubenden und dann für die Gemeinde der Glaubenden. Da sie dem Weltreich der Sünde enthoben sind, bleibt im Prinzip für den Bereich der Anfechtung kein R a u m mehr. Es entsteht, ohne daß Wichern sich dessen bewußt ist, die Projektion einer in letzter Konsequenz sündlosen idealen Gemeinde, und es ist darum nicht 622 Wichern, Die Behandlung der Verbrecher. In: Janssen, Wiehern, Bd. 3, S. 55. 623 Ebd. 624 Ebd., S. 58. 625 Ebd., S. 59 f. Vgl. Wichern, Die Aufgabe der evangelischen Kirche, die ihr entfremdeten Angehörigen wiederzugewinnen, a. a. O., S. 233.

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erstaunlich, wenn Wichern immer wieder einmal zu der Forderung einer Trennung der geistlich gesunden Gemeindeglieder von der übrigen Gemeinde k o m m t . N u r in dem gläubigen, aktiven Teil der Gemeinde verwirklicht sich das Reich Gottes. Die übrige Gemeinde hat aber schon in der Taufe eine Gnadenzuwendung erfahren, die sie mit dem erstgenannten Teil verbindet. Trotzdem ist der qualitative Unterschied groß, und Wichern spürt ihn im Laufe der Jahre immer mehr, daß er schließlich gerade auf der sakramentalen Ebene zu einem Trennungsvorschlag k o m m t . Die Zulassung zum Abendmahl soll nicht mehr automatisch mit der Konfirmation erfolgen, sondern zu einem neuen kirchlichen Akt werden. „Es bleibe die Zeit, in der dieser Akt eintreten soll, für jeden gänzlich frei und finde erst dann statt, wenn der einzelne das Verlangen hat und den Willen ausspricht, als Abendmahlsgenosse volles Glied der Gemeinde zu werden." Mancher wird spät, mancher „vielleicht gar nicht k o m m e n : es ist aber besser, gar nicht, als unwürdig am Tische des Herrn zu erscheinen. Das Resultat würde die Bildung einer Abendmahlsgemeinde. ... " 6 2 6 Seine Konstruktion von der w a h ren christlichen Gemeinde geriet in Widerspruch zur tatsächlich existierenden, aber er war nüchtern genug, das ideale Bild und die Realität in der Praxis auseinanderzuhalten. 6 2 7 Schwerwiegender noch wirkt sich die dualistische Anlage seiner Geschichtskonzeption auf die Wahrnehmung der Zeitgeschichte aus. Alles, was sich gegen die göttlichen Stiftungen Familie, Staat und Kirche richtet, kann nur dem Weltreich der Sünde entstammen. Tertium non datur! So gerät ihm der ganze gesellschaftliche U m b r u c h , der mit der industriellen Entwicklung in der Mitte des Jahrhunderts einhergeht, zu einem einzigen widergöttlichen Aufstand. Im Zusammenhang der Arbeit der inneren Mission im Reich Christi erläutert er die Christlichkeit des Staates: „Die christliche Atmosphäre, in welche seit Stiftung seines Reiches nach und nach alle Gebiete des Lebens der Völker und der einzelnen, bewußt oder unbewußt, die anerkennend oder dennoch widerstrebend, aufgenommen sind, ist die Region, in welcher die innere Mission in vielfacher Gestaltung frei und schöpferisch geboren wird, um, die Sünde strafend, zum Leben dienend, verklärend, heilend, neues Leben zu spenden. Sie erfaßt die in Christo g e w o n nene und unzerstörbare Einheit des Lebens in Staat und Kirche, in Volk und Familie, in allen Gliederungen der christlichen G e s e l l s c h a f t . " . . . 6 2 8 Als tiefste Ursache der Krisis, die sein Zeitalter erlebt, sieht er in der „Entfremdung des Volkes von Gott". 6 2 9 Diese ist eine Folge der bewußten, langjährigen Arbeit des Weltreichs der Sünde. 626 Ebd., S. 249f. Wichern hat diesen Vortrag auf dem 15. Kirchentag, am 2. September 1869, gehalten. Er löste eine leidenschaftliche Diskussion aus, an der sich auch Andreas Graf von Bernstorff und Theodor Christlieb beteiligten. Wichern mußte in diesem Zusammenhang den Vorwurf des Donatismus abwehren. Ebd., S. 251. 627 Vgl. Janssen, Wiehern, Bd. 1, S. 20f. 628 Wichern, Denkschrift, a. a. O., S. 151. 629 Ebd., S. 172.

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„Diese antichristliche Bewegung hat sich scharf und klar zugespitzt und ihre praktischen letzten Ausläufer in dem Kommunismus gefunden; . . . Der Kommunismus, der, sei es mit der Kälte des Hohns oder mit der Wut des Fanatikers oder der Glätte des Heuchlers, nicht bloß das Christentum von sich wirft, sondern auch den Rest des Glaubens im Heidentum für den noch zu vertilgenden Rest der menschenverderbenden „Unsittlichkeit" erklärt, hat den durch jene Sünden im Volke bereiteten Boden erst instinktmäßig und dann planmäßig benutzt, um die Macht der sich widerstrebendsten Leidenschaften zum Kriege gegeneinander aus dem Abgrund der von Gott verlassenen Selbstsucht heraufzubeschwören und so das Gesamtleben des Volkes zu zerklüften. (Wiehern zielt auf Furcht, Neid und Zorn zwischen den Besitzenden und den Armen.) Es ist die Systematisierung der sündlichen Gelüste, der diese mit all ihren dem Fleische schmeichelnden Folgen Gott gegenüber zu rechtfertigen wagt, und dann mit der ganzen Wucht der Gottund Sittenlosigkeit den Ruin der alten Menschheit versucht, um eine angeblich neue, bessere Welt zu schaffen. Die faktische innere Auflösung des Familienlebens ist ihm schon der Anfang der Verwirklichung seiner Hoffnung, die darin besteht, daß alle und jede Ehe werde vernichtet werden, da sie ihm für etwas „Unsittliches", für die Vernichtung der „Freiheit" gilt. Die Aufhebung des Unterschiedes der göttlichen Ordnungen von oben und unten, von Regierenden und Regierten, Eltern und Kindern, Herren und Knechten, Obrigkeiten und Untertanen folgt aus der Auflösung der Familien von selbst und erscheint dem Kommunismus als ein umso gewisser erreichbares Ziel, als die Sünde, welche an dieser Ordnung rüttelt, in unserem Jahrhundert schon längst gar mächtig geworden ist. Zur Verwirklichung dieser anarchischen Zukunft führt am sichersten die mit so viel Glück versuchte und weitergeführte Zerspaltung der Stände, soweit ihr Unterschied durch das verschiedene Maß des Besitzes begründet ist. " 6 3 ° Die große Migration in die industriellen Ballungsgebiete und die Änderungen im Wirtschaftsleben sieht Wichern wohl, es steht ihm in seiner Geschichtsdeutung aber nur sein religiöses Instrumentarium zur Verfügung, so daß er keine, der komplexen Situation angemessene, Deutung seiner Gegenwart findet. 6 3 1 Zugleich kommt seine Ahnung der anbrechenden Endzeit mit ins Spiel: 630 Ebd., S. 229f. 631 Der Sachverhalt muß nüchtern eingeschätzt werden. Er hängt mit der oben in der Einleitung konstatierten Perspektivität jedes Menschen seiner Zeitgebundenheit zusammen. Ausgewogen ist die Beurteilung bei Beyreuther, Kirche in Bewegung, S. 125-129. „Der Traum vom christlichen Volk, vom „Corpus Christianum", war bei ihm noch nicht ausgeträumt. Man muß dabei freilich die Gesamtsituation im Auge behalten. Die Romantik hat damals vielen Zeitgenossen - und Wichern war und blieb mit seinem Herzen ein Romantiker in einer von bitteren Enttäuschungen erfüllten Übergangszeit die Flucht in eine „romantische Vergangenheit", in die Welt des Mittelalters, angeboten. . . . Wir haben recht behutsam zu urteilen, wenn man uns nicht Unkenntnis des 19. Jahrhunderts, seiner Grundkräfte wie seiner Leistungen zeihen soll. . . . In der Geschichte der Volksmission war Wichern die überragend

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„Des Volkes Stimme heißt nun Gottesstimme, weil das Volk selbst Gott geworden. Die Gottesleugnung und Christenverachtung steigerte sich bis zum Satanismus. Uralte apostolische Weissagungen v o m Menschen der Sünde und des Verderbens, der sich über Gott und alles, was Gottesdienst heißt, überhebt, standen plötzlich auf diesem dunklen Hintergrund (der Revolutionstage) als hell strahlendes, warnendes, zur Buße mahnendes Gotteswort inmitten der wild aufschäumenden Sünde und ihres sichtbar werdenden Verderbens." 6 3 2 Wichern m u ß auch gar nicht wirtschafts- oder sozialpolitische Hife erwarten, denn nach der Dialektik der Weltgeschichte ist der Anfang zu Heiligung schon mit dem Ausbruch des Bösen gegeben: „Der Tag der Ausgeburt der Revolution sollte der Tag der eigentlichen Geburt der inneren Mission werden. - Mit dem Schluß der Befreiungskriege in Deutschland beginnt die heimliche Arbeit des nun offenbar gewordenenen Umsturzes, bis dahin von wenigen beachtet und gekannt und deswegen nur selten gefürchtet und lediglich mit polizeilichen Waffen bekämpft. Demselben ganz parallel entwickelte sich von demselben Zeitpunkte an innerhalb unserer Kirche bei wachsender Predigt des Evangeliums die Glaubensmacht der Liebe. . . . " 6 3 3 Der Charakter der Strategien, die Wichern entwickelt, erweist sich bei genauer Lektüre der Begründungen immer als Gegenmaßnahme gegen die Aktionen der Macht der Sünde; sie sind in dieser Fixierung von vornherein verengt. Biographisch hat für seine Einstellung das Erlebnis der Revolution von 1848 den Ausschlag gegeben. 6 3 4

große Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts. Er machte der Kirche deutlich, daß die missionarische Aufgabe im eigenen Lande die ureigenste und immer noch unerledigte Sache war"... Im Rahmen dieser Arbeit kann es nur um die Erhebung der Grundgedanken Wicherns aber nicht um ihre theologiegeschichtliche Einordnung gehen. Notwendige, knappste Hinweise sind gegeben. Gerade die Defizite in den Anschauungen Wicherns müssen in ihren Auswirkungen fur die spätere Gemeinschaftsbewegung mitbedacht werden. 632 Wichern, Denkschrift, a. a. O., S. 293. 633 Ebd., S. 292. 634 „Seine Deutung der Revolution von 1848 als eines atheistischen Aufstandes aus der Tiefe war eine Fehlanalyse." Beyreuther, a.a.O., S. 127. Beyreuther erliegt an dieser Stelle dann doch der Gefahr, von heutigen Einsichten her zu spekulieren, was Wichern möglich gewesen wäre. Vgl. Janssen, Wiehern, Bd. 1, S. 15.

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VI. Der Heils weg der Heiligungsbewegung 1. Voraussetzungen Nachdem bisher die pietistisch-süddeutschen und die entsprechenden norddeutschen Hintergründe der Abfassung des Inhalts des Einladungsschreibens zur ersten Gnadauer Konferenz dargestellt worden sind, bleibt nun noch die besonders betonte und so in keiner der bisher untersuchten Traditionslinien formulierte Anschauung von der Heiligung zu untersuchen. Dabei ist es von Nachteil, daß auf keine ausreichende Darstellung der Heiligungsbewegung zurückgegriffen werden kann. Sie ist auch im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten. 635 An zentraler Stelle des Einladungsschreibens von 1887 wurde „die Lehre von der Heiligung, von dem neuen Leben in Christo" eingesetzt. Ohne die „innerlichen Voraussetzungen", die durch ein neues Erfassen ihrer Wahrheit zu gewinnen sind, gibt es keinen wirklichen Fortschritt. Die Frage der Heiligung, die mit dem Erwerb einer neuen Kraftausrüstung „von Oben" und dem Trieb nach „ Gemeinschaft der Gläubigen " gekoppelt ist, rangiert vor allen anderen Anliegen der Unterzeichner der Einladung. 6 3 6 Im engeren Redaktionskreise kommen nur Fabri und Schrenk als Vertreter der Interessen der Heiligungsbewegung in Frage, aber auch Christlieb und Pfleiderer, von denen die Vorlage stammte, standen positiv zu ihr. Aus dem Comitee ist Pastor Ziemendorff aus Wiesbaden eindeutiger Vertreter der Heiligungsbewegung. Soweit läßt sich der Personenkreis eingrenzen, der in der Entstehungsphase der Gemeinschaftsbewegung beijener Sitzung der General-Conferenz des Evangelisations Vereins im April 1887 zu den Vertretern der Anschauungen der Heiligungsbewegung zu rechnen ist. Schwieriger wird es, wenn man danach fragt, welches denn „die Lehre von der Heiligung" ist. 6 3 7 635 Vgl. oben, Anm. 9 u. 73. 636 Ohlemacher, Quellen, S. 28. 637 Die verschiedenen Typen der Heiligungsanschauungen werden von Hadorn (Die Heiligung mit besonderer Berücksichtigung der Heiligungsbewegung. Ihre Geschichte bis in die Gegenwart. 2., durch einen Nachtrag erw. Aufl., Neukirchen o. J. (1911)) und Fleisch, (Gemeinschaftsbewegung 3 , S. 10-31) hauptsächlich auf die Heiligungslehre John Wesleys und seiner methodistischen Schüler wie auf den Frühpietismus zurückgeführt. Fleisch, Zur Geschichte der Heiligungsbewegung, Leipzig 1910, zieht auch besonders die amerikanische Heiligungsbewegung (S. 77-134) heran, die ihrerseits von Wesley abhängig ist. Schon Fleisch beklagt die schwierige Quellenlage; vgl. seine Literaturliste S. 136. Vgl. auch die Literaturhinweise in den Anmerkungen bei Hadorn, a. a. O., S. 38-40. Den wenig überzeugenden Versuch,

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Die Heiligungsbewegung ist in das Blickfeld der deutschen christlichen Öffentlichkeit durch die Versammlungen von Oxford 1874 gekommen. Einige deutsche Pastoren waren zu diesen Versammlungen eingeladen und besonders von der Gestalt und den evangelistischen Ansprachen des amerikanischen Glasfabrikanten Robert Pearsall Smith beeindruckt. Seine Botschaft, daß es für den Christen nicht nur die Befreiung von der Sündenschuld durch Jesus gebe, sondern auch die Befreiung von der Sündenmacht und somit ein reines Herz, eine bleibende Ruhe in Christus, begeisterte besonders die süddeutschen Vertreter, während die norddeutschen besonders bei einer interdenominationellen Abendmahlsfeier Bedenken äußerten. Smith wurde noch im gleichen Jahr zu einer Vortragsreise durch Deutschland eingeladen, die im Süden ebenfalls mehr Anklang fand als im Norden. Seine Anschauungen wurden dann besonders von C. H. Rappard, dem Inspektor der Pilgermission St. Chrischona, von Otto Stockmayer, Pfarrer und Reiseprediger, und Theodor Jellinghaus, Missionar und Pfarrer, aufgenommen und in vielen Vorträgen und Publikationen verbreitet. An vielen Orten bildeten sich Zentren, die Heiligungskonferenzen veranstalteten, bei denen die genannten drei Männer die gesuchtesten Redner waren. Die gesamte Ausbildungsarbeit der Evangelistenschule St. Chrischona war fortan von den Anschauungen der Heiligungsbewegung bestimmt. Otto Stockmayer gründete ein eigenes Zentrum, in dem er die Lehre mit der Praxis der Krankenheilung verband. Jellinghaus gründete eine Bibelschule und hielt regelmäßig an verschiedenen Orten Kurse, in denen er die „heilistische Lehre" vermittelte. Viele der Konferenzreden wurden in hohen Auflagen gedruckt. Einige Jahre gab es eine Zeitschrift, die in ihren besten Zeiten über 8000 Abonnenten hatte und bei ihrer Einstellung immerhin noch 5600. - Die Bewegung hat aber nur einen einzigen Gesamtentwurf der Anschauungen der Heiligungsbewegung hervorgebracht. Er stammt von Theodor Jellinghaus; sein Titel: „Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum". Es hat fünf Auflagen erlebt (1880, 1886, 1890, 1898, 1903), die im wesentlichen die gleiche Textgestalt haben. Der vierten Auflage wurde ein Namenund Sachregister angefugt. Die rund 750 Seiten Umfang stellen an die Leseleistung, sowohl was Ausdauer als auch was die Schwierigkeit der Gedankenführung betrifft, erhebliche Anforderungen. Als Lesehilfen sind die Kernsätze und Schlüsselwörter in halbfetter Schrift gesetzt. Die fünfte Auflage zog Jellinghaus 1911 aus dem Buchhandel zurück und widerrief in einer eigenen Publikation seine bis dahin vertretenen Lehren. 638

die Abhängigkeit der Gemeinschaftsbewegung v o n der Heiligungsbewegung zu erweisen, unternimmt L u d w i g T h i m m e , a . a . O . , S. 204-250 (ohne Belege!). Vgl. D . Lange, a . a . O . , Kap. II: D i e angelsächsisch-methodistisch-oxforder Richtung, S. 29-45, bes. die Beurteilung S. 44f. Beachtenswert bei Reuber, a. a. O . , ist vor allem sein Literaturverzeichnis, S. 229-247, das auch entlegene Kleinliteratur aus der Gemeinschaftsbewegung anfuhrt. Seinem oben kritisch beleuchteten Ansatz ist auch von Julius Schneider, „ D a s N e u e Testament in der F r ö m m i g keit der Gemeinschaftsbewegung. Eine praktisch-theologische Untersuchung. Berlin 1959", bes. S. 11 f. 26f. widersprochen worden. (Schneiders Untersuchung hat viele zutreffende Einzelbeobachtungen, die aber relativiert werden, weil er den Denkrahmen der Gemeinschaftsbew e g u n g nicht berücksichtigt). Weiterführend gegenüber den bisher verhandelten Positionen Wesleys ist Manfred Marquardt, Praxis und Prinzipien der Sozialethik J o h n Wesleys (Kirche und Konfession B d . 21). Göttingen 1977. 638 Z u Smith und den O x f o r d e r Versammlungen vgl. Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 3 , S. 10-31 und Literatur S. 591 f. Z u der Folgekonferenz in Brighton 1875 vgl. vor allem den

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Da die verschiedenen Spielarten, die die Heiligungslehren in Deutschland gefunden haben, bisher noch nicht dargestellt worden sind, in dem Buch von Jellinghaus auch abweichende Meinungen berücksichtigt werden und in diesem Werk der einzige Versuch einer systematisierenden Darstellung gemacht ist, sollen seine Anschauungen hier für die Lehre von der Heiligung eingesetzt werden. 6 3 9

2. Theodor Jellinghaus: Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum Jellinghaus verfolgt mit seiner Darlegung der Heiligungslehre mehrere Anliegen, die man auch in ihrer Rangfolge kennen muß, um ihr gerecht werden zu können. Primär geht es ihm um die Förderung der christlichen Heilserkenntnis

Bericht Wangemanns, Pearsall Smith und die Versammlungen zu Brighton in ihrer Bedeutung fur Deutschland. 2. verm. u. verb. Aufl. Berlin 1876 (Kritisch, vgl. die Auszüge im Anhang Nr. 1. Hier auch besonders der Gegensatz zwischen Süddeutschen und Norddeutschen während der Konferenz) und den Bericht eines Anonymus, Die Conferenz zu Brighton vom 29. M a i - 7 . J u n i . Ein Vortrag. B a r m e n o . J . (1875), der enthusiastisch-zustimmend gehalten ist. Zu den Bibelkursen von Theodor Jellinghaus vgl. im Anhang Nr. 8 die entsprechenden Eintragungen im Gästebuch von Th. Ziemendorff. Zu Jellinghaus' Bibelschule vgl. Fleisch, a . a . O . , S. 37. Die vom Sohn Paul Jellinghaus herausgegebene Festschrift „Zum 25jährigen Bestehen der Bibelschule. 1885-1910", Lichtenrade 1910, bringt nur wenig zur Biographie von Theodor Jellinghaus (1841-1913), für die insgesamt nur spärliche Daten zur Verfugung stehen. Vgl. J . Ohlemacher, Art. Jellinghaus, Theodor. In: Evangelisches Gemeindelexikon, S. 275. Die Zeitschrift „Des Christen Glaubensweg" erschien nur in 4 Jahrgängen von 1875-1878. Vgl. Fleisch, a . a . O . , S . 3 6 . Die Herausgeber stellten das Erscheinen ein, weil nach ihrer Meinung das Wesentliche gesagt sei. Vgl. die letzte Nummer im Jahrgang 1878. Zum Widerruf von Theodor Jellinghaus (s. Literaturverzeichnis) gibt es im Gnadauer Archiv einen Vorgang (Ordner von 1911), aus dem hervorgeht, daß man sich im Vorstand des Gnadauer Verbandes mit der Veröffentlichung desselben schwertat. Dort gibt es auch ein vervielfältigtes Manuskript des Widerrufs, das in einigen Passagen vom Buch abweicht. Jellinghaus begründet seinen Widerruf damit, daß er mit seiner Lehre von der Heiligung, besonders mit einer zu oberflächlichen Fassung des Sündenbegriffs, zu Fehlentwicklungen in der Gemeinschaftsbewegung (Pfingstbewegung!) beigetragen habe. Die Abfassung des Widerrufes fällt in die Zeit einer Nervenerkrankung von Jellinghaus. Fleisch fühlt sich in besonderer Weise Jellinghaus verpflichtet: „Die Anfänge dieser Arbeit reichen 50 Jahre zurück. Damals bat mich der schwer nervenkranke Pastor Theodor Jellinghaus, ich möchte etwas gegen seine „heilistische" Lehre, wie er es nannte, schreiben. Ich habe ihm damals erwidert, sobald meine Zeit es erlaubte, würde ich seine Lehre wie die ganze Heiligungsbewegung nach guter theologischer Methode gründlich untersuchen." Fleisch, Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxford 1874 bis zur Oxfordgruppenbewegung Frank Buchmanns. Ungedrucktes Manuskript o. J . , Vorwort. Vgl. ders., Zur Geschichte der Heiligungsbewegung, S. 4f. 639 Das ungedruckte Manuskript von Fleisch wurde in der folgenden Darstellung besonders berücksichtigt. Die Dissertation von L. Schmieder, „Geisttaufe. Ein Beitrag zur neueren Glaubensgeschichte" (1982) fuhrt in bezug auf Jellinghaus nicht über Fleisch's Ergebnisse hinaus und bleibt im weiteren unberücksichtigt.

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bzw. u m die Heilsgewißheit in der Heiligung. 6 4 0 Es ist ein seelsorgerliches Anliegen, das ihn zu schreiben bewegt. Seine Heilserfahrung in den O x f o r der Heiligungsversammlungen („Nachdem ich eben wieder einen neuen schweren Todesschmerz in meiner Familie durchgemacht hatte"), 6 4 1 das neue Licht über die reinigende Kraft des Blutes Christi will er für deutsche Leser fruchtbar machen. Aus diesem seelsorgerlichen Anliegen heraus sind die vielen Beispiele, Vergleiche und Bilder in die Darstellung eingetragen. Das zweite große Anliegen Jellinghaus, liegt darin, neue Beweisgründe für die englische Heiligungsbewegung zu erbringen. 6 4 2 Weil er davon überzeugt ist, „daß die Lehre in der Hauptsache biblisch sei und einen großen Trost und große Kraft für viele halbgebundene Gotteskinder, die in gesetzlichem Heiligungsstreben stehen, enthalte", so enthält seine Arbeit eine Fülle von Schriftbeweisen. 6 4 3 Das dritte Anliegen ist mehr lehrhafter Art: „Da ich nun schon von O x f o r d mit der klaren Einsicht heimkehrte, daß ohne eine gründliche Erfassung der Rechtfertigungsgnade und der Heilsgewißheit in Deutschland - w o in Bezug auf diese Lehre jetzt viel weniger Einheit und Klarheit herrscht, als in England - diese Heiligungslehre keinen tiefgehenden und bleibenden Segen bringen könne, so hielt ich es für dringend nötig, daß ein Buch erscheine, welches „Rechtfertigung und Heiligung durch den Glauben" i m Sinne der evangelistischen Richtung behandelt und darstellt. " 6 4 4 - In diesen Zusammenhang gehören dann seine Auseinandersetzungen mit der Tradition, wobei er besonders auf Polykarp, Tertullian und Luthers Rechtfertigungslehre eingeht. Auf Grund seiner Missionserfahrungen in Indien ist er zu der Einsicht gekommen, „daß nur diejenigen Gedanken wirklich im tiefsten Sinne wahr und fruchtbringend sind, welche in der Hauptsache auch einem bekehrten, bibelfesten und wohlbegabten Christen aus den handarbeitenden Ständen oder aus den Heiden verständlich gemacht werden können. Ist dies bei einer Lehre unmöglich, so ist entweder der betreffende Gedanke nicht wahr, oder er besteht doch aus einer ziemlich nutzlosen und mehr verwirrenden als belehrenden Zusammensetzung und H ä u f u n g aristotelischer, dogmatischer und modern philo-

640 Theodor Jellinghaus, Das völlige gegenwärtige Heil durch Christum. 4. durchges. u. verm. Aufl. Basel 1898, S. IX. Im Folgenden wird nach dieser 4. Auflage zitiert: Völliges Heil4. Paul Fleisch legt im Manuskript die 5. Auflage zugrunde (zit.: Fleisch, Manuskript, Völliges Heil5). 641 Aus der mir zugänglichen Literatur läßt sich nicht erschließen, welches Ereignis Jellinghaus meint. Zur familiären Situation teilt der Sohn, Paul Jellinghaus (Zum 25jährigen Bestehen der Bibelschule, 1885-1910) nichts mit. Die Parallele zum Erleben Elias Schrenks, der nach dem Tod einer Tochter in englischen Kreisen der Heiligungsbewegung eine neue Glaubenserfahrung machte, fällt auf. 642 Jellinghaus, Völliges Heil4, S. VI. 643 Ebd. Vgl. im Register. 644 Ebd., S.5.

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sophischer Begriffe." 6 4 5 Jellinghaus will also direkt auch für ein Laienpublikum schreiben. „Ich bin mir wohl bewußt, daß es in Deutschland etwas besonders Ungewohntes und Schwieriges hat, für Theologen und gläubige Laien zugleich zu schreiben. Aber es muß auch bei uns dahin kommen, wenn die deutsche Theologie nicht in öder Vereinsamung und Wirkungslosigkeit in Bezug auf das religiöse und nationale Leben mehr und mehr ersterben und traurig ohnmächtig dastehen soll." 646 Er weiß aber, daß für die Laien das, was er bietet, keine leichte Kost ist, erinnert daran, daß die „Weltleute" soviel ungläubige und materialistische Literatur lesen, und kommt darum zu dem Schluß: „Da muß sich doch ein gläubiger Christ schämen, wenn er sich nicht die Mühe geben will, tiefergehende, christliche Bücher, welche die wichtigsten Heilsfragen behandeln, gründlich zu durchforschen: Solche Trägheit des Geistes offenbart einen Mangel an tieferem Interesse und an voller Liebe zur Sache der christlichen Wahrheit." 6 4 7 Im Hinblick auf die deutschen Theologen, die vor allem die lutherische Rechtfertigungslehre betonen, war es sicher nicht zufällig, daß Jellinghaus bemüht war, die beiden Bände seines Buches (I Rechtfertigung allein durch Christum, 1-379; II Heiligung allein durch Christum, 383-724) möglichst im Umfang gleich zu gestalten. Er schreibt auf Grund einer inneren Führung 6 4 8 und mit Gottes Beistand, 6 4 9 weil alle wahre Erkenntnis nur durch Gottes Gnade zustande komme. Das Gute an seinem Buch sei darum auch von Gottes Geist gewirkt. Was irrtümlich an seinen Darlegungen sein sollte, das habe seine Ursache an einem Mangel an innerer Erfahrung. 6 5 0 Man muß sich vor allem dies eine klarmachen, daß es Jellinghaus vor allem anderen um die Erfahrung der Heilsgewißheit geht, weil man sonst zu leicht in das Fahrwasser bisheriger Betrachtung seines Buches gerät, die in ihm eine „Dogmatik der Heiligungsbewegung" sehen will. Das Vorwort zur ersten Auflage, das bisher allein ausgewertet wurde, legt in manchen Formulierungen den Verdacht nahe, es könne eine rein systematisch-theologische Darstellung beabsichtigt sein, aber die Reihenfolge der benannten Absichten gibt zugleich Aufschluß darüber, wo die eigentlichen Gewichte bei ihm liegen. 651 645 Ebd., S. III. Jellinghaus war von 1866-1870 Missionar der Goßner Mission und eine zeitlang Direktor eines kleinen Evangelisten- und Predigerseminars in Indien. Vgl. Pauljellinghaus, a. a. O., S. 5. 646 Jellinghaus, Völliges Heil 4 , S. VI. 647 Ebd., S. VII. 648 Ebd., S.V. 649 Ebd., S. VI. 650 Ebd., S.IX. 651 Von Sauberzweig, a.a.O., S. 71. W. Michaelis, Erkenntnisse und Erfahrungen aus 50jährigem Dienst am Evangelium, S. 98 f. Lange, a. a. O., S. 47. Die drei lehnen die Bezeichnung Dogmatik fur Jellinghaus Werk ab. Meinungsbildend hat gewirkt: Ernst Cremer, Das vollkommene gegenwärtige Heil in Christo. Eine Untersuchung zum Dogma der Gemein-

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Zusammenfassend kann gesagt werden, daß Jellinghaus in seelsorgerlicher Absicht für Laien und Theologen zugleich seine Heiligungserfahrung erschließen, biblisch begründen und apologetisch verteidigen will. Aber wenn auch das Herzstück seiner Theologie die Heiligungserfahrung ist und sicher alle seine anderen Anschauungen bestimmt, so hat er sich doch auch explizit und implizit zu anderen Lehrstücken geäußert. So kann, ohne daß seinem Denken Gewalt angetan wird, eine systematisierende Darstellung seiner Theologie in gleicher Weise erfolgen wie bei den theosophischen und den Vertretern der preußisch-pietistischen Richtung.

3. Das Reich Gottes in der Heiligungstheologie

Th.

Jellinghaus

Das Reich Gottes - auch: Himmelreich, Reich Christi, Reich der Wahrheit, Reich der Wesenhaftigkeit - umfaßt die Zeitspanne von der Schöpfung bis zur Wiederkunft Christi. Es ist ein unsichtbares Reich, dessen Geheimnisse erschlossen werden müssen. Zugleich ist es aber keine rein geistige Größe, sondern ein überirdisch sichtbares Reich. Deutlich unterschieden vom Reich Gottes wird die Welt. Sie ist Kampfplatz, in ihr wirkt Satan. 652 Das Reich Gottes, die überirdische Welt, 653 wirkt in die Weltgeschichte hinein sowohl in die Menschheit wie in die Christenheit. 654 Aber das Reich Gottes selbst entwickelt sich nicht, es gibt keine Weltverbesserung. 655 „Die Welt ist bis zur Erscheinung des Antichristen unter Heiden und getauften Christen durchaus nicht entschieden auf der Seite des offenbaren Bösen. Sie geht vielmehr immer darauf aus, einen Mittelweg zwischen Himmel und Hölle zu wandeln. In ihrem entschiedenen Widerwillen gegen das reine göttliche Wesen, sucht sie sich durch eine gewisse, äußerliche Sittlichkeit und Tugend zu rechtfertigen und anziehend zu machen. Darum haßt und bestraft sie zweierlei: Grobe Verbrechen (welche die Verderbtheit der Menschennatur aufdecken und auch so viele schmerzliche Folgen haben, so daß die Sünde dadurch in ihrer Greulichkeit erscheint) und entschieden schaftsbewegung. (Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 19, 1915, H. 4/5, vgl. S. 12). Auch Erich von Eicken, Heiliger Geist - Menschengeist - Schwarmgeist. Ein Beitrag zur Geschichte der Pfingstbewegung in Deutschland. Wuppertal 1964, S. 20, spricht von einer Dogmatik der Heiligungsbewegung. Vgl. auch Ludwig Heinrich Ihmels, Zur Lehre von der Heiligung bei Theodor Jellinghaus, o. O. u. o. J. (kritisch), der wie Fleisch von Jellinghaus um eine Gegendarstellung gebeten worden war. Ebd., S. 89. Auch: Ernst Heinatsch, Die Krisis des Heiligungsbegriffes in der Gemeinschaftsbewegung der Gegenwart (Theodor Jellinghaus. Eine biblisch-dogmatische Studie. Neumünster o. J. (werbend). Die durchweg spätere Auseinandersetzung mit Anschauungen von Jellinghaus wird im Folgenden nur implizit gefuhrt. 652 Fleisch, Manuskript, S. 118;Jellinghaus, a. a. O., S. 243. 653 Jellinghaus, a. a. O., S. 44. 654 Ebd. u. S. 46. 655 Ebd., S. 45.

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christlichen Wandel mit entschiedenem Bekenntnis von dem Gekreuzigten. Sie haßt das entschiedene Christentum mehr als das Verbrechertum; sie zieht Barrabam immer noch Christo vor, wenn es zur Entscheidung k o m m t . . . . Hierin aber offenbart sie sich trotz aller ihrer vielen Tugendanstrengungen und Humanitätsbestrebungen als eine gottfeindliche Teufelswelt. " 6 5 6 Teufel und Welt sind die Gegengrößen zum Reich Gottes. 6 5 7 Boten laden ein, in das Reich Gottes hineinzugehen. Menschen können diese Einladung annehmen bzw. das Reich Gottes annehmen und werden damit Bürger des Himmelreiches. 6 5 8 Der Gläubige ist ins obere Reich, in den Herrschaftsbereich Gottes und Jesu Christi, versetzt. 6 5 9 Dieser A n schluß an die obere Welt ist ein unmittelbarer und ganz individueller Akt. Er geschieht ausdrücklich nicht durch Kirchenmitgliedschaft. „Die Apostel sagen immer, daß man in Jesu das Reich Gottes habe und daß, wer i n j e s u m , den Gekreuzigten und zur rechten Hand Gottes Sitzenden, durch Glaubenshingabe eingehe, auch ins Reich Gottes eingehe. Dies Reich Gottes oder Reich Christi besteht nicht durch den Zusammenschluß von gläubigen Personen, ist auch nicht am Pfingsttage gestiftet worden und ist durchaus nicht dasselbe wie die Christenheit oder Kirche oder eine gläubige Gemeinde. Die Christenheit und die einzelnen Kirchen und Gemeinschaften sind die Wirkung davon, daß das Reich Gottes mit seinen himmlischen Kräften und Gütern durch Christum in die Welt eingeführt wurde und seitdem durchs Wort Gottes oder das Evangelium v o m Reich in ihr wirkt." 6 6 0 Für das Reich Gottes kann man etwas tun (u. a. in der Heidenmission); 6 6 1 bis zur Wiederkunft bleibt dieses T u n v o m Kampf bestimmt. 6 6 2 Gott selbst erteilt die Aufgaben im Reiche Gottes (ζ. B. für die Reformation). 6 6 3 Ziel allen Kampfes ist der Sieg des Reiches Christi, er ist an bestimmte individuelle Bedingungen geknüpft: „ D a r u m d a r f e i n den Sieg des Reiches und der Ehre Christi von Herzen ersehnender Christ nicht damit zufrieden sein, daß wir so viel geistliche Kräfte haben wie unsere Väter, sondern er muß um die biblische Stufe der wahren Heiligung und die apostolischen Geisteskräfte fiir sich und seine Brüder bitten."664 „Wollen wir jetzt siegen, so müssen wir nicht nur die Geisteskräfte der Reformation, sondern viel höhere erlangen. Es gibt auch im Reiche GOttes kein Stillstehen und kein heilsames bloßes Zurückgehen zu einer vergangenen Zeit; nur durch Fortschreiten in der Erkenntnis des Sohnes Gottes und in der Bethätigung der Kräfte des heiligen Geistes kann das Reich Christi siegen. "66S Ein Hinderungsgrund für den Sieg des Reiches liegt in der mangelnden Bruderliebe. „Das Bedürfnis nach höheren Geisteskräften und Gaben und tieferer Heiligung zeigt sich auch auf allen Gebieten. Eines der größten Hindernisse des Reiches Gottes ist die Zerrissenheit der Gläubigen in so viele 656 658 660 662 664

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. 241 f. S. 45. S. 43f. Vgl. 45. S. XI. S. 393.

657 Ebd., S. 628. 659 Ebd., S. 296. 661 Ebd., S. VIII. 663 Ebd., S. 394. 665 Ebd., S. 394.

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Denominationen und in Parteien innerhalb der einzelnen Kirche. Die letzteren Trennungen gehen zu Zeiten noch tiefer und hindern die christliche Liebe oft noch mehr als die Getrenntheit. . . . N u r dann, nämlich wenn wir selbst in der Heiligung und in der rechten Liebe stehen, können wir auch von den in einigen Punkten anders denkenden Brüdern mit vollem Herzen gern glauben, daß sie auch dieselbe Gesinnung haben. Darum ist ja alles Ermahnen zur Liebe und Einigkeit meist verlorene Mühe, ja, viele Unionsversuche richten nur größere Trennung an, so lange die Herzen nicht durch tiefere Heiligung erst in Jesu dazu fähig gemacht sind. Durchdringt die völlige Liebe Christi die Herzen, da kommt es nicht nur zu einer Einigung, sondern zur inneren Verschmelzung der Herzen (Eph. 2, 14-18). " 6 6 6 Daß es zwar keine Entwicklung des Reiches Gottes aber sehr wohl einen Fortschritt im Reich Gottes gibt, hängt mit der Verheißung des Christus zusammen: „Christus hat der Gemeinde der Gläubigen verheißen, daß er bei ihr sein will alle Tage, um sie immer mehr durch den heiligen Geist in alle Wahrheit zu leiten und nicht bloß auf einer bestimmten Stufe zu halten. Darin, daß Er Seine Herrlichkeit immer mehr offenbart, beweist Er Seine lebendige Gegenwart; denn wo Jesus, der Sohn Gottes, ist, da muß Sieg und Fortschritt sein. " 6 6 7

Formale Konsequenzen Jellinghaus vertritt kein bis in alle Einzelheiten ausgearbeitetes geschichtstheologisches Konzept. Er versucht, biblische Grundlinien und Einzelaussagen zueinanderzuordnen. In dem schroffen Gegenüber von Reich Gottes und Welt verengt sich sein Interesse auf das, was von den Wirkungen des Reiches Gottes auf den Einzelnen zu sagen ist. Gegenüber den übergreifenden Konzeptionen Wicherns und der theosophisch geprägten Gruppe wirkt seine Vorstellung des Reiches Gottes eher holzschnitthaft.

666 Ebd., S. 395. 667 Ebd., S. 394. In dem Begriff Fortschritt unterscheidet sich Jellinghaus von den organologischen Kategorien, in denen sowohl die süddeutschen als auch die norddeutschen Pietisten ihre Reich-Gottes-Vorstellung fassen. Zur Beziehung Jellinghaus' zu von Hofmann während seines Theologiestudiums in Erlangen vergl. ebd., S. 19, auch 399 u. 567. Aus der Erwähnung des Kirchenhistorikers August Neander (1789-1850) läßt sich schließen, daß Jellinghaus auch in Berlin studiert hat. Aus einem im Besitz des Verfassers befindlichen Band (August Neander, Das Leben Jesu Christi in seinem geschichtlichen Zusammenhange und seiner geschichtlichen Entwicklung, 5. Aufl. Hamburg 1852) läßt sich an der handschriftlichen Eintragung (Ihrem lieben Leibburschen Braun zum Geburtstage am 5. Februar 1855. Die Leibfuchse: Jellinghaus. Stockmayer. Tigges, folgend das Wingolf-Zeichen) schließen, daß Jellinghaus der studentischen Verbindung des Wingolf angehörte.

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Christologische Implikationen Jellinghaus leitet seine besondere Anschauung des Heilswerkes Christi von der Theologie von H o f m a n n s (seinem theologischen Lehrer), Neanders (vermittelt durch seinen Vater) und der Oxforder Heiligungslehre her. Schon vor O x f o r d war ihm klar: „ N u r wenn man mit der Bibel Jesum als den zweiten Adam erkennt, der ein Glied der schuldbeladenen und sündenkranken alten Menschheit wird, kann man verstehen, wie unsere Sünden auf Ihn, den mit uns organisch verbundenen, fallen, und wie in Seinem T o d wir Vergebung und in Seiner Auferstehung Leben erlangen können. Meine innere Erfahrung und mein Schriftenstudium als Heidemissionar brachte mich dann immer mehr zu der Überzeugung, daß wahres Christentum nicht nur ein Glauben an das Verdienst ist, sondern eine innere Leidens- Sterbensund Auferstehungsgemeinschaft mit Christo in Glauben und Liebe (Phil. 3,10; 2 Kor. 4,10-11). 6 6 8 In den Heiligungsversammlungen in O x f o r d , September 1874, trat mir in hellleuchtender Klarheit aus der Bibel die mir neue Wahrheit entgegen, daß im Blute und Tode Jesu nicht nur Vergebung, sondern auch direkt und unmittelbar Brechung der Sündenmacht, Reinigung von Sünden und fortwährender Sieg über die Sünde in Glaubenshingabe zu besitzen sei. " 6 6 9 Wenn man nach Jellinghaus „die neutestamentliche Heilslehre auf einen kurzen biblischen Ausdruck bringen will", m u ß man sagen: „Christus ist als zweiter Adam durch Sterben und Auferstehen ein völliger, im Worte durch den heiligen Geist gegenwärtiger Erlöser von Sündenschuld, Sündenmacht, ängstlicher Sorge, Gesetz, Welt, Tod und Teufel und ein Wiederbringer von ewigem Leben, Himmelsreich, Liebe, Gerechtigkeit und Heiligung geworden für alle, die in Buße und Glauben mit Ihm Gestorbene und Mitauferstandene sein wollen. "670 Man würde den Sinn dieser Sätze verfehlen, wenn man übersähe, daß sie nicht in einem intellektuellen Diskurs gewonnen, sondern zutiefst Ausdruck einer inneren Erfahrung sind. Die Christologie Jellinghaus, ist Auskunft über seine „innere Leidens-, Sterbens und Auferstehungsgemeinschaft mit Christo". Diese organische Verbindung mit Christus stellt er der juristischen Auffassung d e r , anselmisch-kirchlichen Rechtfertigungslehre' gegenüber. Nach seiner Meinung gelingt es dieser herkömmlichen Rechtfertigungslehre nicht, das ganze Heilswerk in Christus zu erfassen. Sie erfasse zwar in der Gerechtsprechung des Sünders die eine Seite des Heilswerkes, aber daß 668 Hervorhebung vom Verfasser. Reuber nennt zwar das Völlige Heil mit Kurztitel im Literaturverzeichnis, nimmt aber an keiner Stelle seiner Untersuchung aufjellinghaus Bezug. Das ist erstaunlich, weil sich gerade bei Jellinghaus viele Wendungen finden, die sprachlich an die Traditionen der deutschen Mystik anknüpfen. Der häufige Rekurs auf das „Blut Christi" erinnert an Zinzendorff. 669 Jellinghaus, a. a. O, S. 20. 670 Ebd., S. 21 f.

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Christus zugleich auch unsere Heiligung ist, komme in ihr zu kurz. Christus bringt mehr als die Sündenvergebung! Er bringt „schon hier positiv das Heil", d. h. „das Himmelreich und den heiligen Geist (als göttliche Liebesfeuer im Herzen brennend) mit den Früchten des Geistes: Friede, Freude, Gerechtigkeit, Heiligkeit, Demut, Sanftmut, Geduld, Mut, Glückseligkeit, Gebetsfreudigkeit und gewisse Hoffnung auf Christi erlösende Wiederkunft." 6 7 1 Neben der Oxford-Erfahrung, daß wir in Jesus nicht nur Erlösung von der Sündenschuld, sondern auch die Erlösung von der Sündenmacht haben, übernimmt Jellinghaus auch den Aktualismus der Jesusverkündigung der „Segenstage von Oxford": „Jesus ist ein Erlöser und Heilsbringer in Bezug auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, die Gläubigen haben an ihm einen Heilbringer, der sie erlöst... der sie täglich erlöst, der sie erlösen wird zu ewiger Herrlichkeit. Jesus errettet mich alle Zeit, Jesus errettet mich jetzt." „Wer in Jesu nur den Heiland sieht, der ihn später beim Tode selig machen wird, aber Jesum mit Seinem Blute nicht als den Erretter von den Sündenbanden, von der Herzensunreinheit, von der ängstlichen Sorge und vom Teufel erkennt und erfährt, der hat nichts für die Gegenwart und muß immer unterliegen und klagen. " 6 7 2 Das Heilswerk Christi faßt Jellinghaus in einer Thesenreihe zusammen: „Jesus, der Sohn Gottes, ist durch Leiden, Sterben und Auferstehen und hohepriesterlich-königliches Sitzen zur rechten Hand Gottes für alle, die in Buße und Glauben mit Ihm der Sünde abgestorben und zum neuen Leben der Liebe und Reinigkeit auferstanden sein wollen, geworden A. ein völliger und im Worte durch den heiligen Geist naher Erlöser. 1. von aller Sündenschuld und allem, was unsern kindlichen Zugang zu Gott hindern kann. 2. von aller Sündenmacht und Sündenunreinheit und von unserm eigenen selbstsüchtigen „alten Ich". 3. von aller ängstlichen Sorge, aller Finsternis, allem unklaren bösen Gewissen und aller Not in eigener Führung, als unser errettender und führender Hirte und König. 4. vom Gesetz, als einem fordernden Buchstaben, der uns verdammt und nach dem wir uns meinen selbst fuhren und heiligen zu müssen. 5. vom geistlichen Tode und dem andern Tode und von aller Furcht des leiblichen Todes, hinein ins geistliche Leben des ewigen Himmelreichs. 6. vom Teufel, daß er uns nicht verführen, beherrschen und verklagen kann. 7. von den Leiden, Kämpfen und Versuchungen von Seiten dieser argen Welt und unsers gebrechlichen Leibes der Erniedrigung. B. ein Heiland und Heilbringer, der uns den heiligen Geist schenket und mit ihm wahre Liebe, Friede, Freude, Geduld, Sanftmut, Demut, Mut, 671 Ebd., S. 53.

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672 Ebd., S. 53f.

Licht, Weisheit, Gerechtigkeit, Heiligung, ewiges Leben, Himmelreich und gewisse H o f f n u n g auf Ihn als den wiederkommenden König und Bräutigam. Das unter A. Genannte k o m m t mehr aus den Todeskräften und das unter B. Genannte mehr aus den Auferstehungskräften Jesu. "673 Synonym mit Jesus verwendet Jellinghaus Christus, das Blut Jesu oder Christi, der Name Christi oder Jesu. Insgesamt überwiegt bei weitem der Gebrauch des Jesusnamens und am meisten ist danach v o m Blut Jesu die Rede, das die Kraft des Heilswerkes Christi in sich schließt. Auch dort, w o v o m erhöhten Christus in der Sache die Rede ist, verwendet Jellinghaus oft den Jesusnamen. Quasi als neuen christologischen Hoheitstitel fuhrt er den Begriff, der völlige oder ganze Erlöser' ein. „ N u r durch das ganze Wort Gottes kommt der ganze Erlöser zu uns ins Herz und zur Wirksamkeit. Haben wir aber das ganze Wort Gottes tief im Herzen, glauben wir Ihm und gehorchen wir Ihm von ganzer Seele, so sollen wir gewiß sein, daß wir den ganzen Jesum (obwohl wir ihn nicht sehen und auch nicht immer fühlen) im Herzen haben mit aller Seiner Kraft und Heiligungsmacht. "674

Anthropologische

Implikationen

Jellinghaus eröffnet das erste Kapitel („Der völlige Erlöser") seiner A b handlung mit einer Zusammenstellung seiner Anschauungen v o m Wesen des Menschen unter der Überschrift „Angeborenes Gottesbewußtsein und Gewinn". 6 7 5 1. „Jeder Mensch hat ein angeborenes Gottesbewußtsein. Die Idee Gottes ist einer von den Begriffen, die seinem Geiste einwohnen. Sobald der Mensch zu einer irgendwie vollständigen Entwicklung seiner geistigen Fähigkeiten heranwächst, thun ihm die geschaffene Natur und sein Gewissen das Dasein Gottes k u n d . " 2. „Wie der Mensch ein angeborenes Gottesbewußtsein hat, so besitzt er auch ein angeborenes Bewußtsein von dem Unterschiede von Gut und Böse , und daß er zum Gutes thun auf der Welt sei." 3. „Aber so gewiß wie der Mensch von N a t u r ein Gottesbewußtsein und ein Gewissen hat, das ihn zum T u n des Guten verpflichtet, so erfährt er auch bei tieferem Nachdenken an sich, daß er von Natur ein Herz hat, das unter der Herrschaft böser Triebe steht, und daß auch die ganze umgebende Menschenwelt von der Sünde durchdrungen ist." Wie es zu dieser Schuldverhaftung des Menschen gekommen ist, kann sich der natürliche Mensch nicht selbst sagen. 4. Die Bibel geht davon aus, daß die Sünde „aus dem freien Willen der gottähnlich, mit Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung geschaffenen E n 673 Ebd., S. 54f. 674 Ebd., S. 476. 675 Ebd., S. 1. Die Zitate im Folgenden aus S. 1-4.

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gel und Menschen hervorgegangen ist." Die Bibel sagt aber auch zugleich „warum Gott die sündige Menschenwelt nicht vernichtet hat; nämlich, weil Er, der Heilige, sie aus der Tiefe ihrer Schuld und ihres Sündenschmutzes erlösen, reinigen, heiligen will. 5. Sobald diese Offenbarung der Erlösung aus der Sünde in Christo an einen Menschen durchs Wort und den heiligen Geist herantritt, ist er vor die Wahl zwischen Finsternis und Licht gestellt, d. h. er hat zu wählen zwischen einer unchristlichen Weltanschauung ohne Gott, nach der die Sünde Berechtigung hat . . . und einer christlichen Weltanschauung in Gott, nach der die Sünde durchaus widergöttlich ist, und das Ziel der Weltentwicklung und Welterlösung die Ü b e r w i n d u n g des Bösen und die Rückkehr der durch Christus erlösten und geheiligten Natur in das vollkommene Reich des heiligen Gottes der Liebe ist." 6. „Was bei den Menschen den Ausschlag gibt, ist nicht der Verstand, sondern das sittliche-religiöse Bewußtsein, das Herz, der Wille." Entscheidet sich der mit der natürlichen Gotteserkenntnis und einem freien Willen ausgestattete Mensch für den christlichen Glauben und seine Weltsicht, so gewinnt er Anschluß an das Reich Gottes und kann durch völlige Hingabe an den völligen Erlöser ein reines Herz in Christo erhalten, eine geheiligte Persönlichkeit, 6 7 6 ein siegender Christ 6 7 7 werden. Aber auch, wenn er diese höchste Stufe des Christseins erklommen hat, ist immer auch ein Herausfallen aus dem Gnadenstand möglich. 6 7 8 Der Mensch als ens sociale wird von Jellinghaus nicht in den Blick genommen. Sein Interesse gilt dem h o m o coram deo, und gelegentliche Äußerungen zur Menschheit und ihrer Entwicklung hängen wohl mit dem Rahmen seiner Reich-Gottes-Anschauung zusammen, der u. U . noch auf eine Zeit zurückgeht, in der das Interesse an der Heiligung den Verfasser noch nicht ausschließlich bewegte.

Rechtfertigung und Heiligung - der Heilsweg Wie bei dem Versuch, die christologischen Implikationen darzustellen, bedarf es bei diesem Kernstück und eigentlichen Anliegen Jellinghaus' einiger Vorbemerkungen. 1. Entscheidend sind für Jellinghaus seine Oxforder Erfahrungen. Sie sind allen Darlegungen als vorgeordnet anzusehen. Besonders die Parole W. E. Boardmans „In uns nichts, aber in Jesus alles!" will er zum Ausdruck bringen. 6 7 9 676 Ebd., S. 703. 677 Ebd., S. 706. 678 Vgl. Fleisch, Manuskript, S. 95. 679 Zu Boardmans Anschauung von der Heiligung vgl. Fleisch, Zur Geschichte der Heiligungsbewegung, S. 122-127.

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2. Weil er aus seelsorgerlichem Anliegen seine Erfahrung der Heilsgewißheit vermitteln will und er den Menschen aus unterschiedlichen Traditionen erreichen will, versucht er auf möglichst vielen Wegen seine Beweisfuhrungen anzulegen. Das fuhrt zu einer Fülle von Begriffen und Figuren, zu einem Pleonasmus der Ausdrucksweise, der zuweilen widersprüchliche Aussagen miteinander verbindet und verwirrend ist. Schon das biblische Anschauungsmaterial, das er zur Beweisführung heranzieht, bringt ihm immer wieder neue Begriffe, die er integrieren muß, und das gelingt oft nicht (s. u. zum Gebrauch der Bibel, S. 186-188.) 3. Der Heilsweg des Christen ist bei Jellinghaus in viele kleine Einzelschritte aufgeteilt. Für den Zweck dieser Untersuchung genügt es, sich auf die Hauptlinien zu beschränken. Trotz des stark ausdifferenzierten Heilsweges lehnt Jellinghaus einen heilsnotwendigen ordo salutis ab, weil er prinzipiell an der Möglichkeit der plötzlichen Bekehrung festhält. 6 8 0

1. Die Heilsannahme Im Evangelium ist Christus in Wort und Geist gegenwärtig. Dieser gegenwärtige Christus wirkt die Erweckung, wenn er als der Gekreuzigte, Auferstandene, Wiederkommende und einzige Erlöser verkündigt wird. Er stellt den Menschen sowohl in das Licht seiner Verlorenheit wie in das Licht der .vollen, gegenwärtigen Erlösung'. 6 8 1 Somit bewirkt die erweckliche Predigt zweierlei: Buße und Glaube. Buße ist der Willensakt, die Rebellion gegen Gott aufzugeben und schließt zugleich die Abkehr von allen bekannten Sünden in sich. Glaube ist die andere Seite der Abkehr von der Sünde. Nach Jellinghaus, Verständnis v o m Wesen des Menschen kann jeder glauben, wenn er nur will, Glaube ist wie Buße ein Willensakt. „Dieser Willensakt ist ein plötzlicher. Jetzt, sofort gilt es den Widerstand aufzugeben. Energisch wendet sich Jellinghaus gegen die pietistische Theorie von einem langen Bußkampf. " 6 8 2 Die eschatologische Dringlichkeit des Rufes zum Glauben, wie ihn Jellinghaus im Neuen Testament sieht, versucht er mit dem BegriffJetztglauben zu fassen. Der Glaube wird als persönliches Verhältnis zu Christus beschrieben, das in Überzeugtsein, Vertrauen und Hingabe besteht. Entsprechend den Todeskräften und Auferstehungskräften Jesu kann Buße auch als Erleben des Mitsterbens und Glaube als Erleben des Mitauferstehens mit Christus bezeichnet werden. Buße und Glaube zusammen bilden die Bekehrung des Menschen. 6 8 3 680 681 682 683

Vgl. Fleisch, Manuskript, S. 68. Ebd. unter Verweis auf Völliges Heil 5 , S. 190. Ebd. Ebd. S. 73 unter Verweis aufVölliges Heil 5 , S. 277. Vgl. S. 112. 276. Ebd., S. 73.

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Rechtfertigung ist der der Bekehrung entsprechende Akt der A u f n a h m e in die Gemeinschaft mit Christus. Sündenvergebung hat keinen juridischen Sinn, sondern meint eine Beziehung: Sündenvergebung hat man in Christus. Dieser Akt kann auch Wiedergeburt genannt werden. In Christus erhält der Mensch eine neue Natur, und es liegt Jellinghaus in Absetzung zu manchen Anschauungen, die in O x f o r d vertreten wurden, sehr daran zu betonen, daß der Gläubige alles, was er im Glauben gewinnt, nur in Christus hat. Es geschieht keine substantielle Umschaffung der Menschennatur. Aber zugleich bringt dann doch der Heilige Geist das ganze Heilswerk Christi „ins Herz".68* „Erst, wenn mit dem Worte der Geist und das Blut Jesu durch den Glauben im Herzen zur Wirksamkeit k o m m t , und wir mit Christo gestorben und auferstanden sind, ist die neue Geburt und das neue Leben in Christo da. Geschähe die Wiedergeburt allein durch Wort und Geist, so könnte man noch meinen, daß sie ein selbständiges, eigenes, neues Leben in der Seele sei, und wir kämen dann in die Verlegenheit... daß wir eine neue N a t u r in uns selbst zu suchen hätten und, wenn wie sie nun nicht recht fänden, verzagen und zweifeln müßten. Liegt aber unsere Wiedergeburt und neue Geburt und neues Leben u m Blute Jesu oder im gekreuzigten und auferstandenen Erlöserhaupte, so haben wir die neue Geburt oder das neue Leben einfach in und mit Christo, unserm Leben, im Glauben zu nehmen und festzuhalten. "68S Da auch das Bild v o m Mitsterben und Mitauferstehen zur Erklärung herangezogen wird, ist neben dem Wirken des Geistes dann nicht mehr klar, wie Jellinghaus das „extra nos" des Heiles festhalten kann.

2. Der Gnadenstand Durch Buße, Glauben, Bekehrung und Wiedergeburt tritt der Sünder in „den Gnadenstand eines wiedergeborenen Gotteskindes". 6 8 6 Dieser Gegenstand wird in mehrfacher Hinsicht beschrieben. a) Die Wiedergeborenen sind erkennbar durch 1. den Glauben an Christus, den Sohn Gottes, 2. den Frieden mit Gott, „d. h. die kindliche Zuversicht zur Gnade Gottes und das mit dem Glauben k o m m e n d e und den Glauben gewiß machende Zeugnis des heiligen Geistes" 687 , 3. das freie Bekenntnis zu Christo und für Christum, 4. die entschiedene Absagung von aller und jeder bewußten Sünde; denn: „Wer wiedergeboren ist und an Christo im Glauben hängt, der hat auch ... in Christo die Macht, aller offenbaren, groben Sünde zu entfliehen"6*8, 5. die Liebe zu Gott und Christo, die sich in der Liebe zu 684 685 686 687 688

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Jellinghaus, Völliges Heil 4 , S. 300. Ebd., S. 304. Fleisch, a.a.O., S.79. Jellinghaus, a. a. O., S. 327. Ebd., S. 328.

Gottes Wort, im Herzensgebet 6 8 9 vor allem aber „im Eifer für die Heiligung des Namens Gottes, die Ausbreitung des Reiches Gottes" u. a. m. zeigt, 6. die Liebe zu den Brüdern in Christo und 7. die D e m u t vor Gott und den Menschen. - Diese Kenzeichen sind nicht schlagartig da, sie sind wachstümlicher Art und „tragen sehr zur Gewißheit unserer Gotteskindschaft bei". 6 9 0 b) Die Christen im Gnadenstand haben unmittelbare Heilsgewißheit, einmal durch den Glauben, dann aber auch durch eine besondere Erfahrung unmittelbarer Gewißheit des Gnadenstandes in der Versiegelung durch den heiligen Geist. 6 9 1 c) Der Glaube der Christen im Gnadenstand ist kein unverlierbarer Besitz. Er m u ß durch fortwährendes Jetztglauben, eine Kette von Willens- und Glaubensakten unter der Mitwirkung des heiligen Geistes täglich erneuert werden. N u r so kann man in Jesus bleiben. Zugleich gilt es, die erste Buße festzuhalten nicht im Sinne einer täglichen Reue wegen begangener Sünden, sondern mehr im Sinne einer grundsätzlichen Einsicht in die Verderblichkeit der Menschennatur. 6 9 2 d) Im Gnadenstand hat man Sieg über die Sünde durch den Glauben, nicht durch die eigene Anstrengung. Die „Kraft des Blutes Christi bricht die Macht der Sünde im Gläubigen unmittelbar"]693 Mit diesem „unmittelbar" willjellinghaus das „nur in Christo" gewahrt wissen, auch der entschlossenste Glaube hat nicht die Kraft (vis operativa) zum Sieg über die Sünde aus sich selbst. 6 9 4 Der Sieg über die Sünde wird noch gesteigert in die „Befreiung von aller Sündenmacht". 6 9 5 Denn das Ziel des Christenlebens ist völlige Heilung, das reine Herz. „Reines Herz" bedeutet nicht „reine untadelige Gefühle und Neigungen". „Wenn das der Sinn wäre, so könnte kein Christ diesseits des Grabes reines Herzens sein". Man muß vielmehr unterscheiden zwischen Willen und Gefühl. Das reine Herz besteht „im reinen Willen . . . und nicht darin, daß ein wahrer Christ keine Sündennatur und keine aus seinen Gefüh-

689 Vgl. ebd. die Anm.: „Der Umstand, daß man schon in der Reformationszeit so einseitig das ganze Christentum als Sündenvergebung durch die Zurechnung der Genugthuung und des Verdienstes Christi faßte und nicht klar genug in der Lehre und besonders nicht in der Praxis auf ein reines, heiliges Leben drang, hat der Kraft des Evangeliums im Volke sehr geschadet und ist wohl die Hauptschuld daran, daß es mit der Sittlichkeit in den evangelischen Gemeinden bald nicht viel besser stand, als in den katholischen." Die Fortsetzung dieser Entwicklung sieht Jellinghaus in dem furchtbarsten Abfall von aller Religion bei Hunderttausenden' seiner Zeit. Zur Tradition der Anschauung vom „reinen Herzen" und „Herzensgebet" vgl. A. Grün, Reinheit des Herzens. Wege der Gottsuche im alten Mönchtum. (Schriftenreihe zur Meditation, Nr. 27). Frankfurt 1978. 690 Ebd., S. 334. 691 Fleisch, Manuskript, S. 80f. 692 Vgl. ebd., S. 82-86. 693 Ebd., S. 87. Unter Verweis auf Völliges Heil5, S. 439. 441. 443. 459. 461. 463. 694 Vgl. Fleisch, a. a. O., S. 87f. 695 Ebd., S. 93. Unter Verweis auf Völliges Heil5, S. 601.

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len und Stimmungen k o m m e n d e n Versuchungen zu bösen Gedanken und Worten und Taten mehr hat!" 6 9 6 Gemäß der anthropologischen Grundlegung, nach der der Glaubensakt ein Willensakt ist, wird auch die Heiligungsgnade erst zu einer innerlich erfahrbaren Tatsache, wenn der Wille beteiligt ist. Jellinghaus unterscheidet verschiedene Klassen von Sünden: 1. Sünde im Sinne von bewußter, absichtlicher Übertretung der Gebote Gottes oder bewußter Bosheitssünde 6 9 7 , 2. Sünde im Sinne von Schwachheitssünde oder Übereilungssünde 6 9 8 , 3. Sünde im Sinne von Sündennatur oder Fleisch und 4. Sünde im Sinne von unbewußter Sünde und irriger Handlung, die man mit gutem Gewissen und guter Absicht tut! 6 9 9 N u r die erste Sünde ist mit dem „Gnadenstande gänzlich unverträglich" 7 0 0 , aber selbst bei ihr wie noch mehr bei den anderen warnt Jellinghaus vor übereilten Urteilen. Sieg über die Sündennatur, die ja nicht ausgerottet werden kann, bringt die gleichzeitige E i n w o h n u n g von Christi Blut, sie bringt die Sünde in den Todeszustand. 7 0 1 „In der alten Natur des wiedergeborenen Christen ist allerdings Zunder für sündliche Versuchung; aber dieser Zunder kann durch das einwohnende Blut und Wort Christi und den Tau des heiligen Geistes in den Zustand der Unentzündbarkeit gebracht und erhalten werden. " 7 0 2 Wieder k o m m t Jellinghaus in Schwierigkeiten, das extra nos festzuhalten. „Wenn . . . der alte Mensch und das Fleisch mit Christo durch den Glauben im heiligen Geist wirklich gekreuzigt und begraben ist, wie das Evangelium es klar bezeugt (Rom. 6,6), so hat der Christ das Recht, den alten Menschen und das Fleisch als etwas Außenstehendes zu betrachten, von dem er durch das Kreuz Christi thatsächlich getrennt und geschieden ist, so lange er in Jesu bleibt. Er darf getrost glauben, daß Jesu Blut ihm näher ist, als sein alter Mensch, ja daßJesu Blut und Kreuz zwischen ihm und dem alten Menschen als ein zwar durchsichtiger, aberfester Schild steht. Der so geheiligte Christ hat noch die Erinnerungen des alten Menschen täglich vor sich; aber er weiß sich davon geschieden und getrennt durch Christum, den er angezogen hat".. . 7 0 3 .

3. Das Stufenschema Die Zweilinigkeit, die bei Jellinghaus in dem Dualismus der Reich-Gottes-Anschauung, bei der Christologie, in den Todes- und Auferstehungs696 697 698 699 700 701 702 703

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Ebd. unter Verweis auf Völliges Heil 5 , S. 614. 627. Lit. s. Anm. 689. Jellinghaus, a. a. O., S. 602. Ebd., S. 604. Ebd., S. 608. Ebd., S. 602. Fleisch, Manuskript, S. 94f. Jellinghaus, a. a. O., S. 622. Ebd., S. 625.

kräften und in der Anthropologie und im Heilsweg in den Begriffen Mitsterben und Mitauferstehen schon angelegt war, setzt sich in der Anschauung von zwei Stufen des Christseins fort. Einmal liegt sie in der Konsequenz des Mehr, das er gegenüber der Rechtfertigungsgnade in der Heiligungsgnade postuliert (besser: erfahren hat!), dann aber ist sie ihm von den angelsächsischen Vertretern der Heiligungsbewegung vorgegeben, deren Lehren er im Grundsatz als biblisch erkannt hat. Begrifflich fällt es ihm schwer, die beiden Stufen zu unterscheiden, denn „wenn ein Christ bekehrt oder wiedergeboren und nun die Liebe Gottes in sein Herz ausgegossen ist, da ist er oft so innerlich los von der Sünde, daß er die volle Macht der Sünde nicht kennt." 7 0 4 Wenn einer mit Bekehrung und Wiedergeburt alles hat, was man haben kann, erübrigt sich i m Prinzip ein weiterer Fortschritt. Trotzdem hältjellinghaus aus praktischen Erwägungen an der Vorstellung einer zweiten Stufe fest. 7 0 5

Die inhaltliche Unterscheidung der Stufen Auch wenn der Glaube in Gemeinschaft mit dem völligen Erlöser bringt, gibt es Ursachen, daß der Gläubige das völlige Heil noch nicht ergreifen kann. „Ein Grund dafür ist die so oft fehlende Unterweisung. Die Gerechtfertigten wissen nicht, daß es überhaupt möglich ist, alle erkannten Sünden zu meiden." 7 0 6 Die Folge sind Selbstheiligungsversuche, die in der Sünde enden. O f t ist auch die Hingabe an Christum keine völlige, so daß „die Hingabe immer der wachsenden Erkenntnis gemäß völliger und gründlicher werden soll. Wächst sie so, dann ist sie trotz ihrer Wachstumsbedürftigkeit im biblischen Sinne völlig."707 Ein Mangel an totalem Vertrauen in die tatsächlichen Kräfte Jesu oder eine Fixierung auf die Macht der Sünde können hindern, das völlige Heil zu ergreifen. 7 0 8 Auf der ersten Stufe der Heiligung sind viele der Meinung, „Geist und Seele müßten dem Herrn geweiht sein und in Liebe und Andacht ihm dienen; aber der nichtige, an die Erde gebundene Leib müsse im Wesentlichen noch der Welt dienen wie früher. Man will wohl gern in der innersten Seele dem Herrn einen Altar bauen und geistliche, himmliche Kräfte 704 Ebd., S. 413. 705 Ebd., S. 508: „Wir haben also nicht anzunehmen, daß nach der Bibel bei jedem gläubigen Christen ein zweiter zeitlich bestimmter Vorgang einer völligen Hingabe eintreten müsse. Aber das ist nach der thatsächlichen Erfahrung wahr, daß bei den meisten gläubigen Christen nicht lange nach der Bekehrung und dem ersten Liebesfeuer ein Mangel an völliger Glaubenshingabe und ein teilweises Wandeln in Selbstgesuch oder Selbstregierung oder Selbstquälerei oder Weltdienerei sich zeigt." 706 Fleisch, a. a. O., S. 100, unter Verweis auf Völliges Heil s , S. 493. 707 Jellinghaus, a. a. O., S. 508. 708 Ebd., S. 508-513.

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schmecken; aber m a n meint, mit d e m Leibe in der Welt habe m a n nach menschlicher Vernunft und irdischer Art zu leben wie die anderen. A u f diese Weise bleibt man in fast allen natürlichen Verhältnissen des geselligen Lebens, der Familie, des Volkes, des Standes, des Geschäftes, der V e r g n ü g u n gen u n d Erholungen fast in demselben, nicht nur äußeren, sondern auch inneren Gange wie die anständigen Weltleute." 7 0 9 D e m steht entgegen: „Wer an das große erlösende Wunder des Opfers Jesu wirklich durch den heiligen Geist innig glaubt, der verliert mit Freuden in der Liebeshingabe sein vermeintliches Eigentumsrecht übersieh"710 u n d wird fähig zur wahren Weltlosigkeit 7 1 1 , z u m .inneren Lossein' 7 1 2 v o n der ganzen sichtbaren Welt. Erst aus dieser Haltung heraus kann der Christ „innerlich von allem Vergänglichen los" in der Welt Gottes Willen tun als Familienmitglied und Volksglied. „Bei dieser Seelenstellung zur Welt kann der innere Friede in Christo stets unerschüttert beiben".. , 7 1 3 . Solche Selbstentsagung u n d völlige Hingabe wird aber nur durch den v o m heiligen Geist gewirkten Glauben möglich u n d nicht durch Selbstheiligung. Die zweite Stufe kennzeichnet „ein vertrauensvolles, williges Sichüberlassen an Jesum, den guten Hirten oder ein gläubiges Sinken in die starken Gnadenhände Jesu z u m ewigen, seligen E i g e n t u m " 7 1 4 . Jellinghaus lehnt es ab, mit d e m Wachstum des Christen auch ein Wachst u m der Gnadengaben zu verbinden. Es ist möglich, aber nicht notwendiges Zeichen, daß auch neue Gnadengaben erkannt und ergriffen werden. Für die Gemeinde soll dann freilich doch gelten, daß, soll sie die „Wundergaben in reicherem Maße als bisher wieder erhalten, so ist zuerst und vor allem nötig, daß sie fest in der Heiligung, die da in Jesus ist, gegründet werde. Bei noch wenig gereinigten Herzen, bei Mangel an D e m u t und Selbstlosigkeit k ö n n ten diese Gaben zu leicht mißbraucht w e r d e n " . 7 1 5 D e r Sinn der verschiedenen Sündenkategorien wird v o m Stufenschema her als Postulat deutlich (das allerdings auch mit der seelsorgerlichen Einsicht zusammenhängt, die Jellinghaus gewonnen hat); denn auf der ersten Stufe geht es vor allem u m die Ü b e r w i n d u n g der ersten Kategorie, während auf der zweiten Stufe es auch Sieg über die u n b e w u ß t e n Schwachheitssünden bzw. die Kategorien 2 bis 4 und das reine Herz gibt. 7 1 6

Die Aneignung der Heiligungskräfte Jesu Voraussetzung ist die völlige Hingabe. Zugleich heißt es: „Aber wir k ö n n e n nichts von den Heilskräften Jesu u n d des Evangeliums dauernd haben und i m m e r reichlicher nehmen, ohne durch den heiligen Geist, d. h. 709 712 715 716

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Ebd., S. 518. 710 Ebd., S. 517. 711 Ebd., S. 521. . Ebd., S. 522. 713 Ebd. 714 Ebd., S. 526. Vgl. 486f. Fleisch, a. a. O., S. 101, unter Verweis aufVölliges Heil 5 , S. 680. Vgl. ebd., S. 102.

ohne mit dem heiligen Geist immer mehr getauft und erfüllt zu sein. Wir sind gänzlich abhängig vom heiligen Geiste und können keinen Fortschritt in der Aneignung der Todes- und Auferstehungskräfte machen, ohne ein erhöhtes Maß des heiligen Geistes".. . 7 1 7 Geist, Wort und Blut Christi bewirken zusammen mit dem Willen des Menschen den Fortschrtt in der Heiligung. - Implizit kommt es zu einer Abwertung der ersten Heiligungsstufe, denn das N o r m a le ist die völlige Erlösung durch den völligen Erlöser. 7 1 8

Das Erreichen der zweiten Stufe Vorbedingungen sind: 1. tiefer Hunger nach Gerechtigkeit und Heiligung, 2. gründliches Verzagen an aller eigenen Kraft, 3. gründliche Sündenentsagung und Verleugnung seiner selbst, des Eigenwillens und der Weltliebe, 4. gänzliche Hingabe von Leib und Seele an den Herrn zum bleibenden, völligen, geheiligten Eigentum. 7 1 9 Diese Forderungen werden nur an Christen gerichtet, die den heiligen Geist schon haben: „Man könnte diese Stücke „die Buße der Gläubigen" zur tieferen Heiligung durch den Glauben nennen". 7 2 0 Aber der Geist handelt nicht automatisch: „Der himmlische Arzt kann uns nur heilen und heiligen, wenn wir ganz dazu willig sind. "721 Im Vorgang dieser Glaubens-Willensbewegung entdeckt nun der Mensch auch immer mehr, was noch Sünde an ihm ist, und kann sie ablegen. 722 Für den Umfang der Heiligung auf der zweiten Stufe findet Jellinghaus außer einer komparativischen Ausdrucksweise keine eigentlich neuen Inhalte. Sie schließt, wie oben gesagt, das Leibesleben und die innere Distanz zur Welt ein. Als Vorbild wird Teerstegen genannt. 7 2 3 Neu ist allenfalls eine verstärkte Wertung und Erwähnung der Mitwirkung des heiligen Geistes (heilig wird dabei von Jellinghaus immer klein geschrieben; dieser Geist ist nicht Person, er ist Wirkkraft!). Betont wird auch eine zunehmende Stetigkeit des Glaubenden: „Der stetige Glaubensblick auf die unerforschliche, überschwengliche Liebe des für uns nach Seele und Leib gemarterten Erlösers, der durch tiefste Erniedrigung, Schmach, Blutvergießen und bitteres Sterben uns aus der Hölle Pein und Schmach erlöst hat, soll uns antreiben, nun auch uns selbst zu sterben und Christo ganz zum ewigen Eigentum und Liebesopfer durch des heiligen Geistes Kraft zu ergeben, um hinfort nur in Ihm und für Ihn zu leben und in der Liebe und Liebesarbeit für Ihn aufzugehen." 7 2 4 717 718 719 720 721 722 723 724

Jellinghaus, a. a. O., S. 480. Vgl. Fleisch, Manuskript, S. 103. Jellinghaus, a. a. O., S. 486. Ebd. Ebd., S. 487. Ebd., S. 503. Vgl. Fleisch, Manuskript, S. 109. Fleisch, Manuskript, S. 108. Jellinghaus, a. a. O., S. 517.

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Der Heiligungsglaube der zweiten Stufe Jellinghaus verwendet verschiedene Ausdrucksweisen, die aber alle schon von der ersten Stufe her bekannt sind: Übergabe, völlige Übergabe, unbedingter Glaubensgehorsam, Vertrauen. 7 2 5 Auch die Aufforderung zum Jetztglauben findet sich hier ebenso wie die Betonung des Willensaktes 726 . N u r die Hervorhebung der Geistestaufe fällt auf. Da aber auch schon im Gerechtfertigten der Geist wohnt, handelt es sich nur um ein tieferes Getauftwerden und Erfülltwerden, das zugleich tiefere Lebensgemeinschaft mit Christus bedeutet. 7 2 7

Das Beharren auf der zweiten Stufe Jellinghaus muß das Problem lösen, wie man nun einerseits im völligen Heil, in der ganzen Heiligung bleiben kann, ohne sie zu besitzen; denn jeden Quietismus will er vermeiden und das extra nos des Heils festhalten. Darum gibt es keinen einmaligen Akt der Herzensübergabe und dann Ruhe, sondern ein fortwährendes „Jetzt", ein ständiges Verhalten des Gläubigen. Der Christ darf nicht nachlassen in der .fortwährenden völligen Übergabe und im fortwährenden Glauben' 728 . Unter dem Aspekt des Gehorsams kann Jellinghaus auf der zweiten Stufe vom steten Gehorsam des Gläubigen sprechen 729 , der seine besondere Ausprägung im Gehorsam gegenüber der Führung findet. „Nur in Jesu Führung und Nachfolge ist eine Möglichkeit, „von dem Bösen stets erlöst zu werden". Denn steht der Christ in Jesu Führung, so richtet Jesus den Gang der Christen entweder So, daß er der Versuchung entrückt wird, oder Er gibt ihm vorher besondere Warnungen und Kräfte zum Siege." 730 „Der Herr . . . leitet seine Jünger nicht durch eine geschriebene Liste von Geboten, sondern mit den Augen von einer Arbeit in die andere. Wenn der Christ so dem Leiten des Herrn Schritt für Schritt treu folgt, so bleibt er auch von den Gewissensanklagen wegen der Unterlassungssünden befreit." 7 3 1 Neben dieser direkten „Augenleitung" Gottes kennt Jellinghaus drei Mittel, mit denen man stets den Willen Gottes erkennen und ihm nachfolgen kann: 1. durch die Schrift, 2. durch die von Gott verordneten Umstände und Ereignisse unseres Lebens und 3. durch das geheiligte Urteil und die innere Stimme oder den Eindruck des Geistes Gottes auf unseren Geist. 732 Der Hauptakzent liegt auf der inneren Stimme. Es gibt aber auch eine dem Gläubigen unbewußte Führung. „Aber nun ist es zugestandenermaßen nicht einmal leicht, diese innere Stimme des Geistes

725 727 729 731

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Vgl. Fleisch, a. a. O., S. 111 f. Vgl. ebd.,S. 112f. Vgl. ebd., S. 117. Ebd., S. 593.

726 728 730 732

Vgl. ebd., S. 112. Vgl. ebd., S. 113-116. Jellinghaus, a. a. O., S. 591. Vgl. ebd., S. 595.

von anderen zu unterscheiden, selbst von satanischen. Dadurch entsteht ein fast auswegloser Zirkel." 733 Kriterien für die Einschätzung der inneren Stimme nennt Jellinghaus nicht. Auch auf der zweiten Heiligungsstufe bleibt das Kämpfen und Ringen gegen die sündige Welt, gilt es gegen Satan zu wachen, und es gibt grundsätzlich die Möglichkeit des Wiederfallenkönnens der Geheiligten734 wie auch Konflikte unter den Brüdern in Christo 735 .

Die

Heiligungsgewißheit

Volle Heiligungsgewißheit erhält der Christ vor allem durch das innere Zeugnis des heiligen Geistes736. Aber es gibt auch vier Gewißheiten, die aufeinander aufbauen und im Idealfalle zusammenwirken: 1. die Gewißheit der Sündenvergebung und des Gnadenstandes, 2. die Gewißheit des reinen Herzens und des Sieges über die Sünden und den Teufel durch Jesu Blut (Jünglingsstufe 1 Joh. 2, 2,13-15), 3. die Gewißheit der Durchhilfe in aller Not, Gefahr und Angst, 4. die Gewißheit der Bewahrung in Jesu bis zum Eingang in die Herrlichkeit. Wer die Gewißheit seines gegenwärtigen Gnadenstandes festhalten will, der muß zur Gewißheit seiner Reinigung und Reinbewahrung durch Jesu Blut μnd der Durchhilfe in aller Not durchdringen und so durch den heiligen Geist versiegelt werden auf den Tag der vollen Erlösung. Die Reihenfolge darf nicht umgekehrt und besonders Nr. 2 nicht ganz ausgelassen werden. 737

Ekklesiologische

Implikationen

Kirche ist als Institution kein eigentliches Thema fur Jellinghaus. Daß sie allenfalls eine Wirkung des Reiches Gottes ist, aber nicht das Reich Gottes selbst und auch nicht der Ort des Reiches Gottes in der Welt, ist schon gesagt. Sein Interesse gilt der direkten Beziehung des Gläubigen zu Gott. Somit werden Verfassung, Bekenntnis und Gestalt der Kirche implizit unwesentlich. Jellinghaus wird auch an keiner Stelle zum grundsätzlichen Kirchenkritiker. Anders bei der Theologie, hier setzt er sich besonders ablehnend mit Ritsehl auseinander. „Die deutsche Theologenzunft, obwohl sie in allen ihren Richtungen jetzt behauptet, daß die christliche Glaubensgewißheit, Glaubenslehre und Ethik nur auf der thatsächlichen christlichen Erfahrung beruhen könne, geht doch unbekümmert um die wirklichen 733 Fleisch, Manuskript, S. 119. Innere Stimme und sensus communis (Fabri und die Süddeutschen) haben zumindest das gemeinsam, daß sie nicht kontrollierbar sind. 734 Ebd., S. 123. 735 Jellinghaus, a. a. O., S. 658. 736 Fleisch, a. a. O., S. 125. 737 Jellinghaus, a. a. O., S. 679f. Vgl. Fleisch, Manuskript, S. 125.

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Erfahrungen und geistlichen Errungenschaften der gläubigen weltüberwindenden Kreise ihrer Zeit kühl und stolz den einsamen und fast menschenleeren Weg ihrer dogmatischen Begriffsentwicklungen und kritischen Streitereien. Sie sucht die Mängel der hergebrachten Kirchenlehre meist bloß durch oft recht widerbiblische Subtraktion zu heilen. Heil liegt aber für die Theologie nur darin, daß sie, nachdem sie von der Kirchenlehre alles aus der römischen Rechtslehre, der griechischen Philosophie und dem heidnischen naturfeindlichen Mystizismus stammende wirklich Unbiblische subtrahiert hat, nun (aus der Erfahrung des weltüberwindenden Christentums aller Zeiten und besonders aus unserer Segenszeit heraus) zu derselben die rechte Addition der ganzen biblischen Wahrheit vom völligen, wiederkommenden Erlöser und dem Himmelreiche in Ihm macht." 7 3 8 Also könnte nur eine Theologie, die die Vorgaben der Heiligungsbewegung zu ihren eigenen macht, rechte Theologie sein. Auch die positiven, an der Offenbarung orientierten, Theologen werden zwar immer wieder angeführt, aber eher in dem Sinne, daß auch ihnen letzte Erkenntnis noch fehlt. 739 Gelegentlich wird auf die angelsächsische Theologie als Vorbild verwiesen 740 . Der Zweck, zu dem er sein Buch geschrieben hat, ist, „daß die Braut Christi, die Gemeinde der Gläubigen, angetan werde mit Kraft aus der Höhe, . . . um . . . dann geschmückt und rein ihrem wiederkommenden Bräutigam und Könige entgegen zu gehen" 741 . Und wenn er an den Schluß seiner Vorrede zur ersten Auflage den Ruf der Gemeinde aus dem letzten Kapitel der Offenbarung „Ja, k o m m Herr Jesu!" in diesem Zusammenhang anfügt, dann ist klar, daß er die eschatologische Heilsgemeinde vor Augen hat und zu ihrer Ausbildung beitragen will. 7 4 2 Von seinen Ausführungen zum Heilsweg des Christen her ist er aber doch genötigt, nach der Funktion und Bedeutung der Sakramente zu fragen. Die Taufe „sowohl der Kinder als der Erwachsenen ist die Aufnahme in den Vorhof der allgemeinen Christenheit, nicht in das Heiligtum des Reiches 738 Jellinghaus, a. a. O., S. 722f. Vgl. ebd. die Anmerkung. 739 Vgl. ebd., S.397u. ö. 740 Ebd., S. VIII. 741 Ebd., S. 9. 742 Ebd. Vgl. S. 296f. Anm. „Durch diese Erkenntnis, daß man in der Wiedergeburt ins obere Gottesreich geboren und versetzt wird, sind wir auch vor der Seelenruhe gesichert, in welche viele Gläubige geraten, wenn sie meinen, sie müßten sich nun eine aus einzelnen geheiligten Gläubigen bestehende und nach apostolischer Art wandelnde sich regierende Gemeinde als Mutter suchen, und wenn sie dann eine solche nirgends finden oder sammeln können. Die wirkliche Mutter ist immer eher da als das Kind. Darum ist es Thorheit, sich als Gläubiger eine von den vielen Kirchen als Mutter zu suchen oder gar eine Mutter durch eine Neuorganisation sich bilden zu wollen." - Ohne daß hier Raum ist, Näheres zu erläutern, sei doch angemerkt, daß im Raum des Protestantismus nur in der Aufnahme der biblischen Rede von der Kirche als Braut Gottes die Möglichkeit gegeben ist, in weiblichen Kategorien vom Gottesverhältnis zu reden. Ausgesprochene Brautmystik hat der mitjellinghaus eng befreundete Otto Stockmayer entwickelt, der ebenfalls von der Heiligungsbewegung entscheidende Anstöße erhalten hat. Zu Stockmayer, vgl. vor allem Fleisch, Manuskript, S. 133-192.

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Gottes" 7 4 3 , sie ist die Außtahme in die sichtbare Kirche und in ihren Segensbereich und damit auch in eine Art von „GnadenVerhältnis zu Christo" sie „gibt erfahrungsgemäß sowohl bei Kindern als bei Erwachsenen kein neues, wirksames Leben aus Gott, macht noch nicht zu einer neuen, wiedergeborenen K r e a t u r " . . . 7 4 4 Die Kindertaufe wird nicht abgelehnt, segensreich ist sie aber nur bei einem gläubigen Elternhaus. 7 4 5 Mit dem Bilde v o m Vorhof rückt die sichtbare Kirche an den äußeren Rand des Heilsgeschehens. Die Aussagen zum Abendmahl sind unausgeglichen. Da durch Christi Blut, Wort und Geist Christus schon im Gläubigen ist, wird das Abendmahl zur Erinnerung und mehr psychologisch begründete Versicherung des Gnadenstandes: „Damit wir trotz der mangelnden Sichtbarkeit unsers erstgeborenen Bruders und Hauptes, doch an Seine wirkliche Gegenwart nach Gottheit und Menschheit kindlich und selig glauben und Seiner Wiederkunft uns freuen sollten, ist das heilige Abendmahl eingesetzt, als Bewahrung des Großen Geheimnisses „Christus in uns". 7 4 6 Christus ist im Abendmahlfiir die Gläubigen gegenwärtig in der Handlung, nicht in den Elementen (Brot und Wein). Diese Gegenwart Christi bei den Seinen ist aber nicht an das Abendmahl gebunden, sondern Christus ist als Haupt, als Weinstock, als Brot und Trank, als Lebensfurst, König und Freund immer bei den Seinen, wie er klar sagt: „Ich bin bei euch alle Tage", „wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen". " 7 4 7 Das Abendmahl kann aber auch im Sinne des alttestamentlichen Passahmahles als Feier der Schuldvergebung und zur Erlösung von aller Sündenschuld dienen. Wer so zum Abendmahl k o m m t , hat „das Gnadenrecht und die heilige Pflicht, den ganzen Christus für uns und in uns als sein volles, gegenwärtige Heil, Lebensbrot, Erlösung und Sieg jetzt i m Glauben anzunehmen und zu behalten." 7 4 8 Weder Taufe noch Abendmahl sind heilsnotwendig. Das ist nicht zufällig - sakramentalen Chrakter hat ja schon die Verbindung mit dem Blut Jesu i m Stand der Heiligung. Von der Predigt ist beijellinghaus nur in bezug auf das richtige Erfassen des organischen Zusammenhangs von Rechtfertigung und Heiligung die Rede. 7 4 9

Implikationen des heilsgeschichtlichen Konzepts Im Mittelpunkt der Heilsgeschichte steht das Individuum, es ist D r e h und Angelpunkt für das, was im Reich Gottes geschieht. Die Gläubigen sind unmittelbar mit der oberen Welt verbunden. Diese Unmittelbarkeit zu 743 Jellinghaus, a. a. O., S. 316. 744 Ebd., S. 317. 745 Ebd., S. 325. 746 Ebd., S. 483f. 747 Ebd., S. 484, Anm. Vgl. oben Fabris ganz ähnliche Auffassung von der Begründung der Kirche, Anm. 489. 493. 748 Jellinghaus, a. a. O., S. 675. 749 Ebd., S. 542f. Vgl. S. 321, Anm.

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Christus, zu seinem Wort und seinem Geist (auch ,zu seinem Blut'), überspringt die Distanz, die geschichtlich zwischen dem Jetzt und den apostolischen Zeiten liegt. Die apostolischen Zeiten gewinnen als Urbild christlichen Heiligungslebens normativen Charakter, und die besondere Segenszeit jetzt ist durch die Wiedergewinnung der apostolischen Einsichten und Gaben begründet. 7 5 0 Das Jetzt der Glaubensentscheidung, das ständige Jetztglauben-Müssen verengt die Geschichte wie auf das Individuum so auch auf die Aktualität. Gestalten aus der Kirchengeschichte, Lehren und Ereignisse werden an dem gemessen, was sie zum richtigen Verständnis von Rechtfertigung und Heiligung beigetragen haben. Das Materialprinzip der Kirchengeschichte wird die Heiligungslehre der Heiligungsbewegung. Geschichte wird zum Anschauungsmaterial für die Lehre, allenfalls noch zur Verdeutlichung einer Lehrentwicklung. Als testes veritatis nennt Jellinghaus Zinzendorf, Goßner, Tersteegen, Wesley, auch Luther, Culmann und Fabri, aber in einer engeren Reihe dann doch nur Zinzendorf, Wesley, Finney, Mahan, U p h a m , Boardman und Smith 7 5 1 als die eigentlichen Lehrer der Heiligungslehre. Diese Zeugen mißt er an seiner Heiligungsanschauung, und keine andere theologische Tradition wird zum Maßstab genommen. Da jetzt wie zu keinen anderen Zeiten die Einsichten und Kräfte der apostolischen Zeit wieder Platz greifen, ist auch für Jellinghaus seine Zeit eine besondere Zeit, die Zeit der Ausbildung der Brautgemeinde. Vielleicht stärker noch als aus der Konsequenz seiner Heiligungslehre ergibt sich von dieser Einsicht in den Stand der Weltgeschichte und des Reiches Gottes her der drängerische Charakter der Aufforderung zum „Jetzt-Glauben". Die gegenwärtige Zeit ist Entscheidungszeit.

Implikationen fiir den Gebrauch der Bibel Es ist nach dem vorher Ausgeführten nicht überraschend, daß auch im U m g a n g mit der Bibel die Erfahrung das bestimmende M o m e n t ist, sie leitet den Schriftgebrauch. 7 5 2 Auch wenn expressis verbis die Reihenfolge „Schrift-Erfahrung" 7 5 3 ist, wird faktisch die Erfahrung immer vorgeordnet. Die Bibel enthält .geheimnisvolle und tiefere Lehren', u m die man sich besonders mühen m u ß 7 5 4 und die den .bekehrten' bibelkundigen, Christen dargelegt werden können. Unter der Prämisse, den Schriftbeweis für seine Heiligungslehre bringen zu müssen, k o m m t Jellinghaus zu eigenwilligen Deutungen und U m d e u tungen biblischer Texte und Zusammenhänge, wobei er auch auf Interpretationen des .ursprünglichen Sinnes' der griechischen Sprachform 7 5 5 zurück750 Ebd., S. 397. Vgl. S.348. 752 Ebd., S. 15. 754 Ebd., S. VI.

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753 Ebd., S. 629. 751 Vgl. ebd. die Seiten 716-720. 755 Ebd.

greift und zu ausfuhrlichen Kritiken an der Bibelübersetzung Luthers kommt. 7 5 6 „Der Galaterbrief bietet Jellinghaus vor allem den Schriftbeweis fur die Heiligung durch den Glauben und damit auch für die Zweistufenentheorie. Denn „die Galater waren gläubige, bekehrte Christen und Kinder Gottes, die den heiligen Geist empfangen hatten und durch den heiligen Geist wiedergeboren waren, denen dies auch im Bewußtsein feststand". 7 5 7 Sie waren „in den Irrtum geraten, daß sie außer Christo . . . auch noch die Werke des Gesetzes zu eigener Kraft und Führung zu ihrer Heiligung (von mir gesperrt!) nötig hätten". 7 5 8 Paulus redet also zu den Galatern nicht etwa von der Rechtfertigung, oder wie Jellinghaus bezeichnenderweise sagt, „über den Anfang des christlichen Lebens", sondern „über den Fortgang, den Wandel in der Heiligung". 7 5 9 Handelt doch nach Jellinghaus selbst Gal. 3,6 ff. nicht „von der Bekehrung und Rechtfertigung Abrahams im eigentlichen Sinne", „sondern von der Mitteilung der Gerechtigkeit Gottes im späteren Glaubenslaufe", wobei Gerechtigkeit ausdrücklich als „Rechtbeschaffenheit und Heiligung" gedeutet wird. 7 6 0 Bei solcher Auffassung des Briefes kann Jellinghaus behaupten, daß Paulus Gal. 4,19 „nicht eine erneute Bekehrung" der Galater ersehne, „sondern er will sie auf eine bestimmte höhere Stufe des Glaubenslebens und der Ähnlichkeit mit Christo bringen". 7 6 1 Nicht ganz so unbekümmert, wie andere Vorläufer der Heiligungsbewegung verwendet Jellinghaus Hebr. 4 für das Eingehen in die zweite Stufe und Matth. 11,28-30 für die Unterscheidung der ersten (kommet her - erquikken) und der zweiten Stufe (nehmet auf euch usf.). Hebr. 4 möchte er lieber mit Starke und Goßner vom „Glaubenseingang in die Ruhe im Diesseits und im Jenseits" verstehen und meint, solche Trennung des Spruchs Matth. 11 habe kaum „in der Absicht des Herrn Jesu gelegen". Aber „gewiß ist auch, daß der zweite Teil des Spruchs in erster Linie an schon begnadigte Gotteskinder gehen muß. Es beweist unsere Stelle, daß es noch eine tiefere Ruhe zu erlangen gibt als den ersten Frieden der Sündervergebung und die erste Erfahrung der Liebe Gottes". Selbst die Verwendung der Durchgänge durch das Rote Meer und den Jordan als Typus der zwei Stufen gesteht Jellinghaus zu. 7 6 2 Vielleicht zeigt gerade dieser Schriftbeweis besonders deutlich, daß Jellinghaus für die ihm anderweitig feststehende Zweistufentheorie Belege gebraucht hat. 7 6 3 756 Ebd., bes. ausdrücklich zu beobachten im Kap. „Wiedergeburt und Wassertaufe", S. 306-318. Vgl. zu Theodor Jellinghaus, Vorrede zum Römerbrief und ders., Auslegung von Rom. 1, 17. 1903, in: Ohlemacher, Quellen, S. 81-85. 757 Jellinghaus, a. a. O., S. 558. 758 Ebd. 759 Ebd., S. 559. 760 Ebd., S. 563. 761 Ebd., S. 565. 762 Ebd., S. 572ff.; vgl. insgesamt Kap. 7 in Buch II „Der Schriftbeweis fur die Heiligung durch den Glauben", S. 557-581. 763 Vgl. Fleisch, a. a. O., S. 104f.

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Die Bibel ist als Ganze Wort Gottes. „Das Wort Gottes ist die in der Reichsgottesgeschichte geschehene Offenbarung des erlösenden Wesens und Herzens Gottes und Christi". 764Dieses Wort wirkt unmittelbar auf das Herz des Gläubigen durch den Geist Gottes. Aus diesem Wort sind direkte klare Handlungsweisungen zu gewinnen. 765 Entsprechend seiner Einsicht: „Alle Einrichtungen und Ordnungen des Altes Bundes, besonders der Opferdienst war ja ein Vorbild auf Christum, Seine Erlösung und Sein Reich" - entsprechend dieser Einsicht ist die Verwendung des Alten Testaments rein typologisch! 766 Die Zeit des Neuen Testaments ist die Zeit der Erfüllung: „Als nun in Gottes unerforschlichem Ratschluß die Zeit erfüllet war, da wurde der Sohn Gottes durch den heiligen Geist von der Jungfrau Maria empfangen und geboren, um als der zweite Adam das Menschengeschlecht zu erlösen und zu heiligen und so zu Gliedern des Reiches Gottes zu machen. Das ist das Wunder aller Wunder, daß Gottheit und Menschheit in Jesu Persönlichkeit geeinigt sind, und daß die Menschheit Jesu in einer allmählichen Entwicklung vom Kind zum Knaben und Manne, von der Krippe zum Kreuz, zur Auferstehung und Himmelfahrt, immer mehr das Gefäß der Gottheit wurde und die göttliche Herrlichkeit in Sich aufnahm und offenbarte". 767 Es zeigt sich hier eine Linie in dem Schriftverständnis Jellinghaus, die er sonst ablehnt, die aber auch, an anderen Stellen zu Inkonsequenzen in seiner Darstellung führt: In der Bibel findet sich ein forschreitender Offenbarungsprozeß, der mit einem fortschreitenden Entwicklungsprozeß der Menschheit gekoppelt ist. 768 Unterschwellig bestimmt dieser Fortschritts- und Entwicklungsgedanke, den Jellinghaus in der Bibel wiederentdeckt (nicht entdeckt!) die Struktur der gesamten Heiligungslehre mit dem Stufenschema, so daß Jellinghaus subjektiv wohl seinen gewaltsamen Umgang mit der Bibel nicht wahrgenommen hat.

Implikationen

fiirdie

Wahrnehmung

der

Wirklichkeit

Im Mittelpunkt des Interesses steht bei Jellinghaus das fromme Subjekt. Er betreibt Introspektion. Dies tut er von der Warte desses aus, der selbst schon Anschluß an das Reich Gottes gewonnen hat. Was über dieses Interesse am Subjektiven hinaus benannt wird, ist dem Dualismus von Reich Gottes und Welt jeweils zugeordnet. Auf der Weltseite herrscht der Unglau764 Jellinghaus, a. a. O., S. 479. 765 Ebd., S. 595. Vgl. Fleisch, a. a. O., S. 118; zur unmittelbaren Wirkung vgl. Cremer, Das vollkommene gegenwärtige Heil in Christo, S. 20. 766 Jellinghaus, a. a. O., S. 14. 767 Ebd., S. 15. 768 Vgl. dazu den Abschnitt „Der religiöse und sittliche Zustand der Völker von Adam bis Abraham", S. 8f. 769 Ebd., S. Vif. 188

be, findet sich ungläubige Literatur, sind die Weltleute und die Sozialdemokraten. 7 6 9 Unglaube geht mit Bildung und besonders den materialistischen Naturwissenschaften Hand in Hand. 7 7 0 Ebenfalls noch auf der Weltebene beobachtet Jellinghaus die Schwäche der Kirche. Ihre Vertreter sind weder in moralischer Hinsicht überzeugende Vorbilder noch üben sie untereinander die gebotene Bruderliebe! 7 7 1 „Die Mächte des Unglaubens und der Finsternis sindjetzt größer als je, und es ist klar und am Tage, daß, wenn die gläubige Christenheit sich nicht tiefere Heiligung und größere Geistesgaben von ihrem himmlischen Haupte und Feldherrn schenken läßt, sie nicht siegen kann. Besonders in unserem deutschen Vaterlande ist die Welt nach allen Richtungen hin, ζ. B. die Gelehrten, die Literaten, die Naturwissenschaftler, die Dichterwelt, die Staatsmänner, die Juristen, die Arbeiter, die Lehrer, so sehr v o m gläubigen Christentum entfernt, daß es ganz unmöglich ist, daß sie durch die bisherigen Kräfte des Christentums sollten wiedergewonnen werden. Die jetzigen Zustände sind ja eine Folge der Machtlosigkeit der Kirche; wie sollte denn die Kirche ohne Erneuerung nun sie besiegen können?!" 7 7 2 Die Analyse der Zeit ist eine rein religiöse. In einem religiösen Mangel sieht Jellinghaus die Ursache für die krisenhaften Erscheinungen seiner Zeit. Entsprechend dieser Analyse ist dann auch die Therapie: „Wir brauchen eine Offenbarung der Gegenwart Gottes (Jer. 3,17), ein Durchdrungenwerden v o m heiligen Geiste und durch Ihn neue Blicke in die Größe der Erlösermacht Jesu. Gerade die N o t der Verkommenheit der Zeit soll uns, wie die Propheten des Alten Bundes, zu den kühnsten Erwartungen von Gottes Heiligungsmacht und Offenbarung Seiner herrlichen Gnade an der Gemeinde antreiben". 7 7 3 Die Sicht der Gegenwart ist pauschal, bestimmt von der dualistischen Zuordnung. Wenn erst einmal klar steht, wer so einzuordnen ist, dann kann es nur noch darum gehen, das ganze Gewicht auf die Durchsetzung der Therapie zu legen, und weil diese eben nur in einer Erneuerung des Volkes durch die Heiligung liegt, 7 7 4 konzentriert sich Jellinghaus auf dieses .Lehrstück'. Dabei geht es ihm aber gerade nicht u m die Lehre, sondern das Leben, das geheiligte Leben der Gläubigen; denn bei der Tatsachengläubigkeit der Gebildeten sind sie „nicht anders von der Wahrheit des Christentums zu überzeugen, als wenn das heilige Leben der Christen als eine Tatsache fur sie darstellt, die sich nicht aus natürlichen Gründen aufklärt, sondern nur aus der heiligen Macht des Todes und der Auferstehung Christi, an welche Christi Jünger glauben und in der sie leben". 7 7 5 „Wir bedürfen aber in unsrer Zeit, in der das Antichristentum mit solcher Siegesgewißheit und Rücksichtslosigkeit in der Wissenschaft und im sozialen Leben auftritt und so viele begeisterte, aufopfernde Anhänger hat, einer Christenschar, die ganz 770 Ebd. 772 Ebd., S. 393. 774 Ebd., S. 700, Anm.

771 Vgl. ebd., S. 391-397. 773 Ebd. 775 Ebd., S. 392f.

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fur den Herrn lebt und die in einem tapferen, wahrhaft himmlischgerichteten Wesen und Wandel den Frieden und die Gnadenkräfte in Jesu offenbart und um sich her verbreitet." 776

776 Ebd., S. 516, vgl. 488-498.

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VII. Zur „Theologie der Gemeinschaftsbewegung" Im Rahmen der Aufgabenstellung dieser Untersuchung hat es sich als notwendig und nützlich erwiesen, die Reich-Gottes-Vorstellungen in den Blick zu nehmen, die bei den Verfassern des Entwurfs zur Einladung und denen des Einladungsschreibens zur ersten Gnadauer Gemeinschaftskonferenz gegeben waren. Die Implikationen und Konsequenzen aus dem in Einzelzügen durchaus unterschiedlichen Denkrahmen „Reich Gottes" sind oben entfaltet worden. Als ein erstes Ergebnis wird man festhalten können: Die Theologie der Gemeinschaftsbewegung ist in sich spannungsreich und wird von dem Reich-Gottes-Begriff zusammengehalten. Die Spannweite des Reich-Gottes-Begriffs ermöglicht es seinen Vertretern, sich Orientierung in Raum und Zeit zu verschaffen. Sei es, daß sie sich als Glieder in diesem Reich verstehen, sei es, daß sie an seiner allmählichen Durchsetzung beteiligt sind. Die eigentümliche doppelte Dynamik, die auch dem biblischen Reich-Gottes-Verständnis eigen ist (anbrechende Gottesherrschaft und eschatologisch-apokalyptische Vorstellung eines Endzustandes der Welt), 777 ist in diesem Denkrahmen durchaus gewahrt. Das Ineinander von präsentischem und futurischem Moment ermöglicht es, die als widersprüchlich oder bedrohlich empfundenen Entwicklungen der Zeit, die „Kämpfe" zu interpretieren, mit ihnen umzugehen und sich nicht lahmen zu lassen. Alle gegenwärtigen Erscheinungen und Ereignisse werden auf ein Ziel hin relativiert. Indentifikationen von Reich Gottes etwa mit Staat oder Kirche oder Bewegung werden vermieden. Alles ist vorläufig, im Prozeß, und hat im besten Falle Zeichencharakter. 778 Zugleich ermöglicht dieses offene Konzept, sich auf Neues einzulassen; Evangelisationen in Wirtshäusern und auf Straßen, berufsständische Organisationsformen von Christen, die Überschreitung von Parochiegrenzen bei missionarischen Unternehmungen, neue Lebensformen christlicher Gemeinschaft wären hier ζ. B. zu nennen. 779 777 Vgl. Karl L u d w i g Schmidt, Art. basileiaktl., in: T h W N T B a n d 1, Stuttgart 1957 (1933), S. 579-595. Auch: Wolf-Rüdiger Schmidt, Art. Reich Gottes, in: T R T B d . 4, 4. Aufl. Göttingen 1983, S. 222-225 und Friedrich Beißer, Das Reich Gottes. Göttingen 1976. Zur doppelten Dynamik: Gerhard Sauter, D i e Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt. Zürich-Stuttgart 1962, bes. S. 66-70. 778 Bedeutsam ist in dieser Hinsicht die Einrichtung der Rubrik „Zeichen der Zeit" in den seit 1890 entstehenden Zeitschriften der Gemeinschaftsbewegung. 779 Vgl. die Auflistung und Würdigung des Neuen bei Reinhold Seeberg, Die Kirche Deutschlands im 19. Jahrhundert. Eine Einfuhrung in die religiösen, theologischen und kirchlichen Fragen der Gegenwart. 2. Aufl. Leipzig 1904, S. 353-371.

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Als weiterfuhrende Aufgabe bietet es sich an, die konkurrierenden Reich-GottesVerständnisse im 19. Jahrhundert, wie sie ζ. T. von Christian Walther dargestellt worden sind, mit der Konzeption der Gemeinschaftsbewegung zu vergleichen und zu untersuchen, welche entsprechenden Praxismodelle, ζ. B. in den Landeskirchen geschichtswirksam geworden sind. Es könnte immerhin sein, daß das Konzept der Gemeinschaftsbewegung im Hinblick auf theologisch verantwortete Innovation christlichen Handelns einen solchen Vergleich durchaus bestehen kann. 7 8 0

Bemerkenswert ist, daß der Entdeckungszusammenhang der Reich-GottesVorstellung, wie sie in den frühen Formulierungen der Gemeinschaftsbewegung begegnet, die Existenz von Christen ist, die sich in vielfältigen praktischen Arbeiten engagieren. Es kommt dabei zu keinem vordergründigen „Praxisprogramm" und auch nicht zu einer bloßen Ethisierung des Verständnisses von Christentum. 781 Es gehört mit zu dem Neuen, im 19. Jahrhundert durchaus nicht selbstverständlichen, daß die Initiatoren ihr Konzept von Anfang an in oekumenischem Zusammenhang formulierten. So sehr sie ihr konkretes Arbeitsfeld in Deutschland sahen, so sehr waren sie doch zugleich bereit, von Erfahrungen der Christen an anderen Orten der Welt zu lernen. 782 Das Reich Gottes umfaßt eben die ganze Welt. Der Austausch mit den „Brüdern" aus der Oekumene ist darum auch keine gelegentliche Exotik, sondern natürliche Lebensäußerung derer, die wissen, in welchem Reich sie leben. 783 Gegenüber der bisherigen Forschung sind neu Friedrich Fabri und verstärkt Johann Hinrich Wichern mit ihren theologischen Entwürfen herangezogen worden. Beide stehen stellvertretend für zwei unterschiedliche geistige Strömungen; die eine geht auf den theosophisch geprägten Strang des süddeutschen Pietismus - die andere auf den durch die preußische Erwekkungsbewegung geprägten norddeutschen Pietismus zurück. (Vgl. im Anhang die Nr. 9 u. 10). Beide haben ihren gemeinsamen Bezugspunkt im deutschen Frühpietismus. 780 Christian Walther, Typen des Reich-Gottes-Verständisses. Studien zur Eschatologie und Ethik im 19. Jahrhundert. München 1961. Entsprechend der Aufgabenstellung des Verfassers kommt ihm eher die instrumentale Verwendung des Reich-Gottes-Begriffs in den Blick. 781 Man sollte sich davor hüten, ein simples Theorie-Praxis-Schema in die Beurteilung des Gemeinschaftsbewegung einzutragen. 782 Die weltweite Ausrichtung gehört schon zu den Kennzeichen des Pietismus in der Barockzeit. Vgl. bes. das Kapitel „Das ökumenische Vermächtnis Franckes", in: Erich Beyreuther, August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung. Hamburg 1957, S. 249-262; Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in BrandenburgPreußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971 und ebd. bes. Kapitel I: Die universalen Zielsetzungen des Halleschen Pietismus, S. 1-125. 783 Für diesen Zusammenhang sei hier nur auf die Mitarbeit der Gründer der Gemeinschaftsbewegung im „Christlichen Verein junger Männer" als weltweiter Organisation und in der Evangelischen Allianz noch einmal hingewiesen. Detaillierte Biographien wie die zu Schrenk bleiben ein Desiderat, um diesen internationalen Bezügen im Einzelnen nachgehen zu können. Wie weit das Denken in Kategorien des Reiches Gottes z. b. das Denken in national(istisch)en Kategorien zu relativieren vermochte, wäre eine weiterfuhrende Fragestellung.

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Vor allem die Süddeutschen sind zudem noch von der angelsächsischen Heiligungsbewegung beeinflußt, deren Anschauungen sich als neue Interpretation der Heilsaneignung fur den Einzelnen und sein Wachstum im Glauben in das theosophisch-theologische Konzept einpassen ließen. Die neue Heiligungslehre wurde ohnehin weniger von ihrer systematischen Leistung her gesehen als vielmehr von der Bewegung, die sie auslöste. Die Berichte von den Massenversammlungen in Amerika, England und dann auch Deutschland weckten große Hoffnungen. Sie wurden als „Zeichen der Zeit", der letzten Periode der Weltzeit, begrüßt. Wie die Zunahme der äußeren Mission und das erstaunliche Wirken johann Christoph Blumhardts in Möttlingen und Bad Boll, die Nachrichten von den Erweckungen aus aller Welt und von den Veranstaltungen der Allianzbewegung mußte auch die Heiligungsbewegung die Folge des Eintritts in eine neue Segenszeit sein. In dieser Erwartung waren sich die in Barmen im April 1887 versammelten Männer einig. Hier ist nun aber Veranlassung gegeben, auch auf die fragwürdigen Seiten des Reich-Gottes-Konzeptes der Gemeinschaftsbewegung einzugehen. Die oben herausgestellte Offenheit wird nicht durchgehalten. Der „Reichsblick" verschafft genauere Kenntnis über die Dialektik im Prozeß des Voranschreitens des Reiches Gottes. Das Erlebnis und die Deutung der Revolution von 1848 spielt dabei eine Schlüsselrolle. Wenn die Gewalten der Finsternis so mächtig andrangen, mußte nach dem im Reiche Gottes herrschenden Prinzip eine noch mächtigere Reaktion aus der oberen Welt folgen. Diese Überzeugung trug als kräftiger Impuls in der Folge die Gemeinschaftsbewegung, verschaffte ihr fast überall in Deutschland Resonanz und führte zum Aufbau der größten Organisation innerhalb der Landeskirchen. Mit dem T o d vieler Vertreter der Gründergeneration und infolge des Ausbleibens der erwarteten großen Segenszeit erlahmte u m die Jahrhundertwende dieser erste Schwung. Er schien sich zu erneuern, als aus dem angelsächsischen Raum erneut eine Erweckungsbewegung 1905 von Wales aus nach Deutschland gelangte und in der Gemeinschaftsbewegung freudig begrüßt wurde. Man wird sehr genau untersuchen müssen, welche Konzepte und Personen zu der Zeit in der Gemeinschaftsbewegung führend waren, u m die dann einsetzende Entwicklung bis zur Trennung von der Pfingstbewegung angemessen beurteilen zu können. Vor allem die östlichen Provinzen unter der Führung Jonathan Pauls hatten inzwischen ein Gewicht erhalten, das in den Anfangsjahren noch nicht bestand.

Das Instrumentarium, dessen sich die Begründer der Gemeinschaftsbewegung mit ihrem organologisch auf eine letzte Welt-Menschheit-Harmonie hin entwickelnden Reich-Gottes-Konzept zur Deutung der Geschichte und ihrer persönlichen Rolle in ihr bedienten, ist in seiner Geschlossenheit imponierend. Die oben festgestellten Differenzen fielen nicht so sehr ins Gewicht, weil diese Männer primär die praktische Arbeit fur das Reich Gottes im Blick hatten und sich ihre Zusammenarbeit schon in verschiedenen Komitees bewährt hatte (vgl. im Anhang Nr. 11). Sie waren sich darin einig, daß 193

nur ,νοη Oben', aus der himmlischen Ebene des Reiches Gottes, Kräfte für die Heilung der Nöte ihrer Zeit kommen konnten. Nach eigener Überzeugung hatten sie selbst Anschluß an diese obere Welt gefunden. Gerade in dieser mit vielen Bibelstellen belegten Konstruktion und Überzeugung wird die Grenze und Gefahr der Reich-Gottes-Konzeption der Süddeutschen und Norddeutschen deutlich. Der „Reichsblick", die Klarheit, die man im vorhinein hat, verkürzt die Wahrnehmung der tatsächlichen Verhältnisse. Die Nöte des vierten Standes, die sozialen Umwälzungen wurden zu einem Faktor der Weltentwicklung stilisiert. D e n R a h m e n dieser Untersuchung überschreitet der Vergleich mit den Zielsetzungen des etwa zeitgleich sich formierenden Christlich-Sozialen-Kongresses. D i e sozialethischen Impulse Wicherns, die hier fortgeführt wurden, fanden in der G e m e i n schaftsbewegung w e g e n der politischen Implikationen keinen Widerhall. In dieser Hinsicht verhielten sich die Leiter der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g ganz eindeutig ablehnend: die politische Aktion, wie sie Stoecker und Friedrich N a u m a n n verfolgten, war für sie keine Möglichkeit, eine Besserung der Verhältnisse zu suchen. D a s heißt nun aber nicht, daß Wicherns A n r e g u n g e n nur auf der verbalen Ebene a u f g e n o m m e n w o r d e n wären. Viele diakonische Einrichtungen, „ R e t t u n g s w e r k e " , sind i m Z u s a m m e n h a n g der G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g entstanden. 7 8 4

Die persönlichen Voraussetzungen dieser Männer, ihr Herkommen, die soziale Schicht, der sie angehören, ihre finanzielle Unabhängigkeit (mit Ausnahme Schrenks) ist bei der Beurteilung ihres Gebrauchs der ReichGottes-Konzeption mit in Betracht zu ziehen. Man könnte in ihr auch so etwas wie eine kompensatorische Krisentheorie sehen. 785 Mit einer solchen, allerdings auch schon vorgegebenen Konstruktion versuchten Männer dieser Herkunft, die Entwicklungen, die ihren eigenen Status und ihr Weltverständnis bedrohten, in den Griff zu bekommen. Der unaufhaltsame Aufstieg der organisierten Arbeiterschaft zur politischen Führungskraft wurde nicht nur von den Adligen im Kreis, sondern auch von den Theologen als reale Bedrohung empfunden. Sie teilen in dieser Hinsicht die Einstellung der meisten ihrer Zeitgenossen von entsprechendem Herkommen. Es wäre verfehlt und unhistorisch gedacht, aus der Analyse dieser geistigen Engführung im Nachhinein einen Vorwurf ableiten zu wollen. Solche Beurteilung dient aber dazu, von vornherein zu einer Einschätzung der Geschichte der Gemeinschaftsbewegung zu verhelfen, die das im Einladungsschreiben verkündete Programm in Relation zu den gegebenen geistigen Mitteln setzt. Das Ergebnis ist eindeutig. Mit der durch die Reich784 Vgl. R. Seeberg, a . a . O . , S. 357f.;P. Fleisch, die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, 3. Aufl. 1912, S. 226-273; auch den IV. Teil bei H. v. Sauberzeig, a. a. O., S. 466495, „Besondere Werke der Deutschen Gemeinschaftsbewegung". 785 Zur Dynamik sozialer Konflikte und zu dem bisher erarbeiteten Instrumentarium zur Darstellung vgl. den informativen Überblick von Walter L. Bühl, Die Dynamik sozialer Konflikte in katastrophentheoretischer Darstellung. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 36. J g . , Köln 1984, S. 641-666.

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Gottes-Anschauungen vorgegebenen Einstellung konnte die Gemeinschaftsbewegung mit ihrer Evangelisation die „entkirchlichten Massen" nicht gewinnen. Das heißt nicht, daß bei den Evangelisationen keine Menschen, die aus dem Arbeiterstand kamen, fur ein bewußtes Christenleben gewonnen werden konnten. Die Erfahrungen Schrenks hatten hier schon den Beweis geliefert. Nur war die Evangelisation eben nicht allein die gebotene Antwort auf die im 19. Jahrhundert anstehenden Fragen. Die theologische Deutung ließ sich mit den wirtschaftspolitischen Ursachen der Krise nicht in eine hilfreiche Korrelation bringen. Der Denkrahmen der beginnenden Gemeinschaftsbewegung war in einer anderen Zeit, dem Frühpietismus, in seinen Grundzügen entwickelt und konnte in den Umbrüchen und Krisen der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts nicht mehr genügen. Auch im Hinblick auf die zweite Zielsetzung, die Gemeinschaftsbildung, gaben die Institutionen und Anschauungen vom Reiche Gottes von vornherein Spannungen. Die durch Gesetze und Bekenntnisse verfaßte Kirche wurde von den Mitgliedern des Evangelisationsvereins übereinstimmend als eine im Gang des Reiches Gottes vorübergehende Erscheinung angesehen. Beim Eintritt in die letzte Periode dieser Weltzeit schien ihre Veränderung hin zu dem Idealbild der Philadelphia-Gemeinde bevorzustehen, und an diesem Veränderungsprozeß wollten Christlieb und seine Freunde teilhaben und mitwirken. Sie haben mit dieser Einschätzung und den praktischen Konsequenzen, die sie daraus zogen, mit anderen Zeitgenossen zu ihrem Teil an der Überwindung von konfessionalistischen Einstellungen im oekumenischen Sinne gewirkt und sind so unter die Vorläufer der Oekumenischen Bewegung zu rechnen. Kirchenunionen, das wird besonders bei den kirchenpolitischen Vorstellungen Fabris und Christliebs deutlich, sind immer nur Zwischenziele. Die Vision, auf die sie hinarbeiten, ist die eine große Menschheitsgemeinde. Ihr Kirchenverständnis legt aber auch die Gefahr nahe, jetzt schon die neue Heilsgemeinde bilden zu wollen, die Gleichgesinnten zu sammeln. Die in der Programmschrift der Gemeinschaftsbewegung, dem Einladungsschreiben, geäußerten Vorstellungen zur Gemeinschaftspflege ließen eine Entwicklung in dieser Richtung offen. 7 8 6 Die Initiatoren der Gemeinschaftsbewegung sind dieser Gefahr nicht erlegen. Bei den Süddeutschen ist es das 786 D e m spannungsreichen Prozeß des Ringens u m das rechte Kirchenverständnis innerhalb der Gemeinschaftsbewegung ist die Dissertation von J o a c h i m Drechsel gewidmet: D a s Gemeindeverständnis der Deutschen Gemeinschaftsbewegung, Glessen, Basel 1984. Leider bleibt der Wert dieser Untersuchung besonders unter kirchenhistorischem Aspekt begrenzt, weil eine ausreichende geschichtliche Einbindung der Zitate in der Regel fehlt und ebenso ihre genauere Charakterisierung hinsichtlich des Grades ihrer Verbindlichkeit innerhalb der B e w e g u n g . So bleiben seine Beobachtungen und Urteile unscharf. Eben diesen berechtigten V o r w u r f gegenüber der theologischen BegrifFsbildung innerhalb der Gemeinschaftsbewegung erhebt er selbst, vgl. „ Z u s a m m e n f a s s u n g und Ausblick", S. 198-204.

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Festhalten an der Niedrigkeitsgestalt der Kirche, bei den Norddeutschen das Realisieren des gegenwärtigen Standes des Reiches Gottes, die Fehlentwicklungen verhinderten. E s ist f ü r d e n w e i t e r e n G a n g d e r G e s c h i c h t e d e r G e m e i n s c h a f t s b e w e g u n g f o l g e n reich, d a ß C h r i s t l i e b , F a b r i u n d v o n O e r t z e n b a l d d u r c h T o d a u s d e r B e w e g u n g ausschieden u n d nicht durch t h e o l o g i s c h gebildete M ä n n e r ersetzt w e r d e n k o n n t e n . D i e R e i c h - G o t t e s - K o n z e p t i o n e n d e r S ü d - u n d N o r d d e u t s c h e n w a r e n in ihrer K o m p l e x i t ä t u n d D i a l e k t i k nicht e i n f a c h z u h a n d h a b e n . S o l l t e n die i m K o n z e p t a n g e l e g ten E i n s e i t i g k e i t e n v e r m i e d e n w e r d e n , b e d u r f t e es g r ü n d l i c h g e s c h u l t e r T h e o l o g e n .

Für das wünschenswerte Gespräch zwischen Gemeinschaftsbewegung und wissenschaftlicher Theologie heute, ist es wichtig, festzuhalten, daß die Gemeinschaftsbewegung nicht den Weg der Freikirche gegangen ist, sondern daß die Mitglieder der Gemeinschaften Glieder ihrer Landeskirchen geblieben sind. An ihren Anfängen steht nicht eine bewußte Entwertung bestehender kirchlicher Formen, sondern der Versuch, Mängel der Kirche auszugleichen. So gehört die Gemeinschaftsbewegung in den Zusammenhang der Kirche, zu der Gemeinschaft der Heiligen nach dem dritten Glaubensartikel. Nur dieser Zusammenhang ermöglicht es ihr, Bewegung zu bleiben und nicht selbst Kirche werden zu müssen. Wenn der legitime Ort der Theologie die Kirche ist, 7 8 7 so haben Gemeinschaftsbewegung und wissenschaftliche Theologie in ihr den gemeinsamen entscheidenden Bezugspunkt. Die Anschauungen der Heiligungsbewegung bargen in ihrer Konzentration auf den Heilsweg des Individuums und den Ausbau seines geistlichen Lebens die Gefahr eines religiösen Perfektionismus. Da das innere Erleben allein ausschlaggebend war, lagen die Gefahren des Solipsismus und Subjektivismus nahe. Der Blick für die Notwendigkeiten einer Gemeindeorganisation war in ihr nicht angelegt. Die Einbindung in die übergreifenden Konzepte der Männer wie Fabri, Christlieb und von Oertzen konnte hier einseitige Fehlentwicklungen verhindern. Aber in ihrer Begründung des Kirchenbegriffs in der Versammlung der gläubigen Subjekte legte sich auch am stärksten die Gefahr einer Engführung nahe. Die Begründung des Christenstandes war ganz an das innere Erleben gebunden. 788 Nach der Heiligungslehre ist der Glaubensakt aber die Teilhabe am „Blut Christi". Die Heiligung selbst bekam sakramentalen Sinn und das Abendmahl der Gemeinde wurde 787 Vgl. Ulrich Kühn, Die Kirche als Ort der Theologie. In: K e r y g m a und D o g m a , 31. J g . Göttingen 1985, S. 98-115. D i e Ausführungen Kühns machen deutlich, daß das Gespräch zwischen Gemeinschaftsbewegung und Theologie nur dort gelingen kann, w o die gemeinsame Basis von der prinzipiellen Kirchlichkeit der Theologie gegeben ist. Zur historischen Entwicklung der Frage nach dem legitimen Ort der Theologie vgl. Gerhard Sauter, Ansätze zu einer wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion der Theologie. In: Ders. u. a., Wissenschaftstheoretische Kritik der Theologie. München 1973, S. 19-49. 788 Vgl. zu diesem K o m p l e x die kritische Arbeit von Kurt Reuber, Mystik in der Heiligungsfrömmigkeit der Gemeinschaftsbewegung, Gütersloh 1938.

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faktisch entleert. Wer ohnehin schon im Glauben mit dem Blute Christi verbunden war, der brauchte die Abendmahlsgemeinschaft nicht mehr. Diese Anschauung mußte besonders auf jene Kreise Einfluß haben, denen an der Ausbildung einer Brautgemeinde lag, und es erstaunt nicht, daß die spätere Trennung der Gemeinschaftsbewegung von der Pfingstbewegung mit einem Streit um das Abendmahl einherging. Der „Sieg" der Süddeutschen über die Norddeutschen, der sich in Brighton 1875 (s. Anlage Nr. 1) abzeichnete, hatte späte Folgen. Die Verschiebung, die sich innerhalb der Heiligungsbewegung gegenüber der Blumhardt-Bewegung vollzog, ist Ausdruck eines Prozesses, der generell in der Gemeinschaftsbewegung zu beobachten ist: Bei Blumhardt liegt das ganze Gewicht auf dem Sieg Christi, in der Heiligungsbewegung steht das Interesse am sieghaften Leben des Christen im Mittelpunkt. 789

Am Ende bleibt ein zwiespältiges Bild. Zum einen das aus tiefster christlicher Überzeugung gewonnene Wollen der Begründer der Gemeinschaftsbewegung, und zum anderen die Einsicht, daß in den Denkvoraussetzungen ihres Wollens schon die Infragestellung dessen lag, was sie in ihrem Programm formuliert hatten. Es ist oben als Aufgabenstellung (S. 33 f.) die Frage nach der „Theologie der Gemeinschaftsbewegung" genannt worden, einmal, um das Zusammengehen unterschiedlicher Gruppen und Persönlichkeiten begründen und erklären zu können, zum anderen aber auch, um die Basis für weiterfuhrende Gespräche zwischen Gemeinschaft, Kirche und wissenschaftlicher Theologie zu verbreitern. 790 Als Ergebnis war nun keine geschlossene „Lehre" vorzuführen, aber es waren doch so viele Elemente theologischer Theoriebildung zu entdecken, daß es zumindest möglich sein sollte, die Gemeinschaftsbewegung als „theologische Erscheinung" 791 ernst zu nehmen. Wie fruchtbar gerade die Erforschung der Anfänge sein kann, hat die Kontroverse um die Anfänge des Pietismus gezeigt. 792 „Die bleibende Bedeutung des 789 Zur Anschauung beim älteren Blumhardt vgl. G. Sauter, Die Theologie des Reiches Gottes beim älteren und jüngeren Blumhardt. Zürich 1962. Angesichts dieser Differenz ist die Linie, die Martin Schmidt zwischen Pietismus und den beiden Blumhardts über die religiösen Sozialisten zu Karl Barth und anderen Theologen der Dialektischen Theologie gezogen hat, zu einfach und nicht aufrechtzuerhalten; s. M. Schmidt, Pietismus, Stuttgart u. a. 1972, S. 159f. 790 Solche Gespräche haben immer wieder stattgefunden. Vgl. nur Max Fischer und HansJoachim Iwand, Wie wir uns fanden! Ein Wort zur Begegnung von Kirche und Gemeinschaft. Stuttgart 1947. Seit 1969 gibt es in der Zeitschrift „Theologische Beiträge", Wuppertal, ein theologisches Organ, das eine solche Vermittlungsaufgabe wahrzunehmen versucht. 791 Als Teil der Kirche kann die Gemeinschaftsbewegung auf die Ausarbeitung einer eigenen Dogmatik verzichten. Eine bis heute nachgedruckte „Kurzgefaßte biblische Glaubenslehre für nachdenkende Christen" hat Theodor Haarbeck vorgelegt (3. verm. Aufl. Barmen 1906). Zur Formulierung vgl. den Aufsatz von M. Schmidt, Der Pietismus als theologische Erscheinung. In: Ders., Der Pietismus als theologische Erscheinung. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus Bd. II. Göttingen 1984, S. 9-33 und die Zusammenfassung unter der Überschrift „Der Pietismus als Gesamterscheinung: Ertrag, Größe, Grenze", in: ders., Pietismus, Stuttgart u. a. 1972, S. 160-167. 792 Vgl. J. Wallmann, Die Anfänge des Pietismus. In:JGP 4, Göttingen 1979, S. 11-53; K.

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Pietismus könnte die sein, die jeweilige Kirche und ihre Theologie (nicht) zur Ruhe kommen zu lassen mit der Frage nach der Kirchlichkeit dieser Kirche, nach der Gläubigkeit ihres Glaubens, nach der Reinheit ihrer Verkündigung, nach der Beglaubigung durch Gottes Handeln." 7 9 3 Das „Reich Gottes" ist schließlich kein Sonderfundlein für besondere Gemeinschaften, sondern Herausforderung, Gabe und Aufgabe für die ganze Kirche.

Aland, Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. A. a. O., S. 155-189; ders., Spener - Schütz - Labadie? Notwendige Bemerkungen zu den Voraussetzungen und der Entstehung des deutschen lutherischen Pietismus. In: Z T h K 78, Tübingen 1981, S. 206-234; J. Wallmann, Pietismus und Chiliasmus. Zur Kontroverse um Philipp Jakob Speners „Hoffnung besserer Zeiten". A. a. O.. S. 235-266. Ebd., S. 235, Anm. 2 und S. 266 im Nachtrag weitere Lit. zur Kontroverse. Immerhin schließt Wallmann den letztgenannten Aufsatz mit der Hoffnung, daß die „aufgeworfenene Frage der pietistischen Umformung der reformatorischen Eschatologie in eine innergeschichtliche Reich-Gottes-Erwartung, überhaupt das Problem des Chiliasmus" einer gewissen Klärung zugeführt worden sei. Schon diese Formulierungen machen deutlich, wie dringend auch das Verhältnis der Gemeinschaftsbewegung zu ihrer eigenen Tradition einer weiteren Klärung bedarf. 793 Martin Fischer, Die bleibende Bedeutung des Pietismus. In: ders., Überlegungen zu Wort und Weg der Kirche. Berlin o. J., (S. 239-264) S. 246.

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VIII. QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS t. Quellen 1. 1 Ungedruckte Quellen Archiv Evangelisches Allianzhaus in Bad Blankenburg, Thüringen. Nach Auskunft von Pfarrer Karl Langmasius enthält das Archiv keine Quellenstücke für die infrage kommende Zeit. Vorhanden sind diejahrgänge des Evangelischen Allianzblattes und die Berichtsbücher der Blankenburger Konferenzen. Archiv der EvangelistenschuleJohanneum in Wuppertal. Das Archiv enthält vor allem die Personalakten der Schüler des Johanneums von den Anfängen (1886) an bis heute. Dazu kommen die Protokollbücher der Komitees des Evangelisationsvereins und des Johanneums. Korrespondenz für den infrage kommenden Zeitraum dieser Untersuchung existiert nach Auskunft von Direktor Johannes Berewinkel nicht. Archiv der Evangelistenschule St. Chrischona in Riehen bei Basel. Das Briefarchiv war mir nicht zugänglich. Es enthält u. a. die Korrespondenz des Inspektors Carl Heinrich Rappard (1837— 1909, Inspektor: 1868-1909), die nach Mitteilung des Direktors Edgar Schmid noch nicht geordnet ist. Darüber hinaus enthält das Archiv die Personalakten der Schüler unvollständig. (In der Bibliothek findet sich einige, sonst schwer zugängliche Literatur zur Heiligungsbewegung)· Archiv der Liebenzeller Mission in Bad Liebenzell. Das Briefarchiv war mir nicht zugänglich. Es enthält u. a. die Korrespondenz Heinrich Coerpers (1863-1936). Archiv des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes in Marburg. Das Briefarchiv war mir nicht zugänglich. Es enthält u. a. die Korrespondenz Theophil Krawielitzkis (1866-1942). (In der Bibliothek finden sich sonst schwer zugängliche Zeitschriften der Gemeinschaftsbewegung). Archiv des Gnadauer Verbandes in Herborn/Dillkreis. Das teilweise chronologisch geordnete Material (Aktenordner) enthält wenige Schriftstücke aus der Zeit von 1886-1906. Ab 1906 finden sich die Protokolle der Vorstandssitzungen und der Briefwechsel der jeweiligen Vorsitzenden sowie vervielfältigte Rundschreiben. (Darüber hinaus enthält das Archiv eine ansehnliche Sammlung von bes. Kleinliteratur zur Geschichte der Gemeinschaftsbewegung. Den Grundstock dieser Sammlung bildet der Bücher-Nachlaß Paul Fleischs, den Hermann Schöpwinkel 1957 von den Erben Fleischs kaufte. Der Briefnachlaß Fleischs war zu dem Zeitpunkt von den Erben schon vernichtet.)

1.2 Gedruckte Quellen Berichte der Rheinischen Missions-Gesellschaft, 1866 ff. Bericht über die Verhandlungen des Christlichen Studentenkongresses, abgehalten zu Frankfurt a/M. am 18. u. 19. Mai 1894 mit den Vorträgen: Über die praktischen Ziele des Kongresses. Von Prof. D . H. Cremer in Greifswald. Über die Sittlichkeit. Von Direktor H. Bauer in Niesky. Das akademische Studium und der Kampf um die Weltanschauung. Von Prof. D. M . Reischle in Gießen.

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Der Student im Verkehr mit den verschiedenen Volkskreisen. Von Pfarrer Friedrich Naumann in Frankfurt a. M. Göttingen 1894. Bernstorff, Andreas, Graf v., Pastoralbriefe. Berlin o.J. Besier, Gerhard (Hrsg.), Neulutherische Kirchenpolitik im Zeitalter Bismarcks. (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte, H. 26/27). Gütersloh 1982. Blumhardt, Johann Christoph, Der Geisterkampf in Möttlingen. 2. Schweizer Auflage. Basel 1957. - Seelsorge (hrsg. von Otto Bruder), München und Hamburg 1968. Christlieb, Theodor, Die Bildung evangelistisch begabter Männer zum Gehilfendienst am Wort und dessen Angliederung an den Organismus der Kirche. Kassel o.J. (1888). (Im Auszug abgedruckt im Anhang Nr. 7). - Zur methodistischen Frage in Deutschland. 1882. - Der gegenwärtige Stand der evangelischen Heidenmission. Eine Weltüberschau. 4., des Separatdrucks 2., ergänzte Ausgabe, Gütersloh 1880. - Die besten Methoden der Bekämpfung des modernen Unglaubens. Vortrag gehalten bei der Versammlung der Evangelischen Allianz in New York. Neue deutsche Ausgabe. Gütersloh 1874. (Zit.: Die besten Methoden). - Homiletik. Vorlesungen, hrsg. von Theodor Haarbeck. Basel 1894. (Zit.: Homiletik). - Moderne Zweifel am christlichen Glauben für ernstlich Suchende erörtert. 2. erw. Aufl. Bonn 1870. (Zit.: Moderne Zweifel). Cremer, Heinrich, Über die praktischen Ziele des Kongresses. Bericht über die Verhandlungen des Christlichen Studentenkongresses, abgehalten zu Frankfurt a/M. am 18. u. 19. Mai 1894. Göttingen 1894. Der Deutsche Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation. Zur Orientierung. Stuttgart o.J. Des Evangelischen Reichsbrüderbundes Satzung, Gemeinschaftsordnung, Mitteilungen, kurze Geschichte. Königsberg o.J. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930. 6. durchges. Aufl. Göttingen 1967, S. 62. Fabri, Friedrich, Briefe gegen den Materialismus. 2. mit zwei Abhandlungen über den Ursprung und das Alter des Menschengeschlechts vermehrte Aufl., Stuttgart 1864 (1. Aufl. 1855). (Zit.: Fabri, Materialismus). - Der sensus communis, das Organ der Offenbarung Gottes in allen Menschen. Eine biblischpsychologische Betrachtung zur Beleuchtung der Stellung des Christen zur Welt. Barmen 1861. (Zit.: Der sensus communis). - Die Bedeutung der Theosophie fur das Zeitbedürfnis einer christlichen Religionsphilosophie. In: Protestantische Monatsblätter für innere Zeitgeschichte. 1858 (Mai), S. 422-439. - Die Entstehung des Heidenthums und die Aufgabe der Heidenmission, nebst 2 Beilagen: Ueber den Ursprung der Sprache, und Ueber den christlichen Staat. Barmen 1859. (Zit.: Die Entstehung des Heidenthums). - Die Erweckungen auf deutschem Boden. Eine Darstellung und Beleuchtung der Erweckungen im Elberfelder Waisenhaus und der daran sich knüpfenden Vorkommnisse. Barmen 1861. - Die Stellung des Christen zur Politik. Eine religiös-politische Betrachtung. Barmen 1863. (Zit.: Politik). - Die Unions- und Verfassungsfrage. Ein Wort zur Abwehr und Verständigung. Zugleich zur Fortsetzung und Ergänzung der Schrift: Die politische Lage und die Zukunft der evangelischen Kirche in Deutschland. Gedanken zur kirchlichen Verfassungsfrage von einem Deutschen Theologen. Gotha 1857. (Zit.: Die Unions- und Verfassungsfrage). - Die materiellen Nothstände der protestantischen Kirche Bayerns und deren mögliche Abhülfe. Eine Denkschrift. Nürnberg 1848. (Zit.: Die materiellen Nothstände). - Die neuesten Erweckungen in Amerika, Irland und anderen Ländern. Barmen 1860. (Zit.: Die neuesten Erweckungen).

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- Die politische Bewegung in Deutschland und die Geistlichkeit. Ein Sendschreiben an Herrn Dr. Eisenmann. Würzburg 1848. (Zit.: Die politische Bewegung). - Die politische Lage und die Zukunft der evangelischen Kirche in Deutschland. 2. Aufl. Gotha 1867. (Zit.: Die politische Lage). - Im Lenze der Liebe. Briefe - aus dem Nachlasse - von Friedrich Fabri. Mit einem Geleitwort von Emil Frommel. Berlin 1895. (Zit.: Im Lenze der Liebe). - Staat und Kirche. Betrachtungen zur Lage Deutschlands in der Gegenwart. Gotha 1872. (Zit.: Staat und Kirche). - Vorwort zu Th. Weber, Betrachtungen über die Predigtweise und geistliche Amtsführung unserer Zeit. 2. Aufl. Barmen 1880. (Zit.: Vorwort zu Th. Weber). - Wie weiter? Kirchenpolitische Betrachtungen zum Ende des Kulturkampfes. Gotha 1887. (Zit.: Wie weiter?). - Zum neuen Jahre. Eine Betrachtung über Epheser 3, 14-19, nebst Bemerkungen über die Oxforder Bewegung. Barmen 1875. (Zit.: Zum neuen Jahre). - Über Kirchenzucht im Sinne und Geist des Evangeliums. Eine Synodalfrage im Zusammenhange kirchlicher Zeitfragen. Stuttgart 1854. (Zit.: Über Kirchenzucht). Gnadauer Mitteilungen fur die Landeskirchlichen Gemeinschaften. Innerkirchliche Angelegenheit - Nr. 4 Chemnitz 1951. Jacobs, Manfred (Hrsg.), Die evangelische Staatslehre. (Quellen zur Konfessionskunde Reihe B. Protestantische Quellen, H. 5). Göttingen 1971. Jacobs, Manfred, Die evangelische Lehre von der Kirche. (Quellen zur Konfessionskunde Reihe B. Protestantische Quellen, H. 4). Lüneburg 1962. Jellinghaus, Theodor, Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum (1. Auflage 1880) 5. Aufl. Berlin 1903. (Zit.: Völliges Heil). - Erklärung über meine Lehrirrungen. Lichtenrade o.J. (1911). (Maschinenschriftl. Manuskript im Archiv des Gnadauer Verbandes). - Sieg und Leben in der Glaubenshingabe an den im Worte gegenwärtigen, völligen Erlöser. Selbstverlag; in Commission bei Ihloff, 1899, Kupisch, Karl, Quellen zur Geschichte des deutschen Protestantismus 1871-1945. München und Hamburg 1965. Martin Luther, Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdiensts (1526). In: Kurt Alandt (Hrsg.), Luther Deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 6, 2. erw. undneubearb. Aufl. Stuttgart/Göttingen 1966, S. 86-102. Ohlemacher, Jörg, (Hrsg.) Die Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Quellen zu ihrer Geschichte 1887-1914. (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte, H. 23). Gütersloh 1977. (Zit.: Quellen). Pfleiderer, Gottlob J., Evangelische Glaubens- und Sittenlehre für höhere Schulen sowie zum Selbstunterricht. 3. Aufl. Bonn 1885. Philipp, Wolfgang, Der Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. (Klassiker des Protestantismus VIII). Bremen 1965. Rettungsjubel. I. Bd. 9. Aufl. Wandsbeck o.J. (1. Aufl. 1906). II. Bd. 3. Aufl. Wandsbeck o.J. (1. Aufl. 1912). Ritter, Gerhard A. (Hrsg.), Das deutsche Kaiserreich 1871-1914. Ein historisches Lesebuch. 2. Aufl. Göttingen o.J. (1. Aufl. 1975). Ruhbach, Gerhard (Hrsg.), Kirchenunionen im 19. Jahrhundert. (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte 6). 2. Aufl. Gütersloh 1968. Schmalenbach, Theodor, Bekehrung - der Lebensnerv des Christentums. Gütersloh 1888. Spener, Philipp Jacob, Pia Desideria (Kleine Texte für Vorlesungen und Übungen, Bd. 170, hrsg. von Kurt Aland). 3. durchges. Aufl. Berlin 1964. Stockmayer, Otto, Die Überwindung des Satans. Kurzer Auszug aus Bibelstunden über Ofib. 12, 11 u. Eph. 6, 10-18, von O. Stockmayer. (Nicht von ihm selbst durchgesehen). Gernsbach 1890. - In der Schule der Gnade. Gottes Ziele mit uns un der Weg praktischer Heiligung. (Nachge-

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schriebene Reden, mit Genehmigung des Verf. aber ohne von ihm selbst durchgesehen zu sein). Potsdam o.J. Verhandlungen der 14. Allgemeinen Deutschen Gemeinschaftskonferenz (Gnadauer Pfingstkonferenz) in Wernigerode vom 17. bis 19. Mai 1910. Hrsg. von C. Dietrich. Stuttgart 1910. Wiehern, Johann Hinrich, Ausgewählte Schriften (3 Bände), hrsg. von Karl Janssen. 1. Aufl. der Taschenbuchausgabe Gütersloh 1979. - Gesammelte Schriften. (6Bde.) Hrsg. von Friedrich Mahling. Hamburg 1901-1908. (Zit.: Mahling, Wichern). - Sämtliche Werke. (7Bde.) Hrsg. von Peter Meinhold. Berlin u. Hamburg 1962ff. (Zit.: Meinhold, Wichern).

1.3

Zeitschriften

Auf der Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflege der Reichgottesarbeit in allen Landen. Neumünster (ab April) 1904ff. (Vorher: Die Warte. Ein Blatt zur Förderung und Pflegejeder Reichgottesarbeit in allen Landen. Berlin seit April 1902 - Dezember 1903.) Der Johanneumsbote. Als Handschrift gedrucktes Organ zur Verbindung der Brüder des Johanneums unter einander und mit dem Mutterhause. (Wuppertal-)Barmen 1904ff. Der Reichsgottesarbeiter. Monatsschrift der Vereinigung von Reichsgottesarbeitern in Deutschland Ε. V. Neumünster 1904ff. Des Christen Glaubensweg. Blätter zur Weckung und Förderung des christlichen Lebens. Basel 1875-1878. Philadelphia, Organ fur Gemeinschaftspflege und Evangelisation, 1890-1919.

2. 2. i

Sekundärliteratur

Nachschlagewerke

Bibliotheca theologica oder Geordnete Übersicht aller auf dem Gebiet der evangelischen Theologie in Deutschland neuerschienenen Bücher. Hrsg. von Carl J. F. W. Ruprecht, Göttingen 1848 ff. Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 2. Aufl., Tübingen 1927ff. (zit. RGG 2 ). Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl., Tübingen 1956ff. (zit. RGG 3 ). Evangelisches Kirchenlexikon. Kirchlich-theologisches Handwörterbuch. (Hrsg. von Heinz Brunotte und Otto Weber). 3 Bände und Registerband, Göttingen 1956ff. (zit. EKL). Gebhard, B., Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 3. Von der französischen Revolution bis zum ersten Weltkrieg. In Verbindung mit Karl Erich Born, Max Braubach, Theodor Schieder und Wilhelm Treue, herausgegeben von Herbert Grundmann. 8. Aufl. (vollständig neu bearbeitet) Stuttgart 1960. Geldbach, Erich, Burkhard, Helmut, Heimbucher, Kurt, (Hrsg.) Evangelisches Gemeindelexikon. Wuppertal 1978. (zitiert: Evangelisches Gemeindelexikon) Hutten, Kurt, Seher - Grübler - Enthusiasten, Sekten und religiöse Sondergemeinschaften der Gegenwart. 11. Aufl. 1968. 784 S. Kalb, Ernst (Hg.), Kirchen und Sekten der Gegenwart. Unter Mitarbeit verschiedener evanglischer Theologen hrsg. von . . . 2. erw. und verbesserte Aufl. Stuttgart 1907. Langen, Α., Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2. Aufl. Tübingen 1968. Lexikon fur Theologie und Kirchenwesen. Hrsg. von A. Holtzmann u. R. Zöpffel. Leipzig 1882.

202

Realenzyclopädie fur protestantische Theologie und Kirche. (Begründet von J. J. Herzog). 3. verb, und vermehrte Aufl. Leipzig 1887 ff. (Zit.: RE3). Theologische Realenzyklopädie. (In Verbindung m i t . . . hrsg. von Gerhard Krause und Gerhard Müller). Berlin, New York 1976ff.

2.2 Wissenschaftliche

Abhandlungen

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2 . 3 Populäre

Abhandlungen

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214

IX. Anhang: Ausgewählte Quellen 1. Kriterien der Auswahl Bei der Auswahl der folgenden Quellenstücke waren folgende Interessen im Spiel: 1. Sollte es ermöglicht werden, zentrale Texte von fuhrenden Personen der sich formierenden Gemeinschaftsbewegung, die an entlegener Stelle veröffentlicht wurden und heute nur schwer zugänglich sind, bereitzustellen. Zur Ergänzung sei auf das Quellenheft des Verfassers 0 . Ohlemacher (Hg.), Die Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Quellen zu ihrer Geschichte 1887-1914. (Texte zur Kirchen- und Theologiegeschichte, Heft23). Gütersloh 1977) hingewiesen. Von dort sind die Nr. 4 und 5 wegen ihrer zentralen Stellung in dieser Arbeit übernommen worden. 2. Sollten diese Texte als Ergänzung des in den Anmerkungen Ausgeführten dienen, ζ. T . , um diese zu entlasten, ζ. B . aber auch, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, an zusammenhängenden Partien die Darstellung zu überprüfen. 3. Neben der Überprüfung soll auch ein Einfühlen in Sprache, Duktus und Geistigkeit der Literatur der aufkommenden Gemeinschaftsbewegung ermöglicht werden.

2. Zur

Quellenlage

Für die Zeit der Vorgeschichte der Gemeinschaftsbewegung vor 1888 sind die Quellen spärlich. Die Archive im Johanneum, Wuppertal, und in St. Chrischona, Riehen b. Basel (s. Literaturverzeichnis) haben Protokolle und gedrucktes Material zur Heiligungsbewegung. - Ein Briefarchiv (bis 1914 fast nur Posteingang!) ist im Gnadauer Archiv ab 1906 gefuhrt worden. Darin finden sich einzelne Stücke früherer Zeiten. Die für die Gemeinschaftsbewegung typische Kleinliteratur ist infolge der beiden Weltkriege dezimiert. In den Universitätsbibliotheken wurde diese Literaturgattung kaum in die Bestände aufgenommen. Eine Ausnahme bildet die Bibliothek der Kirchlichen Hochschule Bethel, Bethel b. Bielefeld, die über eine repräsentative Sammlung von Kleinschriften verfugt. Die persönlichen Nachlässe aller oben besonders behandelten Personen sind entweder vernichtet, verschollen oder nicht zugänglich.

3.

Quellen

Nr. 1 Auszug aus dem Bericht des Missionsdirektors der Berliner Mission Hermann Theodor Wangemann (1818-1894) zu den Versammlungen der Heiligungsbewegung im Mai 1875 in Brighton.

215

Aus: Η. Τ. Wangemann, Pearsall Smith und die Versammlungen zu Brighton in ihrer Bedeutungfiir Deutschland. 2. vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin 1876. „Der Montagabend brachte eine großartige Feier ganz anderer Art. Es war der Gedanke entstanden, ähnlich wie in Basel mit einer großen Massen-Communion zu schließen. Man erwartete dazu 6-7000 Menschen. Wir Continental-Pastoren sollten dazu Diaconendienste thun durch Verabreichung der heiligen Elemente. Mir wollte das Herz sich zuschnüren bei diesem Gedanken. Die Tausende, die da zusammen kommen, kennen sich seit zehn Tagen; mit Sicherheit ist anzunehmen, daß Viele, vielleicht Hunderte von Ungetauften (Baptisten, Quäkern) unter ihnen sind, sie sind in keiner Weise eine Gemeinde, der eine von ihnen hält das, was er empfängt, für einfaches Brod, der andere für den Leib Christi, der dritte erachtet die ganze Feier gar nicht für ein Sakrament, sondern nur für ein Liebesmahl und Zeichen brüderlicher Gemeinschaft - und diese ganz unterschiedslose Masse zu Einem Mahl des Herrn zusammengebracht! Sicherlich sind Viele, vielleicht die Mehrzahl der Versammelten, gläubige Christen, aber sicherlich ein großer Bruchtheil von ihnen eben oberflächlich angehaucht, kaum von ferne ahnend, was das heilige Abendmahl sei und darbiete, und diesen Allen soll, ohne Prüfung und Vorbereitung, das Allerheiligste gespendet werden! Wie Vielen vielleicht zum Gericht! U n d in welcher Weise sollte es ausgetheilt werden? Wenn man in stiftungsmäßig biblischer Gestalt es verwaltete, mußten nicht alle Darbisten, Quäker - wenn diese sich etwa ausnahmsweise beteiligten - und andere Denominationen dadurch innerlich sich verletzt fühlen? Also blieb nichts übrig als eine völlig verschwommene Gestalt dieses hochheiligen Sakraments, an welcher uns zu beteiligen, mir und einer großen Anzahl norddeutscher Pastoren absolut unmöglich war. U n d doch andereseits der tiefe Schmerz! Man hatte zehn Tage mit gänzlichem Absehen von allen Denominationen und kirchlicher Verschiedenheit brüderlich sich um die Eine Frage geschaart: Wie stehst du zu Jesu? Man hatte miteinander brüderlich gebetet, und dies Einssein vor dem Herrn mit einer großen Anzahl der theuren Brüder, welche in solchem unterschiedslosen Abendmahl nichts Anstößiges fanden, hatte uns innerlich wirklich erquickt. U n d nun mußten wir gegenüber der brüderlichen Gemeinschaft der vorigen Tage offen erklären: Nein, so weit geht diese Gemeinschaft nicht! - und wurden von den Uebrigen nicht im Entferntesten verstanden, im Gegentheil mußten wir das Gefühl haben, von Jenen als Verletzer der heiligen Geistesgemeinschaft, als schroffe Absonderer angesehen zu werden; und wenn dies auch wenig verschlug, blieb doch das peinliche Gefühl, den anderen wehe zu tun."(S. 49f.) Wangemann schildert dann die ,tief ernste wehmüthige Stimmung' der etwa 20 norddeutschen Pastoren, die während der Feier anderswo in gedrücktem Gespräch' beisammen waren: „Es war als ob mit dieser Communion die Probe auf das Exempel der vergangenen Tage gemacht wäre, und der Gedanke stieg bei manchem auf, ob denn wohl alle Faktoren des Exempels richtig gewesen sein könnten. Manche wünschten, sie wären lieber etliche Tage vorher abgereist. Aber der Beschluß war ja erst am Montag verlautbart. Hernach erfuhren wir, daß die Feier für die Theilnehmenden sehr erbaulich gewesen sei. Missionar Onasch habe consekriert, und eine Anzahl von Pastoren aus dem Festlande hätten die consekrierten Elemente immer bankweise abgegeben, so daß die Patene mit dem Brod und der Kelch in der Bank von Hand zu Hand gegangen sei. - Es war ein wehmütiger Abschluß!" (S. 50)

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Wangemann weist in seinem Bericht über die Brightoner Versammlungen auf Spannungen unter den deutschen Teilnehmern hin: „Bei der Vorversammlung hatte eine gewisse Spannung sich kundgegeben, welche bezeugt, daß die Mainlinie der kirchlichen Anschauungen keineswegs bereits aufgehoben ist. Die rheinländischen, süddeutschen und schweizer Brüder haben doch gar andere kirchliche Ideen, als die Norddeutschen. Man hatte sich schließlich dahin geeinigt, daß in den deutschen Gebetsversammlungen abwechselnd ein Schweizer und ein Norddeutscher die Einleitung und die Leitung übernehmen solle. Aber die beiden Schweizer Brüder Rappard und Riggenbach bemächtigten sich hernach faktisch allein dieser Stellung, welche ihnen zu überlassen die Norddeutschen gutmüthig und phlegmatisch genug waren. Es mochte auch ganz gut sein, daß die beiden lieben schweizer Brüder diese Kühnheit gebrauchten, denn es ergab sich bald, daß sie mehr als die Norddeutschen im Centrum der Pearsall'schen Bewegung geistlich lebten, und auch außerdem geeignet waren, zwischen den verschiedenen deutschen Theologenköpfen eine neutrale Stellung zu erhalten. Indeß war die Folge dieses etwas eigenmächtig ergriffenen Präsidii, daß die Versammlungen einen ganz scharf ausgeprägten Charakter erhielten; Rappard drängte auf möglichst viele kurze Gebete, und diesen schlossen sich möglichst viele Bekenntnisse von eigenen Lebenserfahrungen an. Diese Mannigfaltigkeit hatte ja ihren besonderen Segen und Reiz, uns Norddeutschen aber, die wir gern langsamer und gründlicher arbeiten, wollte es bisweilen scheinen, als ob bei etwas weniger Buntheit doch Manches mehr aus der Tiefe hätte erörtert und geschöpft werden können." (S. 19) Im weiteren berichtet er von einem Unbehagen an den „doch etwas weichlichen und obgleich lieblichen und einschmeichelnden, so doch auch zum Theilflachen, englischen Melodien". Zu den Morgenmeetings fiir die deutschen und französischen Pastoren: „Die Selbstzeugnisse der einzelnen Redner wurden auch hier mit der Dauer etwas peinlich, zumal sie meistentheils dahin ausliefen, daß dem Betreffenden, der früher nur mangelhaft die Gemeinschaft mit dem Herrn gepflegt habe, erst durch Pearsall Smith ein ganz neues Licht und Leben aufgegangen sei." Die Penetranz dieser öffentlichen Bekenntnisse wird kritisiert. Aber: „Sorgsam wurde Alles vermieden, was die Einigkeit des Geistes trüben konnte." (S. 20) Man vermeidet auch im weiteren Verlauf die trennenden Themen, „um nicht den Geist der Einigkeit und Gemeinschaft zu stören". „Als aber an einem Morgen der Bruder Riggenbach als Entgegnung auf eine schöne brüderliche Ansprache des Bruders Pank mit ziemlicher Schärfe hervorhob, es sei nicht genug, von der Pearsall'schen Bewegung nur einen Segen und geistliche Auffrischung zu erhalten, man müsse aus derselben vielmehr ein ganz neues schöpfen und er hoffe, daß diese Bewegung, gegenüber der traurigen Thatsache, daß die alten Kirchen deutschen evangelischen Bekenntnisses jetzt zerbröckelten, der Anfang zur Bildung einer auf neuen Grundlagen zu erbauenden Kirche werden würde, da war die Grenze erreicht, w o längeres Schweigen Verleugnen geworden wäre. Eine Ganze Anzahl von norddeutschen Brüdern erbat das Wort, und da die Sache in dieser Versammlung nicht zum Austrage kam, wurde der Schreiber dieser Mittheilungen beauftragt, doch auch unsere kirchlichen Anschauungen in ausführlicher Darlegung zur Geltung zu bringen." (S. 21) Unter Zugrundelegung von Joh. 17,17ff. faßt Wangemann in einer sehr persönlich gehaltenen Ansprache den lutherischen Standpunkt zusammen: „Mein innerer Lebensgang und die Erfahrungen meiner geistlichen Entwickelung 217

tragen einen anderen Charakter, als die hier in diesen Tagen abgelegten Bekenntnisse. Den Grund und Anfang meines Lebens in Gott hat der heilige Geist in meiner Taufe gelegt; da hat mich mein Herr Jesus als ein Glied in seinen Leib aufgenommen, und das ist mein Trost, daß ich das weiß. . . . Ich hatte andere schwere Kämpfe zu bestehen, gegen mein Fleisch und Blut und gegen den alten Adam, Kämpfe, die nicht immer mit dem Sieg endigten und mich bisweilen an den Abgrund des Verderbens und der Verzweiflung brachten. An Gelübden und Übergabe an den Herrn hat es in dieser Zeit nicht gefehlt, aber in den Stunden der Anfechtung gewährten mir diese keinen Trost und Halt. Mein einziger Anker war, daß ich wußte, ich bin getauft auf den Namen Jesu . . . In dieser Gemeinschaft mit dem Herrn Jesu bin ich gewachsen durch das heilige Abendmahl, und das ist mein Trost und selig Vorrecht, daß ich dort leibhaftig mit meinem Heilande die allerengste Gemeinschaft erlange, und durch Ihn in derselben zunehme. Darnach ist die heilige Schrift mir das liebste Buch geworden, von Jahr zu Jahr mehr ein Lustgarten, in welchem ich die seligen Verheißungen meines Gottes pflücke und genieße. Durch sie bin ich von einer Stufe der Erkenntnis zur anderen gestiegen. Der Gipfelpunkt war mir, daß ich erkannt habe, daß es über die Einzelfrömmigkeit und die Vereinigung der einzelnen Seele mit Jesu hinaus noch ein Höheres giebt, die heilige christliche Kirche, die da ist der Leib Christi, und die darstellt die Fülle dessen, der Alles erfüllt, die da gebaut wird in Taufe und Abendmahl kraft des Wortes „Wir sind Alle zu einem Leibe getauft", und des anderen Wortes: "Wir sind Ein Leib, dieweil wir Alle Eines Brodes theilhaftig sind.,, . . . ich freue mich, daß ich nicht bloß Friede in Jesu habe für mich, sondern auch ein Glied dieses seines Leibes bin. . . . Ich kann nicht sagen, daß ich hier (in Brighton) etwas Neues erfahren habe. Alle die Gedanken, die uns hier beschäftigen, habe ich schon vor zehn Jahren in meiner christlichen Glaubenslehre, deren Grundgedanke die unio mystica ist, zusammengestellt . . . Aber eine kräftige Anregung habe ich durch den theuren Pearsall Smith schon zu Ostern in Berlin, und jetzt hier empfangen, die sich in Haus, Herz und Amt spürbar gemacht hat, und die ich ihm niemals vergessen werde." Wangemann schließt seine Rede mit dem nochmaligen Verweis auf Joh. 17,17'ff.: . . . „Eins untereinander, weil Eins mit Ihm!" „Der Herr hat in Gnaden abgewandt, daß durch dieses mit dem sonstigen in Brighton angeschlagenen Tönen ziemlich disharmonisierende Wort kein Mißklang entstand." (S. 21 u. 23)

Nr. 2 Ein Traktat von dem fuhrenden Vertreter der deutschen Heiligungsbewegung, Theodor Jellinghaus (1841-1913) von 1878. Aus: Th. Jellinghaus, Die Heiligungskraft des Blutes Jesu. (Rede gehalten bei den Oktoberversammlungen zu Gernsbach 1878). 6. Aufl. Lichtenthai 1901. „So wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit Ihm haben und wandeln in Finsternis, so lügen wir und thun nicht die Wahrheit. - So wir aber im Lichte wandeln, wie ER im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft unter einander, und das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde. - So wir sagen, wir haben keine 218

Sünde, so verfuhren wir uns selbst und die Wahrheit ist nicht in uns. - So wir unsere Sünden bekennen, so ist ER treu und gerecht, daß ER uns die Sünden vergiebt und reiniget uns von aller Untugend. - So wir sagen, „wir haben nicht gesündiget", so machen wir Ihn zum Lügner, und Sein Wort ist nicht in uns. - Meine Kindlein, solches schreibe ich euch, auf daß ihr nicht sündiget. - U n d ob jemand sündigte, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesum Christum, der gerecht ist. - U n d derselbe ist die Versöhnung für unsere Sünden; nicht allein aber für unsere, sondern auch für die der ganzen Welt. - U n d an dem merken wir, daß wir Ihn kennen, so wir Seine Gebote halten. - Wer da sagt: ich kenne Ihn, und hält Seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in solchem ist keine Wahrheit. - Wer aber Sein Wort hält, in solchem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Darum erkennen wir, daß wir in Ihm sind. - Wer da sagt, daß er in Ihm bleibet, der soll auch wandeln, gleichwie ER gewandelt hat. 1. Joh. Cap. 1, V. 6 bis Cap. 2, V. 6. Vor einer Anzahl von Monaten erhielt ich einen Brief von einem Pastor. Er schrieb mir etwa Folgendes: „Ich bin seit 13 Jahren bekehrt und kann mich der Vergebung der Sünden getrösten und danke auch Gott täglich dafür. Aber dabei quälte mich die Macht der feineren, inneren Sünden sehr. Ich suchte nach einem besseren Leben und nach höherer Kraft in der Heiligung. Aber alle unsere Bücher und die besten Freunde ließen mich in der Hauptsache im Stich, wenn auch Einige mir etwas Trost gaben. Da kam die Heiligungsbewegung. Nie hat mich etwas so erfaßt wie diese Wahrheiten. Ich wurde so freudig, stark und getrost in Hingabe und Vertrauen, wie nie zuvor. Aber es kommen doch Zeiten, w o mein Glaube nicht aushalten will, und dann geht es oft wieder auf die alte Weise. Darum frage ich Sie: Ist es wirklich wahr, daß in Christo ein stetiger Sieg über alle Sünde und sündliche innere Unreinheit zu finden und zu besitzen ist?" Ich habe ihm darauf mit einem vollen „Ja" geantwortet. Hier erzähle ich es nur deshalb, weil es vielen Gotteskindern, die in den letztenjahren durch die Heiligungswahrheiten gesegnet worden sind, ähnlich ergangen ist und ergeht, so daß eine ähnliche Frage auf ihren Lippen ist. Mein Wunsch ist es nun, aus der Bibel mit des Heiligen Geistes Beistand euch zu überzeugen, daß solche Erlösung von Sündenmacht und Unreinheit wirklich in Christo dem Gekreuzigten und Erhöhten für uns da ist. Wollt ihr aber diesen gewissen Grund haben für euer Vertrauen, so müßt ihr euch allein auf die Bibel gründen und die Bibel allein zur Richtschnur nehmen. Wer vor allem menschliche Vorbilder, menschliche Lehrbücher, Katechismen, Gesangbücher usw. fragt, der hat den einfachen, einfältigen Blick verloren und bekommt einen Schalksblick, daß er in der Bibel immer etwas anderes liest, als dasteht. Wer irgend einen menschlichen Ausspruch behandelt als Gotteswort und über oder neben die Bibel setzt, der kann nie zum vollen Lichte und zur vollen Kraft kommen. Es ist durchaus notwendig, daß wir Bibelchristen werden, die sich allein auf Gottes Wort gründen und Seine Gnadenaussagen wirklich erfassen und im Glauben praktisch erfahren. Daß die Heiligungsbewegung bei vielen nur ein wenig Furcht und nicht den vollen Segen und stetigen Sieg bewirkt hat, liegt, so weit ich sehen kann, vor allem darin, daß viele ihr Vertrauen nicht fest genug auf eigener Erkenntnis der biblischen Aussagen gegründet hatten. Als nun die Anfechtungen kamen, wurde das, was sie teilweise auf menschliches Wort gegründet hatten, wieder wankend. Darum, liebes, nach Sieg und tieferer Heiligung hungriges Gotteskind, erforsche und lies deine Bibel im Zusammenhange und gründe auf ihre Aussagen von Christi Erlösungsmacht allein dein Vertrauen. Es ist nicht genug, einzelne Sprüche zu lesen und dir zu merken, du

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mußt, mit des Heiligen Geistes Beistand, deine Bibel im Zusammenhange lesen und verstehen, so daß du weißt, was dir Gott in Christo gegeben hat, und w e n n alle Menschen widersprächen. Wer seine Bibel nicht recht oft und gründlich mit Gebet liest, wird nie zu einem siegreichen, selbständigen Christenwandel gelangen und nie die volle Gnade und Erlösung so recht von Herzen preisen können. So k o m m t es auch bei dieser Frage: „Giebt es f ü r das wiedergeborene Gotteskind in Christo einen beständigen Sieg und ein Freisein von innerer Unreinigkeit?" nicht darauf an, was Der oder Jener sagt und erfahren hat, sondern was sagt und bezeugt die Schrift darüber? Gott aber sei Lob und Dank dafür, daß es in der Schrift ganz klar und unzweideutig bezeugt ist, daß Christus uns in Seinem Opfertode und Seiner Auferstehung diesen Sieg und dies Leben errungen hat. Deshalb weil Christus vor 1850 Jahren dieser errettende und führende Himmelskönig für uns geworden ist, darum kann Sein Sieg durch den Glauben unser Eigentum werden und wird es, sobald wir uns Ihm mit voller Hingabe anvertrauen. Laßt uns nun einen einfachen Blick in die Bibel thun und es lesen und glauben, wie es da steht. Lesen wir es auf diese Weise, so werden wir finden, daß man den einfachen Sinn von Gottes Wort abschwächen und umdeuten muß, u m die uns in „Christi Blut"*) geschenkten „Todes- und Auferstehungskräfte" in Frage zu stellen. Paulus sagt 1. Thess. 5, 23-24: ER aber, der Gott des Friedens, heilige euch durch und durch, (d. h. weihe euch ganz zum heiligen Opfer) und euer Geist ganz samt Seele und Leib, müsse behalten werden unsträflich auf die Z u k u n f t unseres H E r r n Jesu Christi. Getreu ist ER, der euch rufte, welcher wird es auch thun. - Phil. 2, 15. „Auf daß ihr seid ohne Tadel und lauter und Gottes Kinder unsträflich u s w . " Paulus, der sich nach seiner natürlichen Verderbnis und Gottesfeindschaft für den größten Sünder hielt, der j e Gnade gefunden, sagt von sich, daß er durch Christi allmächtige Gnade unsträflich und heilig gelebt habe. 1. Thess. 2, 10. Des seid ihr Zeugen und Gott, wie heilig, gerecht und unsträflich, wir bei euch, die ihr gläubig wäret, gewesen sind. Lies ferner nach R o m . 6, 1-2. 6. 14 und besonders die erste Epistel Johannes, aus der das eben verlesene Gotteswort g e n o m m e n ist. 1. Petr. 1, 16. Ihr sollt heilig sein, denn Ich bin heilig. Also dies ist klar, daß Gott uns in Seinem Worte geboten hat, heilig zu sein. Daraus folgt, daß es im Glauben an Christum möglich sein muß, und die Kraft dazu in Christo für uns gegenwärtig da ist. Denn das ganze Christentum ist Evangelium, d. h. frohe Botschaft. Gäbe es in der Bibel für die Gotteskinder noch Gebote, welche man nicht in Christo erfüllen könnte, so wären wir durch unser Christentum von neuem unter das verdammende Gesetz g e k o m m e n und noch nicht frei von des Gesetzes Fluch und Knechtschaft. N u r wer mit Freuden glauben und bezeugen kann, „was dienet z u m göttlichen Wandel und Leben, ist in Dir, Mein Heiland, mir alles gegeben," der kann wirklich rühmen, daß das ganze Wort von Christo frohe Botschaft ist. Diese Befreiung von der Sündenmacht und die Heiligungskraft in Christi Blut bezeugen auch die apostolischen Väter und die Kirchenväter im zweiten und dritten Jahrhundert, besonders in ihren Verteidigungen des Christentums gegenüber den Heiden. Irenäus sagt, daß der Sünder bekehrt werde und zum Glauben an C h r i s t u m *) Blut Christi bedeutet nicht nur Christi für uns in den bittern Tod gegebenes, sondern auch für uns auferstandenes Leben. Ebenso bezeichnet Opfer Christi nicht nur das Vergießen des Blutes Christi auf Golgatha, sondern auch die versöhnende und reinigende Wirksamkeit Seines Blutes am Altar im Himmel. Hebr. 9, 1-20; 10-24.

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komme, „damit er hinfort sündlos lebe." Er braucht da einen Ausdruck, den meines Wissens keiner von den Zeugen fur die Heiligung durch den Glaubenje angewendet hat, eben weil der doch mißverständlich ist. Im vorigen Jahrhundert sagte Zinzendorf: „Einem Menschen unter dem Gesetz ist es geboten, heilig zu sein, und darüber quält er sich zu Tode; einem Menschen aber unter der Gnade ist es gegeben heilig zu sein, und darüber freut er sich ohne Ende." Gott sei Dank! das bezeugt uns die Schrift klar, daß in Christi Tode nicht nur die Sündenschuld einmal getilgt, sondern auch die Sündenmacht einmal undfiir Alle, die Ihn im wahrhaftigen Glauben annehmen wollen, gekreuzigt und gebrochen ist, und daß Christus in Seiner Auferstehung, als unser zweiter Adam und Haupt, siegreiches, unvergängliches Leben für uns an's Licht gebracht hat! Dies ist die große Erlösungsthatsache für die Menscheit und für jede einzelne gebundene Seele, eine Thatsache, die der Heilige Geist uns aus dem Worte klar und groß machen muß; denn so klar und einfach es auch in der Bibel gelehrt und ausgesagt ist, ohne den Heiligen Geist faßt es niemand wirklich. Diese Erfahrung von der Siegesmacht in Christi Kreuze und von der Reinigung durch das Blut Christi finden wir in vielen unserer besten Gesänge, so ζ. B. bei Tersteegen: Laß durch Deines Todes Kräfte Mich mit Dir gekreuzigt sein, Laß das Fleisch und sein Geschäfte Mit Dir angenagelt sein, Daß der Wille sanft und stille, Und die Liebe werde rein. Zinzendorf bezeugt: Wir und des Heilands Kreuzgemein' Wollen des ewiglich Zeugen sein, Daß im Blute Jesu allein zu finden Gnade und Freiheit von allen Sünden. Es ist keine neue Lehre und Erfahrung, daß wir im Kreuze und im Blute Christi sicher und rein sind und bleiben können von aller Sündenmacht und Unreinheit. Aber in den letzten Jahren hat es doch der Heilige Geist heller wie je seit der Apostelzeit aus der Schrift in's Licht gestellt, daß Jesus schon vor 1850Jahren die Todeskräfte wider die Sünde und die Auferstehungskräfte zum Wandel in der Liebe, Gerechtigkeit, Reinheit und Heiligung uns erworben hat und so ein völliger im Worte gegenwärtiger Erlöser und führender König ftir die Gläubigen durch den Heiligen Geist ist. Diese frohe Botschaft von der unmittelbaren Heiligungsmacht des Todes und der Auferstehung Christi ist daher die Hauptwahrheit der sogenannten Heiligungsbewegung. Steht diese Wahrheit fest, so folgt daraus alles Andere fast ganz von selbst. Wird sie nicht erkannt, so ist alles Andere unsicher und kraftlos, gerade wie die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben unsicher und kraftlos wird, sobald man nicht in der Ueberzeugung lebt, daß Christus durch Seinen einmaligen Opfergang durch den Tod zum himmlischen Altare der Tilger für die Sündenschuld aller Menschen geworden ist. Lesen wir nun einige der Hauptstellen, welche diese Erlösung von Sündenmacht 221

durchs Blut Christi bezeugen. Alle Stellen hier zu lesen ist unmöglich, da fast alle Sprüche, welche von den Früchten des Todes und der Auferstehung zeugen, auch aussagen, daß wir durch das Blut Jesu von der Sündenmacht befreit und gereinigt werden. 1. Petr. 2, 24. „Christus hat unsere Sünden selbst hinausgetragen an Seinem Leibe auf das Holz, auf daß wir der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben, durch welches Wunden ihr seid heil geworden." Hier steht es also klar, daß wir durch Christi Kreuzestod der Sünde abgestorben und von der Sündenmacht los werden und in dem Auferstandenen Leben und Gerechtigkeit haben. Rom. 4,25. Die Erlösung von der Sündenschuld ist vorausgesetzt, aber hier gar nicht erwähnt. So sehr erscheint die Befreiung von Sündenmacht und die Heiligung in Christi Opfertode dem Apostel als die Hauptsache! Christus hat also die Sündenmacht am Kreuze getötet, damit wir der Sünde wirklich abgestorben seien, nicht blos, daß wir sie nicht mehr so viel als früher thun wollen, wie viele Gotteskinder annehmen. „Durch welches Wunder ihr seid heil geworden", heißt es weiter. Das kann doch nur bedeuten, daß die Todes wunde Jesu das Mittel, die Arznei ist, um von dem inneren Sündenschaden heil und gesund zu werden. 1. Petr. 1, 18-19. „Und wisset, daß ihr nicht mit vergänglichem Silber oder Golde erlöst seid, von eurem eitlen Wandel nach väterlicher Weise, sondern mit dem teuren Blute Christi als eines unschuldigen und unbefleckten Lammes." Auch hier ist wieder von der Erlösung von der Sündenschuld nichts erwähnt, sondern die Erlösung von dem Sündenwandel nach väterlicher Weise wird dem Blut Christi zugeschrieben. Nichts haftet dem Menschen fester an und von nichts ist er schwerer los zu reißen, als von dem ererbten und durch das Alter anerkannt gewordenen Sündenwandel der Väter. Das erfährt man in der Heidenwelt, das zeigt sich auch hier, daß die gläubigen Christen am letzten von den Standessünden und den ererbten und anerzogenen, sündlichen Gewohnheiten frei werden. Wo ist die Macht, welche diese zähen Stricke zerreißen, diese Ketten zerbrechen kann? Allein der Opfertod und die Auferstehung Christi hat auch diese Macht gebrochen, so daß wir nicht mehr brauchen Sklaven der von den Vätern ererbten Sünden zu sein, sondern heilig und gerecht allein Christo dienen können. Tit. 2, 14. „Christus hat Sich Selbst fur uns gegeben, daß ER uns erlösete von aller Ungerechtigkeit und reinigte Ihm Selbst ein Volk zum Eigentum, das da fleißig wäre zu guten Werken." Also das Volk Gottes ist am Kreuz erlöst von aller Ungerechtigkeit, daß es ihr nicht mehr zu dienen braucht, daß die Sünde kein Herrscherrecht mehr über uns hat, wenn wir im Blute Christi bleiben. Es heißt hier auch: „ER reinigte Ihm Selbst ein Volk." Das Wort „reinigen" bedeutet hier klar, nicht blos Reinigung von Sündenschuld, sondern vor allem Reinigung von Sündenunreinheit; denn die Folge der Reinigung ist Fleiß in guten Werken." Das Wort „Reinigen" kommt (wenn ich nicht irre) 21 mal im N. Testament vor, und da bedeutet es einige Male Reinigung von Sündenschuld und Unreinheit zusammen und oft auch geht es nur auf die Reinigung von der Sündenunreinheit. Dies Wort hier und 1. Joh. 1, 7 blos von der Vergebung der Schuld zu verstehen, widerspricht dem Wortsinne und dem Zusammenhange. Wo nicht der Zusammenhang uns zwingt, Reinigung von Schuld zu verstehen, da müssen wir auch immer annehmen, daß Reinigung und Abwaschung durch das Blut Christi auch wirkliche Herzensreinigung bedeutet. „Sie haben ihre Kleider helle gemacht im Blute des Lammes." Offb. 7, 14 und 12, 11 sagt nicht bloß „sie haben sich immer wieder ihre Sündenschuld vergeben lassen", sondern sie haben wirkliche Reinigung des Herzens und Wandels und Sieg über den Versucher im Blute des Lammes gehabt. 222

Col. 3, 1-5. „Seid ihr nun mit Christo auferstanden, so suchet, was droben ist, da Christus ist, sitzend zu der Rechten Gottes. Trachtet nach dem, das droben ist, nicht nach dem, das auf Erden ist. Denn ihr starbet, und euer Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Wenn aber Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr auch offenbar werden mit Ihm in der Herrlichkeit. So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind, Hurerei, Unreinigkeit, schändliche Brunst, böse Lust, und den Geiz, welcher ist Abgötterei." Hier in dieser Stelle ist also von den Gläubigen gesagt: Ihr starbet in Christi Kreuzestode der Sünde, euer alter Mensch bekam den Todesstoß, ihr seid mit Christo auferstanden und nun ist euer Leben verborgen mit Christo in Gott. Darauf folgt die mit dem vorangehenden und nachfolgenden scheinbar im Widerspruch stehende Ermahnung V. 5. „So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind, Hurerei usw." Darnach könnte es scheinen, als könnte Jemand mit Christo der Sünde gestorben sein, während diese gräulichen Sündenglieder in ihm noch lebten und wirkten, als gäbe es keine Herzensreinheit in Bezug auf diese Sünden. Aber im Grundtext steht der Aoristus, eine Zeitform der Vergangenheit, welche sehr oft im N. Testament da bei Ermahnungen und Befehlen gebraucht ist, wo zu einer entschiedenen und mehr abgeschlossenen Handlung aufgefordert wird. Im Deutschen kommen wir diesem Sinne am nächsten, wenn wir übersetzen: „Habt getötet" oder „tötet endlich einmal". Das Fleisch oder der alte Mensch ist mit seinen Sündengliedern noch in den Gläubigen vorhanden, aber sie sollen in den Kreuzestod Christi gebracht und daselbst erhalten werden, so daß sie nicht leben und das Herz nicht beherrschen und verunreinigen können. Die Sündenglieder sind dann in den Kreuzestod Christi festgenagelt und durch einwohnenden Heiligen Geist außer Wirksamkeit gebracht. Sie können sich wieder regen, sobald der Christ aus Christo, seiner Festung geht. Aber der Christ braucht dieses nicht zu thun und kann sie daher im Tode halten. Vergleiche 2. Kor. 5, 14 - 15; Rom. 6; 7, 1-6; 8, 1-4; Gal. 2, 10-20; 5, 22 - 24; 6, 14; Joh. 17, 19; 15, 5; Ebr. 9, 14; 10,14. Aus obigen Stellen geht fur Jeden, der sie liest wie sie dastehen und sie nicht durch Klügelei und Halbglauben abschwächt, klar hervor, daß vor mehr als 1850Jahren am Kreuze und in der Auferstehung Christi nicht nur die Erlösung von aller Sündenschuld, sondern auch die Erlösung von aller Sündenmacht und die Heiligung ein für allemal für uns erworben ist, so daß wir die „Gabe in Christo" Rom. 6, 23 einfach im hingebenden Vertrauen anzunehmen haben. Jeder unter uns Christen hier sieht es für eine traurige Abschwächung und Verdunkelung des Evangeliums an, wenn von den Nationalisten und Socinianern gelehrt wird, daß im Opfertode Christi nicht eine wirkliche und vollständige Tilgung unserer Sündenschuld erwirkt sei, sondern daß erst durch ein treues Wandeln in Christi Geist und Nachfolge wir Gnade und Segen aus Christi Selbstaufopferung haben könnten. Aber ist es nicht auch eine Abschwächung des Evangeliums, wenn gelehrt wird, daß der Opfertod Christi für das begnadigte Gotteskind zwar ein starker Antrieb sei, der Sünde zu sterben, aber nicht schon unmittelbar in dem gekreuzigten und auferstandenen Erlöser uns der Sieg und die Reinigung von allen Sünden gegeben sei! Die Schrift giebt uns keine Erlaubnis, eine ganze vollbrachte und erworbene Sündenvergebung und Rechtfertigung, aber nur eine halbvollbrachte Heiligung und Heiligungskraft in Christo zu lehren. Wenn man meint, daß die Heiligung des Gotteskindes vor allem durch eigene liebevolle Dankbarkeit, Wachsamkeit, Selbstertötung, Geduld in schweren Leiden, Gebet und Lesen des Wortes Gottes geschehen müsse; wenn man den Fortschritt und

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die Kraft in der Heiligung von dem allmählichen Schwächerwerden des alten Menschen und Stärkerwerden des neuen Menschen erwartet, so wird man betrübte Erfahrungen machen. Denn da trachtet man in unevangelischer Selbstheiligung nach „einer selbstständigen, von Christo unabhängigen Heiligungskraft in sich selbst" und damit nach einer Unmöglichkeit. Joh. 15,1-5. Gottes Wort bezeugt von Jesu, daß Sein Name soll „Jesus" heißen, denn ER wird Sein Volk erlösen von ihren Sünden. Wir dürfen es unbekehrten und bekehrten Seelen anpreisen, daß nicht nur alle Sündenschuld, sondern auch alle Sündenmacht in unsern Gliedern gebrochen ist am Kreuz, daß es keine, noch so starke und schreckliche SUndenkette giebt, die durch Christi Kreuzes-Kraft nicht zerrissen werde. Darum ist diese Wahrheit nicht nur wichtig fur die Bekehrten, sondern auch fur die Unbekehrten, so daß wir den in Trunksucht, Unkeuschheit, Lügenhaftigkeit, Zorn, Diebssinn usw. gebundenen Sündensklaven frei und mutig verkünden dürfen: „Christus ist dir im Worte jetzt gegenwärtiger Erlöser nicht nur von deiner Sündenschuld, sondern auch von deinen Sündenketten. Christus kann erretten aufs völligste. Hebr. 7, 25. Du kannst frei werden. Wenn du jetzt Jesum den Erretter und Befreier nicht ergreifst, so trägst du deine Ketten freiwillig, so gehst du mit Absicht nach eigener böser Wahl verloren." Wie nötig ist es deshalb, daß wir Gläubigen diese Kraft des Todes Christi selbst an unserm Herzen erfahren und so lebendige Zeugen der Erlösungsmacht Jesu sind. Es kommt, um zu dieser seligen Glaubenserfahrung gelangen zu können, auf drei Worte in richtiger Reihenfolge an. 1. Die Thatsache. 2. Der Glaube. 3. Die Erfahrung. Erst muß die Thatsache feststehen: Jesus ist durch Sein Sterben und Auferstehen der völlige Erlöser von aller Sündenmacht und der Wiederbringer des Lebens und der Gerechtigkeit geworden. ER ist als solcher auch der gute Hirte und Führer, welcher von der in Gewissensangst und Sorgennot bringenden eigenen Führung nach dem Gesetz errettet. Ehe du dies nicht aus der Bibel klar und unumstößlich erkannt hast, daß Jesus dir als der völlige Erlöser von grober und feiner Sündenmacht und als Heiligmacher eben so gewiß in der Bibel bezeugt ist, wie als Erretter von Sündenschuld und Verdammnis, so kannst du dich Ihm nicht von Herzen fest zur Reinigung und Bewahrung anvertrauen. Nachdem du aber dies durch den Heiligen Geist erkannt hast, da sollst und muß du auch dich Ihm ganz hingeben und ganz vertrauen. Du darfst nicht sagen, ich will es nun versuchen zu glauben und wenn ich es dann erfahre, dann will ich es fest glauben. Gottes Ordnung ist: euch geschehe nach eurem Glauben. Wenn du Jesu nicht eher dich anvertrauen willst, als du Ihn als Erlöser erfahren hast, so bist du eben ungläubig und betrübst Jesum durch Mißtrauen und kannst Seine Gnadenmacht nicht erfahren. Du willst im Unglauben, ehe du wirklich vertraust, so lange du nur mißtrauisch probierst zu glauben,

Glaubenserfahrungen machen. Das ist eine Unmöglichkeit, eben weil deine Herzensstellung zu Gottes wahrhaftiger Gnadengabe, d. h. zu Jesu, dem völligen Erlöser, heller Unglaube ist. Wohl kann dir das Erfahrungszeugnis anderer Brüder zur Glaubensstärkung zu Hilfe kommen. Aber dein Glaube muß sich doch in der Kraft des Heiligen Geistes allein auf die göttliche, in der Bibel bezeugte Thatsache stützen, und du mußt glauben und vertrauen und dich an Jesum zur Heiligung und Reinbewahrung hingeben, ehe du erfährst. Glaubst du aber wirklich, so wirst du auch die dritte Kraft Christi sofort erfahren, ebenso wie der gnadesuchende Sünder, der nicht blos probiert zu glauben, sondern wirklich glaubt, d. h. sich im Glauben Jesu anvertraut, sofort Frieden und neues Leben in Christo erlangt. 224

Zu solchem Glauben,*) der den Sieg Christi über Sünde und Welt sich zu eigen macht (1. Joh. 5, 4) gehört aber ein Hunger und Durst nach Gerechtigkeit, und eine gänzliche Entsagung des Eigenwillens und völlige Hingabe in Jesu Hände und Jesu Dienst, denn ohne völlige Hingabe giebt es kein völliges Vertrauen. Schon in der Bekehrung findet eine Hingabe und ein Brechen des empörerischen Eigenwillens statt, ohne dies giebt es keine wahre Bekehrung, Begnadigung und Wiedergeburt. Aber diese Hingabe und dies Brechen des Eigenwillens muß im Christenwandel völliger werden. Bei vielen Gotteskindern kommt ihr stetes Fallen und Ueberwundenwerden daher, daß sie nicht, ihrer wachsenden Erkenntnis gemäß, auch immer entschiedener der Sünde und Welt entsagt und sich Christo ganz und völlig hingegeben haben. Wollt ihr deshalb in den Stand des siegreichen Lebens in Jesu eintreten, so müßt ihr ganz an euch selbst verzagen, ganz der Sünde in allen Formen entsagen und euch ganz Jesu hingeben, um mit Jesu euch selber gestorben zu sein und so als mit Jesu auferstanden in der seligen Freiheit der Kinder Gottes zu wandeln. Hingabe und Glaube oder Treue und Trauen hängt nach dem griechischen Worte für Glaube zusammen. Das Wort pistis bedeutet sowohl treu sein, als trauen. „Sei getreu bis in den Tod" sagt nicht nur: Sei treu bis in den Tod, sondern auch: Traue bis in den Tod. Nur wenn ich in hingebender Treue gegen Jesum stehe, kann ich ganz Jesu vertrauen, und nur wenn ich Jesu kindlich ganz vertraue, habe ich Kraft zur völligen Selbstentsagung und unbedingten, herzlichen Treue gegen Ihn. Das Gesagte giebt uns auch rechten Grund zum Verständnis des zuerst verlesenen Gotteswortes 1 Joh. 1, 6-2, 6. Es heißt V. 7: „So wir im Lichte wandeln, wie ER im Lichte ist, so haben wir Gemeinschaft unter einander und das Blut Jesu Christi, Seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde." Wenn wir hier nur einfach auf das sehen, was dasteht und was gläubigen, geheiligten Kindern Gottes gesagt ist, so können wir nicht bei der verkehrten Auslegung bleiben, daß reinigen hier nicht reinigen, sondern nur vergeben bedeute, und daß hier gelehrt sei, daß auch der im Lichte wandelnde Christ erkannte und bewußte Sünde täglich und stündlich thun müsse. - Es kann hier nur gesagt sein, daß die im Lichte wandelnden Christen eine innige Gemeinschaft mit dem Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geist und unter einander haben, und daß in solchem Lichtwandel das in ihnen wirkende Blut Christi sie fortwährend reinige, und rein bewahre von aller Sünde. Diese Auslegung hat schon der Kirchenvater Tertullian (f 202) bei dieser Stelle, die er folgender Maßen auslegt: „Sündigen wir, wenn wir im Lichte wandeln, und werden wir gereinigt, wenn wir im Lichte sündigen? Keineswegs. Denn wer sündiget, ist nicht im Licht, sondern in der Finsternis. Johannes zeigt, wie wir gereinigt werden von der Sünde, wenn wir wandeln in dem Lichte, in welchem keine Sünde begangen werden kann, denn dies ist die Kraft des Blutes Christi, daß es diejenigen,

welche es von der Sünde gereinigt hat, forthin rein bewahrt, wenn sie fortfahren, im Lichte zu wandeln." Hieraus folgt auch, daß V. 8: „So wir sagen, wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns" nicht bedeuten kann, daß jeder Christ täglich und stündlich zu bekennen und zu bereuen habe die Thatsache „ich thue erkannte Sünde, die mein Herz verunreinigt und mir ein böses Gewissen und ein verdammendes Herz bringt". Dies wäre wider den ganzen Zusammenhang und Sinn des ersten Johannesbriefes. *) Anm. Glauben ist 1. Ueberzeugt sein. 2. Trauen. 3. Hingabe und treu sein.

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Denn gleich darauf sagt Johannes 2,1: „Solches schreibe ich euch, auf daß ihr nicht sündiget" und 2, 6: „Wer da saget, daß er in Ihm bleibe, der soll auch wandeln gleich wie ER gewandelt hat." Es kann also der Sinn dieser Stelle nur sein, wenn wir sagen: „Wir haben keine Sündennatur, kein Fleisch in uns und besitzen eine selbstständige und von Christo unabhängig gewordene Heiligkeit, so daß wir auch außer dem reinigenden Blute rein sind, so sind wir in tiefem Selbstbetruge." Die wichtige Lehre, welche wir also in dieser Stelle finden, ist die, daß das Fleisch auch in den Wiedergebornen und Geheiligten bleibt, und nur durch die Einwohnung des Blutes Christi im Glauben im Tode und in der Unschädlichkeit gehalten werden könne. „Sünde haben", im Sinne von Johannes, ist also wohl verträglich mit einem reinen Herzen Matth. 5, 8, einem guten Gewissen und nicht verdammenden Herzen 1. Joh. 3, 21, und heilig, rein und völlig sein und mit dem Bleiben in Jesu und nicht sündigen. Das bittere Wasser zu Mara wurde durch den hineingeworfenen Baum wirklich süßes Wasser, aber an sich ohne den Baum bleib es bitteres Wasser. So ist es auch mit den gläubigen und geheiligten Christen. Sie bekennen gern und unzweideutig, daß sie in sich sündig sind und Sünde haben, und daß sie oft zur Sünde versucht werden. Aber sie dürfen auch rühmen die Macht der Gnade im Blute Christi, welches ihren alten Menschen in den Kreuzestod gebracht hat, so daß sie sich jetzt durch das im Herzen durch den Glauben wohnende Wort von Christo, und durch die Heiligung des Geistes im Blute Christi von Sündenunreinheit rein und frei wissen und als mit Christo Auferstandene Gottes Willen thun. Das ist das Gnadenrecht jedes gläubigen Christen, im Blute Jesu der Sündenmacht abgestorben und zum Leben in der Liebe und Gerechtigkeit Christi auferstanden zu sein. Rom. 6, 11. In dieses Gnadenrecht und in diese selige Gnadenstellung zum Blute Christi und zur Führung Christi müssen wir in Hingabe und Vertrauen ohne Zögern eintreten, damit wir recht kräftig und ungehindert in's volle Leben und in die immer völligere Heiligung, die da in Jesu Führung ist, hineinwachsen können."

Nr. 3 Jasper von Oertzen (1833-1893), Kirche und Gemeinschaft, 1880. Aus: A. F. Gustav Ihloff, Im Weinberge des Herrn oderßinfzigjahre Evangelisation und Gemeinschaftspflege in Schleswig-Holstein, Neumünster 1907, S. 46-53. „Die evangelische Volkskirche ist nach meiner Ansicht nur zu halten, wenn es gelingt, unter Führung und Leitung des geordneten Lehramts eine Geistlichkeit zweiten Grades in die Kampflinie einzuführen, wie die römische und griechische Kirche dieselbe längst besitzt; denn nur durch solche Mitarbeit lebendiger Gemeindemitglieder kann unser deutsches Volk mehr und mehr wieder der Kirche zugewandt und in ihm der Glaube seiner Väter erhalten und neu belebt werden. Die Sendboten sollen ernstlich die der Kirche und dem Christentum Entfremdeten zurückführen. Wir leben in einer Zeit der Entscheidung. Auf der einen Seite ist das Christentum eine Macht geworden, wie selten zuvor, und die Leuchte des Evangeliums brennt so hell, wie vielleicht noch nie. Auf der anderen Seite herrscht aber auch ein grenzenloser Abfall, unermeßliche Verkommenheit, teuflische Raffiniertheit. Dieser Gegensatz tritt besonders grell in den großen Städten hervor; aber auch auf

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dem Lande bahnt er sich an. Der Abfall tritt hier mehr in der Form abschreckender Gleichgültigkeit auf. Die Glocken läuten; aber ihr lockender Schall dringt nicht durch die Wände der Werkstatt, reicht nicht zu dem festen Gehöft, rührt nicht das goldgepanzerte Herz; der Tod tritt in die Familie, aber seine Sense schreckt nicht mehr den reichen Kornbauer; die Sonne scheint freundlich vom Himmel, aber ihr Gruß findet keine Erwiderung. Da kommen nun die persönlichen Boten ins Haus und bitten eindringlich und herzlich:„Kommt, es ist alles bereit!" Dann wiederholen sich freilich häufig die Entschuldigungen und Hinderungen des Gleichnisses, als da sind: Ehefrau, Ackerbau, Ochsenschau usw. Aber manche werden doch geweckt, werden aufmerksam und erscheinen vielleicht in der nächtlichen Versammlung, gehen einmal wieder zur Kirche und schließen sich der Gemeinde an. Und wie viele sind auf dem Wege, gleichgültig zu werden, schwanken und drohen abzufallen. Der Pastor hat keine Zeit, sie zu besuchen, und weiß vielleicht gar nichts von ihnen; der Sendbote aber sucht sie auf, spricht zu ihnen und bittet sie, in seine Versammlungen zu kommen. Das zerstoßene Rohr wird Er nicht zerbrechen und den glimmenden Docht wird Er nicht auslöschen, bis daß Er ausführe das Gericht zum Sieg, so heißt es vom Heiland, und dieses Wort müssen wir auch an unseremTeile wahrzunehmen suchen. Aber diesem Verse geht unmittelbar vorher das andere: „Er wird nicht zanken noch schreien, und man wird Sein Geschrei nicht hören auf den Gassen." Darum keine Soldaten der Heilsarmee, sondern stillwirkende Sendboten! Keine stürmische Volksversammlung, sondern stille, geweihte Gemeinschaft und das ist die dritte Aufgabe der Sendboten, das Gemeinschaftsleben zu pflegen. In den Vereinshäusern oder in den großen Privatzimmern, oder gar in Scheunen und Gasthofsälen, manchmal aber auch in einer Kapelle, bringen sie die Leute zusammen und reden ihnen in die Gewissen, dazwischen steigen die Gesänge und Gebete zum Himmel. Außerdem suchen sie die Leute zur Gemeinschaft unter sich zu veranlassen. Eine ganz spezielle Aufgabe der Sendboten ist, im Lande umher wieder an das Gebet und Bibellesen zu erinnern. Die Familien sind in diesem Punkte in eine unverzeihlichen Schlendrian geraten, wo das Gebet fehlt und die Bibel bestaubt im Winkel ist, da lauert der Feind. Darum suchen die Sendboten überall wieder die Hausandachten, Tischgebete, Betstunden usw. zu Ehren zu bringen, und weisen die einzelnen auf die Notwendigkeit und den Segen des Gebets hin. Das Beten ist das Thermometer des religiösen Lebens, sowohl beim einzelnen, wie auch bei einem ganzen Lande. Das Thermometer muß wieder steigen, auch in unserem Schleswig-Holstein. In einigen kirchlichen Kreisen begegnet man immer noch der Ansicht, man brauche und dürfe den einzelnen nicht nachgehen; wenn Sonntags geläutet wird, so könnten die Leute ja kommen, wer nicht wolle, der könne wegbleiben! Das ist ein durchaus unbiblischer und unevangelischer Standpunkt. Wie ganz anders klingt dagegen das Wort des HErrn. Da hatten die stolzen Pharisäer und Schriftgelehrten es Jesu versagt, daß Er sich mit den Zöllnern und Sündern einlasse, jenen nachgehe, statt daß Er in ihrem erhabenen und gerechten Kreise bleibe; da antwortete Er, daß der Arzt für Kranke sei und nicht für Gesunde. Mit jenem schönen Gleichnisse vom verlorenen Schafe, wo ein Hirte eine große Herde hat, als sich aber ein Schaf verläuft, so gewinnt gerade dies eine alsbald das ganze Interesse des Hirten, Er läßt die neunundneunzig im Stich, als ob auf sie gar nichts ankäme, Er läßt nicht ab zu suchen, bis Er das eine gefundene hat. Er sagt nicht: Meine Schafe haben ja Glocken um den Hals, die mag das verirrte Schaf nur hören und wiederkommen. - Nein, da das verirrte sie nicht mehr hören kann, weil es zu weit abgekommen ist, so muß der

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Hirte selbst sich aufmachen, und als Er es gefunden, da legt Er es auf seine Schultern; denn es hat sich müde gelaufen, und Er freut sich mit übergroßer Freude. Wie weit sind wir doch noch von dieser edlen Gesinnung Jesu entfernt. Wie wenig geschah überhaupt Jahrzehnte hindurch von Seiten der Kirche zur Rettung Verlorener. Aber je mehr dies Pharisäertum ausstirbt, desto mehr wird auch das Werk, das der Verein in aller Stille angefangen, wachsen. - Die Leute kommen nicht mehr in die Kirche, darum muß die Kirche zu den Leuten kommen. Die vornehmsten Diener der Kirche sind doch die Pastoren, zu deutsch „Hirten". Im Gleichnis verläßt derHErr Seine Herde und geht dem Verlorenen nach. Das besorgen nun die Sendboten dort, wo die Hirten es nicht können. Dafür sollten die Pastoren dankbar sein, die Sendboten unterstützen und vor allem sich freuen über die Schafe, die so wieder zurückgeführt werden, wie auch der Hirte im Gleichnis sich freut mit übergroßer Freude. Es kommt alles darauf an, daß das Verhältnis zwischen der geordneten Kirche und dem Verein das richtige ist, sonst können sie beide nichts wirken, denn beide sind, wie die Dinge einmal liegen, füreinander unentbehrlich. Die Pastoren suchen mehr und mehr - und das ist hocherfreulich - von ihrem hochkirchlichen Standpunkt herabzusteigen, die Sendboten müssen bestrebt sein, bei aller evangelischen Freiheit in die geschichtlichen, kirchlichen Formen sich immer mehr hineinzuleben, beide müssen sich eben in die Hände arbeiten. Der Pastor sollte nicht ungünstig oder gar argwöhnisch auf die Versammlungen und die Tätigkeit der Sendboten blicken. Der Sendbote darf seine Leute nicht als etwas Besonderes gegenüber der Gemeinde betrachten, darf sich nicht abschließen von der Kirche, sie nicht zu einer kirchlichen Gemeinschaft machen. Wir haben daher auch das Prinzip der eingeschriebenen Mitglieder ganz abgeschafft, damit die Grenzen nach der großen Gemeinde immer fließend bleiben, damit sich kein Kastengeist ausbilde. Die Sendboten erstatten außerdem monatlich schriftlichen Bericht, der bei drei Pastoren zirkuliert. Die Sendboten sind Laien, und wenn sie andere Laien in den einzelnen Gemeinden gewonnen haben, so helfen ihnen diese in ihrer Arbeit, wenn auch nicht berufsmäßig. Der Pastor muß sich als Führer dieser arbeitenden Laien ansehen, nicht als ihr Gegner. Nur dann behält die Kirche die Bewegung, die nun einmal begonnen hat und sich sicherlich nicht mehr aufhalten läßt, in ihrer Hand. In Württemberg, wo die Bauern schon seit 150 Jahren unter sich christliche Gemeinschaft und Versammlung pflegen, hat die Kirche dieses längst eingesehen, und die Pastoren beteiligen sich in den meisten Gemeinden regelmäßig an den Stunden, sitzen unter den Bauern und leiten die Bibelbesprechungen. Vor einigen Jahren begegnete es uns in einer Gemeinschaft, daß die Sendboten zehn Jahre etwa aufs treueste vom Pfarrer unterstützt waren, sodaß die Vereinssache blühte und so geordnet war, wie man es nur wünschen konnte. Da starb jener Pfarrer, und ein anderer junger Geistlicher kam, der wußte nichts von Josef, wie es 2. Mose 1, 8 heißt, und sprach zu seinem Volk: „Siehe, das Volk der Kinder Israel ist viel und mehr denn wir. Wohlan, wir wollen sie mit List dämpfen, daß ihrer nicht so viel werden." Da drohte das Gute, was der HErr in jener Gemeinde angefangen hatte, außer kirchliche Bahnen einzuschlagen. Ein solcher Fall ist sehr betrübend und entmutigend für die arbeitenden Laien, die der Kirche zu helfen bestrebt sind, und nun zum Dank dafür als Feinde und Störer der Kirche angesehen werden. Wenn der Pastor wirklich glaubt, daß der Sendbote seine Sache verkehrt macht, so sollte er ihn doch zuerst zurechtweisen und aufrichtige Bahnen lenken. Im übrigen aber ist es doch eine oft zugegebene Tatsache, daß das Wort eines Laien, zur rechten Zeit gesprochen zu den 228

Herzen, ebenso gut erweckende, aufrüttelnde oder erbauende Wirkung tun kann, als das eines Theologen. Die zwölf Apostel und die 70, Jesus und Paulus voran, waren alle Handwerker, also Laien! Und darum gerade schlug ihr Wort vielleicht so ein bei dem großen Haufen, daß das Volk an seine Brust schlägt und fragt: „Ist dieser nicht ein Zimmermann, sind diese nicht Handwerker und ihre Brüder und Schwestern hier unter uns? Woher kommt ihnen denn dieses?" Es muß eine höhere Macht in ihnen mächtig gewesen sein. Wird dadurch aber nicht eigentlich gesagt, daß die ungelehrten Laien - fast wirksamer, wichtiger und tüchtiger sind, als die Pastoren? Nein, gewiß nicht. - Wir vertreten diesen Standpunkt wenigstens durchaus nicht, bekämpfen ihn sogar auf das lebhafteste. Wir sind der festen Überzeugung, daß die Landmissionare in ihrer evangelistischen Tätigkeit unfähig wären, ein Pfarramt zu verwalten, untüchtig eine Gemeinde zu leiten, namentlich dieselben sonntäglich zu predigen, sie lehrhaft und erbauend zu weiden und das Wort auszuteilen, wie sie es bedarf. - Das ist alles sehr, sehr viel schwieriger, als dem Evangelistenberuf nachzugehen und Zerstreute zu sammeln. Das Hauptarbeitsgebiet der Sendboten liegt hinter den Zäunen und an den Hecken, es ist nur eine notwendige Ergänzungsarbeit, wie unsere Zeit sie fordert mit ihren großen Nöten. Daher dürfen die Sendboten ihrerseits und der Verein vor allen Dingen nie vergessen, daß sie, wie die Innere Mission überhaupt, nur dazu da sind, sich selbst überflüssig zu machen. Haben sie ihre Aufgabe erfüllt, so können sie gehen. Je mehr der Sendbotenverein wächst und blüht, macht er sich selbst überflüssig. Hoffentlich erleben wir noch die Zeit, wo wir ihn ganz und gar als Verein nicht brauchen, wo er in der Kirche aufgeht, wenn der Schall der Kirchenglocken nämlich überall hindringt, und alles Volk eine Gemeinde bildet, wo wieder gesungen werden kann: „Alle Lande sind Seiner Ehre voll!""

Nr. 4 Vertrauliche Mittheilung Nr. 1 Erster Entwurf eines Einladungsschreibens zur ersten Gnadauer Konferenz von Eduard Graf von Pückler (1853-1924), 1886. Aus: Gnadauer Archiv, Ordner „Anfänge". Quellen, S. 24-26.).

(Auch abgedruckt in: J. Ohlemacher

(Hg.),

„Vorläufiger Entwurf! Einladung zu einer freien Conferenz christlicher Männer aus ganz Deutschland. Wer auf diese Zeichen der Zeit achtet, wird finden, daß überall1 im Reiche Gottes scharfe Gegensätze sich geltend machen. Während die großen Massen im Allgemeinen dem Christentum noch gleichgültig gegenüberstehen, läßt sich unter dem Einfluß gläubiger Predigt, die von vielen Kanzeln heute erschallt, in kleineren und größeren Kreisen unseres Vaterlandes ein geistliches Erwachen verspüren. Christliche (Männer)2 aus allerlei Volk haben angefangen, die Befehle d(es Herrn) zur Arbeit

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in seinem Reiche auch auf sich zu beziehen, und hingenommen von der Herrlichkeit des Berufes, dem Herrn und König des Himmelreiches zu dienen, kennen sie nichts Höheres auf Erden, als ihr Leben in den Dienst ihres Heilandes und Erlösers zu stellen. Dieses unter uns η (euer-) wachte Leben bewegt sich aber zum Theil 3 noch nich(tin) solchen Bahnen, in welchen es verlaufen muß, wenn e(szum) Aufbau des Reiches Gottes innerhalb der Volkskirche (mit) der ganzen ihm innewohnenden Kraft wirkungsvoll w(erden) soll. Während bisweilen die Träger des geordneten A(mtes) diese Bewegung hervorrufen und begünstigen, andere ab(er diese) als revolutionär bekämpfen oder doch scheel blicken, weil (un-) gelehrte Leute und Laien ein Zeugnis von Jesus ablegen(,) haben sich manche Laienprediger in einen beklagenswerten Gegensatz zu den Institutionen der Vol(kskirche) drängen lassen, obgleich sie derselben noch angehören. Da-(bei) geht eine tiefe Sehnsucht nach einer nicht nur ideellen, sondern auch thatsächlich sich bekundenden Gemeinschaft der Gläubigen durch die Kreise der Erweckten, welche, da ihr nicht in genügender Weise Rechnung getragen wird, oft ungesunde Verhältnisse erzeugt. Ein Rückblick auf die großen Tage der Reformation zeigt uns aber, daß die Männer, welche damals das neue Licht und Leben evangelischer Lehre vermittelten, mit eben so großem Ernst und Nachdruck die Mitarbeit aller gläubigen Glieder der Gemeinde beim Aufbau des Reiches Gottes verlangten, als sie von der Nothwendigkeit und biblischen Begründung eines geordneten Amtes in der Kirche überzeugt waren. Auch haben sie den Gläubigen nicht zugemuthet, sich unterschiedslos mit allen Namenchristen auf einen Standpunkt zu stellen, sondern, und zwar namentlich Luther 4 , eine Sammlung der Gläubigen innerhalb der Volkskirche energisch gefordert 5 . Dies beweist, daß die Grundprincipien der Kirche der Reformation weit genug sind, um allen Wünschen der Gläubigen nach Mitarbeit und Gemeinschaft unter einander gerecht zu werden, ohne das geordnete Amt desjenigen Einflusses zu berauben, mit welchen der Herr der Kirche es bekleidet hat. Darum thut es jetzt dringend noth, sich auf die Grundprincipien zu besinnen, aufweichen unsere Kirche sich erbaut hat, und zu ihnen, da wo es erforderlich ist, in ihrem vollen Umfange zurückzukehren. Dies wird nicht allein die gegenwärtigen Schwierigkeiten heben, sondern auch, weil jede Sache sich am gedeihlichsten auf ihrer ursprünglichen Grundlage sich entwickelt, der Kirche diejenige Kräftigung verleihen, welche sie gegenüber der immer bewußteren Feindschaft breiter Massen und gegenüber der bedrohlichen Macht Roms in unseren Tagen so dringend bedarf. Als zur Zeit der ersten Gemeindebildung tiefgehende Meinungsverschiedenheiten die gedeihliche Fortentwicklung hinderten, kam man stets zu einem Meinungsaustausch zusammen, und weil es den versammelten Männern ernst war, den Willen Gottes zu erforschen, so wurde der Zwietracht gewehrt und der gefährdete Friede immer wiederhergestellt. Auch heute giebt es Männer in unserem Vaterlande, welchen der Aufbau des Reiches Jesu Christi hoch über allen menschlichen Parteiungen und Meinungen steht, und darum 6 kann auch das, was in der apostolischen Zeit sich als wirksam erwies, unseren jetzigen Verhältnissen zum Heil und Segen gereichen. Darum werden alle christlichen Männer, denen es Ernst damit ist, daß das Reich Gottes sich in Deutschland im Frieden erbaue7, sich zu einer Konferenz, etwa im Monat Mai 1887, in Berlin zu versammeln. Der Zweck dieser Konferenz ist: 1) Die oben angedeuteten Principien klar zu legen und zu versuchen, ob es nicht mit Gottes Hülfe gelingen möchte, die entstandenen Schwierigkeiten zu beseitigen. 2) Durch gemeinsames Gebet und Pflege brüderlicher Gemeinschaft neue Kraft 230

zu schöpfen fiir die Reichsgottesarbeit und für die bevorstehenden Kämpfe, die uns nicht erspart bleiben können. Für die dreitägige Konferenz sind folgende drei Hauptthemen in Aussicht genommen. 1) Die Berechtigung, die Nothwendigkeit und die Grenzen der Laienthätigkeit (Referent Konsistorialrat Lange= Jannowitz, früher in Hannover und Breslau). 2) Der Segen christlicher Gemeinschaft und die nothwendige Organisation derselben in Stadt und Land. (Um dies Referat soll Superintendent Schmalenbach=Mennighüffen ersucht werden). 3) Was lehrt die heilige Schrift über Heiligung? (Um dies Referat ist Herr Generalsuperintendent Braun gebeten worden, doch hat sich derselbe seine Entscheidung noch vorbehalten). Für die Specialkonferenzen liegen eine ganze Reihe Themata's vor, wie: 1) Gebetsversammlungen und Gebetsgemeinschaften. 2) Bibelstunden und Bibelbesprechungen. 3) Welche Stellung nehmen wir der Bewegung gegenüber ein nach größerer Selbständigkeit der Kirche? 4) Die fundamentale Bedeutung des Wortes Gottes für alle Lebensgebiete. Die Abende der drei Tage sollen freier, geselliger (Ge-)meinschaft gewidmet sein, an denen Mittheilungen aus den verschiedenen Arbeitsgebieten erfolgen werden. Auch alle8 christlichen Frauen, namentlich solche 9 , die mitarbeiten, sind herzlich eingeladen, auf der eigens für sie reservirten Tribüne den Beratungen beizuwohnen, an den mehr geselligen Zusammenkünften des Abends aber ihre persönliche Theilnahme uns zu schenken 10 ."

1 Handschriftlich (hs) ist „überall" gestrichen und am Rande dafür hs: „auf allen Gebieten fast, namentlich aber"; die Korrekturen stammen von v. Oertzen, siehe A n m . 10. 2 In K l a m m e r gesetzt sind die Wörter und Buchstaben, die am Rand abgebrochen sind und von mir ergänzt wurden. 3 Mit hs Korrekturzeichen Umstellung: „ z u m Theil aber". 4 V o n „ u n d " bis „Luther" gestrichen. 5 Korrekturzeichen, A n f ü g u n g , hs am Rande: „ s o namentlich Luther". 6 „ D a t u m " gestrichen, dafür hs am Rande: „deshalb". 7 Korrekturzeichen, A n f ü g u n g , hs am Rande: „hierdurch aufgefordert". 8 „Alle" im Text durchgestrichen. 9 Das K o m m a ist im T e x t durchgestrichen. 10 Unter dem gedruckten Text folgt handschriftlich: „Carissime: Ich habe Dir u Bernstorff die ersten Correcturbogen gesandt u sehe der Rücksendung derselben entgegen. Ich habe meine Wünsche oben bemerkt, u er(warte) mir Dein resp Euer Urteil. In Eile treulich JvO"

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Nr. 5 Das endgültige Einladungsschreiben zur ersten Gnadauer Konferenz aus der Sitzung des Evangelisationsvereins vom 13./14. April 1887. Aus: J. G. Pfleiderer (Hg.), Verhandlungen der Gnadauer Pßngstkonferenz Mai 1888). Gnadau 1888, S.-13. (Auch abgedruckt in: J. Ohlemacher (Hg.), S. 27-33.).

(22.-24. Quellen,

„Wir leben in einer ernsten, bewegten Zeit, die erfüllt ist von tiefgreifenden Fragen, von scharfen Gegensätzen in allen Gebieten des öffentlichen Lebens. Auch in dem religiösen Leben unsers Volkes tritt dieser Grundcharakter zu Tage. Wie die Schar der Gläubigen wächst, so auch die Macht bewußten Unglaubens. Alte und neue Bedürfnisse, tiefe Notstände, wie sie ganz besonders in unsern großen Städten und in den bevölkerten Fabrikbezirken in eigentümlicher Weise zu Tage treten, stellen neue Aufgaben an alle, die der Überzeugung sind, daß das Evangelium von Christo Jesu eine Kraft Gottes zur Rettung und Seligmachung aller Menschen in allen Zeiten ist. Die von dieser Überzeugung erfüllten gläubigen Kreise unseres Volkes sind denn auch nicht müßig gewesen. Mit aufrichtigem Dank gegen Gott, den Geber aller guten und vollkommenen Gabe, begrüßen wir die Fülle von christlichen Arbeiten, von Werken des Glaubens und der Liebe, die im letzten halben Jahrhundert teils neu geschaffen, teils mit vermehrter Kraft und Hingebung in die Hand genommen worden sind. Welche wachsende Ausdehnung hat das Werk der Heidenmission gewonnen, welche Fülle von Arbeiten rettender Liebe hat die innere Mission gezeitigt! Welche Segnungen hat die Heranziehung der Frauenwelt in der Diakonissensache und verwandten Liebesdiensten gewirkt, welche Bedeutung die Arbeit der Stadtmission und der sie unterstützenden evangelisierenden Thätigkeiten empfangen! Nehmen wir hinzu, daß in allen Gegenden unseres Vaterlandes von treuen Dienern des geistlichen Amtes das Evangelium als eine Kraft Gottes zur Errettung und zum Heil verkündigt wird, daß christliche Männer aus allerlei Volk, erfüllt von dem Drange, dem Herrn zu dienen, in steigender Zahl an Werken des Glaubens und der rettenden Liebe in freudiger Selbstverleugnung mitzuarbeiten, j a ihr Leben in den Dienst des Herrn zu stellen willig sind, daß andererseits die Zahl der nach Wahrheit und Friede Verlangenden sichtlich im Wachsen ist, so ist des Grundes genug, Gott für seine Segnungen auch an unserm Volke aufrichtig Dank zu opfern. Ja, wir dürfen sagen: die Sache des Reiches Gottes geht auch unter uns voran, mächtiger, denn je in einer fiüheren Zeit. Aber eben im Lichte dieses Dankes empfangen auch die Aufgaben, welche die vorhandenen Notstände uns vor Augen stellen, eine um so hellere Beleuchtung. Das Evangelium wird in dieser Weltzeit unter allen Völkern und in allen Jahrhunderten nur von einer Minderzahl wahrhaft verstanden und im Glauben ergriffen. U m so mehr gilt es, diese Minderzahl zu mehren, so viel wie möglich Allen und auf allerlei Weise das Evangelium anzubieten. Sind wir von Dank erfüllt für alle Segnungen Gottes in der Gegenwart, so sind wir es nicht, um nun auszuruhen, sondern um nicht zu verzagen gegenüber den großen uns noch gestellten Aufgaben, um desto mehr mit Ernst und freudigem Mute auch sie in Angriff zu nehmen. Ein Doppeltes dürfte in dieser Richtung uns vor allem not sein. Alle wahrhafte Besserung, aller wirkliche

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Fortschritt, zumal im religiösen Leben, ruht zunächst auf innerlichen Voraussetzungen. N u r wo Vertiefung der christlichen Erkenntnis und Wachstum des inneren Lebens vorausgeht, werden jene Kräfte frei gemacht und entwickelt, welche uns nicht nur von dem Streit der theologischen und kirchlichen Parteiung ferne halten, sondern in ihrer Bethätigung auch unaufhaltbar, weil mit verborgener göttlicher Kraft wirkend, nie leer zurückkommen. In diesem Blick dürfte es vor allem die Lehre von der Heiligung, von dem neuen Leben in Christo sein, deren tiefere Erkenntnis und Erfassung in den Kreisen der an Christum Gläubigen not thut. Es gilt nicht nur die innere Beziehung der Heiligung zur Erlösung in schrift- und erfahrungsgemäßer Weise richtig zu erkennen, sondern unter solcher Erkenntnis und Erfahrung auch mit neuen Kräßen von Oben ausgerüstet zu werden. Wo Geist ist, da sind auch Kräfte, und wo Kräfte und Gaben von Oben sind, da sind auch Wirkungen (1 Kor. 12; Gal. 5,22; Ephes. 5, 9). Wollen wir mit der Kraft des Evangeliums größere Wirkungen erzielen, so ist der Weg hierzu vor allem, uns und Vielen ein reicheres Maß des Geistes und damit auch der Kraft zu erbitten, zu Gefäßen der Gnade uns zubereiten und heiligen zu lassen. Wo dieser Zug kräftig waltet, da wird auch der Trieb nach Gemeinschaft der Gläubigen sich nicht nur lebendig regen, sondern auch in allerlei Weise seine Befriedigung suchen und finden. Das ist das Erste, was wir im Blick auf die nachfolgende Einladung betonen und in den Vordergrund stellen möchten. Daran reihen wir ein Zweites. Die Frage der Mitarbeit der „Laien", der Nichtgeistlichen an den religiösen Aufgaben der Gegenwart beschäftigt mehr und mehr auch in Deutschland weite Kreise. Nach sehr vielen Seiten ist diese Frage bereits thatsächlich gelöst. Fast ausnahmslos haben alle deutschen Landeskirchen presbyteriale und synodale Ordnungen ihrer staatskirchlichen Grundlage angegliedert und damit die Berufung der Laien zur Mitarbeit grundsätzlich begehrt und anerkannt. Wir achten dies als einen Fortschritt, obgleich wir uns dessen wohl bewußt sind, daß in der Gemeinde Jesu jede äußere Berufung nur so weit ihren Zweck wahrhaft erfüllen kann, als die zur Mitarbeit Berufenen vom Geiste des Glaubens erßillt und getragen sind. Aber auch die freien Werke des Glaubens und der Liebe, deren wir oben mit Dank gegen Gott gedacht, was sind die anders, als der thatsächliche Beweis, daß ein Glaubenstrieb zur Mitarbeit an den Aufgaben des Reiches Gottes in den weitesten Kreisen nicht nur bereits erwacht, sondern auch wirksam geworden ist? Alle jene Arbeiten ruhen, unter Mitbeteiligung vieler Träger des geistlichen Amtes, ja wesentlich auf dem Boden der gläubigen Gemeinde. Doch die Bedürfnisse drängen, wie wir überzeugt sind, noch einen Schritt weiter, und zwar vornehmlich in zwei Richtungen. Mehr und mehr erwacht das Verlangen nach einer Pflege der Gemeinschaft in den Kreisen der Gläubigen. In dieser Beziehung ist vor allem die lokale Organisation von Privaterbauungs- Versammlungen in möglichst weiten Kreisen vonnöten. Wäre eine solche in genügender Weise vorhanden, so würden viele Geistliche nicht über das Eindringen ausländischer Sendboten, die neben der Erbauung und Evangelisation separatistische Zwecke verfolgen, zu klagen haben. Im südwestlichen Deutschland wie auch im Westen unseres Vaterlandes sind jene Versammlungen bereits eine althergebrachte Sitte, und sind, wie jeder mit ihrer Geschichte Vertraute anerkennen wird, eine wesentliche Grundlage des lebendigen, auch praktisch thätigen Christentums, das wir seit lange in den bezeichneten Gebieten finden. Mit dem Verlangen nach möglichster Ausbreitung von religiösen Privatversammlungen, als Stützpunkten und Trägern kirchlichen Gemeindelebens, bewegen wir

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uns auf gut reformatorischem Boden. Auch unsere Reformatoren, Luther voran, haben eine Sammlung der Gläubigen innerhalb der Volkskirche nachdrücklich begehrt. Es ist bekannt, daß Luther in seiner Schrift „die deutsche Messe" (1526) sich also vernehmen läßt: „Die so mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelium mit Hand und Mund bekennen, müßten - irgendwo in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen - und andere christliche Werke zu üben". Er fuhrt dann weiter aus, er habe zur Ausrichtung einer solchen Versammlung noch nicht die rechten Leute und Personen: „Kommts aber, daß ichs thun muß und dazu gedrungen werde, daß ichs aus gutem Gewissen nicht lassen kann, so will ich das Meine gerne dazu thun und das Beste, so ich vermag, helfen." Schon dieses Wort, aber auch die Grundprinzipien der Reformation selbst beweisen es, daß diese weit genug sind, um allen im Worte Gottes und in den Bedürfnissen des christlichen Gemeindelebens begründeten Wünschen der Gläubigen nach Mitarbeit und Gemeinschaft unter einander gerecht zu werden, ohne das geordnete Amt desjenigen Einflusses zu berauben, der ihm gebührt. Gott sei Dank fehlt es heute auch nicht an den „rechten Leuten", um solche Pflege christlicher Gemeinschaft in sehr vielen Gemeinden ins Leben zu rufen und zu fördern. An dieses erste Begehren fugen wir ein zweites. Es ist eine unleugbare Thatsache, daß an vielen Orten, namentlich in den größeren Städten das geistliche Amt, auch w o Trieb und Wille hiezu kräftig vorhanden sind, völlig außer Stande ist, den ihm gestellten Aufgaben in Bezug auf Verkündigung des Evangeliums und Seelsorge noch irgendwie gerecht zu werden. Millionen leben heute dahin, ohne daß ihnen das Evangelium angeboten, ihnen in Liebe mit Rat und That nachgegangen und ihrer geistlichen Verödung zu steuern versucht wird. Aus dieser Thatsache ergiebt sich unaufhaltbar das Bedürfnis nach Mitarbeit der Gläubigen und die Notwendigkeit einer freien Evangelisationsarbeit. Da die dem Christentum entfremdeten Massen längst nicht mehr in unsere Kirchen kommen, so müssen wir ihnen nachgehen von Haus zu Haus, sie einladen und evangelisierend in Sälen, Hallen oder sonst an öffentlichen Orten in ihren Reihen zu wirken versuchen. Auch in dieser Richtung sind bereits mannigfache und gesegnete Anfänge unter uns gemacht worden. Sie ermutigen, sie verpflichten uns, mit freudigem Glauben in dieser Richtung weiter vorzugehen. Wir stehen hier vor einer der wichtigsten religiösen Aufgaben der Gegenwart, für Volk und Kirche von hoher praktischer Bedeutung. Merkwürdigerweise begegnet ihr aber in weiten Kreisen, auch unter treuen und eifrigen Trägern des geistlichen Amtes, noch mangelndes Verständnis, ja selbst offener Widerspruch. Er ist nicht unerklärlich, wenn man die geschichtliche Entwicklung unserer evangelischen Kirchenverhältnisse in's Auge faßt. Zerteilt in eine Menge kleiner und kleinster, unter sich völlig getrennter, ganz staatskirchlich organisierter Landeskirchen, ist naturgemäß da und dort ein formal-büreaukratischer Geist in der Organisation und Verwaltung der kirchenlichen Angelegenheiten vorwiegend geworden. Solche Gewöhnungen wirken mit Notwendigkeit lange nach, selbst noch in Zeiten, w o man in weitesten Kreisen erkennt, daß Reformen not thun, daß auch neue Wege zu beschreiten sind. Wie sehr die politische Lage und Machtstellung Deutschlands sich in den letzten zwei Jahrzehnten auch verwandelt hat, auf kirchlichem Gebiet sind die Überlieferungen und Gewöhnungen unserer früheren kirchenpolitischen Entwikkelung noch fast völlig ungebrochen. Wir erachten diese Frage der Mitarbeit der Gläubigen und neuer, zeitgemäßer Arbeitsorganisation für eine sehr wichtige, wohl geeignet, die besten Kräfte unserer

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evangelischen Kirche in Anspruch zu nehmen. Gewiß sollen wir keine der Gaben und Vorzüge, die Gott in eigentümlicher Weise der Kirche der Reformation in Deutschland geschenkt hat, verkleinern oder daran geben; wir begehren aber auch für neue Bedürfiiisse in weiteren Kreisen Sinn und Verständnis wach zu rufen. Was das Bedürfnis einer freien, vielseitig sich entwickelnden Evangelisation betrifft, so wünschten wir in erster Linie, daß unsere evangelischen Landeskirchen den Willen und damit auch Mittel und Wege fänden, ihren bestehenden Ordnungen ein Evangelistenamt anzugliedern. Selbst die englische Episkopalkirche, sonst in einer fast katholisierenden Weise in ihren kirchlichen Ordnungen festgebannt, hat in neuester Zeit diesen Schritt gethan und auch Laien durch eine besondere Weihe zum Evangelistenamt berufen. Gewiß wird es schwer sein, in der vielfältig gebundenen Lage der evangelischen Landeskirchen Deutschlands den gleichen Schritt zu thun, aber unmöglich ist es wohl nicht. Es giebt auch gar manche unter den evangelischen Geistlichen Deutschlands, welchen zur Evangelisation eine besondere Begabung inne wohnt. Man gehe den Bedürfnissen folgend vor, und ihre Zahl wird sich noch mehren. Aber ob ein kirchliches Evangelistenamt bei uns zu gestalten ist oder n i c h t in jedem Falle begehren wir, daß auch den Nichtgeistlichen, welchen Schriftverständnis und Lebenserfahrung, lebendiger Glaubenstrieb und die Gabe, fesselnd und volkstümlich zu reden, verliehen ist zu Bethätigung solcher Begabung Freiheit und Raum gegeben werde. Solches wehren zu wollen, hieße die kirchliche Lage und die religiösen Aufgaben der Gegenwart verkennen und gegen die gewichtvolle apostolische Regel: „Den Geist dämpfet nicht!" (1. Thess. 5,19) sich verfehlen. Auch an den Aposteln wurde von Hohepriestern und Schriftgelehrten (Apgsch. 4,13) es bemängelt, daß sie „Laien und ungelehrte Leute" seien, und doch waren sie es, die durch das ihnen anvertraute Zeugnis das religiöse Leben der Menschheit umzugestalten und zu erneuern berufen waren. So lange die Kirche deutscher Reformation dem hier vorliegenden Bedürfnis nicht gerecht zu werden vermag, haben freie Vereinigungen gläubiger Kreise doppelt Recht wie Pflicht, für die Arbeit der Evangelisation durch geeignete, von Gott berufene Männer einzutreten. Aber auch hiezu bedarf es des Zusammenschlusses in weiteren Kreisen, einer gewissen freien Organisation, u m nicht nur die Mittel zu beschaffen, sondern auch die Gaben zu prüfen und Unberufene ferne zu halten. Wir haben hier nicht kirchenpolitische, nicht Verfassungsreformen, nicht Dotationen der Kirche im Auge, so wichtig, so nötig und berechtigt dieselben an ihrer Stelle sind. Was uns hier anliegt und bewegt, was zu dieser Einladung uns zusammenführt, ist der Wunsch, ist die Bitte zum Herrn, daß Er Sein Reich unter uns bauen wolle in allerlei Weise mit den Mitteln des Gebetes und des Glaubens, mit den Mitteln Seines Geistes und Seiner Kraft. Im Anschluß und auf Grund vorstehender Darlegungen laden wir alle diejenigen zu einer zweitägigen Konferenz für die Pfingstwoche 1888 nach Gnadau ein, welche mit uns nachstehende Überzeugungen teilen: 1. Daß bei aller Achtung unserer kirchlichen Ordnungen die Mitarbeit am Reiche Gottes nach evangelischer Lehre nicht allein Recht, sondern auch Pflicht aller Gläubigen sei; 2. Daß die Privaterbauung in gemeinsamem Gebet, Bibelbetrachtung und Austausch geistlicher Erfahrungen eine wichtige Ergänzung dessen bilde, was die Kirche in ihren öffentlichen Gottesdiensten bietet; daß dieselbe für neuerweckte Christen oft

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eine unentbehrliche Stütze und heilsame Bewahrung, fur alle Teilnehmer aber ein Antrieb zur Vertiefung des inneren Lebens, auch ein gewisser Ersatz für mangelnde Kirchenzucht sei; 3. Daß jedoch die bei uns bestehende Volkskirche als ein göttlicher Segen zu achten und der Einfluß des geordneten Amtes in ihr zu stärken sei; daß daher separatistische Tendenzen und unevangelische, schwärmerische und gewaltsame Heilsmethoden ferne zu halten seien, da solche die Kraft des Glaubens und der Liebe vielfach schädigen. Der Zweck dieser Konferenz ist somit: I. Auf Grund der biblisch-reformatorischen Grundanschauungen das Recht der gemeinschaftlichen Privaterbauung, der Gemeinschaftspflege, der Evangelisation, sowie der Laienthätigkeit überhaupt in ihrem Verhältnis zum geordneten Amt und den Organen der Kirche klar zu stellen. II. Durch brüderliche Gemeinschaft und Gebet sich neu zu stärken für die vielfachen Aufgaben, welche die Arbeit für das Reich Gottes uns in der Gegenwart vorlegt." „Für die Konferenz wurde demnach folgende Tagesordnung in Aussicht genommen: Dienstag, 22. Mai. 8 U h r abends im Gasthof: Begrüßung, Mitteilungen, Wahlen. Mittwoch, 23. Mai. In der Kirche. 814 Uhr: Morgenandacht und Gebetsversammlung. 914-1254 Uhr: 1. Hauptversammlung. „Die Berechtigung, die Notwendigkeit und die Grenzen der Laienthätigkeit." Referent D. th. Fahrt-Godesberg. 4-6 Uhr: 2. Hauptversammlung. „Die Notwendigkeit der organisierten Evangelisation neben dem pastoralen Amt und ihre Bedeutung fir das kirchliche Leben." Referent: Baron v. Oertzen - Hamburg. 8-10 Uhr: Abendversammlung. Freie Ansprachen, Mitteilungen aus den Arbeitsgebieten. Donnerstag, 24. Mai. In der Kirche. 814 Uhr: Morgenandacht und Gebetsversammlung. 914-1214 Uhr: 3. Hauptversammlung. a) „ Was lehrt die heilige Schrift über Heiligung." Referent: D. th. Geß, General-Superintendent a. D. b) „Die Gemeinschaft der Heiligen und die notwendige Organisation der christlichen Gemeinschaften in Stadt und Land." Ref.: Superintendent Schmalenbach - Mennighüffen. 3-6 Uhr: 4. Hauptversammlung. a) „Gebetsversammlungen und Gebetsgemeinschaften." Referent: Prediger Schrenk - Marburg. b) „Bibelstunden und Bibelbesprechungen." Ref.: Pastor Coerper-Barmen. 8-10 Uhr: Abendversammlungen. Verabschiedung.

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Unterschrieben wurde diese Einladung von folgenden, im wesentlich gleichgesinnten Männern: C. von Arendorf auf Seesen, GrafA. von Bernstorff- Berlin, Seminaroberlehrer S. Bochterle - Eßlingen, Professor D. theol. Christlieb - Bonn, Pastor Coerper- Barmen, Regierungs- und Baurat Cuno - Hildesheim, Cuntz, evang.-luth. Pastor, Bremen-(Neustadt), Pastor Dammann - Essen, Oberlehrer Dietrich - Stuttgart, Institutslehrer Ch. Dietrich - Stuttgart, Pfarrer Engels - Nümbrecht, D. theol. Fabri - Godesberg, D. theol. Fr. Geß, Generalsuperintendent a. D., Wernigerode, H. O. Glüer, aufGergehnen, Hauptlehrer Götze - Hamburg, Präses des evang. Lehrerbundes, D. Fritz Hommel, Universitäts-Professor, München Pfarrer Herbst - Ansbach (Bayern), Stadtpfarrer Jehle - Ebingen, Pastor Jellinghaus - Gütergotz, Pastor Jensen - Brecklum (Schlesw.-Holstein), Pastor Jungclaussen - Dönberg, Stadtkassen-Rendant Kleinfeldt - Zinten (Ostpr.), Theodor Klunzinger - Stuttgart, Graf Max von Lüttichau, K. Kammerherr, Schloßhauptmann von Friedrichskron, Pastor Müller - Barmen, Carl de Neufville - Frankfurt a. Main, Pastor Nielsen - Hoirup (Schleswig-Holstein), Pastor C. Ninck - Hamburg, Pastor Nordmeyer - Moers, Jasper v. Oertzen - Hamburg, Professor Pfleiderer, Inspektor desjohanneums, Bonn, Graf Ed. von Pückler - Berlin, Pastor Riewerts - Neumünster in Holstein, Jacob Gustav Siebel - Freudenberg, Julius Schniewind - Elberfeld, Pfarrer Schiaich - Kornthal bei Stuttgart, Prediger E. Schrenk - Marburg, Professor Dr. jur. R. Sohm - Leipzig, Pfarrer Stockmayer - Beutelsbach (Württemberg), Superintendent Oberpfarrer Streetz - Koischwitz bei Liegnitz (Schlesien) Pastor Tiesmeyer - Bremen, Instituts Vorsteher Thumm - Wilhelmsdorf (Württemberg), Rechtsanwalt von Voß - Gera (Reuß), Pastor Witt - Havetoft-Angeln (Schleswig-Holstein), Pastor Ziemendorff- Wiesbaden."

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Nr. 6 Protokoll der Sitzungen des Evangelisations Vereins. Auszüge aus den Sitzungen vom 13./14. April, 17. November und 13. Dezember 1887. Aus: Protokollbuch 1887 im Archiv des Johanneums; eigentümliche Schreibweise und Abkürzungen sind wie im Original belassen. „Sitzung der General Conferenz im Johanneum, Mittw. u. Donnerstag nach Ostern 1887. (13. u 14. Apr.) I. Tag. Mittwoch Anwesend a, die Mitglieder des Comite's: Der Vorsitzende: Prof. D. Christlieb. Der Gen. Sekretär: Insp. Pfleiderer. H. Oberst Wette. (Gen. v. Niebuhr leider durch Krankh. verhindert) H. Graf A. v. B e r n s t o r f f - Berlin, Graf Ed. v. Pückler - Berlin, Pastor Kraft - Berlin, H. J. von Oertzen, Hamburg, Pred. Schrenk, Marburg, Past. Ziemendorfif, Wiesbaden. b, als Gäste: Past. Damman v. Essen. Dr. Fabri von Godesberg, Ad. VischerSarasin v. Basel, Prof. Dr. Simon von Edinburg, O.Lehrer Hoglweg und Rent. Roßkotten (in Vertretung v. H. Berchter) aus Broich-Mülheim a/Ruhr. Cand. Christlieb v. Hör, die 3 Brüder Lemmeran, Dannert, Nieß, Br. Gustav Siebel v. Freudenberg-Siegen, Cand. Weigle v. Coblenz kommend, wo er seinen Militärdienst absolv. Eröffnung mit Gebet durch den Vorsitzenden. Nach kurzer Feststellung der Tagesordnung durch Prof. Christlieb Erbauliche Besprechung über Losung Ps. 135,14 u. 1 Petr. 1,3-19. Mit Bez. auf v.3 kam die Rede bald auf Taufe u. Taufgnade, an der sich Prof. Christlieb, Past. Ziemendorff, Gr. Pückler, Kraft u. bes. Schrenk betheiligten. Die Taufe (i.e. Kindertaufe) ist nicht Eingangszermonie für die ehr. Kirche, nicht Wiedergeburt, als wären die Kinder im vollen Sinne wiedergeb., wie die, welche als Gläubige oder Heilsbegierige in der ap. Zeit zur Taufe kamen. Das Kind bekommt eine Gabe, ohne sie zu kennen in etwa so, wie einmal ein indischer Fürst dem neugeborenen Kinde eines Missionars (I.W.) ein Goldstück in das Händchen legte. Es wurde für später in die Sparkasse gelegt u. das Kind hatte später den Genuß davon. Der Same ist nicht identisch mit der vollen, ausgewachsenen Frucht. Der Same kann verloren gehen, muß aber nicht. Diese Taufgnade ist ein Gegengewicht gegen die Erbsünde. (D. Christlieb) Der Theorie v. der Entwicklung des Samens stellte Schrenk die „biblische Auffaßung" der Kindertaufe entgegen. Gott stellt das Kind mit der Taufe sammt den christl. Eltern auf den Bundesboden. Auf diesem hat das Kind alle Bundesrechte un. Bundespflichten. Wenn das Kind diesen Boden eigenmächtig verläßt, so muß es Buße thun und in den verlorenen Bund wieder mit selbstlosem (?) Willen eintreten. Vor Gott ist die Familie eine Einheit. Im Bund sind alle Bundesgüter mit eingeschlossen. Jedenfalls ist in der Gabe auch eine Aufgabe mit eingeschlossen, (schon gebärt).

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Das erste Traktandum ist nun nach der Tagesordnung fur den Vormittag des ersten Tages: Mittheilungen über gemeinsame Erfahrungen auf dem Gebiet der Evangelisation in Deutschland (und der deutschen Schweiz). I Berichterstattung über Berlin, gegeben 1. durch G r a f v . Pückler 2. " " v. Bernstorff, mit Ergänzungen durch Past. Kraft. Α., Graf Pückler hebt zuerst hervor, daß Berlin ein sehr empfänglicher Boden für den Evang. sei, wie kaum 1 2ter sich finde. Die Berliner sind, wie die Athener, immer begierig, etwas Neues zu hören, sind leicht zu sammeln, sind aufmerksam auf den Vortrag und stören nie. U n d in der That, auch Früchte werden offenbar. Folgende Momente werden besonders hervorgehoben: 1., das Sammeln der Kreise. Die Macht der Finsternis ist groß: die Gläubigen bedürften in ihren Arbeitercasernen eines starken Glaubens u. eines festen Haltes gegen den Widerstand v. Außen. Daher ist die Vereinigung besonders wichtig. 2., N u n beginnt die Organisation, die aber nicht mechanisch, sondern v. Geist Gottes geschaffen sein muß. Das Prinzip ist eine bis ins Detail gehende Arbeitstheilung. Das Ganze steht unter einer Centralleitung. Einer der Vereinsmittelpunkte liegt im Norden, Wedding, der 2te mit einem neuen, den 1. Mai einzuweihenden Saale im Osten. 3., Hier ist bes. wichtig die Pflege der christl. Gemeinschafi u. edler Geselligkeit. Ein Hauptmittel der Wirksamk. ist geistvolle, jeder Altersstufe angepaßte, gefällige, nur auf 1 Hauptpunkt abzielende Bibelerklärung in katechetischer Form, wobei die Alten mit den Jungen antworten. 200 Frauen sitzen da mit ihren Kindern, schlagen mit Eifer die Bibelstellen nach u. freuen sich mit den Kindern, antworten zu dürfen. Bes. wichtig ist geistvolle Erzählung der biblischen Geschichten. 4., Eine wichtige Einrichtung ist die Einladung der Neukonfirmierten unmittelbar nach der Confirmation zu einem Thee Abend, indem die Pastoren aller Kirchen an ihre Confirmanden Karten vertheilen, die der Verein ausgibt. Daraus entsteht zunächst die Jugendabtheilung 14-16 jähriger Knaben und Mädchen, worauf ganz besonderer Segen liege. Daraus hervor geht dann 5., die Jünglings- (u.Jungfrauen) Abtheilungen. Diese versammeln sich alle Abende. Hier finden sie Unterhaltungsliteratur allerlei Art, Bilderbücher und daneben T u r nunterricht, Unterhaltung u. Spiele jeder Art, aber alles vom christl. Geist durchdrungen u. geeignet, geistliches Leben zu wecken. Spezifisch-geistliche Nahrung bietet die Sonntag Nachmittags Versammlung. 6., Hieraus gehen hervor die Abtheilungen für Männer u. Frauen. Princip ist, daß jeder beitreten kann, welchen Alters, Standes u. Geschlechts er ist. Die Arbeiter treten dem Verein mit ihrer ganzen Familie bei. 7., Ein neues Werk, das besond. hoffnungsreich ist, sind die 3 Bibelkränzchen der Gymnasiasten. Diese 15-19 jährigen Jünglinge versammeln sich jeden Sonntag Nachmittag. In die Empfangsthees kommen ca. 100 Gymnasiasten. An der Spitze steht Candidat Weigle, mit ihm wirken Poyte u. Wägener. Die einzelnen Kränzchen werden geleitet von einem Pastor oder von einem älteren Gymnasiasten. Daran schließt sich 8., ein regelmäßiger Studenten - Abend im christl. Verein junger Männer.

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Β., Graf v. Bemstorff macht zuerst darauf aufmerksam, daß die von Graf Pückler erwähnten Thatsachen die Frucht der Arbeit Fritz v. Schlümbachs gewesen sei. Sodann erwähnt er, wie die Bemühungen um die in städtischen Diensten stehenden Straßenkehrer Berlins reich gesegnet seien. Die Leute, die von Nachts '/412 bis Morgens 8 Uhr ihre Arbeit thun u. v. 8-12 schlafen, haben selbst einen großen Wunsch nach religiösen Versammlungen. Diese werden an 4 Orten Berlins v. 4-5 U h r abends gehalten, v. 5 - 6 ist dann gesellige Vereinigung. Besonders gelungen war im vorigen Jahr eine v. Graf Bernstorffund Pückler, Pastor B ö h m u. a. arrangierte Dampferpartie auf dem Müggel See, woran 350-400 Straßenkehrer theilnahmen, mit Kaffee und Abendbrot, woran sich dann die Ansprachen anschlossen, die sehr aufmerksames Gehör fanden. Ähnliche Vereine wie der christliche Verein junger Männer für Studenten, sind auch solche für Kellner, Friseure, Barbiere. 30 % von solchen, die früher nie zur Kirche gingen, sind nun in geordneter Pflege. Wo nur irgend gute christl. Bücher angeboten werden, werden sie selbst von den wildesten Socialdemokraten mit Dank angenommen u. mit Freude gelesen. 4 Besuchsgruppen v. Damen bringen überall Bücher hin, die ausnahmslos mit Freuden angenommen werden. II Darauf folgte der Bericht Herrn von Oertzens über Hamburg. Er betonte zunächst die Schwierigkeiten, die die Pastoren Hamburgs, selbst solchen, von denen man hoffte, daß sie zu gewinnen sein möchten, seinem und Pastor Ninck's Plan, Schrenk nach Hamburg zu rufen, entgegen setzten. Eine telegraphische Anfrage Schrenks, ob er auf 14 Tage kommen könne, die sogleich beantw. sein wollte, machte ihre erneute Befragung unmöglich. Schrecken fährt in die christl. Kreise, aber Gott gab Past. Ninck die Freudigkeit, die Schläge, die von allen Seiten auf ihn regneten, zu tragen. Man mußte vorsichtig vorgehen - und die Bibelstunden wurden in dem gleichen Kreise der Ansgarii Gemeinde gehalten. Doch wurde der Boden so zubereitet, daß Freudigkeit da ist, ihn auf Herbst zu längerer Evangelisation nach St. Pauli einzuladen, eine Parochie, die kirchlich am meißten verwahrlost ist. 80000 Seelen bilden hier die Parochie von 2 Geistlichen, von denen der eine ein Trinker, der andere entschieden ungläubig ist. Man trifft oft (darüber: regelmäßig) 12-15 Menschen in der Kirche (darübergeschrieben: bei 80 & 100 stel Proz.). Offenbar merkt der Teufel, daß die Evangelisation seinem Reiche Abbruch thut und macht sich nun an viele, sogar ernste Christen, die sich gegen Evangel, aufbäumen. Man nennt Methodismus, wenn man von der Predigt einen positiven Erfolg erwartet. Nach der beliebten „Entwicklungstheorie gibt es kein „Jetzt! u. kein Heute!". Schon die kurze Pause zum stillen Gebet, zu der Schrenk aufforderte, war in ihren Augen Methodismus. III N u n folgte der Bericht von Br. Schrenk. Er spricht zuerst die leitenden Grundsätze für Evangelisationsthätigkeit aus: 1. Jeder Evangelist hat zunächst seine Aufgabe und die Arbeit muß individuell sein. 2. Wir können zunächst nicht an den Massen evangelisieren, sondern müssen im Zentrum beginnen, an den sogen. Gläubigen. Wenn wir nicht in der Gemeinde einen Grundstock lebendiger Christen haben, die mitbeten u. mittragen, so geht die Evangelisation der Massen nicht voran. Die Christen, die nur bis zur Rechtfertigung vordringen, haben nur 1 Stück der Wahrheit, wenn auch 1 Hauptstück: aber der Hlg.

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Geist will uns in die ganze Wahrheit leiten. Wir müssen zur Heilsgewißheit (darüber geschrieben: aus Heiligung) durchdringen und bis zur Lehre von der Zukunft unseres Herrn weitergehen. 3. Es genügt durchaus nicht Anregung und Erweckung. Aus einem Erweckten kann noch alles Mögliche werden. Es muß zum Glauben an Christum kommen, der ist Gemeinde - bildend. N u r wer zu Christo kommt, findet Nahrung. Da ist dann auch Garantie für die geistl. Versorgung der Gemeinde, wenn der Evangelist gegangen ist. Diese Weiterpflege ist noch wichtiger, als die Anfassung u. Erweckung. 4. Drei Gefahren sind in Deutschland besonders groß: a. der kirchliche Mechanismus. Man wird Sonntag für Sonntag absolviert. Man glaubts u. geht heim u. macht im alten Schlendrian fort. Die ultralutherische Fassung der Kindertaufe als (Zeichen-durchgestrichen) Mittel der Wiedergeburt u. die Massen Confirmationen liegen wie ein Alpdruck auf unserer Kirche. Man hüte sich doch, das, was wir in der Kindertaufe bekommen an die Stelle vom Pfingstgeist zu setzen! b. Das Vereins-Christentum ist eine große Gefahr. Wo nicht mit der bibl. Heiligung der (Anfang-durchgestrichen) Schluß gemacht wird, ist das Psychische in der Vereinsthätigkeit vorherrschend, das Pneumatische fehlt. Da tritt in der That das lutherische Vorurtheil gegen das Vereinswesen in sein Recht. c. Der leidige Kritisier-Unßg. Der Deutsche muß immer kritisiert haben. Man haut unbarmherzig aufeinander los u. zerhackt vor lauter „Diftelei" den Segen, den Gott gegeben hat. 5. Die Lehre vom heiligen Geist ist für die Evangelisation besonders wichtig. Mit dem „Ich glaube an den heiligen Geist" müßen wir Ernst machen. Er ist noch derselbe in seinen Kräften und Gaben, wie in der Qes-durchgestrichen) apostol. Zeit. Ohne Ausrüstung von Oben, ohne Rückkehr zur apostol. Praxis geht's nicht voran in der Evangelisation. Die Evangelisationsfrage ist eine Frage des heiligen Geistes. Keine Redegabe, keine Redekunst, keine Organisation hilft uns. „Die Gemeinschaft der Gläubigen" muß die tragende Kraft sein und der neue Schlauch, in den das neue Leben aus Gott gefaßt wird. Nicht die „Geistlichen" allein, sondern die Gemeinde der Gläubigen muß mitarbeiten, und die „Geistlichen" müßen mit der Gemeinde „Pneumatiker" sein, nicht Psychiker. 6. Wir müßen eilen mit der Evangelisation. Wir haben 2 Hauptfeinde a. die Ritschl'sche Theologie zerfrißt uns nach und nach unsere sog. gläubige Theologie, und verflacht die bibl. Begriffe. b. die katholische Kirche ist eine geschlossene Macht, die systematisch und methodisch vorwärts geht. 7. Wir müssen beten und arbeiten, daß wir mehr Evangelisten bekommen. Wir könnten jetzt 50 Mann beschäftigen. Meine Zeit ist vergeben bis nächsten April. Geleitet von diesen Grundsätzen, fuhr Br. Schrenk fort, habe ich in Cassel, Wiesbaden, Mülheim, Hamburg, Bremen, Frankfurt a/M. u. Heidelberg überall Bibelstunden fiir Gläubige gehalten, die großen Anklang fanden wie nachher zu Tage kam, großen Segen stifteten. „In Hamburg, versicherte Herr v. Oertzen, legte der Herr besonderen Segen auf die Schrenk'schen Bibelstunden, in welchen er über Zauberei sprach. Mancher Bann wurde da aufgedeckt u. weggenommen." In Bremen fehlten die Pastoren in den Tagen, an welchen sie kommen konnten, nie; auch Funcke, der Anfangs Vorurtheile hatte, kam. Weniger war dies in Frankfurt der Fall. Viel mehr in Wiesbaden, am wenigsten in Heidelberg, wo von Seiten der Stadt die Theilnahme mäßig, v. Seiten des Landes im Umkreis von 2 Stunden groß war. Past Ziemendorffv.

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Wiesbaden versicherte gleichfalls, daß die Segensfrucht v. Schrenks Evang. in sr. Gemeinde groß sei, w e n n sie auch nicht auffällig an den Tag trete. Des Weiteren s. uns. Mittheilungen von 1886. Pastor Damman ν. Essen macht darauf aufmerksam, daß zuerst die Pastoren selbst von unten an bis in die leitenden Kreise von d e m Segen in der Ev. berührt und von der Überzeugung der Nothwendigkeit derselben erfüllt werden sollten. Der Boden, auf dem er arbeitet ist außerord. empfängl. u. dankbar, so daß es eine wahre Erquickung sei, so zu arbeiten. Große Pionierdienste leistete der aus 2000 Mitgl. bestehende „Evang. Arbeiter Verein", der die arbeitende Bevölkerung heranzieht, sie zusammenschließt und der Kirche zuführt. In fortlaufenden Bibelbetrachtungen über A. u. N . tliche Bücher sieht er in jeder Versammlung 700-800 Männer aus den Arbeiterkreisen u m sich, die das Wort mit Freuden hören. Der Erfolg bewährt sich an den Kranken- u. Sterbebetten. 50 Sammlerinnen bringen ca. 500 M . zusammen für Zwecke des Reiches Gottes. Wie schade, daß gerade die Presbyter am meisten dagegen wirken. Prof. Christlieb stimmt vollkommen bei, daß zuerst (Darüber: auch) die Pastoren, aber auch die Universitäten Objekt der Evangelisation seien: die Pastoren seien viel mehr Gegenstand der Kritik, als der Fürbitte der Gemeinden. Sodann bringt er die Angelegenheit Dr. Ziemann zur Besprechung. Dieser konnte (ist - durchgestrichen), als weder z u m Comite unseres Evangelisations Vereins gehörig, noch nach unseren Principien evangelisierend, nicht in unsere Conferenz eingeladen werden. Es ist deshalb auch in uns. Bonner Lokalcomite nie seine Einladung beantragt worden. Erst, als nachträglich auch Freunde unserer Evang. Arbeit als Gäste eingeladen wurden, konnte v. ihm die Rede werden. Wir konnten aber u m so weniger an ihn denken, da man kurz zuvor gehört habe, er habe in Manchester oder Liverpool eine Anstellung als Arzt gefunden und jede Adresse ganz unbekannt war. Als er aber zufällig in den letzten Tagen hier erschien, ohne von unserer Conf. zu wissen, bat ihn Prof. Christlieb mehrfach dringend, sich bei den Verhandlungen zu betheiligen. Er lehnte es ab, weil er auf den Vorabend unserer Conf. schon eine Versamml. in Duisburg bestellt habe. Past. Krafl u. Pred. Schrenk, Siebel u. a. betheiligten sich an der Debatte. Lezterer (!) betonte, daß er es redlich meine, daß man ihn aber, da er nun einmal nicht bloß innersondern auch außerkirchl. evangelisieren wolle, am besten unbehelligt lasse. Die andern Brüder bedauerten, daß er kein festes Princip habe und so wenig an einem Posten ausharre, sondern „herumhüpfe". Dies sei nicht der Weg des Geistes Gottes. Jedenfalls erwecke er Mißtrauen gegen unsere Art zu evangelisieren, w e n n wir uns mit Evangelischen verbinden würden, die das einemal mit den Pastoren, das andremal mit den Außerkirchl. arbeiten, und unsere jetzt z u m erstenmal ihr Vertrauen uns zuwendenden Pastoren müßten aufs N e u e irre werden an uns, wenn wir in unserem P r o g r a m m versprechen, daß unsere Evangelisten nur dahin k o m m e n , w o h i n sie von einem der Pastoren gerufen werden, Dr. Ziemann aber ungerufen hieher käme, u m zu evangelisieren. Es w u r d e noch weiter hervorgehoben, daß Ziemann überall da, w o er gemeinsam mit den Pastoren, also nach unseren Principien, wirke, besonderen Segen gehabt habe, während die Berichte, die Br. Schrenk in Freiburg empfangen, beweisen, daß von Ziemanns Arbeit kein nachhaltiger Erfolg geblieben sei. Zuletzt sprach Herr Vischer-Sarasin v. Basel, der Leiter der Basier Evangelisation, darüber wie eine begonnene Evang. fortgesetzt wird. Die dortigen Versammlungen entstanden dadurch, daß die 1882 Gewonnenen ihre N a m e n angaben und ihre

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seelsorgerl. Behandlung wünschten. Nachdem sie anfangs 2mal wöchentl. Dienstags in Klein-Basel, Donnerstag im schönsten Lokal Basels, dem Stadt Casino, sich versammelt, wurden ihnen später alle Lokale entzogen. So wurden sie genöthigt, in einem Vordörflein v. S'Basel ein eigenes Versammlungshaus zu bauen, wo jetzt 2 Pfarrer v. Basel, Pf. Ecklin u. Pf. Stähelin von Klein Basel mit Cand. Riggenbach die Versammlungen leiten gemeinsam mit Herrn Vischer-Sarasin. Die Wirkung der Evangelisation war eine Kirchen kräftigende. Wie das Leben der Neugewonnenen ein ganz anderes geworden ist, so ist auch die Thats. der erfreulichen Frucht jener Bekehrungen, daß sie ganz regelmäßig die öffentl. Gottesdienste besuchen. Die Zahl ist ca. 900. Nachdem noch Br. Schrenk ausfuhrl. dargelegt, sein persönlicher Standpunkt sei der: Wer ein Glied am Leib Christi ist, der ist mein Bruder. (Ein churhessischer Metropolitan halte Versamml. gemeinsam mit Baptisten und Methodisten) In H a m burg, Bremen, Kassel u. Frankf. sind fast alle Dissenters meine Zuhörer in den Vers, gewesen - sagte Christlieb. Wir stehen in den Anfängen. Daher laßt uns auch den Schwachen unter den Pastoren kein Ärgerniß geben, vielmehr Alles vermeiden, was dem schwächeren Bruder Anstoß geben könnte. Schluß des Vormittags mit Gebet." Nachmittags ν. Ά4-Ά6. (In dieser Sitzung geht es vor allem darum, ob im Johanneum zwei- oder dreijährige Kurse die Regel sein sollen. Ein Unterrichtsplan von Pfleiderer wird diskutiert und schließlich der dreijährige Cursus „als Normalplan beschlossen". - Die mehr organisatorischen Gesichtspunkte können hier unberücksichtigt bleiben, die wichtigen inhaltlichen Passagen folgen). „Pfleiderer: „Ein 3jähriger Cursus wird die Mitte halten zwischen dem Zuviel u. Zuwenig. Die Evangelisten, die wir heranbilden wollen, können ja durch keinen Unterricht gemacht u. gebildet werden. Das Wort Pauli; „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin", muß auch bei richtigen Evangelisten zutreffen. Die Hauptsache muß also vorausgegangen sein: die göttliche Wahl und Ausrüstung, die entsprechende Naturgabe und die Gnadengabe gründlicher Bekehrung, die Liebe Gottes ausgegossen in die Herzen und der vorbildende Dienst u. die Bewährung darin in irgend einem Zweig der inneren Mission. U n d dann beginnt hier die Schulung. Ohne einen guten „Schulsack" sind unsere Brüder in Gefahr, nach einigen Jahren zu verarmen. Wer beständig geben soll, ist vor der Zeit ausgeschöpft. Die Ansprüche, die man an die Brüder macht, sind groß und zu fortgehendem Studium fehlt später die Zeit. Schon für die Gymnastik des Geistes ist bei solchen, die keine Gymnasialbildung hinter sich haben, sondern aus dem Kaufmanns- oder Handwerkerstand kommen, ein 3jähriger Cursus das Minimum. Durch solche Erfahrungen hatte sich auch die Chrischona genöthigt gesehen, ihren Cursus a u f 4 Jahre auszudehnen. Das Erlernen der neutestamentl. Gräcität hat sich auch dort als Nothwenidgkeit herausgestellt. Statt der Philologie bemerkt Br. Schrenk, wäre fakultativ das Englische zu empfehlen: die englische Literatur bietet gar manche Erfrischung und die Leetüre des „Christian" ist nützlich u. nötig. Die Kenntnis des N . T . in der Sprache des Originals ist nöthig, birgt aber die große Gefahr, die Lutherische Übersetzung von Laien korrigieren zu wollen. Das sollte nie geschehen." Past. Ziemendorff erwähnt aus einer Privatbesprechung mit Prof. Bernh. Weiß in

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Berlin die Äußerung desselben, er sträube sich mit aller Macht dagegen, daß Theologen 2ter Klasse geschaffen werden, bei denen man so vielen Taktlosigkeiten begegne: andrerseits brenne uns die Noth auf die (sie!) Nägel, wir müssen sie haben sobald als möglich. Es wurde ihm entgegnet: es sei nicht das Schlimmste, wenn man auch j e u. j e einen Bock schieße: Vi von allen Pastoren thun auch nicht, was sie eigentlich thun sollten und begehen auch manche Dummheiten. Durch das Zuviel-Studieren werde die Naturfrische, das Originale und Charakterhafte abgeschliffen. Man hüte sich nur vor „Halbbildung". Sie sollen bleiben, was sie sind, „ungelehrte Leute und Laien". Zweiter Tag Anwesend v. Mitgliedern des Comite's: D. Christlieb, Insp. Pfleiderer, die H. Grafen v. Bemstorff u. Pückler, J . v. Oertzen, Schrenk, Oberf. Witt, die Past. Kraft u. Ziemendorff. Als Gäste: D. Fabri v. Godesberg, P. Viedebantt, Vischer it. Consul ν. Basel, Gust. Siebel ν. Freudenberg, Insp. Cörper v. Elberfeld, d. Pastoren Bockmühl v. Jüchen, Conrad v. Cronenberg, Kerwer v. Eitorf, die Studenten Schitters u. Vogel, Cand. theol. Christlieb und unsere 3 Evangelisten, dazu Cand. Weigle." (Ohne Namensangabe steht zu Beginn wieder eine erbauliche Betrachtung diesmal zu Eph. 4,11-16, in deren Mittelpunkt die Chancen des allgemeinen Priestertums ßr die Kirche stehen). „Dies bildete die passende Einleitung zu den 3 Traktanden dieses Tags. Vorbereitung einer großen vom 27.-29. Sept. in Berlin zu veranstaltenden Versammlung christlicher Männer aus allen Landeskirchen Deutschlands, die über 1. Berechtigung, Notwendigkeit u. Grenzen der Laienthätigkeit, über 2. das Verhältnis der organisierten Evangelisation zu dem pastoralen Amt und die Bedeutung derselben für das kirchliche Leben, und 3. - weil alles kräftige Wirken und Arbeiten von der Vertiefung im Heilungsleben ausgehen muß, über Heiligung u. Gemeinschaft der Heiligen eingehend handeln soll. Zu Grunde gelegt wurde diesen Verhandlungen der v. D. Christlieb abgefaßte u. von Pfl. mitberathene „Vorläufige Entwurf einer Einladung usw.", die gedruckt u. vertheilt wurde. Sie ist im Archiv des Johan. niedergelegt. Das Resultat dieser eingehenden Verhandlungen ist zusammengestellt in der zuletzt v. D. Fabri gemeins. mit Schrenk, Herrn v. Oertzen u. Graf Pückler redigierten „Einladung", die als vertrauliche Mittheilung nun noch einer Reihe abwesender Brüder, die mit uns einig sind in den Hauptpunkten unterschrieben wurde u. gleichfalls im Archiv deponiert ist. Es wehte durch die ganze Beratung ein heiliger Ernst, der von der Überzeugung getragen wurde, daß diese Gegenstände ebenso für unsere Evangelisationssache wie für die Zukunft der Landeskirchen von entscheidendem Einfluß sein werden. Br. Schrenk gab den Rath, daß man a, Nichts zu kämpfen suche, was man schon hat b, " " " " was man noch nicht braucht. Nicht viele Berathungen bringen uns vorwärts, sondern der Herr selbst öffnet durch seine Legitimation unserer Arbeit neue u. weitere Thüren. Nur nicht an Thüren drücken, wo man doch nicht hinein will. Wir müssen zunächst arbeiten in den Kreisen, wo die Evangelis. schon Hausrecht besitzt. Nicht zu vergessen ist, daß

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die Arbeit eine ganz andere ist in Norddeutschi., wie anders in Mitteldeutschland u. wieder anders in Süddeutschland. Allgemein war die Überzeugung, daß man neuen Wein nicht in alte Schläuche fassen darf. Man kann nicht kopieren. Auch die Form der Württemb. Gemeinschaften scheint sich überlebt zu haben. Der hl. Geist muß Raum haben für Neubildungen. Der Bann, der auf unserer Kirche liegt, ist der, daß noch immer der Geistliche der einzige Mund der Gemeinde ist, statt daß 20 reden, das ganze Volk muß sich betheiligen. Das ist Gemeinschaft. Der hl. Geist muß sich im Leibe Christi freier bewegen, dazu müßen wir ihm Raum schaffen. Nachdem schließl. noch die Frage wegen Dr. Ziemann verhandelt worden, der innerkirchl. und zugleich auch außerkirchl. arbeiten will, während wir fest bei uns. Princip nur innerkirchl. Wirksamkeit bleiben müßen, das uns viele Thüren erschlossen hat, wird die Vormittagsberathung geschlossen. Nachmittag 1. wird zuerst von einigen Evang. gehandelt, die für das Johanneum in Aussicht stehen, Pred. Kaiser in Kiel, der mit großer parrhäsia zunächst noch im Verband mit den Methodisten arbeitet, u. Br. Fritz Figge, auf 5Ά Jahre Zögl. des Barmer Missionshauses, jetzt bei v. Bodelschwingh in Bielefeld. Letzterer ist wenige Tage darauf als Zögling bei uns eingetreten. Dr. Fabri ermahnt, bei den Neuaufnahmen recht streng zu sein. 2. Darauf wurden noch Erfahrungen aus der evangelist. Praxis erwähnt, und bes. das allgemeine Priesterthum betont. Durch den Widerspruch muß es hindurch gehen, das zeigt die Gesch. des Reiches Gottes aller Zeiten. Viele Fragen im Einzelnen sind Fragen des christl. Takts, die nicht principiell beantwortet werden können. 3. Zum Schluß berichtet noch Cand. Weigle über seine Wirksamkeit unter Gymnasiasten, die Bibelkränzchen unter sich eingerichtet haben. Solche Kränzchen sind 3 in Berlin (36 Mitgl.), 1 in Moers (20), 1 in Elberfeld (13 M) u. in Barmen (ca. 20 Mitgl.). Sie kommen jede Woche zus. Abends theils z. gemeins. Lesen der H. Schrift u. zum Gebet, theils zu gemüthl. Spiel u. bilden in Opposition gegen profan unchristl. Ciassengeist. 4. Schließl. wurde bestimmt, daß in der Vers, in Berlin beschlossen werden soll, wann u. wo die nächste Conferenz gehalten werden soll." (Es folgen schrieben.)

noch Regularien.

Das Protokoll

ist von Christlieb und Pfleiderer unter-

III Sitzung: Dienstag den 17. Nov. 1887 (Es handelt sich um die dritte Sitzung des Geschäßsjahres 1887/88 das mit der ersten Sitzung am 15. Okt. eröffnet worden war. Im Anschluß an das unterzeichnete Protokoll findet sich folgende Aufzeichnung): „Registratur. Aus der Ansprache Herrn Landrichters v. Niebuhr, unseres hochgeschätzten Comite'Mitgl., am Jahresfest des 30. Nov. möge hier folgendes aufgezeichnet werden: Herr Landr. v. Niebuhr bemerkt, daß wenn er seit längerer Zeit nicht mehr an den Beratungen des Comite's u. an den abendlichen Bibelstunden in der Kapelle theilgenommen habe, dies nur auf äußeren Gründen - geschwächte Gesundheit beruhe, er innerlich aber ebenso zu der Sache stehe, der das Haus diene, wie früher, u. daß es jetzt umso leichter sei, für dieselbe einzutreten, als der HErr immer mehr gezeigt habe, daß es Seine Sache sei. Es sei ein Unterschied, ob wir unsere Sache betreiben

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und dafür die Hilfe des Herrn in Anspruch nähmen, oder ob wir an Gottes Sach stünden. Sei lezteres der Fall, so könne man ruhig sein, es komme, wie es will. Daß die Sache des Herrn sei, erkenne er insbesondere auch daran, daß der rechte Geist im Hause herrsche, nämlich der Geist des Gebets, des Eifers fur den Herrn u. der Liebe u. Eintracht untereinander. Er freue sich gleichfalls, daß von dem Hause aus ein Friedenshauch auch nach Außen ausgegangen sei. Gerade um das Ende des vorigen Jahres habe es ihn schmerzlich bewegt, daß das Verhältniß zu den Vertretern der ev. Gemeinde nicht das rechte gewesen. Dies sei jetzt anders geworden. Wir wollen nichts Besonderes für uns, u. wollen Friede mit Allen, die den Herrn Jesum lieb haben. Auch den Brüdern gegenüber, deren außerkirchliche Stellung uns nach Lage der gegenwärtigen Verhältnisse eine unmittelbare Mitarbeit verwehre, wünschten wir in persönlicher Beziehung das Band der Liebe und des Friedens zu wahren. Was nun die Arbeit der Zöglinge des Hauses betreffe, so solle dieselbe ergänzend eintreten, wo die ordnungsmäßige Arbeit der Kirche nicht ausreiche. Die außergewöhnlichen Verhältnisse in unserer Zeit erforderten auch außergewöhnliche Mittel. Sei auch das, was unser Haus leisten könne, nur wenig, nur ein Tröpflein in dem großen Strom göttlichen Heilswirkens, so sei die Arbeit an sich doch wichtig und herrlich. Es sei der des (sie!) Zeugnisses, welcher der Herr den Seinen aufgetragen habe, als er von ihnen ging. Wenn auch kein unmittelbarer Erfolg erreicht würde, so erfordere es doch die Ehre des Herrn, daß von Ihm gezeugt würde. Es werde aber auch das Wort nicht leer zurückkomen, u. insbesondere für unser Volk, dürfe noch eine Zeit der Ernte erwartet werden. Aber freilich, auch das geistesmächtigste Zeugnis von Jesu u. die ausgedehnteste u. treueste Arbeit werde in diesem Weltalter die Welt nicht bekehren. Es werden immer nur Einzelne sein, die jetzt herausgerettet werden, im Großen u. Ganzen werde die Welt im Argen liegen bleiben. Darum gelte es sich auszustrecken nach dem Offenbarwerden u. Kommen des HErrn in Person, auf welches auch die Apostel ihre Hoffnung gesetzt hätten. Dann erst werde der Fürst dieser Welt wirklich entthront und die Vollendung des Reiches Gottes herbeigeführt werden." (In diesem Sinne folgt eine Ermunterungßr die „jungen Brüder".) IV. Sitzung: Dienstag, 13. Dec. 1887 (Unter Punkt 3 der Traktandenliste geht es um die Conferenz:) „Auf die Anfrage v. Herrn Baron v. Oertzen, ob wir einer projektierten Verlegung der „Berliner Conferenz" nach Gnadau bei Magdeburg zustimmen, wird beschlossen, daß der Inspektor Herrn Graf A. v. Bernstorff die Mittheilung zugehen läßt, daß wir zwar gegen diesen Beschluß der Br. in Berlin keine Einwendungen erheben wollen, dafür aber den Br., die diesen Beschluß gefaßt haben, die Verantwortung überlassen müßen. Sicherlich werde eine Versamml. in Gnadau fur Einwirkung auf ganz Deutschland von ungleich geringerer Bedeutung sein, wenn auch allerdings die Aussichten auf einen friedlichen Verlauf der Conferenz am (ersteren Ort - durchgestrichen) Gnadau ungl. günstiger sein mögen."

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Nr. 7 Theodor Christlieb (1833-1889), Die Bildung evangelistisch begabter Männer zum Gehilfendienst am Wort. Kassel 1888. ( Vortrag gehalten während der Wuppertaler Festwoche im August 1888, gekürzt). „Es ergeht seit Jahren immer dringender der Ruf nach Evangelisation d. h. Neuevangelisierung der längst Entchristlichten, Neuanfassung nicht bloß einzelner da und dort, sondern auch größerer Gruppen, ganzer Kreise in systematischer Weise. Wessen es aber hierzu vor allem bedarf, das sind die rechten Leute, ausgerüstet von Gott mit der besonderen Gabe für den Evangelistendienst und auf Grund derselben auch mit den nötigen Kenntnissen, um unter einem relativ so hoch gebildeten Volk wie dem deutschen als Gehilfen am Wort erfolgreich dienen zu können. Fassen wir denn die Bildung evangelistisch-begabter Männer zum Gehilfendienst am Wort und hierbei zuerst den Begriff eines Evangelisten und die hierzu nötige Begabung, dann ihre Bildung zu diesem besonderen Dienst und deren Endziel ins Auge. Begriffeines Evangelisten. Das Wort wird heute in mannigfachem Sinn gebraucht von einfachen Kolporteuren und Bibelboten bis zu dem theologisch ziemlich gebildeten, mindestens halbstudierten Laienprediger, sei es wandernden oder stationären Gehilfen am Wort, der fähig ist, auch vor größeren Versammlungen in geordneter Rede das Evangelium zu verkündigen. Ich wünsche sehr, daß der dehnbare Begriff seltener angewendet und mehr und mehr auf die letztere Kategorie beschränkt würde. Viele Mißverständnisse würden dadurch abgeschnitten, vorab jenes, das unlängst in einer Gesellschaft laut wurde, „es sei doch große Anmaßung, daß man jetzt wieder junge Männer sogar zu Evangelisten bilden wolle; ob denn eine Vermehrung der alten 4 Evangelisten der Bibel möglich sei?" Gleich als wollten wir aus dem Johanneum lauter Johannesse und Markusse, Matthäusse und Lukasse aussenden! Ich fürchte, es ist wohl schon etwas lange her, daß der, der uns dort so hochgesteckte Ziele zutraute, den Epheserbrieflas. Sonst hätte er sich vielleicht erinnert, daß dort 4, 11 der Apostel schreibt: „Er hat etliche zu Aposteln gesetzt, etliche aber zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und Lehrern." Hier, w o sie neben Aposteln und Propheten auf der einen und Hirten und Lehrern d. h. dem geordneten Dienst am Wort in einer Gemeinde auf der anderen Seite genannt sind, zeigt sich ihr spezifischer Begriff deutlich. Es waren Gehilfen am Dienst des Wortes, die ohne ein ständiges Amt an einer bestimmten Gemeinde zu haben, unter Aufsicht und Anleitung der Apostel bald da, bald dort (wie der Diakon und Evangelist Philippus Apg. 8), bzw. innerhalb eines ganzen Distrikts das Wort vom Reich ausbreiteten, zum vollen Eintritt in dasselbe, zur lebendigen, persönlichen Teilnahme an seinen Gnadengütern einluden, und so dem Unterricht der Apostel vorarbeiteten, oder auch in den von ihnen schon gegründeten Gemeinden die Evangeliumsverkündigung fortsetzten (wie Timotheus, dem dort Paulus zuruft: „tue das Werk eines Evangelisten", 2. Tim. 4,5). Von diesem Gehilfendienst am Wort neben dem geordneten Hirten- und Lehramt an einer Gemeinde und zur Vorarbeit fur dessen bleibende, tiefere und systematischere Weiterfuhrung der einzelnen Seelen ziehen sich - ob auch mit vielen Unterbrechungen - Spuren durch die ganze Kirchengeschichte. Wir sehen sie nach außen an Nichtchristen sich vollziehen, ζ. B. zu Augustins Zeit durch Diakonen, die den eben aus dem Heidentum Heraustretenden und sich zum Unterricht im Christentum

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Meldenden den ersten orientierenden Überblick über den Heilsplan Gottes geben mußten. Dann auch nach innen in der Kirche selbst unter getauften Namenchristen. So im Mittelalter durch allerlei vorreformatorische Bestrebungen. Ich erinnere nur an Wiclifs Verein biblischer armer Wanderprediger, um dem unwissenden Volk wieder mehr die evangelische Heilsgeschichte zu verkünden, ein Evangelistenverein, der bald ebenso vom Volk geschätzt, als vom reichen Klerus gehaßt wurde; - an die Waldesier und die evangelisierende Wanderpredigt ihrer Lehrer, die stets je zwei und zwei, ein älterer und ein jüngerer Mann auf ihre Mission auszogen; - an die „Brüder des gemeinsamen Lebens" besonders in Holland und am Niederrhein, an die von ihren Brüderhäusern schon lange vor der Reformation ausgehende Bibel- und Traktatverbreitung und ihre ζ. T. sehr erwecklichen, wenigstens das Sittenverderben energisch bekämpfenden Ansprachen und Predigten eines Gerhard Groot, Wermbold, Joh. Gronde in Utrecht und Zwolle, denen das hungrige Volk oft 3, ja bis zu 6 Stunden lang begierig lauschte, wo wir ernste, oft von johanneischem Geiste durchhauchte Kleriker einigermaßen als Evangelisten wirken sehen, wie schon vor ihnen manche erweckliche Prediger, besonders unter den Mystikern und Ähnliches. Ich erinnere aus der Reformationszeit, wie mächtig Luther auf Grund des allgemeinen Priestertums seine Stimme dafür erhebt, daß die Predigt des Evangeliums kein ausschließliches Vorrecht des geistlichen Standes sein, wie er ζ. B. in der Kirchenpostille an Stephanus zeigt, wie neben den Aposteln und auch andere evangelisieren dürfen und sollen, die der Herr dazu ausgerüstet: „St. Stephan steht hier fest, und gibt Macht mit seinem Exempel einem jeglichen, zu predigen, an welchem Ort man hören will, es sei im Hause oder auf dem Markte, und läßt Gottes Wort nicht so gebunden sein an die Platten und langen Röcke, womit er doch die Apostel nicht hindert an ihrem Predigen, sondern seines Amtes auch wartet, bereit zu schweigen, wo die Apostel selbst predigen." Man sehe die richtige Grundanschauung: Evangelisation nicht zur Hinderung des geordneten Amtes, des Apostolats, sondern zu seiner Unterstützung, Ergänzung und in Unterordnung ihm gegenüber! - Und bei der Erklärung von 1. Petri 2,5 ff. („bauet euch - zum h. Priestertum" u. s. f.) sagt er: „St. Peter macht keinen Unterschied unter den geistlichen und weltlichen Personen. Alle Christen haben Macht und Befehl, daß sie predigen und verkünden sollen Gottes Gnade - und vor Gott treten, daß einer für den andern bitte, - doch, wie St. Paulus saget, daß alles ordentlich zugehe." - „Wenn einer ist an einem Orte, da keine Christen sind, so darf er keines andern Berufes, denn daß er ein Christ ist, inwendig von Gott berufen und gesalbet; da ist er schuldig, den irrenden Heiden oder Unchristen zu predigen und zu lehren das Evangelium aus Pflicht brüderlicher Liebe, ob ihn schon kein Mensch dazu beruft. Denn in solchem Falle siehet ein Christ aus brüderlicher Liebe die Not der armen verdorbenen Seelen an und wartet nicht, ob ihm Befehl oder Briefe von Fürsten oder Bischöfen gegeben werden, denn Not bricht alle Gesetze und hat kein Gesetz. So ist die Liebe schuldig zu helfen, wo sonst niemand ist, der hilft oder helfen sollte." - Dieses evangelisierende Eintreten nichtStudierter gläubiger Christen ist ihm also ganz richtig eine Pflicht der Liebe aus Not da, wo das reguläre Amt nicht helfen kann oder will. Denn wie nachdrücklich er und alle Reformatoren das geordnete Amt aufrecht erhalten wissen wollen bei allen jenen Priesterrechten der Gläubigen, ist ja aus den Bekenntnisschriften, vorab der Augsburgischen Konfession zur Genüge bekannt. Ganz ebenso fassen wir heute noch die Evangelisation eben als einen Notbehelf da, wo und so lange als das geordnete Amt nicht ausreicht. 248

Sodann sei hier nur noch an die für unsere rheinische Kirche so wichtigen Beschlüsse der Weseler Synode 1568 erinnert, wonach in allen Gemeinden ein Kollegium von Propheten d. h. Schrifterklärern nach dem Vorgang der Schweiz eingerichtet werden sollte, die an einem bestimmten Tag der Woche vor versammelter Gemeinde abwechselnd ein Stück aus einem Buch der h. Schrift erklären sollten. In dies Kollegium seien „nicht nur die Diener (Geistliche), sondern auch die Lehrer und aus den Ältesten und Diakonen, ja auch aus den Gemeindegliedern selbst diejenigen aufzunehmen, welche ihre vom Herrn empfangene Prophetengabe zum allgemeinen Besten der Gemeinde anwenden wollen." Diente dies Institut auch weniger zur Verbreitung als zur Befestigung und Vertiefung evangelischer Heilserkenntnis in der Gemeinde, so waren doch die als in der Schrifterklärung sich Übenden nicht bloß Kreise, aus denen viele zum geistlichen Amt heranwuchsen, sondern aus denen auch, wenn es, wie oft, da und dort an Predigern mangelte, etliche mindestens zeitweise als Gehilfen am Dienst des Wortes den hirtenlosen Gemeinden aushelfen konnten. Und als solche standen sie dann etwa nach dem Grad ihrer Bildung, wie nach ihrer zeitweiligen Aufgabe auf der Stufe eines Evangelisten. In welch ausgedehntem Maß die evangelistische Tätigkeit gläubiger, nicht- oder kaum halbstudierter Laien im vorigen Jahrhundert durch die evangelische Erwekkung in den Ländern englischer Zunge und etwas vorher schon in Wales aufkam, wie Wesley aus Not, den schreienden Bedürfnissen einer tiefgesunkenen Kirche gegenüber seit 1739 anfängt die Laienpredigt zu gestatten, und die begabtesten aus den Laiengehilfen am Worte zu Reisepredigern für bestimmte Bezirke bestellt, und wie dies Institut bald ins Tausendfache verzweigt bis heute fortbesteht und zur Ausbreitungskraft dieser Denomination ungemein viel beiträgt, ist zu bekannt und steht auch in der Gegenwart zu deutlich vor den Augen der christlichen Welt, als daß es mehr denn eines flüchtigen Hinweises bedürfte. Damit aber niemand glaube, es handle sich bei diesem neuesten Zweig der inneren Mission etwa nur um eine Nachäffung englisch-amerikanischen Christentums, so sei nur daran erinnert, daß es gerade auch in Deutschland sogar unter strengen Lutheranern, nie an Stimmen fehlte, die wie namentlich Löhe „einen aus Gott geborenen clerus minor verlangten, der die Lücken in unsrer Predigt und Seelsorge ausfüllen solle", also eine Art Vorstufe des Amts, einen Gehilfendienst oder Evangelisten. So ziehen sich - auch abgesehen von der Heidenmission, darin heute Tausende von Evangelisten die ordinierten Missionare unterstützen und ihnen vorarbeiten - die Spuren von evangelistischer Tätigkeit, bzw. von Stimmen, die nach ihr rufen, fast durch alle Jahrhunderte und allerlei Kirchen. Und immer erscheinen die Evangelisten als Gehilfen neben und zur Unterstützung des geordneten, die Sakramente verwaltenden Amts, und in der Regel aus Not, um des dringenden Bedürfnisses willen, zu dessen allseitiger Befriedigung das Hirtenamt allein nicht mehr ausreicht. Hierin werden wir daher das Grundmerkmal im Begriff eines Evangelisten zu suchen haben. Das andere, daß er nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern innerhalb eines bestimmten Bezirks bald da, bald dort aushelfen soll, ist keineswegs so grundwesentlich wie die Gehilfenstellung im Dienst am Evangelium. Die Abgrenzung des äußeren Rahmens für seine Tätigkeit muß je nach den Umständen eine variierende bleiben. Es lassen sich, wie wir sehen werden, bei den heutigen Verhältnissen ganz wohl auch Evangelisten in fester, ständiger Stellung an einer bestimmten Gemeinde denken, während zu wandernden, bald da bald dorthin gerufenen Evangelisten sich eben nur die allerbesten und allerbewährtesten unter ihnen oder noch

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besser ordinierte Prediger selbst qualifizieren dürfen. Aber auch die in fester Stellung an einer bestimmten Gemeinde als eine Art von Diakon oder Gemeindehelfer Dienenden müssen als Evangelisten fähig sein, das Evangelium nicht bloß wie der gewöhnliche Stadtmissionar in die Häuser zu bringen, die der Geistliche nicht alle besuchen kann, sondern neben den Hausgemeinden auch größeren Versammlungen das Evangelium zu verkünden, die Schrift hier mehr erwecklich und dort mehr erbaulich auszulegen und anzuwenden, in geordneter Rede und vor Unchristlichen und Ungläubigen unsern Glauben zu verteidigen und zu ihm einzuladen. Dies sind von unsern Stadtmissionaren und Kolporteuren seither eben nur einzelne imstande gewesen. Die Evangelisten aber sollen als solche durchweg hierzu fähig sein. U n d daher verlangen wir fur sie, um diesen Namen zu verdienen, etwas mehr theologische Schulung und allgemeine Bildung, als sie durchschnittlich dem Stadtmissionar eignet, ungefähr bis zu einer Stufe, auf welcher der Evangelist nach Kenntnissen und Fähigkeiten zwischen Stadtmissionar und Pfarrer etwa in der Mitte steht. Diese Mittelstufe war seither bei vielen Freikirchen und ihrem Dienst am Wort längst vorhanden, zum Teil sogar als Ersatz einer gründlicher gebildeten, studierten Geistlichkeit, zum Teil auch neben derselben. Warum sollten nicht endlich auch die Landeskirchen aus der Masse ihrer Glieder die nötigen Talente fur diese Stufe aussuchen, ausbilden und sich zunutze machen, da sie doch viel umfassendere und oft schreiendere Bedürfnisse zu befriedigen haben als die Freikirchen und mit dem regulären Amt allein oft nicht mehr befriedigen können? Ich nenne daher - im Rahmen unsrer heutigen kirchlichen Bedürfnisse - „Evangelist" einen (in der Regel) Laien-Gehilfen am Dienst des Wortes zur Unterstützung des geordneten Amtes, der auf Grund seiner göttlichen Gabe und menschlichen Kenntnisse dazu beauftragt ist, das Evangelium, sei es in einem größeren Bezirk oder in einer bestimmten Gemeinde, sei es in bleibender Stellung oder nur vorübergehend nach zeitweiliger Berufung, vor den noch nicht oder nicht mehr Glaubenden, gleichgültig Gewordenen oder sonst der Weckung und Stärkung Bedürftigen neu verbreiten und so christlich evangelisches Leben durch sein Zeugnis fordern zu helfen. - Viele stoßen sich noch immer an dem schönen und biblischen Titel „Evangelist". Den einen klingt er zu freikirchlich, dissenterisch. Als ob nicht auch eine Reihe von Landeskirchen ihn längst schon für solchen Gehilfendienst in ihrer Mitte angenommen hätten (s. unten). Die Kirche hat ein älteres Recht auf ihn als einzelne von ihr abgezweigte Kirchlein. Warum sollen wir ihn denn ganz den letzten überlassen? Führen wir ihn aber nicht jetzt ein in die Kirche für jenen besonderen Dienst, so wird er immer mehr eine Beute der Außerkirchlichen, und davor möchte ich gerade im Interesse der Kirche warnen. Auch kann ihn die Kirche schon deshalb nicht ganz entbehren, weil sie ihn in der Heidenmission längst angenommen bzw. beibehalten hat. - Anders ist der Titel verdächtig, weil sie immer damit den Begriff des Hin-und Herreisens verbinden und daher Gefahr für die kirchliche Ordnung wittern. Als ob ein Evangelist aufhörte ein solcher zu sein, wenn er, statt in einem ausgedehnteren Landbezirk, in einem bestimmt abgegrenzten Stadtbezirk, d. h. an einer bestimmten Stadtgemeinde arbeitet in fester, geordneter Stellung. Auch das wird sich uns unten deutlich zeigen. Damit hat sich uns nun auch schon einigermaßen ergeben, was die nötigen Gaben und Eigenschaften sind zum Evangelistendienst. Ich erörtere hier nicht näher die ethisch-religiösen und geistlichen Vorbedingungen, wie sie zur gesegneten Ausrichtung alles Dienstes am Wort, des Predigtamts wie des Evangelistendiensts unerläß-

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lieh sind: persönliche Heilserkenntnis und Heilserfahrung, lebendiger Glaube und Salbung von oben; anhaltendes Gebet und fleißiges Bibelstudium, dadurch der Diener am Wort mit dem Lehrer aller Lehrer in unmittelbarer Verbindung bleibt, und den Zugang zu den Vorratskammern der unsichtbaren Welt sich jederzeit offen halten muß; sittliche Bewährtheit, ein Leben in der Heiligung zum Erwerb von allerlei geistlicher Erfahrung; selbstverleugnende Hingabe an diesen schweren Beruf in ausdauernder Freudigkeit, Sanftmut und Geduld, kurz: Ausrüstung mit einem vollen Maß des heiligen Geistes, der in alle Wahrheit leitet, weil dies unmittelbare Zufeldeliegen gegen die Macht der Finsternis und dem Feind die Verlorenen wieder Abgewinnen nur in Beweisung des Geistes und der Kraft, als pneumatische Arbeit echte Erfolge erzielen kann. Ich rede auch nicht von den natürlichen Geistesgaben eines gesunden Verstandes und Urteils, rascher Auffassung, scharfer Beobachtung und guten Gedächtnisses, die alle erforderlich, noch von den äußeren, auch nicht ganz unwichtigen Vorbedingungen: kräftige Gesundheit, weil diese Arbeit oft sehr anstrengt und bekanntlich viel reden und predigen „den Leib müde macht", und frische, gute Stimme, weil unzählige einen schwer Verständlichen gar nicht lang hören mögen; - auch nicht von der selbstverständlichen kirchlichen Voraussetzung, daß wer innerhalb einer Kirche und für dieselbe wirken will, in ihrer Bekenntnis- und Abendmahlsgemeinschaft stehen muß. Dagegen handelt es sich hier auf Grund jener geistlichen Kraftausrüstung um die spezifisch-technische Gabe zur Evangeliumsverkündigung, die Lehr- und Predigtgabe, die speziell für den Evangelistenberuf die Gabe der Weckung und Anfassung durch volkstümliche, packende, geistesmächtige Rede ist, weil er vorwiegend dazu berufen wird, Gleichgültige wieder zu wecken, dem Glauben Entfremdete wieder zum Glauben, zu lebendiger Teilnahme am christlichen Gemeindeleben zurückzufuhren. Während die Zeugnisgabe des Pastors alles einschließt, das erweckliche wie das ruhig erbauliche Moment, Geschick zum Anfassen wie zum tiefer Einführen in die Heilserkenntnis, weil er eben für alle da ist und die sehr verschieden abgestuften geistlichen Bedürfnisse aller zusammen möglichst befriedigen muß, wird die Zeugnisgabe des Evangelisten, zumal in den Riesenparochien der Großstädte, besonders nach der erwecklichen Seite liegen müssen, wiewohl die Gabe der Erbauung, der Weiterforderung der bereits Angefaßten oder schon Glaubenden zur hochnötigen Unterstützung seiner Arbeit durch gläubige Christen nicht ganz fehlen sollte, besonders nicht beim Wirken in Landgemeinden. Nun diese spezifisch evangelistische Lehrgabe wird sich namentlich zeigen müssen in der Gabe eines gesunden, richtigen Schriftverständnisses und einer praktischen Schrifterklärung, einer klaren und geordneten Darstellung, wie deutsche Zuhörer sie ganz besonders verlangen, lebendiger Veranschaulichung durch allerlei fesselnde Illustrationen, lebenswahre Beispiele und Vergleiche, wie sie dem Volk immer ans Herz greifen und desto mehr, je deutlicher es in diesem Spiegel sein eigenes Bild sieht, und daher namentlich auch einer ernsten, eindringlichen und dabei ganz natürlichen, wie von selbst aus dem Text quellenden Schriftanwendung. Nicht bloß hervorragende Evangelisten unserer und früherer Zeiten, auch bedeutende Kanzelredner, die zugleich die evangelistische Gabe besaßen, von einem Basilius und Chrysostomus oder manchen ernsten Bußpredigern im Mittelalter bis zu Luther, Herberger, Schuppius u. s. f., oder bis zu Whitefield und Spurgeon u. a. verdanken ihre großen Erfolge nächst der in ihnen selbst verkörperten Macht der göttlichen

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Wahrheit über die Gemüter und der Kraft des Geistes Gottes in ihnen dieser Gabe der klaren, frischen, eindringlichen Darstellung und lebendigen Veranschaulichung. Aber um allezeit reden zu können mit Beweisung des Geistes und der Kraft in solch packender Weise braucht's nicht nur offene Augen, in den Reichtum eines Texts, in die unerschöpfliche Fülle von Schriftwahrheiten hineinzublicken und immer neue Perlen hervorzuholen, damit man sich nicht so bald auspredige und dann in nicht viel mehr wirkende Routine verfalle, sondern auch offene Augen und ein warmes Herz für die geistlichen Bedürfnisse des Volkes. Der Evangelist muß immer etwas haben von dem Hirtenblick der Liebe, der das Herz bricht, wenn sie die Schafe verschmachtet und zerstreut sieht, und aus diesem tiefen Mitgefühl heraus muß er reden und seine Worte und Gedanken dem Inhalt und der Form nach den geistig sittlichen Zuständen der Hörer anpassen können. Was zu Herzen gehen soll, muß aus dem Herzen kommen. Daher muß der Evangelist auch etwas haben von der jedem Prediger notwendigen Gabe der Erregbarkeit des Gemüts und der Vorstellungskraft bei Betrachtung der Schrift und bei Beobachtung der Gemeinde- oder Volkszustände. Er muß sich in die Szene eines Textes lebendig versetzen können, um aus ihr heraus plastisch zu schildern, daß die Textfiguren vor den Augen der Zuhörer leiben und leben, daß er ihre Ohren gleichsam in Augen verwandelt. Und er muß in die sittlich religiösen Zustände der Hörer, ihre Versuchungen, Gefahren und Hindernisse, in fremde Not, äußere und innere, sich lebendig versetzen können, um jedem, oder doch jeder Menschenklasse nach ihren besonderen Umständen, nach der Stufe ihrer Erkenntnis, ihres sittlichen Zustandes, bzw. nach dem Grad ihres geistlichen Elends, ihrer Versunkenheit das Heil nahe bringen und helfende Hand reichen zu können. Auch dies ein Stück echt populärer, dem Volk wirklich ans Herz dringender Redegabe und Gebetsgabe, aber nicht mehr bloß eine Gabe der Rede und eine diagnostische Gabe, ein durchdringender seelsorgerlicher Blick, der dem Übel bald auf den Grund sieht, und eine therapeutische Gabe, die für jeden Schaden die richtige Arznei aus der Schrift hervorzuholen weiß, sondern zugleich auch eine Frucht ethischer Selbstzucht zu allumfassender Nächstenliebe. Es ist keine Frage, etwas von pastoraler Beobachtungsgabe, von Hirtenweisheit, Umgangsweisheit und viel Takt im ganzen Auftreten wird bei allem Obigen unerläßlich sein. Aber wo mächtige Geistesausrüstung ist, da sei man nicht bange vor allen diesen Anforderungen; da wird einen auch „die Salbung allerlei lehren", und darum bleibt diese doch das Fundament der inneren Ausrüstung des Evangelisten und die fruchtbringende Kraft in seinem Wirken. Nur verkenne man nicht, daß nicht jede geistliche Gabe, die einer empfängt, auch Lehrgabe ist. „Unterwinde sich nicht jedermann, Lehrer zu sein", gilt auch Gläubigen, die sonst manche geistliche Gabe haben mögen. Manche, eben zum Glauben Gekommene und im Feuer der ersten Liebe Stehende wollen sofort ihren äußeren Beruf aufgeben und sich ganz dem Dienst des Herrn widmen. Wir erhalten im Johanneum in Bonn nicht selten Anfragen von solchen. Da müssen wir aber sehr vorsichtig sein. Die guten Leute verwechseln häufig den allgemeinen Eifer für das Reich Christi, wie ihn jeder lebendig Gläubige haben soll, mit der spezifischen Lehrgabe; vergessen, daß sie diesem Reich trefflich dienen können, wenn sie vorerst ruhig bleiben, was sie sind, Handwerker, Kaufleute, Techniker, u. s. f., und ihr neu erlangtes Licht nun in diesen ihren Kreisen leuchten lassen. Sie ahnen oft nichts von der ungeheuren Verantwortlichkeit des öffentlichen Lehramts, von dem auch ein Augustin sagt, es sei auch für die Schultern von Engeln erschreckende Last, onus 252

angelicis humeris formidandum. Sie prüfen sich nicht genug auf den Besitz dieser Gabe, und hoffen, alles zum Evangelistendienst Nötige durch einigen Unterricht vollends empfangen zu können. Ο nein, kein Fleiß, kein noch so langes Studium, auch nicht der Unterricht der besten Lehrer kann diese Gabe ersetzen, wo sie nicht ist. Sie ist und bleibt ein specificum, etwas von Gott selbst in diesen und jenen Menschen Gelegtes, durch dessen Verleihung der Herr Christus selbst das göttliche Majestätsrecht seiner Auswahl fur diesen Berufsich vorbehält, damit es allezeit gelte: „Er hat etliche gesetzt zu Propheten, etliche zu Evangelisten, etliche zu Hirten und Lehrern". Es bleibt eine Gabe, die wohl entwickelt, gebildet, geübt und in gläubigem Gebet verstärkt werden, aber durch nichts ersetzt werden kann; sie muß von oben empfangen werden. Echte Edelsteine kann man nicht machen, nur schleifen. Kein Amt, kein öffentlicher Dienst ohne inneren Beruf! Es ist aber ebenso Unrecht, wo die Gabe nicht verliehen ist, sie durch eigene Anstrengung erzwingen und am Ende erheucheln zu wollen zu gemeinem Schaden, als wenn sie verliehen ist, sie nicht auszubilden und nicht zu verwenden zu gemeinem Nutzen. Aber wie herausfinden, ob man die Lehrgabe und also wirklich innern Beruf zu diesem Dienst hat? In der Regel kommt sie den Besitzern erst allmählich zum Bewußtsein. Zunächst zeigt sie sich durch einen unabweislichen Trieb, nach dieser Seite zu wirken. Es muß wie bei Jeremia (20,9) der Trieb zu predigen „wie ein brennend Feuer in den Gebeinen verschlossen sein, daß er's nicht leiden kann und schier verginge", wenn er still bleiben und immer schweigen müßte. Kannst du den Trieb abweisen und dabei ruhig bleiben, so wird's kein Schade sein, wenn du stille bleibst und dich nicht herzudrängst. Kannst du aber unmöglich stille bleiben auch bei aller ernsten, nüchternen Prüfung vor dem Herrn, daß es dir nirgends mehr wohl ist als bei der Mithilfe am Dienst des Worts, dann hat der Herr diesen Trieb in dich gelegt, und du wirst wohl tun ihm zu folgen. Sodann wird dieser Trieb von selbst dazu führen, zunächst in der allerbescheidensten Weise seine Lehrkraft und Redekraft zu versuchen, etwa in der Sonntagsschule, in christlichen Jünglings- und Männervereinen, erst durch kürzere, allmählich auch durch etwas längere und selbständigere Ansprachen, Ermahnungen und Belehrungen, wie auch durch eine sich entwickelnde Kraft des freien, gesalbten, andere zu ernster Andacht zwingenden Gebets. Und hierbei wird, wenn die Gabe echt, es mit der Zeit an einigen ermunternden Erfolgen nicht ganz fehlen. Auf treue Benutzung des anvertrauten Pfundes, und wäre es im Kleinsten, legt der Herr Segen; man darf eine kleine Wirkung sehen, und wenn man demütig bleibt und nicht eitel wird, unter allerlei Schwierigkeiten geduldig ausharrt, nach und nach eine größere. Und dies bestärkt einen in der Freudigkeit fortzuschreiten auf diese Linie, und hilft zu immer größerer Klarheit über den inneren Beruf zu dieser Tätigkeit, zur festen Überzeugung wird einen dann treiben, sich mehr Kenntnisse zu verschaffen, um seine Gabe immer besser und in weiteren Kreisen zu verwerten. Solche Leute gibt es. Und die erste Aufgabe der Evangelisationsvereine wird es immer sein, gemäß dem göttlichen Fingerzeig, der in der Verleihung der Gabe liegt, die jungen Männer zu diesem Beruf auszuwählen. Die große Hauptsache sind ja immer die rechten Leute, die tüchtigen Arbeiter, wie im Kirchen- und Missionsdienst, so auch beim Evangelistendienst. Wo die rechten Männer, da findet sich bald auch das Übrige, Gelegenheit zu ihrer Ausbildung, die nötigen Mittel und das rechte Berufsfeld. - Aber die also begabten Leute aus unserem großen Volk auszuwählen, dazu sind die paar Augen der Vorsteher der Evangelistenbildungsanstalten lange 253

nicht ausreichend. U n d darum seien auch in dieser Versammlung die Geistlichen, Lehrer, Vorsteher v o n Arbeitervereinen, Leiter von Jünglings- und Männervereinen usw. herzlich und dringend gebeten, in der Auswahl der richtigen Leute, gottbegnadeter, gottbegabter und gottgeheiligter junger Männer für den Evangelistenberuf uns nach Kräften und Gelegenheiten freundlich beizuspringen. Es ist bisweilen die Gabe vorhanden, aber sie m u ß etwas erweckt werden durch freundliche E r m u n t e rung von Seiten erfahrener Christen, aber auch durch Selbstermunterung des Besitzers und Selbstaufraffung in Gott zu allseitiger Verwendung der empfangenen Kraft, wie dort auch ein Timotheus erinnert wurde, daß er „erwecke die Gabe Gottes", die in ihm war durch die Auflegung der Hände Pauli (2. T i m . 1,6). O b sie aber auch oft ungeweckt von selbst hervortritt, i m m e r m u ß die evangelistische Gabe etwas ausgebildet, nicht bloß praktisch geübt, auch geschult, mit den nötigen Kenntnissen ausgerüstet werden, u m reiche und dauernde Frucht schaffen zu können. Auch die begabtesten Evangelisten, w e n n sie nicht wohlausgerüstet auf den Plan treten, haben nach einiger Zeit die Notwendigkeit erkannt, sich wieder auf einige Zeit in die Stille zurückzuziehen, nicht bloß u m sich reicher mit d e m Geist der Erkenntnis und der Kraft von oben ausrüsten zu lassen, sondern auch u m die Lücken ihrer Schriftkenntnis auszufüllen, ihre theologische Rüstung zu vervollständigen und so etwas völliger gewappnet in den K a m p f zurückzukehren. Versteht sich, daß ältere und hervorragend begabte Evangelisten diese Bildung und Weiterausrüstung auch selbst an sich vollziehen können als Autodidakten, daß es für sie oft nur einiger Fingerzeige über passende Literatur von selten wohlunterrichteter Freunde bedarf. Gott hat für manche seiner auserwählten Rüstzeuge seine eigenen Schulen und bedarf der unsrigen nicht. (Wie eigentümlich hat er einen Mose, einen David, einen Daniel sich zu Werkzeugen erzogen!) Ja für die Eigentümlichkeit ihrer Gabe, namentlich wenn sie erst in reiferen Jahren hervortritt, könnte viel Schulung und systematische Anleitung leicht zu einigem Verlust ihrer Kraft führen. Kraftvolle Charaktere ertragen zu viel Abschleifung und Anleitung durch andere nicht ohne inneren Schaden. U n d noch eine Ausnahme drängt sich bei dem Bildungsbedürfnis evangelistischer Gaben auf. Ich meine die evangelistisch begabten Geistlichen. Die sind durch ihre allgemeine und speziell theologische Bildung und durch ihre pastorale Erfahrung z u m voraus auch f ü r diesen Dienst am Wort zur Genüge und vor andern ausgerüstet. In der Tat, die Geistlichen selbst sind überall die natürlichsten Evangelisten, die dann auch in kirchlichen Lokalen selbst evangelisieren können. Ich habe dies schon vor Jahren öffentlich ausgesprochen. M a n beschuldige uns darum j a nicht einer falschen Gegenüberstellung von Pfarrer und Evangelist. Es gibt Geistliche, die nicht bloß wie die andern die Gabe der lehrhaften Weitererbauung des kirchlichen Bruchteils der Gemeinde, sondern auch die der Weckung von neuem Leben unter den Gleichgültigen haben, die also zugleich auch als Evangelisten auftreten können. Die größten Evangelisten des vorigen Jahrhunderts sind ordinierte Geistliche gewesen. U n d es verlohnte sich sehr, über die Möglichkeit nachzudenken, wie etwa ein evangelistisch begabter Geistlicher, vielleicht ohne sein spezielles A m t aufzugeben, von Zeit zu Zeit wenigstens ein paar Monate einem Amtsbruder in einer zu großen, ganz verweltlichten und v e r k o m m e n e n Gemeinde mit seiner evangelistischen Gabe dienen könnte zur Weckung neuen und tieferen Lebens. Zeitweiliger Ersatz in seiner eigenen Gemeinde w ä r e j a w o h l bei der heutigen raschen Z u n a h m e der geprüften Kandidaten zu beschaffen. Solche Aushilfe hat sich anderwärts oft als dauernden Segen stiftend erwiesen.

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In solchen Fällen braucht es natürlich nicht erst weiterer Schulung, nur ernste Überlegung über den richtigen Plan des Vorgehens, da die Vorträge in den außerordentlichen Gottesdiensten immerhin ein gewisses System würden einzuhaken haben. Aber solche Fälle werden immer die Ausnahme bilden. Die große Mehrzahl der Laienevangelisten wird einiger Schulung und theologischer Bildung nicht entbehren können. Wie ist der Herr selbst darin mit einer theoretischen und moralisch praktischen Erziehung der Jünger vorangegangen, ehe er ihnen das große Vermächtnis der Weltevangelisation hinterließ! - Überall predigt die Erfahrung dieses Erziehungsbedürfnis. Der bekannte Moody, der im wesendichen Autodidakt, hat doch die Notwendigkeit der systematischen Ausbildung der evangelistischen Gaben bei andern klar erkannt, und in seiner Heimat in Neuengland Anstalten gegründet, in denen bereits Hunderte von Jungfrauen und Jünglingen zu allerlei Dienst in der innern (und äußern) Mission, und besonders zu evangelistischer Tätigkeit herangebildet werden. - Aber bei uns in Deutschland, wo die bis jetzt einzige eigentliche Evangelististenschule, das Johanneum in Bonn, erst seit 2 Jahren den Unterrichtskursus eröffnen konnte, ist's da nicht zu früh, jetzt schon die technische Bildung eines Evangelisten öffentlich zu diskutieren? Sollten wir nicht erst mehr Erfahrungen sammeln, um dann mit größerer Sicherheit Grundsätze darüber aufstellen zu können? Ich habe mir diese Frage auch gestellt und verkenne die Schwierigkeiten ihrer Behandlung im Anfangsstadium der Praxis durchaus nicht. Aber andrerseits mußte ich mir auch sagen: gerade weil die Erziehung von Evangelisten gar keine leichte Sache ist, gehört die Diskussion der Frage schon in den Anfang, um Fehler möglichst zu vermeiden. Denn wenn irgendwo, so soll man in der Erziehung keine Fehler machen, weil diese auch bei nachträglicher Erkenntnis in der Regel nicht mehr gut zu machen sind. Darum helfejeder, der sich dazu berufen fühlt, jetzt schon durch seinen Rat dazu mit, das Richtige zu treffen! Von der Unterrichtsaufgabe der Brüderanstalten im Rauhen Haus und des evangelischen Johannesstiftes in Berlin, die zu Stadtmissionaren, Vorstehern oder Gehilfen in Rettungshäusern oder Herbergen zur Heimat, Gefangenen- und Krankenpflegern heranbilden, und ähnlich von der in Diakonenhäusern muß nach unserm obigen Begriff eines Evangelisten die Aufgabe und das Bildungsziel einer Evangelistenanstalt sich zunächst durch ein erheblich reicheres Maß von biblisch theologischem Unterrichtsstoff unterscheiden. Die Hilfsfächer, wie sie die eintretenden Zöglinge je nach dem Grad ihrer Vorbildung mehr oder weniger nötig haben, Nachhilfe in der deutschen Sprache, korrektem Ausdruck, geläufigem Stil, Aufsatz, Weltgeschichte und dergleichen, auch was gar nicht unwichtig - einige musikalische Ausbildung und, was auch nicht zu vernachlässigen, körperliche Übungen, weil die Zöglinge angestrengte geistige Arbeit oft seit langem nicht mehr gewohnt sind und durch diese daher doppelt ermüdet werden, sind in der Regel in beiderlei Anstalten gleichermaßen Bedürfnis. Aber während in den ersteren Anstalten der religiöse Teil des Unterrichts sich auf biblische Geschichte des A. und N. Bundes, Schriftlektüre, Katechismuserklärung, etwas Kirchengeschichte und Geschichte der inneren Mission, bei den oberen Klassen zum Teil auch Pädagogik und Probelektionen beschränkt, müssen wir hier etwas tiefer greifen für künftige Evangelisten. Vor allem trachten wir darnach, sie möglichst bibelfest zu machen. Die hl. Schrift ist das große Zeughaus, aus dem sie täglich alte und neue Waffen holen müssen zum guten Kampf. Darin müssen sie heimisch 255

werden, um fur jeden gegebenen Fall das rechte Wort hervorholen zu können. Daher der verhältnismäßig große Raum, der in dem ca. 3jährigen Lehrkursus unsres Johanneums der Bibelkunde im weitesten Sinne des Wortes nach Geschichte und Lehre samt Einleitung in die biblischen Bücher, Entwicklungsgeschichte des Reiches Gottes im A. und N. Bund und Erklärung der wichtigsten Bücher des A. und N. Testaments mit etwa 8 bis 10 oder 11 Stunden wöchentlich eingeräumt ist; natürlich so, daß neben dem alttestamentlichen Unterrichtsstoff immer auch neutestamentlicher hergeht. Ζ. B. im I. Halbjahr neben alttestamentlicher Geschichte und Erläuterung des mosaischen Gesetzes auch Erklärung des Evangeliums Lucä; im II. Halbjahr neben den historischen Büchern des A. Testaments Evangelium Johannis und Leben und Lehrejesu I. Teil; im III. neben Hiob, Psalmen, Sprüchen - Leben und Lehre Jesu II. Teil mit Apostelgeschichte und Jakobusbrief; im IV. Neben Erklärung des Propheten Jesaja, kursorischer Lektüre des Jeremia und einiger kleiner Propheten namentlich Erklärung des Römerbriefs; im V. neben Auslegung des 1. Buch Mose und der messianischen Weissagungen Epheser-, Philipper-, Kolosser- und Hebräerbrief; dazu im VI. kursorische Lektüre der übrigen neutestamentlichen Briefe, besonders auch der Pastoralbriefe. Dabei ist die Schrifterklärung teils eingehend, statarisch, teils rascher, kursorisch je nach Wichtigkeit eines Buchs oder Abschritts, und soll immer auch von praktischen Winken für künftige Ansprachen durchzogen sein. Damit die Zöglinge aber die Schrift nicht immer bloß aus abgeleiteten Quellen, sondern wenigstens das N. Testament auch in der Ursprache etwas genießen und seiner Grundschönheiten sich freuen lernen möchten, so werden wenigstens die Begabteren der Zöglinge auch im Griechischen nach einer ganz kurzen Formenlehre und Syntax soweit unterrichtet, daß sie ihr Griechisches N. Testament lesen und bei allen Hauptbegriffen auf den Grundtext zurückgehen können. Dies ist nicht für alle obligatorisch; namentlich nicht für schon Ältere. Es bringt aber den großen doppelten Vorteil, einmal, daß ein so Gebildeter weniger leicht auf sonderbare, unnatürliche, irrtümliche Exegese verfällt, und sodann, daß ihm durch diese Kenntnis der Gebrauch auch guter wissenschaftlicher Kommentare offen steht. Nach unsrer bisherigen Erfahrung werfen sich die meisten Zöglinge sehr gerne und mit Eifer auf Erlernung des neutestamentlichen Sprachidioms. Neben diesen der Bibelkunde dienenden Fächern geht dann nicht bloß Unterricht in der Kirchen- und besonders Reformationsgeschichte mit Weglassung alles bloß gelehrten Ballastes her nach einem Lehrbuch etwa im Umfang der in Schullehrerseminaren gebrauchten, sondern durch mehrere Halbjahre hindurch biblische Glaubens· und Sittenlehre und zwar ziemlich eingehend, wohl mit Weglassung der vielen dogmengeschichtlichen Streitigkeiten um Einzelnes, aber immer so, daß der feste biblische Lehrgrund und zugleich der Fortschritt der Offenbarungsentwicklung, aus dem der einzelne Lehrpunkt resultiert, dabei klar gelegt wird. Natürlich kann und soll dieser Unterricht in der Glaubenslehre weder in streng lutherischer noch streng reformierter Richtung gegeben werden, sondern nur in biblisch unierter. In Glaubenssachen ist ja die Bibel und der biblische Ausdruck immer die beste Union. Nicht nur haben und nehmen wir Zöglinge aus beiden Konfessionen oder auch aus rein unierten Gemeinden gleichmäßig an, können also auch Gemeinden je ihrem Bekenntnisstandpunkt entsprechende Evangelisten senden, sondern, was der Evangelist zu predigen hat, sind ja nicht die Kontroverspunkte zwischen den Denominationen, nicht konfessionell zugespitzte Lehren, sondern das schlichte, einfache Evangelium, wie es beiden Kirchen gemeinsam ist. Daher die biblische Mitte bei diesem Unterricht.

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Dagegen muß einige Aufklärung über die wichtigsten Lehrunterschiede zwischen der evangelischen Kirche und Rom, bzw. zwischen unsrer Kirche und unevangelischen Sekten, und namentlich auch einige Instruktion über die wahre probehaltige Verteidigungsweise unsres evangelischen Glaubens gegenüber den Hauptformen des heutigen Unglaubens, also einige Einfuhrung in die Apologetik damit verbunden sein. N u r die begabtesten Zöglinge mögen letztere Studien bis zu einiger Kenntnisnahme von den neueren philosophischen Systemen ausdehnen, sei es durch Lesen apologetischer Vorträge, sei es durch Mitanhören akademischer Vorlesungen, wozu wenigstens die Vorgebildeteren unter ihnen durch Hospitantenscheine berechtigt werden können, was seither schon bei der Hälfte geschah. Denn so sorgfältig auch akademische Vorlesungen für den Zweck evangelischer Ausbildung ausgewählt werdem müssen, so groß sind doch auch die Vorteile davon für begabte Evangelisten. Es öffnet sich ihnen da eine neue Welt, die ihren Horizont ungemein erweitert und sie fähig macht, auch manchen gebildeteren Ungläubigen die Spitze zu bieten. Aber bibelgläubige Dozenten müssen es sein, bei denen sie hospitieren. Endlich muß zu diesen exegetischen, historischen und systematischen Unterrichtsgegenständen notwendig auch einiger Unterricht in praktisch theologischen Fächern und einige praktische Vorübung im Bibelerklären und Ansprachenhalten kommen, schriftlich und mündlich. Zu diesem Behuf erhalten die Zöglinge Anleitung zur praktisch homiletischen Textbehandlung, Einblicke in den Reichtum der Textmomente und ihrer Anwendbarkeit namentlich bei solchen Schriftabschnitten, die zu evangelistischen Zwecken besonders geeignet sind. Sie müssen teils kurze Dispositionen, teils ganze Ansprachen verfassen, damit sie lernen, ihre Gedanken nach Plan und Ordnung aneinander zu reihen. Sie müssen auch im Johanneum selbst teils vor den Lehrern sich im Vortrag üben und mit der Zeit kurze Ansprachen halten, teils wird ihnen in den Bibelbesprechungsabenden Gelegenheit geboten, auch vor einer etwas erweiterten Zuhörerschaft ein kurzes Wort zu sagen, oder mit einem freien Gebet zu schließen. Vorlesungen über Homiletik, Katechetik und besonders auch über Seelsorge, in denen sie an der Universität hospitieren können, schließen ihre theoretische Ausbildung am Passendsten ab, die selbstverständlich durch eine streng christliche Hausordnung, gemeinsame tägliche Andachten, durch einen Geist des Gebets, durch christliches Exempel, durch gegenseitige brüderliche Ermunterung und Hilfsleistung im ganzen Zusammenleben gestützt und gefördert sein will. Die Haupterziehung aber wird auch hier nicht die Schule, sondern das Leben, die auf die Schule folgende Praxis und Erfahrung dem Evangelisten nach und nach angedeihen lassen müssen, in der es auch, wie überall, gelten wird, zunächst durch Dienen Sich-in-die-Ordnung-fugen, Sich-leiten- und oft auch Sich-zurechtweisenlassen allmählich heranwachsen zu etwas mehr Selbständigkeit, durch Erfahrungensammeln zu größerer Sicherheit im Urteilen und Handeln. U n d da müssen auch die Gemeinden und Gemeindeorgane mithelfen zur richtigen Erziehung eines Evangelisten und darauf Acht haben, daß weder der Weihrauch des Beifalls (besonders auch von weiblicher Seite) ihn verderbe, noch unbillige Kritik, zu hoch gespannte und dann leicht unbefriedigte Erwartung ihn entmutige; auch daß man nicht, was vielein großer Unvorsichtigkeit gerne tun, die Prediger vor ihm verkleinere und ihn dadurch zu diesen in ein verkehrtes Verhältnis setzen. U n d hiermit öffnet sich uns noch von selbst ein Blick auf das Endziel evangelistischer Bildung oder auch Selbsterziehung. Persönlich muß bei aller theologischen Bildung, Ausrüstung mit Kenntnissen und praktischer Erziehung die Entwicklung

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des geistlichen Lebens bis zur vollen Mannesreife in Christo natürlich das oberste Ziel sein. Und hierzu müssen bei dem in die Vorbereitung Eintretenden vor allem keine unlautern, ehrgeizigen, eiteln Nebenabsichten und selbstsüchtige Hintergedanken mit im Spiele sein, wenn nicht von vorne herein aller tiefere Segen verhindert, alle wahre Frucht verkümmert und verkrüppelt werden soll; vielmehr nur die redliche Absicht, das lautere, ungeteilte Verlangen, in bescheidener Gehilfenstellung dem Herrn am Evangelio mitzudienen. Manche melden sich trotz ganz geringer evangelistischer Begabung. Sie wollen im Grunde bloß deshalb weiteren theologischen Unterricht, um etwas höher zu kommen über den Stadtmissionar oder Kolporteur oder Lehrgehilfen hinaus und etwas näher heran ans geistliche Amt. Manche sogar mit dem verschwiegenen Hintergedanken, auf diese Weise vielleicht später doch noch ins Pfarramt gelangen zu können, wenn nicht in Deutschland, doch vielleicht in Amerika. Der eine oder andere auch, weil's eben im Johanneum billiger ist, etwas Theologie zu studieren als an der Universität, und weil dabei doch auch einiges von der Universität mitgenommen werden kann. - Alles keine lauteren, selbstsuchtsfreien und daher Gott wahrhaft wohlgefälligen Absichten und Ziele! Wie das innere Recht, sich dem Evangelistenberuf zu widmen, vor allem vom Besitz der evangelistischen Gabe abhängt, so ist schon zur gesegneten Vorbereitung auf diesen Dienst, geschweige zum rechten Eintritt in denselben auch das unerläßlich, daß einer ehrlich und freudig sein Ziel in diesem Gehilfendienst und nicht darüber hinaus sucht. Im einzelnen Falle aber richtet sich das Ziel, der besondere Dienst und Wirkungskreis, zu dem einer ausersehen wird, nach dem Umfang und der Eigenart seiner Gabe. Ein Evangelist von größerer Begabung und etwas umfassenderen Kenntnissen wird sein richtiges Ziel im Dienst an großen Stadtgemeinden finden, weil hier größere Gewandtheit, mehr Schlagfertigkeit den Einwürfen des Unglaubens gegenüber, auch - wenn möglich - einige philosophische Bildung, Bekanntschaft mit unchristlichen Weltanschauungen und Einblick in ihre tiefen Schwächen sehr nötig und von mannigfachem Nutzen sein wird. - Andere aber taugen nach ihrer eigentümlichen Gabe, die vielleicht weniger glänzend, aber unter Umständen ebenso nützlich und oft erfolgreicher ist, besonders aufs Land. Sie haben vielleicht weniger Kenntnisse, aber sie können mit Landleuten, kleinen Handwerkern, Bergleuten, Dienstknechten und dergl. ganz besonders gut umgehen, weil sie vonJugend auf dies Leben mit seinen besonderen Vorzügen, Mühsalen und Versuchungen kennen. Da soll denn keiner über den Umfang seiner Gabe hinausgreifen wollen nach einem für ihn zu schweren oder sonst nicht geeigneten Arbeitsgebiet. Mancher hat in bescheidener Stellung treffliche Dienste getan; weil er aber der Versuchung zur Eitelkeit nachgab und nicht nachließ, bis er einen höheren Posten erhielt, so geschah es, daß er auf diesem nichts mehr ausrichtete. Der Segen des Herrn war von ihm gewichen. Sache der Vorsteher von Evangelistenschulen aber ist es natürlich, fur ein bestimmtes Arbeitsfeld unter ihren Zöglichen den rechten Mann auszulesen. Auch ein andrer, sich bald zeigender Unterschied der Begabung wird für das Ziel der Verwendung maßgebend werden: Der eine zeigt bald, daß er mehr eine erweckliche Kraft zum Anfassen der noch draußen Stehenden hat, und dies ist ja die eigentliche Evangelistische Aufgabe; der andere, daß er mehr die schon Erweckten tiefer hinein in die Heilserkenntnis führen, oder auch Gläubige weitererbauen kann, wozu freilich immer eine schon längere Erfahrung gehören wird. Aber auch diese Seite ist 258

nicht ganz auszuschließen vom Werk des Evangelisten, schon weil er für seine Arbeit nach außen einen Rückhalt braucht an der Mitwirkung ernster gläubiger Christen, die nicht selten oft erst hierzu aufgemuntert werden müssen. Und es wird auch ein mehr zur Erweckung begabter Evangelist immerhin danach streben müssen, auch nach der Seite der tieferen Erbauung mit der Zeit etwas bieten zu lernen, damit sein eigenes inneres Wachstum in der Schrifterkenntnis in gesundem Gleichgewicht bleibe, und die Gefahren einseitiger Predigtweise und Schriftbenutzung vermieden werden. Aber wird denn nicht, fragen da manche, gerade durch theologische Halbbildung die Gefahr besonders leicht erzeugt, daß einer dann immer höher hinaus will und mit bescheidenem Ziel sich nicht mehr begnügt? Gar mancher Fachtheologe wird bedenklich, wenn man von theologischer Halbbildung spricht. Ich begreife das vollständig und leugne mögliche Gefahren keineswegs, jede Halbbildung birgt eine Gefahr in sich. Man glaubt leicht, etwas ganz zu wissen, und weiß es doch nur halb. Je gründlicher ein Wissen, desto edlere Bescheidenheit erzeugt es oft. Aber ich erinnere wieder daran, daß Evagelisten eben ein Notbehelf der Kirche für einen wachsenden Notstand sind. Wo es genug ganzgebildete Prediger gibt, die alle Bedürfnisse allein befriedigen können, wird man keine halbgebildeten Gehilfen nötig haben. Aber das ist an vielen Orten eben nicht so bald zu erwarten. Und da frage ich: was bleibt denn der Kirche anders übrig als jene wenigstens zum Gehilfensdienst ausreichende Bildung? Und bei ihr, wie ich sie oben skizzierte, ist in der Hauptsache, in der Bibelkenntnis, das zu erreichende Maß von Wissen denn doch entschieden mehr als bloße theologische Halbbildung. Darin dürften unsre Evangelisten den Vergleich mit irgend welchen theologischen Durchschnittskandidaten ganz wohl aushalten. Erstreckte sich ihre Bildung noch weiter, dann werden sicherlich die meisten der Versuchung erliegen, über den Evangelisten hinaus vollends ganz ins geistliche Amt zu streben. Würden wir sie aber herabdrücken, etwa auf die Kenntnisstufe des Stadtmissionars und Kolporteurs, so wird sie eben für viele Kreise, zumal in Großstädten,nicht hinreichen. Wir haben in Deutschland - im wesentlichen Unterschied z.B. von England - mit einem Indifferentismus und Unglauben zu kämpfen, der eben, auch ζ. B. in den Arbeiterkreisen, oft auf ein erhebliches Maß von allgemeiner Bildung sich stützen kann. Und dem gegenüber braucht bei uns mindestens ein Teil der Evangelisten doch zum Wenigsten ein ebenso hohes Maß. Darum wird vorerst nichts anderes übrig bleiben. Sodann möchte ich die über Halbbildung Bedenken Tragenden nur im Vorbeigehen fragen, ob denn etwa die heutige Ganzbildung unsrer theologischen Studenten, wie sie auf der Universität meistens verläuft, nicht auch manche Bedenken wachrufen kann, namentlich in bezug auf wahrhafte, innere, auf persönlicher Erfahrung beruhende, pneumatische und zeugniskräftige Reife für das Amt, das die Versöhnung predigt? Zum Schaffen geistlicher Frucht dürfte ein ernster, gläubiger, seit Jahren sein Leben in Gebet, in Gottseligkeit und stiller, fleißiger Vorarbeit für seinen Beruf führender Evangelist mit jener in rein gelehrter Hinsicht beschränkten, in biblischer dagegen gründlichen und reichlichen Ausrüstung wahrhaftig nicht schlechter qualifiziert sein als Kandidaten, die zwar mehr kritisches und gelehrtes historisches Wissen und mehr Sprachkenntnisse besitzen, aber in Glaubenssachen nur zu oft den Kopf vorerst noch voll von Fragezeichen und wenig persönliche Glaubenserfahrung haben, so daß sie vor der Gemeinde oft mehr zungenfertig als mit Beweisung des Geistes und der Kraft auftreten. - Auch nach dieser Seite dürfte sich

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der Evagelistendienst als eine nicht unwichtige Ergänzung des seither von der Kirche Gebotenen, besonders auch des von der Schule ins Leben übertretenden jungen Amtes bewähren. Freilich dies alles nur dann, wenn die rechten Mittel und Wege der Angliederung des Evangelistendienstes an den Organismus der Kirche gefunden werden. Die Angliederung des Evangelistendienstes an den Organismus der Kirche Die nötige Verbindung mit dem geordneten Dienst am Wort, dem ordinierten Predigtamt haben wir von vornherein mit dem Wort „Gehilfendienst" andeuten wollen, und ebenso das richtige, friedliche, untergeordnete Verhältnis, das uns bei der Stellung des Evangelisten zum Pfarrer vor Augen schwebt. „Angliederung" an den Organismus der Kirche halten wir für wünschenswert und segensreich. Das Wort ist mit Absicht gewählt, nicht das etwas mehr besagende „Eingliederung", was wenigstens für heute noch verfrüht sein dürfte. Aber auch bloße Angliederung ist manchen schon zu viel, anderen wohl auch zu wenig. Das muß, sagen jene, durchaus eine Sache ganz freier Vereine bleiben; eine Angliederung wäre weder möglich noch rätlich. - Nicht möglich? Aber wie, wenn schon die Gegenwart diese Möglichkeit in verschiedenen Kirchen, auch Landeskirchen nachweist? Halten wir einen Augenblick Umschau in anderen Kirchen, um sodann zu sehen, was etwa bei uns möglich bzw. schon eingeleitet ist. Ich fürchte nicht, daß in dieser Versammlung viele an dem Vorurteil eines geradezu übertriebenen, fanatischen Patriotismus leiden möchten, der bei jedem prüfenden Blick auf andere Länder sofort geneigt ist, zu rufen: Das ist nicht deutsch, das können wir nicht brauchen! - Es handelt sich nicht um die Frage, ob deutsch oder nichtdeutsch. Die Sache ist biblisch, altchristlich, gut reformatorisch und auch in Deutschland in vielen Kreisen teils in der Stille vorhanden, teils schon mehr an die Öffentlichkeit tretend. Es fragt sich nur, ob die längst vorhandenen evangelistischen Bestrebungen nicht segensreicher und tiefer wirkten, wenn sie etwas mehr organisiert und der Kirche, bzw. einzelnen Gemeinden friedlich angegliedert würden, und ob in letzterem Punkt nicht manche Kirchen uns erheblich voraus sind. - Ein anderes ist, geschwind nachäffen wollen, ohne Rücksicht auf die Eigenart des besonderen Volks und das geschichtliche Gewordensein der eigenen Kirche. Das ist kurzfristig, töricht, unfruchtbar. Das will niemand. Ein anderes aber ist prüfen, ob eine Kirche in ihrer Praxis, in der Abhilfe ihrer Notstände gleichen Schritt hält mit dem, was andere Kirchen hierin leisten. Auf dies genau zu achten und bei Zeiten die eigene Kirche auf Defekte und den Weg zur Abhilfe aufmerksam machen, das ist eine Art von geistlicher Wacht am Rhein und gewiß sehr verdienstlich. Seit Jahren haben dies viele bei unsern Bestrebungen fortwährend verwechselt. Daß allerlei Freikirchen, große und kleine, die Evangelisation unter anderen Protestanten und hie und da auch unter Katholiken (ich erinnere ζ. B. an die belgische Missionskirche, die evangelischen Kirchen in Italien und Spanien, an die kanadischen Presbyterianer und ihre Evangelisation unter den dortigen französischen Katholiken) ihrem kirchlichen Organismus nicht bloß an-, sondern eingegliedert haben, ja daß diese Tätigkeit oft ein wesentliches Stück ihres Lebens und Wirkens bildet, ist bekannt. Ihnen wird dies bei ihrer Unabhängigkeit auch viel leichter als mit dem

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Staat verwachsenen Landeskirchen. U m solche handelt es sich aber hierbei für uns. Was zeigen denn sie uns von Mitteln und Wegen oder doch Versuchen der Verbindung dieser Gehilfentätigkeit mit der Kirche? In Dänemark ist die Evangelisationstätigkeit zwar nicht gesetzlich der Landeskirche eingegliedert, wohl aber durch die Aufsicht der Bischöfe und Pastoren derselben so angegliedert, daß sie ganz innerkichlich verläuft. Sie wird geleitet von einem freien Verein, von einem Ausschuß der innern Mission, der durchaus kirchlichen Charakter trägt, wie schon der N a m e zeigt „kirchliche Vereinigung für innere Mission in Dänemark". Dieser Ausschuß besteht aus mehreren Geistlichen und Laien mit Pastor Beck als Vorsteher, und hat heute gegen 60 Evangelisten oder „Laienprediger" in seinem Dienst. Dieselben werden von dem Ausschuß geprüft und dann angestellt. Es werden ihnen bestimmte Bezirke angewiesen, w o sie predigen sollen. In diesem Bezirke ist die Aufsicht über ihre Predigt und ihr Leben einem dort wohnenden Geistlichen anvertraut. Sie haben wohl im allgemeinen die Erlaubnis, in den Parochien ihres Bezriks zu arbeiten; aber für den einzelnen O r t sollen sie sich immer zuerst an den Pfarrer wenden. Verweigert ihnen dieser die Arbeit in seiner Pfarrei, so sollen sie sich anderswohin wenden, „wenn der Pastor nicht ein offenbar Ungläubiger ist". Diese Ordnung wurde mit Bestimmung der dänischen Bischöfe eingeführt. - So schreibt mir ein bekannter dänischer Pastor aus Kopenhagen. Hier ist, was ich auch für unsre Verhältnisse für sehr ersprießlich, wünschenswert und ausführbar halte, längst realisiert: ein freier, innerkirchlicher, die Evangelisten sendender Verein, Anschluß der Sendboten an die kirchlichen Ordnungen, Respektierung des bestehenden Amtes, Aufsichtsrecht desselben über diese Predigtgehilfen und Billigung der ganzen Einrichtung durch die kirchliche Oberbehörde, die Bischöfe. In Schweden ist ein Bildungsinstitut für Evangelisten mit dem für Heidenmissionare in Johannelund bei Stockholm verbunden. Der Lehrkursus ist etwa 6jährig. Das Arbeitsfeld der Evangelisten sind die skandinavischen Seeleute in fremden Häfen. Hier sind die Evangelisten (ich meine diese kirchlichen, nicht die vielen von freien Vereinen oder Freikirchen ausgesandten) vollständig dem kirchlichen Organismus eingegliedert als eine Art von niederem Klerus. Sie werden nach einer vor dem Bischof und Domkapitel (dem kirchlichen Konsistorium) angestellten Prüfung für den Evangelistenberuf ordiniert und erhalten einen Erlaubnisschein vom Bischof zum Dienst am Wort und an den Sakramenten. Kehren sie von auswärtigen Häfen nach Schweden zurück, so können sie unter gewissen Bedingungen auch hier eine kirchliche Predigerstelle erhalten. So berichtet mir ein schwedischer Bischof. - Hier ist also der Evangelistendienst ein anerkanntes kirchliches, sogar ordiniertes Amt, eine Unterstufe des Pfarramts, die - wie beim Kandidaten - unter Umständen zum Pfarramt weiterführt. In Norwegen werden etwa 20 Stiftskapläne, studierte Theologen, von den Bischöfen als eine Art von fliegendem Korps benutzt, teils als Pfarrverweser zu zeitweiliger Bedienung einer erledigten Pfarre, teils als Evangelisten, besonders im Frühjahr auf den Inseln, w o die Fischer zum Kabliaufang (sie!) sich massenhaft sammeln. Wenigstens dieser Zweig der Evangelisation wird also dort vollständig von der Kirche durch ihre Theologen besorgt. In Holland sehen wir die sogenannten „Katechisiermeister" eine in die Ordnungen der Landeskirche vollständig eingegliederte Gehilfenstellung zum Pfarramt einneh-

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men. Diese zuvor etwa zwei Jahre lang von einem Pfarrer privatim unterrichteten Religionslehrer werden von der Klassikabehörde geprüft und dann zum Dienst an einer bestimmten Gemeinde zugelassen und förmlich angestellt (mit Gehalt). Sie geben den Vorbereitungsunterricht für die erste K o m m u n i o n (nur in den letzten Wochen erteilt diesen der Pastor selbst), halten Andachten in Gefängnissen und werden auch sonst als Gehilfen in der Seelsorge benutzt. Sie erhalten aber keine Ordination, kein Recht zur Sakramentsverwaltung. In England ist die bischöfliche Staatskirche des vorigen Jahrhunderts das warnendste Exempel davon, wie tief sich eine Landeskirche schädigt, w e n n sie Neuevangelisierungsbedürfnisse nicht bei Zeiten innerkirchlich befriedigt, den darauf gerichteten, berechtigten Bestrebungen nicht in ihrem Schoß Raum schafft, und die dabei notwendig hervortretenden neuen Kräfte und Agentien, also namentlich Laienpredigt und Laienhilfsdienst bei der Seelsorge nicht in ihrem relativen Recht anerkennt und der bestehenden O r d n u n g angliedert im Geist weitherziger, nicht das Eigene suchender Hirtenliebe. Das Nichterkennen dieser Pflicht hat jene Kirche Tausende von Gemeinden gekostet! In unsrem Jahrhundert hat sie mehr und mehr dieses verhängnisvolle Versäumnis eingesehen, und gibt jetzt allerlei Evangelisationsbestrebungen in ihrer Mitte nicht nur freien Spielraum, sondern sucht auch gegenwärtig nach den rechten Formen und N o r m e n , u m sie kirchlich zu regulieren und ihrem Organismus durch offizielle Anerkennung anzugliedern. Ich sehe ganz ab von zahllosen Evangelisationsbestrebungen verbunden mit einzelnen, auch bischöflichen Gemeinden und Geistlichen, mit christlichen Jünglingsund Männervereinen, sogar studentischen Assoziationen, wobei einzelne begabte Gemeinde- oder Vereinsglieder auf bestimmte Distrikte ausgesandt werden zu predigen, hier im Freien, dort unter großen Zelten oder in Hallen. Ich schweige von den öfters aus Staatskirchlern und Freikirchlern zusammengesetzten Evangelisationsgesellschaften, ζ. B. der Londoner Evangelization Society, mit der mehrere Hundert teils theologisch gebildeter und ordinierter teils Laien-Evangelisten in Verbindung stehen, die sie zur Aushilfe für längere oder kürzere Zeit überall hin aussendet, w o h i n sie von Pfarrern oder auch von Lokalkomitees, christlichen Fabrikbesitzern usw. begehrt werden. Ich will nicht reden von ähnlich zusammengesetzten neuesten schottischen Evangelisationsvereinen, wie der Scottish evangelistic Association für ganz Schottland, der vereinigten evangelistischen Assoziation in Glasgow (Glasgow united evangelistic Association), aus Geistlichen und Laien verschiedener schottischer Kirchen gebildet, die ihre Evangelisten auch ins Ausland sendet neben der gemeinsamen Evangelisationsarbeit in Glasgow und U m g e g e n d und vielen ähnlichen. Aber ich erwähne, wie jetzt die bischöfliche Staatskirche Englands für sich selbst, ihre wachsenden Bedürfnisse und ihre oft nicht mehr ausreichenden klerikalen Kräfte eine offiziell anerkannte Ergänzung sucht, ja zum Teil schon findet durch den Gehilfendienst von Evangelisten. Es ist bemerkenswert, daß nicht etwa bloß der mildere evangelische, sondern auch der so amtseifrige hochkirchliche Flügel der bischöflichen Kirche heute i m m e r lauter nach Laiengehilfen ruft. „Wir brauchen", schreibt mir vor kurzem ein hochkirchlicher Kanonikus einer bekannten Kathedrale, „Laienhelfer, denn wir haben nicht Kleriker genug in vielen Parochien für evangelistische und Hilfspredigerarbeit". Von zwei vorgeschlagenen Mitteln und Wegen zur Abhilfe wird das eine bereits beschritten in vielen Diözesen: es w u r d e das A m t , der Grad eines Schriftlesers (Reader) gegründet mit einer niederen Art von Ordination; diese sollen in den Häusern die

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Schrift lesen und das Evangelium predigen. Es gehören dazu teils Leute von ganz geringer Bildung, teils Männer von höchstem gesellschaftlichen Rang bis zum Lord. Das Institut soll sich aber nicht überall besonders bewähren, weil die talentvolleren Schriftleser gern volle Kleriker zu werden wünschen, und höhere Posten doch bei weitem nicht so gut ausfüllen könnten wie niederere. Doch dürfte dieses Unteramt mit der Zeit sich noch weiter ausbreiten. Eine Parallele dazu bildet auch die niedere Ordination von Armenärzten und Missionsärzten mit dem Recht, in der Kapelle eines Hospitals evangelische Gottesdienste zu halten und zu predigen, aber nicht von der Kanzel, sondern vom Lesepult aus. - Auch in der Tochterkirche der anglikanischen, der protestantisch-bischöflichen Kirche Amerikas, beginnt da und dort ein Bischof Laien zum geistlichen Gehilfendienst, zum Evangelistendienst zu ordinieren, wie der Bischof von Brooklyn 1884 12 auf einmal ordinierte. Der andere Vorschlag, der jetzt viel diskutiert wird, ist der, die kanonische Bestimmung, daß ordinierte Kleriker keinerlei lukratives Geschäft betreiben dürfen, ausgenommen das eines Schullehrers, insoweit zu restringieren, daß auch Geschäftsleute vom Bischof wenigstens zu Diakonen ordiniert werden dürften, um so die Zahl der niederen Geistlichen rascher zu vermehren fur die wachsenden Evangelisierungsbedürfnisse. Aber er stößt auf Widerspruch, weil man davon eine Verringerung des Ansehens des Klerikerstandes befürchtet, und er berührt uns hier weniger, da unsere Kirche den Unterschied einer Ordination zum Diakon von der zum Priester nicht kennt. - Dagegen ist beachtenswert, daß in der anglikanischen Kirche mehrere hervorragend evangelistisch begabte Geistliche freiwillig ihre Stellen niederlegen, wie Aitken und Haslam, um sich als Evangelisten bald da, bald dorthin von ihren Amtsbrüdern in einzelne, weckungs- und erfrischungsbedürftige Gemeinden rufen zu lassen. U n d was die^e anglikanischen Geistlichen bis jetzt noch privatim tun, das hat seit einiger Zeit die schottische Freikirche bereits offiziell eingeführt, indem sie aus ihren Geistlichen von Zeit zu Zeit einen hierzu hervorragend befähigten zum „Evangelisten für Schottland" ernennt, d. h. zu einer Art von kirchlichem Reiseprediger für besonders stärkungsbedürftige Gemeinden. - Auch die Generalsynode der presbyterianischen Kirche in Canada hat vor kurzem (Juni 1888) ein besonderes Komitee eingesetzt für die Frage, wie „durch Brüder, welche die Gabe der Gewissensanfassung und Weckung der Gleichgültigen in besonderem Grade besitzen", evangelistische Gottesdienste auf Verlangen eingeführt und zu Nutz und Frommen der Kirche reguliert werden können. Doch dies nur beiläufig. - Wir sehen also: selbst da, w o die Prärogativen des Amts ganz besonders streng gewahrt werden, in den bischöflichen Kirchen, ist eine gewisse Verbindung des Laiengehilfen- oder Evangelistendienstes mit den bestehenden Amtsordnungen, sei es durch völlige Ein- oder losere Angliederung, bereits verwirklicht oder doch eingeleitet. Was ist denn nun etwa heute bei uns möglich in dieser Hinsicht? Dies - der letzte Punkt, den wir ins Auge fassen, bei dem ich ihnen gegenüber, verehrte Zuhörer, die Vorfrage, bzw. die Einrede mancher, ob denn überhaupt ein Anschluß, eine Verbindung zwischen dem bestehenden kirchlichen A m t und evangelistischen Hilfskräften wünschenswert, ruhig übergehen kann. Denn so viel hat die bisherige Erfahrung schon heute genügsam erwiesen, daß nicht bloß die Kirche an vielen Orten weitere Hilfskräfte, als sie selbst zur Zeit zu beschaffen vermag, nämlich der Laienevangeli-

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sten, bedarf, sondern ebenso auch diese des Anschlusses an und der Unterstützung durch die Organe der Kirche, die Ortsgeistlichkeit und die Gemeindeältesten, wenn sie anders im Frieden und auf größere Kreise sollen wirken können. Gewiß, auch ein außerkirchlicher Evangelist kann - namentlich in großen Kirchen und verwahrlosten Gemeinden - etwas ausrichten, einzelne Seelen gewinnen, auch ohne nach der Ortsgeistlichkeit im geringsten zu fragen. Aber größere Kreise wird er nicht leicht erreichen, sondern sich darauf beschränken müssen, in der Ecke, mehr in der Verborgenheit als in der Öffentlichkeit seinen Samen unter kleinen Häuflein auszustreuen. Wer dagegen das Volk erreichen, nicht einzelnen bloß, sondern Hunderten von geistlich Verschmachtenden in unsern großen Gemeinden das Brot des Lebens nahe bringen will, der muß Hand in Hand mit den Organen der Volkskirche arbeiten. Das hat die evangelistische Arbeit in vielen Städten bereits gezeigt. Und das ist es auch, was bei unsern heutigen Zuständen vor allem not tut. Andere dagegen sähen es gerne, daß auch diese Tätigkeit baldmöglichst durch besondere Ordnungen dem kirchlichen Organismus völlig eingegliedert werde, so daß dabei alles nicht bloß unter Billigung und Oberaufsicht, sondern nach unmittelbarer Leitung und Anordnung der kirchlichen Behörde geschähe. Dadurch werden, so könnte es scheinen, am einfachsten Konflikte und Reibungen vermieden, und verläuft alles ganz friedlich und geordnet. Solche Eingliederung ist auch in der Tat von selbst da vorhanden, wo entweder der Pfarrer selbst eine evangelistische Gabe besitzt und wirksam betätigt, sei es in der Kirche oder in anderen Lokalen (ζ. B. beim Eintritt in eine neue Gemeinde, die er in verkommenem Zustande vorfindet); oder wo sonst ein zu evangelistischer Tätigkeit befähigtes Gemeindeorgan, Presbyter oder Diakon, das pastorale Amt nach dieser Seite unterstützen und ergänzen kann. Da braucht man nicht erst einen Anschluß an die Kirche zu suchen. Doch diese Fälle werden selten genug sein. - Im allgemeinen aber, d. h. überall, wo besondere Organe diesen Hilfsdienst ausführen sollen, erheben sich gegen seine sofortige offizielle Eingliederung in den ganzen kirchlichen Verwaltungsorganismus, bzw. gegen völlige Überweisung der Sache an die kirchlichen Behörden, wie mir scheint, ebenso innere Bedenken als äußere Schwierigkeiten. Ich halte das Letztere weder für so schnell möglich, noch auch nur für ratsam, mindestens nicht für das jetzige Anfangsstadium. Es wird auch hier gelten, nicht den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun. Erwarte man doch bei Einfuhrung einer neuen Tätigkeitsform ins Gemeindeleben nicht unbillig viel von den kirchlichen Oberbehörden (im Unterschied von den Vorständen der Einzelgemeinden s. unten). Man kann die Konsistorien, die Provinzial- und Generalsynoden heute noch nicht durch dahingehende Anträge zu veranlassen suchen, durch neue Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsmaßregeln, überhaupt durch positive Schritte, jetzt schon diesen neuen Dienstzweig offiziell da und dort einzuführen. Und ob die Zeit hierfür schon sehr bald kommen wird, bleibt noch abzuwarten. Für heute wären wohl manche Mitglieder dieser Instanzen zum Urteilen und Beschließen in dieser Sache kaum orientiert genug. Sie müssen bei neuen Verordnungen oder gar neuen Gesetzen bzw. Zusätzen zu unserer Kirchenordnung ihren Weg mit aller Vorsicht gehen, und wollen bei einer neuen Erscheinung im kirchlichen Leben erst aus längerer Beobachtung ihrer Früchte sich ihr definitives Urteil bilden, um dann, wenn sich der Nutzen klar erwiesen hat, allmählich auch an Mittel und Wege zu denken, wie der Sache allgemein und ordnungsmäßig Raum geschafft werden kann innerhalb des ganzen Organismus des Kirchendienstes, und welche Normen oder doch Direktiven von oben herab den

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Gemeinden bei Einfuhrung dieses Dienstzweiges gegeben werden können. Dies braucht Zeit. Überall muß die Praxis der Theorie, auch dem theoretischen Ordnungenschaffen und Regelaufstellen eine Zeitlang vorangehen. Und die ZentralInstanzen sind in Bezug auf das kirchliche Leben doch gewiß mehr zum Regulieren als zum Produzieren und Einfuhren von Neuem da. Bei anderen, aus Pflicht und Not heraus geborenen neuen Tätigkeitsformen des kirchlichen Lebens, Heidenmission, Diakonissen- und Diakonenwesen und anderen Zweigen der inneren Mission bis neuestens zur Stadtmission ging's im wesentlichen auch nicht anders, als daß die kirchlichen Behörden zunächst ruhig prüften und dann mit der Zeit eine immer freundlichere Stellung dazu einnahmen, aber ohne diese Dinge unmittelbar selbst in die Hand zu nehmen. Wie sollte dies auf einmal anders werden? - Vollends die Perspektive, daß, wenn aus dem Gehilfendienst des Evangelisten eine offizielle Vorstufe des geistlichen Amtes gemacht würde und hierzu dann auch weitere Mittel, etwa durch Erhöhung der Kirchensteuer, flüssig gemacht werden, oder wenn Zusätze zu den Kirchenordnungen die staatliche Sanktion erhalten müßten, dann am Ende auch staatliche Behörden, besonders der Landtag, über die Existenzberechtigung kirchlicher Evangelisation das letzte Wort sprechen sollten, will ich Ihnen zur Andeutung der Schwierigkeiten einer sofortigen völligen Aufnahme dieser Tätigkeit in den landeskirchlichen Verwaltungsorganismen nicht erst lang eröffnen. Wohl aber deute ich auf eine naheliegende Gefahr, die es zweifelhaft erscheinen lassen muß, ob eine völlige Eingliederung in dem obigen Sinn, auch wenn möglich, überhaupt wünschenswert wäre. Evangelisation, wenn recht betrieben, ist (wie alle wirksame Predigt und Seelsorge, ja in einer Hinsicht - weil mehr aggressiv - noch mehr als diese) eine pneumatische Arbeit, ein unmittelbares Ringen mit der Macht der Sünde, des Weltgeistes, der Finsternis und ihres Fürsten um das rechtmäßige Eigentum des Herrn, die Seelen. Und wenn überall dieser allein fruchtschaffende Geist der Kraft von oben etwas Raum und einige freie Bewegung braucht, könnte er nicht leicht, wenn völlig eingeführt in die Normen einer noch etwas steif bureaukratischen Verwaltungsschablone, gar leicht gehindert, geschwächt, ja gedämpft, könnte nicht Routine, vielleicht alle menschlichen Vorschriften tadellos ausfuhrende, ganz glatt verlaufende, aber wenig mehr ausrichtende Routine werden, was spontane, eigentümliche und daher auch einigermaßen selbständig sich bewegende geistliche Kraftentfaltung sein muß, um wahrhaft wirksam zu werden und bleibende Frucht zu schaffen. - Kein sicherer Weg, eine Bewegung bald um ihre innerste Kraft zu bringen, als die Belastung derselben mit zu viel äußeren Vorschriften, gesetzlichen Normen und Schranken, unter deren Joch der Geistestrieb so leicht erlahmt und die Tätigkeit zum schablonenmäßigen Formalismus wird! Darum möchte ich gegenüber einer völligen Eingliederung in die Kirchenverwaltung den Evangelisationsbestrebungen einige Selbständigkeit erhalten sehen und sage zuvörderst: die Vorbereitung dieses Gehilfendienstes am Wort, die Auswahl und Ausbildung auch der kirchlichen Evangelisten muß Sache freier Vereine innerhalb der Kirche bleiben, ungefähr wie bei den Heidenmissionsgesellschaften oder Diakonissenhäusern. Wer hier etwa auf Schweden verweisen und lieber alles mögliche in die Hand des Kirchenregiments gelegt sehen möchte, der sei daran erinnert, daß dort die Kirche etwas unabhängiger vom Staat' und die Bischöfe ungleich selbständiger sind als bei uns Konsistorien und General-Superintendenten; und daß selbst in Schweden Auswahl und Erziehung jener Seemannsevangelisten von den

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Leitern eines Missionsseminars, also durch einen freien innerkirchlichen Verein geschieht. - Dasselbe dürfte auch die Meinung der Oberkirchenbehörde sein. Als ich vor einigen Jahren die Statuten unseres Deutschen Evangelisationsvereins dem Evangelischen Oberkirchenrat vorlegte, hatte man nichts daran auszusetzen. U n d als ich unsere Gedanken über Inangriffnahme des Werks durch einen freien, aber zu den kirchlichen Behörden durchaus freundlich stehenden, sie in alles blicken lassenden, ihre Oberaufsicht gern anerkennenden, auch Rat und Weisung von ihr annehmenden Verein auseinandersetzte, wurde dies als das einzig richtige und zur Zeit tunliche Verfahren anerkannt. „Ihr Verein", sagte mir ein Mitglied der Behörde, „muß eine ähnliche, freundlich mit der Kirchenbehörde verbundene, aber selbständige Stellung einnehmen, wie etwa die rheinische Mission. Selbst von oben herab die Sache einfuhren können wir nicht; wir haben schon kein Geld hierfür." Das war auch vollständig meine Ansicht gewesen. Ja, Sache freier, innerkichlicher Vereine, wie bei der äußern Mission. Dabei möchte ich aber ebenso auch das Wort „Vereine" etwas betonen gegenüber denen, welche alle evangelistische Tätigkeit in Privatanstrengungen einzelner Gläubiger zersplittert sehen wollen ohne Verein. Nicht als ob begabte und gereifte Christen für sich allein, ohne alle Komitees nicht auch etwas wirken könnten und sollten. Aber gegenüber der Größe des eingerissenen Schadens, und u m ihm einigermaßen systematisch entgegenwirken zu können, braucht es doch gewiß ein Vorgehen mit vereinten Kräften, braucht es ein Aufsammeln der gemachten Erfahrungen zum Besten der neu in diese schwere Arbeit Eintretenden, auch in der Regel spezielle Ausbildung für diesen Beruf, also einen Verein, der die Sache in die Hand nimmt, ganz ähnlich wie bei der äußeren Mission. Indes weil es sich bei der Evangelisation nicht, wie bei der Heidenmission, um auswärtige, der Kirchenbehörde nicht unterstellte Gebiete, sondern um innerkichlichen Boden handelt, der der Oberaufsicht des Kirchenregiments untersteht, u m Arbeit innerhalb gewisser kirchlicher Ordnungen, zu deren Aufrechterhaltung das Kirchenregiment eingesetzt ist, so wird hier die freundliche Verbindung zu einer etwas engeren, unmittelbareren Angliederung an den kirchlichen Organismus und namentlich im gegebenen Fall an die Organe der einzelnen Gemeinden werden müssen, in denen und für die gearbeitet werden soll. Wie jene völlige Eingliederung für schwierig und nicht unbedenklich, so halte ich eine geordnete, sei es dauernde oder jeweilige, Angliederung an die Gemeindeorgane bei uns so gut wie in andern Kirchen für möglich und durchaus wünschenswert. U n d dies denen gegenüber, die lieber alles ganz frei und ohne Rücksicht auf die bestehenden Ordnungen der Landeskirchen möchten ins Werk treten sehen, ob auch noch so viele Konflikte entstehen mögen, die doch wahrlich viel Segen dämpfen und oft nur Verbitterung zurücklassen. U n d über die Art und Weise dieser Angliederung , wie sie jetzt schon tunlich, ja zum Teil bereits etwas verwirklicht ist, gestatten Sie mir zum Schluß noch einige positive Grundlinien zu ziehen nach der Seite der Auswahl und Vorbildung, der Berufitng und Sendung der Evangelisten, ihrer Einfiihrung in ein bestimmtes Arbeitsgebiet und Stellung zu den Gemeindeorganen, und endlich in Hinsicht auf das Ziel ihrer Hilfsarbeit. Nach allen diesen Seiten dürfte sich mit einigem guten Willen von beiden Seiten eine freie und natürgemäße, den gegebenen Verhältnissen entsprechende Angliederung bewerkstelligen lassen. Daß die Tätigkeit eines innerkichlichen, zur Abhilfe der kirchlichen Notstände

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mitarbeitenden Vereins den Ordnungen der betreffenden Landeskirche und der allgemeinen Aufsicht des Kirchenregiments sich unterstellen, daß die Leiter des Vereins selbst, sowie die von ihnen auszusendenden Brüder alle Glieder und Abendmahlsgenossen dieser Kirche sein müssen, diese Vorbedingungen einer aufrichtigen Angliederung des Vereins an die kirchlichen Organe verstehen sich von selbst. Aber es kann schon in der Auswahl und Vorbildung teils eine freundliche Verbindung mit den kirchlichen Organen, teils eine Angliederung an das Aufsichtsrecht der Kirchenbehörde stattfinden. Geistliche, Presbyter, Vereinsleiter, ja überhaupt Gemeindeglieder mit geistlichem Blick mögen doch ja - ich wiederhole die Bitte - in der Umschau nach evangelistischen Gaben uns freundlichst helfen, damit diese nicht unter dem Schäffel bleiben, sondern zum Frommen der Kirche auf den rechten Leuchter gestellt werden, und also unsrer oder ähnlichen Anstalten tauglichejunge Männer zuweisen, etwa zwischen dem 23. und 30. Jahr, d. h. in dem Alter, w o sie reifere Charaktere zu werden beginnen und doch noch lernfähig genug sind. Helfen Sie doch alle um der N o t der Kirche willen mit, das Beste auszuwählen! Sodann geschieht die Bildung dieser Männer durchaus unter Vorwissen der Kirchenbehörde. Sie hat schon durch den letzten Bericht und von Anfang an vollen Einblick in unsern Studiengang erhalten. U n d wenn nun einige Brüder bei uns den Kursus durchlaufen haben, als reif zur Aussendung erkannt werden und die Abgangsprüfung zu bestehen haben, so kann und soll zu dieser ein Glied des Konsistoriums zugezogen werden, damit die Kirchenbehörde sich amtlich von dem überzeugen könne, was etwa Evangelisten nach dem Maß ihrer Kenntnisse leisten können. U n d solches Konsistorialmitglied soll mit dem Anstaltsvorstand das Abgangszeugnis unterzeichnen, damit die Gemeindevorstände, die einen Evangelisten berufen, zum voraus einiges Vertrauen zur Tüchtigkeit desselben haben, und ihn mit gutem Gewissen in den Gehilfendienst an ihrer Gemeinde einführen können. Auch das geschieht ja so ähnlich bei Missionszöglingen. - Diese Angliederung an das Aufsichts- und Qualifikationserteilungsrecht der Kirchenbehörde für kirchlichen Dienst hat vor wenigen Tagen bei uns bereits stattgefunden, indem ein Mitglied des Koblenzer Konsistoriums bei der Abgangsprüfung der zwei jetzt auszusendenden Brüder sich mit beteiligte und ihr Zeugnis mit unterschrieb, und zwar in Vertretung des zur Zeit abwesenden Herrn Generalsuperintendenten, der, wie er freundlich zusagt, in den kommenden Jahren selbst anwesend sein wird. Dieses Band ist also bereits geknüpft. Auch in Berufimg und Sendung ist friedlicher Anschluß an den kirchlichen Organismus und seine bestehenden Ordnungen ganz wohl möglich, sobald man den Grundsatz festhält, daß die Berufung zu evangelistischer Arbeit an einer bestimmten Gemeinde von den Gemeindeorganen, bzw. von einem inneren Missionsverein, in dem dann aber immer auch einige Geistliche sein sollten, erfolgen muß nach Verabredung mit den Vorstehern der Evangelistenschule, die nach bestem Wissen und Gewissen die für das jeweilige Arbeitsfeld tauglichste Kraft unter ihren Zöglingen auswählen und abordnen müssen. Die Sendung muß also nie willkürlich und nie planlos in ein Land überhaupt, sondern dahin geschehen, w o der Herr die Türe auftut durch den Ruf der geordneten Hirten und Vorsteher. So wenigstens in der Regel. Ich gebe vollständig zu, daß es hier Ausnahmen geben muß, besonders in sehr großen Städten. Ich nenne nur eine. Wenn uns ein Pastor an einer Großstadtgemeinde dringend um einen Evangelisten als Gehilfen in der fast ganz darniederliegenden Seelsorge bittet, dabei aber uns mitteilt, daß die Mehrzahl

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seiner Presbyter von Stadtmission und Evangelisation als „Muckerei" nichts wissen, aber auch keinen weiteren Geistlichen anstellen will, sollen wir ihm da antworten: L. Freund, wir müssen so lange mit der Sendung eines Bruders warten, bis dein ganzes Presbyterium damit einverstanden ist? Sollen wir ihm mit solcher Antwort vollends das Herz brechen? Ich denke nicht; sondern wir sollen um der armen verhungernden Seelen willen dem einsamen Hirten Hilfe senden, natürlich aber dies zugleich dem Oberhirten mitteilen, der auch in solchem Fall - und er kam vor - gar nichts dawider hatte. Da, wo Gleichgültigkeit, Weltsinn, Rationalismus und Unglaube auch viele Gemeindeorgane und einen Teil der Hirten selbst so durchdrungen hat, daß sie die tiefen geistlichen Bedürfnisse der Gemeinde gar nicht mehr anerkennen und fur Abhilfe sorgen wollen, da muß man öfters zufrieden sein, wenn von kirchlichen Organen nur eines oder einige wenige den Notruf ergehen lassen, und kann man warten auf das Belieben der Mehrzahl. Aber dieser eine Anknüpfungspunkt an das bestehende Amt sollte dann wenigstens nicht fehlen. Und darüber herrscht noch große Meinungsverschiedenheit. Manche halten uns da entgegen: „Gerade da, wo weder Geistliche noch Presbyter etwas von Evangelisation wissen wollen, wäre sie am nötigsten. Darum kann man sich nicht binden an den Ruf durch kirchliche Organe. Jeder gläubige Bruder oder Schwester mag rufen." Aber zu welcher Unordnung und Verwirrung der Seelen müßte dies schließlich fuhren! Wie, gilt denn das reformatorische Prinzip nicht mehr, daß in der Kirche nur derjenige öffentlich lehren solle, der ordnungsmäßig berufen ist? Und auch dieser Gehilfendienst außerhalb des Sonntagsgottesdienstes gehört doch mit zur öffentlichen Lehre, auch wenn er in bescheidenen Lokalen stattfindet. Oder soll am Ende das Amt gar aufgelöst werden? Das kann nur wollen, wer in der Gemeinde immer nur einzelne Gläubige sieht, von denen jeder kraft des allgemeinen Priestertums Erbauungsrecht und -Pflicht hat. Betrachtet man sie aber auch als Ganzes, als einen Leib, wie die Schrift sagt, so braucht dieser Leib besondere Organe zu besonderen Funktionen. Und darum fordert das allgemeine Priestertum das Amt in der Gemeinde als sein Korrelat. Jeder Amtsdienst an der Gemeinde erheischt aber eine bestimmte Ordnung und Norm. Und diese kann unmöglich aufrecht erhalten werden, wenn schon in der Berufung zu einem Dienst Willkür herrscht. Unsre Gemeinden haben doch durch Bekenntnis, Verfassung, Gottesdienstform und bestellte Amtsträger eine bestimmte Ordnung; sie sind ein organisierter Körper, mindestens äußerlich. Wer oder was gibt uns denn nun ein Recht, diese bestehenden Ordnungen gar nicht zu beachten, nach dem Recht des vorhandenen Amts gar nicht zu fragen? Nur etwa wenn einmal die Hirten und Oberhirten, Gemeindeorgane und Gemeinden miteinander in tiefen Schlaf gesunken wären, und aus dem allgemeinen Tod heraus ein einsames Stimmlein einen Evangelisten herbeiriefe: „Komm herüber undhilfuns", „stärke das Übrige, das sterben will!" und dieser erhielte bei aufrichtiger Selbstprüfung die innere Gewißheit, er sei von Gott berufen, hier die helfende Hand zu reichen, obschon die kirchlichen Organe ihm alle Hindernisse in den Weg legen, da müßte - ähnlich wie bei Evangelisationsbestrebungen unter geistlich toten Katholiken - wieder gelten: Gott mehr gehorchen als verblendeten Menschen! Da müßte ein Gläubiger vom höchsten Standpunkt, dem der Reichsgottesförderung aus sagen: laß ihn mit Frieden, der Herr hat ihn gesandt, neues Leben zu stiften, ob es auch die Menschen heute noch nicht verstehen! Aber wo wäre dies bei uns der Fall? Gibt es da nicht neben vielen Gemeinden und Amtsträgern, welche diesen Gehilfendienst sehr nötig hätten und zur Zeit noch

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abweisen, auch viele andere, die ihn bei ihren wachsenden seelsorgerlichen Aufgaben dankbar willkommen heißen, und die Türe zur Schafhürde gern auftun, daß man nicht nötig hat über den Zaun zu steigen? Die sich öffnende Türe ist der deutliche Fingerzeig des Herrn, wohin man senden soll. Denn Gott ist ein Gott der Ordnung, dessen Wort gerade auch bei Fragen der Erbauung der Gemeinde uns vorschreibt: lasset alles ehrlich und ordentlich d. h. wohlanständig und ordnungsgemäß zugehen (kata taxin) 1. Kor. 14, 40. - ist nicht Christus selbst uns darin vorangegangen? Als jener samaritische Markt, in dem er herbergen wollte, ihn nicht aufnahm (Luk. 9), hat Er sich etwa mit Gewalt demselben aufgedrängt, in dem Gedanken: der zeigt in solcher Ablehnung, daß er vor andern es nötig hat, evangelisiert und über die Pflicht der Gottes- und Nächstenliebe etwas aufgeklärt zu werden? Nein, Er ging weiter, bis sich ihm w o anders eine Türe auftat. Desgleichen bei den Gadarenern, die Ihn bitten, aus ihrer Gegend zu weichen, obschon auch sie seine Predigt wohl vor manchen anderen nötig gehabt hätten. - Wie Paulus durch Phrygien und Galatien zieht und predigen will, wird „ihm gewehret von dem heiligen Geist, zu reden das Wort in Asia" Apg. 16,6. Das Land ist noch ganz finster. Soll er nicht bleiben? Nein, er ist nicht eigensinnig, sondern läßt sich weiter leiten und bringt nach Gottes Leitung und Ordnung das Evangelium nach Europa. Also dahin gehen, wo der Herr die Türe öffnet! Ja, die Welt soll evangelisiert werden; aber nicht nach dem Plan, den diese oder jene Menschen sich in den Kopfsetzen und hartnäckig verfolgen, sondern nach gottgeordnetem Plan, den man erst nach und nach erkennt durch die Fingerzeige Gottes, die Er uns sendet hier durch ö f f n e n , dort vielleicht noch eine Zeitlang durch Verschlossenhalten der Türen. So in der Heidenmission und so auch in der Evangelisation. U n d darum sagen wir auch bei Berufung und Sendung: Anschluß an das Bestehende; zunächst dahin gehen, w o die Kirche sich helfen lassen will und der Herr die Türe auftut, damit durch den tatsächlichen Segen, der hier entsteht, mit der Zeit auch andern die Augen aufgehen und so immer weitere Türen sich öffnen. Herrscht irgendwo viel Schlaf und Tod, sperrt sich laodicenische Sattheit der Gemeinde oder eifersüchtiges alles allein Tunwollen des Amtes gegen diese Hilfe, auch w o sie sehr nottäte, so bringe man die Sache vor den Oberherrn der Kirche, der den Schlüssel Davids hat, auftut und zuschließt, der auch vor einer kleinen Kraft eine offene Tür geben kann, und harre seiner Winke. Bleibt die Türe noch länger zu, so erkenne man darin einen Wink, daß nach seinem Plan zunächst noch an andern Gemeinden gearbeitet werden solle. Dabei bleibt es auch unbenommen, die ernste Verantwortung für Abweisung der Hilfe den Gemeindeorganen nachdrücklich aufs Gewissen zu legen, auch etwa auf die Gefahr zu deuten, daß wenn kirchliche Evangelisten abgewiesen werden, dann außerkirchliche bald genug kommen und fur sich ernten könnten. Auch kann aus dem Schoß der Gemeinde selbst die Bitte u m Berufung eines Evangelisten an das Presbyterium ergehen. Einige ernstere Elemente sind ja fast überall da; und solchem Andringen - das zeigen Beispiele - kann der Gemeindevorstand in der Regel nicht lange widerstehen. Das sind erlaubte Mittel zur Türöffnung. Aber mit Gewalt stoße man die Türen nicht auf, woraus immer viel Verbitterung und Parteigezänke, ja gewöhnlich mehr Verwirrung und Unheil als wirklicher Segen entsteht. „Warte auf Berufung", mahnt Luther; „wenn der Herr deiner bedürfen wird, so wird er dich rufen; bis dahin sei stille, und wärest du noch weiser als Salomo und Daniel, laß dich nicht fortreißen von deinem Wissen". Auch dieses Stück, auf Berufung durch Gemeindeorgane warten, ist bei unsern

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Sendungen bereits ins Leben getreten. So in Berlin, und vor kurzem in Wiesbaden und Darmstadt. - U n d aus diesem Stück der Angliederung ergibt sich von selbst das dritte. Auch in der Einfohrung in ein bestimmtes Arbeitsgebiet und in der Stellung zur Gemeinde und dem geordneten Amt kann und soll der friedliche Anschluß an das Bestehende zu Tage treten. Ein eben unsere Bildungsanstalt Verlassender soll nach unsem Grundsätzen nicht als Evangelist frei umherziehen. Wir halten das für unpädagogisch schon hinsichtlich seines eigenen inneren Lebens, für viel zu versuchlich, ja in vieler Hinsicht fur schädlich. Vielmehr senden wir zunächst in feste Stellung an einer bestimmten Gemeinde, bzw. in feste Verbindung mit einem innerkirchlichen, evangelistische Zwecke verfolgenden Komitee. Alle bedeutenderen Evangelisten haben, soviel mir bekannt, zuerst längere Zeit an bestimmten Gemeinden, Jünglingsvereinen, Sonntagsschulen usw. gearbeitet, und da erst dienen und in bestehende O r d nungen sich fugen lernen müssen. So sollen auch unsre Boten, wie sie von kirchlichen Organen berufen werden und von diesen dann ihren Unterhalt empfangen, so auch von ihnen in bestimmte Tätigkeit an der Gemeinde eingewiesen, von einem der Gemeindepfarrer in die Arbeit eingeführt werden und seinen Weisungen folgen. Wie es Gemeindepfleger gibt, so sollen auchjene ähnliche Stellung einnehmen, dabei aber eine wesentlich evangelistische Tätigkeit entfalten, d. h. nicht bloß auf Hausbesuche bei Armen und auf Hausandachten beschränkt sein, sondern auch Ansprachen an größere Versammlungen in außerkirchlichen Lokalen halten, keine Sakramente verwalten, aber Gehilfendienst in der Seelsorge tun, dabei namentlich auch christliche Vereine leiten, bei der Sonntagsschule sich mitbeteiligen dürfen und dergl. Schon hat sich ja heute ein Gemeindediakonat an einigen Orten eingebürgert, mit dem evangelistische Tätigkeit verbunden ist; so in Kassel, in Frankfurt und auch hier in Wuppertal. Dies ist die einfachste Angliederung an den Organismus der einzelnen Gemeinde, eine höhere und, will's Gott, besonders wirksame Form der Stadtmission, und eine, deren Einfuhrung von Seiten des Kirchenregiments nichts im Wege stehen dürfte. Die Hauptsache ist, daß die Gemeindeorgane oder ein Lokalkomitee aus der Gemeinde, in dem dann aber immer auch das geistliche A m t vertreten sein muß, sich willig finden lassen, den Unterhalt eines solchen Gehilfen am Wort zu übernehmen. O b daraus dann mit der Zeit ein förmliches, auch kirchenordnungsmäßig anerkanntes Amt, bzw. eine Art Unterstufe des bisherigen geistlichen Amtes mit genau abgegrenzten Rechten und Pflichten werden soll, darüber läßt sich streiten. Aber für heute ist diese Frage noch etwas verfrüht. Man warte ab, ob sich ein Bedürfnis hierzu zeigt, wenn die Sache einige Zeit hindurch im Gang gewesen sein wird. Vorerst ist mit der Einführung des Evangelisten in sein Arbeitsgebiet durch das Gemeindeamt auch seine Gehilfenstellung zu diesem gegeben. Er muß von ihm Weisung empfangen; er berät mit ihm über Behandlung besonders schwieriger Fälle; er arbeitet ihm vor und in die Hände; er führt die zerstreuten und vielleicht seither vernachlässigten Schafe dem Hirten zu regelmäßiger Bedienung mit Wort und Sakrament zu. Er soll sich daher nicht als Nebenpastor gerieren, nicht auf Verdunkelung des bestehenden Amtes ausgehen, sondern an dasselbe sich anlehnen hin und wiederum von demselben in seiner Tätigkeit geschützt werden. Aber das Hirtenamt soll da, w o ein dringendes Bedürfnis seiner Verstärkung durch Gehilfen vorliegt, sich doch auch helfen lassen wollen. U n d leider ist dies bis jetzt nicht einmal da überall der Fall, w o in der Seelsorge seither zu wenig geschah, ja w o die amtlichen Kräfte auch bei voller

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Hingebung unmöglich hierzu ausreichen könnten. Darum eben ist von beiden Seiten guter Wille nötig. Doch dürfte es vielen aus dem Herzen gesprochen sein, was mir neulich der Generalsuperintendent einer nördlichen Provinz sagte: „Wenn die Evangelisten in feste Stellung an einer Gemeinde eintreten, dann ist auch mein letztes Bedenken gehoben!" Schwieriger, aber doch nicht unmöglich wird die Angliederung an das Bestehende sein, wenn das Arbeitsfeld eines Evangelisten ein größerer Bezirk auf dem Lande ist. Hier wird selten eine oder einige Gemeinden zusammen seinen Unterhalt übernehmen wollen oder können. Er wird ihn fast immer von einer Gesellschaft beziehen müssen. Hier wäre naturgemäß der geistliche Vorstand des betreffenden Distrikts, der Dekan, Superintendent, Propst das Organ, das einladen, berufen und anweisen sollte. Auch das geschieht ja nicht überall, selbst wo es sehr nötig wäre. Aber doch fehlen auch hier treue und weitblickende Oberhirten keineswegs, die namentlich in kirchenarmen und klerusarmen Provinzen an solcher Gehilfenarbeit froh sind; die in den kirchlichen Evangelisten ein treffliches Schutzmittel gegen allerlei separatistische Tendenzen, oder auch in geistlich sehr geweckten Distrikten gegen manche Gefahren ungesunder, schwärmerischer Aufregung erkennen und gebrauchen. Es gibt Gegenden, darin ein Hunger nach dem Wort Gottes erst wieder geweckt werden muß. Dazu sind Evangelisten mit ihren Besuchen und Bibelstunden in entlegenen Höfen und Weilern, wo abgesehen von Kasualien ein Pfarrer fast nie hinkommt, überaus dienlich. Wiederum gibt es Gegenden, wo die Leute nach Bibelstunden so begierig sind, daß man deren nicht genug für sie halten kann, und wo sie dann ihren Hunger auch durch Leute befriedigen lassen, die nicht immer gesunde Lehren vortragen. Da kann und soll der Oberhirte dann kirchliche Evangelisten dazu verwenden, weil er nicht Geistlliche genug hierfür hat. In einer Pastoralkonferenz im Nassauischen wurde vor einiger Zeit von einem Geistlichen sehr richtig daraufhingewiesen, es sollte in manchen Gebieten jeder Dekan einen Evangelisten wie einen Adjutanten zur Verfugung haben, um bei den auf dem Lande häufig ausbrechenden religiösen Bewegungen ihn sofort verwenden zu können. Der würde also dann am Ort des Dekans wohnen, der ganzen Diözese dienen, nach Bedürfnis bald da, bald dort, bald auf kürzere, bald auf längere Zeit, wo es gerade am meisten not tut, verwendet werden, und wäre damit von selbst den kirchlichen Organen der Diözese angegliedert. Mit gutem Willen läßt sich auch hier viel machen. Was endlich die eigentlichen Reiseevangelisten betrifft, die in keiner festen Stellung weder an einer Gemeinde, noch in einem Distrikt stehen, sondern bald in dieser, bald in jener größeren Stadt (oder auch in weckungsbedürftigen größeren Landgemeinden) zeitweise evangelisieren sollen, so meine ich, es sollten zu diesem schweren, gar viel Kraft und Ausdauer, viel Weisheit und Takt erfordernden Dienst eben nur, wie oben bemerkt, die Begabtesten, Erprobtesten und Demütigsten unter ihnen verwendet werden. Am besten Ordinierte, Predigerevangelisten, die auch auf Kanzeln zu Sonntagsgottesdiensten zugelassen werden können, oder mindestens solche, die von der Kirchenbehörde zu solchem Gehilfendienst empfohlen sind, damit Geistliche und Gemeinden zum voraus Vertrauen haben können. Und dies werden immer nur sehr wenige sein. Auch sie sollen nur dahin gehen, wo kirchliche Organe sie rufen, und müssen an jedem Ort mindestens von einem Teil der Geistlichkeit wie von gläubigen Laien unterstützt werden, aber dann auch die Früchte ihrer Arbeit den 271

vorhandenen geistlichen Kräften zur Weiterpflege übergeben, so daß sie - ob auch nur periodisch - in ihrem Werk dem bestehenden Amt zur Aushilfe angegliedert erscheinen. Ohne solche ordentliche Berufung und friedliche Zusammenarbeit mit kirchlichen Organen (die ζ. B. auch der Evangelist Moody überall zur Vorbedingung seines Kommens macht) wird das auf eigene Faust bald da, bald dort Auftauchen, bzw. von einzelnen Brüdern oder Schwestern Sichrufenlassen, vielleicht zu einem vielgeschäftigen Hin- und Hereilen, aber in der Regel zu wenig bleibender Frucht fuhren, mehr Aufregung und Streit, als nachhaltigen Segen stiften. Damit ist auch schon das Letzte angedeutet, die Angliederung an das Bestehende im Ziel dieser Hilfsarbeit. Der kirchliche Evangelist muß, wie jeder echte Diener am Wort selbstlos arbeiten, die Leute nicht zu sich, sondern zum Erzhirten zu fuhren und bekehren suchen, und ebenso auch das, was der Herr ihm schenkt an Frucht, nicht fur sich behalten wollen in separaten Gemeinschaften, sondern zur Stärkung und geistlichen Förderung des ganzen Gemeindelebens verwenden. Er soll die Seelen geordneten Seelsorgern zufuhren, sie lehren, Wort und Sakrament wieder fleißiger zu gebrauchen und dadurch ihren Sonntag wieder besser zu heiligen. Er soll auch als Leiter von christlichen Vereinen diese zur Hebung des Gemeindelebens benutzen. In den Riesenparochien der Großstädte muß die Evangelisation, wie ich schon eingangs andeutete, ihre letzte äußert Spitze in der Vervielfältigung der Gemeinden, in der Vermehrung der Kirchen und Geistlichen, in Spaltung der absurd großen Gemeindekörper in pastorierbare kleinere suchen, weil nur durch regelmäßige seelsorgerliche Bedienung dem geistlichen Elend gründlich und auf die Dauer abzuhelfen ist. Aber, ich wiederhole es, zu dieser viele Opfer fordernden Gemeindevermehrung muß das innere Verlangen erst tiefer geweckt werden durch Evangelisation. Tote Gemeinden, leere Kirchen wollen keine Teilung. Daher erst Sammlung einer wieder mehr nach Erbauung verlangenden Gemeinde um das Wort durch Bibelstunden hin und her in Häusern. Dann zieht dieses geistliche Bauen auch das äußere mit Kalk und Steinen allmählich nach sich. Denn jeder auch nur einigermaßen zum Glauben oder doch zum ernsten Suchen und Beten Zurückgeführte sucht von selbst die Gemeinschaft Gleichgesinnter. Und dieses erwachende tiefe Gemeinschaftsbedürfnis fuhrt mit der Zeit auch zu äußerem Zusammenschluß, zu neuem Gemeindeverband, wenn die Mutterkirche zu seiner Befriedigung nicht mehr ausreicht. Dieser vorangehende innere Bau wird dann auch, je tiefer er Grund legt, um so mehr die werdende neue Gemeinde instand setzen, sich mit der Zeit Hirten zu wählen, die sie wohl versorgen. Geschieht das, so ist der Evangelistendienst wie von vornherein durch Überwachung ihrer Ausbildung, Legitimation durch Abgangsprüfung unter den Augen der kirchlichen Behörde, sodann durch Berufung und Einfuhrung in bestimmte Tätigkeit seitens kirchlicher Organe, durch Mitarbeit in Gehilfenstellung mit dem bestehenden Amt, so auch in seinen Zielpunkten, Aufrichtung des Reiches Gottes in den Herzen, Vermehrung des geistlichen Salzes zur Stärkung des Glaubenslebens der Gemeinde und Kirche, ja auch äußerlich zur besseren Organisierung des kirchlichen Lebens der Großstädte und auch vieler Landbezirke, also in seinem Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt dem kirchlichen Organismus angegliedert, und trägt seine Früchte in Eintracht mit dem bestehenden Amt. Verehrte Zuhörer! Ich achte, eine in diesem Sinn aufgefaßte und schon etwas verwirklichte Evangelisation darf wohl vor die Kirche mit der Bitte treten, das Mißtrauen gegen diese Tätigkeitsform um der dringenden Not willen doch endlich allerseits aufzugeben und der Kirche dienen wollende Evangelistenarbeit nicht mit

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außerkirchlicher zusammenzuwerfen. Ich halte einen längeren Aufschub der Neuevangelisierung unsrer entchristlichten Volksteile mit allen uns zu Gebot stehenden Mitteln, auch des Laienhilfsdienstes am Wort für sehr gefährlich. Selbst viele Zweige unsrer heutigen inneren Mission müssen sich allmählich veräußerlichen, in äußerem Werkdienst aufgehen, wenn sie nicht gleichzeitig die innerste Mission an den Seelen, ihre Gewinnung für das Reich des Herrn stärker betonen und lebhafter verfolgen. Aber die Gefahr für unsere deutschen Landeskirchen durch Abweisen dieses Gehilfendienstes wäre besonders groß. Ich habe mich Jahre lang bemüht, die Fehler und Versäumnisse auswärtiger Landeskirchen, die zu verhängnisvollen Rissen führten, im Detail zu studieren. Ich fand: es waren im wesentlichen stets die gleichen. Die Kirchen erkannten nicht die Zeit ihrer Heimsuchung. Bei tieferem inneren Verfall sandte Gott immer gnädig Weckstimmen, die von der verkehrten Bahn zur einen, alten Heilsquelle des Evangeliums der Kirche zurückriefen. Die Kirchenleiter wollten nicht hören, nicht verstehen. Da mußten sie erst durch schweren Verlust klug werden. - Fallen wir nicht bei den Millionen der unsrer Kirche heute Entfremdeten in denselben Fehler! Verwirre man doch das Urteil vieler nicht durch abschätzige Titel: Pietismus, Methodismus, Ausländerei, Separatismus und Sektiererei, die man oft einer Sache geben hört, die einfach hochnotwendige kirchliche Selbsthilfe ist, der sicherste Weg für die Kirche, sich des Zerbröckeins zu erwehren! Was wir wollen ist nichts anderes als stärkere Mobilmachung der Kräfte der Kirche gegen Gefahren von innen und außen. Gegner der Landeskirchen, soweit sie engherzig nur an Vermehrung ihrer Denomination aus der Kirche heraus denken, die haben Grund, kirchliche Evangelisation etwas zu fürchten. Denn durch diese wird die außerkirchliche immer mehr überflüssig. Vor Jahren, als ich in einer Broschüre über die methodistische Frage auf den nötigen Selbstschutz der Kirche durch Evangelisation hinwies, da kam einiger Schrecken in manche freikirchliche Kreise. Und bald darauf erschien ein durchreisender auswärtiger Bischof bei mir, und bekannte mir folgendes: „Ich habe Ihre Schrift mit meinen Geistlichen gelesen und wieder gelesen und ihnen erklärt: merkt auf, Brüder, ob die deutsche Kirche das ins Werk setzt, wozu sie hier aufgefordert wird, - kirchliche Evangelisation. Tut sie es, dann könnt ihr eure Koffer packen, dann ist für eure Mission in Deutschland kein Bedürfnis mehr." - Eine bessere Rechtfertigung meiner Vorschläge als aus diesem Munde kann ich mir nicht denken. Der Mann hat mich und meine Absichten verstanden! Und meine eigene Kirche sollte ihr Auge verschließen? Sollten denn auch ihr erst ernste Verluste die Augen öffnen können? Nun, dann soll sie wenigstens dereinst nicht klagen können, sie sei nicht gewarnt worden! Die Zeit ist günstig. Man sieht die Notwendigkeit kräftiger Inangriffnahme der Evangelisation von Seiten der Kirche an höherem Orte und in immer weiteren Kreisen, Gott sei Dank! heute immer mehr ein. Der evangelisch- kirchliche Hilfsverein ist ein Symptom der günstigen Zeit. Benützen wir sie, bieten wir alles auf, daß die kirchlichen Zustände an vielen Orten nicht den Grad der Unheilbarkeit erreichen, so daß es sich nur noch um Gewinnung einzelner aus der verlorenen und verloren bleibenden Masse heraus handeln kann. - Kein Jahrhundert hat, wenn wir auf die Tätigkeit der christlichen Kirchen überhaupt sehen, je so viel getan zur Evangelisierung der Welt als unseres. Aber in Deutschland sind, was kirchliche Verpflegung der Volksmassen betrifft, in keinem Jahrhundert, seitdem es eine evangelische Kirche

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gibt, je solche Notstände und schon so geraume Zeit hindurch im wesentlichen ungebessert an den Tag getreten, als in unserem. Tun wir doch allseitig das Unsere, daß wir jetzt gegen Ende des Jahrhunderts die religiös kirchlichen Zustände dem kommenden Geschlecht besser und hoffnungsvoller hinterlassen, als wir sie seit Jahrzehnten überkommen haben! Und zeigen sich bei der so schweren Besserungsarbeit da und dort Mißgriffe und Unvollkommenheiten, so betrachte man dies doch nicht als einen Beweis, daß lieber gar nichts geschehen sollte, sondern nur als Fingerzeig, wo man es besser und gründlicher machen muß. Darum - nicht viel streiten, sondern handeln, raten und helfen. Hinein in die Heidenwelt, immer tiefer, immer weiter! rief uns der gestrige Tag dieser Festwoche mit seiner Missionsfeier zu. Hinein mit dem Evangelium in die Heiden der deutschen Christenwelt! sagt uns der heutige. Möge er einen Schritt vorwärts zur Lösung dieser großen, brennenden Aufgabe im Geist des Friedens bezeichnen! denn „die Frucht der Gerechtigkeit wird gesäet im Frieden denen, die den Frieden halten"."

Nr. 8 Auszüge aus dem Gästebuch des Inspektors der Sudan-Pionier Mission, Theodor Ziemendorff (1837-1912), in Wiesbaden. 1881-1912. Aus dem Privatbesitz von Frau Pfarrerin Adelheid Ziemendorff, Gießen. 1. Konferenzen im Hause des Pfarrers Ziemendorff, Wiesbaden im Zusammenhang mit der Sudan Pionier Mission und der „Bibelschule" des Theodor Jellinghaus (Vgl. J. Held, Anfänge einer deutschen Mohammedanermission. Rückblick auf die ersten 25 Jahre der Sudan-Pionier Mission 1900-1925. Wiesbaden 1925.) 10.-14. Oct. i898 Grüße bei den Versammlungen am . . . v. Knobeisdorff, Oberleutnant a. D. „Bako", Paul Jellinghaus, R. Horst, Pfarrer, Mansbach, Hessen, Frieda Horst, geb. Jellinghaus, Otto Stockmayer, Hauptweil, J. A. Hefter, geb. Löwenthal, Theodor Jellinghaus, Potsdam, A. Rüthnick, geb. Grimm aus München, Elisabeth Groeben, Lydia Groeben, Frau Pfarrer Kaldenbach, Ackerbach. 17.-20. Oct. 1899 Conferenz Gäste Ps 27,1 J. Eggau, P. vom Elisabethenstift in Darmstadt, O. Schulz, Pfr. in Frankenheim, Frieda Schulz, Schwester Willy Martens, J. Goetz, Missionar ζ. Z. in Metzingen Wrttmbrg, Diakon Greiner aus Worms, Pfr. Dr. Veraconius, Wald-Verlesbach (?) Rheinhessen, Alwine Haacks. 8.-12. Oct. 1900 Conferenz Ebr. 13,9 Anna v. Nathusius, geb. Freiin v. Massenbach, E. F. Ströter, Frances Tidemann, Hamburg-Meiningen, Hannah Nordsieck, Blankenburg Schwarzathal, J. Deggau, F. Autenrieth 1.-4. Oct. 1901 Conferenz Prediger Seher, Wandsbeck, J. Voget, Eitorf, Jac. Vetter, Evangelist, W. Michaiis, Horst, Pfr. in Mansbach, C. H. Rappard, St. Chrischona, G. v. Alten geb. Siebenbürger, Theodor Jellinghaus.

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15.-17. Oct. 1902 Conferenz Brockes, Pastor, Dr. Langmesser, C. H. Rappard, R. Horst, Th. Jellinghaus. 7.-9. Oct. 1903 Gäste bei der Conferenz Otto Lüdecke, Staßfurt, Α. Rüthnick, Charlotte Lück, Gonsenheim/Mainz, Jac. Vetter, Amy Hudson Taylor, Amelie von Massenbach, Pinne, Mia Rappard, St. Chrischona, Else Bartels. 4.-7. Oct. 1904 SPM & Conferenz C. H. Rappard, Elisabeth Freifrau von Thüngen, Kaufmann Ulrich aus Cassel, Schwester Willy Martens, Cath. Enderlin, Jac. Vetter, Th. Jellinghaus. 9.-12. Oct. 1905 Conferenz Ebräer 13,8 C. H. Rappard, Schwester Martens, Dr. Langmesser, Pfr. Hild aus Bornich, Prediger Greiner, Worms, Pfr. Hahn, Friedrichsdorf, Schwester Anna Krüger, Weisenau, Frau Korf, Holzappel, Pfr. W. Ziemendorff, Holzappel. 16.-18. Oct. 1906 S. G. Fröhlich, Hrch. Ulrich, E. Stüwe. Jac. Vetter, Friedrich Würz, Basel, Dr. med. Willy G. Fröhlich, Annie Fröhlich-Streiff, Frau Babette Staeger. 8.-10. Oct. 1907 Conferenz D. H. Dolman, J. Warneck, lie., Rhein. Miss, auf Sumatra, F. Würz, Miss.-Sekr. Basel, C. H. Rappard, Dora Rappard geb. Gobat, Jac. Vetter, Anna Rüthnick, J. Enderlein. 6.-8. Oct. 1908 Α. Langmesser, Carl Meinhof 12.-14. Oct. 1909 Conferenz u. Abordnung Schwester Anna Weil, F. Mockerts Fr. u. Frau, Amelie Massenbach und Monika M. und Barbara M. aus Berlin, D. H. Dolman, Η. Dolman, Schwester Willy Martens. 4.-6. Oct. 1910 Conferenz D. H. Dolman 10.-12. Oct. 1911 Conferenz u. S.P.M. Abordnung Gordon, Mary Kilgore Gordon, D. Westermann, Berlin, Marie Haack, Neuhaidensleben, Elisabeth Haack, Bad Kreuznach, Ida Lippold, Tempelhof, Paul Bornhak, Pastor aus Elberfeld, Elisabeth Mockert, Marie Agnes Hohenlohe, D. H. Dolman, Molly Siedel, Anni Wedel, Helene v. Wedel. 21.-24. Oct. 1912 Conferenz F. Veiel, Sartorius, B.-Barmen, Pastor Oestreicher, Bethel, Prof. Westermann, Berlin, Pastor Laible, Leipzig, Pf. Mockert, Frankfurt a. M.,J. Humbert, cand. d. S.P.M.,J. Edgar Schäfer, Miss. d. S.P.M., ErnyMadh, Prediger Spemann, Crefeld, Dr. Jellinghaus. 2. Einzelne Eintragungen (die Namen der Verwandten sind nicht berücksichtigt). Amalie von Hahn, geb. Gräfin Keyserling Schwester Olga von Lützerode, Oberin des Clementinenhauses in Hannover Elisabeth Goetz aus Bethesda bei Berlin J. Brown Douglas, Edinburgh

11. 5.-15. 6.1881 3. Juni 1882 8. 6.-23.6.1882 10. 7.1882 275

D William Washam Friedrich und Ida v. Bodelschwingh W. Haarbeck, Pfr. in Haiger Meta von Bodelschwingh W. Burchell Friend Elias Schrenk 19. Sept. 1831 (eigentlich:) Willy Villaret aus Riga Claus GrafEgloffstein Georg von Viebahn Ε. Schrenk Ed. Stephens, Br. Guiana. So. America Massow geb. Behr Georg von Viebahn Maria " " F. W. " " E. Zimmermann „Johanneum" Bonn J. Thumm E. Schrenk Johannes Zimmermann Ernst " GrafM. Korff (Dein treu verbundener im Auferstandenen) Friederike von Letto Vorbeck, geb. v. Bülow Dammann, Pastor aus Essen (Missionsfest) Georg von Viebahn M. v. Korffund Helene v. Korff Ernst Schmidt Alb. Wenger, Pfarrer-Basel J. Thumm, Miss., Frankfurt a. M. Johannes Wildemann Candidat Mockert (Bibelkränzchen) Marie von Viebahn Georg von Viebahn Ernst von Knobelsdorff Frieda v. Bodelschwingh St. Clair v. Gemmingen E. Schrenk L. Wittekindt, Pfarrer, Oberissigheim St. Ciaire Gemmingen Emilie Sartorius Georg von Viebahn P. D. von Blomberg Gottlieb Fischer, P., Barmen Henriette von Blücher Eduard Zantopp Platz, Pastor aus Berlin Ew. Wüsten aus Heidelberg

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16. 7.1882 4. 6.1883 7. 8.-9. 8.1883 10.11.-23.11.1883 14. 9.1884 19. 9.1886 2.3.1887 27.12.1887-4.1.1888 14.1.-17.1.1888 8.1.-22.1.1888 February 1888 8. 4.1888 11.4.-13. 4.1888 18. 4.-20. 4.1888 25.10.1888 28.1.1889 16. 4.-22. 4.1890

ο. Datum 24.10.1890 28.10.-30.10.1890 20.1.1891 24.1.1891 3.3.1891 10.3.-12.3.1891 12. 3.1891 März 1891 29.5.1891 22. 6.-26. 6.1891 27. 4.1892 25.4.-28. 4.1892 12. 6.1892 Nov. 1892 10.12.-21.12.1892 18.4.1893 Apr. 1893 3.12.1894 10.1.-11.1.1895 1.10.94-1.5.1895 12.5.1895 Oct. 94-Juni 95 im Juni 1895 20.7.-22. 7.1895 11.11.1895

Dammann, Pastor, Essen Theodor Jellinghaus George A. Weymouth P. Fleischmann Dammann Ch. Dietrich Otto Stockmeyer ErnstLohmann E. Sartorius FrancisE. Clark, Boston USA J. Hudson Taylor v. Knobeisdorff, Oberstleutnant a. D., Berlin J. Hudson Taylor Sperber, Archidiac. an St. Martin zu Cassel Johannes Seitz, stud, theol. Holzhausen Theodor Jellinghaus

18.11.1895 16.11 .-12.12.1895 20.12.1895-16.1.1896 18.2.1896 24.2.-26.2.1896 8.4.-9.4.1896 3.10.1896 3.10.1896 11.10.1896 11.11.1896 9.4.1897 9. 5.-12. 5.1897 24. 9.1897 9.-11.10.1897 Oct. 1897 1.10.-16.11.1897

Grüße bei den Versammlungen vom 10. bis 14. October 1898: Otto Stockmayer, Theodor Jellinghaus, Frieda Horst geb. Jellinghaus, R. Horst, Pfarrer, Mansbach Hessen; v. Knobeisdorff, Paul Jellinghaus. Theodor Jellinghaus 8.10.-9.11.1898 H. Dannert 14.11.-27.11.1898 LuiseDammann 3.-5.5.1899 Friedrich Blecher 6.-13.5.1899 O. Stockmayer 21.10.1899 Auguste VictoriaJ. B. (od. R.?), (einziger Namenszug auf2 Blättern) 17. 5.1899 Ernst F. Ströter, New York 25. 5.-26. 5.1899 Ada Erbgräfin von Pückler, geb. Prinzessin zu Hohenlohe Ingelfingen 25. 5.-27. 5.1899 Anna Luise Prinzessin zu Hohenlohe-Ingelfingen 25. 5.-27. 5.1899 A. Conrad, Pfr. (Haiger) 3. 6.-5. 6.1899 E. Horn, Oberin 20.6.1899 O. Stockmayer 21.10.1899 Theodor Jellinghaus 16.10.-27.10.1899 (E.) Schrenk 6.1.-19.1.1900 Anna von Nathusius, geb. Freiin v. Massenbach 4.10.-12.10.1900 E. F. Ströter 8.10.-13.10.1900 R. Lechler 16.10.1900 Sophie von Bodelschwingh, Blankenburg i. Thür. 24.10.-30.10.1900 Theodor Jellinghaus u. Anna Jellinghaus 8.10.-3.11.1900 F.W.Baedeker 16.11.1900 H. Grattan Guiness Jan. 1901 P. Brockes aus Stuttgart 22.3.-23.3.1901 Meta von Oettingen 24. 4.-1. 5.1901 Sartorius, Pfr. zu Sterbfritz 29.5.-30. 5.1901 Prediger Seher, Wandsbeck 1.10.-4.10.1901 Voget, Eitorf " " " " " Jak. Vetter 4.10.1901

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Horst, Pfr. in Mansbach 1.10.-4.10.1901 W.Michaelis 4.10.1901 C. H. Rappard, St. Chrischona 1.10.-5.10.1901 Theodor Jellinghaus 30. 9.-12.10.1901 Henriette von Blücher 21.10.1901 Bunsen, Else von 12.2.-17.2.1902 Jul. Dammann, fahrender Prediger des Evangeliums 6. 4.-13. 4.1902 Goebel, Bundesagent des Verbandes der Blaukreuzvereine 23. 4.-25. 4.1902 F.W.Baedeker 1.5.1902 Elinor v. d. Osten-Sacken, Gräfin zu Castell 20. 6.-24. 6.1902 Brockes, Pastor, Reiseprediger des „Deutschen Philadelphiavereins" 15.10.-17.10.1902 Dr. Langmesser 14.10.-17.10.1902 C. H. Rappard " " " " " R. Horst ·· " ·· " Theodor Jellinghaus 14.10.-23.10.1902 F. W. Baedeker Ph. D. auf einer kurzen Reise nach Berlin und wieder heim Nov. 1902 Barbara v. Flotow 10.11.-18.12.1902 Modersohn, Pfr. in Mülheim 14.3.-15. 3.1903 F. B. Meyer (London) 24. 3.1903 Sartorius, Sterbfritz 25. 3.-27. 3.1903 Jul. Dammann, fahrender Prediger des Evangeliums 26.3.1903 Alfred Horst aus Graz 16. 5.1903 Rektor Dietrich (C.) 25.7.-27. 7.1903 Jac. Vetter 7.10.-15.10.1903 Amy Hudson Taylor 5.10.-20.10.1903 Mia Rappard, St. Chrischona 7.11 .-14.11.1903 Gottfried Grafv. Pückler Limpurg 28.11.-5.12.1903 Ada Gräfin v. Pückler Limpurg 28.11.-5.12.1903 Amy Hudson Taylor 16. 2.-19.2.1904 F.W.Baedeker 23.2.1904 Graf Leopold Baudissin 29.2.-2.3.1904 Amy Hudson Taylor 24. 3.-26. 3.1904 Thiemann, Pastor aus Marklissa 19. 5.1904 Dora (?) Dietrich 3.6.1904 Jac. Vetter 5.10.-13.10.1904 Theodor Jellinghaus 3.10.-19.10.1904 Martin Gitkon, Mülheim-Ruhr 13.11.-14.11.1904 Gottlieb Fischer, Essen 27. 5.-29. 5.1905 Sudan Pionier Missions Sitzung, Okt.: Dr. W. G. Fröhlich, Zürich P. Wittekindt P. Sartorius H.Ulrich C . H . Rappard Dr. Langmesser 278

7.10.-9.10.1905 9.10.-11.10.1905 9.10.1905 8.10.-9.10.1905 9.10.-12.10.1905

Prediger Greiner, Worms Pfarrer W. Ziemendorff, Holzappel Jac. Vetter D . H . Dolman Dr. Langmesser Jac. Vetter Marie v.Bibra Langmesser Director Reuter, Seeheim Bergstr. Gräfin Pückler, geb. v. Zastrow Elise Hupfeld aus Cassel Sartorius, Sterbfritz D . H . Dolman J. Warneck, lie., Rhein. Miss, auf Sumatra F. Würz, Miss. - Sekr., Basel C. H. u. Dora Rappard Jac. Vetter Ada Gräfin v. Pückler u. Limpurg FritzBinde Theophil Mann, Sekretär der D.C. S.V. L. Henrichs „Mit tiefem Dank für alle Liebe während meiner Zeitarbeit vom 3.-23. Mai 1908." Friedr. Binde „Zur Erinnerung an die Arbeit der Deutschen з.5.-31.5.1908" A. Langmesser H. Dolman u. D. H. Dolman keine Eintragungen nach dem 9.5.1909 bis 12.10.1909 D . H . Dolman Pauljellinghaus, Dr. ph. Bibelschule, Berlin Lichtenrade D . H . Dolman F. Veiel Sartorius, Barmen Pastor Oestreicher, Bethel Prof. Westermann, Berlin Dr.Jellinghaus

10.10. " " 13.11.1905 24.11.-27.11.1905 11.10.-12.10.1906 18.10.1906 15.10.-25.10.1906 17.10.-18.11.1906 6. 3.-7.3.1907 1.3.-25.3.1907 18. 6.1907 17. 6.-19. 6.1907 8.10.-10.10.1907 " " 7.10.-11.10.1907 8.10.-11.10.1907 12.10.-14.10.1907 3.12.1907 10.4.1908 dreiwöchentlichen Zelt-Mission vom 6.10.-8.10.1908 12.10.-14.10.1909 3.10.-5.10.1910 8.10.1910 10.10.-12.10.1911 Okt. 1912 " " " "

" "

3. Auszüge aus dem Gästebuch Ziemendorff Im letzten Drittel des Gästebuches finden sich noch einmal Eintragungen aus älterer Zeit: Unter der Überschrift „Liebe Gäste bei der silbernen Hochzeit. 8. Juli 1891", finden sich и. a. folgende Namen:

A. v. Oertzen Emilie Beyerhaus Marie Beyerhaus Bibel - Cursus Jellinghaus 1896. 4. Oct bis 15. Dez. Magdalene von Kalckreuth, Breslau Dr. M. Kranz-Busch Minna Kranz - Busch Emilie von Schmitz, geb. von Pöppinghausen

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Wilhelm Debus aus Zorn Ella Kopp Friedrich Wehlan aus Ströbitz bei Cottbus Eva von Mansberg, geb. von Lemcke Else von Lemcke, Colberg Martha Ebers, Stettin Beerdigung der Großmutter Maria Grimm, 30.7.1901 u. a. anwesend W. Michaelis

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