Der Sohn Gottes und seine Gemeinde: Studien zur Theologie der Johanneischen Schriften 9783666538841, 3525538847, 9783525538845

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Der Sohn Gottes und seine Gemeinde: Studien zur Theologie der Johanneischen Schriften
 9783666538841, 3525538847, 9783525538845

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Forschungen zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments Herausgegeben von Dietrich-Alex Koch und Matthias Köckert

Band 200

Vandenhoeck & Ruprecht

Ulrich Wilckens

Der Sohn Gottes und seine Gemeinde Studien zur Theologie der Johanneischen Schriften

Vandenhoeck & Ruprecht

Rudolf Schnackenburg_†, dem Nestor der neueren Johannesforschung, dem langjährigen Freund in dankbarem Gedenken

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-53884-7

© 2003, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: Satzspiegel, Nörten-Hardenberg Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Vorwort Die hier vorgelegten Aufsätze sind bei der Arbeit an meinem Kommentar zum Johannesevangelium (NTD 4) entstanden. Es handelt sich um Aspekte johanneischer Theologie, deren fachwissenschaftliche Diskussion im Kontext dieses Kommentars nicht möglich war. Beiträge zu Festschriften waren ein willkommener Anlaß, sie zu behandeln. Nach dem Erscheinen des Kommentars scheint es nun an der Zeit zu sein, diese Beiträge in einem Bande zusammen zu veröffentlichen und so die theologische Auslegung des vierten Evangeliums für einen weiteren Leserkreis wenigstens teilweise durch exegetische Präzisierungen in Auseinandersetzung mit der Fachliteratur zu ergänzen. Dabei zeigte sich mir, daß für diesen Zweck ein bloßer Nachdruck dieser Beiträge nicht ausreicht. Es bedurfte durchweg einer gründlichen Überarbeitung und Erweiterung. Das ergab sich vor allem dadurch, daß ich in der Zwischenzeit aus der überreichen Fülle von neu erschienener Literatur vielerlei weitere Belehrung wie auch Anregung zum Widerspruch empfangen habe. Nachdem ich zuvor während der zehn Jahre meines Bischofsdienstes mit der täglichen Praxis des kirchlichen Lebens (teilweise im Sinn von 2.Kor 7,5) so vollständig ausgefüllt war, daß an eine Verfolgung der exegetischen Arbeit und Diskussion überhaupt nicht zu denken war; und nachdem weitere fünf Jahre dazu gedient haben, mich von einer schweren Krankheit zu erholen, bin ich seither dabei, mich nach und nach in die Fülle dessen einzulesen, was andere inzwischen an Arbeit geleistet haben. Natürlich konnte das im angemessenen Umfang nicht mehr geschehen. Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß vieles Wichtige mir immer noch entgangen ist. Was ich jedoch mit Fleiß habe zur Kenntnis nehmen können, das hat die Lust am Wiedereintritt in die gemeinsame wissenschaftliche Arbeit am Verstehen der johanneischen Schriften mehr und mehr in mir verstärkt. Bei aller Ernstnahme exegetischen Details konzentriert sich das Interesse aller hier vorgelegten Studien auf Fragen von theologischem Gewicht. Da theologisches Verstehen biblischer Texte dafür offen sein muß, in deren Aussagen auch Antworten auf Fragen gegenwärtiger Glaubensverantwortung – oder doch zumindest Hinweise darauf – herauszuhören, treten in den Beiträgen dieses Bandes auch aktuelle Aspekte, vor allem ökumenischer Thematik, hervor. Dazu zählt das Gespräch zwischen Christen und Juden (Nr. 1, 4 und 5), zu dem es zugleich mit der Offen-

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Vorwort

heit für langfristig wachsendes gegenseitiges Vertrauen auch des Mutes zu unbedingter Wahrhaftigkeit gehört. Dazu zählt auch der theologische Dialog zwischen evangelischer und katholischer Theologie (Nr. 1, 3, 6, 7 und 8), zu dem es nicht minder des Willens und der Kunst dessen bedarf, Aspekte der jeweils anderen Seite ernstzunehmen und auch konfessionell sensiblen Themen nicht auszuweichen (Nr. 7 und 8). Nicht zuletzt aber geht es um elementare Fragen der christlichen Glaubenslehre, die im gegenwärtigen Diskurs strittig sind (Nr. 1, 2, 3, 6), sowie um kontroverse exegetische Fragen (Nr. 2, 3, 4). Sehr zu danken habe ich Frau Helga Schmidt-Römhild. Sie hat große Teile der überarbeiteten Beiträge neu geschrieben – eine überaus mühevolle Arbeit. Ich danke Dr. Hansgünter Ludewig und Dr. Matthias Riemer für freundliche Hilfe bei der Vorbereitung der Manuskripte für die Überarbeitung. Ich danke dem neutestamentlichen Herausgeber, Herrn Kollegen Dietrich–Alex Koch, für die Aufnahme in die Reihe der FRLANT und der Leitung des Verlags und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für alle Arbeit für die Publikation dieses Buches. Lübeck, am Osterfest 2002

Ulrich Wilckens

Inhalt Nachweis der Erstveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . .

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1. Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. Christus traditus se ipsum tradens. Zum johanneischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu . . . . . . . . . . . . .

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3. Zum Kirchenverständnis der johanneischen Schriften . . . . .

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4. Die Gegner im 1. und 2. Johannesbrief, „die Juden“ im Johannesevangelium und die Gegner in den Ignatiusbriefen und den Sendschreiben der Apokalypse . . . . . . . . . . . . .

89

5. Monotheismus und Christologie . . . . . . . . . . . . . .

126

6. „Simul iustus et peccator“ im 1. Johannesbrief. Exegetische Bemerkungen zu einem aktuellen Thema ökumenischer Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

7. Maria, Mutter der Kirche – Joh 19,26 f. . . . . . . . . . .

147

8. Joh 21,15–23 als Grundtext zum Thema „Petrusdienst“

. . .

167

9. Offenbarung und Lebensgeschichte. Eine Nacherzählung und pastoraltheologische Auswertung der beiden Gespräche in Johannes 3 und 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachweis der Erstveröffentlichungen Gott, der Drei-Eine. Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften A. Raffelt (Hg.), Weg und Weite. FS K. Lehmann, 2001, 55–70, ©Verlag Herder, Freiburg 22001. Christus traditus se ipsum tradens. Zum johanneischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu E. Brandt, P. S. Fiddes, J. Molthagen (Hg.), Gemeinschaft am Evangelium. FS W. Popkes, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1996, 363–384; mit frdl. Genehmigung des Verlages. Zum Kirchenverständnis der johanneischen Schriften M. Karrer, W. Kraus, O. Merk (Hg.), Kirche und Volk Gottes. FS für J. Roloff zum 70. Geburtstag, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 2000, 225–254; mit frdl. Genehmigung des Verlages. Die Gegner im 1. und 2. Johannesbrief, „die Juden“ im Johannesevangelium und die Gegner in den Ignatiusbriefen und den Sendschreiben der Apokalypse A. v. Dobbeler, K. Erlemann, R. Heiligenthal (Hg.), Religionsgeschichte des Neuen Testaments. FS K. Berger, A. Francke-Verlag GmbH, Tübingen 2000, 477–500; mit frdl. Genehmigung des Verlages. Monotheismus und Christologie Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 12, Biblische Hermeneutik, Hg. v. M. Ebner/I. Fischer/J. Frey, Neukirchener Verlag, Neukirchen-Vluyn 1998, 87– 97; mit frdl. Genehmigung des Verlages. „Simul iustus et peccator“ im 1. Johannesbrief. Exegetische Bemerkungen zu einem aktuellen Thema ökumenischer Theologie Th. Schneider, G. Wenz (Hg.), Gerecht und Sünder zugleich? Ökumenische Klärungen. Dialog der Kirchen, Bd. 11, 2001, 82–91. Maria, Mutter der Kirche – Joh 19,26 f. R. Kampling, Th. Söding (Hg.), Ekklesiologie des Neuen Testaments. FS K. Kertelge, 1996, 247–266, ©Verlag Herder, Freiburg 1996. Joh 21,15–23 als Grundtext zum Thema „Petrusdienst“ M. Beintker, E. Jüngel, W. Krötke (Hg.), Wege zum Einverständnis. FS Ch. Demke, Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1997, 318–333; mit frdl. Genehmigung des Verlages. Offenbarung und Lebensgeschichte. Eine Nacherzählung und pastoraltheologische Auswertung der beiden Gespräche in Johannes 3 und 4 V. Drehsen u. a. (Hg.), Der „ganze Mensch“, Perspektiven lebensgeschichtlicher Individualität. FS D. Rössler, 1997 (Arbeiten zur Praktischen Theologie Bd. 10), 305–313.

Gott, der Drei-Eine Zur Trinitätstheologie der johanneischen Schriften In der dogmatischen Theologie der Gegenwart ist es zu einer erstaunlichen Blüte des Nachdenkens über die Drei-Einigkeit Gottes gekommen, und zwar gleichzeitig in der katholischen1 wie in der evangelischen2 Theologie und in bemerkenswert ökumenischer Übereinstimmung des Interesses und der Zielrichtung, bei aller Differenzierung der Diskussion. Der Grund dürfte darin liegen, daß die tiefgreifende Krise, in der sich das öffentliche Bewußtsein der Gegenwart im Blick auf seine christlichen Wurzeln befindet, eine Elementarisierung der kirchlichen Verkündigung auf das christlich Grundlegende und Wesentliche schlicht notwendig werden läßt. Dazu gehört nun einmal zuerst das Thema der Trinität. Nicht nur, weil die Kirche des 4. Jahrhunderts im Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel die damals gemeinsam-gültige Antwort gefunden hat, wie im römisch-griechischen Reich unter der nunmehr führenden Autorität der Kirche von Gott in Wahrheit zu reden sei, sondern weil dieses damals formulierte Bekenntnis seither zum Grund-Dogma, zur Lehrgrundlage aller kirchlich-verbindlichen Rede von Gott geworden und dies bis heute geblieben ist, auch über die mehrfachen Kirchenspaltungen des 2. Jahrtausends hinweg. Der Gott, den die Kirche als den allein wahren Gott verehrt und von dem sie lebt, kann angemessen nur verkündigt, gepriesen und gelehrt werden als der Vater und der Sohn und der Heilige Geist. Daß dies gerade auch heute gilt; daß die Kirche auf die Herausforderungen sowohl durch den modernen Atheismus der Gleichgültigkeit wie auch durch den religiösen Pluralismus multikultureller Toleranz nur mit der Verkündigung des drei-einen Gottes überzeugend antworten kann – nicht anders als in der Situation der Welt des 4. Jahrhunderts –, 1 Vgl. besonders K. Rahner, Der dreifaltige Gott als transzendenter Urgrund der Heilsgeschichte, in: Mysterium Salutis, Bd. 2 (1967), 317–401; H. U. von Balthasar, Theologik, Bd. 2: Wahrheit Gottes, Einsiedeln 1985; W. Kasper, Der Gott Jesu Christi, Mainz 1982; G. Greshake, Der Dreieine Gott, Freiburg 31998; J. Werbick, Trinitätslehre, in: Th. Schneider (Hg.), Handbuch der Dogmatik, Bd. 2, Düsseldorf 1992, 481–575. 2 Vgl. besonders K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, Bd. I,1, Zürich 121989, 311–514; E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, Tübingen 51986, 409–543; E. Schlink, Ökumenische Dogmatik, Göttingen 21985, 743–760; J. Moltmann, Trinität und Reich Gottes, München 2 1986; W. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, 1988, 283–483.

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das ist die gemeinsame Überzeugung, die in den verschiedenen trinitätstheologischen Entwürfen der Gegenwart zum Ausdruck kommt. Die folgenden Bemerkungen sollen ein Beitrag dazu sein. Von allen neutestamentlichen Schriften sind die johanneischen diejenigen, in denen sich trinitarisches Denken am dichtesten zeigt. Das wird erst dort erkennbar, wo man sich in die Gesamtkonzeption des Johannesevangeliums hineindenkt und den 1. Johannesbrief unter der Voraussetzung liest, daß hier das Johannesevangelium als Basistext zugrundeliegt.3 1. Der Prolog Joh 1,1–18 und das Abschiedsgebet Jesu Joh 17,1–26 sind die zentralen Abschnitte, die das ganze Gebäude tragen.4 Sie fassen jeweils die Grundaussagen der beiden Teile des Buches so ,überhöht‘ zusammen, daß die Einheit des Sendungsweges Jesu in seinem Woher und Wohin erkennbar wird. Erstens: Jesus kommt als der vom Vater gesandte Sohn aus der uranfänglichen Einheit mit Gott in die Welt, damit die Menschen in der Welt aus seinen Worten und Werken diese eine, zentrale, heilsentscheidende Erkenntnis des Glaubens gewinnen sollen: daß Jesus in seiner Person der Sohn Gottes ist, der vom Vater gekommen und in die Welt gesandt ist (Kap. 1–12). Zwei3 Zum Forschungsstand im Blick auf das strittige Problem der chronologischen Priorität vgl. zuletzt J. Frey, Eschatologie III, 53–60, der selbst dem Urteil zuneigt, daß die Briefe vor dem Evangelium geschrieben sind. Da ich mit ihm annehme, daß „der Älteste“ als der Autor der Briefe (2.Joh 1; 3.Joh 1) sehr wohl auch das Evangelium verfaßt haben kann, kann die Abfassung der Briefe wegen des in Joh 21,23.24 vorausgesetzten Todes des Verfassers in der Tat nur vor der kanonischen Endgestalt des Joh.evangeliums erfolgt sein (ebd., 58). Doch erscheinen mir die Gründe für eine Entstehung der Briefe nach dem Abschluß des originalen Evangeliums Joh 1–20 gewichtiger zu sein als die Argumente für eine Zeit davor (gegen J. Frey, ebd., 57–59; mit H.-J. Klauck, 1. Joh., 43–45). Einerseits nämlich setzt das Proömium 1. Joh 1,1–4 m. E. die Kenntnis des Prologs Joh 1,1–18 bei den Lesern voraus (dazu vgl. besonders M. Theobald, Fleischwerdung, 421–437; H.-J. Klauck, 1. Joh., 56–58). Gleiches gilt auch für 1. Joh 2,7; 3,11 und 5,13 (zu weiteren Parallelen vgl. H. Thyen, 1. Joh., 191 f., der die Unterschiede mit Recht durch „die fundamentale Gattungsdifferenz“ erklärt). Andererseits wird die aktuelle Warnung des 1. und 2. Johannesbriefs vor abtrünnigen Gegnern im ganzen plausibler, wenn es das Johannesevangelium ist, gegen dessen Christologie die Gegner rebellieren, und auf das sich dagegen „der Älteste“ als Grundtext des Bekenntnisses zu Jesus als Gottes Sohn beruft. Bereits dort ist von Anfeindungen vonseiten „der Juden“ die Rede (vgl. besonders Joh 16,1–4) wie auch vom Abfall vieler Jünger (Joh 6,60 ff.). Diese nach dem Evangelium schon in der vorösterlichen Zeit bestehende Situation ist durch den neuerlichen Abfall bisheriger Glaubensbrüder und deren Versuch, andere nachzuziehen, brisant aktualisiert. Freilich bleibt auch die umgekehrte Möglichkeit zu erwägen, daß bei der Abfassung des Evangeliums die akuten Erfahrungen zur Zeit der Briefe im nachhinein verarbeitet worden sind (so J. Frey, ebd., 58 f.). So oder so gilt jedenfalls: „Das Evangelium und die Briefe sind sachlich aufs engste aufeinander bezogen und miteinander verbunden“ (M. Hengel, Johanneische Frage, 202; vgl. 162). 4 Dazu vgl. U. Wilckens, Joh., 20 f.

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tens: Diese Sendung Jesu findet ihr Ziel und ihre Erfüllung in seinem Tod am Kreuz. Entsprechend kommt auch der Glaube an Jesus als Gottes Sohn darin zu seiner Eigentlichkeit, daß er in dem Gekreuzigten „das Lamm Gottes“ sieht, „das die Sünde der Welt wegträgt“ (1,27).5 Als der Sohn Gottes aber überwindet der Gekreuzigte den Tod und kehrt zum Vater in die Einheit des Uranfangs zurück. Die „Stunde“ seines Kreuzestodes ist so zugleich die „Stunde“ seiner Verherrlichung durch den Vater und der Verherrlichung des Vaters durch ihn. Entsprechend kommt der Glaube der Jünger an Jesus in der „Freude“, ihn als Auferstandenen zu sehen (20,8.20.29), zur Vollendung (Kap. 13–20). Am Ende der Abschiedsreden, unmittelbar vor dem Abschiedsgebet, faßt Jesus selbst diese beiden Aspekte seiner Sendung, sein Woher und sein Wohin, in einem Satz zusammen: „Ich bin hergekommen vom Vater und in die Welt hineingekommen. Wiederum verlasse ich die Welt und gehe zum Vater“ (16,28). Jesu ganzer Sendungsweg also erweist ihn als den Sohn Gottes.6 In seinem Uranfang ist er mit Gott verbunden (1,1) und nach Vollendung seiner Sendung kehrt er in diese Ur-Einheit mit dem Vater zurück (17,5). Auch während seines ganzen Sendungsweges ist er „eins mit dem Vater“ (10,30), vor allem in seinem Tode, wo er (dem Vater) seinen Geist „übergibt“ (19,30, vgl. 10,18!) Dieser Zusammenhang der beiden Hauptteile des Johannesevangeliums soll nun im Blick auf einige Abschnitte verdeutlicht und entfaltet werden. 2. Dem Prolog Joh 1,1–18 liegt wahrscheinlich ein gottesdienstlicher Hymnus zugrunde, der den Lesern im Wortlaut vertraut war (vgl. 1. Joh 1,1–4!). Der Evangelist hat sein Buch mit diesem liturgischen Text eröffnet, weil im Urchristentum Evangelien überhaupt ihren primären Ort im Gottesdienst gehabt haben und von dort aus der katechetischen Hinführung zum Glauben und zugleich auch der ,theologischen Fortbildung‘ der Lehrer dienten.7 Diese Beheimatung aller Glaubenslehre im Gottes5 Dazu vgl. in diesem Band S. 33 ff. 6 Der Erste, der dies im Zusammenhang aufgewiesen hat, dürfte Tertullian in seiner Schrift Adversus Praxean 21,1–25,4 gewesen sein. Dazu M. Lattke, Johannes 20,30 f. als Buchschluß. 7 Zum gottesdienstlichen Charakter des dem Prolog zugrundeliegenden Hymnus vgl. Ch. Demke, Logos-Hymnus, 61.64. In der neueren Exegese hat sich die Vermutung weithin durchgesetzt, daß es dieser Lehrer-Kreis einer „johanneischen Schule“ gewesen ist, in dem der Verfasser des Joh.evangeliums eine Person von außerordentlicher Autorität gewesen ist, und aus dessen Mitte heraus sein Werk nach seinem Tode (21,21–23) herausgegeben worden ist (21,24). Vgl. den Bericht über den Forschungsstand bei U. Schnelle, Die Johanneische Schule, sowie die Zusammenfassung in: Ders., Einleitung, 447–451; Ders., Joh., 1–3. – Weitergehenden Hypothesen, daß dieser Herausgeber das Buch durch mancherlei

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dienst („lex orandi lex credendi“) zeigt sich an vielen Stellen des Evangeliums recht deutlich. Sie ist dem Verfasser sehr wichtig. Darum läßt er den Anfang seines Buches geradezu aus dem Gottesdienst hervorgehen. Das Thema dieses Hymnus ist: Die Offenbarungswirklichkeit des inkarnierten Gottessohnes (1,14) hat in der innergöttlichen Wirklichkeit der Einheit und der Nähe zwischen Gott und seinem Offenbarer, dem Logos, seinen ursprünglich-wesenhaften Grund (1,1). Drei kurze Sätze umschreiben die Dynamik dieses Verhältnisses: a) „Im Anfang war das Wort“. Dieser Anfang geht dem Anfang von Gen 1,1 voraus. Anstelle Gottes ist hier vom Logos die Rede, und anstelle des Schöpfungshandelns Gottes in seinem Sprechen (Gen 1,3) vom ewigen Sein seines Wortes vor dem Schöpfungsakt (Joh 1,3 f.). b) „Der Logos war bei Gott“, wie in Spr 8,22 ff. Gottes Weisheit.8 Er war also ein anderer im Verhältnis zu Gott, wiewohl in Gottes Nähe, so daß Gott und Wort zusammengehören. Liest man diese ersten beiden Sätze, so steht der Logos im Vordergrund – von ihm singt der Hymnus, Gott bleibt im Hintergrund –; freilich so, daß es für den Logos wesentlich ist, seinen Ort bei Gott zu haben. Gott gehört nicht zu ihm, sondern er zu Gott. c) Doch diese Ortsbestimmung reicht offenbar nicht aus: „Gott war der Logos“. Die griechische Formulierung zeigt eindeutig: Der Logos ist auch hier Subjekt, „Gott“ Prädikationsnomen. Demnach müßte der Satz lauten: „Das Wort war göttlicher Art“, als solcher war er „bei Gott“. Doch das ist schlechthin unmöglich: Der biblische Gott kann nicht zur Eigenschaft werden. Im ganzen Johannesevangelium – wie im Neuen Testament nahezu durchweg – kommt heí™ in prädikativer Satzstellung nicht vor,9 entsprechend fehlt auch das Adjektiv heûo™, das sonst in der Gräzität sehr häufig gebraucht wird.10 Das gilt übrigens ebenso für das Alte Testament: Das Adjektiv heûo™ findet sich häufig nur in dem originalZusätze erweitert und so theologisch verändert habe, kann ich mich nicht anschließen. Dazu vgl. besonders einerseits R. E. Brown, John I, XXXIV–XXXIX sowie ausführlich Ders., Community; andererseits J. Becker, Joh., 47–62; dazu die methodologische Kritik von J. Frey, Eschatologie I, 273–287. 8 Vgl. die in ThW VII, 499 Anm. 515 gesammelten Stellen aus weisheitlicher Literatur; die wichtigsten werden zitiert bei K. Wengst, Joh. I, 38 f. In späterer rabbinischer Exegese wird Gen 1,1 mit Spr 8,22 ausgelegt. 9 Die beiden Ausnahmen bestätigen diese Regel: Der Vorwurf poieû™ seautón heín 10,33 darf natürlich nicht griechisch-korrekt übersetzt werden: „du machst dich selbst göttlich bzw. zu einem Gott“, sondern: „du machst dich selbst zu Gott“, d. h. du verletzt das 1. Dekaloggebot (vgl. 5,18 ùson Åautón poiÂn tã heã). 10 Die einzigen Ausnahmen sind Apg 17,29 (wo Lukas Paulus in typisch griechischer Sprache sprechen läßt: tó heûon als allgemeine Gottesbezeichnung); sowie 2.Petr 1,3.4.

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griechischen 4.Makkabäerbuch,11 sonst sehr selten als Übersetzung von elohim bzw. eloach.12 heí™ kann also trotz der prädikativen Stellung nur die Person des biblischen Gottes bezeichnen. Darum steht das formal prädikative heí™ betont am Anfang des Satzes. Dann aber besagt der Satz, daß der Logos Gott war!13 Das geht über die Aussagen von der Präexistenz der Weisheit Gottes hinaus. Diese bleibt durchweg Gott zugeordnet wie auch alle übrigen sogenannten „hypostatischen“ Größen wie die memra. Ist aber in Joh 1,1 der Logos Gott, so klingt das dem jüdischen Ohr als zumindest gefährlich nahe an Blasphemie. Wie kann es „bei“ dem einzig-einen Gott irgend einen geben, der selbst Gott wäre – und sei es Gottes Wort, das doch immer des einen Gottes schöpferische Aktivität bleibt und sich nicht von Gott verselbständigen kann! Aber auch der Logos der mittelplatonischen Philosophie, von dem Philon als Hermeneut zu den griechischen Gebildeten seiner Zeit als von einem „zweiten Gott“ sprechen kann,14 steht in dem Satz Joh 1,1c nicht im Blick. Zwar klingt der absolute Gebrauch von ú lígo™ an die Sprache dieser philosophischen Tradition an. Biblisch ist durchweg vom Wort Gottes die Rede (Ps 33,4–6; Jes 55,11 usw.); ú lígo™ absolut fehlt. Doch mittelplatonisch ist der Logos als ein göttliches Wesen ,minderer‘ Art gedacht zwischen dem höchsten Gott als dem Ursprung von allem und der Welt der aus ihm entstandenen Dinge. Man könnte von ihm sagen, daß er „göttlich“, keinesfalls aber, daß er Gott sei. Der Satz Joh 1,1c widerspricht diesem Gedanken. Er ist also eine ganz außerordentliche Aussage, im Rahmen jüdischer monotheistischer Theologie gefährlich nahe der schlimmsten Blasphemie, im Rahmen der damaligen griechischen Philosophie naiver Unverständigkeit verdächtig. Aber eben so, ,zwischen allen Fronten‘ erregend-widersprüchlich, ist er ganz offensichtlich gemeint! Denn es ist Jesus Christus (1,17), von dem dieser Hymnus bereits an diesem Anfang singt, der dann inkarnierte Logos (1,14), der als solcher von Ewigkeit her zu Gott gehört und Gott ist. Wir werden 11 Vgl. besonders: 4.Makk 1,16 sofùa dÀ toùnun Éstÿn gnÂsi™ heùwn kaÿ ånhrwpùnwn pragmâtwn kaÿ tÂn to‹twn aÜtùwn. 12 Job 33,4 als Übersetzung von el, welches Wort in der hebräischen Bibel dort steht, wo allgemein von Gott die Rede ist. Vgl. aber die rabbinische Unterscheidung zwischen „elohim“ = der einzig-eine Gott und „el“ = göttlicher Art bei K. Wengst, Joh. I, 47. 13 So mit Recht R. Bultmann, Joh., 16 f.: „Der Logos wird also mit Gott gleichgesetzt“. Vgl. jedoch dann V. 2: „Der Widerspruch ist der gleiche, der sich durch das ganze Evg. zieht.“ Dieser in Joh 1,1 f. sprachlich bewußt herausgearbeitete Widerspruch wird von U. Schnelle, Joh., 31 exegetisch abgemildert. Im Sinne der Logos-Lehre Philos interpretiert J. Becker, Joh., 88. 14 Vgl. Leg all II, 86; III, 175 sowie besonders Somn I, 229 f., wo Philo zwischen dem einen wahrhaftigen Gott und „uneigentlich so genannten Gottheiten“ wie selbstverständlich unterscheidet; die Stelle wird zitiert von K. Wengst, Joh. I, 47. Weitere Stellen bei R. Schnackenburg, Joh. I, 211 f.

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sehen, wie ganz entsprechend auch Jesus Gottes Sohn ist, der als solcher „eines mit dem Vater“ ist (10,30) und deshalb unter ständigem Verdacht steht, „sich Gott gleich“ (5,18), sich als der Mensch, der er ist, selbst „zu Gott zu machen“ (10,33). d) Dieser Anschein entsteht in 1,1 schon im Blick auf den präexistenten Logos. Aber der Anschein ist falsch. Wie immer geheimnisvoll-unbestimmt das Verhältnis zwischen ihm und Gott bleibt, – identisch mit Gott „war“ er nicht, indem er „Gott war“! Um dieses Mißverständnis auszuschließen, endet die Anfangspassage des Hymnus in 1,2 mit einem zusammenfassenden Satz, dessen Aussage zu 1,1b zurückkehrt: „dieser“ – also der Logos, der Gott war! – „war im Anfang bei Gott“. Damit wird die erregende Aussage 1,1c nicht zurückgenommen, auch nicht eingeschränkt (was gar nicht möglich ist). Aber das Ziel dessen, was über den Anfang im Verhältnis zwischen dem Logos und Gott ausgesagt wird, wird darin erreicht, daß der Logos, der Gott ist, bei Gott ist, also von Gott unterschieden, wiewohl Gott ganz nahe. Es ist dieses Geheimnis in Gott selbst, das die Theologen des 4. Jahrhunderts begrifflich angemessen zu denken gesucht haben. Selbst die Scharfsinnigsten unter ihnen aber haben den höchst schwierigen ,Sachverhalt‘ dieses Geheimnisses nicht so direkt und zugleich so einfach auszusagen vermocht, wie ihn die Sprache des Gottesdienstes der johanneischen Gemeinden in den vier Anfangssätzen dieses Hymnus zum Ausdruck gebracht hat. Im Zusammenhang dieses Hymnus hat die ,protologische‘ Aussage 1,1–2 grundlegende Funktion für die darauffolgenden Aussagen über das Wirken des Logos ,ad extra‘: in der Schöpfung (V. 3–5), in der Welt ante Christum (V. 9–13) und in seiner Inkarnation (V. 14.16–18). Entscheidend ist, daß es das im ewigen Ursprung begründete Verhältnis seiner Einheit und Gemeinschaft mit Gott ist, das den Logos dazu befähigt, daß sein Wirken Offenbarungscharakter hat. Für die Schöpfung heißt das: Indem schlechthin alles ausnahmslos von ihm geschaffen ist (vgl. Gen 1,3), ist das Leben in ihm das Licht für die Menschen (Gen 1,4 f.), das in der Finsternis scheint, ohne von der Finsternis überwältigt zu werden.15 Das Licht, das vom Logos ausgeht, ist das allein wahre und verläßliche Licht (V. 9 tó f™ tó ålvhinín), das nicht nur die schöpferische Kraft hat, Licht und Finsternis voneinander zu scheiden (Gen 1,4 vgl. 1. Joh 1,5), sondern darin zugleich die Kraft der Offenbarung Gottes in allem Geschaffenen, die den Menschen so erleuchtet, daß er in ihrem Licht Gott als die alleinige Lichtquelle zu erkennen vermag und in dieser Erkenntnis teilhat an dem Leben in ihm. Die 15 katìlaben ist wie 12,35 aufzufassen: nicht im Sinne von erkenntnismäßigem „Erfassen“ (so übersetzt U. Schnelle, Joh., 28), sondern in einem „zupackenden“ Besitzergreifen.

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Wahrheit ist ebenso Gottes wie das Leben. Indem der Logos das „wahre“ Licht leuchten und darin am Leben in ihm teilhaben läßt, offenbart er Gottes „Wirklichkeit“. So „war“ der Logos von der Schöpfung her der Offenbarer Gottes. Aber die Welt hat, wiewohl von ihm geschaffen, ihn „nicht erkannt“ (V. 10). Das biblische Wort „Erkennen“ bezeichnet hier nicht das intellektuelle Wahrnehmungsvermögen, sondern die personale Teilnahme und Teilhabe am „Erkannten“ im Akt des Erkennens. Der Aorist ôgnw meint also nicht, daß der Logos-Schöpfer der Welt in absoluter Transzendenz verborgen geblieben ist, sondern daß die Welt sich seiner Offenbarung verweigert hat. Daraufhin „kam er in sein Eigentum“. rlhen V. 11 spricht – im Unterschied zu rn V. 10 – von einer neuen Initiative des Logos. Von der Erwählung Israels als Gottes Eigentumsvolk ist jetzt die Rede.16 Doch die Geschichte Gottes mit „den Seinigen“ hat das gleiche Resultat wie die Geschichte mit der Welt zuvor: Sie haben ihn nicht angenommen. Es ist die gleiche Geschichte, wie sie Hen 42 von der Weisheit Gottes beklagt wird, die in Israel Wohnung nehmen wollte, aber auf Ablehnung stieß. Nur einige von den „Seinigen“ haben den Logos angenommen, und diesen hat er das Recht und die Vollmacht der Gotteskindschaft gegeben, die nicht aufgrund natürlicher Geburt und auch nicht durch menschlich-„fleischlichen“ Eigenwillen (vgl. Gen 3,5!), sondern als unmittelbar „aus Gott gezeugt“ existieren (V. 12 f.) Damit stehen die Gerechten und Propheten in Israel im Blick, die als einzige Gottes Offenbarung angenommen und durch sie in ein besonderes Verhältnis der unmittelbaren Zugehörigkeit zu Gott gelangt sind.17 Sein Ziel erreicht der Hymnus in V. 14.16. Daß der Logos „Fleisch“ wird, ist die letzte und äußerste Tat in der Geschichte seines Offenbarungswirkens. Denn um ein solches handelt es sich auch hier. Inmitten der Kirche, die nun im liturgischen „Wir“ als unmittelbar betroffene zu Wort kommt, hat er „sein Zelt aufgeschlagen“ (wie damals in der Wüste im „Zelt der Begegnung“: Ex 25,8 f.): „und wir haben seine Herrlichkeit geschaut“, was bislang keinem Menschen möglich und erlaubt war, nicht einmal Mose (Ex 33,20–23;34,29 ff. sowie besonders 40,34 f.). Die Herrlichkeit ist Gottes ureigenes, lichtstrahlendes Wesen, – und hier, in der gottesdienstlichen Versammlung der Kirche, ist sie in der Person Jesu sichtbar geworden: des Logos, der Fleisch geworden ist! Ist soeben im vorangehenden Satz V. 13 vom „Fleisch“ die Rede gewesen als dem We16 Anders R. Schnackenburg, Joh. I, 234. 17 Hier zeigt sich eine Nähe zu Philo, der sehr häufig von einer „Zeugung aus Gott“ spricht, um den Offenbarungscharakter aller Gotteserkenntnis in der Seele des einzelnen Frommen hervorzuheben, vgl. z. B. Leg all III 180 f. – Doch V. 12a ist ein Zusatz des Evangelisten, der V. 12 f. im Sinne der christliche Taufe deutet; s. u.

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sen des Menschen, der von sich aus keinerlei Zugang zu Gott hat, so ist nun der ewige Logos selbst Fleisch geworden, so daß „wir“ in diesem fleischlichen Menschen Gottes Herrlichkeit schauen können, die sonst fleischlichen Menschen absolut unzugänglich ist: Radikaler kann die Offenbarungskraft des Logos gar nicht zur Wirkung kommen! Fleisch und Geist sind einander gegensätzlich wie Licht und Finsternis (vgl. 3,6; 6,63) – und diesen Gegensatz hat der Logos in sich selbst überwunden, indem er Fleisch wurde. Provokativeres für theo-logische Logik kann ein Offenbarungslied schlechterdings nicht singen!18 V. 14b interpretiert, was gemeint ist. Es ist wirklich Gottes Herrlichkeit, die Jesus als dem „einziggeborenen“ Sohn „vom Vater her“ eignet. Der fleischgewordene Logos kommt nicht nur vom Vater her, als dessen Gesandter, sondern er ist vom Vater her, sofern er bereits in seinem ewigen Ursprung der Logos „war“, der Gott offenbart als der, der „bei Gott war“ und selbst Gott war (1,1). Die ganze Geschichte seines Offenbarungswirkens bis hin zu ihrem Höhepunkt in seiner Menschwerdung gründet in dieser seiner Herkunft. Genau das sagt das Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel: „Gott von Gott, Licht vom Licht, wahrer Gott vom wahren Gott“. Und die Lehre der Väter des 4. Jahrhunderts vom ewigen „Ausgang“ des Sohnes vom Vater stimmt mit dem, was Joh 1,14 im Rückbezug auf 1,1 f. sagt, in der Sache voll überein.19 In der Zusammengehörigkeit der beiden widerspruchsvollen Sätze in V. 1b und V. 1c ist begründet, daß selbst und gerade in der äußersten Entfernung des Logos von Gott, in seiner Inkarnation, wahr und wirklich bleibt, daß er Gott ist: nämlich als der einziggeborene und einziggeliebte20 Sohn des Vaters. Die im Hymnus hier anklingende Vater-Sohn-Beziehung gewinnt dann in der johanneischen Christologie zentrale Bedeutung.

18 Gleichwohl liegt in dieser Provokation keinerlei Polemik gegen eine ,doketische‘ Christologie, wie oft – von 6,60 ff. her – behauptet wird; vgl. z. B. R. Schnackenburg, Joh. I, 243 f.; zuletzt U. Schnelle, Joh., 40 (dort Anm. 96 weitere Literatur). Davon wird im Prolog nichts sichtbar. Auch in 6,60 ff. liegt die Provokation in der Logik der Inkarnationsaussage selbst, vgl. U. Wilckens, Joh., 109 f. Auch die Gegner im 1. Johannesbrief sind keine Doketisten; dazu vgl. in diesem Band Nr. 4. 19 So R. Schnackenburg, Joh. I, 246 f., der freilich zu Unrecht meint, das gelte nur, wenn parä patrí™ auf díxan und nicht auf monogenoø™ zu beziehen sei. Doch erstens liegt die letztere Beziehung vom Satzgefälle her näher, weil díxan durch die ganze folgende Wendung erläutert wird. Und dies wiederum zeigt, zweitens, daß es falsch ist, hier eine Alternative zu sehen. 20 R. Schnackenburg, ebd., 246 weist mit Recht darauf hin, daß das hebräische jachid die Wortbedeutung von monogenŒ™ zumindest mit bestimmt. In hellenistisch-religiösem Kontext klingt oft eine göttliche Geburt an; vgl. Weish 7,22 und das bei W. Bauer – K. u. A. Aland, Wörterbuch zum NT 61988, 1067 genannte Material; darüber zuletzt U. Schnelle, Joh., 40 f.

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Zu seinem Ziel kommt der Satz 1,14 erst mit dem Schlußglied V. 14d: Der fleischgewordene Logos ist als solcher „voll Gnade und Wahrheit“. chäsäd und ämät sind Elemente des Namens Gottes nach Ex 34,6, der Gott ist, indem er sich in langmütiger Barmherzigkeit als der unendlich Gütige und Treue seinen Erwählten heilschaffend zuwendet.21 Die Offenbarung Gottes in der Menschwerdung des Logos ist von diesem Heilswillen des Wesens Gottes durch und durch bestimmt. Indem sie dazu dient, in Jesus als dem einzig-einen Sohn des Vaters die Herrlichkeit Gottes schauen zu lassen, bringt sie den schauenden „Wir“ das volle Heil Gottes. In diesem Sinne wird Jesus zu seinen Jüngern sagen: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (14,9 vgl. 2,11; 11,40). Der Schlußsatz 1,18 bezieht V. 14 noch einmal mit vollem Gewicht auf 1,1 f. zurück und stellt so heraus, daß sich in der Offenbarung des fleischgewordenen Logos wirklich Gott offenbart.22 Der Gott, den niemals ein Mensch je gesehen hat, erschließt sich in der „Kunde“, die Jesus als der einzig-eine Sohn des Vaters, der dem Vater in einzigartiger Weise in Liebe verbunden („an der Brust des Vaters“)23 und als solcher Gott ist,24 in seiner Verkündigung gebracht hat.25 3. Der Evangelist hat diesen Hymnus (1,1–5.9–12b.13.14.16.18) zum ,Prolog‘ des ersten Teils seines Werkes (Kap. 1–12) gemacht, indem er ihn durch vier Zusätze (1,6–8.12c.15.17) in den Beginn der Geschichte des Wirkens Jesu einbezogen und ihn dadurch zugleich verändert hat.26 Indem er zweimal Johannes dem Täufer als dem Zeugen Jesu das Wort gibt, läßt er seine Leser den ganzen Hymnus als auf Jesus bezogen hören. Jesus ist das Licht, das in der Finsternis aufstrahlt (1,5 vgl. 3,19; 8,12; 21 So mit Recht R. Schnackenburg, Joh. I, 248; zuletzt U. Schnelle, Joh., 42. K. Wengst, Joh., 67 vermutet im Anschluß an K. Bornhäuser, Joh., 12 f. und A. Hansen, John I, 14–18. 93 in plŒrv™ cârito™ kaÿ ålvheùa™ eine Übersetzung des hebräischen Wortlauts rav chesed ve-emet. Das ist sehr wohl möglich. 22 Vgl. M. Theobald, Im Anfang, 48 f.; J. de la Potterie, Prologue, 375. 23 Nach O. Hofius, Der in des Vaters Schoß ist, 27 schließt V. 18 eng an V. 17 an, indem hier mit der Herausstellung der Offenbarerfunktion Christi vom Uranfang an die Präexistenz der Tora bestritten werde. Er zitiert dazu Aboth RN [Rez. A] 31. 24 Das Schwanken der Textüberlieferung zwischen den Lesarten ú monogenÀ™ heí™ und ú monogenÀ™ uÖí™ entspricht dem Sinn der Aussage, in der die volle Offenbarung Gottes in der Verkündigung Jesu in der Einheit von V. 1b und V. 1c begründet wird. Insofern sind beide Lesarten johanneisch-,richtig‘ und bedingen sich gegenseitig: Der einziggeborene Sohn Gottes ist Jesus, indem er selbst Gott ist (vgl. 1. Joh 5,20!), und umgekehrt. Nirgendwo ist eine Differenz in der Textüberlieferung so exegetisch produktiv wie hier. 25 So ist die Übersetzung von W. Pannenberg, Systematische Theologie I, 367, der Sache nach zutreffend: „Niemand hat Gott je gesehen; aber der einzige Sohn, der ihm am nächsten verbunden ist, der hat sein Wesen erschlossen.“ 26 Auf die vielerlei vorliegenden Analysen von Joh 1,1–18 kann ich hier nicht eingehen. Dazu vgl. den Forschungsbericht von M. Theobald, Fleischwerdung, 6–161.

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9,5; 12,46). Der Widerspruch in 1,10.11 wird zum Widerspruch gegen Jesus von seiten der Welt. Im Evangelium sind es die Juden als Repräsentanten der Welt, die Jesus ablehnen (vgl. 3,19–21; 5,17 f. usw.; 12,37 ff.). Ihnen gegenüber stehen die, „die an seinen Namen glauben“. Diese Näherbestimmung der „Kinder Gottes“ in V. 12c ist wahrscheinlich ein Zusatz des Evangelisten (vgl. 1. Joh 3,23; 5,13), aus dem besonders deutlich wird, daß der Hymnus als Prolog seines Buches von vornherein von Jesus Christus als dem Logos spricht (so ausdrücklich 1,17). V. 14 wird so zur Zentralaussage, in der die Glaubenden von V. 12 nun das Bekenntnis der johanneischen Gemeinden zu Jesus, dem Christus, als dem „im Fleisch gekommenen“ Sohn Gottes aussprechen (vgl. 1. Joh 4,2; 2.Joh 7). Auch V. 17 dürfte eine These sein, mit der der Evangelist bereits hier herausstellt, daß sich die volle Offenbarung Gottes im Sinne von Ex 34,6 nicht durch das Mose (von Gott) gegebene Gesetz, sondern in Jesus Christus als dem fleischgewordenen Wort ereignet hat, der als solcher identisch ist mit dem im Uranfang dem einzig-einen Gott innig verbundenen einzig-einen Sohn.27 Mit dieser Konzentration auf Jesus verdichtet sich der Begründungszusammenhang zwischen der Geschichte Jesu und dem Uranfang 1,1 f.: Jesus allein ist der Offenbarer Gottes. Er ist es als Gottes Sohn, der von Ewigkeit her Gott nahe und selbst Gott „war“. Vom ewigen Ursprung her ist Gott als das personale Verhältnis von Vater und Sohn. Nur so kann verstanden werden, daß und in welchem Sinne Jesus der vom Vater gesandte Sohn ist: Er ist nicht nur ein von Gott gesandter Bote, der einen Auftrag zu erfüllen hat und von daher gegenüber seinen Adressaten autorisiert ist – wie Mose oder ein Prophet (vgl. 1,21; 4,19; 6,14; 9,17) –, sondern seine Sendungsautorität ist in seiner eigenen Herkunft von Gott begründet; im Wesen seiner Person als des einzig-einen Sohnes des Vaters, den der Vater liebt und dem der Vater seine ganze eigene Vollmacht übertragen hat, so daß alle Menschen ihn genauso ehren sollen wie den Vater (3,34 f.; 5,20–23.26 f.; 7.28 f.; 8,18.42.47; 10,36–38; 12,28); der aber zugleich umgekehrt nichts von sich selbst aus sagt und tut, sondern in allem den Sendungswillen seines Vaters erfüllt (5,30–32; 6,36–40; 8,13–18; 8,54 f.; 12,44.49 f.). Darum gilt es, an Jesus zu glauben wie an Gott (14,1 vgl. 5,24 und ähnliche Stellen). Glaube richtet sich ja 27 V. 17 klingt wie ein in sich geschlossener Lehrsatz, der vom Evangelisten als Einzelspruch aufgrund des Stichworts „Gnade und Wahrheit“ an V. 16 angefügt sein könnte; so Ch. Demke, Logos-Hymnus, 63. Der Name Jesus Christus, der erst wieder in 17,3 steht, verbindet den Prolog mit dem Abschiedsgebet Jesu. Insofern kommt V. 17 im Kontext des Prologs eine gewichtige Bedeutung zu. Das Gesetz ist als Schrift Zeuge für Jesus (vgl. 1,45; 5,39; 12,34), ansonsten eine Sache der Juden (8,17; 10,34; 15,25). Offenbarung Gottes geschieht allein durch Jesu Worte; er als der von Gott gesandte Sohn ist es, der Gotteserkenntnis vermittelt (17,1–5).

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nach Dtn 6,4 allein an den einzig-einen Gott. An Jesus zu glauben, ist darum nur möglich und gerechtfertigt, weil Jesus der Sohn Gottes ist, der selbst und in all seinem Wirken „mit dem Vater eines ist“ (10,30; 5,17). Entsprechend können die Jünger Jesus nur deswegen lieben (14,15.23 f.; 16,27), wie man nach Dtn 6,5 allein Gott lieben soll. Am dichtesten drückt sich die Einheit Jesu mit Gott in den ICH-BINWorten des johanneischen Jesus aus (6,35.48; 8,12; 10,11.14 f.; 11,25; 14,6). Denn darin stellt er sich selbst mit dem Gottesnamen von Ex 3,14 vor.28 Das tritt besonders in dem absoluten ÉgÈ eÜmi hervor (6,20; 8, 24.28.58; 13,19; 18,6). Wie sich das ICH des Gottesnamens Ex 3,14 in Ex 20,2 im Blick auf die Erwählung Israels und schließlich in Ex 34,6 im Blick auf die Liebe seines Heilshandelns auslegt, so daß Gott seine eigene Ich-Identität in seinem Heilshandeln konkret verwirklicht, so verbindet sich auch in den ICH-BIN-Worten des johanneischen Jesus das Ich des Sohnes Gottes mit den Heilswirkungen und -gaben, die er denen gibt, die an ihn glauben.29 Inbegriff alles Heiles im Johannesevangelium ist „ewiges Leben“ (3,15 f.18.36 usw.). Es ist das Leben, das der Vater „in sich hat“ und es auch „dem Sohn gegeben hat, in sich zu haben“ (5,26). An diesem Leben in Gott selbst gibt Jesus den Glaubenden vollauf teil. So hängt am Glauben an Jesus als Gottes Sohn alle eschatologische Heilsteilhabe, wie umgekehrt Unglaube ewiges Verderben nach sich zieht (3,36 u. ö.). Glaube hat darum rettende Kraft (3,15–18 u. ö.). Mit bestürzender Dramatik erlebt der Leser mit, wie von Anfang an die Führer der Juden mit Unglauben auf Jesu Verkündigung und Lehre reagieren, und die Kluft zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden immer tiefer wird. Der entscheidende Grund liegt darin, daß sie aus dem exklusiven Selbstanspruch Jesu, der alleinige Offenbarer Gottes zu sein, und vor allem aus seinem Anspruch, als Gottes Sohn mit dem Vater eines zu sein, massive Blasphemie heraushören, fundamentale Verletzung des 1. Gebots (5,18; 9,24; 10,33.36). Die ist denn auch der eigentliche Grund, aus dem die jüdischen Führer von Anfang an Jesu Tod beschließen (5,18), und womit sie schließlich Pilatus gegenüber ihre Anklage gegen ihn und die Forderung seiner Kreuzigung begründen (19,7). Dies ist gewiß ein tiefes Mißverständnis, ja ein satanisches Begehren (8,40–47). Aber der 28 Vgl. dazu ausführlich H. Thyen, Ich-Bin-Worte, 174–183 mit dem gesamten alttestamentlichen Hintergrund, ebd., 158–168 sowie Belegen für die rabbinische Auslegung von Ex 3,14, ebd., 171–173. 29 Dazu sind die vielen Stellen in Dtjes zu vergleichen, an denen Gott sich mit seinem ICH-BIN-Namen vorstellt und sich als solcher erweist durch den Hinweis auf seine Heilstaten in Vergangenheit und Zukunft; H. Thyen, ebd., 163–166. Wichtig ist vor allem Jes 45,5: „Ich bin JHWH und sonst keiner; außer mir gibt es keinen Gott.“ Hier ist der Gottesname mit dem schema-jisrael Dtn 6,4 und dem Dekalog Ex 20,2 verschmolzen. Dem entspricht das Verständnis aller ÉgÈ eÜmi-Formeln im Johannesevangelium.

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Johannesevangelist nimmt dieses Mißverständnis sehr ernst. Denn er weiß, daß dieses sarkische Urteil (8,15), das sich daran orientiert und bemißt, daß Jesus sich als Mensch, der er doch ist (6,42; 7,27; 9,29), mit seinem Selbstanspruch maßlos überhebe, sogar Glaubende zum Abfall von Jesus zu verführen vermag (8,33.37 ff. vgl. 6,60 ff.). Die tiefe Krise, die die johanneischen Gemeinden zur Zeit der Johannesbriefe erschüttert hat, ist dadurch ausgelöst worden, daß eine Gruppe von judenchristlichen Lehrern eben diesem Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes widersprochen haben, weil es in dem radikalen Verständnis der Einheit des inkarnierten Logos mit Gott die Einzigkeit des biblischen Gottes verletze.30 Bereits das Johannesevangelium hat entsprechende Widerstände im Blick. Darum wird hier so stark betont, daß einerseits die Einheit von Vater und Sohn gerade die intensivste Steigerung der Einheit Gottes bedeutet, nämlich die Einheit seiner Liebe im Sinne von Ex 34,6 in der wechselseitigen Liebe zwischen Vater und Sohn in Gott selbst (17,23.26); daß aber andererseits der Übergabe der ganzen Vollmacht des Vaters an den Sohn immer der ganze Gehorsam des Sohnes gegenüber dem Vater entspricht. In diesem Sinne ist das Johannesevangelium ein geistlich-christologisches Exerzitium für die Kirche ad intra, das diese nicht nur antwortfähig gegenüber synagogaler Polemik machen, sondern auch eine Vorübung gegen Einsprüche in den eigenen Reihen sein soll. 4. Der zweite Teil des Johannesevangeliums (Kap 13–20) gilt der geistlich-theologischen Bewältigung des Abschieds, den Jesu Rückkehr zum Vater für seine Jünger auf Erden bedeutet. Gerade in diesem Teil hat die passionsgeschichtliche Erzählung zugleich die Funktion hochtheologischer Reflexion für die nachösterliche Kirche aller Zeiten. Entscheidend ist: Hier bricht „die Stunde“ der Erfüllung der ganzen Sendung Jesu an (12,23; 13,1.31 f.; 17,1). Der Gekreuzigte ist „das Lamm, das die Sünde der Welt wegträgt“ (1,29), der gute Hirte, der sein Leben einsetzt für seine Schafe (10,11 ff.14 ff.).31 Auch und gerade im Kreuzestod Jesu entsprechen sich das Heilshandeln Gottes in der Hingabe des Sohnes für das Leben der Welt (3,16) und das Heilshandeln Jesu selbst in der Hingabe seines Lebens in eigener Vollmacht (10,17 f.). Die Liebe Gottes zur Welt kommt in der Liebe Jesu zu den Seinen zur Erfüllung (13,1). Darum endet sein Sendungsweg nicht in seinem Tod, sondern er führt durch den Tod hindurch zu seiner Auferstehung, die zugleich seine Erhöhung „von der Erde weg“ (12,32), seine „Verherrli30 Dazu vgl. oben Anm. 3 sowie in diesem Band Nr. 4. 31 Zur Bedeutung des Sühnetodes Jesu Christi in der Theologie der johanneischen Schriften vgl. in diesem Band Nr. 2.

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chung“ (12,28) im „Hingang“ zum Vater (13,1) und der ewigen Vereinigung mit ihm ist (13,31 f.). So entspricht diese Erfüllung dem Uranfang (17,5). Was aber bedeutet diese Vollendung des Sendungsweges Jesu für seine Jünger, die in der Welt bleiben (17,11), und die er verläßt (16,28)? Zweifellos eine Provokation für ihren Glauben: Sie werden ihn nicht mehr sehen und selbst nicht dorthin gelangen können, wo er nunmehr ist (13,33). Es ist ein Abschied grundsätzlicher Art: Der Ort der Kirche in der Welt und der Ort Jesu jenseits der Welt (13,1) beim Vater sind radikal voneinander getrennt. Entsprechend wird der Glaube sich wandeln müssen in einen Glauben, der den nicht sieht, dem er sich anvertraut (20,29), während bislang der Glaube der Jünger sich an Jesus richtete, der ihnen sichtbar vor Augen stand und dem sie auf seinen irdischen Wegen nachfolgen konnten (vgl. 1,39: „kommt und seht!“). Ja, sie konnten seine Herrlichkeit schauen (2,11 vgl. 1,14), gewiß nur im Glauben, in dem sie in Jesus den Sohn Gottes sahen, aber eben doch in einem Glauben angesichts des fleischgewordenen, als Menschen sichtbaren Logos. Ist also nach Ostern die Zeit der Fleischwerdung des Sohnes Gottes vorbei? Beginnt aufs neue eine Zeit eines Verhältnisses zum lígo™ ësarko™? Keineswegs! Vielmehr wird sich der Glaube in seiner Spannung zwischen Sehen und Nicht-Sehen zu bewähren haben: einer Spannung, die für Christen als Menschen überaus schmerzlich ist (so sehr, daß ihr Herz von dieser Traurigkeit ganz ausgefüllt ist: 16,6!). Aber diese Traurigkeit soll überwunden und in Freude verwandelt werden (16,20), so wie die Schmerzen einer Gebärenden der Freude über das geborene Kind weichen (16,21).32 Diese Verwandlung geschieht durch das Kommen des Geistes in die Mitte der Kirche. Das ist das Thema, auf das sich die Abschiedsreden des zweiten Teils konzentrieren.33 In den johanneischen Aussagen vom „Parakleten“ werden Verheißungen Jesu im Blick auf eine Sprachhilfe des Heiligen Geistes (zu Joh 15,26 f. vgl. Mt 10,19 f./Lk 12,11 f.; Mk 13.11/Lk 21,14 f.; Lk 11,13), Verheißungen des Auferstandenen von der Gabe des Geistes (zu Joh 14,16 f.26; 16,13–15 vgl. Lk 24,49; Apg 1,8) und Aussagen urchristlicher Tauftheologie von der Sendung des Geistes in die Herzen der Christen (Gal 4,6; Röm 8,15 f.) aufgenommen und vertieft: Der Geist tritt im Leben der nachösterlichen Kirche an die Stelle, die zuvor Jesus inmitten seiner Jünger eingenommen hat. Er wird auf ewig „mit ihnen“ (14,16) und „bei ihnen“ sein (14,25). Er wird sie in 32 Dazu vgl. J. Frey, Eschatologie III, 204–222. 33 Zur gattungsgeschichtlichen Verwurzelung in der alttestamentlich-jüdischen Tradition der Abschiedsrede vgl. U. Müller, Parakletenvorstellung sowie zuletzt M. Winter, Vermächtnis, zusammenfassend 306–308.

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lebendiger Erinnerung alles lehren, was Jesus sie gelehrt hat (14.26), wird ihn bezeugen, ebenso in ihrer Mitte wie mit ihnen zusammen in ihrem Zeugnis vor der Welt (15,26 f.). Wie Jesus nichts von sich aus gesagt hat, sondern nur was er den Vater reden hörte (3,32; 5,30; 7,17 f.; 12,49), so wird auch der Geist nichts von sich aus reden, sondern nur, was er Jesus sagen hört (16,13). Und wie Jesus in seinem gesamten Wirken den Vater in der Welt verherrlicht hat (17,4), so wird der Geist Jesus inmitten der Kirche verherrlichen (16,14). Darum trägt der Geist den gleichen Titel, der zuvor Jesus zukam: „Paraklet“, Anwalt. Wie der Vater den Sohn gesandt hat, so sendet er nun den Geist als „anderen Parakleten“ (14,16.26); und zugleich sendet der verherrlichte Jesus selbst den Geist (15,26; 16,7). Vater und Sohn handeln in der Sendung des Geistes also gemeinschaftlich: Der Vater auf Bitten des Sohnes (14,16) bzw. im Namen Jesu (14,26), der Sohn „vom Vater her“ (15,26).34 Es ist „die ganze Wahrheit“ des Vaters (17,17) und des Sohnes (14,6), in der der Geist die Jünger auf Erden führt (16,13). Darum heißt er selbst „der Geist der Wahrheit“ (14,17; 15,26; 16,13). Der Geist „kommt“ (15,26; 16,7.8.13), lehrt, erinnert, bezeugt, führt und überführt (16,8) als selbst Handelnder. Er ist deutlich ein eigenes Subjekt. Aber als solcher ist er vollkommen abhängig von Vater und Sohn, – so wie zuvor Jesus vom Vater. Jedoch handelt er nicht wie Jesus zugleich als Inhaber der ganzen Vollmacht des Vaters. Er agiert als Gesandter durchweg nur in Abhängigkeit, nie in der Vollmacht des Vaters oder des Sohnes. Selbst darin, daß er Jesus inmitten seiner Jünger auf Erden verherrlicht, nimmt er, was er zu sagen hat, von Jesus (16,14), und das heißt zugleich vom Vater; denn was immer der Sohn hat, hat auch der Vater (16,15). Entsprechendes wird vom Geist nicht gesagt, weder was sein Verhältnis zum Vater betrifft noch sein Verhältnis zum Sohn. Dieser Unterschied zwischen dem Sohn und dem Geist, der in allen Aussagen streng gewahrt wird, hat seinen Grund in der vollkommen stellvertretenden Funktion des Geistes: Der Geist tritt in all seinem Wirken an die Stelle des irdischen Jesus im Kreise seiner Jünger. Er nimmt gleichsam die ,Leerstelle‘ ein, die Jesus durch seinen Abschied in ihrer Mitte hinterlassen hat, und füllt diese dadurch aus, daß er in der gesamten nachösterlichen Zeit der Kirche die Verkündigung und die Taten und das Geschick Jesu in der Lehre und in der Glaubenspraxis der Christen gegenwärtig hält – so gegenwärtig, daß durch den Geist die gesamte Geschichte des Sendungsweges Jesu niemals zur Vergangenheit 34 Dieser Unterschied darf nicht zum Anlaß genommen werden, zwischen den ParakletAussagen des 14. Kapitels und denen des 15. und 16. Kapitels literarkritisch zu scheiden; gegen J. Becker, Abschiedsreden, 240 f.; Ders., Joh., 566–568.

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wird, sondern ewige Gegenwart „bleibt“ (14,17). Auf diese bleibende Vergegenwärtigung des irdischen Jesus sind die Christen der nachösterlichen Kirche deswegen elementar angewiesen, weil es wahr ist und in Ewigkeit wahr bleibt, daß es allein Jesus ist, von dem seine Jünger das endzeitlich-vollkommene Heil empfangen können, ewiges Leben. Würde dieses Heil nach Jesu Aufstieg zum Vater nunmehr direkt und unmittelbar vom Himmel her zuteilwerden können, so würde damit die ganze irdische Sendung Jesu ihre heilschaffende Wirklichkeit verlieren, sie würde ersetzt werden durch eine Art mystischer Kommunikation mit dem Auferstandenen im Himmel. Dies war die Grundstruktur alles Offenbarungsverständnisses und aller religiösen Denk-Praxis der Gnosis. Die Gattung des Evangeliums ist dort derart verändert worden, daß nicht mehr die irdische Geschichte Jesu erzählt, sondern vielerlei Gespräche des Erhöhten mit seinen Jüngern nach seiner Auferstehung mitgeteilt werden, an denen die Gnostiker unmittelbar teilhaben. Dort spielt der Geist keine stellvertretend-vermittelnde Rolle, sondern ist bzw. wird mit dem Geist des Gnostikers identisch. Seine zentrale, unersetzbar-wichtige Funktion hat der Geist im Johannesevangelium von daher, daß hier die Geschichtsbezogenheit alles Heilshandelns und aller Offenbarung Gottes, entsprechend der Glaubenstradition Israels, zum Wesen aller Glaubensüberlieferung und Glaubenspraxis gehört. So wie in der Liturgie des jüdischen Päsachfestes die Geschichte des Exodus in Frage und Antwort als aktuell-gegenwärtig erinnert wird, so wird die im Johannesevangelium erzählte Geschichte Jesu durch das Zeugnis des Geistes Gottes in der nachösterlichen Kirche als lebendige Gegenwart erinnert. Und so wie in der Überlieferung Israels der Kontakt mit Gott durch das Geschichtszeugnis der Tora vermittelt wird, so auch aller Kontakt der Christen mit ihrem Herrn durch das Geschichtszeugnis des Evangeliums. Jedoch: Da die Geschichte Jesu Heilsgeschichte in einzigartiger Weise ist: als Geschichte des Sendungswegs des fleischgewordenen Sohnes Gottes, darum bedarf es auch einer einzigartigen Weise der Erinnerung dieser Geschichte: Der Sohn Gottes selbst muß sich in Erinnerung bringen. Und das ist nur durch seine eigene Offenbarungskraft möglich: indem er aus seiner vollkommenen Einung mit dem Vater heraus den Geist, der Vater und Sohn gemeinsam ist und beide in Einheit verbindet, zu seinen Jüngern herabsendet als den einzigen Zeugen der Wahrheit seiner irdischen Geschichte: den Geist, der Gott selbst eignet und jede Anbetung Gottes allein ermöglicht (4,23 f.), und der als diese Offenbarungskraft Jesus in all seinem Wirken erfüllt hat (1,32). In der Wahrheit des in der Kirche gegenwärtig-wirksamen Zeugnisses dieses Geistes vermögen Christen den irdischen Menschen Jesus als den verherrlichten Gottessohn im Glauben zu sehen, obwohl er als solcher den Augen irdischer Menschen entzogen ist. Allein der

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Geist Gottes selbst, der „Geist der Wahrheit“, vermag darum die Christen der nachösterlichen Kirche in den Stand zu setzen, die Geschichte Jesu als die Geschichte der Sendung des Sohnes Gottes bleibend in wahrer Erinnerung zu bewahren. Von daher ist es zu verstehen, daß der Geist den Christen gegenüber ein eigenes Subjekt göttlichen Offenbarungshandelns ist (und niemals mit dem eigenen Geist noch so erleuchteter Gnostiker identisch werden kann); daß er aber auch dem Vater und dem Sohn gegenüber ein eigenes Subjekt ist: als von ihnen gemeinsam gesandter Offenbarer, der freilich zum Vater und zum Sohn gehört, als von beiden abhängiger Gesandter aber in allem Offenbarungswirken in der Kirche den Sohn und im Sohn den Vater den Glaubenden gegenüber repräsentiert. Die Väter der Trinitätslehre haben also auch darin im Sinne johanneischer Theologie Recht gehabt, daß sie den Geist als eigene, dritte Person im Gegenüber zu und in Gemeinschaft mit Vater und Sohn lehrten, zwar in völliger Abhängigkeit von beiden, aber als vom Vater durch den Sohn Gesandten der Kirche gegenüber im vollen Sinn als Gott, „der Herr ist und lebendig macht“. Trinitarische Bedeutung hat es auch, daß sowohl in 14,18–20 wie in 16,16 ff. unmittelbar auf die Ankündigung der Sendung des Geistes eine Ankündigung des Wiederkommens Jesu selbst folgt. Der Evangelist bezieht damit in die traditionelle urchristliche Parusieerwartung die gesamte Zeit zwischen Ostern und Parusie ein (ohne diese damit zu entwerten). Dabei liegt sein Interesse nicht auf einer ,realized eschatology‘, sondern die Erwartung des endzeitlichen „Kommens“ Christi dient der inhaltlichen Bestimmung des in der Kirche wirksamen Geistes: nicht nur, weil dieser von Vater und Sohn von ,droben‘ her gesandt wird, und daher sein ganzes Wirken seine Autorisation von Vater und Sohn hat; sondern vor allem, weil der Inhalt all seines Zeugnisses die Geschichte des Sendungsweges Jesu als des Sohnes Gottes ist, zu deren lebendiger Vergegenwärtigung in der Kirche der Geist so gesandt wird, wie Jesus selbst gesandt worden ist. In diesem Sinne ist es Jesus, der durch die Offenbarungskraft des von ihm gesandten Geistes in der „Erinnerungsgestalt“ seines irdischen Wirkens selbst in die Mitte der Christen als seiner Jünger „zurückkehrt“ (14,18). War es bereits vor Ostern so, daß, wer an Jesus glaubte, die Herrlichkeit Gottes schaute (11,40) und so in Jesus den Vater sah (14,9), so geschieht dies nun in der nachösterlichen Kirche erneut und bleibend. Nicht also Jesus als der verherrlichte, zum Vater zurückgekehrte und mit dem Vater wieder unmittelbar innig-verbundene Sohn (1,18) kommt als solcher ,in Person‘ vom Himmel her zu den Seinen auf Erden zurück – das wird erst in der zukünftigen Parusie geschehen (14,3). Sondern der von Vater und Sohn zu ihnen herabgesandte Geist ist es, der die

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Zeit des irdischen Offenbarungswirkens Jesu nach seinem irdischen Abschied von ihnen in ihrer Mitte vergegenwärtigt, und zwar so, daß die Jünger durch das „erinnernde“ Wirken des Geistes (14,26) die Herrlichkeit des irdischen Jesus nunmehr ungebrochen (vgl. 16,25 ff.), in vollendeter Klarheit und Wahrheit (16,13) zu erkennen vermögen. Das Futurum gnÈseshe 14,20 enthält so einen Doppelaspekt: Die volle Erkenntnis der Herrlichkeit des irdischen Jesus und seines Sendungsweges (17,6–8) wird der Geist in der Zeit der nachösterlichen Kirche vermitteln, so daß durch dieses Zeugnis des Geistes Jesus in der Gemeinschaft der Glaubenden gegenwärtig ist. Die Erkenntnis der Einheit von Vater und Sohn in ihrer vollendeten endzeitlich-himmlischen Wirklichkeit wird den Christen in der zukünftigen Parusie widerfahren, so daß sie dann daran unmittelbar teilhaben werden. Diese beiden Aspekte gehen im Text von Joh 14 und Joh 16 ständig und in immer anderer Weise ineinander über.35 Damit wird der Abschied der Jünger von Jesus aufgehoben. Zwar sind und bleiben sie örtlich und zeitlich von ihm getrennt, und ihren irdischen Augen ist und bleibt er unsichtbar. Thomas ist der letzte Jünger, der seinen Herrn so sehen konnte, wie die Jünger ihn zuvor gesehen hatten. Sogar seine Wundmale darf er mit seinen Fingern berühren (20,27). Die Christen der Kirche dagegen werden an Jesus als den Sohn Gottes glauben, ohne ihn mit ihren irdischen Augen zu sehen (20,29). Doch ihr Bekenntnis wird dasselbe sein: „Mein Herr und mein Gott!“ (20,28 vgl. 1. Joh 5,20!). So wie der Auferstandene sich am Ostertage den Seinen – und in dieser besonderen, paradigmatischen Weise Thomas – als den Lebenden, zum Vater Hinaufgehenden (20,17) selbst gezeigt hat, genau so offenbart ihn der Geist den Christen der Kirche permanent-bleibend. Insofern wird im Zeugnis des Geistes Jesu Abschied aufgehoben. Der Verherrlichte läßt die Seinen nicht als „Waisen“ auf Erden zurück, seitdem er im Himmel bei dem Vater ist (14,18). Im Geist, den er ihnen herabsendet, kommt er selbst, Jesus, zu ihnen zurück; und indem der Geist als Paraklet an seiner Statt „mit ihnen“ ist (14,16), ist er selbst in ihrer Mitte. Darum hört auch die zentrale Heilsgabe des vorösterlichen Jesus in der nachösterlichen Zeit der Kirche nicht auf: Indem der Geist den Glaubenden Jesus vergegenwärtigt, bleibt wahr und wirklich, was Jesus seinen Jüngern gegeben und zugesagt hat: „Wer glaubt, hat ewiges Leben“ (6,40.47). Was dort als eucharistische Gabe angekündigt ist (6,54), wird zur eucharistischen Erfahrung der Kirche aller Zeiten: Jesus, der Sohn Gottes, kommt zu ihr „im Wasser und im Blut“ (1. Joh 5,6), das heißt: im Wasser seiner Taufe zu Beginn seines Sendungsweges (1,33) und im Blut 35 In diesem Sinne nehme ich die Ausführungen von J. Frey, Eschatologie III, 158–172 auf.

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seines Kreuzestodes (19,34) als dessen Ende. Und sofern so durch das Zeugnis des Geistes die Geschichte Jesu von ihrem Anfang bis zu ihrer Erfüllung in der Kirche vergegenwärtigt wird (1. Joh 5,6–8), sind es die beiden Sakramente der Taufe und der Eucharistie, in denen die Glaubenden ewiges Leben empfangen (1. Joh 5,10–12). Daß diese drei eines sind (1. Joh 5,7), ist auf der doppelten Ebene wahr: auf der der in der Offenbarungskraft des Geistes „erinnerten“ Geschichte Jesu, und auf der des Gottesdienstes der Kirche. Und wenn man diese Stelle des 1. Johannesbriefs im Lichte des Johannesevangeliums liest (was aufgrund des eindeutigen Rückbezugs von 1. Joh 5,6 auf Joh 19,34 f. nicht nur naheliegt, sondern geboten ist), dann liegt die trinitätstheologische Erweiterung und Präzisierung in der „Comma Johanneum“ genannten Teillesart des lateinischen Textes von 1. Joh 5,7 f. der Sache nach dem Sinn des Textes durchaus nicht fern.36 Denn was nach den Paraklet-Sprüchen die Funktion des Geistes unter den Jüngern auf Erden ist, gründet ja in der himmlischen Sendung des Geistes durch den Vater und den Sohn. Daß diese drei „im Himmel übereinstimmen“, ist ja doch jedenfalls die entscheidende Begründung dafür, daß auf Erden „der Geist, das Wasser und das Blut“ übereinstimmen. 5. Das Abschiedsgebet Jesu in Joh 17 ist als verdichtete Zusammenfassung der voranstehenden Abschiedsreden im Aufbau des Gesamtwerkes die Entsprechung zum Prolog.37 Geht es dort um die Begründung des Sendungsweges Jesu in seiner uranfänglich-ewigen Einheit und Gemeinschaft mit Gott, so geht es hier um die Bewahrung und Heiligung seiner Jünger auf Erden nach seiner Rückkehr in diesen Ursprung durch ihre Teilhabe an der vollendeten Einheit und Gemeinschaft des verherrlichten Sohnes mit dem Vater. Indem Jesus „seine Augen zum Himmel erhebt“ (17,1), vollzieht er den ersten Schritt seiner angekündigten Rückkehr zum Vater (zusammenfassend 16,28). Es ist zugleich der erste Schritt seines Abschieds von seinen Jüngern. Mit einer kompakten Ermutigung angesichts seines Sieges 36 Aufgrund des in der Tat allgemeinen textkritischen Urteils, daß es sich zweifellos um eine sekundäre Erweiterung handelt, ist eine dogmatische Ausscheidung dieser Stelle aus der neutestamentlichen Grundlegung der Trinitätslehre keineswegs angezeigt – gegen W. Pannenberg, Systematische Theologie I, 328 mit Anm. 146, der sich auf R. Schnackenburg, Joh.briefe, 44–46 beruft, – zu Recht, was die textkritische Beurteilung (ebd., 44.46), m. E. zu Unrecht, was dessen sachkritisches Urteil betrifft, „dogmatische Bedeutung . . . besitz(e) sie nicht“ (46 vgl. 262 Anm. 1). 37 Dazu vgl. M. L. Appold, Oneness Motiv, 194–236; J. Becker, Aufbau; Ch. Dietzfelbinger, Abschied, 254–358; E. Käsemann, Jesu letzter Wille, bes. 101 ff.; T. Onuki, Gemeinde und Welt, 167–182; H. Ritt, Gebet zum Vater, bes. 453–478; M. Th. Sprecher, Einheitsdenken; W. Thüsing, Bitten.

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über die Welt, der sich jetzt vollendet (16,33), gilt sein Gebet in seinem Mittelteil (V. 9–19) der Fürbitte um ihre Bewahrung, die nun allein in der Welt zurückbleiben. Sie sollen „eins sein, wie wir“ (V. 11) – in diesem „Wir“ schließt Jesus sich als der Sohn mit dem Vater zusammen (vgl. 14,23). In seinem Kreuzestod heiligt er sich für sie. Daraus allein erwächst ihre Einheit: Weil er als der gute Hirte für sie sein Leben hingibt (10,14 f.), sind sie hinfort in der Wahrheit geheiligt (17,19 Perfekt!). Die Wahrheit, die dem Vater wie dem Sohn eignet und in der nach der Verherrlichung Jesu Vater und Sohn vollkommen eines sind, ist zugleich das Signal für den Leser, diese „Heiligung“ der Kirche mit dem verheißenen Wirken des „Geistes der Wahrheit“ zu verbinden. Was Jesus im Schlußteil seines Gebets (17,20–26) in Explikation von V. 19 ausführt, soll also als Wirkung des Geistes in der Kirche verstanden werden. Die Fürbitte Jesu umfaßt über den Kreis der beim Mahl versammelten zwölf Jünger38 hinausgreifend, die ganze Kirche aller Zeiten (V. 20): Alle Glaubenden sollen eins sein, „wie du, Vater, in mir und ich in dir, so auch sie in uns“ (V. 21). Das heißt: Alle Glaubenden aller Zeiten sollen teilhaben an der Einheit des verherrlichten Sohnes mit dem Vater und aufgrund dieser Teilhabe (V. 22) auch untereinander in vollkommener Weise eines sein (V. 23). Und an dieser Einheit der Kirche wiederum soll die Welt erkennen, daß der Vater den Sohn gesandt (V. 21) und seine Jünger so geliebt hat wie seinen Sohn (V. 23). Das heißt: Die Einheit der Kirche aufgrund ihrer Teilhabe an der Einheit von Vater und Sohn soll für die Welt das bleibend-offene Zeugnis dessen sein, daß Gottes Liebe in der Sendung Jesu der Rettung der Welt gilt. Die sehr dichte Aussage über die Einheit der Kirche ist also nicht so in sich geschlossen, daß ein ausschließender Gegensatz zur Welt entsteht.39 Zwar bittet Jesus im Mittelteil den Vater, die Seinen vor dem Haß der Welt zu behüten (17,14 vgl. 15,18–16,4). Doch entspricht diesem Haß auf seiten der Welt keinerlei Feindschaft Jesu und der Kirche gegen die Welt. Vielmehr öffnen sich die beiden Reihen der ¢na-Sätze, die von der Einheit der 38 Daß die Zwölf die Teilnehmer am Abschiedsmahl sind, geht aus dem Stichwort ihrer „Erwählung“ hervor (13,18 vgl. 6,70). Daß beim Mahl die geheimnisvolle Figur des namenlosen „Jüngers, den Jesus liebte“ (13,23) an die Stelle des Verräters als des einen Diabolos unter den erwählten Zwölfen (6,70) tritt, der alsbald vom Mahl aufsteht und in die Nacht hinausgeht (13,30), habe ich in meinem Kommentar, 214 f. sowie ausführlich in diesem Bande Nr. 3 begründet. 39 Gegen J. Becker, Aufbau, 79 f.; Ders., Joh., 628: „Also die Welt wird erkennen, wie Jesu Sendung an ihr vorbei sich als Liebe der Seinen realisiert.“ Dagegen spricht U. Schnelle, Joh., 258 f. mit Recht von eine(r) missionarische(n) Dimension. Zu beachten ist, daß die Welt „glauben“ soll (V. 21); die„Erkenntnis“, zu der sie nach V. 23 gelangen soll, ist also positiv als Glaubenserkenntnis gemeint (wie wohl auch 8,28 – vgl. U. Wilckens, Joh., 145 f.), – obwohl die letzte Aussage des Gebets V. 25 mit der Feststellung endet, daß die Welt den Vater nicht erkannt hat.

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Kirche aufgrund ihrer Teilhabe an der Einheit und Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn sprechen (V. 21.22 f.), am Ende jeweils in einem ¢na-Satz im Blick auf den Glauben der Welt (V. 21c; V. 23b). Auch darin klingen die voranstehenden Aussagen über den Geist an, nämlich 15,26 f. und 16,8–11. Daß es nach 20,22 der Auferstandene ist, der seinen Jüngern den Geist „einhaucht“ (wie in Gen 2,7 der Schöpfer dem Menschen die pnoÀ zwœ™, vgl. Weish 15,11; Ez 37,9 f.), ist die erzählerische Ausführung des in den Paraklet-Sprüchen Angekündigten. Der Evangelist benutzt hier eine traditionelle Erscheinungsgeschichte, in der der Auferstandene die Vollmacht zur Sündenvergebung überträgt (vgl. Mt 18,18). Nach der johanneischen Sicht ist dies pars pro toto zu verstehen; vgl. 6,63; 7,32 f. 6. Über einzelne trinitarische Stellen (besonders Mt 28,16–20; 2.Kor 13,13; Röm 11,33–36) in ihrem engeren Kontext hinaus gibt es im Neuen Testament auch bereits trinitätstheologische Denkstrukturen, die sich in ganzen Aussagenzusammenhängen ausprägen. Dazu gehört jedenfalls und an erster Stelle das Johannesevangelium. Ja, man kann geradezu von einer trinitarischen Grundstruktur der johanneischen Theologie reden – und muß dies tun, wenn man das Johannesevangelium in seiner Gesamtkonzeption, von der her alle Einzelaussagen allererst angemessen zu verstehen sind, und den 1. Johannesbrief, dessen aktueller Kampf gegen die Gegner im Grund ein theologisch-kirchlicher Streit um die Wahrheit eben dieses trinitätstheologischen Bekenntnis-Fundaments ist, exegetisch richtig interpretieren will. Die johanneische Theologie ist selbst die erste Trinitätstheologie der Kirche. Sie liefert nicht nur gewisse Ansätze für das spätere Trinitätsdogma, sondern ist dessen biblische Grundlage.

Christus traditus se ipsum tradens Zum johanneischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu „Der gesamte Erdenweg Jesu, der in der Passion gipfelt, ist für Joh eine Selbsthingabe“. Mit diesem Satz hat Wiard Popkes in seiner begriffsgeschichtlichen „Untersuchung zum Begriff der Dahingabe im Neuen Testament“ die johanneische theologia crucis zusammenfassend charakterisiert.1 Der Satz behält auch heute, 30 Jahre danach, seine Gültigkeit. Angesichts der turbulenten Vielfalt der seitherigen Johannesforschung ist dies durchaus beachtenswert. Die folgenden skizzenhaften Überlegungen sollen dazu dienen, dieses Urteil aus meiner Sicht zu bestätigen und zu präzisieren.

1. Der Kreuzestod Jesu als Ziel und Höhepunkt des ganzen Buches (Joh 19,30) Das Johannesevangelium ist durchgreifender als seine synoptischen Vorgänger auf das Passions- und Ostergeschehen als Ziel und Höhepunkt hin komponiert. Jesus geht seinen Weg als der vom Vater gesandte Sohn, und diese seine Sendung ist mit seinem Tod am Kreuz „erfüllt“ (19,30). 1.1. Dieses Ziel des irdischen Weges Jesu führt der Evangelist von Anfang an seinen Lesern vor Augen. Sowie Jesus, dessen Kommen Johannes der Täufer als von Gott gesandter „Zeuge“ (1,6–8) anzukündigen hat (1,15.26), zum ersten Mal selbst die Bühne betritt, begrüßt Johannes ihn 1,29 mit dem Hinweis an die Leser2: „Siehe: Das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt fortschafft!“3 In der folgenden Szene (1,35 ff.) wiederholt der Täufer diesen Hinweis4 und gibt ihm so ein verstärktes Gewicht. Mit dem „Lamm Gottes“ steht zweifellos Jesus als der Gekreuzigte im Blick: Er stirbt zu der Zeit, in der die Päsachlämmer geschlachtet werden (vgl. 1 W. Popkes, Christus traditus, 283. 2 In 1,29 beginnt eine neue Szene („Am folgenden Tag“), ohne daß eine neue Zuhörerschaft eingeführt wird.So richtet sich die Anrede („siehe!“) an die Leser als Auditorium. 3 Zu dieser Bedeutung von a¥rein vgl. Th. Knöppler, theologia crucis, 69 f. 4 Die Verkürzung erklärt sich aus der Leser-orientierten Erzählung. Die Leser kennen die Aussage aus der Glaubenstradition ihrer Gemeine; vgl. 1. Joh 3,5.

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18,28 mit 19,14). So ist er das wahre Päsachlamm, dessen Blut nicht, wie zur Zeit des Exodus, vor dem irdischen Tod schützt (vgl. Ex 12,21–24), sondern vom ewigen Tod rettet, indem er „die Sünden der Welt beseitigt“, deren Folge der Tod ist (vgl. 8,21.31–36). Das bestätigt die Schrift, indem sie das Handeln der römischen Soldaten an Jesu Leichnam (19,32 f.) unter Hinweis auf Ex 12,46 und Num 9,12 deutet: Es ist das Päsachlamm, dessen Knochen nicht gebrochen werden dürfen. Daß die Passion Jesu zur Zeit des Päsachfestes geschieht, steht dem Leser überdies bereits seit 11,55 vor Augen (vgl. 13,1). So spannt sich ein weiter Bogen vom Anfang der Geschichte Jesu zu ihrem Ende. 1.2. Nicht nur das Wort des Täufers in 1,29.36, sondern auch Jesu Handeln selbst weist von Anfang an auf seinen bevorstehenden Tod. Nach seinem ersten Zeichen in Kana (2,1–12) geht er zum Päsachfest nach Jerusalem hinauf (2,13). Die beiden Geschehnisse, die hier 2,14–17 und 2,18–22 berichtet werden, gehören nach den synoptischen Evangelien zum Anfang des Passionsberichtes (vgl. Mk 11,15–19, 27–33 parr). Der Johannesevangelist hat sie zweifellos bewußt aus diesem originalen Kontext an den Anfang der Geschichte Jesu vorgezogen und setzt dabei voraus, daß auch seinen Lesern das Passionsgeschehen als ihr eigentlicher Ort bekannt und vertraut ist. So ist dieser literarische Umbau eine überaus kräftige hermeneutische Anweisung, die Geschichte Jesu von Anfang an als einen auf die Passion zulaufenden Geschehenszusammenhang zu verstehen.5 Die Vertreibung der Händler aus dem Tempel (2,14–17) hat nach Ps 69,10 ihre Motivation in einem „Eifer um Gottes Haus“, der Jesus das Leben kosten wird (2,17: katafâgetai statt LXX katìfagen). Daran erinnern sich seine Jünger – und sollen sich die Leser des Johannesevangeliums erinnern. Die Frage nach seiner Vollmacht (2,18) beantwortet Jesus, anders als in den synoptischen Evangelien (Mk 11,29 f. parr.), mit einem an Mk 14,58 parr anklingenden Wort: „Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn aufrichten“ (2,19). Der Evangelist deutet dieses Wort in 2,21: Jesus habe „von dem Tempel seines Leibes“ gesprochen. Wie sich die Jünger nach 2,17 an das Zeugnis der Schrift erinnert haben, so nach 2,22 – „nach seiner Auferstehung“ – an dieses Wort Jesu selbst.6 Wie ein Kommentar dazu ist 10,18: Nur vordergründig werden

5 Wahrscheinlich ist 2,13–22 vom Joh.-Evangelisten aufgrund von Mk 11,15–18.27–33 in eigener Weise gestaltet und bewußt aus dem dortigen Passionskontext an den Anfang der Geschichte Jesu vorgezogen worden; vgl. C. K. Barrett, Joh., 218 f. Er konnte voraussetzen, daß seine Leser den Mk-Kontext des erzählten Geschehens kannten und die Absicht seiner Voranstellung verstehen konnten; vgl. U. Wilckens, Joh., 60. 6 Bzw., beide Teile der Perikope zusammenfassend, erinnern sich die Jünger an das Wort der Schrift (2,17) und an das Wort Jesu (2,19).

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es die jüdischen Führer sein, die Jesus zu Tode bringen („Brecht diesen Tempel ab“, 2,19). In Wahrheit können Menschen sein Leben ihm nicht wegnehmen, sondern er gibt es von sich aus hin. Denn er besitzt vom Vater die göttliche Vollmacht, sein Leben hinzugeben und es auch „wieder in Besitz zu nehmen“. Zur Zeit des selben Päsachfestes (2,23) findet danach das Gespräch mit Nikodemus statt (3,1 ff.). Es erreicht in 3,14–17 seinen Höhepunkt. „Wie Mose die Schlange in der Wüste erhöht hat, so muß der Menschensohn erhöht werden, damit jeder, der an ihn glaubt, ewiges Leben hat“ (3,14 f.). Durch die Anspielung auf Num 21,8 f. wird deutlich, daß die „Erhöhung“ auf die Kreuzigung Jesu bezogen zu verstehen ist (s. u.). 1.3. Auch in 6,4 steht das Päsachfest bevor. Nach dem Päsach in 2,13 ist das des folgenden Jahres gemeint. So gehen im Johannesevangelium dem Todespäsach zwei Päsachfeste voraus, zu denen Jesus von Galiläa nach Jerusalem hinaufgeht. Auch das ist ein literarisches Mittel des Evangelisten, seine Leser durchweg in der Ausrichtung auf das Ziel des Passionsgeschehens zu halten.7 1.4. Dem gleichen Ziel dient es, daß von 5,18 an die jüdischen Führer von Jerusalem ständig die Absicht haben, Jesus zu töten (7,1.19.25 f.; 8,37.40; 11,53 vgl. 12,10).8 In jeder Diskussion reagieren sie schärfer auf seinen Anspruch, der von Gott gesandte Sohn zu sein. Sie sehen in ihm einen Gesetzesbrecher und Verführer (7,12), ja einen Gotteslästerer (5,18; 10,33;19,7). Umgekehrt beurteilt auch Jesus sie zusehends negativer, vom Vorwurf, daß sie als die für die Bewahrung des Gesetzes Zuständigen „die Stimme des Vaters noch nie gehört“ haben (5,37 vgl. 5,45–47), bis zum Vorwurf, „Kinder des Teufels“ zu sein (8,44). Doch all ihre Versuche, seiner habhaft zu werden, mißlingen, solange „seine Stunde noch nicht gekommen ist“ (7,6.8.10.30; 8,20). Wie unberührbar, entgeht er allen Anschlägen. Und auch wo dann „seine Stunde“ da ist (12,23.27; 13,1; 17,1), geht er von sich aus zielbewußt in sie hinein und durch alle Anfeindungen, Verhöre und Mißhandlungen souverän hindurch. Gerade auch die Passion ist sein Weg, den er als Gesandter des Vaters zu gehen hat (12,27) und zu gehen vermag (16,28 vgl. 8,29). 1.5. Eben diese Souveränität aber, in der Jesus durch all das hindurchschreitet, was Menschen ihm antun, als Sieger, der auch in äußerer Erniedrigung (19,5) der „König der Wahrheit“ bleibt (18,37 vgl. 18,39; 7 Vgl. dazu Th. Knöppler, theologia crucis, 116–121. 8 Vgl. ebd., 184–200.

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19,3), wirft die Frage auf, wie sein Leiden und Sterben zu verstehen ist? In aller Deutlichkeit zeigt sich diese Tendenz, die Souveränität herauszustellen, in der Jesus als der vom Vater gesandte und bevollmächtigte Sohn seinen Weg geht, an den Begriffen, mit denen der johanneische Jesus von seinem Sterben spricht: Wie er von Gott ausgegangen und in die Welt gekommen ist, verläßt er die Welt, um zu Gott zurückzugehen (16,28); und er weiß dies (8,14). Er geht zum Vater (7,33; 16,5.10; 14,12.28). Weder die Juden (8,21 f.) noch auch seine Jünger (13,36) können ihm dahin folgen. Das Wort „sterben“ findet sich in Jesu Mund überhaupt nur ein einziges Mal – im Bilde vom Weizenkorn, das „sterben“ muß, um Frucht zu bringen (12,24). Sonst ist vom Sterben Jesu nur in Sätzen des Evangelisten (12,33;18,22 vgl. 2,21) und in der unfreiwilligen Prophetie des amtierenden Hohenpriesters (11,50; 18,14) die Rede. Besonders auffällig ist die Rede von der „Erhöhung“ Jesu, wo sein Tod am Kreuz im Blick steht (3,14; 12,32.34 vgl. 8,28). Das ist zwar an der ersten Stelle durch den Verweis auf die Erhöhung der Schlange in der Wüste (Num 21,8 f.) erklärt. Doch das entscheidende Stichwort „Erhöhen“ selbst findet sich im Wortlaut dieser alttestamentlichen Stellen nicht. Es hat seinen Ort in einer christologischen Grundaussage urchristlicher Tradition, wo von der Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten Gottes im Himmel die Rede ist (Phil 2,9; Apg 2,33; 5,31), im Kontext christologischer Ausdeutung von Ps 110,1 (vgl. Mk 12,36 parr; 14,42 par; Apg 2,34 f.; 1. Kor 15,25; Röm 8,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12).9 Zweifellos kennt der Johannesevangelist diese traditionelle Bedeutung des Wortes und setzt voraus, daß dieser Kontext auch seinen Lesern vertraut ist. So mutet er ihnen zu, das Bild ihres zur Rechten des himmlischen Thrones Gottes sitzenden Herrn mit dem Bilde des an das Kreuz „erhöhten“ Jesus zusammenzusehen. Das bedeutet: Wie seine Jünger im Glauben an den Menschen Jesus den Sohn Gottes und in dem Mann aus Nazaret den vom Himmel gekommenen Gesandten des Vaters sehen, sollen sie im Gekreuzigten den sehen, der gerade hier seine göttliche Sendung erfüllt hat (19,30), und so im Leiden den Sieger (16,33). Das ist eine Spannung von äußerster Sprengkraft. Denn so sehr in Jesu Worten über seinen Tod der Gedanke der Rückkehr zum Vater aufgrund der Erfüllung seiner Sendung dominiert, so sehr wird in der Erzählung des Evangelisten die kontrastierende Wirklichkeit des von Menschen brutal zugerichteten und entwürdigten Menschen (19,1–5.23) sowie auch seine Angst vor dem bevorstehenden Sterben (12,27) herausgestellt. Das Sterben in seiner ganzen Härte wird keineswegs überblen-

9 Dazu vgl. M. Hengel, Setze dich zu meiner Rechten; zur joh. Deutung zuletzt J. Frey, Eschatologie III, 277–280.

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det10, wenn von seinem Tod als von seiner Erhöhung die Rede ist. Es ist wirklich gemeint, daß im Tod des Menschen Jesus am Marterpfahl des Kreuzes seine Erhöhung zu Gott geschieht. Nach dem theologischen Sinn dieser Spannung muß gefragt werden. Wir nehmen diese Frage am Schluß wieder auf.

2. Zum Verständnis von Joh 1,29 Als die – nach dem Prolog – erste christologische Aussage hat das Wort des Johannes in 1,29 großes Gewicht – unbeschadet der Tatsache, daß sie im ganzen Johannesevangelium einzig dasteht und nur im 1. Johannesbrief im Wortlaut aufgenommen wird (1. Joh 3,5); unbeschadet aber auch der Tatsache, daß die Zeugnisrede des Johannes in 1,34 mit dem Prädikat des Sohnes Gottes ausmündet, das dann in allem Folgenden klar dominiert und am Schluß des Buches (20,31) als der für die Leser entscheidende Inhalt christlichen Glaubens herausgestellt wird. Wir haben daher die Frage so zu stellen: Was bedeutet die Aussage 1,29 für das Verständnis der Gottessohnschaft Jesu; und umgekehrt, was bedeutet es für das Verständnis der Heilswirkung des Todes Jesu im Sinne von 1,29, daß er der Sohn Gottes ist? 2.1. So deutlich es ist, daß der Evangelist in dem „Lamm Gottes“ den Gekreuzigten als das wahre Päsachlamm sieht, so deutlich ist zugleich, daß die Aussage die Kenntnis von Jes 53 voraussetzt. Zwar ist dort von einem Lamm nur bildhaft die Rede im Blick auf die Geduld, mit der der Gottesknecht alle ihm zugefügte Gewalt auf sich genommen habe. Dieses Motiv spielt in Joh 1,29 keine Rolle (vgl. dagegen 1.Petr 2,23). Doch das Wegtragen der Sünden hat in Jes 53,6 eine deutliche Grundlage: „Der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen“ (vgl. 53,11 f.). Dort ist freilich nicht von einem Wegtragen die Rede; der Blick haftet auf dem Auf-sich-Nehmen der Sündenlast, die der Gottesknecht stellvertretend für „uns alle“, „die Vielen“, trägt. Die Nuance des Wegtragens kommt in einem dritten alttestamentlichen Vergleichstext zum Ausdruck: In der Beschreibung der Liturgie des großen Versöhnungsfestes in Lev 16 wird einem Bock die Last der Jahressünden des Volkes Israels realsymbolisch „aufgestemmt“, die er dann in die Wüste hinausträgt und somit die Lebenswelt des Volkes von ihr entlastet und freimacht (Lev 16,21 f.). 10 Gegen E. Käsemann, Jesu letzter Wille, 16–54 und die Exegeten, die ihm darin gefolgt sind; vgl. vor allem J. Becker, Joh., 468–474; U. B. Müller, Eigentümlichkeit; bes. 37–45.

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Diese drei überlieferungsgeschichtlich verschiedenen Ansätze sind im Urchristentum vielfältig ineinandergeflossen, wo es darum ging, die Heilswirkung des Todes Jesu auszusagen. Dabei hat zur Begründung der sündentilgenden Wirkung die Sühneanschauung eine dominierende Rolle gespielt.11 Auf diesem Hintergrund ist die Aussage Joh 1,29 zu verstehen. So erscheint der gekreuzigte Jesus als das wahre Päsachlamm, das stellvertretend die Last der Sünden auf sich genommen und die Sünder von ihr befreit hat.12 Daß es die Welt ist, deren Sünden er beseitigt, ist eine besondere Nuance, auf die später einzugehen ist. 2.2. Von der „Beseitigung der Sünden“ durch Jesus ist auch 1. Joh 3,5 die Rede. Da diese Aussage im johanneischen Schrifttum nur an diesen beiden Stellen vorkommt, liegt zunächst die Annahme nahe, daß der Brief die Stelle im Evangelium zitiert. Daß der Titel „Lamm Gottes“ hier fehlt, kann durch den Briefkontext bedingt sein. Nicht auszuschließen ist aber auch, daß die Aussage in 1. Joh 3,5a traditionell ist („ihr wißt“) und die Einleitung „Siehe, Gottes Lamm“ in Joh 1,29 vom Evangelisten hinzugefügt ist, um hier bereits auf den Kreuzestod am Päsachabend hinzuweisen. Für diese Annahme spricht, daß in der Wiederholung Joh 1,36 nur vom „Lamm Gottes“ die Rede ist. Das Interesse des Briefes ist, herauszustellen, daß Christen nicht sündigen dürfen, weil sie durch Jesus von den Sünden befreit worden sind. Hinzutritt hier aber noch eine andere Begründung: Christen leben bleibend „in ihm“ (3,6a), „in dem“ seinerseits keinerlei Sünde ist (3,5b). Als Sündloser hat Jesus seine Jünger dadurch von ihren Sünden befreit, daß er sie mit ihm selbst so nahe und wesentlich verbunden hat, daß sie nunmehr ihren Lebensort „in ihm“ haben und in ihrer Lebensführung an seiner Sündlosigkeit teilhaben. So unterscheiden sie sich von den Sündern, von denen gilt: „Jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen und ihn nicht erkannt“ (3,6b). Dieser Unterschied wird im folgenden Abschnitt 3,7 ff. dualistisch radikalisiert: Als Jünger Jesu, des Sohnes Gottes, sind Christen Gottes Kinder und können als „aus Gott Geborene“, „Gott Zugehörige“, nicht sündigen. Sünder dagegen erweisen sich in ihrem Sündigen als Kinder des Teufels. Dessen „Wirken“ aber hat Jesus „aufgelöst“ (3,8), das heißt: Die Macht des Teufels über die Sünder als seine

11 Dazu vgl. U. Wilckens, Röm. I, 233–243. Zum Sühnetod Jesu in joh. Sicht vgl. Th. Knöppler, theologia crucis, 88–101. 12 Eine Alternative zwischen der Herkunft aus der Päsachtradition oder von Jes 53 ist bereits aus traditionsgeschichtlichen Gründen, vor allem aber für die theologische Interpretation der Aussage im Sinne des Johannesevangelisten weder angebracht noch hilfreich; gegen J. Becker, Joh., 116. Jegliche „sühnetheologische Bedeutung“ bestreitet U. B. Müller, Eigentümlichkeit, 52 Anm. 107.

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Kinder hat Jesus dort gebrochen, wo er Sünder aus ihren Sünden befreit und sie sich und damit Gott zugeeignet hat. Christen waren also Sünder, sind es nun aber nicht mehr. Von daher sind die Eingangssätze des Briefes zu verstehen, wo es einerseits heißt: „Wenn wir sagen, daß wir Gemeinschaft mit ihm haben – ,koinonia‘ als gemeinsame Teilhabe an Jesus und durch Jesus an Gott – und im Finstern wandeln, lügen wir und tun nicht die Wahrheit“ (1. Joh 1,6); andererseits jedoch: „Wenn wir sagen: Wir haben keine Sünde, so verführen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“ (1,8). Dazwischen steht als die entscheidende Aussage, die sowohl den einen wie den andern Satz begründet: „Wenn wir im Licht wandeln, wie Er im Licht ist, haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, reinigt uns von aller Sünde“ (1,7). Sündlos also sind Christen nicht aus sich selbst, sondern weil Jesus sie „von aller Ungerechtigkeit gereinigt hat“ (1,9b). Auf ihr Sündenbekenntnis vor ihm vergibt er ihnen ihre Sünden (1,9a), so daß sie ihn zum Lügner machten, wenn sie von sich sagten, sie hätten nie gesündigt (1,10). Vielmehr gilt: Er ist „die Sühne für unsere Sünden“ (2,2 vgl. 4,10). Der Brief interpretiert das Sühnegeschehen des stellvertretenden Sterbens des Sohnes Gottes für die Sünder so, daß die Wirkung dieser Stellvertretung ihre Teilhabe an ihm ist, die sich in ihrer Lebensführung als Entsprechung zu seiner Gerechtigkeit auswirkt. Das steht paulinischen Sühneaussagen wie 2.Kor 5,21 in der Sache nahe. Paulus betont jedoch, daß sich an dem für uns Gekreuzigten die todträchtige Wirkung unserer Sünde ausgewirkt und er so den Fluch des Gesetzes über uns, die Sünder, auf sich genommen hat (Gal 3,13), damit wir davon frei und gerecht werden. Das johanneische Schrifttum hebt auf unsere Befreiung von der Sünde durch Jesus ab (vgl. 8,32–35!), der sie von uns genommen und in seinem Tod „aus der Welt geschafft“ hat. Doch die Sündlosigkeit Jesu ist bei Paulus wie bei Johannes von grundsätzlicher Bedeutung für das Verständnis der Sühnewirkung seines Kreuzestodes. Ebenso wird von beiden die Heilsinitiative Gottes im Sühnetod Christi betont. Nach Paulus hat Gott „Den, der mit Sünde nichts zu tun hatte, (stellvertretend) für uns zur Sünde gemacht, damit wir in Ihm Gottes Gerechtigkeit werden“ (2.Kor 5,21); während Johannes betont, daß es Gottes Liebe ist, die er in der Sendung seines Sohnes zur Wirkung kommen ließ (1. Joh 4,9 f. vgl. Joh 3,16). Doch diese Deutung kennt auch Paulus (vgl. Röm 5,8; 8,39) sowie besonders auch der Epheserbrief, der wiederum die Erlösung als Teilhabe am Tode und an der Auferstehung Christi herausstellt (2,4–10 vgl. Röm 6,3–11). 2.3. Da das Verhältnis zwischen Johannesbrief und Johannesevangelium in der Forschung umstritten ist,13 ist es nützlich, im Evangelium selbst

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nach Aussagen zu suchen, die zur Interpretation von Joh 1,29 beitragen. Es gibt nur noch eine einzige Stelle, an der von einer Befreiung von Sünden durch Jesus die Rede ist: 8,34–36. Durch „Amen amen, ich sage euch“ als Offenbarungswort eingeleitet, sagt Jesus hier in der Form eines Lehrsatzes: „Jeder, der Sünde tut, ist ein Sklave der Sünde.“ Die genaue Parallele in Röm 6,16 zeigt, daß es sich um einen traditionellen Satz handelt: „Wißt ihr nicht: Wem ihr euch als Sklaven zur Verfügung stellt zum Gehorsam, dem habt ihr als Sklaven zu gehorchen – entweder der Sünde zum Tode, oder der Gerechtigkeit zum Leben“. Auch die Fortführung in Röm 6,18 entspricht der in Joh 8,36: „Wenn euch der Sohn befreit, seid ihr wirklich frei“ – „Befreit aber von der Sünde, seid ihr Sklaven geworden der Gerechtigkeit.“ (vgl. auch 2.Petr 2,19 als Variante des gleichen Spruchs).14 Im Tun der Sünde erweist sich die Gebundenheit der Person des Sünders, die einem Sklavenverhältnis gegenüber der Sünde entspricht. Daraus befreit Jesus die, die an ihn glauben (vgl. 8,30). Sie sind „wirklich“ frei. Dies wird hier nicht wie in 1. Joh 3,5 f. im Blick auf die Freiheit vom Tun der Sünde im Tun der Gerechtigkeit ausgeführt, sondern im Blick auf die Freiheit, die im Verhältnis des Glaubenden zu Jesus ihre „Wirklichkeit“ hat. Darauf bezieht sich der Zwischensatz 8,35. Er spielt auf das Rechtsverhältnis zwischen Söhnen und Sklaven im jüdischen Hause an.15 Die Zeit der Zugehörigkeit eines jüdischen Sklaven zu seinem Herrn war nach Ex 21,2 auf 6 Jahre begrenzt; zu Beginn des 7. Jahres mußte er freigelassen werden und konnte das Haus verlassen. So unterscheidet sich der Sklave darin von einem Sohn seines Herrn, daß er nicht auf Dauer zu dessen Hausgemeinschaft gehört; dieses Recht hat allein der Sohn. Dies wendet V. 35 nun auf das Verhältnis zwischen den Sündern und den von Jesus befreiten Christen an: Nur dieser „bleibt in Ewigkeit“ im Hause des Vaters, jener nicht. Dabei wird die Unstimmigkeit in Kauf genommen, daß es ja das Haus der Sünde ist, dem der Sünder als ihr Sklave zugehört, und dies auch nicht nur auf eine begrenzte Zeit, sondern bleibend (vgl. 3,36); also leben eigentlich der Sünder und der befreite Christ gar nicht in dem einen und selben Hause nebeneinander. Aber dies wird bei dem 13 Vgl. dazu den Überblick über den Forschungsstand bei H.-J. Klauck, Joh.briefe, 105 ff.; zuletzt J. Frey, Eschatologie III, 53–60, der selbst die Priorität von 1. Joh vor Joh (und von 2.Joh vor 1. Joh) zu begründen sucht. Die Frage kann hier offen bleiben; vgl. aber in diesem Band S. 10 Anm. 3. 14 Vgl. auch Gal 4,1–7; 5,1; 1. Kor 7,22 entspricht dem in seinen beiden Teilen, ist aber auf die reale soziale Situation bezogen, wie 2.Kor 12.13; Gal 3,28; Kol 3,4. Eine noch andere Spielart ist 1.Petr 2,16. 15 Dazu vgl. R. Schnackenburg, Joh. II, 265 Anm. 2 mit Verweis auf das Material bei Billerbeck IV, 698–744, bes. 709–716. Vgl. auch J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 349– 351.

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Vergleich ausgeblendet. Es kommt lediglich darauf an, daß dem durch Jesus von der Sünde Befreiten als Kind Gottes ewiges Bleiberecht im Hause Gottes zukommt, dem Sünder dagegen nicht.16 Darauf bezieht sich die „Wirklichkeit“ der Freiheit des Christen: sie ist „ewig“ im Sinne endzeitlich-bleibender Wirklichkeit. Dieses eignet nun aber „von Hause aus“ Jesus als dem Sohn des Vaters. Es ist seine Freiheit, an der die von ihm Befreiten teilhaben, indem sie in ihm bleiben. Das wird deutlich aus dem Anfang dieser Rede Jesu 8,31 f. Die Juden, die zum Glauben an Jesus gekommen sind, sollen in seinem Wort bleiben, um allererst in solchem Glauben „in Wahrheit“ seine Jünger zu sein. Als solche werden sie „die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird sie befreien“. Ist Jesus als der Sohn Gottes „bleibend“ in Gott, so können die Glaubenden nur in der Wahrheit Gottes (vgl. 17,17), zu der der Sohn sie befreit hat, bleiben, wenn sie im Wort Jesu bleiben, der, vom Vater gesandt, der Zeuge der Wahrheit ist (18,37 vgl. 8,40.45 f.) und als solcher selbst „die Wahrheit“ ist (14,6). „Die Wahrheit“ ist die endzeitlich-ewige, bleibende Wirklichkeit Gottes, die Jesus als Offenbarer in seinem Wort den Glaubenden so vermittelt, daß sie selbst an ihr „erkennend“ teilhaben17, indem sie als Jesu Jünger bei ihm bleiben. Und so ist es die Wahrheit Gottes in Jesu Wort, die die bleibende Wirkung der Befreiung der Jünger Jesu hat. In diesem Sinn ist die Freiheit, zu der Jesus sie befreit, nicht nur Befreiung von der Sünde, die Freiheit, nicht mehr zu sündigen, sondern eigentlich Teilhabe an der Wahrheit Gottes im Bleiben in Jesu Wort, durch dessen befreiende Kraft allein sie ein sündloses Leben führen können. Ist dies der Sinn-Horizont von 1,29, so wird deutlich, wie der Johannesevangelist die traditionelle Sühneaussage und damit den Gekreuzigten als das Lamm Gottes verstanden wissen will. Das „Wegschaffen“ der Sünden hat den Sinn der Befreiung von der Gebundenheit des Sünders an die Sünde durch die Teilhabe an der Freiheit Jesu als des Sohnes Gottes, die er denen, die im Glauben in seinem Wort bleiben, als Bleiben in der ewigen Wahrheit Gottes verschafft und vermittelt. Von daher wird nun auch verständlich, daß und warum in dem Schlußsatz des Zeugnisses 16 Vgl. R. Schnackenburg, Joh. II, 264 f.; zuletzt R. Metzner, Verständnis der Sünde, 181–186. 17 „Erkennen“ ist im Johannesevangelium mehr als die geistige Wahrnehmung eines Gegenstandes: das Eingehen eines Lebensverhältnisses zu dem Erkannten. Zumal die „Erkenntnis Gottes“, in alttestamentlicher Sprache ein Ausdruck von zentraler Bedeutung, ist nicht ein Wissen, daß es Gott gibt, sondern als „Furcht des Herrn“, umfassender Lebensgehorsam gegen Gott und die Gebote seines Gesetzes. Entsprechend vollzieht sich im Johannesevangelium das Erkennen der Wahrheit Gottes im Bleiben in den Worten Jesu, die auch als seine „Gebote“ bezeichnet werden können (vgl. 14,15.21; 15,10; 1. Joh 2,3 f. u. ö.).

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des Johannes 1,34 der Titel „Sohn Gottes“ an die Stelle „Lamm Gottes“ tritt. Wieso aber diese Befreiung durch den Kreuzestod Jesu geschieht, worauf 1,29 prononciert hinweist, wird bei dem Vergleich mit 8,31–36 nicht deutlich; denn vom Kreuzestod ist dort nicht die Rede. Diese Frage wird später von anderen Vergleichstexten aus zu beantworten sein. 2.4. Daß Jesus als der Sohn selbst sündlos ist, wie 1. Joh 3,5 betont, ist in Joh 8,34–36 impliziert vorausgesetzt und in 8,46 ausdrücklich betont (vgl. vorher 7,18).Wie der soteriologische Sinn dieser Sündlosigkeit des Erlösers zu verstehen ist, zeigt sich gründlicher, wenn man die johanneische Lichtmetaphorik in 3,19–21 hinzuzieht, einen Text, der mit 8,34–36 Wesentliches gemein hat. Dort sagt Jesus 3,17, daß er als der Sohn vom Vater nicht gesandt worden ist, um an der Welt das Endgericht zu vollziehen, sondern um sie zu retten. Diese Rettung wird wirksam im Glauben an Jesus. Wer dagegen nicht glaubt, ist bereits verurteilt – eben darin, daß er nicht an den Namen des einziggeborenen Sohnes Gottes geglaubt hat (3,18). Die beiden Perfecta drücken eschatologische Endgültigkeit aus. Dies wird nun in 3,19–21 unter dem Aspekt der menschlichen Erfahrung ausgeführt. Der Vollzug des Gerichts ist ein Licht-Geschehen: Jesus als der vom Vater in die Welt gesandte Sohn offenbart den Menschen Gottes Wahrheit – so wie am ersten Schöpfungstage das Licht in die Urfinsternis hinein erstrahlt (vgl. 1,5). Ein Hellbereich entsteht; das Dunkel muß vor dem Licht zurückweichen (vgl. 1. Joh 2,8b). Als das Licht der Offenbarung Gottes erleuchtet Jesus jeden Menschen (1,9). Doch die Menschen reagieren darauf gegensätzlich. Die einen scheuen das Licht, weil ihre Werke böse sind und sie fürchten, daß sie in der Helligkeit des Lichtes als böse erfunden werden, sie fürchten das Licht als Gerichtsvollzug ihrer Verurteilung als Sünder (3,19 f.). Die anderen treten in das Licht hinein, damit darin ihre Werke als „in Gott getan“ offenbar werden (3,21). Erst durch das Scheinen des Lichtes tritt eine Scheidung („Krisis“) von Licht und Finsternis ein. Erst durch das Erscheinen Jesu als Gottes Sohn wird das Tun der einen als Böse „entlarvt“ und das Tun der anderen als „in Gott“ offenbar.18 Das Erste 18 Dieser terminologische Unterschied in 3,20.21 zwischen dem forensischen „Élegchœnai“ und dem revelatorischen „fanerwhœnai“ will bei der Interpretation wohl beachet werden. Sonst gelangt man zu einer dualistischen Deutung, nach der in der Erscheinung Jesu nichts anders geschieht als eine bloße zeitliche Vorziehung des eschatologischen Gerichtsvollzuges über Sünder und Gerechte, den die jüdische Apokalyptik in der Zukunft der Endzeit erwartete, in die christliche Gegenwart. So würde jedoch ein unauflösbarer Gegensatz zwischen 3,17 und 3,19–21 entstehen, der dann nur entweder literarkritisch durch Verteilung zwischen Evangelist und „kirchlicher Redaktion“ gewaltsam aufgelöst (so G. Richter, Studien, 378, Anm. 122; 399 sowie E. Haenchen, Joh., 228 f.), oder traditionskritisch durch Zuordnung von 3,19–21 zu einer vorjohanneischen Tradition, die der Sache

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geschieht darin, daß diese Menschen nicht an Jesus als den Sohn im Sinne von 3,17 glauben, sondern sich vor ihm als Richter fürchten (vgl. 1. Joh 4,17 f.) und so „die Finsternis mehr lieben als das Licht“. Das Zweite geschieht darin, daß diese Menschen im Glauben zu Jesus kommen, in ihm den Retter erkennen und sich mitsamt all dem, was sie getan haben, in sein Licht stellen. So erfahren sie das, was in 8,36 als Befreiung und in 1,29 als „Wegschaffen“ der Sünden beschrieben wird. Und wie dort die Befreiung von der Sünde dadurch entsteht, daß die Glaubenden in Jesu Wort und in Gottes Wahrheit, die Jesus bezeugt und die er als Offenbarer ist, bleiben, so erleuchtet nach 3,21 das Licht, das Jesus ist (vgl. 8,12–9,5; 12,46), das ganze Leben der Glaubenden, so daß in diesem Schein all ihr Tun als „in Gott getan“ erscheint. Denn die Befreiung von den Sünden geschieht ja darin, daß sie an der Wahrheit Gottes teilhaben, die Jesus ist, und also sündlos werden, wie Jesus sündlos ist. So gesehen, entscheidet sich, wer Sünder ist und als solcher zugrundegeht, und wer von Sünde befreit ist und am ewigen Leben teilhat, überhaupt allererst durch die Erscheinung Jesu, und zwar in eschatologischer Endgültigkeit, in der Scheidung zwischen Glaubenden und Nichtglaubenden. Allen scheint das Licht. Allen wird so die rettende Chance eröffnet, ins Licht zu treten und „Kinder des Lichtes“ zu werden (12,35 f.). Zugleich aber ist die Verweigerung des Glaubens an Jesus als den Sohn Gottes der eigentliche, eschatologisch-kritische ,Sündenfall‘. „Wenn ich nicht gekommen wäre und zu ihnen geredet hätte, hätten sie keine Sünden. Jetzt aber haben sie keine Ausrede für ihre Sünde“ (15,22 vgl. auch 9,41). Sie werden „in ihren Sünden sterben“ (8,21,24). Entsprechend wird nach der Auferstehung Jesu der von ihm gesandte Geist die Welt der Sünde überführen, die darin besteht, daß sie nicht an Jesus glauben (16,8 f.).

3. Die Rettung der Welt durch Gottes Liebe in Jesu Liebe Wir nehmen nun die entscheidende Frage auf: Wenn der Glaube an Jesus als den von Gott gesandten Sohn der Weg zum endzeitlich-vollkommenen, ewigen Leben ist, was bedeutet dann der Kreuzestod Jesu für die an ihn Glaubenden? In welchem Sinn ist dieser Tod am Kreuz das soteriologische Zentrum und in diesem Sinn die Vollendung der Sendung Jesu (19,30)? nach mit der Theologie des Johannesevangelisten unvereinbar sei (so J. Becker, Joh., 173 f.) erklärt werden kann, nämlich durch die Hypothese eines traditionsgeschichtlichen Prozesses in mehreren aufeinanderfolgenden Phasen (ebd., 175 ff.). Eine theologische Interpretation des vorliegenden Textes ist so nicht möglich; vgl. zuletzt J. Frey, Eschatologie III, 290–300.

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3.1. Sieht man auf die Begriffe, mit denen der johanneische Jesus von seinem Sterben spricht (s. o. 1.5.), so scheint es nur eine Sache zwischen ihm und dem Vater zu sein. Er geht zum Vater, kehrt zu ihm als seinem Auftraggeber zurück. Er wird zum Vater „erhöht“ und „verherrlicht“ in vollendeter Teilhabe an der Herrlichkeit des Vaters (17,5). Für die Welt wie auch für seine Jünger bedeutet das seine Entfernung von ihnen: Er verläßt die Welt. Die Menschen werden ihn dann suchen und nicht finden, weil der Ort seiner Rückkehr zu Gott für jeden Irdischen unerreichbar ist (vgl. 7,33 f.). Die Heilsbedeutung des Kreuzestodes muß also mit dem Sendungsverhältnis zwischen Vater und Sohn ursächlich zusammenhängen. 3.2. Die erste Stelle, an der dies ausgeführt wird, ist 3,14–17. Daß mit der Erhöhung des Menschensohnes V. 14 die Kreuzigung Jesu im Blick steht (s. o. 1.2.), haben wir bereits gesehen. Die daran angeschlossene Heilsaussage V. 15 wird in dem Satz V. 16 präzisiert: „So sehr nämlich liebte Gott die Welt, daß er seinen Sohn, den Einziggeborenen, gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht umkommt, sondern ewiges Leben hat.“ Von V. 14 f. her kann dieses „Geben“ nur auf den Kreuzestod bezogen werden, meint also, was in urchristlicher Überlieferung als „Dahingabe“ Jesu beschrieben wird.19 V. 17 jedoch führt die Aussage fort („nämlich“), indem von der Sendung des Sohnes zur Rettung der Welt die Rede ist. Von daher legt sich wiederum nahe, das „Geben“ in V. 16 als „Schenken“ aufzufassen und auf die Sendung Jesu als ganze zu beziehen. Da V. 14–17 einen großen Zusammenhang darstellt, muß die Gabe der Liebe Gottes an die Welt in der Dahingabe seines einzigen Sohnes in den Tod als das Ziel seiner ganzen Sendung bestehen, in dem diese sich zur Rettung der Welt vollendet. Der zentrale Begriff, in dem diese verschiedenen Motive integriert sind, ist der der Liebe Gottes. Sie ist so grenzenlos groß, daß Gott der Welt in seinem Sohn als „dem Einziggeborenen“ (vgl. 1,14.18) alles schenkt, was er hat und ist. Denn Vater und Sohn sind in allem, was Jesus als Gesandter des Vaters sagt, tut und ist, so ganz eines (10,30), wie Gott und der Logos es im Uranfang (1,1 f.) gewesen sind und wie es Vater und Sohn wieder sein werden, wenn Jesus nach Vollendung seiner Sendung in seinem Kreuzestod (19,30) zum Vater zurückkehrt (17,4 f.). Diese Einheit Jesu mit Gott ist es, die einerseits die Gabe des Sohnes auch in seiner Dahingabe in den Tod als Vollzug der Liebe Gottes selbst qualifiziert, die aber andererseits eben darin auch der Realgrund dafür ist, daß diese Liebe Gottes zur Welt erreicht, was sie erreichen will 19 Dazu vgl. W. Popkes, Christus traditus, sowie zuletzt J. Frey, Eschatologie III, 286– 289.

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(„damit“!): die Rettung der Verlorenen, die ohne diese Heilsaktion seiner Liebe zugrundegehen müßten. Von daher kann das Erstzeugnis des Johannes über Jesus in 1,29 so interpretiert werden: Das wahre Päsachlamm, das durch sein Sterben die Sünden der Welt wegschafft, ist Jesus als Gottes Sohn (1,34), in dessen Sendung Gottes rettende Liebe selbst zur Wirkung gekommen ist, indem Gott seinen Einziggeborenen für sie hingegeben hat. Der Tod des Gottessohnes für die Welt bewirkt, daß alle, die an ihn glauben, dem Verderben ewigen Todes entrissen werden, das die Folge der Sünde ist. Die Heilsfolge ist, daß sie an ihm, der das Leben ist, teilhaben, sofern sie als seine Jünger in der Wirklichkeit seiner Sündlosigkeit bleiben und so auf ewig von der Macht der Sünde über ihr Leben geschieden sind. 3.3. Das Gleiche sagen die Aussagen, in denen Jesus über sein Sterben als Einsatz seines eigenen Lebens (seiner „Seele“) für die Seinen spricht: 10,10–18; (13,37 f.); 15,13;1. Joh 3,16. In der Ausdeutung der Bildrede vom Hirten und seinen Schafen (10,1–6) spricht Jesus in drei Schritten von sich als dem guten Hirten: 1. Er ist dies im Gegensatz zu einem Lohnarbeiter, dem die Schafe nicht gehören und dem sie darum nicht am Herzen liegen; wenn der Wolf kommt, sucht der sein eigenes Leben durch die Flucht zu retten, läßt die Schafe im Stich und gibt sie der Raubgier des Wolfes preis. Jesus dagegen setzt sein eigenes Leben für die Seinen ein (V. 11–13). 2. Dies tut Jesus, weil er sie als die Seinen kennt und sie ihn, entsprechend dem Verhältnis gegenseitigen „Erkennens“ von Vater und Sohn. In der Entsprechung solchen Erkennens gründet der Lebenseinsatz des Sohnes für die Seinen (V. 14 f.).20 3. Weil Jesus sein eigenes Leben für die Seinen einsetzt, liebt der Vater ihn. Kein Mensch kann dem Sohn sein Leben nehmen, er gibt es selbst hin und nimmt es wieder, weil er zu beidem vom Vater die Vollmacht empfangen hat (V. 17 f.). In diesem Kontext zeigt sich, daß der persönliche „Einsatz“, von dem hier durchweg die Rede ist, von vornherein die Bereitschaft, für die Seinen zu sterben, wo dies zur Rettung ihres Lebens notwendig wird, einschließt. Und schließlich gipfelt die Rede darin, daß er eben dies tut. So erscheint der Kreuzestod Jesu hier als der äußerste Fall seines Selbsteinsatzes für die Seinen. Das entspricht dem Verhältnis von Gabe und Dahingabe in 3,16. Sozusagen die Innenseite des Selbsteinsatzes Jesu für die Seinen ist die Vertrautheit zwischen ihnen in gegenseitigem „Erkennen“. Wie die Schafe ihren Hirten an seiner Stimme erkennen und so wissen, daß es kein anderer als ihr Hirte ist, der zu ihnen kommt (V. 3–5), so erkennen Jesu Jünger 20 V. 16 erweitert den Kreis seiner Herde um andere Schafe, die Jesus in Zukunft hinzuführen und mit seiner einen Herde vereinigen wird; vgl. 11,52; 17,20.

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ihn aus seinem Wort als Gottes Sohn, der für sie da ist bis zur Hingabe seines Lebens. Entscheidend ist, daß sie wissen, daß er die „Vollmacht“ dazu hat, weil er der Sohn des Vaters ist, der ihn gesandt hat. Die „Innenseite“ der Sendung Jesu ist die wiederum „vollkommene Vertrautheit gegenseitigen Erkennens“ zwischen Vater und Sohn: Und an dieser haben die Jünger teil, indem sie in entsprechender Vertrautheit mit Jesus leben. Genau dies erbittet Jesus in seinem Abschiedsgebet Joh 17 im Blick auf die universale Kirche seiner Jünger in der Zeit nach seinem Tod und seiner Auferstehung: Sie sollen „eins sein, wie Du, Vater in mir und ich in Dir, damit so auch sie in uns sind“ (17,21). Die „Vollmacht“ Jesu, sein eigenes Leben – als des einziggeborenen Sohnes des Vaters – für seine Jünger einzusetzen und es im Tode am Kreuz für sie hinzugeben, ist ihm von Gott gegeben und erweist sich als solche darin, daß er sein Leben von Gott auch wieder empfangen wird. Dabei ist die Vertrautheit gegenseitigen „Erkennens“ zwischen Vater und Sohn so nah und so wesentlich, daß die vom Vater empfangene Vollmacht zugleich auch die des Sohnes in seinem eigenen Handeln ist (vgl. 5,19–23). Mit der Einheit von Vater und Sohn in der Lebenshingabe Jesu hängt wiederum zusammen, daß diese Vollmacht sich ebenso auf das Hingeben wie auch auf das Zurückempfangen des eigenen Lebens bezieht, also auf seinen Kreuzestod wie auf seine Auferstehung. Die eigentliche und zentrale Kraft dieser Vollmacht ist die der Liebe (10,17). Gott liebt seinen Sohn in seiner totalen Lebenshingabe für seine Jünger (vgl. 3,35). Denn er selbst ist es, der die Welt so geliebt hat, daß er seinen Sohn für sie hingegeben hat (3,16). Die Liebe des Vaters zur Welt und die Liebe des vom Vater geliebten Sohnes für die Seinen entsprechen einander so völlig, daß in der Liebe Jesu die des Vaters wirkt und im Glauben als solche erkannt wird (vgl 17,26!). So läuft die Hirtenrede als ganze auf ihren Höhepunkt in 10,30 zu: „Ich und der Vater sind eins.“ Auch im 1. Johannesbrief ist diese Einheit der Liebe des Vaters und der Liebe des Sohnes ein zentrales Motiv; vgl. 1. Joh 4,9 f.15 f. So wird begründet, daß die Gebote, die Christen zu erfüllen haben, im Gebot gegenseitiger Liebe die entscheidende Mitte haben (2,10; 3,10.22 f.14.16. 23 f.; 4,7–21; 5,1 f.). In ihrer gegenseitigen Liebe wirkt Gottes Liebe (4,16; 5,1 f.), und zwar seine Liebe zu seinem Sohn wie darin zugleich die in den Glaubenden als seinen Kindern, die er „gezeugt“ hat (5,1). Das Gleiche ist aber auch die zentrale Botschaft der Abschiedsreden Jesu im Evangelium. Die Liebe Jesu zu den Seinen (Joh 13,1) ist einerseits begründet im Wissen um seine Sendungsvollmacht vom Vater (13,3). Sie ist aber zugleich die Begründung für das Gebot an seine Jünger, einander zu lieben. Dies ist der entscheidende Gedanke, der in der höchst bedachten Komposition der folgenden Fußwaschungsszene mit ihren bei-

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den, einander entsprechenden Deutungen (V. 6–9 und V. 12–17) entfaltet wird.21 Entsprechend folgt dann aus der nun bevorstehenden (bzw. mit den Abschiedsreden beginnenden) Verherrlichung Jesu durch Gott und Gottes in ihm (13,31 f.) das „neue Gebot“ an seine Jünger als sein Vermächtnis an sie: einander so zu lieben, wie er sie geliebt hat (13,34 f.). In dem folgenden Wechselgespräch mit Simon Petrus (13,36–38) zeigt sich das aus der Situation des hereindrohenden Passionsgeschehens entstehende menschliche Mißverständnis, als gehe es umgekehrt darum, daß der Jünger sein Leben für Jesus einzusetzen bereit zu sein habe – eine Verkehrung des Verhältnisses zwischen dem Herrn und seinem Knecht (13,16), die durch die Ankündigung der alsbaldigen Verleugnung (13,38) als solche entlarvt wird. Im folgenden Abschiedsgespräch bleibt das Gebot gegenseitiger Liebe als die Weise nachösterlicher Liebe zu Jesus in 21 Die häufig vertretene literarkritische oder traditionskritische Scheidung zwischen diesen beiden Deutungen verkennt m. E. die kompositorisch-theologische Einheit der Szene als ganzer. Dazu vgl. den Überblick über die verschiedenen literarkritischen Hypothesen seit J. Wellhausen, Evangelium Johannis, 58–61 bei R. Schnackenburg, Joh. III, 8–10. Zu einer literarkritischen Lösung sah und sieht man sich dadurch genötigt, daß „die doppelte Deutung der Fußwaschung, das eine Mal als soteriologische Zeichenhandlung (V. 6–10a), das andere Mal als vorbildliche Handlung, die zur Nachahmung verpflichten soll (V. 12–15) . . . in ihrer Doppelheit unvermittelt und überhaupt nicht aufeinander bezogen“ seien (J Becker, Joh., 498). Doch das ist gar nicht der Fall. In der Frage V. 12 bezieht sich Jesus nicht nur auf den bloßen Akt der Fußwaschung V. 4 f., sondern mit ¡mûn auf deren ,realsymbolischen‘ Heilssinn als Teilhabe seiner Jünger an Jesus selbst (V. 8), durch die sie „ganz rein“ sind (V. 10). Das Perfekt pepoùvka nimmt ª ÉgÊ poi V. 7 auf und drückt die bleibende Heilswirklichkeit des Handelns Jesu aus, die Petrus erst „danach“ verstehen wird. Damit ist natürlich nicht die folgende zweite Deutung V. 12 ff. gemeint, sondern die Erkenntnis der Heilskraft des Todes Jesu für die Seinen (10,11.15; 15,13; 17,19) nach Ostern (vgl. 2,22; 1,50 f.; 7,39) – wie auch Becker ebd., 503 f. richtig deutet. Der Übergang zu der Vorbildfunktion seines Handelns V. 13–15 wird von Jesus selbst vollzogen und in V. 34 f. in seiner Gewichtigkeit als sein ,Testament‘ für die ganze nachösterliche Kirche ausgeführt und nochmals in 15,12–17 bekräftigt: Die Liebe Jesu zu den Seinen, die sich im vollen „Einsatz“ seines Lebens für sie (10,11.15), also in seinem Tod am Kreuz, verwirklicht, soll in ihrer geschwisterlichen Liebe zueinander ihre ,innerkirchliche‘ Wirkung entfalten und darin zugleich zum Zeugnis für „alle“ in der Welt werden. Man darf in all dem die Leser-Orientierung nicht übersehen: Die Leser sollen ja die Textfolge im Ganzen mitvollziehen, das heißt: sich selbst mit den Jüngern identifizieren, die sowohl die in der Fußwaschung symbolisch vorweggenommene Reinigungswirkung der Taufe erfahren haben wie zugleich auch wissen, daß ihre Teilhabe an Jesu Liebe sie zur Bruderliebe verpflichtet (vgl. 1. Joh 3,23 f.; 4,7 ff.). Aus der Leserperspektive ist der Text ein sinnvolles Ganzes, das sie in der Entsprechung zwischen beiden Deutungen völlig klar erkennen und verstehen können. Literarkritik, welcher Art auch immer, zerstört diesen Sinnzusammenhang des Textes – zumal dann, wenn sie die zur Leserperspektive gehörenden Teile einer späteren ,kirchlichen Redaktion‘ zuschreibt und einen theologischen Gegensatz zwischen dieser und dem ,originalen‘ Text des Evangelisten einträgt. Die einzige Möglichkeit, eine Vorgeschichte von Joh 13 zu erkennen, gibt der Vergleich von 13,12 ff. mit Lk 22,27. Dazu vgl. U. Wilckens, Joh., 210 f.

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Entsprechung zur Liebe Gottes zu den Jüngern (14,21) zentrales Thema. Dies ist vor allem das erste Thema der Weinstockrede 15,1–17, zu dem sich das zweite Thema des Hasses der Welt gegen Jesu Jünger (15,18 ff.) wie die entsprechende Schattenseite verhält. So mündet das Abschiedsgebet darin aus, daß an der Einheit der Jünger untereinander (als der Wirklichkeit ihrer gegenseitigen Liebe) die Welt erkennen soll, daß der Vater den Sohn gesandt hat, weil in der gegenseitigen Liebe der Christen die Liebe Gottes zu ihnen und in ihr die gegenseitige Liebe in Gott zwischen Vater und Sohn sich auswirkt, an der die Gemeinschaft der Christen teilhat (17,23.26). Nichts zeigt m. E. gewichtiger die enge Zusammengehörigkeit zwischen Johannesevangelium und Johannesbrief als dieser in beiden Schriften zentrale, hochdifferenziert ineinsgedachte Themenkomplex zwischen der Liebe des Vaters zum Sohn und des Sohnes zum Vater, Gottes Liebe zur Welt und Jesu Liebe zu den Seinen, der Liebe der Jünger zu Jesus und darin zu Gott und der Liebe der Jünger zueinander als Entsprechung zur Liebe Gottes und Jesu zu ihnen und zur Liebe zwischen Vater und Sohn. Dieser ganze Zusammenhang hat in der johanneischen Deutung des Kreuzestodes Jesu seinen Nukleus, der in Joh 17,19 bekräftigt wird. Von daher ist auch die Sühnewirkung des Herrenmahles in Joh 6,51 und ihre charakteristisch johanneische Interpretation 6,55–58 zu verstehen: Das Sühnemotiv wird durch das wechselseitige In-Sein der Mahlteilnehmer in Jesus und Jesu in ihnen, das dem Verhältnis zwischen dem Vater und dem Sohn entspricht, so interpretiert, daß dieses ineinandergreifende „System“ von je wechselseitiger Teilhabe und Gemeinschaft die Hingabe Jesu in seinen Kreuzestod sowohl begründet wie auch deren sakramentale Erfahrungswirklichkeit beschreibt. Von hier aus ist die Nähe zu 1. Kor 10,16 f. – bei aller Unterschiedlichkeit – überraschend eindrücklich. 3.4. Es bleibt noch eine schwierige Frage zu klären: Nach 1,29 ist es die Welt, deren Sünden Jesus als „Lamm Gottes“ beseitigt. Dem entspricht es einerseits, daß eine Reihe christologischer Aussagen einen universalen Horizont haben: Jesus ist „wahrhaftig der Retter der Welt“ (4,42 vgl. 1. Joh 4,14). Die Menschen, die das Mahlwunder erlebt haben, preisen ihn als „wahrhaftig der Prophet, der in die Welt kommen soll“ (6,14). Martha bekennt ihn als „den Christus, den Sohn Gottes, der in die Welt kommt“ (11,27). Jesus verkündigt sich selbst als „das Licht der Welt“ (8,12; 12,46). Entsprechend gibt es auch soteriologische Aussagen mit universalem Horizont: Gott hat seinen Sohn zur Rettung der Welt gesandt (3,17 vgl. 12,47). Jesus ist „das Brot Gottes, das vom Himmel herabgekommen ist, um der Welt Leben zu geben“ (6,33 vgl. 51). Die Welt soll glauben, daß der Vater Jesus gesandt hat (17,21) und seine

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Jünger geliebt hat, wie der Vater den Sohn liebt (17,23). Jesus Christus ist die Sühne „nicht nur für unsere Sünden, sondern auch für die der ganzen Welt“ (1. Joh 2,2). Dem steht jedoch andererseits eine Fülle von Aussagen gegenüber, die von einem geradezu dualistischen Gegensatz zwischen Gott und Welt, Jesus und Welt und seinen Jüngern und der Welt sprechen. Wo es 3,17 heißt, daß Gott seinen Sohn nicht in die Welt gesandt hat, um sie der Verurteilung im Gericht zuzuführen, sagt Jesus in 9,39: „Zum Gericht bin ich in diese Welt gekommen“, und die Stunde seiner Erhöhung am Kreuz ist die Stunde des Gerichts über diese Welt (12,31). Der Geist überführt die Welt des Gerichts, „weil der Herrscher dieser Welt gerichtet ist“ (16,11). Die Welt haßt Jesus (7,7; 15,18; 17,14; 1. Joh 3,13) und darum auch seine Jünger (15,18; 17,14); sie freut sich über Jesu Tod, während seine Jünger weinen und klagen (16,20). Als Gottes Sohn ist Jesus nicht von der Welt (8,23), so auch nicht seine Jünger (15,19; 17,14.16 vgl. 1. Joh 4,4 f.). Der Kosmos als ganzer liegt im Bösen fest (1. Joh 5,19). Jesus selbst ist nicht von dieser Welt (8,23; 17,14.16 vgl. 18,36). Er hat seine Jünger „aus der Welt heraus“ erwählt (15,19 vgl. 13,18). In seinem Tode verläßt er die Welt (16,28) und bittet den Vater, seine Jünger, die weiterhin in der Welt sind und von der Welt gehaßt und verfolgt werden (16,1–4), zu bewahren (17,9–11; 15–17). Und der Geist wird das Gericht über die Welt, die Gott nicht „erkannt“ hat (17,25), vollziehen (16,8–11). Die entscheidende Stelle, um den Sinn dieser gegensätzlichen Aussagen zu verstehen, ist 12,31–33. Die Welt ist der Herrschaftsbereich des Teufels (12,31). Dieser ist der Sünder „von Anfang an“ (1. Joh 3,8a vgl. Joh 8,44). Von daher hat es Jesus dort, wo sich zusehends Ablehnung, Widerspruch und Feindschaft gegen ihn im Kreise der jüdischen Führer verstärkt, eigentlich und entscheidend mit dem Teufel als dem Widersacher Gottes zu tun, der als solcher auch zum Widersacher des von Gott in die Welt gesandten Sohnes wird. Konzentriert sich die Gegnerschaft der Juden in dem Ziel, Jesus zu Tode zu bringen, so ist dies auch das Ziel des Teufels, des „Menschenmörders von Anfang an“ (8,44). Hinter Judas, der „ihn ausliefert“22, steht der Teufel, der es ihm „ins Herz geworfen“ hat (13,2 vgl. 6,70). Damit beginnt das Passionsgeschehen (vgl. 18,2.5), das Zug um Zug auf seinen Tod am Kreuz zuläuft. Darin wirkt hintergründig jener „Menschenmörder“, „der Herrscher dieser Welt“. Doch wo dieser im Akt der Kreuzigung Hand an Jesus legt, hat er dem Sohn Gottes gegenüber keine Macht (14,30). Gerade indem er sein Ziel erreicht: Jesu Tod, erreicht er nicht, was er damit als Gottes 22 So stereotyp 6,64.71; 12,4; 13,2.11.21; 18,2.9; 19,11.

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Widersacher eigentlich will: die Beseitigung des Sohnes Gottes, das Scheitern seiner göttlichen Sendung. Diese findet vielmehr in der Stunde des Kreuzestodes gerade ihre Vollendung (19,30), und der „Herrscher dieser Welt“ ist es, der „hinausgeworfen wird nach draußen“ (12,31) – nämlich aus der Welt als seinem bisherigen Herrschaftsbereich. Der Geist wird hernach das Gericht über ihn vollziehen: „Er ist gerichtet“ (16,11). Jesus aber, der in der von Menschen vollzogenen Erhöhung an das Kreuz (8,28) zu Gott erhöht wird (12,32), nämlich in die Einheit mit dem Vater und des Vaters mit ihm (17,4 f.) wird dann „alle zu sich ziehen“ (12,32). Das ist eben jene Wirklichkeit seiner Verherrlichung, als Teilhabe an seiner Einheit mit dem Vater und des Vaters mit ihm (17,20–23). Diese universale Heilsaussage muß bei der Interpretation von 12,32 ernstgenommen werden. Im Kreuzestod Jesu, auf den der Evangelist in 12,33 eigens betont hinweist, erfüllt sich das Ziel der Liebe Gottes im Sinne von 3,16; 13,1. In diesem Sinne ist es von hintergründiger Ironie, daß der Evangelist diese Heilswirkung des Kreuzestodes Jesu im Munde ausgerechnet des amtierenden Hohenpriesters aussprechen läßt: „Es ist besser für euch, daß ein Mensch für das Volk stirbt, und nicht das ganze Volk umkommt“ (11,50). Was Kaiphas in der Ratsversammlung der Feinde Jesu als Votum, das zum Todesbeschluß gegen Jesus führt, sagt (11,53), ist ohne sein Wissen prophetische Wahrheit: „Jesus wird sterben für das Volk – und nicht nur für das Volk allein, sondern um auch die (in der Welt) verstreuten Kinder Gottes zu einem (Volk) zu sammeln“ (11,52).23 Daß der Evangelist dann bei der Verbringung Jesu in den Hohenpriesterpalast in 18,14 eigens an dieses prophetische Wort erinnert, unterstreicht dessen Bedeutung im theologischen Aufbau des Buches und deutet zugleich alles folgende Passionsgeschehen im Sinne von 1,29. 3.5. Von hier aus muß nun noch das Verhältnis zwischen dem Tod Jesu in dieser Heilsbedeutung und seiner Auferstehung geklärt werden. Daß beides eng zusammenhängt, in der Geschehenswirklichkeit sogar in eins zusammenfällt, ist schon an der Terminologie abzulesen: Jesu Sterben ist seine Erhöhung, sein Weggehen aus dem irdischen Bereich sein Hingehen zum Vater, das Kreuz als Tiefpunkt der Fleischwerdung des Gottessohnes seine Verherrlichung. Aber welchen Sinn hat dieses Zusammenfallen, das sich so radikal nur im Johannesevangelium findet? Dazu müssen wir bei 3,16 ansetzen. Ist es nämlich Gottes Liebe, die die Sendung Jesu von Anfang an auf seine Kreuzigung zuführt, und die 23 Dazu vgl. Th. Knöppler, theologia crucis, 206 f. U. B. Müller, Eigentümlichkeit, 51 scheidet den ausdrücklichen Bezug auf den Tod Jesu hier ebenso aus dem Skopos johanneischer Soteriologie aus wie in 12,33 (ebd., 44).

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in der Hingabe des einziggeborenen Sohnes in den Tod die Heilsgabe der Liebe Gottes für die Welt zur Vollendung kommen läßt, dann drückt sich in all jenen, das Sterben transzendierenden Begriffen der „Erfolg“ seiner Liebe aus. Am Kreuz hat sie ihren endgültigen, ewigen Sieg errungen, das Gericht über den Teufel (16,11), als Sieg über die von ihm beherrschte Welt (16,33)24. Im Johannesbrief wird dieser Sieg den Adressaten als ihr Sieg zugesprochen (1. Joh 2,13 f.), nämlich als der Sieg über die Sünde und den Teufel, den der Sohn Gottes in seinem Sühnetod für sie errungen hat (2,2), damit ihr Glaube und ihr Leben an dieser Liebe des gekreuzigten Gottessohnes teilhat (vgl. 5,4–6). Denn darin lieben sie nicht die Welt „noch das, was in der Welt ist“, sondern die Liebe des Vaters ist in ihnen (2,15): Als Gottes Kinder haben sie die Falschpropheten besiegt, weil Gott in ihnen „größer“ ist als der Herrscher der Welt (2,4). Und in der Liebe untereinander wirkt sich die Liebe Gottes aus, die in der Sendung seines Sohnes zur Sühnung ihrer Sünden am Kreuz zu ihrem Sieg gekommen ist (4,7–10). Also ist es die Auferstehung Jesu, die Kraft der Überwindung des Todes, die sich in der Stunde seines Todes am Kreuz für die Menschen zum Heil auswirkt. Weil der Tod die eschatologische Wirklichkeit der Sünde ist, die die Menschen in der Welt als ihre Sklaven beherrscht, ist die Sühnekraft in Jesu Tod, durch die Jesus die Menschen von der Macht der Sünde und des Todes über ihr Leben befreit, zugleich die lebenschaffende, ewiges Leben schenkende Macht der Auferstehung, die Jesus als Gottes Sohn ist (11,24), und in der er den Teufel als den Machthaber alles Bösen besiegt. Weil gerade im Tode Jesu am Kreuz die Todesmacht der Sünde über das Leben der Menschen gebrochen ist, darum zielt seine Sendung von Anfang an auf seinen Tod am Kreuz als deren Vollendung. Und weil es Gottes Liebe zu allen Menschen dieser Welt ist, die die Sendung Jesu bestimmt, und mit deren Willen Jesus als der Sohn des Vaters ganz und gar eines ist, darum ist der Sieg dieser Liebe am Kreuz zugleich die Stunde der vollendeten Einheit von Vater und Sohn. Dies ist gemeint, wenn der johanneische Jesus von seinem Tode als von seiner Rückkehr zum Vater, von seiner „Erhöhung“ zu Gott, von seiner Verherrlichung spricht (als seiner ewigen Teilhabe an Gottes Herrlichkeit). Weil in Jesu Tod das Gericht über den „Herrscher dieser Welt“ ein für alle Mal vollzogen und von daher die Macht von Sünde und Tod gebrochen ist, ist sein Tod zugleich seine Auferstehung vom Tode: der Beginn der vollendeten Einheit von Vater und Sohn und zugleich der Gabe ewigen Lebens an die Glaubenden durch ihre Teilhabe an dieser Einheit Gottes. 24 Man sollte nicht übersehen, daß dies das letzte Wort Jesu zu seinen Jüngern ist!

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Die johanneische Ostergeschichte zeigt Jesus als bereits Auferstandenen, der Tod und Grab hinter sich hat. Maria von Magdala und die Jünger begegnen ihm als zum Vater „Hinaufgehenden“ (20,17). In dieser Sicht ist, wie gesagt, die harte Wirklichkeit des Leidens Jesu unter der bösen Gewalt der Menschen und seines Sterbens am Kreuz keineswegs überblendet. „Siehe, das ist der Mensch!“ (19,5) – diese Vorstellung des von Folter gezeichneten, verhöhnten und entwürdigten Menschen Jesus durch Pilatus gilt nicht nur für die Juden, denen dieser ihn vorführt, sondern darin zugleich auch den Lesern des Buches, die sich an dieser Stelle des Zielsatzes des Prologs erinnern sollen: „Und das Wort ward Fleisch“ (1,14).25 Hier konzentriert sich die Inkarnation in ihrer ganzen Realität.26 Aber entscheidend ist dies: Der Mensch Jesus, der dies erleidet, ist der Sohn Gottes, der hier die aufs äußerste verdichtete Realität von Sünde und Tod auf sich nimmt, um sie für die Menschen zu überwinden. Im Sinne des Evangelisten ist also das Verhältnis von Kreuz und Auferstehung „paradox“ nur unter seinem Außenaspekt. Dagegen unter dem Aspekt Gottes selbst und unter dem des Glaubens ist der am Kreuz sterbende Mensch Jesus der Sohn Gottes, der als Sieger seine Sendung eben hier im Tode vollendet, wo die Menschen der Welt ihr Ende finden. Für die Menschen, die an Jesus als den von Gott gesandten Sohn glauben, ist der Gekreuzigte „das Lamm Gottes, das die Sünden der Welt für sie wegschafft“. Sein Tod ist der Sieg der Liebe Gottes, an deren göttlichendzeitlicher Wirklichkeit sie teilhaben dürfen. Im Glauben, der im Gekreuzigten den Auferstandenen sieht, den Sohn Gottes, der die Auferstehung und das Leben ist, gilt dies als die eigentliche Wirklichkeit dieses Sterbens, als Heilswirklichkeit, in der die Todeswirklichkeit der Sünde nicht überblendet, sondern aufgehoben ist: „Ich lebe, und (so) werdet ihr leben“ (14,19). 3.6. Zum Schluß bedarf es einer Stellungnahme zu den Positionen derjenigen Exegeten, die bestreiten, daß der Johannesevangelist dem Tode Jesu am Kreuz als solchem eine Heilsbedeutung zuerkenne. Hierbei sind zwei Schwerpunkte des theologischen Interesses zu unterscheiden. Einmal geht es darum, daß im Johannesevangelium der Kreuzestod Jesu so ganz und gar als die Vollendung der Offenbarung seiner Herrlichkeit (2,11) erscheine, zu der der Vater den Sohn in die Welt gesandt hat (17,4 f.), daß die harte Wirklichkeit menschlichen Leidens und Sterbens durch diesen Aspekt seiner Verherrlichung vollkommen überblendet wer25 Vgl. die Ausführung in: U. Wilckens, Joh., 284 f.; U. Schnelle, Joh., 277 f. 26 Das betont mit Recht R. Bultmann, Joh., 510. Dagegen U. B. Müller, Menschwerdung, 40–51; auch J. Becker, Joh., 81–104.

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de. Davon zu unterscheiden ist das Urteil, daß dem Sterben des johanneischen Jesus keinerlei Sühnewirkung eigne, die in der Breite urchristlicher Tradition der zentrale Aspekt der Heilsbedeutung des Todes Christi gewesen ist (1. Kor 15,3). Was das Erste betrifft, so ist es zunächst völlig richtig: Die johanneische Christologie ist vom Grundgedanken der Sendung des Sohnes durch den Vater bestimmt.27 Der Weg des Sohnes führt aus der Höhe der ewigen Präexistenz des Logos bei Gott in die Tiefe der irdischen Menschenwelt, um allen, die an ihn glauben, wahre Erkenntnis Gottes und Teilhabe am ewigen Leben zu geben. Da sich an ihm Glaube und Unglaube in eschatologischer Endgültigkeit scheiden, vollendet sich der Weg des Sohnes dort, wo die Feindschaft des Unglaubens gegen ihn zu ihrem irdischen Sieg kommt: im Tode Jesu am Kreuz. Eben dies aber ist in Wahrheit der Sieg des Sohnes Gottes über die Welt des Unglaubens. Denn so wendet sich der Weg seiner Sendung aus der Tiefe in die Höhe. Aus Tod und Grab auferstanden, kehrt der Sohn in die ewige Einheit mit dem Vater zurück, an der die auf Erden zurückbleibenden Glaubenden durch das Wirken des zu ihnen herabgesandten Geistes teilhaben. So wiederholt sich in entsprechender Weise in der Sendung des Geistes die vorangehende, bahnbrechende Sendung des Sohnes, die in der zukünftigen Vereinigung aller Glaubenden mit dem Vater und dem Sohn (bei dessen Parusie) ihre ewige Vollendung finden wird. Das ist ein durch und durch mythisches Bild, das einen an der paulinischen theologia crucis orientierten Exegeten als Theologen tief zu irritieren vermag. Denn ist es nicht das Bild eines „über die Erde schreitenden Gottes“, wie es seit F. Ch. Baur die „liberale Interpretation“ geprägt hat?28 Daß dieses Bild jedoch ein künstlicher Extrakt ist, hat die durch Käsemann angefachte Diskussion als weithin übereinstimmendes Urteil erbracht. Eindeutig ist: Als der Mensch Jesus wirkt der Gottessohn unter den Menschen. Diese Erkenntnis bejaht der Glaube und bestreitet der Unglaube. Die volle Wirklichkeit der Inkarnation des Logos begründet sein Offenbarungswirken (1,14).29 Das Bekenntnis des Petrus: „Du bist der Heilige Gottes“ (6,69) antwortet auf die zentrale Selbstoffenbarung Jesu „Ich bin“ (6,35.48). Eben diese lehnen die jüdischen Führer in leidenschaftlicher Empörung als blasphemische Inanspruchnahme des exklusiven „Ich bin“ des einzig-einen Gottes ab (5,18; 10,33). Aber genau diese Einheit Jesu mit Gott ist der Kern seiner ganzen Verkündigung 27 So in bestechender Klarheit J. Becker, Joh., 468 ff. 28 So E. Käsemann, Jesu letzter Wille, 26. Man versteht diese ganze Schrift nicht, wenn man nicht diese tiefe Irritation an der johanneischen Theologie als ihren eigentlichen theologischen Motor erkennt. 29 Das stellt mit Recht Th Knöppler, theologia crucis, 26–66, heraus.

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und all seines Wirkens: „Ich und der Vater sind eines“ (10,30). Von einer ,doketischen‘ Aufweichung dieser Identität kann grundsätzlich nicht die Rede sein.30 Entsprechend ist es ein tiefes Mißverständnis, daß für den Johannesevangelisten „die Einordnung der Passionsgeschichte zu einem Problem werden muß“.31 Im Johannesevangelium steht der Tod Jesu als das Ziel seines Weges von Anfang an im Blick; und daß es seine Gegner sind, die schon sehr früh die Absicht fassen, ihn zu töten (5,18). Gewiß ist „die Stunde“ des Beginns seiner Passion die Stunde des Beginns seiner Verherrlichung (13,31). Aber seine Erhöhung zum Vater beginnt mit seiner Erhöhung an das Kreuz (8,28; 12,32). In der Tat ist es die Eigenart der johanneischen Passionsgeschichte, daß Jesus in königlicher Würde an sich geschehen läßt, was seine menschlichen Gegner ihm antun: Durchweg behält er die Initiative, ist er der Herr seines Geschicks und ist allen, denen er als menschlichen Machthabern gegenübertritt, an Vollmacht unendlich überlegen, sowohl der Kohorte der römischen Soldaten, von denen er sich gefangen nehmen läßt (ÉgÈ eÜmi 18,6), wie auch dem jüdischen Hohenpriester (18,9 ff.) und besonders gegenüber dem römischen Statthalter (18,33 ff.; 19,8 ff.): Er ist der König, der „aus der Wahrheit ist“ (18,37), von „oben“, woher Pilatus seine Éxousùa gegen ihn empfangen hat (19,11). Und entsprechend lautet so auch die Kreuzesinschrift, die Pilatus diktiert und gegen den Widerspruch der Juden durchsetzt: „Der König der Juden“ (19,19 ff.). Doch diese Hoheitszüge kontrastieren in geradezu dramatischer Eindrücklichkeit32 entsprechend extremen Zügen menschlicher Ohnmacht, in der er bösester menschlicher Gewalt preisgegeben ist (19,1–5.23 f.). Die ungeheuerliche Spannung dieses Widerspruchs von außerordentlicher Hoheit und extremer Niedrigkeit kommt zu ihrem Höhepunkt in den beiden letzten Worten des Gekreuzigten unmittelbar vor seinem Tode: „Mich dürstet“ und „Es ist vollbracht“ (19,28–30). Nur wer den Sinn dieses Widerspruchs versteht, versteht die johanneische Passionsgeschichte wie überhaupt den Charakter des ganzen Johannesevangeliums als „Passionsevangelium“33: Es ist die Passion des Sohnes des einzig-einen Gottes selbst, auf die der Weg seiner Sendung durch den Vater als sein ,vorbedachtes‘ Ziel hinausläuft und in deren Höhepunkt, seinem elenden Sterben am Kreuz, diese Sendung sich vollendet hat. Dieses Perfekt tetìlestai 19,30 hat nicht nur die Bedeutung 30 Gegen E. Käsemann, Jesu letzter Wille, 55: „Man kann die Gefahr seiner Herrlichkeitschristologie unmöglich übersehen: Sie ist der Doketismus, der noch naiv sich geltend macht und als Gefahr noch nicht erkannt ist.“ 31 Ebd., 24. 32 Zur dramatischen Gestaltung des johanneischen Passionsberichts vgl. U. Wilckens, Joh., 270 ff., besonders 277 f. 33 So mit Recht H. Thyen, Joh.evangelium, 202.

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des Abgeschlossenseins, sondern den theologischen Sinn eschatologischer Endgültigkeit. Diese ist in der Einheit Jesu mit Gott (10,30) begründet, die bereits im voraus im Kontext der Hirtenrede auf den Lebenseinsatz des Hirten für seine Schafe (10,11.15) bezogen ist. Dieser ist ein Handeln des Gottessohnes in eigener Vollmacht, die ihm vom Vater gegeben worden ist – deswegen können Menschen ihm diese Vollmacht gerade auch seines Weges zum Kreuz nicht „wegnehmen“ (10,18).34 Die Einheit Jesu mit Gott (10,30) ist zugleich die Einheit des Vaters mit ihm, die von Anfang an alles „Wirken“ Jesu begründet (5,19–23) und sich in Jesu Tod am Kreuz endgültig verwirklicht: als seine „Verherrlichung“ (13,31 f.; 17,1–5). Diese wechselseitige Einheit zwischen Vater und Sohn in vollkommener Einheit gemeinsamen Heilshandelns ist der entscheidende Grundgedanke der johanneischen Christologie und Soteriologie und so auch der Konzeption des Johannesevangeliums als Passionsevangelium. Die Spannung im Passionsgeschehen einerseits zwischen königlicher Hoheit und Selbstmächtigkeit Jesu in allem, was ihm von Menschenhand widerfährt, und andererseits seiner extremen menschlichen Ohnmacht gegenüber extensiver böser Gewalt der Menschen, denen er sich ausliefert, ist im strengen Sinn theologisch begründet: in der wechselseitigen Einheit von Vater und Sohn. Wo alle Menschen, einschließlich aller seiner Jünger, ihn allein lassen, ist Jesus nicht allein, weil (!) der Vater „mit ihm ist“ (16,32). Wo der Statthalter des Kaisers in seiner Vollmacht ihm gegenübertritt, ihn freizulassen oder ihn zu kreuzigen, spricht Jesus ihm die Eigenmächtigkeit dieser Vollmacht ab, weil diese ihm „von oben“ gegeben ist (19,10 f.); und der Gefangene des Bevollmächtigten des Kaisers steht diesem gegenüber als der „König der Wahrheit“ (18,37); denn es ist Gottes Wahrheit, die „von oben her“ in Jesu Wort spricht. So ist auch im Passiv tetìlestai 19,30 Gott zumindest mit das Subjekt. Rudolf Bultmann war völlig im Recht, wenn er darauf bestand, daß nicht nur der Erniedrigte der Erhöhte, sondern zugleich auch umgekehrt der Erhöhte der Erniedrigte ist; und er bleibt es auch nach seiner „Rückkehr in die himmlische Doxa“ des Vaters.35 Deswegen erweist der Auferstandene seine Identität in seiner Erscheinung vor seinen Jüngern darin, daß er ihnen die Wundmale an seinen Händen und an seiner Seite „zeigt“ (20,20); und Thomas bekennt ihn als seinen „Herrn und Gott“ (20,28), 34 Zu beachten ist die Entsprechung zu 1,29: Die Vollmacht Jesu, als „das Lamm Gottes“ die Sünden der Welt zu beseitigen (a¥rwn), können die Menschen, die ihn an das Kreuz erhöhen (8,28), nicht beseitigen (10,18 a¥rei; 19,15 2ron 2ron); vgl. so auch Th Knöppler, theologia crucis, 69 f. 35 R. Bultmann, Joh., 377, dem E. Käsemann, Jesu letzter Wille, 39 Anm. 27, zu Unrecht widerspricht.

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nachdem dieser sich ihm durch die „signa crucifixi“36 eigens ausgewiesen hat (20,25–27). Gewiß unterscheiden sich die Christen der nachösterlichen Kirche darin von Thomas: Sie „glauben, ohne zu sehen“ (20,29). Aber sie können dies, weil sie das Zeugnis des Johannesevangeliums haben, das sie zu diesem Glauben anleitet, „daß Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes“ (20,31) – nämlich eben jener Mensch, in dem seine Jünger Gott haben sehen können (14,9), nämlich Jesus im Vater und den Vater in ihm (14,11; 17,23): Und als diesen hat Thomas den Auferstandenen gesehen, indem er die Wundmale des Gekreuzigten am Leibe des Verherrlichten hat sehen dürfen. „Glückselig“ sind die Christen der Kirche, weil sie dieses Ur-Zeichen der Identität des verherrlichten Sohnes Gottes als des gekreuzigten Messias, das sie selbst nicht sehen können, im Zeugnis des Johannesevangeliums „geschrieben“ vor Augen haben. Der theologische Fehler jenes mythischen Bildes vom Herabkommen und Wiederaufstieg des vom Vater gesandten Sohnes, das im Kommentar von Jürgen Becker in exemplarischer Klarheit herausgestellt wird,37 besteht darin, daß er dem Kreuzestod dieses Gesandten seinen Sinn bloß als „Durchgangspunkt bei der Rückkehr zum Vater“ gibt und somit „nur (!) [als] ein Teil des Verherrlichungsgeschehens“,38 und insofern keinerlei Heilsbedeutung. Diese komme nur der Erhöhung des Gottessohnes zu, die in seinem Tode beginnt und sich in seiner Wiedervereinigung mit dem Vater als seiner Verherrlichung vollendet. Die menschlich-irdische Passionswirklichkeit habe der Evangelist deshalb, so weit wie es die Stoffe des traditionellen Passionsberichts überhaupt erlauben, ausgeschieden. Damit wird aus dem Gesamtbild johanneischer Christologie und Soteriologie ein mythischer Extrakt, der als solcher unfähig ist, die Erkenntnis lebendigen Glaubens zu vermitteln, die nach 20,31 das Buch vermitteln will: daß nämlich dieser Gesandte, der den Parabel-Weg von oben nach unten und von unten zurück nach oben vollzieht, Jesus ist, und zwar Jesus, dessen geschichtlicher Weg von Anfang an auf seine Kreuzigung zielt und sich in der Stunde seines Todes vollendet. In die Logik dieses mythischen Bildes passen nun aber vor allem nicht die Aussagen über die Sühnewirkung des Todes Jesu. Da diese im Johannesevangelium gegenüber der Rede vom „Fortgehen“ Jesu und vom „Hingehen“ zum Vater auffällig zurücktreten, dagegen im 1. Johannesbrief größeres Gewicht erhalten; und da es sich bei dem Sühnetod Christi 36 Dazu vgl. Th. Knöppler, theologia crucis, 266–268 gegen U. B. Müller, Bedeutung, 69. In dessen Aufsatz über „das Problem des Todes Jesu“ im Zusammenhang der „Eigentümlichkeit“ johanneischer Theologie kommt das am Schluß in dreimaliger Sequenz betonte „Zeigen“ der Wundmale am Leibe des Auferstandenen in 20,20.25.27 überhaupt nicht einmal vor! 37 Vgl. die Veranschaulichung im Bilde der Parabel, S. 471. 38 J. Becker, Joh., 469.

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um ein zentrales Motiv urchristlicher Glaubenstradition handelt (1. Kor 15,3 usw.), scheint sich das Urteil nahezulegen, an jenen wenigen Stellen habe eine „kirchliche Redaktion“, deren Interesse am überlieferten Heilstod Christi sich im 1. Johannesbrief deutlich zeige, entsprechendes Traditionsgut bei der Bearbeitung des Johannesevangeliums an jenen relativ wenigen Stellen hinzugefügt.39 Nun verbietet es sich aus methodischen Gründen, überall dort, wo sich dem Exegeten im vorgegebenen antiken Text inhaltliche Schwierigkeiten zeigen, die sich seiner eigenen modernen Logik nicht fügen wollen, als unausgleichbare Widersprüche zu beurteilen, die nur auf literarkritischem Wege erklärt werden könnten: nämlich als ein Nebeneinander verschiedener, sich widersprechender Stimmen, das durch ,Redaktionsarbeit‘ entstanden sei. Solche Lösung mag hier und da unausweichlich sein. Doch sollte es keinen Zweifel leiden, daß solche literarkritischen Hypothesen nur als letzte Notlösungen benutzt werden dürfen in Fällen, wo die Aufgabe der Auslegung des vorliegenden Textes schlechterdings nicht bewältigt werden zu können scheint. Im Fall der Sühne-Aussagen, deren Traditionalität außer Frage steht, liegt es ungleich näher zu vermuten, daß es der Autor des Johannesevangeliums selbst ist, der dieses Traditionsgut aufgenommen hat. Sieht man z. B., wie der Täufer seine Erstaussage über Jesus 1,27 in 1,36 für seine beiden Jünger als Aufforderung, Jesus nachzufolgen, wiederholt, so ist es schwerlich überzeugend, 1,36 dem Evangelisten zuzusprechen, der so mit 19,36 eine Klammer geschaffen habe, die Aussage 1,27b dagegen (ú a¥rwn tÀn àmartùan toø kísmou) als späteren Zusatz der ,kirchlichen Redaktion‘ zu beurteilen – weil diese Aussage „im Kontext überflüssig sei und im übernommenen Mk-Stoff nicht vorkommt“.40 Steht doch „Siehe, das Lamm Gottes!“ in 1,27 ebenso ,sperrig‘ im Kontext wie in 1,36!41. Die Wiederholung zeigt jedoch das große Gewicht, das dieser Ruf des Täufers an beiden Stellen hat. Und wenn denn der Leser in 1,36 einen Voraus-Hinweis auf den Gekreuzigten als Päsachlamm in 19,36 verstehen können soll, warum dann nicht im vollen Text von 1,29? Überdies ist die Kurzfassung dieses Rufes in 1,36 sehr viel plausibler als verkürzende Wiederholung des vollen Wortlauts in 1,29 zu erklären. Denn dort gewinnt „Lamm Gottes“ einen inhaltlichen Sinn, den der bloße Ruf nicht zu erkennen gibt. Wenn auch dieser Sinn hier noch nicht entfaltet wird, so enthält der Ruf des Täufers doch, weil die Sühnewirkung des Todes Christi den Lesern zweifellos bekannt war, einen wichtigen Vor-Hinweis auf die Bedeutung Jesu im Zusammenhang des Passionsgeschehens, dem weitere in 2,4; 2,13 ff. und 3,14–16 folgen. 39 J. Becker, Joh., 474. 40 So J. Becker, Joh., 111 und Joh., 122; M. Theobald, Fleischwerdung, 443; U. B. Müller, Eigentümlichkeit, 52. 41 1,30 f. sind genauso wenig eine „Antwort“ auf das bloße „Siehe, das Lamm Gottes!“ in 1,29 (so Becker, ebd., 111) wie sich dieser verkürzte Ruf in 1,36 dem dortigen Kontext einpaßt.

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Genauso lassen sich auch alle weiteren Stellen, an denen von der Heilsbedeutung des Todes Jesu („für“) die Rede ist (6,5142; 10,11.15; 11,51 f.; 15,13; 17,19; 19,17), sehr viel besser als johanneische Interpretation der entsprechenden urchristlichen Glaubenstradition erklären und damit dem vorliegenden Text gerecht werden, als durch das Kontext-zerstörende literarkritische Mittel der Ausscheidung sekundärer Zusätze einer „kirchlichen Redaktion“. Inhaltlich stellt sich ein tiefgreifend anderes Bild der johanneischen Christologie und Soteriologie heraus, als dieses sich nach einer Ausmerzung aller Sühnetod-Stellen ergibt. Der Evangelist interpretiert diese Aussagen der urkirchlichen Glaubenstradition im Sinne der alten Formel 1. Kor 15,3 ff. durch seinen Grundgedanken der wechselseitigen Einheit von Jesus und Gott im Zusammenhang der (ebenfalls traditionellen) Leitvorstellung der Sendung des Sohnes durch den Vater. Darin verbinden sich die beiden Aspekte zur Einheit: die völlige Unterordnung des Sohnes unter den Vater, der ihm seine eigene Vollmacht übertragen hat, und das eigenständige Handeln des Sohnes in dieser Vollmacht. Beide Aspekte finden sich auch in der vielschichtigen Sühnetod-Überlieferung: Gott hat seinen Sohn für uns in den Tod preisgegeben (Röm 8,32 vgl. 2.Kor 5,21), und: Christus hat sich selbst für uns in den Tod hingegeben (Gal 1,4; 2,20). Daß diese Sühnewirkung sowohl das Heilswerk der Liebe Gottes wie der Liebe Christi ist (Röm 5,8; 8,35.39), sagt auch der Johannesevangelist (Joh 3,16; 13,1 vgl. 1. Joh 2,2; 3,16 f.; 4,9 f.). Daß es diese Liebe ist, in der Vater und Sohn eines sind; und daß die ganze Sendung des Sohnes durch den Vater der Offenbarung dieser Liebe dient, die im Tode Jesu zu ihrer Vollendung gekommen ist (13,1; 19,30), das ist der Grundgedanke, mit dem der Johannesevangelist die in sich vielfältige fundamentale Glaubenstradition der Kirche, als deren maßgeblicher Lehrer er mit seinem Evangelium zu wirken beansprucht, zu einer Einheit zusammendenkt, wie diese so dicht zuvor nicht gedacht worden ist. Der entscheidende Fehler der Exegeten, die eine Sühnewirkung, ja überhaupt jegliche Heilsbedeutung des Todes Jesu im Johannesevangelium bestreiten, besteht in der Verkennung dessen, daß diese Liebe Gottes im Sich-Hingeben Jesu in den Tod der eigentliche Skopos der ganzen „Sendungschristologie“ des Johannesevangeliums ist.

42 Dazu vgl. in diesem Band S. 98 ff.

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4. W. Popkes führt den eingangs zitierten Satz folgendermaßen fort: „Jesus geht den Weg in die Erniedrigung, weil er weiß, daß das der göttliche Wille ist, und Gottes Wille ist auch der seine . . . Das Motiv für die Selbsthingabe ist zuallererst also der göttliche Wille. Der Johannesevangelist bestimmt diesen Willen näher als Liebe; in seiner Selbsthingabe offenbart und realisiert Jesus den göttlichen Liebeswillen 1. Joh 3,16).“43 So lautet das „Ergebnis“: „Das eigentliche Interesse liegt für Joh bei der Selbsthingabe Jesu; sie ist Offenbarung der göttlichen Liebe, welche uns in den Bereich der Liebe, die auch uns zur Selbsthingabe führt, hineinstellt.“44

43 W. Popkes, Christus traditus, 283. 44 Ebd., 284. Vgl. auch Th. Söding, Gott ist Liebe, 336–357.

Zum Kirchenverständnis der johanneischen Schriften Über „Kirche im Neuen Testament“ hat Jürgen Roloff eine gewichtige Monographie veröffentlicht.1 Die Hauptthese dieses Buches lautet: „Die Frage nach der Kirche ist für das Urchristentum . . . eine Lebensfrage des Glaubens“.2 Das ist eine These, die in der gegenwärtigen kritischen Situation der deutschen evangelischen Kirche und Theologie keineswegs mehr allgemeiner Konsens ist, wie es dies in der Nachkriegszeit aufgrund der Erfahrungen des Kampfes um die rechte Lehre und Gestalt der Kirche gewesen ist. Im wachen Bewußtsein der neu aufgebrochenen Probleme im Blick auf die Zukunft eines Kirchentums, das sich gegenwärtig weithin wieder mehr als „Protestantismus“ (im Sinne der liberalen Theologie des 19. Jahrhunderts) denn als Kirche verstehen will, konfrontiert Roloff die verschiedenen Teilnehmer dieser aktuellen Diskussion mit dem in jener These ausgedrückten Grundkonsens des Urchristentums. Dieses hat sich in aller Verschiedenartigkeit des sich jeweils ausbildenden Kirchentums als Kirche verstanden – auf dem Grunde des gemeinsamen Glaubens an Jesus Christus, der als der auferstandene Gekreuzigte das Leben der Christen als seiner Jünger, und so auch ihr Zusammenleben als Gemeinde durch und durch bestimmt: „Jesus war nicht Gründer, sondern ist der Grund der Kirche“, – mit diesem Satz G. Ebelings faßt Roloff seine Untersuchung der verschiedenen ekklesiologischen Ansätze des Urchristentums im abschließenden „Rückblick“ zusammen.3 Noch ein anderer Aspekt der gegenwärtigen kirchlichen Situation leitet dieses Werk: In der ökumenischen Bewegung und Theologie befinden sich nicht nur einzelne Theologen oder besondere Gruppen aus den verschiedenen christlichen Kirchen, sondern die Kirchen selbst in einem durchaus verbindlichen Dialog mit dem Ziel, eine „sichtbare Einheit“ als Zukunftsgestalt der Kirche theologisch vorzubereiten. Auch im Blick auf die Probleme, die sich in diesem Dialog herausstellen, sowie auf das gemeinsame Ziel, das ungeachtet aller Schwierigkeiten fest im Auge behalten wird, kann eine Darstellung urchristlicher Ekklesiologie eine gewichtige Bedeutung gewinnen, sowohl was die Pluralität der verschiedenen Ansätze betrifft, wie auch das grundlegende Glaubenswissen, gemeinsam die eine 1 NTD. Grundrisse zum NT, Ergänzungsreihe 10, 1993. 2 Ebd., 11. 3 Ebd., 312.

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Kirche Gottes zu sein. Daß sich darin ,lutherische‘ wie ,katholische‘ wie auch ,freikirchliche‘ Züge und Motive aufzeigen lassen, erhöht den Reiz einer Befassung mit dem ekklesiologischen Zeugnis des Neuen Testaments, läßt aber auch sensibel werden für die Chancen wie auch die Gefahren einer allzu unmittelbaren Inanspruchnahme des Neuen Testaments für eine ökumenische Verständigung über Wesen und Gestalt der Kirche.4 „Es gehört zu ihrem Wesen, daß sie sichtbare Kirche ist“5, so faßt Roloff zum Schluß den für heutige ökumenische Besinnung wichtigen Beitrag der paulinischen Ekklesiologie zusammen. Als entscheidend sieht er darin die „Bipolarität . . . im Nebeneinander der beiden Deutungsmuster ,Volk Gottes‘ und ,Leib Christi‘“. Diese Ausgangsposition sieht Roloff allerdings in der dritten Generation des Urchristentums durch Einseitigkeiten gefährdet, – und dies gelte besonders im Blick auf die Theologie der johanneischen Schriften.6 Nach Roloff sind diese „das Werk einer christlichen Gruppe, die in bewußtem und programmatischem Protest gegenüber allen institutionellen Tendenzen existierte“. Tradition und Amt seien „für sie keine Gegenstände theologischer Reflexion“ gewesen. „Maßgeblich war für sie allein das freie profetische Zeugnis, durch das der Erhöhte zu den Seinen sprach“. Das mag eine Art von christlichem Selbstverständnis sein, die dem heute wieder modern werdenden liberalen Christentumsverständnis sympathisch erscheinen könnte. Demgegenüber gibt Roloff zu bedenken, „daß diese Gruppe wegen des nicht gelösten Problems der Kontinuität dem Gnostizismus anheimfiel und damit ihre christliche Identität verlor.“7 Deswegen dämpft er auch die heute üblich gewordene ökumenische Beanspruchung johanneischer Theologie, vor allem von Joh 17, als des biblischen Modells der Einheit der Kirche.8 So hat im Gesamtzusammenhang der neutestamentlichen Ekklesiologie, wie sie Roloff in seinem opus magnum darstellt, die Theologie der johanneischen Schriften nur am äußersten Rande ihren Ort und ist für die heutige Diskussion eher als exemplum vitandum von Bedeutung denn als exemplum fascinosum. Denn Roloff sieht in ihnen „jenen Bereich des Neuen Testaments . . ., in dem das Thema ,Kirche‘ am stärksten zurücktritt“.9 Mit diesem Urteil steht er in illustrer Gesellschaft.10 Gleichwohl verdient dieses Urteil m. E. eine Korrektur.11 4 5 6 7 8 9

Vgl. ebd., 311. Ebd., 316. Ebd., 321. Alle Zitate s. ebd. Ebd., 309. Ebd., 290. Dagegen vgl. P. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 266–271; J. Becker, Geist- und Gemeindeverständnis, 218. 10 Vgl. u. a. E. Schweizer, Kirchenbegriff, 254–271; E. Käsemann, Jesu letzter Wille,

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Übereinstimmung besteht darin, daß im Blick auf das Johannesevangelium nur von einer „indirekten Ekklesiologie“12 gesprochen werden kann. Das ist freilich in der besonderen Gattung der urchristlichen Evangelienliteratur begründet und gilt, wie für das Johannesevangelium, auch für die synoptischen Evangelien. Anders steht es mit den Johannesbriefen. Sie sind auf eine akute Krise im Umkreis der Adressatengemeinden bezogen und lassen viel von dem erkennen, was für das theologische Verständnis von Kirche und für das Leben in ihrer Gemeinschaft wesentlich und charakteristisch ist. Auch wenn der Autor der Briefe von dem des Evangeliums zu unterscheiden sein sollte13, so besteht doch jedenfalls eine große Nähe zwischen den johanneischen Schriften,14 die diesen im Ensemble ihre unverkennbare Eigenart im Umkreis aller anderen urchristlichen Schriften gibt.15 Diese prägt sich sowohl in der theologischen Denkart und den Hauptthemen und Schlüsselbegriffen wie vor allem auch in einer Sprache aus, die jedem Leser als typisch johanneisch auffällt. Das gilt auch für das Verständnis von Kirche. Man sollte sich den Blick dafür nicht verstellen durch literarkritische Hypothesen und darauf fußende Vermutungen über verschiedene Phasen der Geschichte des johanneischen Christentums, die sich in Teilen der gegenwärtigen exegetischen Wissenschaft zu einer Art Normbild herausgebildet haben.16

65 ff.; 87 ff.; H.-J. Klauck, Gemeinde ohne Amt?, 195–222; W. A. Meeks, Funktion (bes. 279); W. Rebell, Gemeinde als Gegenwelt; D. Rusam, Gemeinde der Kinder Gottes; K. Wengst, Bedrängte Gemeinde. 11 Es gibt zahlreiche Untersuchungen zur johanneischen Ekklesiologie, die deren zentrale Bedeutung herauszuarbeiten suchen. Dazu vgl. u. a. J. Becker, Geist und Gemeindeverständnis; R. E. Brown, Community; F. Hahn, Einheit der Kirche; J. Gnilka, Theologie, 303–323; A. Lindemann, Gemeinde und Welt; T. Onuki, Gemeinde und Welt; R. Schnackenburg, Johanneische Gemeinde; Ders., Einheit der Kirche; Ders., Joh. III, 231–245; U. Schnelle, Johanneische Ekklesiologie; K. Scholtissek, Kinder Gottes; P. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 265–280; U. Wilckens, Paraklet. 12 J. Roloff, Kirche, 291. 13 So nach sorgsamer Erwägung aller Argumente pro und contra H.-J. Klauck, Joh.briefe, 88–109; anders z. B. M. Hengel, Johanneische Frage, 268 f.; auch H. Thyen, Joh.briefe, 187. 14 Diese ist z. T. sogar größer als die zwischen den paulinischen und nachpaulinischen Briefen. 15 Die Johannes-Apokalypse ist hier auszunehmen. In Sprache und Theologie unterscheidet sie sich so grundlegend und charakteristisch vom Johannesevangelium und den Johannesbriefen, daß sie, gerade auch im Verständnis von Kirche, nicht einfach mit diesen zusammengesehen werden kann. Zu einigen sprachlichen Gemeinsamkeiten vgl. J. Frey, Erwägungen, 326–429. 16 Dazu vgl. die oben Anm. 10 genannte Literatur. Hervorzuheben ist J. Becker, der in seinem Kommentar seine literarkritische Analyse konsequent zu einem Geschichtsbild der johanneischen Gemeinde und ihrer Schule auswertet; vgl. die Zusammenfassung Joh., 53–62; entsprechend U. B. Müller, Geschichte der Christologie, bes. 69–73.

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Roloff beginnt sein Kapitel mit einer zusammenfassenden Skizze dieser Geschichte.17 Diese gewinnt ihr Profil durch die literarkritische Hypothese, daß im Johannesevangelium verschiedene Schichten voneinander abzuheben seien, aus denen sich Phasen einer Entstehungsgeschichte des vorliegenden Buches erkennen ließen. Schon dies erscheint mir kritikbedürftig.18 Weder für die Rekonstruktion von literarischen Quellen gibt es zwingende Gründe noch auch für die Unterscheidung zwischen dem Originaltext und vielerlei sekundären Hinzufügungen einer ,kirchlichen Redaktion‘. Für das Kirchenverständnis gilt das vor allem für die Abschiedsreden. Sie stammen m. E. von der gleichen Hand des Evangelisten, der zwar Kapitel 15 f. nach dem ursprünglichen Schluß 14,31 später eingefügt, dieses neue Stück aber als Explikation von 13,31–14,31 mit Bedacht hinzukomponiert hat.19 Nur Joh 21 ist ein Nachtrag, dessen Verfasser als Herausgeber des Evangeliums mit dem Verfasser des 1. Johannesbriefes identisch sein kann.20 Dafür spricht vor allem, daß der 1. Johannesbrief die Kenntnis des Evangeliums voraussetzt, von dem als ,Basistext‘ johanneischer Theologie her er mit seinem Lehrschreiben seinen „Kindern“ zur Bewältigung einer schweren Krise der Gemeinde zu helfen sucht. Theologische oder kirchenpolitische Differenzen zur Position des Evangelisten allerdings lassen sich weder in Joh 21 noch in den Briefen begründen. Solche Differenzen spielen aber in den mancherlei Rekonstruktionen der Geschichte des johanneischen Christentums eine gewichtige Rolle. Es gibt in der Tat Gründe, für die Ursprünge des johanneischen Christentums den Bereich Palästinas zu vermuten. Dort können diese Gemeinden in der Zeit bis zur Katastrophe Jerusalems als ein ,Netzwerk‘ gleichgesinnter Kleingruppen gelebt haben, die durch ihre wanderprophetischen Gründer untereinander in Verbindung standen. In der Zeit nach 70 n. Chr., als sich das Judentum auf Galiläa konzentriert und sich unter kräftiger Führung pharisäischer Lehrer von allerlei „Sekten“(minim) getrennt hat, mag es schon hier zu jenen heftigen und teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen mit den Christen der johanneischen Gruppen gekommen sein, die sich deutlich im Johannesevangelium spiegeln (vgl. besonders 9,22.34; 12,42; 16,2 f.). Diese „traumatische Erfahrung“21 kann der Anlaß zu einem Umzug nach Kleinasien in die Umgebung von Ephesus gewesen sein.22 Aber auch hier, zur Zeit der Entste17 18 19 20 21 22

J. Roloff, Kirche, a. a. O., 290–294. Ich verweise dazu auf meinen Kommentar: U. Wilckens, Joh., zusammenfassend 5–11. Dazu vgl. U. Wilckens, Joh., 235. J. Roloff, ebd., 292. So J. Roloff, ebd., 293. Für einen solchen „Umzug“ gibt es allerdings keinerlei Textbeleg. Es handelt sich um

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hung des Evangeliums und der Briefe, haben akute Spannungen zum synagogalen Judentum bestanden. Die ständigen Streitgespräche zwischen Jesus und „den Juden“ im 1. Teil des Evangeliums, die ihm wegen seines Anspruchs, als Sohn Gottes mit Gott eines zu sein, Blasphemie vorwerfen (10,33, vgl. vorher 5,18 und nachher 19,7); die massiven Drohungen der pharisäischen Führer gegen alle, die sich zu Jesus als dem Messias bekennen (s. o.), und die Voraussage blutiger Christenverfolgungen im 2. Teil (16,1–4; vgl. 15,18 ff.; 17,14), sind nicht nur als tradierte Erinnerung an Erfahrungen vor 20 Jahren in Palästina, sondern nur als Reflex aktuell-gegenwärtiger Erfahrungen zu verstehen.23 Vor allem aber zeigen der 1. und 2. Johannesbrief eine aktuelle Nähe zu jüdisch-synagogalen Kreisen. Denn nur von dort kann die Krise in den johanneischen Gemeinden entfacht worden sein. Der Vorwurf, ihr christologisches Bekenntnis zu Jesus, dem Christus, als Gottes Sohn sei eine blasphemische Verletzung des biblischen Grundbekenntnisses zu dem einzig-einen Gott, hat nach dem Johannesevangelium seinen Ursprung in pharisäischen Führungskreisen (s. o.). Christen aus der johanneischen Adressatengemeinde des 1. Briefes haben sich diese Kritik zu eigen gemacht und das Bekenntnis innerhalb der Gemeinde zu bestreiten begonnen (1. Joh 2,19). Die Zahl dieser Apostaten muß bedrohlich groß gewesen sein: „Viele Antichristen“ sind als Verführer am Werk (1. Joh 2,18; 4,1–3). Zu einer klaren Distanzierung von ihnen und einer klaren Position in diesem akuten Kampf um die Wahrheit des Bekenntnisses sucht der Verfasser den Rest der Treugebliebenen zu bestärken. Daß Sendboten dieser Antichrist-Bewegung auch zu anderen Gemeinden unterwegs sind, ist aus 2.Joh 7 ff. zu erfahren. Die verbreitete Hypothese, bei den Gegnern handle es sich um ,Doketisten‘, die die johanneische Sohn-Gottes-Christologie gnostisch übersteigert und deswegen zwischen dem oberen Christus und dem irdischen Menschen Jesus unterschieden haben sollen, beruht m. E. auf einem Mißverständnis der gegen die Gegner betonten Inkarnation Jesu Christi in 1. Joh 4,2 und 2.Joh 7.24 Damit fällt auch die Hypothese Roloffs von eine reine Arbeitshypothese, um eine deutliche Nähe zu Jerusalem (Bethanien), Galiläa und Samaria (Joh 4!) in den Stoffen des Johannesevangeliums mit der Bezeugung der Johannesschriften in und um Ephesus im 2. Jahrhundert historisch zu vereinbaren. 23 Angesichts der Konkretion dieser Texte läßt sich schwerlich sagen, daß diese Auseinandersetzungen „für die aktuelle Situation der johanneischen Schule z. Zt. der Abfassung des Johannesevangeliums . . . nicht mehr (bestimmend)“ gewesen seien; so U. Schnelle, Einleitung, 490; ebenso M. Hengel, Johanneische Frage, 293.300; J. Frey, Eschatologie I, 456 f. Dabei verweist M. Hengel, ebd., 292 f. auf ein akutes Haß-Verhältnis zwischen Juden und Christen in Kleinasien (vgl. Offb3,9 mit Joh 8,44; ferner Apg 19,23 ff.), das bis zum Ende des 2. Jahrhunderts vielfach bezeugt ist. 24 Vgl. die ausführliche Auseinandersetzung mit dieser Hypothese in diesem Band Nr. 4.

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einer „zweiten traumatischen Erfahrung“ der Gemeindespaltung durch gnostisierende Doketisten in der „zweiten Phase“ der Geschichte des johanneischen Christentums in Kleinasien, die er so räumlich wie sachlich von der vorangehenden ersten Phase unterscheidet: War das erste Trauma der Ausschluß aus der Synagoge und die jüdischen Verfolgungen der Christen in Palästina, so habe das zweite Trauma durch die Gemeindespaltung in Kleinasien einen völlig anderen Grund und eine ganz andere Problemstellung gehabt.25 In diesem Zusammenhang sieht Roloff im 1. Johannesbrief und in Joh 21 den „Versuch, aus dem isolierten Status der Kleingruppe durch eine Annäherung an die werdende Großkirche herauszukommen“.26 Vor allem dies ist der Horizont, unter dem er sein Bild des johanneischen Kirchenverständnisses in seiner von dem der Großkirche verschiedenen Eigenart entwirft. Er geht erstens vom Verständnis des Geistes aus,27 der „der alleinige Lehrer jedes einzelnen Glaubenden“ sei28 und jegliche Sozialgestalt einer Amtskirche mit Lehrautorität über alle einzelnen Christen ausschließe. Darauf folgt zweitens eine Interpretation der Figur des „Lieblingsjüngers“ im Johannesevangelium29 als der einzigen Lehrautorität, die es für johanneische Christen gegeben hat und allein geben kann – im markanten Unterschied zu „Petrus und den Aposteln“ als den „maßgeblichen Überlieferungsträger(n) und Begründer(n) (groß)kirchlicher Lehre“.30 Unter diesen beiden Prämissen wird drittens die zentrale These expliziert: „Nach johanneischem Verständnis ist die Existenz von Kirche eine Funktion der Christusgemeinschaft der einzelnen Glaubenden“.31 Diese Tendenz zu einer „Individualisierung“32 des Christentums komme besonders in den beiden Bildreden vom Weinstock (Joh 15,1–8) und vom guten Hirten (Joh 10,11–16) zum Ausdruck. Die einzige Sozialstruktur, die dem entspricht, sei die einer bruderschaftlichen Liebesgemeinschaft, verstanden „als Auswirkung und Bewährung der Christusgemeinschaft der je einzelnen“.33 Von da aus ergibt sich viertens nicht nur ein höchst distanziertes Verhältnis zum Judentum als der „Welt“, die die johanneische Gemeinde umgibt, sondern auch das Fehlen jedes heilsgeschichtlichen Aspekts im 25 26 27 28 29 30 31 32 33

J. Roloff, Kirche, a. a. O., 293 f. Ebd., 294. Ebd., 294–297. Ebd., 297. Ebd., 297–299. Ebd., 299. Ebd., 299–302. Ebd., 300. Ebd., 302.

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Verständnis der aus Juden und Heiden als je einzelnen Christen bestehenden Kirche.34 Aus der individualistischen Struktur des Gemeindeverständnisses ergibt sich schließlich fünftens ein strikt „vertikales“ Einheitsverständnis.35 In Joh 17 gehe es um die Einheit und Gemeinschaft allein der „johanneischen Gruppe“,36 ohne jeden universalkirchlichen Horizont. Diesem Gesamtbild eines Selbstverständnisses der Gemeinschaft johanneischer Christen ohne eigentlich kirchlichen Charakter setze ich im folgenden ein in einigen Zügen anderes Bild gegenüber.37

1. Kirche als Liebesgemeinschaft der in Jesu Liebe bleibenden Jünger 1.1. Das Johannesevangelium ist ein wohlkomponiertes Werk. Es ist in zwei große Teile gegliedert: Der erste Teil (Kap. 1–12) berichtet das Wirken Jesu bis zum Beginn seiner Passion unter dem Gesichtspunkt der Sendung des Sohnes vom Vater; der zweite Teil (Kap. 13–20) die Geschichte seiner Passion und Auferstehung unter dem Gesichtspunkt der Vollendung seiner Sendung in der Rückkehr des Sohnes zum Vater. Während die Jünger im ersten Teil seit ihrer Berufung Jesus im Glauben nachfolgen, wohin immer er geht, konfrontiert er im zweiten Teil die Zwölf mit seinem bevorstehenden Abschied von ihm und verheißt ihnen die Sendung des Geistes in ihre Mitte als des „Parakleten“ an seiner Statt. So handeln die Abschiedsreden und das Abschiedsgebet (Kap. 13– 17) explizit thematisch von der nachösterlichen Kirche. Jeder Versuch, die johanneische Ekklesiologie in ihrer Eigenart zu verstehen, muß bei diesem Abschnitt ansetzen. 1.2. Der Verfasser leitet 13,1 den zweiten Teil mit einem Satz ein, der in sowohl sprachlich wie inhaltlich äußerster Verdichtung den Charakter einer Überschrift hat. Jesus weiß, daß mit der Nähe dieses Päsach-Festes die Stunde seines „Hinübergehens aus dieser Welt zum Vater“ gekommen ist.38 Diese Stunde seiner Entfernung von seinen Jüngern, die in dieser 34 35 36 37

Ebd., 302–306. Ebd., 307–309. Ebd., 308. Zur exegetischen Begründung alles Folgenden verweise ich auf meinen Kommentar zum Joh. 38 Daß Jesus zuvor zweimal zum Päsach nach Jerusalem gekommen ist (2,13 ff. sowie 6,4 vgl. 5,1), zeigt dem (mit den Stoffen vertrauten) Leser, daß von Anfang an alles Geschehen auf seine Passion hinzielt. Das wird ausdrücklich durch die mehrfachen Hin-

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Welt bleiben (vgl. 17,11), bedeutet aber nicht, daß seine Liebe zu ihnen, die er ihnen auf seinem Sendungsweg bisher erzeigt hat, mit seinem Abschied von ihnen etwa abbricht – sie kommt vielmehr in seinem Kreuzestod zur Vollendung.39 Aus ihrer Sicht, aus der Sicht der Welt, ist das ein Widerspruch, auf den Jesus hernach mehrfach eingeht (vgl. 13,33; 14,1.18.27; 16,6.16 ff.). Doch seine Zusage kommt, wie alles, was er sagt, aus dem Aspekt der ganz anderen Logik seiner Sendung. So gesehen, „nützt“ sein Weggang ihnen sogar (16,7). Alles Folgende dient dazu, ihnen diese Wahrheit nahezubringen, daß seine Liebe zu ihnen sich in seinem Tod für sie (vgl. 17,19) vollendet (vgl. 17,24–26). Der Bericht über die Fußwaschung schließt unmittelbar an 13,1 an. Er gibt also eine erste Erläuterung. Das wird dadurch unterstrichen, daß 13,1a in 13,3 nochmals wiederholt wird: Jesus handelt „in dem Wissen, daß der Vater ihm alles in seine Hände gegeben hat, und daß er vom Vater ausgegangen ist und zum Vater hingeht“. Der Akt der Fußwaschung symbolisiert die Heilswirkung seiner Sendung für sie. Stellvertretend für die Zwölf, sagt er es zu Petrus: Es geht darum, daß sie an ihm „teilhaben“ (13,8). Damit wird die entscheidende Aussage der folgenden Abschiedsrede präludiert: Die Jünger werden als „die Seinen“ nach seinem Tode „in ihm“ sein und er „in ihnen“; und in dieser ,innigen‘ Verbundenheit mit ihm werden sie teilhaben an der entsprechenden Verbundenheit zwischen Vater und Sohn (17,20–23). Nach der Fußwaschung gibt Jesus ihnen eine zweite Deutung40 in dem Gebot, was er ihnen getan hat, entsprechend einander zu tun (13,12–17). Daß er damit die gegenseitige Liebe meint, sagt er 13,34 f. Das „neue Gebot“, worin die Entsprechung der Liebe der Jünger zueinander zu seiner Liebe zu ihnen betont die Mitte bildet, ist seine testamentarische Gabe an sie. In der Liebe untereinander kommt seine Liebe zu ihnen in ihrer Mitte bleibend zur Wirkung41 (vgl. 15,9–11). Darum ist die Bruderliebe die Weise ihres missionarischen Zeugnisses, die dem Wesen der Kirche am deutlichsten entspricht. Die Welt soll daran, wie die Christen miteinander umgehen, die wirksame Gegenwart der Liebe Jesu in ihrer Mitte erkennen, die in seiner Verherrlichung ihre Vollendung gefunden hat. weise Jesu, daß seine „Stunde“ bzw. seine „Zeit“ noch nicht gekommen sei (2,4; 7,6.8.30; 8,20 sowie 12,23.27). Dazu vgl. in diesem Band S. 20 f.152 f. 39 EÜ™ tìlo™ 13,1 zielt auf tetìlestai 19,30. 40 Beide Deutungen gehören original zusammen, wie immer der Evangelist das zweite Motiv als eigenständiges Überlieferungsstück vorgefunden haben mag (vgl. Lk 22,27 und dazu U. Wilckens, Joh., 210 f.); vgl. auch in diesem Band S. 43 Anm. 21. 41 KahÈ™ 13,34 bringt – wie ähnlich in 15,9.10.12 – eine Entsprechung im Sinne von Ursache und Wirkung zum Ausdruck. Die Liebe Jesu ist also die Quelle der gegenseitigen Liebe der Seinen. – Gegen das vielfache Urteil, 13,34 f. sei ein sekundärer Einschub, vgl. mit Recht U. Schnelle, Joh., 225 f.

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Der Beginn der eigentlichen Abschiedsrede (13,31–35) bestätigt die enge Zusammengehörigkeit der Fußwaschungsperikope in ihren beiden Teilen. Auch hier ist die Ankündigung der Verherrlichung Jesu (13,31 f.) unmittelbar mit dem Gebot der Bruderliebe verbunden. Daß dieses die nachösterliche Kirche wesenhaft kennzeichnet, wird durch den dazwischenstehenden Hinweis auf die Bedeutung des Abschieds Jesu von seinen Jüngern 13,33 markiert. Diese werden in ihrer Situation nach seinem Tod von den Juden nicht unterschieden sein: Wohin er geht, dahin können sie nicht gelangen. Doch durch die Gegenwart seiner Liebe als der Quelle ihrer gegenseitigen Liebe werden sie für die Welt zu Zeugen dessen, daß ihre Jüngerschaft mit seinem Tode nicht erloschen ist, sondern in Kraft steht. Deutlicher kann die wesenhafte Bedeutung der Sozialität der Kirche gar nicht herausgestellt werden! Und darin, daß der Zusammenhang von christologischer Grundlegung und ekklesialer Praxis gleich zu Beginn des 2. Teiles des Evangeliums zweimal hintereinander betont wird, zeigt sich auch das theologische Gewicht, das der Gemeinschaftlichkeit der Kirche im johanneischen Denken zukommt. Von einem strukturell „individualistischen“ Christentum42 kann also keine Rede sein. Roloff sieht natürlich selbst im Blick auf die Fußwaschungsperikope, daß für den Evangelisten „der Glaube . . . eine Dimension der Gemeinschaftlichkeit“ hat, und daß „Christusgemeinschaft des einzelnen und Gemeinschaftlichkeit in der Kirche . . . zueinander im Verhältnis von Indikativ und Imperativ (stehen)“.43 Doch in welchem Verhältnis stehen Individualität und Sozialität? Das läßt sich an der Bildrede vom Weinstock Joh 15,1–17 klären. Sie bildet – zusammen mit 15,18–16,4 – den Mittelteil der Abschiedsrede.44 Daraus erhellt die Bedeutung für das Verständnis der Rede als ganzer. Die beiden Abschnitte 15,1–8 und 15,9–17 entsprechen in ihrer Zusammengehörigkeit den beiden voranstehenden 13,2–17 und 13,31–35. Das Bleiben in Jesus in der Bewahrung seiner Worte und das Bleiben in seiner Liebe in der gegenseitigen Liebe sind im Verhältnis von Ursache und Wirkung45 eng aufeinander bezogen. Wie die Reben nur durch die Verbindung mit dem Rebstock leben und Frucht tragen können, so können dies auch die Jünger Jesu nicht ohne ihn. Das gilt auch umgekehrt: Wenn sie nicht in ihm bleiben und entsprechend keine Frucht bringen, so trifft sie Gottes Gericht. Gewiß steht hier jeder einzelne Jünger im Blick. Wie sollte es auch anders sein, wenn doch Glaube an Jesus wesenhaft ein persönliches 42 43 44 45

J. Roloff, Kirche, a. a. O., 301. Ebd. Dazu vgl. U. Wilckens, Joh., 235. Zu kahÈ™ 15,9 f.12 in diesem Sinn vgl.oben Anm. 41.

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Verhältnis von Berufung und Nachfolge und von Reden und Hören ist. Doch schon auf der Bildebene steht der Weinstock als ganzer im Blick. Indem die Reben alle aus ihm hervorwachsen wie die Zweige eines Baumes, wäre es eine ganz unangemessene, ja unnatürliche Betrachtungsweise, wollte man das Ganze dieses organischen Lebenssystems als Summe von Einzelverhältnissen sehen. So ist das Bild auf das Verhältnis zwischen Jesus zu seinen Jüngern und umgekehrt zu übertragen: Grundlegend ist, daß er da ist und sie alle mit ihm als dem einen Sohn Gottes verbunden sind, der ihnen wahres Leben gibt und ohne den sie nichts tun können. Gewiß droht das Gericht jedem, der den Glauben an ihn aufgibt und von ihm „weggeht“ (6,66), als Einzelnem persönlich (15,6). Doch so betont die Warnung ist, mit der bereits die Bildrede 15,2 einsetzt, so ist diese doch im Kontext der Rede die Negativfolie, von der sich das positive Anliegen Jesu an die Seinen abhebt: in ihm zu bleiben und so Frucht zu bringen (15,4.7 f.). So sehr es auch hierin jeder einzelne ist, der am Glauben an ihn und an seinen Worten festhalten soll, so sehr sind es die Jünger insgesamt, die Jesus im „Ihr“ anspricht. Und mit der „Frucht“, die sie wie Reben am Weinstock bringen sollen, ist im Kontext (V. 11 ff.) zweifellos zentral die Bruderliebe gemeint. So gilt die Mahnung zum Bleiben in ihm jedem einzelnen von ihnen und ihnen allen gemeinsam. Er selbst ist ja die eine Quelle von Leben und Fruchtbringen.46 Seine Liebe, in der sie bleiben sollen (V. 9), ist die eine Heilswirklichkeit, an der sie alle gemeinsam teilhaben. So zielt die Bildrede V. 1–8 auf die Mahnrede V. 9–17.47 Die Mahnung zur Bruderliebe betrifft nicht nur den einzelnen Christen, sondern ihre Gemeinschaft als ganze. Denn in der wechselseitigen Liebe zueinander wird diese Gemeinschaft ja konstituiert und ständig praktiziert. Und da Christi Liebe die Quelle aller Bruderliebe in der Gemeinde ist, ist sie es auch, die diese als Liebesgemeinschaft schafft und als solche prägt. Nach V 13 ist es die Liebe des Gekreuzigten, der sein Leben für sie eÜ™ tìlo™ (13,1!) einsetzt. Sind sie durch diese Hingabe seine „Freunde“ geworden, so sind sie dies in der Praxis ihres Lebens nur, wenn sie sein Gebot gegenseitiger Liebe erfüllen (V. 14). Er in seiner Autorität des Offenbarers (V. 15) ist es, der sie zu seinen Freunden erwählt hat und ihnen gebietet, bleibend Frucht zu bringen (V. 16) im Bleiben in seiner Liebe (V. 9). So bringt die nochmalige Wiederholung des Gebots der Bruder46 In diesem Zusammenhang ist auch das Beten, zu dem Jesus seine Jünger in V. 7 ermutigt, nicht auf das je individuelle Gebet beschränkt, sondern kann sich sehr wohl auch auf das gemeinsame gottesdienstliche Gebet beziehen. 47 Daß J. Roloff, Kirche, 300 sich auf V. 1–8 beschränkt, fördert die einseitige Auslegung der Bildrede auf den Aspekt der Christusverbindung des einzelnen Christen. Richtig U. Schnelle, Johanneische Ekklesiologie, 45 f.

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liebe (V. 17) den Skopos der ganzen Rede auf den Punkt. Nicht nur jeder einzelne von ihnen erweist sich selbst als Christ, indem er liebt, sondern die Gemeinde der Christen erweist sich als Gemeinschaft seiner „Freunde“, indem sie als Liebesgemeinschaft lebt.48 Ein Blick auf den 1. Johannesbrief bestätigt das. In der akuten Krise der Gemeindespaltung geht es entscheidend darum, daß die Adressaten an der Gemeinschaft mit dem geistlichen Leitungskreis festhalten, als dessen Repräsentant der Autor schreibt; denn diese Gemeinschaft mit einander ist Gemeinschaft mit Vater und Sohn (1,3). Das gilt entscheidend jetzt auch für die Gemeinschaft des treugebliebenen Restes der Adressatengemeinde selbst: In der Wahrheit des Christusbekenntnisses zu bleiben, heißt zugleich, sich von der Bruderliebe nicht abbringen zu lassen; denn wer im Glauben die Liebe des für uns Gekreuzigten (vgl. Joh 15,13) erkannt hat, der kann nur in entsprechender Hingabe für den Bruder leben (1. Joh 3,16); und um erneute Entscheidung zu beidem geht es jetzt. So ist die eindringliche Mahnung zur Bruderliebe die Mitte des ganzen Briefes (3,11–18; 4,7–21), gerade in der akuten Streitsituation angesichts der Verleugnung des Christusbekenntnisses durch die Gegner (2,19.23; 4,1–3), gegen deren „Verführung“ es gilt, an diesem Bekenntnis festzuhalten. Gleiches gilt auch für den 2.Johannesbrief. Hier geht sogar die aktualisierende Mahnung, an der wechselseitigen Liebe als kirchlicher Praxis festzuhalten (V. 5 f.), der Warnung vor den „Verführern“ (V. 7–12) vorauf.

2. Die Sendung des Geistes und das Kommen des verherrlichten Jesus 2.1. Im Aufbau der Abschiedsreden dienen die beiden parallelen Teile 14,1–31 und 16,5–33 dazu, die Verheißung Jesu an seine Jünger, daß die Entfernung durch sein „Weggehen“ von ihnen überwunden werden wird, inhaltlich auszuführen.49 Das geschieht in beiden Teilen so, daß unverbunden nebeneinanderstehen erstens die Ankündigung des Kommens des von Vater und Sohn zu den Seinen gesandten Geistes (14,15–17; 16,5–15), und zweitens die Zusage seines eigenen Wiederkommens (14,18–21; 16,16–24). Schließlich finden sich drittens weitere 48 Umgekehrt J. Roloff ebd., 302: Es sei „deutlich, daß die Liebesgemeinschaft als Auswirkung und Bewährung der Christusgemeinschaft der je einzelnen verstanden ist, nicht jedoch als der Ort, an dem sich Christusgemeinschaft unmittelbar ereignet.“ 49 Die Bedeutung der Abschiedsreden für die johanneische Ekklesiologie sieht T. Onuki, Gemeinde und Welt, 117–182 darin, daß diese Reden an die vorösterlichen Jünger für die Christen der nachösterlichen Kirche eine gefüllte Sinndeutung ihrer Existenz zwischen dem Tod Jesu und seiner endzeitlichen Parusie geben.

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Verheißungen des Geistes in 14,25 f. als Einleitung des Friedenszuspruchs 14,27–31 sowie im Mittelteil am Ende der Voraussage von Haß und Verfolgungen von seiten der Welt (15,18–16,4a): 15,26 f. Wie sind diese beiden Verheißungen des Kommens des Geistes und des Wiederkommens Jesu in ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen? 2.2. Der Abschnitt 14,1–14 führt auf das Thema hin. Hier tritt auf seiten der Jünger immer wieder hervor, wie verständnislos sie als irdische Menschen auf alles, was über die Todesgrenze des Abschieds hinausgeht, reagieren. Jesus weiß um die tiefe Verwirrung und Erschütterung in ihren Herzen und fordert sie deswegen zu dem Glauben an Gott auf, der die Väter am Schilfmeer in der Angst vor der Vernichtung durch das herandringende Heer der Ägypter errettet hat (Ex 14,10–14). So, wie sie an Gott glauben, so sollen sie an Jesus selbst glauben, von dem sie doch wissen, daß er der von Gott gesandte Sohn ist – weit hinaus über Mose, den damals von Gott zur Rettung gesandten Knecht.50 Daß der Glaube an den einen Gott im Sinne von Dtn 6,4 f. und der Glaube an Jesus, den einen Sohn des Vaters, in einem Glaubensakt zusammenfallen, ist das Geheimnis der ganzen Sendung Jesu. Er braucht sie jetzt eigentlich nur daran zu erinnern (14,5–11): Gott und Jesus bleiben gerade dort eines (10,30), wo seine Jünger sich von ihm verlassen erfahren werden. Ist doch sein Weggang von ihnen (13,33) sein Hingang zum Vater (14,2 f.). Und dieser hat zum Ziel, für sie die himmlischen Wohnstätten zu bereiten: Dann wird er zu ihnen zurückkommen, um sie dorthin zu führen. Ihre Unfähigkeit jetzt, dorthin zu gelangen, wo er hingeht (13,33), wird dann aufgehoben sein: Wo er ist – beim Vater –, werden sie auch sein (14,3).51 Gleich zu Beginn nimmt Jesus hier die Zusage seines Wiederkommens vorweg. In 14,23b kehrt sich diese Zusage ,spiegelverkehrt‘ um: Dort werden Vater und Sohn miteinander zu jedem Jünger herabkommen und Einkehr bei dem halten, der Jesus liebt und seine Worte bewahrt; denn einen solchen liebt auch der Vater, weil Jesu Wort Wort des Vaters ist, der ihn gesandt hat (14,23 f.). Diese Version der Verheißung der Wiederkehr Jesu in der durch seine Verherrlichung vollendeten Einheit mit dem Vater hebt die Parusieverheißung von 14,2 f. zwar nicht auf, gibt ihr aber einen neuen, besonderen Sinn im Blick auf die Sendung des Geistes, von der in 14,15–17 die Rede ist.52 50 Dazu vgl. U. Wilckens, Joh., 221 f. 51 Die eschatologische Perspektive dieses Eingangs der Abschieds-Reden im engeren Sinn hat J. Frey, Eschatologie III, 134–148 herausgearbeitet. 52 Daß im Hintergrund die alttestamentlich-jüdische Grundvorstellung vom Wohnen Gottes inmitten seines Volkes steht, betont J. Frey, Eschatologie, 170 im Anschluß an J. Beutler, Habt keine Angst, 55 ff.73 ff.

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In 14,15 ist von der Liebe der Jünger zu Jesus im Halten seiner Gebote (14,23) zum ersten Mal im Johannesevangelium die Rede.53 Der Glaube an Jesus nach seinem Weggang von ihnen wird als Glaube an den verherrlichten Sohn Gottes zu der Liebe, mit der nach Dtn 6,4 f. Gott zu lieben ist (vgl. 14,1!).54 Wenn die Jünger ihn so lieben – durch das Dunkel seines Abschieds von ihnen hindurch –, wird er als Verherrlichter den Vater bitten, mit dem er in vollendeter Gemeinschaft lebt, und der Vater wird ihnen einen anderen Parakleten an seiner Statt senden, der auf ewig „mit ihnen“ sein wird, wie Jesus selbst bisher „mit ihnen“ gewesen ist (vgl. 7,33; 14,9).55 Der Geist wird also nach Ostern inmitten der Christen die Stelle einnehmen, die vor Ostern Jesus inmitten seiner Jünger gehabt hat. Nur: Der Geist wird nicht nur „bei ihnen“, sondern auch „in ihnen“ sein (14,17)! Dies ist das Stichwort, das das Kommen des Geistes mit dem nun unvermittelt verheißenen Kommen des verherrlichten Jesus selbst verbindet (14,18–21). Die entscheidende Aussage hier ist, daß die Jünger erkennen werden, daß, so wie Jesus „in“ seinem Vater ist, auch sie „in“ Jesus und Jesus „in“ ihnen ist (14,20). Dies widerfährt jedem von ihnen, der Jesus im Sinne von 14,15 liebt und seine Gebote hält: Er wird vom Vater geliebt werden, wie der Vater den Sohn liebt, und Jesus wird ihn lieben und sich ihm „sichtbar machen“ (14,21). Diese Aussagen eines wechselseitigen „In“-Seins zwischen Vater, Sohn und Jüngern sind nicht anders zu deuten als so, daß die Christen der nachösterlichen Kirche, vermittelt durch den Geist, in einer vollkommenen Gemeinschaft mit dem verherrlichten Sohn teilhaben an der wechselseitigen Liebesgemeinschaft von Vater und Sohn. Galt bereits vor Ostern: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“ (14,9), so wird dies in vollkommener Weise für das nachösterliche Verhältnis zum verherrlichten Jesus gelten. So ist auch 14,23 (s. o.) zu verstehen.56 53 Vorher nur 8,42 in einem Irrealis in der Rede an Juden. 54 Dies wird in den meisten Kommentaren völlig übersehen; vgl. z. B. R. Schnackenburg, Joh. III, 83; zuletzt U. Schnelle, Joh., 230 f. 55 1. Joh 2,1 zeigt, daß Name und Bedeutung Jesu als „Paraklet“ in der Sprache der johanneischen Gemeinde im Blick auf den Erhöhten, der aufgrund seines Kreuzestodes (vgl. Joh 1,29) „Sühne“ für sündige Christen erwirkt, bekannt und vertraut ist. Das entspricht Röm 8,34 sowie besonders der Hohenpriester-Christologie des Hebräerbriefes. Die Beziehung auf das „Mitsein“ des vorösterlichen Jesus mit seinen Jüngern in Joh 14,16 ist ohne Parallele, hat aber in Jesussprüchen der synoptischen Tradition wie Mk 2,19 par sowie Mk 3,14 eine sachliche Entsprechung. 56 So erklärt mit Recht jetzt auch J. Frey, Eschatologie III, 169 f. das Verhältnis von Joh 14,23 zu 14,2 f. so, daß durch den Gegenwartsaspekt von V. 23 (im Kontext V. 22–24.27–29) der endzeitliche Zukunftsaspekt in V. 2 f. nicht ,kritisch‘ aufgehoben wird (ebd., 173–175 gegen J. Becker). In der Tat bleibt der Paraklet V. 16 f.26 vom verherrlichten Jesus unterschieden. Dabei sollte das Argument der rein terminologischen Differenz nicht

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Die mit 14,21 übereinstimmende Einleitung der Ankündigung der Gabe des Geistes 14,15 und das mit 14,20 f. gemeinsame Stichwort „in“ zeigt, daß das Kommen des Geistes mit dem Kommen des Verherrlichten zusammen gesehen und gedeutet werden soll: Der Geist vermittelt also die Gemeinschaft mit dem verherrlichten Sohn, der als solcher mit dem Vater auf das Innigste verbunden ist und diese Gemeinschaft den Seinen vermittelt, indem er sich ihnen „offenbar macht“. Der Geist vermag das, weil er, wie zuvor Jesus selbst, vom Vater gesandt ist, – nur daß der Geist vom Vater und vom Sohn gemeinsam gesandt wird.57 2.3. Welches sind die Funktionen des Geistes? Erstens: Er lehrt die Jünger und erinnert sie nach Ostern an alles, was Jesus ihnen vor Ostern gesagt hat (14,26). Das heißt: Er ist als Garant der Traditionskontinuität der Worte Jesu in der nachösterlichen Kirche wirksam. Er ist somit zweitens der Zeuge in allem, „was Jesus betrifft“ (15,26), vor allem, was seine Autorität als des vom Vater gesandten Sohnes und seine Einheit mit dem Vater betrifft. Das heißt: Er ist Zeuge des Selbstzeugnisses Jesu. Als solcher ermächtigt er die Jünger der nachösterlichen Kirche zu ihrem Zeugendienst,58 zu dem der Auferstandene sie ausdrücklich senden wird (20,21), wie er ihnen auch den Geist als Zeugen sendet. Drittens So sehr es inhaltlich die Worte des vorösterlichen Jesus sind, die der Geist bezeugt und die auch die Verkündigung der Kirche zu bezeugen hat, so sehr ist die „ganze Wahrheit“ der Worte Jesu erst im nachösterlichen Zeugnis zu sehr gewichtet werden (gegen J. Frey ebd., 175): In 16,7 ff. wird die Entsprechung zwischen dem „Weggehen“ Jesu und dem „Kommen“ des Parakleten sogar stark betont; und das Futurum Éle‹setai bezieht sich hier auf die nachösterliche Zeit der Kirche. Die personale Differenz zwischen dem verherrlichten Jesus in seiner unmittelbaren Einheit mit dem Vater ,droben‘ und dem Parakleten in seinem Wirken inmitten der Jünger der Kirche auf Erden wirkt sich darin aus, daß deren Gemeinschaft mit Jesus durch den Geist vermittelt wird, und diese Vermittlung am Ende aufgehoben werden wird: Erst dann wird es eine unmittelbare Teilhabe der Jünger an der Einheit und Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn geben, die es so zuvor nicht gegeben hat, weder in der Zeit des Wirkens Jesu noch in der des – dieses Wirken Jesu vergegenwärtigenden – Wirkens des Geistes in der Zeit der Kirche! 57 In 14,15 sendet der Vater den Geist auf Bitten des Sohnes, in 14,25 „im Namen“ des Sohnes; in 15,26 und 16,7 sendet ihn der Sohn „vom Vater her“. Daß dieser unterschiedliche Aspekt kontextbedingt ist, habe ich in meinem Kommentar begründet, vgl. U. Wilckens, Joh., 246. J. Becker, Joh., 555 f. benutzt diese Differenz literarkritisch zu einer Differenz zwischen dem christologischen Verständnis des Geistes in der Theologie des Evangelisten und der ekklesiologisch verengten Sicht der „kirchlichen Redaktion“ und zerstört dadurch die für die Theologie des Joh.evangeliums zentrale trinitarische Struktur. Dazu vgl. in diesem Band S. 21 f. 58 Zu der dahinterstehenden Tradition (Mk 13,11 par; Lk 12,11 f. par usw.) vgl. U. Wilckens, Joh., 247 f. Dieser Aspekt wird stark betont bei U. Schnelle, Johanneische Ekklesiologie, 43.

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des Geistes offenbar, der darin also für die nachösterliche Kirche zum „Wegführer“ wird (16,13).59 Dazu gehört auch „vieles“, was die Jünger jetzt – zur Zeit dieser Abschiedsrede – „noch nicht tragen können“. Doch auch all dies „hört“ der Geist aus dem Munde des Verherrlichten und spricht davon nicht aus Eigenem (16,13). In der Identität des Verherrlichten mit dem irdischen Jesus ist also alles ,Neue‘ begründet, das im Zeugnis des Geistes in der nachösterlichen Kirche zu Wort kommt. Nur weil auch dieses aus Jesu eigenem Munde stammt, ist es wahr. Viertens: Insofern „verherrlicht“ der Geist Jesus in der irdischen Gemeinde seiner Jünger (16,14 f.): indem er alle Inhalte seines Zeugnisses aus der Selbstoffenbarung des vom Vater verherrlichten Sohnes (vgl. 13,31 f.!) „nimmt“ und ihnen verkündigt.60 Das Zeugnis des Geistes richtet sich – fünftens – auch an die Welt (16,8–11). Hier geht es nicht (wie Mt 28,19 f.; Lk 24,47 f.) um missionarische Verkündigung, sondern vielmehr um eine eschatologisch-richterliche „Überführung“ der Welt,61 sofern diese der Sendung Jesu im Unglauben gegenübersteht: Ihr Unglaube Jesus gegenüber ist Sünde gegen Gott. Die Gerechtigkeit ist auf seiten Jesu: Indem sich in seinem Aufstieg zum Vater als Entfernung aus der irdischen Welt seine Sendung vom Vater vollendet hat, ist er eschatologisch-endgültig ins Recht gesetzt (vgl. 1.Tim 3,16). Und der Teufel als der Weltherrscher ist ebenso endgültig ins Unrecht gesetzt und entmachtet (vgl. 12,31). Auch dieses Zeugnis des Geistes gegenüber der antichristlichen Welt ist Verlautbarung aus dem Himmel, Urteilsspruch des verherrlichten Sohnes in seiner vollendeten Einheit mit dem Vater. Sofern diese aus der Mitte der Gemeinde ergeht, bedeutet dieses Zeugnis für diese selbst eine Bekräftigung ihrer eigenen Weltüberlegenheit aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu dem verherrlichten Jesus, die aus der Welt heraus nicht mehr in Frage gestellt werden kann. „Habt Mut! Ich habe den Sieg über die Welt errungen!“ (16,33) – dies ist das letzte Wort des irdischen Jesus an seine Jünger, mit dem er sie in die bevorstehende Zukunft entläßt, in der sie als Gemeinde des verherrlichten Sohnes Gottes in „Freimut“ und Heilsfreude werden leben dürfen und, mit der vielfältigen Hilfe des Geistes, seine Zeugen sein können. 59 J. Frey, Eschatologie III, 193 verweist auf Ps 142,10 (LXX): tó pneømâ sou tó ågahín (BSA: çgion) údvgŒsei me Én gá e«heù⁄ und Ps 24,5 (LXX): údŒgvsín me Épÿ tÀn ålŒheiân sou. 60 J. Frey, Eschatologie III, 190 ff. stellt die trinitarische Struktur in 16,13–15 heraus. 61 J. Frey, Eschatologie III, 183 f. beschränkt das Élìgcein auf ,ein innergemeindliches Wirken‘ des Geistes und grenzt es gegen Situationen des Zeugnisses vor Gerichten des Kosmos (Mk 13,9–11; Mt 10,17–20; Lk 12,8–12; 21,14 f.) ab. Dieserart Situationen stehen in Joh 16,8 aber nach Joh 16,1–4 deutlich im Vordergrund; und innergemeindliche Lehre hat die Aufgabe, Christen darauf vorzubereiten und dafür auszurüsten.

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2.4. Es trifft zu: Ein eschatologisches Selbstbewußtsein in solcher Radikalität gibt es im Urchristentum nur in der johanneischen Kirche. Daß damit aber alle „Probleme der weitergehenden Zeit und Geschichte . . . verdrängt werden“62 ist ein Urteil, das jeder Begründung im Blick auf die tatsächliche Geschichte dieses Christentums entbehrt. Jedenfalls zeigt ein Blick in den 1. Johannesbrief, daß die Tradition solchen strahlenden Selbstbewußtseins die johanneische(n) Gemeinde(n) zwar nicht vor tiefgreifenden Krisen bewahrt hat, daß aber in der Auseinandersetzung mit dieser Krise dieses Selbstbewußtsein weder zusammengebrochen noch auch etwa auf ein ,realistisches‘ Maß zurückgeschnitten worden ist, sondern zu einem Bekenntniskampf auf Tod und Leben bereit und fähig gewesen ist – und diesen auch bestanden hat. In dieser Krise ist es allerdings zu einem Bruch der Gemeinschaft gekommen, den es eigentlich nicht geben kann, wenn alle, die in der Taufe die „Salbung“ mit dem Heiligen Geist empfangen haben, dieser Gabe, die in ihnen wirkt, in ihrem Leben stattgeben und „in ihr bleiben“ (1. Joh 2,24–27). Das geschieht im Festhalten am Bekenntnis zu Jesus Christus, Gottes Sohn, und in der Erfüllung seines Gebots der gegenseitigen Liebe (s. o.). Wer dagegen die Gottessohnschaft Jesu Christi leugnet, widerstreitet damit nicht nur im nachhinein dieser Gabe des Geistes, die er am „Anfang“ empfangen hat, sondern er erweist mit diesem Widerstreit, daß er diese Gabe nie wirklich empfangen hat. Die „unmögliche Möglichkeit“ der Entstehung von Irrlehre inmitten der Gemeinschaft rechtgläubiger Christen kann überhaupt nur eine Erklärung finden im Horizont des letzten Aufbäumens des Satans als Anti-Christus (2,18; 4,1–3). Dem zu widerstehen, kann für die wahren Christen nur heißen, im Festhalten am Bekenntnis die Wahrheit Gottes wahr sein zu lassen. In einer Art von ernstester Ironie sagt der Verfasser zu ihnen: „Ich habe euch nicht geschrieben, daß ihr die Wahrheit nicht kennt, sondern daß ihr sie kennt und (damit wißt), daß jede Lüge nicht aus der Wahrheit stammt“ (2,21). Das ist alles andere als eine diplomatische petitio, sondern volle, konkrete Ernstnahme der eschatologischen Geschiedenheit von Wahrheit und Lüge wie der von Licht und Finsternis (1,5 f.): in Gott selbst wie entsprechend darum in jedem, der „aus Gott geboren“ ist (5,1–4). Der Verfasser des Briefes und sein Kreis können sich darauf verlassen, daß die Adressaten den Inhalt dieses Briefes hören, weil „wir aus Gott sind, und wer Gott kennt, auf uns hört“ (4,6). Wenn er sie inständig mahnt, am Christusbekenntnis festzuhalten, so tut er es in der Gewißheit, daß sie darin die Stimme Christi, die Stimme des Geistes Gottes, vernehmen. Da mögen die Gegner noch so engagiert auf 62 So J. Roloff, Kirche, 296.

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sie einreden, ihr Bekenntnis zu Jesus Christus als dem Sohn Gottes sei Sünde blasphemischer Verletzung der Ehre des einzig-einen Gottes. Wenn der Verfasser sie daran erinnert, daß umgekehrt den Vater verleugnet, wer den Sohn verleugnet, dann setzt er dabei auf die Überzeugungskraft des Geistes in seinen Adressaten. Es ist ein tiefes Mißverständnis des ganzen Briefes, wenn man den Satz 2,27 so auffaßt, als werde hier „jede Lehrautorität innerhalb der Gemeinde für überflüssig erklärt“.63 Gewiß „kann der Auftrag eines gemeindlichen Lebens“ allein (nicht „allenfalls“!) „darin bestehen, die allen bekannte Wahrheit ins Gedächtnis zu rufen und ihren gemeinschaftlichen Ausdruck zu vermitteln“.64 Aber der Lehrer, der dies tut, tut damit ja eben das, was nach johanneischer Lehrtradition Aufgabe des Geistes in der Kirche ist (vgl. 1. Joh 2,24 f. mit Joh 14,26; 16,13–15). So versteht der Johannesevangelist sein Buch, so auch der Briefautor sein Mahnschreiben. Es ist eine falsche Alternative, wenn Roloff schreibt: „Das Gewicht liegt nicht auf der Weitergabe und Bewahrung des Zeugnisses von der Offenbarung, sondern auf der gegenwärtigen pneumatischen Bezeugung der Wirklichkeit dieser Offenbarung.“65 Beides ist wesenhaft eines.66

3. Die Zwölf und „der Jünger, den Jesus liebte“ 3.1. Von Anfang an sammelt Jesus Jünger um sich, die an ihn glauben und diesen Glauben in seiner Nachfolge leben, weil es für sie eine Frage von Leben und Tod ist (vgl. 5,24), dort zu sein, wo Jesus ist (vgl. 1.39 mit 10,27–29; 12,26), der Sohn Gottes (1,49), der „Heilige Gottes“ (6,69). Doch von Anfang an vollzieht sich der gleiche Vorgang: Viele kommen zum Glauben an Jesus, aber viele wenden sich auch alsbald wieder von 63 64 65 66

So J. Roloff, Kirche, 297. Ebd. Ebd., 296. Zur Auseinandersetzung mit den Abtrünnigen im 1. Johannesbrief vgl. in diesem Band Nr. 4. – Gleiches gilt übrigens auch für den Evangelisten Matthäus, von dem sich der Johannesevangelist nur darin unterscheidet, daß er seinen Bericht über den Weg der Sendung Jesu unter dem leitenden Gesichtspunkt der Vollendung dieser Sendung darstellt, so daß die Leser im irdischen Jesus der lebendigen Wirklichkeit des Sohnes Gottes gewahr werden können, an der sie, vermittelt durch den Geist, gegenwärtig teilhaben, und so alles erzählte Geschehen in Worten und Taten Jesu aus dem Aspekt des Geistes verstehen – im Unterschied zu den vorösterlichen Jüngern selbst. Dies mag übrigens der entscheidende Grund dafür sein, daß der Joh.evangelist unter Voraussetzung der Kenntnis der Evangelien seiner Vorgänger sein Evangelium verfaßt hat, in dem der Geist die Leser den Weg der irdischen Sendung des Sohnes Gottes allererst in seiner „ganzen Wahrheit“ (Joh 16,13) erkennen läßt.

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ihm ab. Jesus selbst weiß das voraus (6,64), denn „er wußte, was im Menschen (von jeher) war“ (2,23–25). Das Gespräch mit Nikodemus (3,1–10) läßt den Grund dafür erkennbar werden: Glaube an Jesus ist nicht Sache „des Fleisches“, sondern das Wunder des Geistes: eine neue Geburt, eine Zeugung „von oben“ (3,3), Gabe Gottes (4,10; 6,26– 29.36–40 u. ö.). Schon in der Mitte des 1. Teiles wird von einem massenweisen „Weggehen“ von Jüngern berichtet (6,66), die sich an seinen Worten „ärgern“, die doch „Geist und Leben sind“ (6,60 ff.). Schließlich bleibt nur noch die Gruppe der Zwölf bei ihm. Sie wissen nicht, wohin sie weggehen könnten, wo doch Jesus „Worte ewigen Lebens hat“ (6,67 f.). Ihr Glaube und ihre Erkenntnis sind darum definitiv (6,69: zweimaliges Perfekt!). Sie sind die, die Jesus „erwählt“ hat (6,70 vgl. 13,18; 15,16.19). Am Schluß des 1. Teiles ergibt sich im Rückblick das gleiche, geradezu tragische Bild: Trotz all seiner Zeichen hat Jesus keinen Glauben gefunden (12,37 ff.). Zu Beginn des 2. Teiles ist er mit den Zwölfen allein. Aber selbst unter diesen „Auserwählten“ befindet sich noch immer einer, der nicht hinzugehört: sein Verräter (13,18 f.). Erst nachdem Judas in die Nacht hinausgegangen ist (13,30), ist der Kreis der Zwölf geschlossen. Sie sind die Adressaten der folgenden Abschiedsreden. Doch auch die Zwölf sind in ihrer Treue zu ihm alles andere als verläßlich: Simon Petrus, der in seiner Nachfolge sogar sein Leben für ihn geben will (wie ebenso Thomas 11,16), wird ihn in der Stunde, in der dieses Versprechen akut wird, dreimal verleugnen (13,36–38). Und ebenso werden sie alle ihn verlassen (16,32). Diese Spannung zwischen ganzheitlichem Glauben (6,69) und Treulosigkeit im entscheidenden Augenblick hat eine Entsprechung in der Spannung zwischen voller Erkenntnis Jesu als des Sohnes Gottes (1,49; 6,69) und immer wiederkehrender Verständnislosigkeit gegenüber der Rede Jesu (z. B. 4,33; 6,7–9; 6,60; 11,8.12; 13,6.9; 14,5.8.22; 16,29 f. nach 16,28). Die Leser sollen in den vorösterlichen Jüngern einerseits Vorbilder bzw. Urbilder des Glaubens und der Nachfolge sehen. Andererseits wissen sie sich ihnen, was das Verständnis der Worte Jesu betrifft, überlegen. Darin zeichnet sich der tiefgreifende Unterschied zwischen vorösterlicher und nachösterlicher Jüngerschaft ab. In der nachösterlichen Zeit der Kirche werden die Jünger, die Jesus während der ganzen Zeit seines irdischen Sendungsweges begleitet haben, zu den entscheidenden Zeugen (15,27) seiner Worte und Taten. Es ist der Kreis um den Verfasser des 1. Briefes („Wir“), dessen Zeugnis ihres leibhaftigen Hörens und Sehens Jesu für die Adressaten die Autorität begründet, in der er an sie schreibt (1. Joh 1,1–4). Zu dieser ,sarkischen‘ Komponente des nachösterlichen Jesuszeugnisses kommt freilich entscheidend die pneumatische hinzu: Der Geist ist es, der die Zeugen durch sein Zeugnis ermächtigt (vgl. Joh 15,27 mit 1. Joh 2,20.27; 4,2). Der sarkische und

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der pneumatische Aspekt des Jesus-Zeugnisses der Jünger schließen sich nicht nur nicht aus, sondern gehören wesenhaft zusammen und bedingen sich gegenseitig. Darin besteht die absolute Autorität ihres Zeugnisses. Dies entspricht der johanneischen Christologie, nach der der irdische Jesus der Sohn Gottes und der verherrlichte Sohn des Vaters der Mensch Jesus ist. Doch hinsichtlich der Verleugnung des Petrus und der Flucht der Jünger ist darüber hinaus ein anderer Zusammenhang zu beachten. Eben die, die ihren Herrn verlassen haben, werden durch den Auferstandenen der Sendungsvollmacht gewürdigt, in der sie an seine Stelle als des Gesandten des Vaters treten sollen (Joh 20,21). Und ausgerechnet Simon Petrus, der seinen Herrn dreimal verleugnet hat, wird vom Auferstandenen durch die dreimalige Beauftragung ausgezeichnet, an seiner Statt seine Schafe zu weiden (Joh 21,15–17).67 Ja, er, der mit dem emphatischen Angebot der Hingabe seines Lebens für seinen Herrn (13,37) jämmerlich gescheitert ist (13,38), wird dann doch des Kreuzestodes als der ihn besonders auszeichnenden Weise der Nachfolge gewürdigt (21,18 f.).68 Im ersten Fall ist Petrus der erste Jünger, der selbst die Vergebung der Sünden aus dem Munde seines Herrn empfängt, die dieser durch seinen Kreuzestod erwirkt hat (vgl. 1,29), und zu der er die Zwölf zuvor im Zusammenhang ihrer Sendung ermächtigt hat (20,22). Im zweiten Fall wird er der Nachfolge gewürdigt, die Jesus 13,33 als auch für seine Jünger unmöglich erklärt hat, Simon Petrus jedoch mit dem Rätselwort „später wirst du mir folgen“ (13,36) eröffnet. Nun hat die Bestallung des Petrus zum Hirten an Jesu Statt eine besondere ekklesiologische Relevanz. Durch die Rückbeziehung auf die Hirtenrede Joh 10 wird dieser nachösterliche Hirtendienst eindeutig als universalkirchliches Amt charakterisiert. Es bleiben zwar Jesu eigene Schafe, die Petrus zu weiden hat; er ist darin keineswegs Nachfolger Jesu, wohl aber „vicarius Christi“. Doch eben darum ist sein Dienst nicht auf eine Gemeinde beschränkt, sondern auf die ganze Herde Jesu bezogen, auf alle Christen (einschließlich derer, die Jesus nach Joh 10,16 zur vorösterlichen Jüngerschar hinzuführen will). Deutlicher kann gar nicht belegt werden, daß das johanneische Verständnis von Kirche sehr wohl einen über den Kreis der eigenen Gemeinden hinausreichenden, universalkirchlichen Horizont hat! Die nächste Parallele zu Joh 21,15–17 ist Apg 20,28.69 Insofern hat die Theologie der Johannesschriften in der Tat teil an dem werdenden ,großkirchlichen‘ Bewußtsein einer ,ökumeni67 Vgl. dazu U. Wilckens, Joh., 326 f. sowie in diesem Band S. 171–173. 68 Vgl. ebd., 328 f. 69 Vgl. dazu J. Roloff, Kirche, 220. Zu der urchristlichen Tradition des Hirtenbildes vgl. U. Wilckens, Joh., 327 f. sowie in diesem Band S. 177 ff.

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schen‘ Zusammengehörigkeit aller Ortsgemeinden. Daß dies eine Konzession der krisenbedrohten kleinen johanneischen Gemeinden an die Großkirche unter kirchenpolitischem Aspekt sei,70 ist eine Vermutung, die weder durch Joh 21 noch durch irgendeinen anderen johanneischen Text zu begründen ist. 3.2. Zu dieser Vermutung hat das Verhältnis zwischen Simon Petrus und dem namenlosen „Jünger, den Jesus liebte“, Anlaß gegeben. Diese eigenartige Gestalt taucht, völlig unvermittelt, erstmals 13,23 als einer der beim Mahl versammelten Jünger auf. Irritiert durch die Ankündigung Jesu, einer von ihnen werde ihn verraten, nickt Petrus als ihr Sprecher diesem Jünger zu, er möge Jesus fragen, wer es sei. Da er an Jesu Brust liegt, braucht er sich nur zu ihm zurückzulehnen, um sozusagen Auge in Auge mit ihm die Frage an ihn zu richten. Danach ist nicht mehr von ihm die Rede. Diese kleine Episode zeigt zweifellos eine besondere Vertrautheit dieses Jüngers mit Jesus, die Petrus zum Anlaß nimmt, ihn als Vermittler zwischen ihnen und Jesus zu bitten. Von einer Konkurrenz zwischen beiden kann keine Rede sein. Das wortlose Zunicken des Petrus zu ihm läßt vielmehr auf Vertrautheit zwischen ihnen schließen. Ähnliches wird 21,7 erzählt. Während die Jünger im Boot den Auferstandenen, der sie vom Seeufer aus anspricht, nicht erkennen, ist es wieder dieser Namenlose, der es weiß und ihnen mitteilt. Eine Konkurrenz zwischen den beiden Jüngern wird allerdings in 20,2 ff. sichtbar. Auf die Nachricht Maria Magdalenas, sie habe Jesu Grab geöffnet gefunden, eilen Petrus und jener andere hinaus. Dieser erreicht als erster das Grab, überläßt es aber Petrus, die Grabkammer als erster zu betreten. Doch während Petrus die Leintücher und das Schweißtuch lediglich sieht, sieht dann jener sie „und glaubte“. In dieser Situation des Ostermorgens hat er also dem Petrus zweimal das Entscheidende voraus. Gleichwohl kommt es zu keinerlei Spannung zwischen ihnen. Sie gehen gemeinsam vom Grab nach Hause. In 21,20–22 schließlich kommt es zu einer Divergenz. Petrus, dem der Auferstandene gerade seine Beauftragung zum Hirten und seinem Märtyrertod am Kreuz zugesprochen hat, sieht jenen anderen Jünger Jesus folgen und fragt Jesus, was es denn mit diesem auf sich habe. Jesus antwortet darauf: „Wenn ich von diesem will, daß er bleibt, bis ich komme, was betrifft es dich? Du folge mir nach!“ (V. 22). Eine Zurück70 Vgl. z. B. W. Schmithals, Joh.evangelium, 239–242; dagegen M. Hengel, Johanneische Frage, 210 Anm. 10. Nach R. Schnackenburg, Joh. III, 441 f. geht es in Joh 21,20–22 „eher (um) ein positives (Anliegen)“: „Zu einer Zeit, da Petrus bereits aus dem Leben abberufen war, liegt darin auch eine Mahnung für alle an Petrus orientierten Kreise in der Urkirche.“ (442). Ähnlich J. Roloff, Kirche, 299; E. Ruckstuhl, Aussage und Botschaft, 359.361.

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setzung des Petrus kann dies nach den beiden ehrenvollen Berufungsakten V. 15–19 nicht sein. Eine Unterscheidung von Gewicht ist es dagegen nach Jesu „Willen“ wohl: Petrus soll ihm in den Märtyrertod folgen, der andere soll „bleiben“ bis zur zukünftigen Parusie Jesu. Das eine ist nach V. 18 f. eindeutig, das andere rätselhaft. Die naheliegende Deutung, dieser Jünger „werde nicht sterben“, weist der Erzähler als ein unter den Brüdern aufgekommenes Mißverständnis zurück (V.23).71 Er selbst wiederholt jedoch nur den Satz Jesu noch einmal, ohne ihn zu erklären. Statt dessen stellt er „diesen Jünger“ den Lesern als den Autor des Buches vor und bekräftigt die Wahrheit seines Zeugnisses (V. 24). Das kann nur heißen: Zwar ist der Autor gestorben, aber sein Zeugnis in seinem Buch wird in der Kirche „bleibend“ gegenwärtig sein. Als den einzigen Zeugen des für die nachösterliche Kirche zentral wichtigen Zeichens unmittelbar nach Jesu Tod stellt der Evangelist selbst diesen Jünger heraus (19,35): Er sieht, wie aus seiner Seitenwunde „Blut und Wasser“ herauskommen. Darin erfüllt sich die Verheißung an die Glaubenden in 7,38, nur daß jetzt, in der Stunde des eingetretenen Todes Jesu als der Vollendung seiner Sendung (19,30), das Blut zum Wasser hinzutritt und darum als erstes genannt wird. Das Wasser symbolisiert die Taufe und den durch sie gegebenen Geist (7,39; vgl. 3,5), das Blut die Eucharistie (vgl. 6,53– 56). Der Verfasser des 1. Briefes betont 5,6–8 – offenbar im Blick auf Joh 19,35 – die Zeugenschaft des Geistes sowohl in der Taufe Jesu zu Anfang seines Sendungsweges wie auch in seinem Kreuzestod als dessen Vollendung und so zugleich in der Taufe und Eucharistie der Kirche. So ist in diesen beiden Sakramenten das Zeugnis des Geistes wirksam, das den gesamten Sendungsweg Jesu von Anfang bis Ende bezeugt, und das nach Joh 19,35 auf das Augenzeugnis des Geliebten Jüngers zurückgeht (vgl. 1. Joh 1,1–3!).72 Dieser ist der einzige der Jünger, der unter dem Kreuz Jesu steht und so seinem Herrn gerade auch in dieser „Stunde“ seines Todes ganz nahe ist. Jesus ruft ihn zusammen mit seiner Mutter zu sich heran und vertraut sie dem Schutz des Geliebten Jüngers als ihres Sohnes an seiner Statt und entsprechend seine Mutter der Fürsorge dieses Jüngers an (19,35– 37).73 3.3. Nach diesem Überblick über die Stellen, an denen die Rätselgestalt des „Jüngers, den Jesus liebte“, auftritt, gilt es nun, diese zu deuten und damit zugleich die Bedeutung dieses Jüngers im johanneischen Kirchenverständnis zu erkennen. 71 Vgl. dazu in diesem Band S. 177 ff. 72 So auch U. Schnelle, Johanneische Ekklesiologie, 47 f. 73 Dazu vgl. in diesem Band S. 160 ff.

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Auszugehen ist von zwei Feststellungen. Dieser Jünger befindet sich bei seinem ersten Auftauchen 13,23 inmitten der Mahlrunde der Zwölf, gehört also zum Kreis der Zwölf hinzu.74 Doch sein Name wird weder hier noch an den anderen Stellen genannt. Das ist sicher Absicht: Der Leser soll nicht nach einem bestimmten Mitglied des Zwölferkreises suchen, sondern ihn von dem Funktionsnamen her, den er durchweg trägt, verstehen: „der Jünger, den Jesus liebte“. Das Imperfekt Õgâpa 13,23, das ebenso an allen Stellen steht, besagt, daß Jesus diesem einen Jünger („der Jünger“!) seine Liebe dauernd zuwendet. Nach 13,1 freilich gilt das ebenso für alle Jünger! Daß Jesus darin diesen einen den anderen gegenüber als seinen „Lieblingsjünger“ vorgezogen hätte, ist von daher ausgeschlossen und wird auch an keiner Stelle gesagt. Diese Bezeichnung, die sich in der deutschen Exegetensprache eingebürgert hat, ist schlicht eine Mißdeutung. Wenn nun einerseits ein bestimmtes Mitglied des Zwölferkreises im Blick steht, andererseits seine Namenlosigkeit seine Person-,Identität‘ bewußt verbirgt, wenn aber dieser eine, besondere Jünger so bezeichnet wird, wie es nach 13,1 wesenhaft auf jeden Jünger Jesu zutrifft, dann kann daraus m. E. nur geschlossen werden: Dieser Jünger repräsentiert in einer besonderen Weise alle Jünger. In welcher Weise, das läßt sich daran erkennen, worin er sich von den anderen unterscheidet: Erstens: In 13,23.25 und 21,7 wird seine besondere Vertrautheit mit Jesus erkennbar. Daß er nach 13,23 „an der Brust Jesu“ liegt, läßt sicher 1,18 anklingen. Die Nähe und Vertrautheit des Geliebten Jüngers zu Jesus soll also symbolisch verstanden werden: als Entsprechung seines Verhältnisses zu Jesus zum Verhältnis des präexistenten Logos zu Gott. Genau dies ist das Thema, auf das das Abschiedsgebet Jesu 17,20 ff. im Blick auf das Verhältnis der Jünger der nachösterlichen Kirche zu ihm als Verherrlichtem in seinem Verhältnis zum Vater hinausläuft. So ist es die nachösterliche Jüngerschaft, die der Geliebte Jünger unter den Zwölfen in der vorösterlichen Situation des Abschieds von ihm repräsentiert. Von daher wird auch verständlich, warum dieser Jünger erst in dieser besonderen Situation der „Stunde“ der Verherrlichung Jesu (13,31) auftaucht und dann wieder unter dem Kreuz Jesu unmittelbar vor seinem Sterben und als Zeuge der Heilszeichen des Gekreuzigten; sodann am Ostermorgen am Grab des Auferstandenen, zu Beginn seiner Erscheinung vor den Jüngern und schließlich in einer besonderen Weise der Nachfolge des Auferstandenen: Der Geliebte Jünger steht einerseits selbst im Verhältnis völliger Vertrautheit der nachösterlichen Jünger zu Jesus. Er ist aber 74 Das geht aus 13,18 (vgl. 6,70) eindeutig hervor. Wie J. Roloff, Kirche, 298 die Zugehörigkeit zum Zwölferkreis entschieden bestreiten kann („keineswegs“) ist mir unerfindlich.

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andererseits gegenüber der nachösterlichen Kirche Augenzeuge der geschichtlichen Wirklichkeit der Auferstehung des am Kreuz gestorbenen Sohnes Gottes. Zweitens: Sein ganz unvorbereitetes erstmaliges Auftauchen in 13,23 hat zudem im Erzählungszusammenhang selbst einen ganz bestimmten Ort. Die Szene ist durch die Entdeckung des Verräters durch Jesus und seine Entfernung aus der Mahlgemeinschaft bestimmt. Daß jetzt hier der Geliebte Jünger wie selbstverständlich seinen besonderen Platz in dieser Gemeinschaft einnimmt, bedeutet also: Er ersetzt den Platz des Verräters. Was nach Apg 1,15–26 nach der Himmelfahrt Jesu durch die Wahl des Matthias geschieht, geschieht hier am Abend vor Beginn der Passion Jesu. Das Motiv stimmt hier und dort spiegelverkehrt überein: Nach Lukas „muß“ zur Vervollständigung des Kreises der Zwölf Apostel in ihrer nachösterlichen Funktion als Zeugen der Geschichte Jesu ein authentischer Augen- und Ohrenzeuge zu den Elf hinzugefügt werden. Nach Johannes muß der repräsentative Zeuge der nachösterlichen Kirche bereits im Kreise der vorösterlichen Zwölf seinen Ort haben; diesen Platz nimmt für sie alle als ,konkrete Symbolgestalt‘ der Geliebte Jünger ein. Drittens: Darin also besteht dessen Besonderheit im Kreise der anderen Jünger: Seine Nähe und Vertrautheit mit Jesus symbolisiert die der Jünger der nachösterlichen Kirche, wie sie durch den unter ihnen wirkenden, vom Verherrlichten in seiner Einheit mit dem Vater zu ihnen gesandten Geist vermittelt wird. Wie dieser als der „andere Paraklet“ (14,16) die Stelle Jesu bei den Seinen einnimmt, nimmt entsprechend umgekehrt der Geliebte Jünger im vorösterlichen Jüngerkreis bereits die Stelle der nachösterlichen Jünger ein. Viertens: Dem entspricht das Verhältnis des Geliebten Jüngers zu Simon Petrus in 20,2 ff. Daß sie gemeinsam zum geöffneten Grabe Jesu eilen und dessen Zustand nach seiner Auferstehung in Augenschein nehmen, besagt: Das Osterzeugnis der nachösterlichen Christenheit basiert auf der irdisch-geschichtlichen Wirklichkeit des leeren Grabes. Darum bedarf die Kirche des Augenzeugnisses sowohl des Petrus als Repräsentanten des vorösterlichen Zwölferkreises wie zugleich auch des Geliebten Jüngers als Repräsentanten aller nachösterlichen Glaubenden. Daß jedoch Petrus „sieht“, noch ohne im Gesehenen die Wirklichkeit der geschehenen Auferstehung Jesu im Glauben wahrzunehmen, während der andere Jünger „sieht und glaubt“ (20,8), markiert für die Leser den Unterschied zwischen vor- und nachösterlichem Glauben. Entsprechendes zeigt dann die Thomasepisode (20,24–29): Damit die nachösterliche Christenheit an Jesus als den auferstandenen Sohn Gottes glauben kann, ohne ihn zu sehen (20,29), bedarf es des leibhaftigen Augenzeugnisses der vorösterlichen Jünger als der bleibenden Zeugen der Wirklichkeit des Geglaubten.

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Fünftens: Insofern liegt die entscheidende Bedeutung des Geliebten Jüngers noch nicht in seinem bloßen Mit-Dabeisein in der vorösterlichen Mahlgemeinschaft, sondern in der Besonderheit seiner Zeugenfunktion in der nachösterlichen Kirche aufgrund seines vorösterlichen Mit-Dabeiseins. Diese Bedeutung wird in 19,35 explizit und nachdrücklich herausgestellt. Das heißt: Der Geliebte Jünger hat für die Kirche tatsächlich genau die Funktion, die der Evangelist für seine Leser hat (21,24). Darin liegt das Recht der Identifikation dieses Jüngers mit dem Verfasser des Evangeliums. Daß es sich um den „Begründer und langjährigen Leiter der johanneischen Schule“ handelt,75 ist zwar nicht direkt belegbar, jedoch mit guten Gründen zu vermuten, vor allem wenn man hier den Verfasser des 1. Briefes mit im Blick hat, der seine eigene Autorität im „Wir“-Kreise der Augen- und Ohrenzeugen des Anfangs begründet (1. Joh 1,1–4), darin zugleich aber eine geistliche Autorität in Anspruch nimmt, in der er sich wie ein Vater seiner Kinder an die Adressaten wendet und mit ihrem Gehör rechnet, weil sie Gottes Kinder sind, die die Wahrheit dessen, was er ihnen schreibt, durch den selben Geist erkennen, in dessen lebendiger Wahrheit er an sie schreibt. Ebenso deutlich ist jedoch auch, daß die Gestalt des Geliebten Jüngers mit der Person des Johannesevangelisten nicht schlechthin identisch ist. Dieser ist gestorben (21,23), jener „bleibt“ die ganze Zeit bis zur Parusie in der Kirche. Sein Zeugnis ist zwar in Gestalt des Johannesevangeliums in der Kirche bleibend gegenwärtig. Aber damit dieses Zeugnis in seiner lebendigen Wahrheit gehört werden kann, bedarf es nicht nur des Zeugnisses des Geistes, sondern in dessen Kraft des personalen Zeugnisses von Jüngern als Zeugen (15,27). Daraus folgt: Der „Geliebte Jünger“ „bleibt“ in der Kirche in Gestalt jedes Zeugen der Wahrheit Jesu Christi durch ihre ganze Geschichte hindurch. Dieser Lehre von in der Gemeinde autoritativ wirkenden Lehrern als Zeugen Christi sind alle Christen in der Kirche elementar bedürftig. Daß der Geist in jedem Christen und inmitten der Kirche als ganzer gegenwärtig ist, schließt die Bedeutung der „bleibenden“ Gegenwart von Zeugen mit persönlicher Lehrautorität nicht aus, sondern ein. In 1. Joh 2,27 wird nicht „jede Lehrautorität innerhalb der Gemeinde für überflüssig erklärt“, weil diese allein „dem Charisma“ in jedem Christen zustehe.76 Denn der Satz richtet sich nach 2,26 gegen die „Verführer“ – deren „Belehrung“ sind die Adressaten nicht bedürftig, weil sie durch das „Charisma“, das bleibend in ihnen ist, die 75 So J. Roloff, Kirche, 298. Eine gewisse Analogie zum „Lehrer der Gerechtigkeit“ in der Qumranliteratur hat J. Roloff, Der johanneische „Lieblingsjünger“, 129–151 überzeugend dargelegt. 76 So J. Roloff, Kirche, 297; ferner vor allem H.-J. Klauck, Gemeinde ohne Amt, 216 f.; vgl. jedoch die zutreffende Auslegung von 1. Joh 2,27: Ders., 1. Joh., 168.

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Fähigkeit empfangen haben, den anti-christlichen Geist der Irrlehre von dem göttlichen Geist in der Wahrheit des Bekenntnisses zu unterscheiden (4,1). Da es diese Wahrheit ist, die der Verfasser des Briefes ihnen in der akuten Situation der Konfrontation mit den Verführern aktuell auslegt, bedürfen sie dieser Lehre sehr wohl. Sechstens: Daß es „Ämter“ in den johanneischen Gemeinden gegeben hat, läßt sich aus den Texten nur erschließen. In Joh 13,20 liegen entsprechende synoptische Worte Jesu zugrunde, in denen er den Jüngern, die er als Boten der Gottesherrschaft aussendet, seine eigene Autorität zuspricht.77 Da in früher nachösterlicher Zeit wandernde „Boten“ (Apostel) Jesu mit der Legitimation dieser vorösterlichen Botensendung gewirkt haben,78 ist es sehr wohl denkbar, ja recht wahrscheinlich, daß die Brüder, die der Presbyter als seine Boten zu den Hausgemeinden gesandt hat (3.Joh 5–8), mit dieserart Legitimation ausgestattet waren. In gleicher Weise aber können auch die Irrlehrer, die der 1. und 2. Brief bekämpft, ihrerseits mit der Autorität von wandernden Lehrern als Boten Jesu aufgetreten sein. Aus ihrer polemischen Charakterisierung als „Falschpropheten“ in 1. Joh 4,1 (vgl. Mt 7,15; 24,11; Mk 13,22 par) kann erschlossen werden, daß diese Gegner sich als „Propheten“ verstanden haben (vgl. Apg 13,1 die Aussendung von „Propheten und Lehrern“). Wenn der Verfasser selbst von seinem Ort aus (Ephesus?) in der Rolle des Vaters seiner Kinder an die Adressaten schreibt und mit deren Akzeptation dieser seiner Lehrautorität rechnen kann, so ist er als Sendender seiner Boten zugleich so etwas wie ein geistliches Oberhaupt für die johanneischen Gemeinden. Wenn er sich im 2. und 3. Brief als „der Presbyter“ vorstellt, so ist dieser Name wahrscheinlich in dem Sinne zu verstehen, daß der Verfasser sich damit dem Kreis der „Alten“ zurechnet79, die den „Anfang“ der Kirche bezeugen (vgl. 1. Joh 1,1–4). In gewisser Weise stellt er sich damit in die Nähe des „Geliebten Jüngers“ als des Verfassers des Johannesevangeliums, das er hier deutlich anklingen läßt. Auch die verschiedenen im 3. Johannesbrief erwähnten Hausgemeinden haben ihrerseits unter der Leitung bestimmter Personen gestanden.80 So ergibt sich das Bild eines Gemeindeverbandes mit lokalen und „interlokalen“ Leitungsämtern in einer ersten Entstehungsphase, in der die Struk77 Vgl. dazu H.-J. Klauck, Gemeinde ohne Amt, 203 f. 78 Man denke an die Gegner des Paulus in 2.Kor, Gal und Phil! Von einer offenbar gemeindeleitenden Gruppe von „Propheten und Lehrern“ in Antiochia, aus deren Kreis Paulus und Barnabas als Wandermissionare ausgesandt werden, wird Apg 13,1–3 berichtet. 79 Vgl. M. Hengel, Johanneische Frage, 105.111 f.158.219 ff. 80 Dort wo Diotrephes als ein Hausgemeindeleiter die Boten des Presbyters abweist und den anderen Hausgemeinden entsprechende Anweisungen erteilt (3.Joh 9 f.), hofft der Presbyter immerhin noch auf Befriedung durch ein persönliches Gespräch.

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turen noch nicht „amtlich“ feste Gestalt gewonnen haben, die geistliche Autorität der leitenden Personen aber, jedenfalls des „Presbyters“, als solche feststand. Man wird so sagen können: Die johanneischen Gemeinden haben in der Struktur ihrer Organisation und ihrer Ämter ein traditionsgeschichtlich frühes Stadium der Geschichte des Urchristentums bewahrt.81 Zugleich prägt sich im johanneischen Verständnis von Kirche ein deutlich ökumenisch-universaler Horizont aus. Dem entspricht einerseits das Bild vom Hirtendienst des Petrus, der auf die Gesamtkirche bezogen ist, andererseits das Bild vom „Geliebten Jünger“, das als solches ebenso auf die ganze Kirche bezogen ist, zumal dort, wo dieser mit dem Verfasser des Johannesevangeliums identifiziert wird (Joh 21,24). Im Selbstverständnis des Autors der Briefe, der seine Autorität indirekt von der des geliebten Jüngers ableitet, zeigen sich Züge des späteren Patriarchen-Amtes, allerdings noch ganz ohne rechtlich-organisatorische Gestalt. Siebtens: Das Gesamtbild johanneischen Kirchenverständnisses wird in der Szene Joh 19,26 f. bestätigt und noch einmal um einen besonderen Zug bereichert. Daß Jesus von seinem Kreuz herab, als letzte geradezu testamentarische Weisung vor seinem Sterben, seine Mutter und den Geliebten Jünger einander anbefiehlt, hat zweifellos eine hervorgehobene Bedeutung.82 Sofern der Geliebte Jünger die ganze nachösterliche Kirche repräsentiert, gewinnt der testamentarische Akt Jesu in Joh 19,26 f. zugleich eine ekklesiale Symbolik: Bewahrt die Kirche in „ihrem Eigenen“ ein lebendiges Gedächtnis der Mutter Jesu, so bewahrt sie damit die wesenhafte Verbundenheit ihres ganzen nachösterlichen Glaubens und Lebens mit der irdischen Wirklichkeit des vorösterlichen Sendungsweges ihres Herrn, eine Verbundenheit, die sie in der Eucharistie am dichtesten bleibend erfährt.83

81 Die Verhältnisse im johanneischen Bereich sind in dieser Hinsicht denen ähnlich, die sich etwa zur gleichen Zeit im paulinischen Bereich im Epheserbrief zeigen; vgl. dazu J. Roloff, Kirche, 232. Anstelle der „Gründungsautorität“ des „Geliebten Jüngers“ steht im Epheserbrief die des Apostels Paulus, dessen Selbstverständnis als „Völkerapostel“ allerdings sehr viel konkreter missionarisch-universale Züge zeigt, und der in seiner Charismenlehre seinen Gemeinden deutlichere Grundaspekte ihrer Organisationsstruktur gegeben hat; vgl. ebd., 233. 82 Zur Auslegung dieser wichtigen Szene vgl. U. Wilckens, Joh., 294–297 sowie in diesem Band Nr. 8. 83 Zum ,mariologischen‘ Aspekt in Joh 19,26 f. vgl. in diesem Band S. 163 ff.

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4. Die Einheit der Kirche 4.1. Alles was Jesus seinen Jüngern in den Abschiedsreden beim Mahl für ihre Zukunft verheißen hat, findet seine Zusammenfassung und Verdichtung in dem Gebet Joh 17.84 Durchweg tritt ein enger Zusammenhang zwischen Christologie und Ekklesiologie hervor. Die Jünger stehen nicht als mit Jesus verbundene Einzelne, sondern in ihrer Gesamtheit im Blick. Von V. 20 an weitet sich der Blick auf die kommenden Generationen der Kirche aus. Zugleich wird hier deutlich, daß die Einheit der Kirche in der gemeinsamen Verbundenheit aller Christen mit dem verherrlichten Jesus begründet ist. Dieser wiederum ist in vollendeter, lebendiger Wirklichkeit mit dem Vater eines, so daß seine Jünger in ihrer Verbundenheit mit ihm an seiner eigenen Verbundenheit mit dem Vater teilhaben. Nur aufgrund dieser Teilhabe können sie miteinander eines sein. Die Einheit der Kirche gründet so in der Einheit Gottes in Gott selbst: in der Einheit von Vater und Sohn. Die Einheit der Kirche besteht entsprechend in personaler Gemeinschaft, wie auch die Einheit Gottes selbst in der vollendeten Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn besteht.85 Darum ist die Auseinandersetzung mit den Gegnern im 1. Johannesbrief ein Streit um das Wesen des ganzen Christentums: Es geht um die Einheit Gottes im Sinne des schema’-jisrael – darum, daß Gott der einzig-eine ist in der vollkommenen Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn.86 Dabei geht es zugleich um die Einheit der Kirche – darum, daß sie aufgrund ihrer Teilhabe an der Gemeinschaft von Vater und Sohn in einer entsprechenden Gemeinschaft aller mit allen leben muß und daher keinerlei Bruch dieser Gemeinschaft verträgt. Noch konkreter: Wie sich die Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn in ihrer gegenseitigen Liebe verwirklicht, so muß sich die Gemeinschaft zwischen den Christen der Kirche in wechselseitiger Liebe verwirklichen.87

84 Zur Auslegung vgl. U. Wilckens, Joh., 257 ff. sowie in diese Band S. 26 ff. 85 Das Wesen dieser Gemeinschaft wird in 17,20 ff. wie sonst im Johannesevangelium (vgl. besonders 6,56 f.) als wechselseitiges „In“-Sein ausgedrückt. Dieses betrifft zwar gewiß zunächst die je einzelnen Glaubenden, wird aber zugleich durchweg in der „Ihr“-Anrede den Jüngern gemeinsam zugesprochen. Da sich die Verbindung des einzelnen mit Christus wesenhaft in wechselseitiger Bruderliebe der Jünger untereinander auswirkt, weitet sich das In-Sein der Einzelnen entsprechend wesenhaft zu einem gemeinschaftlichen In-Sein aus: Die Kirche als ganze ist in Jesus und Jesus in ihr und existiert als solche als Liebesgemeinschaft. 17,26 ist so als Schlußsatz die gewichtigste Aussage des Gebets Jesu. 86 Dazu vgl. in diesem Band Nr. 1. 87 Zu der Möglichkeit, daß in dem Gebet Joh 17 liturgische Elemente der Eucharistie verarbeitet sind, vgl. U. Wilckens, Joh., 269 f.

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4.2. Der Zugehörigkeit der Jünger zu Jesus als der „Seinen“ entspricht ihre Nichtzugehörigkeit zur Welt und umgekehrt (17,14 vgl.15,18 ff.; 1. Joh 2,15–17; 4,4–6). Gleichwohl bleibt die Welt der Ort der nachösterlichen Kirche. Darin unterscheidet sie sich von Jesus, der als Gekreuzigter und Verherrlichter die Welt verlassen hat (16,28). Würden die Jünger nicht durch den Vater vor dem Haß der Welt bewahrt, wie bisher Jesus selbst sie bewahrt hat (17,11 f.), so müßten sie „umkommen“. Ihre Bewahrung geschieht eben dadurch, daß sie auf Erden an der himmlisch-vollendeten Gemeinschaft von Vater und Sohn teilhaben dürfen. So sind sie „in der Wahrheit geheiligt“ (17,17), weil der Gekreuzigte sich für sie geheiligt hat (17,19). In diesem Sinn besteht ein ausschließender Gegensatz zwischen Kirche und Welt. Die Fürbitte Jesu gilt nur seinen Jüngern, nicht der Welt (17,9). Der „Kosmos“ ist hier Bezeichnung der nichtglaubenden Menschheit, die als ganze aus dem Bösen ist (17,15) und im Bösen ihren Ort hat (1. Joh 5,19). Die Kirche der Glaubenden jedoch soll in dieser Welt bleiben (17,11). Jesus bittet den Vater nicht, sie aus der Welt herauszunehmen (17,15). Er selbst hat sie in die Welt hineingesandt wie zuvor der Vater ihn (17,18). Sie sollen gegenüber der Welt seine Zeugen sein (15,27). Im Blick auf die Einheit der Glaubenden in der Gemeinschaft wechselseitiger Liebe soll die Welt erkennen, daß es der Vater ist, der Jesus gesandt hat und seine Jünger als die zu ihm gehörenden Kinder Gottes geliebt hat (17,23). Ja, der Anblick der Einheit der Kirche und der Liebesgemeinschaft ihres inneren Lebens soll die Welt zum Glauben führen (17,21). Dem liegt zugrunde, daß ja die Sendung Jesu in die Welt von Anfang an und wesenhaft darauf zielt, die Welt zu retten (3,17), weil Gott die Welt liebte (3,16). Gerade der Kreuzestod Jesu dient der Befreiung der Welt von ihren Sünden (Joh 1,29; 1. Joh 2,2) und die sakramentale Gegenwart von Fleisch und Blut des Gekreuzigten in der Eucharistie als dem Herzen des innerkirchlichen Lebens gilt dem Leben der Welt (6,51)! Diese soteriologische Grundausrichtung in der johanneischen Rede von der Welt darf bei dem Verständnis jener schroffen Aussagen über den Gegensatz zwischen Welt und Gott keineswegs ungewichtet bleiben.88 Entsprechendes gilt für das johanneische Verständnis der Kirche. Sie hat ihren Ort in der Welt, um ihr das Heilsziel der Sendung Jesu zu bezeugen und insofern seine Sendung fortzuführen. Nicht nur zu ihrem eigenen Schutz vor der Welt bittet Jesus den Vater um ihre Bewahrung und Heiligung, sondern zugleich auch, damit sie ihre Sendung durch ihren Herrn an die Welt erfüllen kann. 88 Dazu vgl. besonders A. Lindemann, Gemeinde und Welt.

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Das ist nicht die Denkweise einer weltabgewandten Sekte! Das Gebet um Einheit aller Glaubenden Joh 17,20 ff. will nicht „das Selbstverständnis einer kleinen Gruppe von wahrhaft Glaubenden in Abgrenzung gegenüber der Welt und in Distanz gegenüber der Geschichte artikulieren.“89 Die Abgrenzung der Kirche gegenüber der Welt (1. Joh 2,15) dient der Klarheit ihres Zeugnisses an die Welt und ihrer deutlichen Erkennbarkeit für die Welt als Liebesgemeinschaft, die aus der Kraft der Liebe Gottes lebt, die allen Glaubenden in der Welt gilt. Zwar darf die Kirche den Haß der ungläubigen Welt gegen ihren Herrn und gegen sie keinen Augenblick übersehen und wird sich selbst in der Nachfolge ihres Herrn der Welt nicht angleichen dürfen. Das heißt aber nicht, daß sie ihrerseits die Welt bekämpft wie diese sie, daß also der Gegensatz auch umgekehrt von der Kirche ausgeht. Der Gegensatz der Kirche gegen die Welt ist vielmehr im Sinne des Gegensatzes zwischen Glaube und Unglaube zu verstehen: Nur dieser Gegensatz ist unauflösbar. Jeder ungläubige Mensch, der in der Welt des Unglaubens lebt, hat durchaus die Möglichkeit, an Jesus Christus zu glauben und damit ,die Front zu wechseln‘. Überdies besteht der Gegensatz zwischen Kirche und Welt im letzten Grunde darin, daß die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden in der Liebe Christi bleibt und sich nicht vom Haß der Welt dazu provozieren läßt, selbst zu hassen (vgl.1. Joh 3,11 ff.). 4.3. Eine besondere Frage bleibt schließlich noch: Wie steht es aus johanneischer Sicht mit dem Verhältnis der Kirche zu Israel? Es ist nicht zu übersehen: Der Sendungsweg Jesu, wie er im Johannesevangelium erzählt wird, hat von Anfang bis Ende seinen Ort im jüdischen Lebensbereich Galiläas und Judäas. Jesus selbst ist ein Jude 89 J. Roloff, Kirche, 309. Daß sich der Horizont der Bitte um Einheit in 17,20 ff. auf den kleinen Kreis der johanneischen Gemeinden beschränke (ebd., 308), ist angesichts des universalen Aspekts, der „alle“ Glaubenden der Gegenwart und der Zukunft umgreift, auszuschließen. Nirgendwo im Johannesevangelium ist angedeutet, daß zu den Glaubenden nur die johanneischen Christen, unter Absehung von allen übrigen, gehörten. Das müßte – angesichts der zahlreichen christlichen Gemeinden in der nächsten Umgebung, sei es im nordpalästinisch-syrischen Raum, sei es in Kleinasien in und um Ephesus – jedenfalls ausdrücklich gesagt sein. Im übrigen sprechen auch Stellen wie 10,16 und 11,52 dagegen. Mit den Heidenchristen, die als „Kinder Gottes“ überall in der Welt „zerstreut“ leben, können unmöglich die wenigen Heidenchristen in den überwiegend judenchristlichen johanneischen Gemeinden gemeint sein, die nur in einem begrenzten Bereich gelebt haben. Methodisch muß unterschieden werden: Die in charakteristisch johanneischer Sprache und Denkweise formulierte Rede von Glaubenden als Gotteskindern und von der Einheit ihrer aller in der ihnen geschenkten Teilhabe an der Einheit zwischen Vater und Sohn hat alle Christen, die sich zu Jesus Christus Gottes Sohn bekennen, im Blick. Sie darf nicht wegen ihrer johanneischen Eigenart so aufgefaßt werden, als seien in einem exklusiven Selbstverständnis nur johanneische Christen gemeint!

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(4,9), dessen Familie in Galiläa beheimatet ist (6,41 vgl. 7,40 f. sowie besonders 18,5.7; 19,19). Doch steht dies nicht nur für mit der Schrift vertraute Juden in Widerspruch zu seinem Messiasanspruch (7,41 f.), sondern Jesus selbst scheint mit seinem Anspruch, als der vom Vater gesandte Sohn der aus dem Himmel herabgekommene Menschensohn zu sein, wie ein Fremder zu sein, der sich von allen Juden durch seine Herkunft von Gott wesenhaft unterscheidet. Der Evangelist spricht nahezu durchweg von „den Juden“ so, als ob Jesus eigentlich gar nicht zu ihnen gehörte. Indem er sie zum Glauben an sich ruft, scheint er sie aus der gesamten Tradition jüdischen Glaubenslebens herauszurufen. Er kann vom Gesetz als „eurem Gesetz“ sprechen (8,17; 10,34; 15,25). Entsprechend stellen sich die jüdischen Führer von Anfang gegen ihn, eben weil er mit seinem Selbstanspruch als Gottes Sohn die Ehre des einzig-einen Gottes verletze (5,18; 10,33.36; 19,7), also ein Sünder katš ÉxocŒn sei (9,24), der dem Mosegesetz als ganzem widerspricht (9,28 f.), ja sogar die heilsgeschichtliche Verwurzelung Israels in Abraham in Frage stellt (8,52 f.). Sie beschließen so bereits früh, ihn zu töten (von 5,18 an immer wieder), und stellen jedes Bekenntnis zu ihm unter Strafe (7,13; 9,22.34; 12,42). So kommt es im Verlauf des Geschehens zu einer immer härteren Konfrontation „der Juden“ gegen Jesus, die ihren Höhepunkt erreicht in der Forderung der Todesstrafe gegen ihn vor dem römischen Statthalter im Namen ihres Gesetzes (19,7). Gewiß spiegelt sich in all dem die aktuelle Konfrontation zwischen der Synagoge und den Christen, wie sie die johanneischen Gemeinden zur Zeit der Entstehung des Evangeliums erfahren haben (vgl. besonders 16,2 f.). Doch ist das Urteil ernstzunehmen: Diese Konfrontation hat bereits Jesus selbst gegolten; „die Juden“ handeln darin als Repräsentanten der ungläubigen Welt.90 Umgekehrt jedoch richtet sich Jesus seinerseits nicht pauschal gegen „die Juden“,91 sondern er verurteilt nur die, die ihm den Glauben verweigern. Auch wenn dies am Ende die überwiegende Mehrzahl ist (12,37), bleibt es dabei (12,46 f.) und gilt so auch für die nachösterliche Kirche (20,29): Wer immer an Jesus als Gottes Sohn glaubt, wird gerettet (3,18) und hat am ewigen Leben teil (3,36 vgl. 6,51.57 f.) Der Glaube ist das Kriterium der Zugehörigkeit zu Jesus und damit zu Gott. Das gilt unterschiedslos für Juden wie für Heiden. Es ist zwar richtig: Die Heilsgeschichte Israels als des erwählten Gottesvolkes ist kein Thema in den johanneischen Schriften. Auch das Ver90 Vgl. J. Roloff, Kirche, 304. 91 Darin unterscheidet sich das johanneische Schrifttum wesentlich von Ignatius, der wenig später wie selbstverständlich „Christentum“ und „Judentum“ als zwei einander ausschließende Größen gegenüberstellt.

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hältnis zwischen Juden und Heiden als Beschnittenen und Unbeschnittenen und das Verhältnis zwischen der Kirche aus Juden und Heiden zu Israel ist kein theologisches Problem.92 Das heißt aber nicht, daß der Evangelist etwa die heilsgeschichtliche Prärogation Israels bestritte. Dagegen spricht der Satz Jesu Joh 4,22, den er bezeichnenderweise im Gespräch zwischen ihm als Juden und der Samariterin als Nichtjüdin (4,9) sagt: „Das Heil kommt von den Juden“.93 Und wenn Jesus einen seiner ersten Jünger, Natanael, als „wahren Israeliten“ begrüßt (1,47), so liegt darin zweifellos ein Lob; denn Juden sind seine Jünger ja alle. Wer als Jude „in Wahrheit Israelit“ ist, repräsentiert das Heilsvolk Israel. Daß dies nicht alle Juden tun, ist in der Schrift ein immer neu zu verhandelndes Thema. Entscheidend ist, worin Jesus das echte IsraelitSein begründet sieht. Das ist ohne Zweifel das Bekenntnis zu ihm als dem Messias und Sohn Gottes, mit dem Natanael auf die Begrüßung antwortet (1,49). Hier zeigt sich gleich zu Anfang, worum es in Jesu Sendung geht, die sich ja faktisch nahezu ausnahmslos an Juden richtet: Daß Jesus als der Sohn Gottes, der im Uranfang, also von Ewigkeit her bei Gott gewesen ist und als der Sohn des Vaters Gott ist (1,1 vgl. 1. Joh 5,20!), von Gott in die Welt gekommen ist, um allen an ihn Glaubenden das ewige Leben als die Wirklichkeit des Heiles Gottes zu geben. Also ist in Jesus der eine-einzige Gott Israels gegenwärtig (10,30); und in allem was Jesus redet und tut, ist Gott selbst am Werk (5,19 ff.; 14,10). In seiner Sendung hat Jesus den Namen Gottes verherrlicht (17,26); und zugleich ist es Gott, der Jesus verherrlicht (12,28; 17,1). So konzentriert sich alles, was Gott vom Uranfang an getan hat, in der Sendung Jesu. Das ist der entscheidende Grund dafür, daß der ganze Horizont der Heilsgeschichte Israels mitsamt dem heilsgeschichtlichen Unterschied zwischen Israel und den Heiden im Johannesevangelium kein eigenes Thema ist. Wohl aber ist alles in der Schrift bezeugte Heilshandeln an den Vätern Israels ein einziges Zeugnis für das in Jesu Sendung sich allererst eigentlich verwirklichende Heilshandeln Gottes! Das kann ebenso positiv ausgedrückt werden: „Von mir hat Mose geschrieben“ (5,46), wie auch negativ: „Nicht Mose hat euch das Brot aus dem Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot aus dem Himmel“ (6,32). Entsprechend hat Abraham Jesus entgegengejubelt (8,56). Grundsätzlich gilt: „Das Gesetz ist durch Mose gegeben, die Gnade und Wahrheit ist durch Jesus Christus (Wirklichkeit) geworden“. (1,17). „Gnade und Wahrheit“ sind die Elemente des heiligen Namens, den Gott nach Ex 34,6 Mose offenbart hat. In Wahrheit offenbar geworden ist dieser 92 Vgl. J. Roloff, Kirche, 304 f. 93 Dazu vgl. F. Hahn, „Das Heil kommt von den Juden“; Ders., „Die Juden im Joh.evangelium“; Th. Söding, Bedeutung des Judeseins Jesu; zuletzt K. Wengst, Joh. I, 164 f.

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Name Gottes in Jesus, der ihn aus Gottes unmittelbarer Nähe „verkündet“ hat (1,18). Im ICH Jesu offenbart sich das ICH Gottes selbst.94 Wer darum an Jesus als den Sohn Gottes glaubt, ist nicht ein Jude, der Christ wird, sondern ein „echter Israelit“ (1,47), der in der Einheit Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus die gesamte Heilsgeschichte Israels konzentriert und den Gott Israels vollkommen offenbar sieht. Die Schrift ist als Christuszeugnis von zentraler Bedeutung in der Theologie des Johannesevangeliums.95 Auch die großen Tempelfeste werden zum Ort der Selbstoffenbarung Jesu, vor allem das Päsach, in dessen Festwoche Jesus als der Sohn des Vaters seine Sendung in seinem Kreuzestod vollendet. So konzentriert sich der Glaube an den einen Gott im Glauben an Jesus als den einzigen Sohn des Vaters (14,1!). „Die Juden“, die darin zentrale und katastrophale Blasphemie sehen, die durch seinen Tod zu ahnden ist, erweisen sich eben mit diesem Urteil als „Söhne des Teufels“ (8,44).96 Entsprechend brandmarkt der Verfasser des 1. Johannesbriefes die Irrlehrer, die das Bekenntnis zu Jesus Christus als Gottes Sohn ablehnen und ihre bisherigen Geschwister der johanneischen Gemeinde zur Rückkehr zum allein wahren Bekenntnis zu dem einzig-einen Gott zu „verführen“ suchen, als Instrumente des Anti-Christus (1. Joh 2,18; 4,3). Es ist darum zu fragen, ob man mit Roloff97 von einer „Entwirklichung“ von Gesetz, Schrift und Tempel durch die in der Tat „allein heilvolle Christuswirklichkeit“, und entsprechend von einer Entwirklichung Israels als Gottesvolk sprechen darf. Doch dieses Urteil läge eher auf der Linie der Polemik der Gegner gegen die johanneische Theologie als auf deren Linie. Diese ist massiv daran interessiert, daß Gott sich selbst in Jesus in vollendeter Wirklichkeit offenbart und daß darum alle Zeugnisse der Schrift als Christuszeugnisse in den Worten und Taten Jesu ihre eigentliche „Verwirklichung“ finden. Der Streit mit „den Juden“ und mit den „Falschpropheten“ betrifft von beiden Seiten aus die Frage der wirklichen Selbst-Offenbarung Gottes. In diesem Zusammenhang ist die volle Inanspruchnahme der Schrift als Christuszeugnis für den Johannesevangelisten von größter Wichtigkeit.98 Daß in dieser Konzentration aller Elemente der Geschichte Israels die Gefahr ihrer „Entwirklichung“ latent gegeben ist, muß freilich zugestan94 Vgl. dazu zusammenfassend U. Wilckens, Joh., 334–336 sowie in diesem Band S. 18. 95 Vgl. dazu zusammenfassend U. Wilckens, Joh., 345–347. 96 Zu beachten ist allerdings, daß Jesus dies nicht über die Juden allgemein sagt, sondern zu den Juden, die ihn töten wollen (8,37.40)! Entsprechend wird in 8,44 der Teufel als „Menschenmörder von Anfang an“ charakterisiert. 97 J. Roloff, Kirche, 305. Dagegen P. Stuhlmacher, Biblische Theologie II, 269. 98 Daß sich im ganzen 1. Johannesbrief kein einziges direktes Schriftzitat findet, spricht nicht dagegen, sondern liegt sicherlich an der hochaktuellen Briefsituation.

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den werden. Löst man das johanneische Schrifttum heraus aus dem Kontext der fundamentalen Auseinandersetzung mit dem Judentum, die bei aller Konfrontation eine große Nähe der beiden Streitenden zeigt, und liest sozusagen die Texte völlig unabhängig davon, so sind diese in der Tat nur einen Schritt entfernt von der Selbstverständlichkeit eines christlichen Antijudaismus, der sich in der Kirche des 2. Jahrhunderts rasch durchgesetzt hat. Es ist daher nicht unwichtig, daß das Corpus Johanneum im Kanon des Neuen Testaments neben den anderen großen theologischen Zeugnissen seinen Ort gefunden hat.

Die Gegner im 1. und 2. Joh

Die Gegner im 1. und 2. Johannesbrief, „die Juden“ im Johannesevangelium und die Gegner in den Ignatiusbriefen und den Sendschreiben der Apokalypse Seit dem Ende des 2. Jahrhunderts werden die „Falschpropheten“, vor denen der Verfasser des 1. Johannesbriefes warnt (4,1–3), mit Anhängern des ,Gnostikers‘ Kerinth identifiziert, von dem Irenäus adv.haer. I 26,1 berichtet: „Jesus . . . sei der Sohn Josephs und der Maria gewesen, genauso wie alle anderen Menschen . . . Nach der Taufe sei auf ihn von der obersten Macht, die über allem ist, Christus in der Gestalt einer Taube herabgestiegen, und darauf habe er den unbekannten Vater verkündigt und Machttaten vollbracht. Am Ende aber habe sich Christus wieder von Jesus getrennt, Jesus sei gekreuzigt worden und auferstanden, Christus aber sei leidensunfähig geblieben, da er pneumatisch gewesen sei.“1 Diese Irrlehre Kerinths sei es, die der Evangelist Johannes habe widerlegen wollen (ebd. III 11,1). Diese Annahme hat auch in der historisch-kritischen Forschung weithin Anerkennung gefunden und wird, bezogen auf den 1. Johannesbrief, noch heute von nicht wenigen Exegeten vertreten2; wenn auch zumeist nicht speziell auf Kerinth, so doch auf die „doketische“ Tendenz der Gnosis insgesamt bezogen.3 So ist der 1. Johannesbrief ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, wie durchgreifend Aspekte des religionsgeschichtlichen Vergleichs die Auslegung biblischer Texte bestimmen können. Er ist freilich zugleich ein Beispiel dafür, wie solcherart religionsgeschichtliche Vergleiche auch zu gravierenden exegetischen Fehlerquellen werden können. Ein genauer Blick nämlich auf die beiden Textstellen, an denen der Verfasser des 1. Johannesbriefes die Gegner ausdrücklich nennt (2,18–23; 4,1–3), zeigt ja doch nur, daß die Gegner das grundlegende Bekenntnis der johanneischen Gemeinde(n) zu Jesus, dem Christus, als dem Sohn des Vaters (2,22), und zu „Jesus Christus, im Fleisch gekommen“ (4,2), ablehnen. Daß sie dies im Sinne Kerinths oder irgend 1 Übersetzung von W. Foerster, in: Die Gnosis, Bibl. d. Alten Welt MCMLXIX, Band 1 (1969), 49 f. 2 Vgl. besonders M. Hengel, Johanneische Frage, 176–181. 3 So vor allem R. Bultmann, Joh.briefe, 44; R. Schnackenburg, Joh.briefe, 16–22; G. Strecker, Joh.briefe, 131–139; K. Wengst, Joh.briefe, 25 f.114.172.205–207. Vorsichtiger und umsichtiger H.-J. Klauck, 1. Joh., 41 f., sowie ausführlich Ders., Joh.briefe, 127–151.

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einer anderen Spielart der späteren Gnosis begründet hätten, ist dem vorliegenden Wortlaut dieser Texte mitnichten zu entnehmen. Die entsprechenden Vermutungen müssen sich auf ihre methodische Dignität befragen lassen. In diesem Sinne hat Klaus Berger in einem programmatischen Aufsatz eine methodische Neubesinnung überall dort gefordert, wo in neutestamentlichen Schriften „Gegner“ erschlossen zu werden pflegen.4 Es geht ihm dabei keineswegs darum, die seit der sog. ,Religionsgeschichtlichen Schule‘ in die exegetische Forschung aufgenommene Aufgabe, bei der Interpretation neutestamentlicher Texte religiöse oder theologische Zeugnisse der Umwelt in ihrer Vielfalt zu berücksichtigen, etwa als solche zu diskreditieren oder einzuschränken, sondern umgekehrt: Dieser wichtige Arbeitsbereich muß methodisch abgesichert werden, damit die dort gewonnenen Beobachtungen ihren Stellenwert für die Exegese auf Dauer gewinnen. Zu diesem Ziel gilt es allerdings, viel methodisches Unkraut (bzw. ,Wild-Kraut‘) zu vertilgen. Die Erforschung der Johannesschriften ist inzwischen dabei, mit der Tradition unmittelbarer Herleitung zentraler Motive johanneischer Theologie aus „der“ Gnosis zu brechen zugunsten einer traditionsgeschichtlich näherliegenden Beheimatung im zeitgenössischen Judentum, das in der Vielfalt seiner Erscheinungsformen als die Mutter des gesamten Urchristentums zu sehen ist, gerade auch im Bereich der hellenistischen Diaspora. Die verschiedenen gnostischen Gruppen und Schulen stammen einerseits selbst zu erheblichem Teil aus jüdischen Wurzeln und setzen andererseits weithin die Literatur des Urchristentums voraus. Das gilt auch für die Gegner, vor deren Irrlehre der Verfasser des 1. Johannesbriefes seine Gemeinde(n) warnt. Die These von Alois Wurm5 von 1903, die generationenlang nahezu unbeachtet geblieben ist, kommt gegenwärtig zu Ehren: Diese Gegner sind Christen der johanneischen Gemeinde (2,19), die deren emphatisches Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn, wie es im Johannesevangelium ausgearbeitet ist (vgl. 10,30!),6 als Verletzung des biblischen Grundmonotheismus im Sinne von Dtn 6,4 und Ex 20,2 ff. abgelehnt haben und demgemäß beanspruchten, als Christen „orthodoxe Juden“ zu sein.7 Die akute Krise der johanneischen Gemeinden(n) besteht demnach weder darin, daß dortige Christen einer gnostisch-„doketistischen“ Irrlehre verfallen sind, noch auch darin, daß sie die johanneische Christologie „doketistisch“ übersteigert haben.8 Sie 4 5 6 7

K. Berger, Die impliziten Gegner. A. Wurm, Die Irrlehrer im 1. Johannesbrief. Vgl. dazu U. Wilckens, Joh., 332 ff. So A. Wurm, Die Irrlehrer im 1. Johannesbrief, 42 u. pass.; J. A. T. Robinson, Destination; zuletzt K. Erlemann, 1. Johannesbrief, 287 f.291 f. 8 So Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 472: „Ultra-Johanneer“.

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besteht vielmehr darin, daß sie diese als Blasphemie-verdächtig mit Gründen eines christlich-zentralen biblisch-jüdischen Monotheismus bestritten und damit zweifellos erhebliche Irritationen und Spaltungen in der Gemeinde bewirkt haben. Es ist vor allem H. Thyen, der mit dieser These die gegenwärtige Forschungslage in neue Bahnen lenkt.9 Ich halte diese Hypothese für wesentlich besser begründet als die bisher üblichen und will dieses Urteil im folgenden zur Diskussion stellen. Damit wird zugleich die Fruchtbarkeit der von Berger angemahnten methodischen Revision erwiesen, sofern unter diesem veränderten religionsgeschichtlichen Aspekt auch die theologische Interpretation der Johannes-Schriften in ein neues Licht tritt.

1. Das Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn in den johanneischen Schriften 1.1. Auszugehen ist von den beiden einzigen Stellen im 1. Johannesbrief, an denen ausdrücklich von Gegnern die Rede ist: 2,18–23 und 4,1–3. Sie werden „Antichristen“ (2,18) genannt, weil in ihnen der Antichrist, von dessen endzeitlichem „Kommen“ die Adressaten aus ihrer Überlieferung „gehört“ haben (4,3; 2. Joh 7), gegenwärtig in ihrer eigenen Mitte am Werk ist. So akzentuiert der Verfasser von vornherein die Bedeutung der akuten Krise, die diese Gegner ausgelöst haben: Hier aktualisiere sich jener letzte Widerstreit gegen Gott in der Gestalt seines Urfeindes, von dem in der apokalyptischen Endzeiterwartung des Judentums und Urchristentums unter verschiedenen Namen (Satan, Teufel, Beliar usw.) die Rede ist.10 Daß bei Anbruch der Endzeit auch auf Erden „Pseudopropheten“ als „Verführer“ auftreten werden, gehört seit Dtn 13,1–5 in eschatologisch zugespitzter Form zum gleichen Überlieferungszusammenhang hinzu. Von solchen und endzeitlichen Agitatoren ist in der synoptischen Apokalypse als von „Antichristen“ die Rede (Mk 13,22).11 Dies dürfte das Traditionswissen sein, auf das der Verfasser 1. Joh 2,18 seine Adressaten verweist. Doch während dort die Falschpropheten die Jünger Jesu dadurch irrezuführen suchen, daß sie an verschiedenen Orten die Parusie des Christus proklamieren und entsprechende „Zeichen und Wunder“ tun werden (vgl. Offb 13,11–14; 16,13 f.; 19,20), sieht der Verfasser die „vielen“ Gegner der Gegenwart als direkt den Christus 9 H. Thyen, Joh.briefe, 193–195. Vgl. auch U. B. Müller, Eigentümlichkeit, 26–37. 10 Vgl. dazu den Exkurs bei G. Strecker, Joh.briefe, a. a. O., 337–343. 11 Vgl. als Sachparallelen 2.Thess 2,1–12; Offb 16,13 f.; 19,20; 20,10; Did 16,1 f. Just Dial 35,5; Syr Did VI,5.2; Ps.-Clem Hom II, 17,4.

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selbst bekämpfende Verführer und insofern als Werkzeuge des Anti-Christus selbst (2,22; vgl. 4,3; 2. Joh 7).12 Es sind Leute, die zur Gemeinde gehört haben (2,19). Doch mit dem „Trug“, den sie jetzt reden, entlarven sie sich nach dem Urteil des Verfassers als solche, die von Anfang an nicht wirklich zur Gemeinschaft gehören. Sonst wären sie „mit uns zusammengeblieben“. Denn wer zu Gott gehört, gehört damit zu der Gemeinschaft derer, die im Licht Gottes den Weg der Wahrheit gehen – das ist das Thema des Briefeingangs (1,3), das der Verfasser im ganzen vorangehenden Teil bekräftigt hat (1,5 ff.) und von 3,11 an den übriggebliebenen Gemeindegliedern mit seelsorgerlicher Eindringlichkeit nahezubringen sucht. Gemeinschaft mit Gott kann es nur in Gemeinschaft miteinander, Teilhabe an der Liebe Gottes nur in der ihr entsprechenden Liebe zu den Brüdern geben. Der Bruch der Gemeinschaft, den die Gegner bewirkt haben, zeigt ihre Nichtzugehörigkeit von Anfang an. Zugleich sind diese Abtrünnigen abschreckende Beispiele dafür, daß eben „nicht alle“ zur wahren Wir-Gemeinschaft gehören.13 Daß die Gegner nach dem Urteil des Verfassers in Wahrheit zur Gemeinschaft der Christen nie gehört haben, betrifft auch die Taufe, die die heute Abtrünnigen zu Beginn ihrer Gemeindemitgliedschaft faktisch zweifellos wie jeder Christ des Urchristentums empfangen haben. In 2,20 f. spricht der Verfasser seinen treu gebliebenen Adressaten emphatisch zu, daß sie (¡meû™) seit der Taufe die (wahre) „Salbung“ von Gott, „dem Heiligen“, nämlich in Gestalt des heiligen Geistes, bleibend „haben“ (Präsens!), und zwar „alle“ (wie V. 20 mit Achtergewicht betont wird), und daß sie als solche „die Wahrheit erkennen“ (V. 21). Auf die Gegner jedoch trifft dies nicht zu. Denn wer den Geist Gottes in der Salbungshandlung in Wahrheit empfangen hat, der erkennt eben dauerhaft die Wahrheit Gottes und kann nicht zum Verkünder der Lüge werden. Die Lüge, die sie jetzt vertreten, hat an der Wahrheit wesenhaft nicht teil, wie umgekehrt das Licht Gottes kein Teilchen Finsternis in sich enthält (1,5). So hat eben auch jeder dieser Lügenpropheten (4,1) mit der Wahrheit nichts zu tun. Diese geradezu ontologisch klingende 12 Vgl. treffend J. Frey, Eschatologie III, 71: „Die nun schismatische Situation wird zum Ausgangspunkt einer apokalyptischen Zeitdeutung . . .“ 13 So ist das Präsens eÜsin in 2,19 wohl zu verstehen; mit G. Strecker, Joh.briefe, 125 Anm. 20 gegen H.-J. Klauck, 1. Joh., 147 („nicht alle“ im Sinne von „alle nicht“). Zu vergleichen ist die entsprechende Formulierung in Joh 13,10 im Blick auf die Nichtzugehörigkeit des Judas, der, trotzdem Jesus ihn zur Zahl der Zwölf „erwählt“ hat, durch seinen Verrat zum Teufel geworden ist (6,70 f. vgl. 6,64 sowie dann 13,27), was Jesus aber als „von Anfang an“ vorher weiß (6,64). Möglicherweise klingt hier sogar Joh 13,10 bewußt an; dann ließe der Verfasser das Bild des Judas hinter dem der Gegner auftauchen, wie viele Ausleger vermuten, zuletzt H.-J. Klauck, 1. Joh., 154.

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Feststellung eines ausschließlichen Gegensatzes hängt an der eschatologischen Definitivität der Teilhabe der wahrhaft Glaubenden an der Wirklichkeit Gottes: Diese Teilhabe kann nicht verlorengehen; sondern jeder geistliche Verrat „erweist“, daß eine geistliche Gemeinschaft mit dem Christus, den die Gegner jetzt „verleugnen“, von Anfang an nicht wirklich bestanden hat. Hier herrscht die Logik von Joh 3,18: „Wer nicht glaubt, ist schon verurteilt (kìkritai Perf.!), eben weil er nicht geglaubt hat (pepùsteuken!) an den Namen des einzig-einen Sohnes Gottes“. Genau um dieses Bekenntnis geht es entscheidend in der aktuellen Auseinandersetzung mit den Gegnern. Von diesen spricht 2,22 f., von den treu „gebliebenen“ Adressaten danach V. 24 f. Die Lüge, als deren Vertreter die Gegner jetzt auftreten, besteht ganz grundsätzlich in ihrer öffentlichen Absage an die Wahrheit dieses Bekenntnisses. „Bekennen“ und „verleugnen“ sind Begriffe der Gerichtssprache (vgl. Lk 12,8 f./Mt 10,32 f.; Joh 1,20; 9,22), und zwar unter eschatologischem Horizont. Wer immer öffentlich bestreitet, „daß Jesus der Christus ist“, der betreibt das Werk des Antichrists. Er bestreitet damit auch die Wahrheit Gottes selbst, er verleugnet „den Vater und den Sohn“. Denn „der Christus“ ist Jesus als der Sohn, der mit dem Vater eines ist (Joh 10,30), der darum „der wahrhaftige Gott“ ist (1. Joh 5,20).14 Wer den Sohn verleugnet, „hat auch den Vater nicht“. Wer dagegen den Sohn bekennt, „hat auch den Vater“. Wie in V. 20 bezeichnet „haben“ die bleibende Zugehörigkeit durch Teilhabe. Insofern geht es jetzt für die Adressaten um dieses Bleiben (V. 24 f.) in dem, was sie vom Anfang ihres Christwerdens an gehört haben (1,1–4!). Zwar besteht das Bleiben der Christen wesenhaft darin, daß „das Wort des Lebens“ (1,1) selbst in ihnen bleibt. Nur so können sie ihrerseits bleiben, nämlich „im Sohn und im Vater“, das heißt, in der „Gemeinschaft mit dem Vater und seinem Sohn Jesus Christus“ (1,3). Der Briefeingang zielt bereits deutlich auf die aktuelle Krise des Bruchs dieser Gemeinschaft. Als „Bleiben im Vater und im Sohn“ ist diese Gemeinschaft von elementarer soteriologischer Wirklichkeit: Es ist „das ewige Leben“, an dem die Adressaten teilhaben, denn dieses Leben ist in Gott (Joh 1,3), es war im Anfang (Imperfekt im Sinne des andauernden Geschehens) beim Vater und ist in Jesus „erschienen“ (1. Joh 1,2). So faßt der Autor in 2,26 f. das zentrale Anliegen seines Briefes in dieser aktuellen Situation zusammen. Die, die sie jetzt irreführen wollen, werden eben deswegen keinen Erfolg haben, weil der Geist Gottes als das „Chrisma“, das sie „von ihm“ – von Jesus, dem Christus (V. 22) – empfangen haben, in ihnen bleibt und sie keiner anderen Lehre bedürftig 14 Zum Verhältnis zwischen cristí™ und uÖí™ vgl. M. Hengel, Johanneische Frage: „,Sohn‘ ist im Brief wie im Evangelium der entscheidende, allein wirklich zureichende Titel.“ Der Messias ist Jesus nur als der Sohn Gottes: Joh 20,31.

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sind als der, die Gottes Geist in ihnen lehrt. Im Vertrauen darauf mahnt der Verfasser seine Kinder, „in ihm zu bleiben“, indem sie an dem christologischen Grundbekenntnis festhalten, das die Gegner bestreiten und zu dessen Verleugnung sie sie zu verführen suchen. Was den Inhalt dieses Bekenntnisses betrifft, so ist eindeutig und wird von keinem Exegeten bestritten: Der Ton liegt darauf, daß Jesus der Christus ist als der einzig-eine Sohn Gottes, und daß die Einheit von Vater und Sohn nicht geleugnet werden kann, ohne daß damit zugleich auch der Vater verleugnet wird. Doch wie ist diese Verbindung zwischen Jesus und Gott im 1. Johannesbrief gemeint? Was bestreiten die Gegner? Und was verteidigt der Autor? Die Mehrheit der Exegeten sieht, wie gesagt, in den Gegnern Leute am Werk, die ihrerseits gute johanneische Christen sein wollen und das Bekenntnis als solches gar nicht angreifen. Weder die Messianität noch auch die Gottessohnschaft Jesu bestreiten sie als solche. Sie wollen nur das Mißverständnis ausgeschlossen wissen, daß dies beides unlöslich fest und wesenhaft mit dem Menschen Jesus verbunden sein soll. Denn das widerspricht dem Wesensunterschied zwischen Gott und Mensch. Gott kann sich des Menschen Jesus nur zu seiner Offenbarung bedient haben. Dieses Interesse an der Reinerhaltung der Gottheit Gottes in seiner Offenbarung durch Jesus liegt – so lautet die Hypothese – zumindest auf der gleichen Linie wie die Lehre, die von dem gleichzeitig aufgetretenen Kerinth überliefert wird (s. o.): Erst bei Jesu Taufe habe der GeistChristus sich mit dem Menschen Jesus verbunden, um die Menschen über den jenseitigen Vatergott aufzuklären. Und vor der Passion Jesu habe sich dieses leidensunfähige Gottwesen von ihm wieder gelöst. Nun wird diese Deutung von Taufe und Todesleiden Jesu erst aus 1. Joh 5,8 ff. herausgelesen (dazu s. u.). Doch die grundlegende Polemik gegen den ,Doketismus‘ der Gegner werde in 2,18 ff. geführt. Bleiben wir zunächst bei diesem Text, so spricht jedenfalls hier nichts für, sondern alles gegen jene Hypothese. Läge das Interesse der Gegner darin, die Gottheit Gottes ,rein‘zuhalten von einer ihr unangemessenen Wesensvereinigung mit Menschlich-Irdischem, dann träfe das entscheidende Argument des Verfassers in 2,23 sie überhaupt nicht. Denn daß, wer den Gottessohn leugnet, damit zugleich Gott leugnet, würden Doketisten ja doch vollauf bejahen! Bemerkenswert sind die Schwierigkeiten der Kommentatoren, das Argument des Verfassers 2,23 als Argument gegen doketistische Irrlehrer zu verstehen.15 15 R. Bultmann, Joh.briefe, 43–45 verzichtet völlig auf eine Interpretation von 2,23 im Sinne antignostischer Polemik in 2,22. Als Christen, die die Gegner nach 2,19 zu sein beanspruchten, könnten sie das für alle Christen fundamentale Bekenntnis zu Jesus als dem Christus und Gottessohn als solches ja nicht gut bestritten haben. Erst aus 4,2 f. gehe

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Die Stimmigkeit der Argumentation in 2,22 f. läßt sich nur erweisen, wenn man die Doketismus-Hypothese ganz aufgibt. Die Leugnung, daß Jesus „der Christus“ ist, setzt in der Tat voraus, daß die Messianität Jesu im Bekenntnis der johanneischen Gemeinde im Sinne seiner Gottessohnschaft gemeint ist, wie dies in Joh 20,31 als Summe johanneischer Christologie zusammengefaßt wird: Als Gottes Sohn ist er, vom Vater gesandt, in all seinem irdischen Wirken in Wort und Tat „mit dem Vater eines“ (Joh 10,30) und in diesem Sinne der Messias. Darum ist jede Leugnung der Gottessohnschaft des Messias Jesus eo ipso Gottesleugnung. Wer das tut, der denkt, spricht und handelt als Repräsentant des Anti-Christus. Der Verfasser sieht in den Abtrünnigen nichts weniger als „Antichristen“ in diesem Sinn. Wie der Anti-Christus der Widersacher Gottes ist, so ist die Bestreitung des Christus_bekenntnisses Absage an Gott. An diesem Urteil läßt der Verfasser keinerlei Zweifel aufkommen. Aus der Zielrichtung seiner Argumentation läßt sich erkennen, daß die Gegner ihrerseits die Gottessohnschaft Jesu bestreiten um der Wahrheit des Gottesbekenntnisses willen.16 Nach ihrem Urteil verletzt das christologisch zugespitzte Bekenntnis der johanneischen Gemeinde, der sie selbst anhervor, daß sie den Christus und Gottessohn nicht „im Fleisch“, also nicht als mit dem Menschen Jesus identisch sehen könnten, sondern eine wesensmäßige Verschiedenheit zwischen dem göttlichen Heilbringer und dem irdisch-„fleischlichen“ Menschen Jesus behaupteten. Aus 1,2 f. und 5,5 folge zur Erklärung von V. 23: „Wer also eine verkehrte Vorstellung von Jesus hat, denkt damit auch falsch von Gott“ (S. 43). Aber: Nach V. 22 ist es nicht „eine falsche Vorstellung“ im Blick auf das Verhältnis zwischen Jesus und dem Christus, sondern die Bestreitung der Gottessohnschaft Jesu überhaupt. Entsprechend „denken“ die Gegner nicht auch in falschen Vorstellungen von Gott; sondern weil sie die wesenhafte Einheit Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus bestreiten, haben sie damit auch ihr Gottesverhältnis grundsätzlich abgebrochen, das heißt: Sie sind schlichtweg zu Apostaten geworden. Wie Bultmann auch Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 471; G. Strecker, Joh.briefe, 129. K. Wengst, Joh.briefe, 114: „Wer in seiner Abwendung von Jesus und seiner Hinwendung zu einem anderen Christus Gottes Wirklichkeit verleugnet und verfehlt, vertut und verspielt die Zeit. Was jetzt versäumt wird, . . . läßt sich nicht mehr nachholen.“ Davon steht nichts im Text. Zwar ist es richtig, „daß ,Bekennen‘ das öffentliche, verbindliche und definitive Ja zu dem in Jesus als Vater offenbar gewordenen Gott ist“ (ebd., 115). Aber 2,23 zielt eben nicht gegen eine Bestreitung der Identität des Menschen Jesus mit dem Gottessohn Christus, sondern gegen die Bestreitung der Einheit von Vater und Sohn in Jesus als dem Christus. All solche Sätze zeigen, wie selbstverständlich diesen Kommentatoren die antidoketische Zielrichtung des 1. Johannesbriefes ist, – als ob es die von A. Wurm vertretene Auslegung als Alternative überhaupt nicht gäbe! H.-J. Klauck, 1. Joh., 162 erwähnt diese immerhin, schließt aber aus 2,22e, der Verfasser unterstelle den Gegnern, daß sie „die Existenz des Vatergottes geleugnet“ hätten. Diese jedoch hätten „eher (?) damit argumentiert, ihre Christologie respektiere die weltüberlegene Gottheit Gottes in besonderer Weise“. Weder eine solche polemische Unterstellung noch auch solche „Argumentation“ der Gegner läßt sich aus dem Wortlaut des Textes herauslesen. 16 H. Thyen, Joh.briefe, 194 bemerkt mit Recht, daß dies „eine für Gnostiker kaum denkbare Position“ ist.

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gehört haben, die Gottheit Gottes, nämlich, daß er als „der Vater“ der einzig-eine Gott ist (Dtn 6,4), neben dem es keinen anderen Gott gibt und geben darf (Ex 20,2 ff.) – auch nicht einen „Sohn“, der ihm gleich und mit ihm völlig eines ist. Als den exklusiv „Einen“ hat Gott sich selbst in der Schrift offenbart: Das allein ist die Wahrheit! Das Bekenntnis zu Jesus als dem Messias darf dieser Einzigkeit Gottes nicht Eintrag tun. Das aber ist dort der Fall, wo Jesus in dem vollen und radikalen Sinn als Gottessohn bekannt wird, wie es in der johanneischen Gemeinde geschieht. Darum haben die Gegner sich von ihr getrennt und suchen offenbar weitere Gemeindeglieder für diesen Weg zu gewinnen. Nur wenn das Anliegen der Gegner in diesem Sinn als urjüdisches Interesse verstanden wird, nämlich als das elementare Interesse der Bewahrung des schema’-jisrael, nur dann ist die polemische Argumentation des 1. Johannesbriefes gegen sie stichhaltig. Denn nur so wird verständlich, daß der Verfasser in der Leugnung des Christusbekenntnisses seinerseits nichts weniger als Gottesleugnung erkennt. Seine Antithese lautet: Es ist kein anderer als eben der einzig-eine, wahre Gott, den die verleugnen, die bestreiten, daß Jesus sein einzig-einer Sohn ist. Es kann dabei offen bleiben, ob die Sezession der im 1. Brief bekämpften Gegner als Rückkehr zur jüdischen synagogalen Gemeinschaft geschehen ist, zu der sie nun auch ihre bisherigen Glaubensgeschwister der johanneischen Gemeinde zu „verführen“ suchen (2,26); oder ob es zu einer Trennung innerhalb der johanneischen Gemeinde gekommen ist. Das ist aus dem Text des Briefes nirgendwo eindeutig zu erkennen. Die Gleichsetzung der Gegner mit Agitateuren des Antichrist V. 18 und die Verurteilung ihres Wirkens unter den Adressaten des Briefes in V. 26 als „Verführung“ im Sinne von Dtn 13 ist allerdings eine Polemik von so extrem scharfer, eschatologischer Grundsätzlichkeit, daß der ersten Vermutung sehr viel mehr Wahrscheinlichkeit zukommt als der zweiten. 1.2. Dafür spricht vor allem der Vergleich mit dem Johannesevangelium. Einerseits entspricht dessen Christologie genau dem Sinn des Bekenntnisses, zu dessen Bewahrung der Verfasser des Briefes seine Adressaten so eindrücklich in 2,18–27 ermahnt. Daß „Jesus der Christus (als) der Sohn Gottes ist“, das ist eben der Glaube, zu dem der Autor des Evangeliums seine Leser zu überzeugen sucht. Das markiert er im Schlußsatz Joh 20,31 als das Ziel seines ganzen Buches. Von der Erkenntnis Natanaels 1,49 an läßt er sie durch seinen ganzen Bericht über das Wirken Jesu hindurch in immer neuen Wiederholungen dies als den einen zentralen Inhalt christlichen Glaubens wissen: Jesus ist Gottes Sohn und als solcher „der König Israels“, der Christus. Im Uranfang bereits war er als der Logos bei Gott (1,1) und ist als solcher Fleisch geworden (1,14). In ihm, dem einzig-einen Sohn des Vaters ist Gott selbst in der Gemeinde

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seiner Kinder gegenwärtig geworden, so daß „wir“ seine Herrlichkeit gesehen (1,14 vgl. 14,8–11!) und aus seinem Munde, des monogenÀ™ heí™, die Offenbarungskunde gehört haben (1,18 vgl. 1. Joh 1,1 f.!). Als der vom Vater gesandte Sohn redet und tut er nichts, als was ihm der Vater aufgetragen hat (5,19). Dazu aber hat ihn der Vater mit seiner ganzen Vollmacht ausgestattet (5,21 f.), so daß in Jesu Wirken in Wort und Tat der Vater und der Sohn zusammenwirken (5,17) und eines sind (10,30). Darum sollen alle den Sohn ehren, wie sie den Vater ehren (5,23). Im gleichen Sinn ruft Jesus bei seinem Abschied seine Jünger zum Glauben an Gott und zum Glauben an ihn (14,1 vgl. 20,28!). Als Verherrlichter wieder mit dem Vater so vereint wie im Uranfang (17,4), senden Vater und Sohn den Geist als Paraklet-Nachfolger Jesu (14,16) in die Mitte seiner Jünger herab. An Jesu Statt bezeugt der Geist der nachösterlichen Jüngerschaft Jesu dessen vorösterliches Selbstzeugnis (15,26). In vollendeter Wahrheit lehrt und erinnert er sie an alles, was Jesus während seines irdischen Sendungsweges gesagt hat (14,26). So ist denn die christologische Botschaft des Johannesevangeliums (20,31) identisch mit diesem Zeugnis des Geistes.17 Andererseits steht, ebenfalls von Anfang an, dem Glauben der Jünger an Jesus der Unglaube „der Juden“ gegenüber. Sie sehen in Jesu Selbstoffenbarung als des Sohnes Gottes und in seinem Anspruch, daß in seinem Wirken und Reden Gott selbst wirkt und redet, pure Blasphemie, Verletzung der Einzigkeit Gottes durch einen Menschen, der sich selbst Gott gleich macht (5,18; 10,33.36; 19,7). Deswegen ist von Anfang an ihr Ziel, Jesus zu töten (5,18; 7,1.19 f.25; 8,37.40; 11,53), wie nach dem Gesetz ein Gotteslästerer getötet werden muß (19,7). Entsprechend drohen sie jedem mit Sanktionen, der Jesus als den Messias bekennt (7,13; 9,22; 11.57). Der von Jesus geheilte Blindgeborene ist ein Beispiel dafür, wie es einem Juden ergeht, der sich von keinen Drohungen davon abhalten läßt, sich zu Jesus zu bekennen: Er wird exkommuniziert (9,34 vgl. 7,45–52). Auch für die nachösterliche Zeit der Kirche sagt Jesus seinen Jüngern Haß und Verfolgungen von Seiten „der Welt“ voraus (15,18 ff.). Als seine Jünger werden sie sogar mit dem Märtyrertod zu rechnen haben: „Sie werden euch aus der Synagoge exkommunizieren (îkbâllein vgl. 9,22); und es kommt die Stunde, da jeder, der euch getötet hat, Gott einen heiligen Dienst darzubringen meint“ (16,2). Hier wird auch im Blick auf das Geschick der Jünger deutlich, daß nach dem Urteil des Unglaubens ihre Zugehörigkeit zu Jesus Abfall von Gott ist – eben weil sie an ihn als Gottes Sohn glauben. 17 Zum Gesamtzusammenhang der trinitarischen Struktur johanneischer Christologie (und Theologie überhaupt) vgl. in diesem Band Nr. 1. Vgl. auch M. Theobald, Gott, Logos und Pneuma.

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Bereits in der Rede vom guten Hirten ist von Übergriffen gegen die Gemeinde der Jünger Jesu die Rede. Es gibt den Dieb, der die Schafe der Herde aus dem Gehege rauben will, um sie zu schlachten (V. 10). Dazu kommt er nicht durch die Tür, sondern er bricht ,anderswo‘ ein. Die Tür ist Jesus (V. 7), der den Schafen, die durch diese Tür – „durch mich“ – hineinkommen, Heil und ewiges Leben gibt. Zugleich ist Jesus der Hirt der Schafe, dem der Türhüter das Gatter öffnet, so daß er sie, die ihn an seiner Stimme erkennen, zur Weide ausführt und abends wieder zurück bringt (V. 2 f.). Die Unstimmigkeit auf der Bildebene gewinnt Sinn, sowie man diese Aussagen auf die Ebene der Lesergemeinde überträgt. Dann zeigt sich: Die alleinige Tür zum Gehege ist das allein wahre Bekenntnis: „Jesus ist der Christus und der Sohn Gottes“. Nur durch dieses Taufbekenntnis bekommt man Zutritt zur Gemeinde. Die Diebe, die „anders woher“ einbrechen, sind Verführer, die Gemeindemitglieder von diesem Bekenntnis abzubringen und aus der Gemeinschaft der Gemeinde herauszuführen suchen. Die Beziehung zu einer Situation wie der der Johannesbriefe ist hier mit Händen zu greifen. Zugleich aber ist im Bekenntnis zu Jesus er selbst gegenwärtig, denn es ist ja Jesu Selbstoffenbarung als Gottes Sohn, die im Bekenntnis seiner Gemeinde als die allein wahre Heilswirklichkeit ausgesprochen wird. Darin kommt er selbst als der „gute Hirte“ zu Wort, der den Seinen ewiges Leben gibt, wie es vor allem die ICHBIN-Worte zusagen (6,35.47 f.; 8,12; 11,25 f.). Mit diesem ICH-BIN, in dem Gottes ureigener Name (Ex 3,14; 20,1 f.) zu Wort kommt,18 offenbart Jesus sich im Zentrum der Hirtenrede V. 11.14–16 als der Hirte, der darin „gut“ ist, daß er sein eigenes Leben einsetzt, um seine Schafe vor dem raublüsternen Wolf zu erretten. In dem Wolf ist unschwer der Antichrist von 1. Joh 2,18 zu erkennen, und entsprechend in dem bloßen Tagelöhner, der davonflieht und die Schafe dem reißenden Wolf überläßt (Joh 10,12), die Falschpropheten, die die Gemeinde um die Teilhabe am ewigen Leben zu bringen suchen (1. Joh 4,1.3). Geht es in der Hirtenrede um die Rettung und Behütung der Gemeinde der Jünger Jesu, so am Schluß der Rede vom Lebensbrot Joh 6,60 ff. um eine tiefe Krise der Jüngerschaft. Nachdem die Auseinandersetzung mit den Juden in der Synagoge von Kafarnaum (6,52–58) beendet ist, folgt – nach der Zäsur durch die szenische Bemerkung V. 59 – eine entsprechende Auseinandersetzung Jesu mit „vielen seiner Jünger“, die ebenso ablehnend auf seine Rede reagieren wie zuvor die Juden (Vgl. V. 60.66 mit V. 41.52). Galt die Kritik der Juden dem Anspruch Jesu, das wahre vom Himmel herabgekommene Manna-Brot in der Wüste (V. 31) zu sein (V. 41), so zielt die Entrüstung der Jünger offenbar in die gleiche Rich18 Vgl. dazu in diesem Band S. 19.

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tung. Denn Jesus antwortet darauf: „Daran stoßt ihr euch“ – nämlich daß ich vom Himmel herabgekommen bin –? Wieviel größer wird euer Anstoß sein, „wenn ihr den Menschensohn aufsteigen seht dorthin, wo er zuvor war?“ (V. 62). Auf dieses Ziel des Sendungsweges Jesu bezieht sich der folgende Lehrsatz V. 63: „Der Geist ist es, der Leben schafft, – das Fleisch nützt (dazu) nichts.“ Das kann nur heißen: Jesus als der Menschensohn, dem der Vater seine ganze eigene Vollmacht übertragen hat (5,17–23 – s. o.), wird nach seinem Wiederaufstieg zum Vater, als der verherrlichte Sohn, den lebenschaffenden19 Geist Gottes, der zu Beginn seines irdischen Wirkens bleibend auf ihn herabgekommen ist (1,32–34), in Fülle und ewig-bleibend besitzen (vgl. 3,33 f.)20. Nur der vom Vater gesandte Sohn, dessen Sendung sich in der Erhöhung zum Vater vollendet, ist Träger des lebenschaffenden Geistes, der den Seinen als das „Lebensbrot“ ewiges Leben zu geben vermag, wie es die voranstehende Rede ausgeführt hat. „Das Fleisch“ – Irdisch-Menschliches in seiner Kraftlosigkeit und Hinfälligkeit – ist dazu absolut „nutzlos“. Der Gegensatz von Geist und Fleisch ist in 6,63 der gleiche wie vorher im Dialog mit Nikodemus (3,3–8). Von dort wissen die Leser auch, daß alles geistliche Wirken Jesu nur im Glauben an ihn als den vom Vater gesandten Sohn erkannt und das ewige Leben als seine Gabe nur in diesem Glauben empfangen werden kann (3,16); und auch dort war in diesem Kontext vom Auf- und Abstieg des Menschensohnes die Rede (3,13), so daß der Rückbezug in Joh 6,62 f. auf Joh 3 völlig deutlich ist. Entsprechend sagt Jesus in 6,64, daß er den Unglauben unter seinen eigenen Jüngern, der sich in ihrer Entrüstung V. 60 geäußert hat, bereits im voraus weiß: „Von Anfang an“ (vgl. 1. Joh 2,19!) weiß er, welche von ihnen es sind, die nicht glauben, also nicht in Wahrheit seine Jünger sind. Er kennt auch schon den, der ihn „ausliefern“ wird (V. 65). Zur Begründung verweist er sie auf das, was er soeben zu den Juden gesagt hat: „Niemand kann zu mir kommen, wenn es ihm nicht vom Vater gegeben ist“ (V. 65 vgl. V. 44 sowie vorher 3,27). Diese Rede, die die im Abfall begriffenen Jünger aus dem Aspekt eschatologischer Klarheit ,entlarvt‘ (vgl. 2,25), bewirkt nun unmittelbar ihre Abkehr von der Nachfolge (V. 66). In dieser Krise der Jüngerschaft fragt Jesus provozierend die Zwölf, die offenbar als Einzige bei ihm geblieben sind: „Wollt auch ihr weggehen?“ (V. 67). Petrus antwortet, entsprechend der Logik des Wortes Jesu V. 65 in voller Glaubensgewißheit21: „Wohin sollen wir wegge19 Dazu ist die 2. Beraka des jüdischen 18-Bitten-Gebets zu vergleichen! 20 Dazu sind einerseits die Geistverheißungen in den Abschiedsreden zu vergleichen, sowie andererseits besonders die Geistverleihung durch den Auferstandenen 20,22, in der der Schöpfungsakt Gen 2,7 anklingt. 21 Ein völliges Mißverständnis dieser Antwort ist das Urteil von M. Theobald, Häresie,

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hen, wo doch (allein) Du Worte ewigen Lebens hast? Und wir sind (bleibend-endgültig) zum Glauben gekommen (Perfekt!) und haben die Erkenntnis gewonnen: Du bist der Heilige Gottes!“ (V. 68 f.). Aber selbst noch im Kreise der Zwölf, die er ausgewählt hat, gibt es einen Teufel – Judas (V. 70 f.), von dessen Verrat er soeben bereits gesprochen hat (V. 64b). Dieser Schlußteil der Perikope ist aus einem Guß, wenn man die Eigenart johanneischer Erzählweise beachtet, die mit Lesern rechnet, die Anspielungen auf Traditionsstoffe und Rückverweise auf Voranstehendes verstehen.22 Das Thema ist die Krise im eigenen Jüngerkreis Jesu. Die Situation hier gleicht genau derjenigen, in der der Verfasser der Johannesbriefe seine Adressaten mit äußerstem theologischem Ernst und pastoraler Zuwendung zum Bleiben im Glauben mahnt auf der Grundlage des einen Taufbekenntnisses, zu dem es keinerlei Alternative gibt und geben kann. Daß es eine solche Krise bereits in der vorösterlichen Zeit des irdischen Wirkens Jesu gegeben hat, ist für die Leser des Johannesevangeliums ein Hort von Orientierung, Vergewisserung und Ermutigung. Das Bekenntnis des Petrus in seiner Formulierung im Perfekt drückt die alternativlos-bleibende Grundlage echten Glaubens aus, nicht nur der vorösterlichen Jünger auf der Ebene der Erzählung, sondern zugleich auch die der ganzen nachösterlichen Jüngerschaft auf der Ebene der Leser des Evangeliums. Bereits im Bekenntnis des Petrus hat sich bewährt, was der Grund-Satz am Schluß des Evangeliums (20,31) für die nachösterliche Adressatengemeinde ausspricht.

246: „Über diesen Zeilen liegt eine bedrückende (?) Melancholie. Es ist die Melancholie der ,kleinen Herde‘ . . .“ 22 Zur literarisch-kompositionalen Einheitlichkeit der Perikope als ganzer vgl. zuletzt M. Theobald, Häresie, 215–225. Zu den Literaturangaben ebd., 236 Anm. 100 kommen jetzt noch hinzu die Kommentare von U. Wilckens, Joh., 107–109; U. Schnelle, Joh., 140; K. Wengst, Joh. I, 229 f. Viele Exegeten sehen im Textzusammenhang der Rede Unstimmigkeiten, die nur literarkristisch zu lösen seien. Zu diesen gehört u. a. M. Theobald ebd., 236 ff.; ferner vor allem J. Becker, Joh., 241 f. Zumeist werden 6,51c–58 und 6,60–71 (ganz oder teilweise) als sekundäre Zusätze beurteilt. Wer jedoch V. 66–71 ausscheidet, nimmt der Perikope ihren positiven Schluß, der nach der negativen Reaktion der „vielen“ Jünger V. 60 und der Steigerung durch ihre Abkehr von Jesus V. 66 unbedingt zu erwarten ist. Die beiden voranstehenden Wunder und die lange, sich von Stufe zu Stufe steigernde Rede Jesu können unmöglich mit einer Katastrophe enden. Wer in V. 63 – über V. 51c–58 hinweg – das Ende der Perikope erkennen will, läßt diese schließen ohne eine Lösung des Problems des Einspruchs der Jünger V. 60, der doch dem der Juden V. 44 entspricht. Wer darum in V. 60 ursprünglich eine Wiederholung der „Entrüstung“ der Juden sehen will, die von dem Redaktor,der V. 68 ff. angefügt habe, in eine Reaktion vieler Jünger verändert worden sei, löst das Problem des Verhältnisses zwischen der gleichen Reaktion der beiden verschiedenen Gruppen, das der Text herausarbeitet, statt exegetisch literarkritisch. Überdies darf V. 59 als Szenenabschluß nicht übersehen werden.

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Nun wird die Reaktion der vielen Jünger in V. 60 dadurch zum Problem, daß sie der der Juden in V. 41 f. entspricht. Nimmt man das ernst, wie der Text es unbedingt erfordert, so läßt sich darin und in der nachfolgenden Abkehr dieser Jünger von Jesus V. 66 nur deren Rückfall zum Judentum (und damit zur „Welt“ des Unglaubens, die im Johannesevangelium die Juden repräsentierten) erkennen. Eben dies aber entspricht ebenfalls der im 1. Johannesbrief vorausgesetzten Situation! Dort bestreiten die abtrünnig gewordenen Christen das christologische Grundbekenntnis der johanneischen Gemeinde, weil sie es für eine blasphemische, „unerträgliche“ Verletzung des 1. Gebots halten. Das heißt: Sie reagieren theologisch als Juden, ob sie nun faktisch dazu durch Initiative von jüdischer Seite gedrängt worden und dorthin übergewechselt oder innerhalb des johanneischen Christentums zu einer theologisch jüdisch gesinnten Sondergruppe geworden sind. Auch im zweiten Fall verurteilt der Briefautor die Entscheidung der Sezessionisten als radikale Apostasie! Darin besteht die Entsprechung zwischen der Briefsituation und der im Evangelium erzählten Situation. Diesem Problem entgehen diejenigen Exegeten, die in Joh 6,63 einen eklatanten Widerspruch zu dem eucharistischen Schlußteil der Rede Jesu 6,51c–58 sehen und deshalb diesen Abschnitt als sekundären Eintrag beurteilen. Dies erscheint mir jedoch nach wie vor als eine literarkritische Lösung, die nicht nur dem Textzusammenhang Gewalt antut23, zumal weil das Brotwunder als Exordium der Perikope in 6,11 einen deutlichen Anklang an die eucharistische Mahlliturgie enthält, der im Kontext der Rede erst in V. 51c–58 aufgenommen wird. Vor allem aber wird durch die Ausscheidung dieses Stückes dessen spätere Einfügung zu einem selbstgemachten Problem. Als deren Motiv pflegt man nämlich eine Abwehr doketistischer Interpretation der Christologie der Rede Jesu zu sehen. Nur so lasse sich die im Urchristentum einzigartige massiv-sakramentalistische Deutung der Abendmahlsworte Jesu überhaupt verstehen, nach der es das Fleisch des Menschensohnes ist, das im Mahl gegessen24, und sein Blut, das getrunken wird (für Juden eine flagrante Verletzung der Tora!). Nach M. Theobald_25 soll es sogar eine „Fehldeutung von V. 62 f.“ „im johanneischen Kreis“ selbst sein, der ,der eucharistische Einschub‘ mit seinem emphatischen Preis des „Fleisches“ des Menschen-

23 Dazu vgl. ausführlich und in Auseinandersetzung mit anderen Meinungen U. Wilckens, Der eucharistische Abschnitt. 24 Zu trÈgein vgl. R. Schnackenburg, Joh. II, 92, der unter Hinweis auf Joh 13,18 (sowie auch Mt 24,38) eine massiv-realistische Wortbedeutung („beißen, kauen“) mit Recht als überzogen abweist. Anders z. B. G. Bornkamm, vorjohanneische Tradition, 56; zuletzt U. Schnelle, Joh., 133. 25 M. Theobald, Häresie, 240.

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sohnes einen Riegel vorschieben solle. Wäre dies der Fall, so hätte dieser ,Redaktor‘ das Problem, das er entschärfen wollte, nur noch massiv verschärft. Denn nach der literarischen Regel, daß dem Schlußwort einer Rede das ,Achtergewicht‘ zukommt, werden V. 62 f. nun ihrerseits zu einer massiven Antikritik gegen die voranstehenden antidoketisch-aufgeladenen eucharistischen Sätze! Darum muß das Stück Joh 6,51c–58 auf jeden Fall im originalen Text belassen werden.26 Die Frage, wie sich V. 62 f. dazu verhalten, wird nun aber ihrerseits entschärft, wenn man die szenische Bemerkung V. 59 als bewußte Zäsur ernstnimmt.27 Die Auseinandersetzung Jesu mit den Juden ist beendet. Nun beginnt eine Auseinandersetzung mit vielen seiner Jünger, deren Reaktion der gleichen „sarkischen“ Art ist wie zuvor die der Juden. In diesem Sinn ist der Gegensatz von „Fleisch“ und „Geist“ in V. 63 gemeint. Er kann sich nicht speziell auf V. 51c–58 beziehen, weil einerseits im dortigen Kontext das Wort pneuma gar nicht auftaucht, andererseits aber der Gegensatz in V. 63 die Worte Jesu als des „Menschensohnes“ betrifft, die als Geist-volle Worte allein Leben schaffen, während „das Fleisch“, der Unverstand der Menschen, dazu unfähig, „nutzlos“ ist. In V. 63 bezieht sich Jesus also ebenso auf seine voranstehende Rede als ganze wie auch die kritische Reaktion der Jünger V. 60. Die Zäsur V. 59 ist auch für die Leser ein Signal zu diesem Verständnis von ú lígo™ oÓto™. Aber welchen Sinn hat dann der in der Tat auffallend massive eucharistische Redeteil, wenn es darin weder um einen Gegensatz zu einem „spiritualischen“ Abendmahlsverständnis geht noch überhaupt zu einer doketischen Geist-Christologie? (Das Wort pneøma kommt ja in der ganzen Lebensbrotrede nicht ein einziges Mal vor!). Daß es die verba testamenti der urkirchlichen Tradition sind, die in V. 53–56 interpretiert werden, erhellt aus dem eindeutigen Anklang in V. 51c an den Brotsegen in der paulinisch-lukanischen Version. sÂma wird mit sârx wiedergegeben28, 26 Dieses Urteil wird neuerdings wieder von einer Mehrheit von Exegeten vertreten; vgl. die Literaturangaben bei U. Schnelle, Joh., 135 Anm. 94, wo auch Vertreter der Gegenmeinung genannt sind. 27 Vgl. R. Schnackenburg, Joh. II, 14,202; C. K. Barrett, Joh., 297.211 f.; zuletzt U. Schnelle, Joh., 134.138. 28 sârx und aQma in V. 51c und V. 54a gehören wahrscheinlich zum Wortlaut eucharistischer Liturgie in den johanneischen Gemeinden. Dazu hat die biblische Rede von „Fleisch und Blut“ geführt, nicht aber eine antidoketische Spitze. Vgl. die Literatur bei U. Schnelle, Joh., 131 Anm. 74 sowie U. Wilckens, Der eucharistische Abschnitt, 240 f. Da überdies auch Ignatius in eucharistischem Kontext durchweg das Wort sârx gebraucht (vgl. Smyrn 7,1; Röm 7,3; Philad 4; Trall 8,1 sowie auch Justin Apol I, 66.2), liegt die Vermutung nahe, daß dies der übliche Sprachgebrauch in der Gemeinde Antiochias und in den mit dieser in Verbindung stehenden Gemeinden Kleinasiens in der Zeit um die Jahrhundertwende gewesen ist.

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und das „für euch“ (bzw. „für viele“ Mk 14,24) zu „für das Leben der Welt“ ausgeweitet (vgl. vorher 6,33 sowie 3,16 f.; 4,42). Dem Mißverständnis der Hörer, als ob dieser Mensch Jesus ihnen sein Fleisch zu essen geben wolle (V. 52), begegnet Jesus in V. 53 mit dem Hinweis, daß es das Fleisch und das Blut des Menschensohnes ist, das zu essen und zu trinken, für die Glaubenden bewirkt, ewiges Leben in sich zu haben. Nur in diesem Sinn spricht Jesus nach dem Johannesevangelisten in den Abendmahlsworten von „meinem“ Fleisch und von „meinem Blut“ (V. 54)29: Es ist Jesus als der Menschensohn – das heißt im Johannesevangelium: der vom Himmel gekommene, also zu Gott gehörende, vom Vater gesandte Sohn Gottes –, der im eucharistischen Mahl sein völlig einzigartiges Fleisch und Blut gibt. So wie Jesus sich den Juden als das wahre, vom Himmel gekommene Brot offenbart: „Ich bin das Brot des Lebens“ (V. 35.48), so gibt er als der erhöhte Verherrlichte den Kommunikanten Anteil an sich selbst in seiner eucharistischen Gegenwart als der inkarnierte Sohn Gottes. Versteht man das eucharistische Redestück im Gesamtkontext der Rede Jesu, die es abschließt, so wird deutlich: Nicht ein irgendwie ,doketisch-überhöhtes‘ Mißverständnis ist es, gegen das Jesus sich hier richtet, sondern umgekehrt der Unglaube der Juden, die sich über seinen Anspruch entrüsten, als der Mensch Jesus aus Nazaret (V. 41 f.), der vom Himmel herabgekommene Sohn Gottes zu sein, und die entsprechend in V. 52 darüber streiten, daß dieser Mensch ihnen sein Fleisch zu essen geben wolle. Die massiv zugespitzten Formulierungen in V. 53 f. sollen diese Offenbarungswirklichkeit herausstellen: Jesus, der hier vor ihnen steht, ist keineswegs ein Mensch, der sich selbst blasphemisch überhöht, sondern wirklich Gottes Sohn, unmittelbar vom Himmel in die irdische Welt herabgesandt als dieser Mensch aus Nazaret, ein Mensch von Fleisch und Blut, aber eben dieser als der himmlische Menschensohn, der als Sohn Gottes mit dem Vater eines ist. Nur wer im Glauben diesen Menschen Jesus als Gottes Sohn erkennt, im Glauben zu ihm kommt und ihm als sein Jünger nachfolgt, bekommt von ihm die Gabe des endzeitlich-vollkommenen, ewigen Lebens. Nichts Geringeres als diese Wirklichkeit der Selbstoffenbarung Gottes in Jesus ist es, diesem Menschen von Fleisch und Blut, die Inhalt christlichen Glaubens und so auch der Gaben des eucharistischen Mahles ist. Dieses Glaubens nämlich bedarf es sehr wohl,30 um an dem inkarnierten Gottessohn Jesus in seinem Mahl so 29 V. 53 ist wahrscheinlich eine vom Johannesevangelisten vorangestellte Interpretation der im Joh-Stil formulierten verba testamenti der eucharistischen Liturge V. 54a; vgl. U. Wilckens, ebd., 240. 30 Das ist in diesem eucharistischen Schlußabschnitt der Lebensbrotrede von deren voranstehendem ersten Teil her selbstverständlich. Mit Recht spricht darum U. Schnelle, Joh., 132–134 in seiner Kommentierung von V. 53 ff. durchweg von den Kommunikanten als Glaubenden.

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teilzuhaben, daß man „in ihm“ bleibt (in endzeitlicher, ewiger Dauer und Unverbrüchlichkeit) und Jesus „in ihm“ (V. 56). Nur in solcher wechselseitig-,innigen‘ Teilhabe an Jesus kann man das ewige Leben als seine Gabe empfangen – in Entsprechung dazu, wie Jesus selbst als Gottes Sohn durch den Vater sein Leben hat (V. 57). Von daher wird nun vollends klar, daß die „vielen“ Jünger Jesu, die an diesem Inhalt seiner Rede Anstoß nehmen (V. 60) und sich von ihm abkehren (V. 66), in der Tat genauso reagieren wie zuvor die Juden (V. 41.52). Darin besteht die Härte dieser Perikope, die der Autor seinen Lesern zumutet, weil er diese selbst unter dem ständigen Druck des jüdischen Blasphemievorwurfs weiß. Indem er ihnen vor Augen stellt, wie bereits in der vorösterlichen Zeit „viele“ von Jesu Jüngern, die zunächst im Glauben zu ihm gekommen und ihm nachgefolgt waren, alsbald von diesem Glauben abgefallen sind, warnt er sie in der gefährlichen Situation ihrer Gegenwart davor, sich zu entsprechendem Abfall verführen zu lassen. Um so gewichtiger und bestärkender ist es für sie, am Beispiel des Glaubens der Zwölf im Bekenntnis des Petrus ihren eigenen Glauben und die Treue vorgezeichnet zu sehen, in der sie am Bekenntnis zu Jesus festhalten. So besteht eine deutliche Entsprechung zwischen der Situation akuter Gefährdung der johanneischen Gemeinden durch den Abfall von Mitgliedern aus den eigenen Reihen im 1. Johannesbrief und der im Johannesevangelium vor Augen gestellten Krise der vorösterlichen Jüngerschaft.31 1.3. Nun ist zu prüfen, ob sich dieses Verständnis des ersten direkt gegen die Gegner gerichteten Briefabschnitts 2,18–23 auch im Blick auf die zweite Warnung in 4,1–3 bewährt. Hier kommt zunächst in 4,1 der Gesichtspunkt von 2,26 f. verstärkt zum Tragen. Was die „Pseudopropheten“ tun, ist als das Wirken von Geistmächten zu erkennen, die „nicht aus Gott sind“, sondern „aus dem Antichrist“ (4,3). So geht es für die Adressaten darum, zwischen „den Geistern“, die gegeneinanderwirken, zu unterscheiden. Daß gerade dies eine geistliche Aufgabe ist, wird hier vorausgesetzt;32 nur aufgrund dessen 31 Diese Entsprechung kann so gedeutet werden, daß das den Briefadressaten bekannte und vertraute Johannesevangelium als Grundevangelium ihrer Gemeinde Orientierung und Ermutigung enthält, mit der akuten Gefährdung durch die Sezession eigener Mitglieder fertig zu werden (so z. B. M. Theobald, Häresie, 235 f.). Aber auch die umgekehrte Erklärung ist möglich: daß im Johannesevangelium die akute Krisensituation des 1. Johannesbriefs theologisch verarbeitet worden ist (so z. B. L. Schenke, Das johanneische Schisma, 107 f.). Die Alternative hat jedoch deswegen wenig Gewicht, weil ohnehin eine zeitliche Nähe zwischen dem Evangelium und den Briefen wahrscheinlich ist (so z. B. H.-J. Klauck, Joh.briefe, 108 f.126).

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kann der Verfasser seine Adressaten auffordern, „nicht jedem Geist Glauben zu schenken, sondern die Geister zu prüfen, ob sie aus Gott sind“ (4,1) Die Gegner werden hier von vornherein in der Phalanx einer Vielheit von Pseudopropheten gesehen, „die in die Welt ausgegangen sind“ (vgl. 2,18). Das Kriterium, sie als solche zu erkennen, kann nur das christologische Grundbekenntnis von 2,22 sein. Denn dies steht außer Zweifel: Nur ein Geist, der „Jesus Christus“ bekennt, ist aus Gott (4,2). Nun wird das Bekenntnis von 2,22 hier einerseits verkürzt: Der Messiastitel „der Christus“ wird zum Beinamen Jesu: „Jesus Christus“.33 Andererseits wird die Bekenntnisaussage erweitert: „Jesus Christus ist im Fleisch gekommen“. Darauf liegt hier deutlich der Ton. Das „Kommen“ ist zweifellos in dem Sinne gemeint, wie Jesus im Johannesevangelium von seinem Gekommensein spricht: „von oben“, „aus dem Himmel“ (3,13.31; 6,33.38.41.50 f.58; 8,42) „in die Welt“ (9,39; 12,46 f.; 18,37), „vom Vater“ 7,28; 8,42; 16,27 f.30; 13,3; 17,8). Daß er „im Fleisch“34 gekommen ist, besagt also dasselbe wie die zentrale Aussage der Inkarnation des Logos im Joh-Prolog 1,14. Der Gottessohn ist während der ganzen Zeit seiner irdischen Sendung (Én sarkÿ Élvluhíta Perfekt!) ein Mensch gewesen, von dem es – wohl im Rückblick auf Joh 20,25 ff. – im Briefeingang heißt: Wir haben ihn gehört, mit unseren Augen gesehen und mit unseren Händen betastet (1,1). Was ist der Grund für diese Betonung der Inkarnation Jesu Christi? Zielte der Verfasser damit auf eine doketistische Tendenz der Gegner im Sinne einer Unterscheidung zwischen dem Menschen Jesus und dem ihm irgendwie einwohnenden himmlischen Geist-Christus, dann wäre zu erwarten, daß in der Antithese V. 3 dies als Irrlehre polemisch herausgestellt würde. Nun verkürzt der Verfasser aber in V. 3 die negative Version des wahren Bekenntnisses V. 2: „Jeder Geist, der nicht Jesus bekennt“. In dieser alleinigen Betonung des Menschen Jesus sehen viele Exegeten das deutlichste Anzeichen für eine doketistische Christologie auf der Gegenseite.35 Doch das wäre nur möglich, wenn diese Antithese der Gegner nicht anders als im Sinne einer Bestreitung der Inkarnation 32 Vgl. 1. Kor 12,10; 1.Thess 5,19–22. 33 Die an sich näherliegende Übersetzung „Jesus (als den) Christus“, ist aus sprachlichen Gründen ausgeschlossen; vgl. R. Schnackenburg, Joh.briefe, 220 f. 34 Én sarkù ist hier keinesfalls im Sinne von eÜ™ sârka zu verstehen. Denn es geht nicht darum, daß Jesus Christus in die Welt des Fleisches herabgekommen bzw. eingetreten ist, sondern daß er selbst in der Fleisch-Gestalt gekommen und in menschlich-irdischer Daseinsart den Weg seiner Sendung gegangen ist. Vgl. 1.Tim 3,16 sowie auch Ign Smyrn 5,2: sarkofíron. – Zu Én sarkù vgl. H.-J. Klauck, Bekenntnis zu Jesus, 299. 35 Beispielhaft für viele vgl. H.-J. Klauck, 1. Joh., 162: „Den Ausschlag (scil. für ein doketistisches Profil der Gegner) gibt die Parallele in 4,2, wo es darum geht, ob Jesus als Christus im Fleisch gekommen ist oder nicht.“

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des messianischen Gottessohnes verstanden werden könnte. Es gibt jedoch eine alternative Erklärung: Wie in 2,22 f. die Bestreitung der Gottessohnschaft Jesu der entscheidende Punkt ist, warum die Gegner das christologische Bekenntnis ablehnen, so könnte es entsprechend in 4,2 f. um die Bestreitung dessen gehen, daß für Jesus als Mensch der Anspruch erhoben wird, von Gott „gekommen zu sein“. Dies entspricht sowohl dem Wortlaut von 4,2 f. besser, gibt aber vor allem die Möglichkeit, 2,22 f. und 4,2 f. schlüssig als übereinstimmend zu verstehen. In diesem Sinne kann sehr wohl gesagt werden: „Das Fleisch gehört gerade als Gegenpol des Geistes (Joh 6,63) und als Inbegriff des Irdischen, Vergänglichen zum Wesen Jesu Christi. Im Menschen Jesus von Nazaret kommt Gott zur Welt, und nirgends sonst.“36 Das muß aber keineswegs als Entgegnung gegen das Mißverständnis aufgefaßt werden, das „Kommen Jesu vom Himmel her und, damit korrespondierend, seine Rückkehr zum Vater“ sei nichts „als zeitweiliges Gastspiel eines Geistwesens“.37 Für das hier vorgeschlagene Verständnis spricht, daß der Verfasser kurz vor 4,2 f. seine Adressaten in 3,23 eindringlich darauf hinweist, daß es Gottes Gebot sei, „dem Namen seines Sohnes Jesu Christi zu glauben“. Entsprechend sagt er kurz nach 4,2 f. „daß er (Gott) uns geliebt und seinen Sohn gesandt hat als Sühne für unsere Sünden“ (4,10). Und in 4,14 faßt er die Autorität, in der er seine Adressaten ermahnt, emphatisch so zusammen: „Und wir haben geschaut (Perfekt!) und bezeugen, daß der Vater seinen Sohn gesandt hat als Retter der Welt“ (vgl. Joh 4,42). Daraus folgt im Blick auf die kritische Situation gegenüber den Abtrünnigen: „Wer bekennt, daß Jesus der Sohn Gottes ist, in dem bleibt Gott und er in Gott“ (4,16). Diese Aussagen liegen alle auf der Linie von 2,22 f., wonach die Gegner die Gottessohnschaft Jesu im Sinne der Einheit Jesu mit Gott bestreiten, nicht aber die Inkarnation des Himmelswesens Christus in dem Menschen Jesus. Entsprechend dieser durchweg übereinstimmenden Linie der Argumentation des Verfassers ist auch 5,1 zu verstehen: „Jeder, der glaubt, daß Jesus der Christus ist, ist aus Gott gezeugt.“ Dieser Glaube, heißt es dann 5,4 f., „ist der Sieg, der die Welt überwunden hat. Wer aber ist der, der die Welt besiegt, wenn nicht der, der glaubt, daß Jesus der Sohn Gottes ist?“ Dies wird in 5,6–8 im Blick auf Anfang und Ende der Geschichte Jesu als der Sendung des Sohnes durch den Vater ausgeführt: „Dieser ist es, der gekommen ist durch Wasser und Blut: Jesus Christus.“ (5,6). Mit dem Wasser wird auf seine Taufe verwiesen, mit dem Blut auf seinen Kreuzestod. Sein „Kommen“ vom Vater reicht also über die ganze Zeit 36 H.-J. Klauck, 1. Joh., 233. 37 Ebd.

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seines Wirkens (vgl. 4,2). „Nicht im Wasser allein, sondern im Wasser und im Blut“, das heißt: Auch der Kreuzestod Jesu Christi gehört wesenhaft zum Weg seines „Gekommenseins“ als Gottes Sohn. Wahrscheinlich steht in V. 6b die Erzählung in Joh 19,34 vor Augen: Als die Soldaten dem am Kreuz Gestorbenen mit einer Lanze die Seite öffneten, „kam daraus Blut und Wasser“. Beides symbolisiert dort die in der Kirche bleibende Gegenwart der Heilswirklichkeit des Todes Jesu in den Sakramenten der Taufe und der Eucharistie.38 Bei der Nähe zwischen den beiden Stellen ist ein entsprechender Bezug auch für 1. Joh 5,6 anzunehmen, obwohl er im besonderen Kontext des 1. Johannesbriefes nicht thematisch hervortritt.39 Ein gleitender Übergang von der Ganzheit der Sendungsgeschichte Jesu zu der Heilswirkung der beiden Sakramente, die zusammen ihre ,Quelle‘ im Tode des Menschensohnes haben (vgl. Joh 3,1–21 und 6,51–58), läßt sich gut von daher erklären, daß nach urchristlicher Anschauung in der Taufe Jesu die christliche Taufe gründet (Jesus selbst ist der Täufer: Joh 1,33), und in seinem Kreuzestod die Vergebung der Sünden (Joh 1,29) und die Teilhabe am ewigen Leben (Joh 1,51 ff.). In V. 6c tritt zu Wasser und Blut der Geist hinzu als der „Zeuge“ der Wahrheit dieses Heilsgeschehens in Jesu Leben und Sterben. Und in V. 7 f. wird die Einheit zwischen diesen Dreien betont: Ihr Zeugnis stimmt überein. Denn sowohl im Wasser wie im Blut wie im Geist geht es übereinstimmend um das Zeugnis Gottes, das er bleibend „über seinen Sohn“ gibt (5,9). Das also ist das letzte und heilsentscheidende Geheimnis, dessen der Glaube in der Geschichte der Sendung Jesu und ihrer „Vollendung“ in seinem Tode am Kreuz (Joh 19,30!) ansichtig wird: die Einheit Gottes mit Jesus. Wer an ihn als Gottes Sohn glaubt, hat dieses Zeugnis Gottes in sich. Wer nicht im Glauben an Jesus an Gott glaubt, „hat Gott damit zum Lügner gemacht, eben weil er nicht geglaubt hat (Perfekt!) an das Zeugnis, das Gott selbst gegeben hat (Perfekt!) über seinen Sohn“ (1. Joh 5,10). Dieses Zeugnis Gottes aber bewirkt im Glaubenden Heil, indem es ihm ewiges Leben gibt. Dieses Leben gibt es nur in Jesus Christus, dem Sohn Gottes (5,11). So gilt die Regel mit ihrer brisant-aktuellen Bedeutung: „Wer den Sohn hat, hat das Leben. Wer den Sohn Gottes nicht hat, hat das Leben nicht“ (5,12). In 5,13 aktualisiert der Verfasser dies noch einmal für seine Adressaten: „Dies habe ich euch geschrieben, damit ihr wißt, daß ihr ewiges Leben habt: als denen, die glauben an den Namen des Sohnes Gottes“ (vgl. 3,23 sowie Joh 20,31!). Der Name Jesu Christi, des Sohnes Gottes, wird im Taufbekenntnis ausgesprochen (vgl. 2,12; 1. Kor 6,11; Phil 2,9–11; Apg 2,38; 38 Dazu vgl. U. Wilckens, Joh., 300 f. 39 Gegen H.-J. Klauck, 1. Joh., 297 f.

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8,37). In der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit den Gegnern geht es im Kern darum, daß in diesem Namen Jesu als des Sohnes Gottes der Name Gottes selbst gegenwärtig und heilswirksam ist. Dies wird im Schlußsatz 5,20 noch einmal in einer besonders dichten Formulierung zusammengefaßt:40 „Wir wissen aber: Der Sohn Gottes ist gekommen und hat uns Einsicht gegeben, den Wahrhaftigen zu erkennen. Und wir sind in dem Wahrhaftigen, in seinem Sohn Jesus Christus: Dieser ist der wahrhaftige Gott und ewiges Leben.“ Das „Wissen“ ist das des Glaubens, das nach 2,26 f.; 4,2 f. das des Geistes in uns ist, das „Zeugnis“ des Geistes (5,6). Sein zentraler Inhalt ist, daß Jesus als der Sohn Gottes seinen irdischen Sendungsweg gegangen (von Gott „gekommen“41) ist. Zugleich ist er es, der uns auch die Einsicht „gegeben hat“ (Perfekt!), den „wahren“ Gott zu erkennen, nämlich den einzig-einen Gott, neben dem es keinen anderen gibt.42 Damit dürfte der Autor Joh 17,3 aufnehmen.43 Diese christliche Gotteserkenntnis ist eine Wirkung des Geistes „in uns“, so daß wir im Innersten unseres Selbst an der Wirklichkeit Gottes teilhaben (vgl. Joh 17,21). Dabei hebt der Verfasser darauf ab, daß es der „wahre“, einzig-eine Gott und „sein Sohn Jesus Christus“ ist, an dem wir teilhaben. Das ist es, was dem christlichen Glauben seine exklusive Wahrheit gibt: „Wir sind in Gott, indem wir in Christus sind“,44 während dagegen die Welt „im Bösen liegt“ (V. 19). Denn der einzig-eine Gott in seiner Wahrheit hat sich selbst so ganz und endgültig in Jesus Christus, seinem Sohn, offenbart, daß es das Bekenntnis zu Gott nur im Bekenntnis zu Christus gibt und geben kann. Jesus Christus ist darum selbst „der wahre Gott“ und „das ewige Leben“, an dem wir im Glauben an ihn teilhaben.45 Dieser letzte Satz in V. 20 klingt wie ein triumphaler Schlußakkord, mit dem die Gegner endgültig ins Unrecht gesetzt sind. Auch mit dieser Aussage nimmt der Verfasser entsprechende Spitzenaussagen des Johannesevangeliums auf (Joh 1,1.18): Da es sich um einen Bekenntnissatz handelt, steht zweifellos das Bekenntnis des Thomas Joh 40 Ob 5,14–21 zum ursprünglichen Text des 1. Johannesbriefes hinzugehört oder ein sekundärer Zusatz ist, ist bis in die Gegenwart hinein strittig. Vgl. einerseits G. Strecker, Joh.briefe, 293 f., andererseits H.-J. Klauck, 1. Joh., 318 f. M. E. sprechen die gewichtigeren Gründe für die Ursprünglichkeit. 41 Zu §kei vgl. Joh 8,42. Der Sinn ist der gleiche wie in 4,2. 42 Zu ålv®iní™ in diesem Sinn und Kontext vgl. 1.Thess 1,9; 1. Kor 8,4–6; Gal 4,8 f. Das Gottesprädikat „der Wahre“ findet sich in LXX: Jes 65,16; 1.Esr 1,86; 3.Makk 2,11; 6,18, sowie oft in der jüdisch-hellenistischen Literatur. Durchweg liegt das zentrale jüdische Glaubensbekenntnis Dtn 6,4 und das entsprechende 1. Dekaloggebot zugrunde. 43 So H.-J. Klauck, 1. Joh., 338, der auch auf Joh 1,9; 6,32; 15,1 und Offb 3,7.14; 19,11 hinweist. 44 H.-J. Klauck, 1. Joh., 339. 45 oÓto™ kann sich, dem Skopos des ganzen Satzes entsprechend, nur auf „Jesus Christus“ beziehen; so mit Recht z. B. G. Strecker, Joh.briefe, 310 Anm. 59.

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20,28 im Blick, das dort ja zugleich zum Bekenntnis aller Christen in die Zeit der Kirche hinein geöffnet wird, die an Jesus, den Christus, als Gottes Sohn glauben (Joh 20,31) ohne ihn zu sehen (20,29), weil sie sich an das Zeugnis der Jünger, die ihn gesehen haben, als „das wahre Zeugnis“ (Joh 21,24) halten dürfen (vgl. 1. Joh 1,1 ff.). Daß der Autor sich auf Joh 20,31 bezieht, zeigt sich an der Doppelung, daß Jesus Christus „der wahre Gott“ und als solcher zugleich „ewiges Leben“ ist. Zu diesem abschließenden Höhepunkt der ,Klärung des Bekenntnisstandes‘ fügt der Verfasser eine Schlußmahnung hinzu, deren Dringlichkeit ebenso deutlich wie das konkret Gemeinte unter den Exegeten umstritten ist.46 Es ist allerdings ganz unwahrscheinlich, daß es sich hier plötzlich um eine Warnung vor Teilnahme an jeglicher Art von heidnischen Opferritualen47 handeln sollte.48 So „unvermittelt“ kann der Verfasser sein Schreiben nicht abschließen, das von Anfang bis Schluß thematisch einheitlich vor der Ablehnung des christologischen Bekenntnisses und den Konsequenzen in der Praxis des gegenseitigen Verhaltens theologisch wie seelsorgerlich eindringlich warnt.49 Ein Zusammenhang mit V. 20 und damit ein Bezug auf die Gegner muß auf jeden Fall angenommen werden. Das bedingt freilich ein metaphorisches Verständnis von e¥dwlon.50 Für einen metaphorischen Wortgebrauch gibt es aber in der griechisch-sprachlichen Literatur offenbar keine Belege. Ein, wenn auch kleines, traditionsgeschichtliches Rinnsal läßt sich jedoch immerhin erkennen. Es hat eine doppelte Quelle im Alten Testament. In Dtn 29,15–20 wird Israel nochmals davor gewarnt, in dem ihm geschenkten Lande den Göttern der dortigen Völker zu dienen. Dies darf auch nicht heimlich nach individuell-eigenem Ermessen geschehen. Hier wird das 1. Dekaloggebot dem Gewissen des einzelnen Israeliten 46 Vgl. die Zusammenstellung von nicht weniger als zehn verschiedenen Deutungen bei R. E. Brown, The Epistles of John, 627 f. 47 Vor allem ,Götzenopfermahlzeiten‘ 1. Kor 8,1–13; 10,14–33 oder Geschäften, in denen das unter Opferhandlungen geschlachtete Fleisch verkauft wurde (1. Kor 10,25). 48 E. Stegemann, „Kindlein, hütet euch vor den Götterbildern“, 284–294 vertritt von dieser Schlußwarnung aus die These, daß der Brief als ganzer sich überhaupt nicht gegen Irrlehrer richte, sondern in einer akuten Situation staatlicher Christenverfolgung die Christen vor den verlangten Kaiseropfern zu warnen und zum mutigen Bekennen des Namens Jesu Christi zu ermutigen suche. Diese Vermutung ist frei erfunden und hat m. E. am Text nur insoweit überhaupt einen Anhalt, als das Wort e¥dwlon in LXX und entsprechend in jüdischer und urchristlicher Literatur allgemein terminus technicus für heidnische Götterbilder ist, deren Verehrung Gläubigen prinzipiell und strikt verboten ist. 49 H.-J. Klauck, 1. Joh., 341.343, der der Hypothese von E. Stegemann (s. o. Anm. 48) zuneigt, sucht eine Verbindung zur Briefsituation durch die freie Vermutung herzustellen, die Gegner mit ihren „gnostischen Neigungen“ könnten „eine äußerliche Beteiligung am heidnischen Kult für ungefährlich“ gehalten haben. Dagegen G. Strecker, Joh.briefe, 311 f. 50 So u. a. R. Bultmann, Joh.briefe, 93 f.

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eingeschärft. Darin liegt der Anfang einer Verinnerlichung der Gebotsbewahrung, die dann der Prophet Ezechiel mit dem ihm eigenen Interesse (vgl. Ez 18!) konkretisiert: „Wenn Jemand aus dem Haus Israel die Götzen in sein Herz eingeschlossen und sie vor sich aufgestellt hat, was für ihn der Anlaß geworden ist, in Schuld zu fallen, und wenn er dann zum Propheten kommt, dann werde ich, Jahwe, dem, der mit seinen vielen Götzen zu mir kommt, in eigener Person antworten“, nämlich so, daß er aus der Gemeinschaft „ausgemerzt“ werden soll (Ez 14,4.7 f.). Auch hier geht es um heimlichen, privaten Götzendienst. Dessen Ort ist das Herz des einzelnen Israeliten. So wie seit dem Abfall am Fuße des Gottesberges (Ex 32) das Volk immer wieder Götzenbilder aufgestellt und sie angebetet hat, so stellt ein heimlicher Abtrünniger das Götzenbild in seinem eigenen Herzen auf, dessen Tür er gleichsam nach außen zuschließt, um darin, verborgen gegenüber den anderen draußen, seinem eigenen Götzen zu dienen. Daß Gott jedoch auch solche heimlichen Abtrünnigen in seinem zukünftigen Reinigungshandeln an seinem Volk nicht in ihrer Unreinheit verderben läßt, gehört zu der eschatologischen Heilsverkündigung dieses Propheten (Ez 37,23).51 Davon werden jedoch die Leviten, die solchen Götzendienern geholfen haben, ausgenommen (Ez 44,12). Beide Stellen aus Dtn 29 und Ez 14 hat schließlich die Qumrangemeinde in ihrer Gemeinderegel aktualisierend auf Abtrünnige in den eigenen Reihen bezogen: „Verflucht sei der, der mit den Götzen seines Herzens übertritt, wenn er in diesen Bund eintritt und den Anstoß seiner Sünde vor sich hinstellt, um dadurch abtrünnig zu werden!“ (1 QS 2,11 f.). Ein solcher heimlicher Götzendiener, der sich zu Unrecht in die Gemeinde eingeschlichen hat, soll „ausgerottet werden aus der Mitte aller Söhne des Lichtes, weil er abtrünnig geworden ist von Gott durch seine Götzen und den Anstoß seiner Sünde“ (ebd., 16 f.). Hier ist die Verinnerlichung der „Götzenbilder“ so radikalisiert, daß jedwede Gesetzesübertretung, die im Herzen getrieben wird, zum Mittel wird, mit dem der Betreffende sich schuldig und unrein macht. Der Begriff des Götzenbildes ist tatsächlich metaphorisiert.52 In diesem Sinne läßt sich nun 1. Joh 5,21 als Warnung verstehen, der Verführung der abtrünnigen Gegner zu verfallen. Ihre Bestreitung des christologischen Bekenntnisses ist der Sache nach in der Tat vollauf 51 H.-J. Klauck, 1. Joh., 342 weist auf die LXX-Übersetzung von Ez 37,23 hin: „Sie werden sich nicht mehr unrein machen durch ihre Götzen und Greuel und durch all ihre Untaten.“ LXX übersetzt „ihre Götzen“ durch Én toû™ eÜdÈloi™ a«tÂn! In 4Q 1,17 wird dies auf „die Söhne Zadoqs, die ihren eigenen Rat suchen“, gedeutet. 52 Vgl. dazu H.-J. Klauck, 1. Joh., 342 im Anschluß an W. Nauck, Die Tradition und der Charakter, 137 f.

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Götzendienst. Und wie in der Regel der Qumrangemeinde ein abtrünnig gewordenes Mitglied als von Anfang an Pseudomitglied gilt, so „entlarven“ sich die Mitglieder der johanneischen Gemeinde, die jetzt das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem Sohn Gottes, bestreiten, durch solches Tun selbst als Abtrünnige, die in Wahrheit zur Gemeinschaft von Anfang an nicht hinzugehörig gewesen sind (2,19; 4,3; 5,18). Daß der Verfasser in V. 21 vor ihrem Götzendienst warnt, ist als Folge aus V. 20 völlig konsequent. Denn wer den Sohn Gottes leugnet, leugnet eben damit auch den Vater und verstößt so gegen das 1. Gebot in jener Auslegungstradition, nach der die Absage des Herzens gegen Gott innerlicher Götzendienst ist. Das wird durch den zugespitzten Schlußsatz in V. 20, der Jesus Christus als „den wahrhaftigen Gott“ herausstellt, geradezu vorbereitet. Zugleich ist V. 21 ein harter Affront gegen die Gegner. Wenn diese das Bekenntnis der Gemeinde zu Jesus als Sohn Gottes ihrerseits als Verletzung des 1. Gebots ablehnen und die Gemeindeglieder zu diesem Urteil zu „verführen“ suchen, so ist ihnen entgegenzuhalten, daß im Gegenteil ihr Anliegen der Reinerhaltung des 1. Gebots gegen das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem einzigen Sohn des einen Gottes, in Wahrheit Götzendienst ist, und ihr Bestreben, ihre Schwestern und Brüder in der Gemeinde aus dem Götzendienst ihres Christusbekenntnisses herauszubringen, nichts anderes als Verführung zum Götzendienst im Dienst des Anti-Christus als des Feindes Gottes. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf 2. Joh 7 f. Die Nähe zu 1. Joh 4,1–3 zeigt, daß hier die gleichen Gegner im Blick stehen wie dort. Auch hier sind es „viele“ Verführer (vgl. 1. Joh 2,18.26), die „in die Welt herausgekommen sind“ (vgl. 1. Joh 2,18). Und wie in 1. Joh 2,28; 4,3 ist es „der Anti-Christus“, der in ihrem Treiben sein Werk treibt. Vor allem bestreiten diese Verführer auch hier wie in 1. Joh 4,2, daß „Jesus Christus im Fleisch kommt“. Die sprachliche Differenz (hier Präsens, dort Perfekt) kann angesichts der inhaltlichen Übereinstimmung keine sachliche Differenz sein. Im Präsens hat sich wohl der prophetische Aspekt, daß Jesus der ist, „der da kommen soll“ (vgl. Joh 12,13), lehrmäßig verfestigt.53 Ob das Präsens zugleich im Sinne bleibender Gegenwart des 53 Vgl. auch Joh 4,25;11,27 sowie Ércímeno™ Joh 3,31. So zuletzt H.-J. Klauck, 2. u. 3.Joh., 54 f. Ein sprachlich mögliches futurisches Verständnis des Präsens scheidet aus. Abwegig erscheint mir die Theorie, die G. Strecker, Joh.briefe, 335–337 darauf aufbaut: Der Verfasser des 2. Johannesbriefes vertrete „die chiliastische Vorstellung eines messianischen Zwischenreiches“, in dem Jesus „im Fleisch“ auf die Erde zurückkehren werde. Darin erweise sich, daß der 2. Johannesbrief ein früheres, stark apokalyptisches Stadium der Theologiegeschichte der ,Johanneischen Schule‘ repräsentiere, in dem diese der entsprechenden Sicht der Offb sehr nahegestanden habe. Mit dieser Hypothese bereitet sich Strecker eine ganz unnötige Schwierigkeit, so auch die Position der Gegner in 2. Joh von der in 1. Joh verschieden deuten zu müssen – der völligen Übereinstimmung des Motivzu-

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Erhöhten im Zeugnis seines irdischen Sendungsweges „im Fleisch“ durch den Geist (vgl.1. Joh 4,2 sowie Joh 14,16 f.26; 15,26; 16,13–15) und seiner sakramentalen Gegenwart in der Eucharistie (vgl. Joh 6,51 ff.) gemeint ist, kann hier offen bleiben. Jedenfalls steht mit der Irrlehre der „Verführer“ in 2. Joh 7 genau das Gleiche im Blick wie in 1. Joh 4,1–3. Entsprechend scharf ist auch hier die Warnung des Verfassers vor ihnen. Es geht darum, des Heilstandes nicht verlustig zu gehen (V.8) und in der Lehre des Anfangs zu bleiben, weil nur der, der den Sohn hat, den Vater haben kann (V. 9 vgl. 1. Joh 2,22–25; 4,15; 5,20). 1.4. So zeigt eine genaue Sichtung aller Stellen in den Johannesbriefen, an denen der Verfasser die Gegner explizit bekämpft bzw. die Gemeinde über sie aufklärt und vor ihnen warnt: Durchweg ist es nicht ein „doketistisches“ Interesse gnostischer Gegner, den wesenhaften Unterschied zwischen dem transzendenten Gottessohn und dem „fleischlichen“ Jesus zu bewahren gegenüber der inkarnatorischen Tendenz johanneischer Christologie, das der Brief als Irrlehre brandmarkt, der entgegen besonders zu betonen sei, daß der Sohn Gottes „im Fleisch gekommen“ ist (4,2 f.). Vielmehr ist das Interesse der Gegner elementar jüdisch. Es geht ihnen um die Wiederherstellung der Einzigkeit Gottes im Sinne des schema’-jisrael, die durch die johanneische Christologie der wesenhaften Einheit Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus gravierend verletzt werde. Diese Lehre einer trinitarischen Einheit Gottes zu bekämpfen und den Glauben der Christen auf die Basis der exklusiven Einzigkeit Gottes – gerade auch in seinem Verhältnis zum Menschen Jesus – wieder zurückzuführen, das war das Ziel der Gegner.

2. Die in den Briefen des Ignatius bekämpften Gegner 2.1. Die Gegner, vor denen Ignatius die Gemeinden in seinen Briefen warnt, haben manche Züge mit den Gegnern des 1. Johannesbriefes gemein, wie auch seine eigene Theologie ,johanneische Züge‘ zeigt. Doch sind auch beiderseits Unterschiede nicht zu verkennen. sammenhanges hier und dort zum Trotz. Übrigens sind die Texte aus dem Barnabasbrief, die er als Parallelen zitiert (ebd. 336), Belege für jenes Reden vom „Kommen“ Jesu „im Fleisch“ aus dem prophetischen Aspekt des Alten Testaments; vgl. zu 6,9; 6,7 (wo mìllonto™ im Sinne dieses Aspektes gemeint ist); ebenso 7,9. In der ,chiliastischen‘ Stelle 15,4 f. fehlt jede Erwähnung des Fleisches des „kommenden“ Gottessohnes. Dagegen in 6,7 f. und 7,17 ist mit dem „Fleisch“ ganz unpolemisch die irdische Zeit Jesu gemeint! Gegen Streckers Hypothese vgl. zuletzt auch J. Frey, Eschatologie III, 63–66, der jedoch ebd., 66 ebenfalls Ércímenon futurisch auffaßt und so 2. Joh 7 wie 1. Joh 2,28 als „Beleg für die Parusieerwartung“ interpretiert.

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An einigen Stellen sind die „Heterodoxien“ deutlich jüdisch geprägt. Im Blick auf sie stellt Ignatius in Magn 8,1 „Judentum“ und „Christentum“ geradezu generell als ausschließende Gegensätze gegenüber (vgl. auch 10,3). Dabei betont er 8,2 „daß ein einziger Gott ist, der sich durch Jesus Christus, den Sohn Gottes, offenbart hat“. Daraus muß man schließen, daß diese Irrlehrer die Unvereinbarkeit des Glaubens an den einzig-einen Gott mit dem Glauben an Jesus als Gottes Sohn vertreten haben. Entsprechend formuliert Ignatius Magn 10,1 diesen Gegensatz so, daß es „der Name“ Christi ist, auf den das erste Dekaloggebot zutrifft: ª™ gär ëllw ñnímati kaleûtai plìon to‹tou, o«k Éstÿn toø ®eoø! Was wir als Position der Gegner des 1. Johannesbriefs vermutet haben, tritt hier offen hervor. Wenn Ignatius Magn 11 den Namen Christi im Blick auf seinen ganzen Weg von seiner Geburt und Taufe bis zu seinem Leiden unter dem römischen Statthalter Pontius Pilatus ausführt, so sind dies offenbar Elemente eines Glaubensbekenntnisses,54 mit denen Ignatius die geschichtliche Wirklichkeit des „Namens“ Jesu Christi bekräftigt. Nichts spricht hier dafür, daß „wahrhaftig und sicher“ (ålvh™ kaÿ bebaùw™) eine doketistische Gegenposition im Visier hat. Im Brief an die Philadelphier werden die gleichen Gegner bekämpft: Es sind „Unbeschnittene“, die mit „Beschnittenen“ zusammen „das Judentum“ vertreten (6,1), und mit „schlechter Lehre“ Christen zum „Judentum“ zu verführen suchen, wie Wölfe Schafe aus der Herde wegrauben (2,1 f. vgl. Joh 10,12!). Ignatius zitiert als ihre Forderung: „Wenn ich es nicht in den Ur-kunden finde, – im Evangelium (allein) glaube ich es nicht!“ (8,2). Damit werden die Schriften des Alten Testaments als tä årceûa, das heißt, als die „alten“, ursprünglichen und als solche maßgeblichen Glaubensurkunden gegenüber der christlichen Lehre des „Evangeliums“ als die allein maßgebliche Autorität reklamiert. Die christliche Gegenthese lautet, daß alles, was in den „Ur-kunden“ (der Schrift) steht, von Jesus Christus handelt, von seinem „Kreuz, seinem Tod, seiner Auferstehung und dem durch ihn begründeten Glauben“: „Die (von Gott) geliebten Propheten haben auf ihn hin verkündigt“ (9,2 vgl. Apg 10,43). Die Autorität der Schrift wird also keineswegs bestritten oder relativiert, wohl aber als ganze für das Evangelium in Anspruch genommen. Auf grundsätzlich der gleichen Linie hält sich die Polemik im Epheserbrief. Ignatius warnt hier vor Irrlehrern, die umherziehen (7,1; 9,1) und das „Haus“ der Gemeinde zu zerstören suchen (16,1). Er charakterisiert sie zwar nicht ausdrücklich als Vertreter des „Judentums“; doch wird deutlich, daß sie die christologische Mitte des Evangeliums bestreiten und den Christen an seiner Stelle „schlechte Lehre“ aufzudrängen 54 Zur Analyse vgl. M. Elze, Überlieferungsgeschichtliche Untersuchungen, 31 f.

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suchen (9,1). Wenn er ihnen entgegensetzt: „Einer ist Arzt,55 fleischlich und geistlich zugleich, gezeugt und ungezeugt, im Fleisch (v.l. Én ån®rÈpD) gewordener Gott (vgl. 1. Joh 5,20!), im Tod wahrhaftiges Leben, aus Maria und aus Gott, zuerst leidensfähig, dann leidensunfähig“ (7,2 vgl. Pol 3,2)56, so geht das in der Sache über 1. Joh 4,2 und 1.Tim 3,16 nicht hinaus. Das aus philosophischer Sprache zuletzt hinzugesetzte Gegensatzpaar muß nicht gegen eine doketistische Position zielen, sondern soll nur den Skopos der Gesamtaussage für hellenistische Ohren verstärken: In Jesus Christus ist Gott ganz und gar gegenwärtig; ja „im Fleisch“ dieses „Menschen“ ist Gott „Gott geworden“ (7,2), indem in ihm „Gott auf menschliche Weise (ånhrwpùnw™)“ erschienen ist (19,3). Nur darum ist es die göttliche Heilsgabe des wahren Lebens, die die an Jesus Christus Glaubenden empfangen (vgl. 19,3). Entsprechendes gilt so auch für das Leben der Christen. Sie sind ineins ®eofíroi und cristofíroi (9,1 f.). Gleiches sagen die Aussagen in Eph 18 f.57 2.2. Ein anderes Bild gewinnt man von den Gegnern, die Ignatius in seinen Briefen an die Trallianer und Smyrnäer bekämpft. Hier taucht das Stichwort dokein in deren Munde explizit auf (Trall 10,1; Smyrn 2,1; 4,2); und dieser Anschauung von einem nur scheinbaren Menschsein Jesu Christi und von seinem nur scheinbaren Leiden gilt der leidenschaftliche Widerspruch des antiochenischen Bischofs. Ganz elementar gehört es zum christlichen Glauben, daß Jesus Christus „wahrhaftig“ (ålv®Â™) aus Maria geboren, „wahrhaftig unter Pontius Pilatus (straf-)verfolgt, wahrhaftig gekreuzigt worden und gestorben ist“. Augenzeugen dessen sind „die Himmlischen, Irdischen und Unterirdischen“ (vgl. Phil 2,10; Eph 3,10), also schlechthin alle. Und entsprechend „wahrhaftig“ ist er auch auferweckt worden, „wobei es sein Vater (selbst) ist, der ihn auferweckt hat, wie er auch uns, die ihm glauben, auferwecken wird“ (Trall 9,1 f.). Während Ignatius die Trallianer vor diesen teuflischen Irrlehrern lediglich vorsorglich warnt (8,1), polemisiert er im Brief an die Gemeinde in Smyrna gegen die gleichen Gegner, mit denen die Christen dort es offenbar bereits direkt zu tun haben (4,1; 6,1 f.). Er lobt zwar zu Beginn 55 Die nahezu titulare Bezeichnung Christi als „Arzt“ ist in altkirchlicher Literatur verbreitet, vgl. H. Paulsen, Die Briefe des Ignatius, 33. Dabei ist nicht zu übersehen, daß ursprünglich die Selbstprädikation Gottes in Ex 15,26 (LXX); Dtn 30,3; 32,39; y 102,3; 106,20; 146,3 zugrundeliegt, was Ignatius noch bewußt sein dürfte. 56 Zur formalen und inhaltlichen Analyse vgl. M. Elze, Untersuchungen, 44–47. 57 Zu 18,2 und 19,1 vgl. die Analyse von M. Elze, Untersuchungen, 5–9. Es handelt sich um eine ältere Formel (vgl. Röm 1,3 f.), die von Ignatius mit der ihm vertrauten Prädikation Jesu Christi als „unser Gott“ eingeführt wird (vgl. Ign. Eph inscr; 15,3; Röm inscr; 3,3; 6,3; Pol 8,3; sowie ohne ÃmÂn Trall 7,2; Smyrn 10,1). Dazu der Exkurs von H. Paulsen, Die Briefe des Ignatius, 23 f.

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die Standfestigkeit der dortigen Christen im Glauben, in der sie sich mit dem Herrn Jesus Christus in seiner wahren Menschheit verbunden erfahren, in der er von Johannes getauft und unter Pontius Pilatus und Herodes „für uns im Fleisch angenagelt“ worden ist, so daß wir selbst an seinem Kreuz mit angenagelt sind (Smyrn 1,1 f.). Doch gleich danach kommt Ignatius auf die Hauptthese der „Ungläubigen“ zu sprechen, Jesus Christus habe nur zum Schein gelitten, – während er doch um unseres Heiles willen „wahrhaftig gelitten hat“ (2). Ja, sogar nach seiner Auferstehung war er „im Fleisch“ und hat sich von „denen um Petrus“ berühren lassen. Nur dadurch daß die Jünger mit seinem Fleisch wie mit seinem Geist verbunden waren, sind sie der Übermacht des Todes entronnen. Und nur weil der Auferstandene mit ihnen gegessen und getrunken hat „als Fleischlicher, obwohl er geistlich mit dem Vater geeint war“ (3,1–3), kann man an seiner Liebe teilhaben. Wäre sein Leiden bloßer Schein, dann wäre ja auch das Leiden des Märtyrers Schein. „Nur im Namen Jesu Christi“ gilt und kann erfahren werden (Eph 11,1): „Nahe dem Schwert, nahe zu Gott; mitten unter wilden Tieren mitten bei Gott“ (4,2). Die Gegner, die Christus nicht „als Fleischträger bekennen“ wollen (5,2), befinden sich in totaler Unkenntnis; sie lassen sich weder von den Propheten und dem Mosegesetz noch auch „bis jetzt“ vom Evangelium überzeugen (5,1 vgl. 7,2). Selbst die Engel im Himmel verfallen dem Gericht, „wenn sie nicht an das Blut Christi glauben“ (6,1). Die Smyrnäer sollen lernen: „Die, die eine falsche Ansicht vertreten im Blick auf die Gnade Jesu Christi, die zu uns gekommen ist, befinden sich im Gegensatz zum Sinn Gottes“ (6,2). Infolge ihrer Irrlehre bleiben die Gegner der Eucharistie und dem Gebet fern, „weil sie nicht bekennen, daß die Eucharistie das Fleisch unseres Heilands Jesus Christus ist (vgl. Joh 6,51c), das (!) für unsere Sünden gelitten hat, das der Vater durch seine Güte auferweckt hat“ (7,1). Es ist deutlich: Die „Doketisten“, die Ignatius in diesen beiden Briefen bekämpft, können keine Juden bzw. jüdisch denkende Christen sein. Sie lehnen das Bekenntnis zu Jesus Christus nicht deswegen ab, weil seine Gottessohnschaft der Einzigkeit Gottes widerstreite, sondern seine Inkarnation, sein Leiden ist ihnen zuwider; das Essen seines Fleisches und das Trinken seines Bluts in der eucharistischen Mahlfeier ist ihnen zuwider. Und sie lehnen das Evangelium nicht ab, weil allein der Schrift Lehrautorität zukomme, sondern sie lehnen die Schrift ebenso ab wie das Evangelium. Es können nur hellenistisch denkende Leute sein, für die eine Gottheit, die so fleischlich-elend gelitten hat und am Kreuz gestorben ist, wie es das Evangelium verkündet, ein Widerspruch in sich ist, und gar ein Kult, in dem es um Anthropophagie geht, ein ästhetischer Greuel. Da diese Gegner aber von Gemeinde zu Gemeinde ziehen, müssen sie selbst Christen sein und ihrerseits den wahren christlichen Glau-

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ben gegen die verderblichen Irrtümer sarkischer Perhorreszierung in den Gemeinden durchzusetzen suchen. Leider läßt Ignatius von ihrer „anderen Lehre“ (Smyrn 6,2) inhaltlich nichts wissen. So läßt sich nur völlig frei vermuten, Jesus könne für sie ein weiser Lehrer gewesen sein, etwa wie der, der im Thomasevangelium zur Sprache kommt, (in dem vom Leiden Jesu nichts auch nur angedeutet wird!). 2.3. Welches Verhältnis zwischen jenen jüdisch denkenden und diesen spiritualistisch gesinnten Gegnern besteht, ja, ob sie überhaupt miteinander in einem Verhältnis gestanden haben, ist gleichfalls eine unbeantwortbare Frage. Auch hier mag mit historischer Fantasie vermutet werden, völlig ausgeschlossen müsse es nicht sein, daß diese so verschiedenartig denkenden Christen im Kampf gegen die so massive Verbindung von Göttlichem und Menschlichem in Jesus Christus, wie sie Ignatius so emphatisch vertrat, ein Bündnis eingegangen sein können. Immerhin galt der jüdische Monotheismus in gebildeten hellenistischen Kreisen als respektable Religion, und es hat viele gebildete Juden gegeben, die den Glauben an Gott als ganz und gar vernünftige Sache plausibel zu machen verstanden. Was sich aber aus einem Vergleich zwischen dem 1. Johannesbrief und den Ignatiusbriefen mit Sicherheit ergibt, ist dies: Die deutliche Verschiedenheit der von Ignatius bekämpften Irrlehrer untereinander muß bei der Verhältnisbestimmung zu den Gegnern, vor denen der Presbyter seine Gemeinden warnt, konsequent berücksichtigt werden. Wie es z. B. nicht angeht, nur wegen der Betonung der Einheit von Fleisch und Geist, Menschlichem und Göttlichem in der Gestalt Jesu Christi in Eph. 7,2 und Pol 3,2 und seiner sarkisch-wirklichen eucharistischen Gegenwart in Philad 4 die in diesen Briefen bekämpften Irrlehrer mit den doketistisch denkenden in Trall. 9–11 und Smyrn. 1–7 zu identifizieren, so ist es auch methodisch unangemessen, aus dem gleichen Grund in 1. Joh 4,1–3 wie selbstverständlich doketistische Irrlehrer angegriffen zu sehen. In Trall. und Smyrn. nennt Ignatius nicht nur explizit dokeûn als Stichwort der Gegner58 und führt einige ihrer Lehren und Verhaltensweisen an, sondern seine Argumentation gegen sie hat hier auch einen gegenüber Eph 7 besonderen Skopos. Er betont dort einseitig die Wirklichkeit des Sarkischen an Jesus Christus von 58 Dagegen ist sehr zu beachten, daß in Pol 3,1 dokoønte™ nicht im Sinne eines ,Doketismus‘ zu verstehen ist, sondern wie Gal 2,6 zu übersetzen ist: „Die sich anmaßen, vertrauenswürdig zu sein und falsche Lehren verbreiten“; gegen die Übersetzung von J. A. Fischer, Schriften des Urchristentums I, Darmstadt 1959, 219 („dem Scheine nach“) sowie auch W. Paulsen, Die Briefe des Ignatius., 103 („die vertrauenswürdig zu sein scheinen und doch Irrtümer verbreiten“).

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seiner Geburt bis vor allem zu seinem Leiden, Sterben und Auferstehen, weil eben diese von den Gegnern abgelehnt wird, während es in Eph 7,2 wie in 1. Joh 4,2 f. die Einheit Jesu mit Gott ist, der das eigene theologische Interesse des Verfassers gilt, weil an der untrennbaren Verbindung von Fleisch und Geist (Eph 7,2) sowie an der göttlichen Sendung des „im Fleisch gekommenen“ Gottessohnes (1. Joh 4) die Erlösung als Teilhabe irdischer Menschen am göttlichen Leben hängt. Gleiches gilt für das Interesse, daß es „das eine Fleisch unserer Herrn Jesus Christus“ ist, und der eine Becher zur Einung mit seinem Blut, das die eine Opferhandlung ist, in der der eine Bischof mit dem Presbyterium und den Diakonen gemeinsam „Gott entsprechend“ handelt. Dem entspricht das Interesse in Joh 6,53 ff. an der wirklichen Einung mit dem Fleisch und Blut des Menschensohnes Jesus in wechselseitigem In-Sein („er bleibt in mir und ich in ihm“ V. 56). Jedenfalls geht es nicht an, die von Ignatius bekämpften ,Doketisten‘ pauschal als hermeneutisches Vorbild für die im 1. Johannesbrief bekämpften Gegner zu benutzen, wie dies noch heute vielfach geschieht. Bei einem differenzierten Vergleich freilich zeigen sich manche Gemeinsamkeiten dort, wo es sich um die jüdisch denkenden Gegner des Ignatius handelt. Deren Interesse ist grundsätzlich das gleiche wie bei den Gegnern des 1. Johannesbriefes: Die gesteigerte Göttlichkeit in der Person und Geschichte des Menschen Jesus wird als Verletzung der Einzigkeit Gottes kritisiert bzw. abgelehnt. Allerdings ist auch zu beachten, daß charakteristische Züge dieser Gegner des Ignatius bei den Gegnern des 1. Johannesbriefes fehlen, vor allem die Betonung der alleinigen Autorität der Schrift und die Ablehnung ihrer christologischen Auslegung. Aus der Polemik des Ignatius spricht auch eine grundsätzliche Scheidung zwischen „Judentum“ und „Christentum“, und zwar in einer Selbstverständlichkeit, die den Anschein erweckt, daß es sich um eine bereits traditionell verfestigte Sicht handelt. Davon wird im 1. Johannesbrief nichts sichtbar. Das dürfte aber mit dem judenchristlichen Selbstverständnis der dortigen Gegner zu erklären sein. Das Johannesevangelium, in dem pauschal „die Juden“ als Gegner Jesu auftreten, steht dem Gegensatzpaar Judentum-Christentum bei Ignatius recht nah.

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3. Die in den Sendschreiben der Johannesapokalypse bekämpften Gegner Schließlich müssen wir noch einen Blick auf die in den Sendschreiben der Johannesapokalypse im Visier stehenden Gegner werfen. 3.1. In Philadelphia sind es eindeutig Juden, vor denen der Verfasser den Auferstandenen die Gemeinde warnen läßt (Offb 3,9). Ihr Anspruch, Juden zu sein, ist Lüge: Sie sind in Wahrheit keine Juden; eine „Synagoge des Satans“, nicht eine „Synagoge des Herrn“ (Num 16,3; 20,4; 31,16 vgl. Ps Sal 17,16). Ein Grund dieser überaus scharfen Invektive wird hier nicht genannt. Es dürfte der gleiche sein, aus dem im Brief an die Gemeinde von Smyrna auch die dortige Synagoge als „Synagoge des Satans“ polemisch im Blick steht. Aus ihr heraus hat die Gemeinde der Christen „Bedrängnis und Armut“ erfahren. Dies „weiß“ der Erhöhte ebenso wie „die Blasphemie“ dieser Juden, die der Grund für ihre Verfolgungsmaßnahmen ist (2,9): Sie lästern Gott, indem sie Jesus, den auferstandenen, erhöhten Messias, ablehnen und deswegen die Christen verfolgen, die sich zu ihm bekennen.59 Entsprechend lobt der Erhöhte die Gemeinde in Philadelphia dafür, daß sie sich vom Bekenntnis zu ihm nicht hat abbringen lassen (3,8 o«k ÕrnŒsw tó ºnomâ mou). So zeigt sich in diesen beiden Sendschreiben zunächst eine deutliche Entsprechung zu der Situation, die Ignatius in seinen Briefen an dieselbe Gemeinde in Philadelphia und an die in Magnesia im Blick hat. 3.2. Anders verhält es sich in den Sendschreiben nach Ephesus, Pergamon und Thyatira. Hier sind es christliche Irrlehrer, vor denen der Erhöhte seine Gemeinden warnt. In Eph 2,6 wird deren Name genannt: „Nikolaiten“, Wanderlehrer also, die sich auf Nikolaos, ein Mitglied des siebenköpfigen Führungskreises der antiochenischen Gemeinde in ihrer Anfangszeit (Apg 6,5) berufen (Offb 2,6.15 sowie wohl auch 2,20 ff.). Der übereinstimmende Vorwurf gegen diese Gruppe ist, daß sie Christen zum 59 E. Lohse, Offb., 24 und U. B. Müller, Offb., 106 f. verstehen tÀn blasfvmùan in Offb 2,9 im Sinne von Schmähungen gegen die Christen. Das liegt zwar wegen der Parallelität zu tÀn hlûyin kaÿ tÀn ptwceùan nahe. Da jedoch das Substantiv in Offb 13,1.5 f. Gotteslästerungen des aus dem Meer aufsteigenden Tieres (vgl. Dan 7,3) bezeichnet, und auch das Verb und das Adjektiv im Neuen Testament sonst ganz überwiegend entsprechende Bedeutung haben (vgl. besonders Röm 2,24; Apg 6,11; 1.Tim 1,20; 6,1), ist auch Offb 2.9 so zu verstehen: Diese Juden lästern den Namen Christi und begehen damit, aus christlicher Sicht und hier aus dem Munde des Erhöhten selbst, Gotteslästerung. Daß sie infolgedessen auch die Christen als Gotteslästerer bekämpfen (vgl. Apg 13,45; 18,6; 2.Petr 2,2.10 f.), ist der Grund für das Urteil, daß sie sich damit des Ehrennamens „Juden“ als unwürdig erweisen.

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Essen von Götzenopferfleisch und zu Unzucht verführen (2,14.20). Dies legt die Vermutung nahe, daß diese Irrlehrer die Forderungen des sogenannten Aposteldekrets für Heidenchristen (Apg 15,29) ablehnten, die dazu dienen sollten, gesetzestreuen Judenchristen gottesdienstliche Tischgemeinschaft mit unbeschnittenen gojim zu ermöglichen.60 Sie wollten also diese Barriere zur hellenistischen Umwelt beseitigen. Die Polemik der drei Sendschreiben gegen diese Irrlehrer bedeutet: „Johannes fordert kompromißlos die totale Abgrenzung von allem heidnischen Wesen“.61 Wenn es sich so verhält, dann ist zwischen der antihäretischen Zielrichtung in den drei Sendschreiben nach Ephesus, Pergamon und Thyatira und der antijüdischen Zielrichtung in den beiden Sendschreiben nach Philadelphia und Smyrna zu unterscheiden. Nach beiden Seiten aber zeigt sich die Position eines selbstbewußten Judenchristentums, das sich ebenso gegenüber einem christenfeindlichen Judentum62 wie zugleich gegenüber Tendenzen zu einer Aufweichung der Abgrenzung der christlichen Gemeinde von der heidnischen Umwelt zur Wehr setzt. 3.3. Aber auch Ignatius wendet sich, wie wir gesehen haben, gegen verschiedenartige Gegner. Die antijüdische Zielrichtung seiner Briefe an die Philadelphier und Magnesier stimmt mit der der Sendschreiben an die Smyrnäer und Philadelphier überein. Eine antihäretische Zielrichtung verfolgt Ignatius in seinen Briefen nach Ephesus, Smyrna und Tralles wie der Seher Johannes in den Sendschreiben nach Ephesus, Pergamon und Thyatira. Freilich sind es hier ganz verschiedene Irrlehren, die jeweils bekämpft werden. Doch ist hier wie dort eine hellenistische Denkweise und Tendenz am Werk, die beide Autoren übereinstimmend ablehnen: Christliche Identität gilt es zu bewahren, wie gegen jüdische Bestreitung, so auch gegen alle Assimilation an die hellenistische Umwelt. Wer das Bekenntnis zu Jesus Christus, dem einen Sohn Gottes, ablehnt und als Lästerung des einzig-einen Gottes bekämpft, wird dadurch selbst zum Gotteslästerer und verliert den Ehrennamen eines Juden. Wer jedoch das wirkliche Menschsein des Sohnes Gottes und die „fleischliche“ Realität seines Leidens, Sterbens und Auferstehens leugnet, weil er darin eine Verletzung des rein geistlich-transzendenten Wesens Gottes sieht, der bringt sich und alle Christen, die er für diese Häresie etwa gewinnen kann, um die Wirklichkeit der Erlösung, die eben dadurch geschieht, daß Gott in Jesus Christus selbst ein Mensch geworden ist, um den Menschen am ewigen Heil teilzugeben. 60 Dazu vgl. U. B. Müller, Offb., 97 f. 61 U. B. Müller, Offb., 113. 62 So mit Recht U. B. Müller, Offb., 131 gegen H. Kraft, Offb., 89 f., der in den Briefen nach Smyrna und Philadelphia Polemik gegen eine (pseudo-)judenchristliche Sekte sieht.

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4. Die Gegner im 1. Johannesbrief, in den Briefen des Ignatius und in den Sendschreiben der Johannesapokalypse Vergleicht man nun die Ignatiusbriefe und die Sendschreiben der Johannesapokalypse mit den johanneischen Schriften, so ergibt sich ein zusammenstimmendes Gesamtbild. Bei allen Verschiedenheiten der jeweiligen Denkweise dieser Theologen und auch mancher Inhalte ihrer Position, – eines ist ihnen gemeinsam: Es gehört zur Identität des christlichen Glaubens, den sie vertreten, daß Gott und Jesus, Jesus und Gott wesenhaft eines sind. Für die Theologie der johanneischen ,Schule‘ kommt diese Einheit im Bekenntnis zu Jesus, dem Christus, zum Ausdruck, als dem einzigen Sohn des einzig-einen Gottes, des Vasters, der ihn hat Fleisch werden und im Fleisch, in der vollen Wirklichkeit menschlichen Wesens, den Weg seiner Sendung hat gehen lassen, bis zum Ziel seines Todes am Kreuz und der Erhöhung und Verherrlichung des Gekreuzigten. Der selbe Jesus Christus ist es, der in den Sendschreiben des Sehers Johannes als der Erhöhte zu seinen Gemeinden spricht und sie lobt und ermahnt, am Bekenntnis seines „Namens“ festzuhalten (2,8; 2,18.28; 3,5.21; 2.3.13; 3,12; vgl. Joh 1,12; 2,23; 3,18; 17,6–8; 1. Joh 3,23; 5,13), der ihnen ihre Teilhabe am bevorstehenden Endheil verbürgt. Und eben dieser Jesus Christus, Mensch und Gott zugleich, ist es auch für Ignatius, dessen Geschichte im Fleisch, von seiner Geburt bis zu seinem Sterben und Auferstehen,der Ort der Selbstoffenbarung des einen Gottes in seinem einen Sohn ist, den er darum betont „unseren Gott“ nennen kann (Eph 18,2; Röm inser; 3,3 Smyrn 1,1; 10,1). Im Corpus Johanneum ist dies eine einmalige Spitzenaussage in 1. Joh 5,20. Dies ist das gemeinsame Grundbekenntnis, zu dessen Bewahrung alle drei Autoren die Gemeinden in Kleinasien eindringlich ermahnen. Im 1. Johannesbrief geht es ganz um die Trennung von Gemeindegliedern, die zum Judentum abgefallen sind und weitere bisherige Glaubensgeschwister dorthin abzuwerben suchen. Diese Situation der bedrohlichen Nähe zu einer christenfeindlichen Synagoge stimmt in allen drei Schriftengruppen überein. Die Irrlehrer, die darüber hinaus der Seher Johannes und der Bischof Ignatius bekämpfen, tauchen in den Johannesbriefen noch nicht auf. Es sind auch ganz verschiedenartige Gegner, Vertreter einer Öffnung christlicher Lebenspraxis zur heidnischen Umwelt auf der einen Seite, Lehrer einer doketischen Christologie auf der anderen. Auf diese Weise ließe sich eine Entwicklungsgeschichte im gleichen Kreis christlicher Gemeinden in Kleinasien konstruieren. Der Kampf des Presbyters Johannes gegen Apostaten zum Judentum steht am Anfang. Die feindliche Synagoge in nächster Nachbarschaft bleibt auch weiterhin ein kontinuierlich bedrängendes Problem. Die Trennung von Christen, die

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sich an die heidnische Umwelt assimilieren wollen, ist das besondere Problem des Verfassers der Johannesapokalypse. Daß eine Gemeinde wie die in Smyrna, die sich zur Zeit von Offb 2,8 ff. nur der jüdischen Synagoge erwehren muß, kurze Zeit später von Ignatius gegen doketistische Irrlehrer bestärkt werden muß, ist ein Beispiel dafür, wie rasch sich die Situation dieser Gemeinden verändern kann. Entsprechendes gilt für die Gemeinden, in denen zu der Bedrohung durch die Sekte der Nikolaiten alsbald auch die weitere Gefahr doketistischer Irrlehre hinzugetreten ist.63

5. Die Auseinandersetzung mit den Gegnern im Gesamtkontext des 1. Johannesbriefes „Vorrang gebührt der immanenten Exegese von Text und Kontext“. Nach dieser von K. Berger formulierten Regel64 haben wir uns zur Bestimmung der im 1. Johannesbrief bekämpften Gegner zuerst allein an den Textpartien orientiert, in denen explizit von diesen die Rede ist. Dabei haben wir bewußt vom Kontext dieser Partien abgesehen. In einem weiteren Schritt muß es nun um diese Aufgabe gehen. Denn in der Tat sind Ergebnisse, die man, wie immer sorgsam am jeweiligen Wortlaut der Aussagen orientiert, eben doch aus ausgewählten Textteilen gewonnen hat, erst dann exegetisch vertretbar, wenn gezeigt werden kann, daß sie sich in den Gesamtkontext überzeugend einordnen lassen. Das gilt für den 1. Johannesbrief in besonderem Maße. Denn wenn es bei der Auseinandersetzung mit den Gegnern tatsächlich um den Grund und die Mitte alles Glaubens und Lebens der johanneischen Gemeinde(n) geht, nämlich um die wesenhafte Einheit von Gottesbekenntnis und Christusbekenntnis, dann ist auf jeden Fall anzunehmen, daß der Brief als ganzer durch das Ziel bestimmt ist, die gebliebenen Gemeindemitglieder über die verheerende Rolle der Gegner aufzuklären, sie vor Abfall zu warnen und zum Bleiben „in“ der Wahrheit des Bekenntnisses zu bestärken. Das läßt sich in der Tat im Durchgang durch den Brief erweisen. Dabei zeigt sich nicht nur, daß die bisher ausgewählten Textstücke in ihrem Sinn zur Thematik und Zielrichtung des umgebenden Gesamttextes passen, sondern zugleich auch umgekehrt, daß dessen Aussagen durch den Sinn jener Stellen Profil gewinnen. Im Rahmen dieses Aufsatzes kann dies nur noch angedeutet werden. 63 In diesem Sinn möchte ich das von U. B. Müller, Zur frühchristlichen Theologie, entworfene Bild der Entwicklungsgeschichte christlicher Theologie in den kleinasiatischen Gemeinden im Zusammenhang ihrer verschiedenen Auseinandersetzungen mit Juden wie mit christlichen Irrlehrern verändert aufnehmen. 64 K. Berger, Die impliziten Gegner, 390.

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5.1. Man kann das Corpus des Briefes in zwei große Teile gegliedert erkennen: In 1,5–2,17 geht es, in Ausführung des Eingangs 1,1–4, um „Gottesgemeinschaft und Gotteserkenntnis“.65 Dieser Teil bereitet die beiden folgenden vor (2,17–3,24; 4,1–5,13), in denen der Verfasser explizit die akute Auseinandersetzung mit den Gegnern führt. Beide Abschnitte beginnen mit der direkten Warnung vor ihnen unter eschatologischem Horizont (2,18–27; 4,1–3) und führen diese mit eindringlicher Paränese aus. In 2,28–3,24 geschieht dies durch den absoluten Gegensatz zwischen Sünde und Gerechtigkeit, der in seinem Wesen ein Gegensatz ist zwischen der Gottzugehörigkeit in der Liebe zu allen Gottzugehörigen und der Teufelszugehörigkeit in tödlichem Haß gegen alle Gottzugehörigen. In 4,1–5,13 wird dies in einem parallelen Gedankengang ausgeführt. Der Schlußabschnitt 5,14–21 ist ein Anhang, der mit einer zusammenfassenden Warnung vor den Gegnern abschließt. So läßt sich bereits am Aufbau des Schreibens klar erkennen, wie die Abwehr der Irrlehre und die innere Stärkung der Gemeinde das Interesse des Autors und die Anlage seines Briefes bestimmen. 5.2. Entsprechend der Gliederung, ist nun zu zeigen, in welchem Maße auch die großen Themen von dem aktuellen Gegensatz bestimmt sind. Das gilt bereits für den Aussagenzusammenhang des Briefeingangs 1,1–4. Im Anklang an den Prolog des Johannesevangeliums66 wird die Kunde vom „Wort des Lebens“ in Erinnerung gerufen und die konkrete Wirklichkeit der Inkarnation dieses Logos. Der Chor der Zeugen dieses „Anfangs“ („wir“) bekräftigt, daß sie das Leben mit ihren eigenen Ohren gehört, mit ihren Augen gesehen und mit ihren Händen angefaßt haben. Das Leben war „bei dem Vater“ und ist von droben her „uns erschienen“. Betont wird aber auch die „Gemeinschaft“ der Leser mit den Zeugen, die in deren Gemeinschaft „mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus“ gründet. Damit wird das zentrale Streit-Thema der Einheit von Vater und Sohn (vgl. 2,22 f.; 5,10.20) und die Heilswirklichkeit der Teilhabe an dieser Einheit präludiert. „Gemeinschaft“ ist das Leitwort des ersten Teiles. Ein absoluter Dualismus herrscht zwischen dem Licht (Gottes) und der Finsternis und also zwischen denen, die dem Licht, und denen, die der Finsternis zugehören. Daraus folgt, daß die, die sagen, sie hätten Gemeinschaft mit dem Licht, 65 So die Überschrift bei H.-J. Klauck, 1. Joh., 79. 66 Daß in 1. Joh 1–4.5d.e der Prolog Joh 1,1–18 zugrundeliegt und vom Verfasser des Briefes im Blick auf die akute Situation „kommentiert“ wird, hat zuletzt H.-J. Klauck, 1. Joh., 56–58 überzeugend erwiesen. Vgl. auch ausführlich M. Theobald, Fleischwerdung, 400–437. dagegen G. Strecker, Joh.briefe, 56 ff.; M. Hengel, Johanneische Frage, 157 und zuletzt U. Schnelle, Einleitung, 468 f.

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ihren Lebenswandel aber in der Finsternis führen, Lügner sind (1,6). Mit diesen Lügnern nimmt der Verfasser wohl bereits die Gegner ins Visier. Sie beanspruchen für sich selbst ihre Zugehörigkeit zu Gott, die aber durch ihren Abfall hinfällig geworden ist. Darin besteht die Gefährlichkeit dieser „Verführer“ (2,26)67 und resultiert die Notwendigkeit der Unterscheidung der Geister (4,1). Der Dualismus wird dann entsprechend von 2,3 an im Blick auf das Thema Gebotserfüllung konkretisiert. Und wieder sind mit denen, die Gotteserkenntnis zu haben behaupten, faktisch aber die Gebote Gottes nicht bewahren (2,4), die Gegner im Blick. Der Gegensatz zu ihnen wird dadurch deutlich, daß das zentrale Gebot das der Liebe zum Bruder ist (2,7 f.); und eben dieses Gebot ist es, das die Gegner durch den Bruch der „Gemeinschaft“ verletzen und sich damit als Kinder der Finsternis erweisen (2,9–11). Umgekehrt gilt für die Adressaten, daß sie diese Gegner, die der „Welt“ zugehören, nicht lieben dürfen, sondern „in der Liebe des Vaters“ bleiben sollen (2,15–17), an der sie durch die Sündenvergebung und die Gotteserkenntnis, die sie am Anfang (in der Taufe) empfangen haben68, teilhaben. Dadurch haben sie „den Bösen besiegt“ (2,12–14). Dies alles wird allgemein formuliert, hat aber sicherlich aktuellen Bezug. Ein besonderes Thema berührt der Verfasser in 1,7–2,2.69 Die „Gemeinschaft mit dem Licht“ schließt nicht aus, sondern durchaus ein, daß Christen sündigen. Denn Gott ist „treu und gerecht“, indem er jedem, der vor ihm Sünden bekennt, vergibt. Entsprechende Gottesprädikationen finden sich sehr zahlreich im Alten Testament.70 Es sind Elemente der Offenbarung des Namens Gottes Ex 34,6: „Jahwe, ein Gott barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Gnade und Treue.“ Der Verfasser ruft in 1,9 also elementare Wesensaussagen über Gott aktuell ins Gedächtnis, die erweisen, wie tief der christliche Glaube Glaube an Gott als den einzig-einen Gott im Sinne der biblischen Urtradition ist. Als solcher aber ist er Glaube an Jesus Christus als Gottes Sohn, und zwar entscheidend im Blick auf den Gekreuzigten, dessen Blut „uns reinigt von jeglicher Sünde“ (1,7). Das heißt: Im Kreuzestod Jesu kommt die Bundestreue Gottes zur Wirkung, eben weil es Gottes Sohn ist, der unsere Sünden gesühnt hat und, mit dem Vater im Himmel vereint, ständige Vergebung bewirkt, und zwar über den Kreis der Gemeinde 67 An dieser Stelle bewährt sich die Regel: „Bis zum Erweis des Gegenteils . . . ist anzunehmen, daß die innergemeindlichen Gegner bzw. ihre Anhänger sich als Christen verstanden und christliche Tradition interpretierten“: K. Berger, die impliziten Gegner, 391. 68 Vgl. dazu 1.Thess 1,9 f., wo sich eine urchristliche Tradition zeigt, auf die 1. Joh 2,12– 14 zurückgreift. 69 Zum Folgenden vgl.in diesem Band Nr. 6. 70 Vgl. vor allem Ps 103,2–13; 116,5; 86,15; 111,4; 112,4; 145,8 f.; Jer 42,5 u. a. St.

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hinaus „für die Sünden der ganzen Welt“ (2,1 f.). Diese Sündenvergebung ist als Handeln Jesu Christi zugleich Gottes Handeln (1,9). Sündenvergebung gehört elementar zur Überlieferung des Anfangs des Christwerdens in der Taufe (s. o. zu 2,12–14). Wer sich selbst als total sündlos ausgibt, der macht Gott zum Lügner, weil er dem zentralen Selbsterweis der Bundestreue Gottes, in der Gott Sünden vergibt, widerspricht (1,10). Es ist sehr wohl möglich, daß damit wieder die Gegner im Visier stehen, die mit der Bestreitung der Gottessohnschaft Jesu auch die Heilsbedeutung seines Kreuzestodes abgelehnt haben (vgl. die Betonung des „Blutes“ in 5,6), weil Vergebung allein Gottes Sache sei (vgl. Mk 2,7). Sie würden dann Gerechtigkeit nur dem zusprechen, der sich wie sie von dem gotteslästerlichen Bekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn lossagt. So kommt es wohl auch aus ihrer Sicht zu einem Dualismus von Gerechtigkeit auf ihrer Seite und fundamentaler Widergerechtigkeit auf seiten der johanneischen Christen, so daß, so gesehen, sie sich selbst im Gegensatz zu jenen abtrünnigen Sündern als sündlose Gerechte behauptet haben. Die „Wir“-Sätze V. 8 und V. 10 könnten so, in polemischer Verkehrung, die Gegner karikieren. Allerdings spricht der Verfasser in 2,1 so deutlich in seelsorgerlicher Zuwendung seine Gemeindeglieder an, daß es zumindest hier ihre aktuellen Probleme sind, um deren Bewältigung es ihm geht. Wendet er sich etwa an diejenigen, die in der gegenwärtigen kritischen Gemeindesituation mit den Gegnern (noch?) in Kontakt stehen und so gesündigt haben, die er aber zu Umkehr und Rückkehr zu bewegen sucht? Dann ginge es hier um die Möglichkeit einer Rückkehr zur Taufe, die ihnen solange offensteht, wie sie eine generelle Entscheidung gegen das Taufbekenntnis zu Jesus als Gottes Sohn nicht endgültig vollzogen haben.71 Das wären dann die, für die zu beten, der Verfasser am Schluß seines Briefes die Adressaten bittet (5,14–17). 5.3. Von hier aus dürfte auch die eindringliche Mahnung zur Bruderliebe in 3,11 ff. und 4,7 ff. durch die aktuelle Gemeindekrise bedingt sein, die durch die Gegner entstanden ist. Zwar stehen diese hier nicht im Blick. Der Verfasser spricht als geistliche Autoritätsperson mit seelsorgerlicher Eindringlichkeit zu seinen Gemeindegliedern. Er zeigt ihnen theologisch auf, wie die geschwisterliche Liebe der Christen zueinander die unmittelbare Konsequenz der Liebe Gottes zu ihnen ist, die Gott ihnen im Lebenseinsatz Christi für sie erwiesen hat (3,16; 4,9 f.). Wie sich grundsätzlich die Zugehörigkeit zu Gott im Tun der Gerechtigkeit konkret auswirkt (3,7.9), so wirkt sich die Gotteskindschaft der Christen in der 71 In diesem Sinne möchte ich die richtige Deutung von 1,9 bei H.-J. Klauck, 1. Joh., 95 modifizieren.

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Liebe der Gotteskinder zueinander aus (3,10). Denn die Bruderliebe ist das „neue Gebot“, durch das das „alte“ zwar nicht ersetzt, wohl aber vollendet wird (2,7 f.; 3,11.23 f.), weil die Liebe des Vaters sich in der Liebe des Sohnes vollendet (4,9 f.). Indem Christen einander lieben, bleiben sie in der Liebe Gottes (4,16). Wie man allein durch die Liebe des Vaters in seinem Sohn Jesus Christus zu Gott gehören kann, so gilt es, diesen Glauben an Gottes Sohn in der Liebe zum Bruder zu leben und so Gottes Gebote zu erfüllen (3,23 f.) und gerecht zu sein. Nur so kann man „Leben“ haben (2,25; 4,9; 5,11–13.20). Dies ist eindeutig die Hauptbotschaft des 1. Johannesbriefes (3,11). Der Brief als ganzer dient nicht eigentlich der Auseinandersetzung mit den Gegnern, sondern der Stärkung der Gemeinschaft der Gemeindeglieder als der wahren Gotteskinder in Glaube und Liebe. Die Gegner sind ganz und gar ,draußen‘, sie gehören nicht zu Gott und seiner Gemeinde und haben als Abtrünnige nie wirklich dazugehört. So sind sie auch nicht indirekt Adressaten des Briefes. Aber da die Gemeinde durch ihren Abfall zutiefst irritiert und durch ihre Propaganda akut gefährdet ist, bestimmt die Abgrenzung gegen sie nun doch alles, was der Autor seinen Kindern zu sagen hat und nahezulegen sucht. Das konkrete Bleiben in Gottes Liebe in der Bruderliebe ist der beste Schutz vor dem Abfall zur Irrlehre der Gegner. Insofern ist es für das Verständnis des Briefes unabdingbar, die Gegner bei der Exegese durchweg im Blick zu haben. Das Bild, das man sich aufgrund des Textes von den Gegnern macht, bestimmt wiederum auch das Verständnis dessen, was der Autor seinen Adressaten sagen will. Insofern hängt ein richtiges Verständnis des 1. Johannesbriefes durchaus entscheidend an einem richtigen Bild von den Gegnern. Der 1. Johannesbrief ist so ein besonderes Beispiel für die Notwendigkeit einer richtigen „Methode des Erschließens von ,Gegnern‘ in neutestamentlichen Texten.“

Monotheismus und Christologie 1. Das Alte Testament war die Heilige Schrift des Urchristentums. Dieser zentralen Bedeutung wird man nicht gerecht, wenn man sich bei der Exegese der neutestamentlichen Schriften auf die Stellen beschränkt, in denen alttestamentlicher Wortlaut zitiert wird. Zwischen ausdrücklichen Zitaten und sog. „Anspielungen“ ist bekanntlich ein fließender Übergang. Darin zeigt sich an: Man lebt und denkt im Urchristentum sosehr mit „der Schrift“, daß deren Sprache die eigene Sprache durchweg bestimmt.1 Bei der Lektüre des Neuen Testaments muß man deswegen ständig und überall dafür offen und darauf gefaßt sein, daß alttestamentliche Motive auch dort im Blick stehen, wo ein Bezug auf bestimmte Stellen nicht ausdrücklich genannt wird. Diese ganzheitliche Beheimatung im Alten Testament war im Urchristentum auch als solche sehr wohl bewußt. Davon zeugt z. B. die doppelte Betonung in der vorpaulinischen „Evangelium“-Formel Kor 15,3–5, daß sowohl der Tod Christi für unsere Sünden wie seine Auferweckung am dritten Tag „nach der Schrift“ geschehen sei (vgl. Röm 1,2). Ebenso „öffnet“ in der Erscheinungsgeschichte Lk 24,13 ff. Jesus selbst den beiden Jüngern die Schriften durch die Einsicht, daß „von Mose an bis hin zu allen Propheten“ von dem Leidensgeschick die Rede ist, das Gott seinem Messias bestimmt hat (24,26 f.; vgl. 24,45 f. sowie Apg 17,2 f.11). Zugleich ist deutlich: Die Schrift wird im Urchristentum durchweg mit völliger Selbstverständlichkeit christlich gedeutet,2 in einem Sinn, der mit dem in moderner historisch-kritischer Exegese herausgestellten ursprünglichen Sinn der alttestamentlichen Texte kaum etwas, nicht selten auch gar nichts mehr zu tun hat. Für jeden Studierenden, der vom alttestamentlichen Kolleg ins neutestamentliche überwechselt, muß sich der Eindruck ergeben, daß im Neuen Testament das Alte Testament ganz und gar willkürlich verstanden und ausgelegt, weil eben „christlich vereinnahmt“ wird. Nun hat jedoch Klaus Koch in verschiedenen Veröffentlichungen3 gezeigt: Mit der Auslegung von Tora und Nebi’im steht es im zeitgenössi1 Dazu vgl. H. Hübner, Biblische Theologie I, 28 f. 2 Dies ist die Grundthese der Biblischen Theologie von H. Hübner, vgl. z. B. ebd., 67: Es „wird deutlich, daß das Vetus Testamentum Graece in Novo receptum, überhaupt das Vetus Testamentum in Novo receptum, mit dem Vorgang der Rezeption durch den neutestamentlichen Autor eine neue theologische Größe geworden ist.“

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schen Judentum keineswegs anders! Auch dort ist überall in der rabbinischen Lehrüberlieferung wie im apokalyptischen, im weisheitlichen, im „religionsphilosophisch“-apologetischen Schrifttum des 1. und 2. Jahrhunderts, der jeweils eigene, gegenwärtige Aspekt in der gleichen Selbstverständlichkeit bestimmend für das Verständnis und den Gebrauch der Schriften des alttestamentlichen Kanons. Im Zusammenhang historisch-kritischer Exegese erklärt sich dieser beidseitig „gewaltsam-umdeutend“ erscheinende Schriftgebrauch als damals durchaus angemessene Auslegungsmethode. Wie sich in allen alttestamentlichen Texten selbst verschiedene Phasen einer lebendigen Überlieferungsgeschichte erkennen lassen, in der jeweils die späteren Überlieferungsträger die ihnen vorgegebenen, früheren Traditionsstoffe nach ihrem eigenen Aspekt gedeutet, also verändert und weiterentwickelt haben, so gibt es in entsprechender Weise auch eine lebendige Überlieferungsgeschichte im Umgang mit der Schriftensammlung des werdenden Kanons. In deren Zusammenhang deuten die Gruppen des Urchristentums von Anfang an dieselben Texte charakteristisch anders als die pharisäisch-frührabbinischen Kreise, die dann nach dem Ende Jerusalems im Jahre 70 die Dominanz jüdischer Schriftauslegung übernommen und in neuen Institutionen und Organisationsformen ausgestaltet haben. So spricht Koch von einem „doppelten Ausgang“ der Überlieferungsgeschichte des Alten Testaments, womit er nicht nur den alttestamentlichen Kanon meint, sondern das ganze Verhältnis des „Bundes“ zwischen dem Gott Israels und seinem Eigentumsvolk4. Und er stellt der christlichen Theologie die Frage, ob sich in diesem „doppelten Ausgang“ nicht „ein Werk Gottes“ zeige, „das wir irgendwie anzuerkennen haben“5. Nehmen wir diese Frage auf, so folgt daraus sogleich die entscheidende andere: Wie und in welchem Sinne haben wir darin „ein Werk Gottes“ zu erkennen? In einer Anmerkung6 deutet Koch den Ansatz seiner eigenen Antwort an. Er meint, letztlich liege der theologisch entscheidende Gegensatz zwischen Christentum und Judentum „nicht in der Gottesauffassung“ oder in anderen Themen, die hier gemeinhin genannt und diskutiert werden – wie etwa in der Lehre vom Gesetz, im Schriftverständnis oder im exklusiven Selbstverständnis Israels –, sondern in einer grundverschiedenen Anthropologie. Diese Antwort scheint jedoch ihrerseits die Möglichkeit freizugeben, den Gegensatz zwischen einem mehr optimistisch oder mehr pessimistisch bestimmten Menschenver3 Ich beziehe mich im folgenden auf K. Koch, Der doppelte Ausgang; vgl. auch Ders., Rezeptionsgeschichte. 4 K. Koch, Der doppelte Ausgang, 240 f. 5 Ebd., 241. 6 Ebd., 241 Anm. 61.

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ständnis auf dem festen Grund eines im wesentlichen gemeinsamen Gottesverständnisses anzusiedeln. Und da für Juden- wie Christentum das Gottesverhältnis die entscheidende Basis ist, auf der das Menschenverständnis durchaus verschieden sein kann (wie z. B. innerhalb alttestamentlicher Weisheitstradition Jesus Sirach neben Kohelet), liegt es nahe, von daher auch für das jüdisch-christliche Gespräch eine vom Grunde her optimistische Prognose zu stellen. 2. Hier entstehen nun freilich Probleme, die ich durch ein persönliches Erlebnis aktualisieren möchte. Am Ende eines Jüdisch-christlichen Kongresses in Jerusalem war ich zu einem dortigen Rabbiner zur Schabbatfeier in sein Haus eingeladen worden. Vorher nahmen wir Christen am Schabbatlob in der Synagoge teil; und zu Beginn des Schabbatmahles fragte mich der Gastgeber, wie ich denn als Christ diesen jüdischen Gottesdienst erlebt habe. Ich antwortete ohne Zögern und voll persönlicher Überzeugung: „Ich habe erlebt, daß wir, Juden und Christen, mit denselben Psalmen den einen Gott preisen können – was ist das doch für eine tragfähige Basis zu einem Wachstum gegenseitigen Vertrauens!“ Da entgegnete er: „Da eben sitzt unser Problem: Es ist nicht wahr – wir haben keinen gemeinsamen Gott. Ihr Christen betet Jesus als den Messias und Gottessohn an – und verletzt das schema’-jisrael (Dtn 6,4). Euer Vater Jesu Christi ist nie und nimmer der einzig-eine Gott Israels!“ Dieses Votum überraschte mich sehr und machte mich so betroffen, daß sich mir für den weiteren Verlauf des Abends der Mund verschloß – jedenfalls zu einer Fortführung des so begonnenen theologischen Gesprächs. Denn: Genau dies ist in der Tat das zentrale Problem zwischen Juden und Christen, heute genauso wie zur Zeit des 1. Jahrhunderts! Es sind die Christen, für die der Gott Israels der Vater Jesu Christi ist. Zwar war die urchristliche Verkündigung des einen, allein wahren Gottes die entscheidende Basis aller Verkündigung an Nichtjuden (vgl. 1.Thess 1,9 f.; Apg 17, 22 ff.; Hebr 6,1), wortgleich mit dem jüdischen Unterricht für „Gottesfürchtige“ (vgl. dazu vor allem Jos As). Die urchristlichen Missionare verbanden diesen Glauben an den einen wahren Gott jedoch, für sich problemlos, mit dem Glauben an Jesus, den Christus, den Sohn Gottes (vgl. Joh 20,31). Ein früher christologischer Hymnus schließt mit der Exhomologese: „Herr ist Jesus Christus zur Verherrlichung Gottes, des Vaters“ (Phil 2,11). Nach jüdischem Urteil dagegen schlägt dieses Bekenntnis der Christen zum Messias Jesus auf ihr Bekenntnis zu Gott im Sinne von Dtn 6,4 zurück und macht dieses schlicht zur Blasphemie! Denn der Gott Israels teilt seine Einzigkeit weder mit anderen Göttern noch gar mit irgendeinem Menschen, und sei es dem Messias. Nicht daß die Christen Jesus

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für den Messias hielten, war das Blasphemische ihres Glaubens – zwei Generationen nach dem Tode Jesu am Kreuz als „König der Juden“ hat R. Akiba den Führer des letzten verzweifelten Aufstandes gegen die Römer, Bar Kosiba, ohne theologisches Problem als Messias begrüßen können! Hinter der jüdischen Anklage gegen Jesus als Messiasprätendenten bei Pilatus muß also eine Verurteilung viel tieferer Art gestanden haben: die der Gotteslästerung, wie sie im Johannesevangelium von „den Juden“ Jesus angelastet wird: „Du, ein Mensch, machst dich selbst zu Gott!“ (Joh 10,33; vgl. 5,18) Diese Radikalität des Messiasanspruchs durch den blasphemisch zugespitzten Anspruch, Gottes Sohn zu sein, ist denn auch nach dem Bericht über die Verhandlung vor dem Synhedrium in allen drei synoptischen Evangelien der Grund für seine Verurteilung als Gotteslästerer (Mk 14,61–64; Mt 26,63–66; Lk 22,67–71). Seine Selbstidentifikation mit dem Menschensohn-Richter (Mk 14,62) setzt dem noch die Krone auf. Also ist es im Grunde und entscheidend doch die Gottesfrage, die von Anfang an und zusehends heftiger das Urchristentum mit dem Judentum entzweit hat. Zu seinem Höhepunkt kam dieser Streit in der Zeit nach 70. Denn nach dem Verlust der Davidsstadt und des Tempels auf dem Zionberg mußte sich das Judentum von Grund auf reorganisieren. Seine Einheit als Volk konnte es von jetzt an nur bewahren, wenn es für seine religiöse Einheit Formen schuf, die der Diasporasituation als der nunmehr alleinigen geschichtlichen Daseinsform entsprachen, in die hinein Israel als ganzes verstoßen war. An die Stelle des Tempels als der Mitte Israels mußten jetzt die Synagogen treten, die zuvor neben dem Tempel eine andere, ungleich weniger bedeutende, nämlich lokale, jedenfalls keineswegs für Israel als ganzes zentrale Bedeutung gehabt hatten. Das jedoch heißt: An die Stelle des Kults mußte von nun an das Gesetz treten, das ursprünglich in der Priesterschaft des Tempels als des zentralen Orts der Gegenwart Gottes seine Repräsentanten und Ausleger in Israel hatte. Von jetzt an bekam die Tora in der Versammlung der Häupter pharisäischer Lehrüberlieferung den zentralen Ort der Regelung seiner Bewahrung in der Gebotserfüllung aller Israeliten. Das 1. Dekaloggebot im Sinne des schema’-jisrael war schon immer die inhaltliche Mitte der Gebote gewesen – es bekam nun in der neuen Diasporasituation eine verschärft-exklusive Bedeutung zur Abgrenzung gegen alle nichtpharisäisch orientierten Gruppen und zur Ausgrenzung aller Gruppen „ketzerischen“, d. h. torawidrigen Charakters. In dieser Zeit wurde die birkathaminim, die Verfluchung aller Ketzer, in das Achtzehn-Bitten-Gebet aufgenommen.7 Zu diesen Minim zählten die Christen an vorderster 7 Wann genau dies geschehen ist, ist in der neueren Forschung umstritten; vgl. dazu die Literatur bei M. Hengel, Johanneische Frage, 288–290; zuletzt U. Schnelle, Joh., 9 f.

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Stelle. Es kam zu sachlich wie emotional heftiger gegenseitiger Feindschaft. Man suchte auf beiden Seiten möglichst viele Mitglieder der jeweils anderen Gruppe für die eigene Sache und Gemeinschaft zu gewinnen und reagierte auf jeden solchen Übertritt mit harter Exkommunikation (vgl. einerseits Gal 1,6 ff.; Offb 2,9, andererseits Joh 9,34; 1. Joh 2,19). 3. Im Johannesevangelium spiegelt sich diese Streitatmosphäre besonders deutlich.8 Das Wirken Jesu wird hier so erzählt, daß er von Anfang an auf Reserve, Ablehnung und sehr bald offene Feindschaft der Führer der Juden stößt und auch seinerseits seine Botschaft in gezielter Provokation gegen sie so sehr auf die eine Frage des Glaubens an ihn selbst als den vom Vater gesandten Sohn konzentriert und zuspitzt, daß sein Weg zwangsläufig auf seinen Tod zu- und hinausläuft. Der Blindgeborene, den er geheilt hat, wird zum repräsentativen Beispiel dafür, wie es einem Juden ergeht, der an Jesus glaubt: Er wird als „Sünder“ wie Jesus, der Erzsünder (Joh 9,24), aus der Synagoge „hinausgeworfen“ (Joh 9,34 vgl. 16,1–4). Umgekehrt wird der pharisäische Lehrer Nikodemus zusammen mit Joseph von Arimathia zum Beispiel derjenigen jüdischen Führer, die heimlich, weil aus Furcht vor ihren Kollegen, Jesus zuneigen (Joh 19,38 f. vgl. 12,42). Im 1. Johannesbrief sind die bekämpften Gegner, die nicht bekennen wollen, daß Jesus der Christus und der Sohn Gottes ist (2,22; 5,1.5) und als solcher „im Fleisch gekommen“ ist (4,2), m. E. nicht gnostische Doketen9 oder „Ultra-Johanneer“10, sondern Juden, die wie „die Juden“ im Johannesevangelium in diesem Bekenntnis zum Menschen Jesus als Gottessohn blanke Blasphemie sehen.11 Ganz deutlich ist das in Joh 2,19–23 der Fall. Was sich hier im johanneischen Schrifttum zeigt, läßt sich ebenso – nur in anderer theologischer Ausprägung – im Matthäusevangelium und 8 M. Hengel, ebd. und U. Schnelle, ebd. bestreiten die Aktualität solcher jüdisch-christlicher Auseinandersetzungen zur Zeit des Johannesevangeliums. Das ist jedoch angesichts von Joh 9,34 und besonders 16,1–4 alles andere als plausibel. Hier geht es eindeutig um Verfolgungserfahrungen, die die Leser nicht als Tradition aus einer längst vergangenen Anfangszeit der johanneischen Christen, sondern aus akuter eigener Erfahrung kennen. So mit überzeugender Argumentation zuletzt K. Wengst, Joh., 21–26. 9 So urteilt gegenwärtig die Mehrheit der Exegeten; vgl. z. B. K. Wengst, Joh.briefe, 25 f.; differenzierter G. Strecker, Joh.briefe, 131–139; H.-J. Klauck, 1. Joh., 34–42.233 f.; M. Hengel, Johanneische Frage, 170–185, der die Gegner mit Kerinth zusammenbringt, wie es schon Irenäus, Haer 1,26,1 getan hat. Zum Problem der im 1. Johannesbrief bekämpften Gegner vgl. in diesem Band Nr. 4. 10 So Ph. Vielhauer, Geschichte der urchristlichen Literatur, 470–472; zuletzt U. Schnelle, Joh., 135: Die Gegner „leugneten aus der Sicht des Briefschreibers die soteriologische Identität zwischen dem irdischen Jesus und dem himmlischen Christus.“ 11 So zuletzt K. Erlemann, 1. Joh.

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im lukanischen Doppelwerk erkennen. Schon Paulus erwähnt in seinem frühesten Brief Verfolgungen von seiten „der Juden“, „die sowohl den Herrn getötet haben, Jesus, und die Propheten und auch uns verfolgen . . . und uns daran hindern, zu den Gojim zu reden, damit sie gerettet werden“ (1.Thess 2,14–16). In diesen Erfahrungen der Frühzeit der paulinischen Heidenmission bahnt sich bereits jener tödliche Konflikt an, der sich dann nach 70 generell ausgebreitet hat. Wenn die Apostelgeschichte entsprechende Erfahrungen von Verfolgung und Feindseligkeit auch im Blick auf die früheste Geschichte der Jerusalemer Urgemeinde berichtet, so trifft dies im Kern sicher zu. 4. Nun wäre es ein schwerer Fehler zu meinen, daß es nicht auch für die Christen selbst ein schweres theologisches Problem gewesen sei, den Glauben an Jesus Christus so nahe an den Glauben an den einen Gott heranzurücken, ja so wesenhaft mit diesem in eins zu sehen, ohne dessen exklusive Geltung zu verletzen. Zwar zeigt vor allem das Johannesevangelium, daß sich die Frage der Vereinbarkeit von – abgekürzt gesagt – Monotheismus und Christologie durch die Konfrontation mit der Synagoge in der Zeit nach 70 enorm zugespitzt und zu einer vertieften theologischen Beantwortung herausgefordert hat. Aber gerade im Johannesevangelium läßt sich zugleich erkennen, wie solche Beantwortung nur aus den tiefsten Wurzeln christlichen Glaubens heraus möglich gewesen ist. Sie mußte in einer theologischen Denkanstrengung gewonnen werden, die an Tiefgang und Leidenschaft der des Apostels Paulus in seiner christozentrischen und darum torakritischen Rechtfertigungslehre durchaus ebenbürtig ist. Einerseits ist hier Jesus der Messias nur als der Sohn Gottes (Joh 20,31), neben dem es schlechterdings keinen anderen Menschen geben kann, der in gleicher Weise mit Gott unmittelbar verbunden, von Gott „ausgegangen“ und zu Gott zurückgekehrt (16,28) wäre wie Jesus, der monogenÀ™ uÖó™ ®eoø (Joh 1,18; vgl. 3,13!). Für Jesus als Gottes Sohn gilt also in genau entsprechend radikaler und exklusiver Weise, was das schema’-jisrael von dem einen Gott Israels sagt. Nach Joh 10,8 sind alle, die vor und neben ihm als Hirten zu der Schafherde gekommen sind, „Diebe und Räuber“! Andererseits tritt der Glaube an Jesus in keinerlei Weise an die Stelle des Glaubens an Gott: „Glaubt an Gott und glaubt an mich“, sagt Jesus gerade angesichts seiner bevorstehenden Erhöhung und Verherrlichung zu seinen Jüngern (14,1). Einerseits ist die Verbundenheit Jesu mit Gott so nah und so wesentlich, daß Jesus zu den Juden sagen kann: „Ich und der Vater sind eins“ (10,30). Er ist nicht nur vom Vater hergekommen und vom Vater gesandt worden, sondern er war auch bereits im Uranfang als der Logos bei Gott, ja als solcher war er selbst Gott (1,1.18; vgl. 1Joh 5,20: oÓtí™ Éstin

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ú åln®inó™ ®eí™). Und aufgrund seiner Verherrlichung wird er in eben diese Ursprungsnähe gleicher Herrlichkeit Gottes zurückkehren (Joh 17,5). Thomas fällt vor dem Auferstandenen nieder und bekennt: „Mein Herr und mein Gott!“ (20,28). Nur aufgrund dieser Einheit Jesu mit Gott ist Jesu Wort Gottes Wort, sind seine Werke Gottes Werke, ist er also der Offenbarer – der einzige, der Gott gesehen und verkündet hat, weil allein er „an der Brust des Vaters ist“ (1,18): „Niemand kommt zum Vater außer durch mich“ (14,6). Diese Offenbarungsqualität spricht sich im Johannesevangelium am direktesten aus in den ÉgÈ eÜmi-Worten Jesu: Sie lassen sich m. E. angemessen nur verstehen als Inanspruchnahme des allerheiligsten Namens Gottes (Ex 3,14; vgl. Jes 45,3–7.18). Andererseits jedoch betont gerade auch der johanneische Jesus, daß er als der Gesandte des Vaters gar nichts sagen und tun kann als das, was er den Vater sagen hört und tun sieht, daß er also selbst als der Sohn in all seinen eigenen Worten und Werken nur das ausführt, was der Wille des Vaters ist und wozu der Vater ihn beauftragt hat. Diese logische Spannung durchzieht das ganze Johannesevangelium, und sie wird an keiner Stelle nach der einen oder anderen Seite hin aufgelöst. Bis hinein in die Aussagen der Abschiedsreden über das Wirken des Geistes nach Ostern bleibt diese Spannung vollauf erhalten: Einerseits ist der Vater der, der den Geist sendet (14,16.26), genau entsprechend der Sendung des Sohnes. Andererseits ist es der Sohn, der ihn sendet (15,26; 16,7). Doch der Vater sendet den Geist auf Bitten des Sohnes (14,16), ja in dessen Namen (14,26); und der Sohn sendet ihn „vom Vater her“ (15,26). Und im Zeugnis des Geistes ist der Inhalt nichts anderes als der Sendungsweg des Sohnes, aber dieser als das Werk des ihn sendenden Vaters, so daß der Geist, indem er den Sohn bezeugt, den Vater bezeugt, weil alles, was der Vater „hat“, auch Eigentum des Sohnes ist (16,14 f.). Es ist völlig deutlich, daß hier eine wohldurchdachte Konzeption vorliegt, deren Absicht es ist, im Verhältnis zwischen Jesus und Gott die Einzigkeit Gottes im Sinne des alttestamentlichen Grundbekenntnisses mit der Einzigkeit Jesu als des Offenbarers Gottes so in eins zu denken, daß der christliche Glaube an Jesus, den alleinigen Heiland, den Glauben an den einen einzig wahren Gott nicht verletzt oder beschränkt, daß aber auch umgekehrt Jesus in aller Subordination des Sohnes unter den Vater die volle göttliche „Herrlichkeit“ keineswegs etwa in einem geringeren Maß besitzt als der Vater (17,5). Zwischen Vater und Sohn gibt es einen Unterschied vom Uranfang an durch die ganze Geschichte Jesu hindurch bis hin zur Vollendung seiner Sendung in seiner Erhöhung als seiner Verherrlichung durch den Vater. Aber dieser Unterschied hebt die Einheit zwischen Vater und Sohn keineswegs auf, sondern ihre Einheit wirkt sich vielmehr im Vollzug ihrer Unterschiedenheit aus. Den dich-

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testen sprachlichen Ausdruck findet dieses Verhältnis der Einheit in der Unterschiedenheit und der Unterschiedenheit in der Einheit in der spezifisch johanneischen Rede, daß der Sohn im Vater ist und der Vater im Sohn (14,10).12 Sieht man auf die Sprache, in der diese johanneische Konzeption ihren Ausdruck gefunden hat, so muß konstatiert werden: Alttestamentliche Sprache ist dies nicht mehr; und wo alttestamentliche Sprachelemente gebraucht werden – wie etwa die Sendung des Propheten durch Gott, aber vor allem auch der Messiasname und der Ausdruck „Sohn Gottes“, der im Alten Testament Israel bzw. dem davidischen König zukommen kann –, so werden diese Elemente im Johannesevangelium gleichsam so maßlos überzogen, daß ein Hiatus entsteht zwischen ihrem Gebrauch in der alttestamentlichen Überlieferung und im johanneischen Schrifttum. Statt diesen Unterschied aber religionsgeschichtlich zu erklären, etwa durch gnostischen Einfluß, sollte man auf die Aufgabe achten, vor die sich der Johannesevangelist gestellt sieht: Bei ihr geht es um ein urjüdisches wie zugleich urchristliches Interesse: für Christen theologisch denkbar werden zu lassen, daß und warum ihr Glaube an Jesus, Gottes Sohn, die wahre, die vollendete Form alttestamentlich-jüdischen Glaubens an den einzig-einen Gott ist. Denn nur dann, wenn dies vom Grunde, von der Wurzel her theologisch begriffen (bzw. im johanneischen Sinne: „erkannt“) worden ist, sind Christen fähig, im Streit mit „den Juden“ überhaupt zu bestehen, sich gegen ihr Hauptargument der Blasphemie mit Argumenten zur Wehr zu setzen, die das Anliegen des jüdischen Urteils bitterernst nehmen! Aber nicht nur das, sondern auch dazu sollen Christen fähig werden: Juden von der Wahrheit des Glaubens an Jesus als Glaube an den einzigeinen Gott zu überzeugen und möglichst viele von ihnen – bis hinein in die rabbinischen Führungskreise – für ein Leben in der Nachfolge Jesu als den Weg zum Leben selbst, zum „ewigen“ Leben, zu gewinnen (20,31). Es würde den Rahmen dieses Essays sprengen, würde ich zu zeigen suchen, daß die theologische Konzeption der johanneischen Christologie zwar im Zusammenhang der anderen theologischen Entwürfe der Zeit nach 70 in ihrer charakteristischen Eigenart sowohl theologischer Denkkraft als auch literarischer Gestaltungs- und geistlich-poetischer Sprachfähigkeit herausragt, daß darin aber die Wurzel urchristlicher theologischer Ansätze weithin aufgenommen worden ist, ja daß im Johannesevangelium sehr wohl auch Jesus selbst, der „historische Jesus“, zu Wort kommt. Denn schon in Jesu Verkündigung der Gottesherrschaft wird ein 12 Zum Ganzen dieser trinitarischen Struktur johanneischer Theologie vgl. M. Theobald, Gott, Logos und Pneuma; Th. Söding, „Ich und der Vater sind eins“, sowie in diesem Band Nr. 1.

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„Selbstbewußtsein“ erkennbar, das sich von aller anderen Inanspruchnahme des Gottes Israels charakteristisch unterscheidet.13 Es wäre aber ein schwerer Fehler, wollte man dieses „Selbstbewußtsein“ des „historischen Jesus“ etwa mit der johanneischen Christologie „kurzschließen“. Der Kern allen urchristlichen Glaubens an Jesus als den Christus und Gottessohn liegt im Geschehen der Auferstehung Jesu. In ihr ist eigentlich grundgelegt, worum es in aller urchristlichen Theologie im Kern geht: die Einheit Jesu mit Gott und Gottes mit Jesus. Gott ist es – der Gott, den das jüdische Achtzehn-Bitten-Gebet als den preist, „der die Toten auferweckt“ –, von dem das gesamte Urchristentum verkündigt und glaubt, daß er Jesus von den Toten auferweckt hat – und zwar den Jesus, der den Anbruch der Gottesherrschaft verkündigt hat und der in Konsequenz dieser Verkündigung den Tod „am Holz“ gestorben ist, den nach der Tora die von Gott Verfluchten zu sterben haben (Dtn 21,23 vgl. Gal 3,13). Die Auferweckung dieses Gekreuzigten hat offenbargemacht, daß Gott mit diesem Verfluchten eins ist. Diese im Auferweckungshandeln Gottes selbst erwiesene Einheit des gekreuzigten Jesus mit Gott und Gottes mit ihm ist die Wurzel der Einheit von Christologie und Theologie, in der das Urchristentum sich von Anfang an legitimiert wußte, das Alte Testament als die Heilige Schrift zu lesen, in der das Todesleiden des Messias Jesus und seine Auferweckung durch Gott als die Vollendung aller Heilstaten des einzig-einen Gottes Israels bezeugt werden. 5. Kann man im Blick darauf als christlicher Theologe wirklich sagen, daß „der doppelte Ausgang in Kirche und Synagoge . . . ein Werk Gottes“ (ist) – ohne dies so zu verstehen, daß der Streit um die Erkenntnis und Anerkenntnis des einzig-einen Gottes beide, Kirche wie Synagoge, ständig zu einem gegenseitigem Überzeugen nötigt und sie darin zusammenbindet, wie sonst keine Religion mit einer anderen? Das Nein der Synagoge gegen den Messias Jesus entspringt ja der Treue gegen das Gebot aller Gebote: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzig-eine Gott, und du sollst den Herrn, deinen Gott lieben von ganzem Herzen . . .“ Umgekehrt entspringt auch das Werben der Kirche um ein Ja Israels zum Glauben an den Messias Jesus ganz der Treue gegen dieses selbe Gebot. Es kann daher zwischen der Kirche und Israel kein Verhältnis freundlich-distanzierter Toleranz geben, wie es sonst in der zur Einheit zusammenwachsenden Völkerwelt unserer Gegenwart dem Verhältnis zwischen verschiedenen Religionen angemessen ist. Der einzig-eine Gott, um den es seinen beiden Verehrern geht und gehen muß, läßt eben nicht 13 Dazu vgl. einerseits zu Jesus H. Merklein, Einzigartigkeit Gottes; andererseits zu Paulus W. Schrage, Unterwegs zur Einzigkeit und Einheit Gottes, 43–90.

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auf der Ebene aller Gottheiten der Völker über sich verhandeln. Das Christentum muß für das Judentum solange eine blasphemische Ketzerei sein – und nicht irgendeine andere Religion –, solange es ihm nicht deutlich wird, daß es wirklich der eine Gott Israels ist, der in der Auferweckung Jesu von den Toten diesen Juden Jesus von Nazaret „zum Herrn und Messias gemacht hat“ (Apg 2, 36). Umgekehrt muß das Judentum für das Christentum solange als das im Unglauben befangene Eigentumsvolk des einzig-einen Gottes gelten (vgl. Joh 12,38–40; Apg 28,26–28) – und also keineswegs als irgendeine andere Religion –, solange ihm nicht das Wunder des Glaubens an seinen einzig-einen Gott widerfährt, der in Jesus nicht einen der Propheten, sondern seinen eigenen, einzig-einen Sohn zuerst zu Israel – und darüber hinaus zu allen Völkern – gesandt und ihn durch die Auferweckung von den Toten als den Offenbarer seiner selbst erwiesen hat. Die Shoah an diesem Volk in der Mitte unseres zu Ende gehenden Jahrhunderts ist nicht nur eines der schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Völker, sondern sie ist für christliches Urteil die abgründigste Sünde gegen den einzig-einen Gott selbst, nämlich die Verkehrung des von ihm aufgetragenen Streits um die Wahrheit seines Wesens als Liebe in grausamen Haß. Doch weil Gott der lebendige Gott der Auferweckung der Toten ist – allein deswegen! –, vermag nicht einmal die Sünde der Shoah die Wirklichkeit der Auferweckung seines Sohnes zunichte werden zu lassen und die Verkündigung des Messias Gottes zum Schweigen zu bringen. Um die Wahrheit des einzig-einen Gottes muß darum auch weiterhin in Ehrfurcht und Liebe geworben und mit der Leidenschaft des Glaubens gestritten werden können.

„Simul iustus et peccator“ im 1. Johannesbrief Exegetische Bemerkungen zu einem aktuellen Thema ökumenischer Theologie 1. 1. Joh 1,5–2,2 ist die einzige Stelle im Neuen Testament, an der direkt ausgesprochen wird, was die formelhafte Zusammenfassung reformatorischer Rechtfertigungslehre so sagt: Ein Christ, der allein durch die Gnade Gottes, allein durch Jesus Christus, seinen für uns gestorbenen und auferstandenen Sohn, und allein durch den Glauben an Gott, im Glauben an Jesus Christus von seiner Sünde befreit und gerechtfertigt worden ist, ist als solcher lebenslang gerecht und Sünder zugleich. 1.1. Für alle Schriften des Neuen Testaments1 gilt sonst als übereinstimmende Grundaussage: Christen waren „einst“ Sünder und sind „jetzt“ gerecht, nachdem sie durch die Verkündigung des Evangeliums zum Glauben an Jesus Christus gekommen sind und in der Taufe auf den Namen Jesu Christi Vergebung der Sünden empfangen haben. In allen Aussagen über das Christsein und zumal in allen Mahnungen zu einem entsprechenden „Wandel“ ist diese tiefgreifende Lebenswende der Bekehrung zum Glauben und der Reinigung und Erneuerung durch den heiligen Geist in der Taufe sozusagen das „hermeneutische Integral“. Gewiß ist die Teilhabe an Gottes endzeitlicher Heilsvollendung nicht ein unverlierbarer Besitz. Alle Mahnungen zum Wandel in der geschenkten Gerechtigkeit sind begleitet von Warnungen vor Abfall von der Wahrheit des Evangeliums, vor Rückfall in einen Wandel „nach dem Fleisch“, in ein von der Sünde beherrschtes Leben. Paulus sieht die Sünde wie eine dämonische Macht, die bei der Rechtfertigung des Christen zwar ihre Verfügungsgewalt über ihn verloren hat, aber sozusagen darauf lauert, diese wieder zurückzuerlangen. Und jedenfalls sehen Christen dem Endgericht Gottes bzw. Christi entgegen, vor dem sie Rechenschaft über all ihr Tun und Lassen zu geben haben werden. Doch wer in der Taufe Vergebung empfangen hat, ist frei von der Sünde. Wer gerechtfertigt worden ist, ist gerecht und kann den Weg der Gerechtigkeit gehen. Und was er kann, das soll er auch tun. Tägliche Heiligung ist die Aufgabe derer, die durch Gottes befreiendes Rettungs1 Zu Paulus vgl. Th. Söding, Rechtfertigung der Sünder.

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handeln heilig geworden sind. Darauf liegt durchweg der Ton: „eÜ zÂmen pne‹mati, pne‹mati kaÿ stoicÂmen.“ (Gal 5,25); „katä tón kalìsanta ¡mé™ çgion kaÿ a«toÿ çgioi Én pâsI ånastrofá genŒhvte.“ (1.Petr 1,15). 1.2. Dies gilt grundsätzlich auch für die johanneischen Schriften. Im Johannes-Evangelium ist die Zugehörigkeit der Christen zum ewigen Leben als der im Glauben an Jesus empfangenen Heilswirklichkeit jedoch noch um einen deutlichen Grad gewichtiger, end-gültiger. Der Glaubende hat das ewige Leben (Joh 3,16;6,47). „Jeder, der lebt und glaubt an mich, wird nicht sterben, in Ewigkeit nicht“ (11,26). Jesu Jünger sind nicht von der Welt, wie Jesus nicht von der Welt ist (17,14). Darum haßt die Welt sie, wie und weil sie zuerst Jesus gehaßt hat (15,18). Entsprechend mahnt der Briefautor seine Adressaten: „Liebt nicht die Welt noch das, was in der Welt ist!“ (1. Joh 2,15). Alles Begehren nach irdischem Wohlstand „ist nicht aus dem Vater, sondern aus der Welt. Und die Welt vergeht und all ihre Begierde (oder: alle Begierde nach ihr); wer aber den Willen des Vaters tut, bleibt in Ewigkeit.“ (2,16 f.). „Vergehen“ wie „Bleiben“ sind eschatologische Termini. Das Zunichtewerden im Endgericht und die ewige Dauer des Lebens in der neuen Welt Gottes sind gemeint. Das gilt ausdrücklich auch für die Lebenspraxis, den Wandel der Christen. „Jeder, der die Sünde tut, tut auch die Widergerechtigkeit; und die Sünde ist die Widergerechtigkeit. Und ihr wißt: Jener (Jesus Christus, der Sohn Gottes) ist erschienen, um die Sünden wegzuschaffen; und Sünde ist nicht in ihm. Jeder, der in ihm bleibt, sündigt nicht. Jeder, der sündigt, hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt“ (1. Joh 3,4–6). Daraus folgt: „Wer die Gerechtigkeit tut, ist gerecht . . . Wer die Sünde tut, ist aus dem Teufel . . . Dazu ist Gottes Sohn erschienen, (in nichts) aufzulösen die Werke des Teufels. Jeder, der aus Gott gezeugt ist, tut keine Sünde, und er kann nicht sündigen, weil er aus Gott gezeugt ist.“ (3,7–9). Solche – in gewissem Sinn ontologischen – Sätze über Sünde und Gerechtigkeit als einander eschatologisch-endgültig ausschließende, radikal gegensätzliche Seinsweisen, und über ein so ganzheitliches Einbeschlossensein der Christen in Jesus Christus, daß sie nicht einmal die Möglichkeit zu sündigen haben, sind in den nichtjohanneischen Schriften nicht zu finden. 2. 2.1. In demselben 1. Johannesbrief stehen nun aber zu Beginn Sätze, die dem völlig widersprechen; Sätze, die nun wiederum auch ihrerseits beispiellos im ganzen Neuen Testament sind: „Wenn wir sagen: ,Wir haben keine Sünde‘, verführen wir uns selbst, und die Wahrheit (Gottes) ist nicht in uns. Wenn wir unsere Sünden bekennen, ist Er treu und gerecht,

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daß er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von jeglicher Ungerechtigkeit. Wenn wir sagen: ,Wir sind (Leute), die nicht gesündigt haben‘ (Perfekt!), machen wir Ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.“ (1. Joh 8–10). Diese Sätze stehen unmittelbar in einer Reihe mit typisch johanneischen Sätzen eines ontologischen Dualismus: „Gott ist Licht, und keinerlei Finsternis ist in ihm“, lautet die Überschrift (1,5b), die in den folgenden, rhetorisch gleichgestalteten „Wir“-Sätzen entfaltet werden: „Wenn wir sagen: ,Wir haben Gemeinschaft mit ihm‘, und in der Finsternis wandeln, lügen wir und tun nicht die Wahrheit. Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, haben wir Gemeinschaft miteinander“ (1,6–7a). Soweit ist alles klar. Den ausschließenden Gegensatz zwischen Licht und Finsternis kennen die Leser aus dem Johannesevangelium vom Prolog an. Und an hervorgehobener Stelle, am Ende des 1. Teiles, sagt Jesus als sein letztes Wort an die Juden (Joh 12,46): „ICH bin als Licht in die Welt gekommen, damit jeder, der an mich glaubt, in der Finsternis nicht bleibt.“ Die dualistische Struktur ist in 1. Joh 1,6 f. von genau der gleichen Art wie die der eben zitierten Sätze aus dem 3. Kapitel über Gerechtigkeit und Sünde. Weil in 1. Joh 1,7 die Gemeinschaft miteinander der Gemeinschaft mit Gott 1,6 entspricht, scheinen die beiden Wir-Sätze mit V. 7a abgeschlossen zu sein. Sie geben ja eine stimmige Entfaltung der Überschrift V. 5b. Nun lautet aber in V. 7b die Fortsetzung: „. . . und das Blut Jesu, seines Sohnes, reinigt uns von jeglicher Sünde.“ Das läßt sich zunächst noch als Taufaussage verstehen: Ist doch die Taufe im Urchristentum allgemein der Ort der Sündenvergebung in eschatologischer Wirklichkeit als Reinigung von der Sünde (vgl. 1. Kor 6,11). Dort wo im Briefcorpus die Auseinandersetzung mit den Gegnern beginnt, geht es um das Bleiben in der Wahrheit des Taufbekenntnisses im Gegensatz zu den davon abgefallenen Gegnern, die die Adressaten des Briefes für ihren Abfall zu gewinnen suchen (2,18 ff.). Doch die beiden folgenden, eben zitierten Sätze 1,8–10 sprechen – in derselben dualistischen Redeform wie die voranstehenden „Wir“-Sätze – von der Unmöglichkeit, daß Christen von sich Sündlosigkeit behaupten. Das sei Lüge, – so wie es nach 1,6 Lüge ist zu sagen, Gemeinschaft mit Gott zu haben, der Licht ist, und doch zugleich seinen Lebenswandel in der Finsternis zu führen. Ja, noch mehr: Wer behauptet, völlig frei von Sünde zu sein („nie gesündigt zu haben“), macht damit Gott zum Lügner (1,10). Denn er widerspricht der Treue und Gerechtigkeit Gottes, die darin besteht, uns die Sünden zu vergeben, und uns von jeglicher Ungerechtigkeit zu reinigen (1,9). So wird völlig deutlich: In 1,7b war nicht von der reinigenden Wirkung allein der Taufe die Rede, sondern von Vergebung gegenwärtiger Sünden im christlichen Leben. Das Präsens kaharùzei ist also wirklich als Gegenwartsaussage zu hören.

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Damit aber ist der Gegensatz zu 3,9 perfekt. Wenn man 3,9 auf 1,8–10 zurückbezieht, so wird hier just das Gegenteil – sogar in lehrsatzartiger Formulierung – den Lesern eingeschärft: Die Unmöglichkeit, daß Christen sündigen, wird zu Beginn des Briefes als Lüge, ja als Blasphemie gebrandmarkt, die auszusprechen für die Adressaten als ebenso unmöglich ausgeschlossen wird! Wie ernst es der Verfasser damit meint, zeigt sich in 2,1 f. Hier wechselt die Sprechweise. Es spricht die warme Zuneigung des Seelsorgers zu seinen Kindern: „Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn einer sündigt, haben wir als Fürsprecher beim Vater Jesus Christus, den Gerechten. Und er ist Sühne für unsere Sünden“. Und damit unsere Verwirrung komplett wird, fügt er hier sogar noch hinzu: „Nicht nur für die unsrigen, sondern auch für (die) der ganzen Welt“. Aber gerade mit diesem Zusatz zitiert der Verfasser einen den Lesern wohlbekannten Satz aus dem Johannesevangelium, die erste Aussage, in der dort über die Heilsbedeutung des Todes Jesu die Rede ist: „Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegträgt!“ (Joh 1,29).2 Entsprechend folgt auf die eben zitierte Selbstaussage Jesu Joh 12,46b deren Explikation im Blick auf die Welt: „Denn nicht bin ich gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten“ (12,47b vgl. Joh 3,17). Rettung der Welt, Sündenvergebung für jeden, der an Jesus glaubt, das ist die soteriologische Grundaussage johanneischer Christologie. Diese soll hier, von dem Gegensatz zwischen Licht und Finsternis in 1. Joh 1,5a-7a aus, in gleicher Weise fundamental-dualistisch verstanden werden: So wie das Licht, das Gott ist, jegliche Finsternis ausschließt, so schließt Gottes Reinigungshandeln jegliche Sündlosigkeit des Menschen aus, den doch allein Gott durch den Sühnetod seines Sohnes von allen Sünden gereinigt hat und aufgrund der Fürsprache des verherrlichten Gekreuzigten von jeglicher aktuellen Sünde reinigt. Von da aus erhellt sich der Sinn der ganzen Reihe der Wir-Sätze in 1,5–10. Wenn Gottes Sein in seinem rettenden Handeln besteht, in der Reinigung sündiger Menschen von ihren Sünden, dann ist es Blasphemie, diesem Gott gegenüber sich selbst als sündlos darzustellen, als bedürfe ein in der Taufe gereinigter Christ des reinigenden Handelns Gottes nicht mehr – und damit nicht des Lichtes, das allein die Finsternis der Sünden der Welt „wegschafft“. Und als Seelsorger will der Briefautor seine „Kinder“ dazu ermutigen, Jesus Christus als Fürsprecher in Anspruch zu nehmen, der doch selbst, als der Gekreuzigte, die Sühnung aller ihrer aktuellen Sünden ist, – und zwar grenzenlos-universal: für Christen, die gegenwärtig leider gesündigt haben, ebenso wie für die ganze Welt. 2 Dazu vgl. in diesem Band Nr. 2.

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So bringt der Verfasser nun auch das wahre Verhältnis zwischen der Sündlosigkeit der Christen als ihrer Lebensaufgabe und ihrem Bekenntnis aktueller Sünden in Übereinstimmung: Daß sie die Vergebung Gottes durch die Fürsprache des Sohnes beim Vater in Anspruch nehmen dürfen, wie sie diese in der Taufe am Anfang ihres Christseins von Gott erfahren haben, hat die gleiche Ursache wie ihre Verpflichtung, nach Empfang der Sündenvergebung in der Taufe nicht mehr zu sündigen: Gott selbst ist die alleinige Ursache für beides: „Gott ist Liebe“, so heißt es später 4,16. Als solcher reinigt er uns von unserer Sünde, immer wieder neu. Und als solcher hat er auch die Wirkungskraft, Sünder wirklich so ganz von ihren Sünden rein und gerecht zu machen, wie er selbst ganz und gar gerecht ist und ebenso wenig von Sünde in sich hat wie als Licht irgend eine Partikel von Finsternis. Wer „aus Gott erzeugt“ ist, ist in seinem ganzen Sein und Leben Gottes Kind; er gehört zu Gott und dient Gott. Genauso: Wer von Gott gereinigt ist, der gehört so wesenhaft zu dieser reinigenden Liebeskraft Gottes, daß er ihrer als Sünder ganz und gar, und wann immer er gesündigt hat, bedarf – so elementar, wie der Gerechte Gottes bedarf, um gerecht zu sein. So ist es im Sinne des Verfassers kein sinnloser Gegensatz, seine Kinder, die er eben noch dazu ermutigt hat, Gottes Vergebung in Anspruch zu nehmen, unmittelbar darauf dazu zu ermutigen, Gottes Gebote zu bewahren (2,3 ff.). Denn in dem, der dies tut, ist Gottes Liebe wirklich und vollkommen gegenwärtig (2,5). Und so kann er sie hernach mit eschatologischem Ernst dazu ermahnen, in Gottes Liebe zu bleiben, indem sie sich von jeglicher Sünde fernhalten. ja, er kann sagen: Wer zu Gott gehört, kann nicht sündigen (3,9). Diese Unmöglichkeit ist eben nicht in den Christen selbst begründet, sondern ganz in Gott. Gottes Wirklichkeit ist es, daß Christen sündlos sind und ohne Sünde leben sollen – denn sie leben „in Jesus“. Und die Wirklichkeit der Liebe Gottes ist es, die in ihnen ist, und in der sie leben dürfen – denn Jesus lebt „in ihnen“. Ebenso ist es die Wirklichkeit der gleichen Liebe Gottes, die sie wieder und wieder von Sünden reinigt, wann immer sie leider gesündigt haben – die Liebe Gottes, in der er „seinen Sohn gesandt hat als Sühne für unsere Sünden“ (4,10 vgl. 2,2). 2.2. Am Schluß des Briefes (5,16 f.)3 scheint die konkrete Situation hindurch, im Blick auf die der Verfasser offenbar zu Beginn seines Briefes als erstes das Thema der Sündenvergebung angesprochen hat.4 In der 3 Ich halte 5,14–21 für den originalen Schlußteil des Briefes; mit G. Strecker, Joh.briefe, 293; gegen R. Bultmann, Joh.briefe, 11; zuletzt H.-J. Klauck, 1. Joh., 23. 4 Zum Folgenden vgl. die Nachweise in diesem Band Nr. 4. K. Erlemann, 1. Joh., 288 bestreitet mit Recht, daß sich der Briefautor in 1,8–10 gegen eine gegnerische Position

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Gemeinde (bzw. den Gemeinden, für die der Autor eine geistliche Leitungsautorität ist) ist eine schwere akute Krise ausgebrochen. Einige Christen bestreiten das Taufbekenntnis zu „Jesus Christus, Gottes Sohn“ (1. Joh 2,18–27; 4,1–3 vgl. 5,1.5–12) und suchen die Gemeinde auf ihre Seite zu bringen. Alles spricht für die Annahme, daß es sich in dieser Sache um einen der schwersten Konflikte zwischen Kirche und Synagoge gehandelt hat. Wenn die Protagonisten dieses Aufstandes die geistliche Basis der Lebenstradition der johanneischen Gemeinden in Frage stellen, so tun sie es, weil sie in der äußerst direkten Weise, wie hier die Messianität und Gottessohnschaft Jesu als seine Einheit mit Gott verstanden worden ist (Joh 10,31), nichts weniger als einen Verstoß gegen die Einzigkeit Gottes im Sinne des schema’-jisrael (Dtn 6,4 f.) und daher pure Blasphemie, Abfall vom Glauben, zu erkennen meinten (vgl. den Vorwurf „der Juden“ gegen Jesus in Joh 5,18;10,33–36; 19,7). Der Verfasser versteht aber in entsprechend exklusiver Weise gerade das Bekenntnis zu Jesus Christus, Gottes Sohn, als das einzig legitime Bekenntnis zu dem einzig-einen Gott. Er sieht darum umgekehrt in der Bestreitung des Christusbekenntnisses Apostasie in gotteslästerlicher Abgründigkeit (2,22 f., 5,10). Er erkennt darin nichts anderes als jenes Wirken des Anti-Christus und seiner Pseudopropheten in der Zeit unmittelbar vor dem Ende, wovon die Gemeinden aus ihrer apokalyptischen Tradition Kenntnis haben (1. Joh 2,18; 4,1–3; vgl. Mt 24,24 f.). Man kann dazu auch das Jesuswort Mt 12,31 f. rechnen, nach dem jede Lästerung des heiligen Geistes in eschatologischer Endgültigkeit unvergebbar ist.5 Im Taufbekenntnis zu libertinistischer Enthusiasten wende. Nach Erlemann ist es umgekehrt „das Problem des Sündigseins“ nach der Taufe, durch das Mitglieder der johanneischen Gemeinschaft an der Sühnekraft des Todes Christi und damit an der Messianität Jesu überhaupt irregeworden sind und sich daher von der Gemeinde verabschiedet haben (ebd., 283 f.295 f. nach K. Berger, Theologiegeschichte, 236 f.). Der Briefautor konzediere das Sündigen von Christen und ziehe daraus „eine andere Konsequenz“ als jene Apostaten: „er führt die bisherige Christologie weiter und ergänzt sie um einen entscheidenden Aspekt: Die sündenvergebende und -überwindende Wirksamkeit des Messias Jesus bleibt nicht auf seine irdische Tätigkeit . . . begrenzt, sondern sie wird ausgedehnt; Er vergibt auch jetzt noch die Sünden (1,9), und zwar als Paraklet im himmlischen Thronsaal (2,1); vgl. Röm 8,34; Hebr 8,1 ff.). In dieser Funktion vollendet Christus weltweit das angefangene Werk (2,2).“ So auch K. Berger, ebd., 238: „Das Christentum im Adressatenkreis von 1. Joh droht zu scheitern an der Sünde der Christen nach der Bekehrung. 1. Joh sucht eine christologische Lösung, indem er Jesu Heilsbedeutung ausweitet auf seine himmlische Fürsprecherfunktion.“ Aber wird dadurch nicht die Argumentationslinie der Gegner verkehrt? Wenn in diesem Eingangsabschnitt bereits die Gegner – noch verdeckt, aber doch völlig deutlich – attackiert werden, dann müssen es doch sie sein, die „sagen: Wir haben keine Sünde“ (1,8.10)! Dazu vgl. in diesem Band S. 123–125. 5 Zum alttestamentlich-jüdischen Hintergrund vgl. H.-J. Klauck 1. Joh., 328; besonders Jub. 21,11; „Du sollst keine Sünde zum Tode begehen vor dem höchsten Gott, und er wird sein Antlitz vor ihm verbergen und dich zurückgeben in die Hand deiner Sünde und

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Jesus Christus, dem Sohn Gottes, spricht der in der Gemeinde lebendiggegenwärtige Geist (= das „chrisma“ 1 Joh 2,20–27). Gegen diesen chrisma-Geist (der in dieser Formulierung den Bezug zum „Christus“-Bekenntnis der Taufe anklingen läßt) richtet sich die Blasphemie der Apostaten (4,3). Darum ist diese die eine Todsünde, die unvergebbar ist (5,16 f.). Vor dieser Götzendienerei muß die Gemeinde sich hüten als einer tödlichen Gefahr für ihren Glauben und ihre Heilsteilhabe. Mit diesem „Achtergewicht“ schließt dieser „Brandbrief“ des höchst besorgten Autors an seine zutiefst bedrohte Gemeinde. Nun ist es – offenbar im Zusammenhang der sicherlich sehr erregten und heftigen Auseinandersetzung in der Gemeinde – zu Verletzungen der Gemeinschaft miteinander (1,6) gekommen. Das aber sind Sünden, die „nicht zum Tode führen“ (5,16 f.), sofern dabei nicht das Taufbekenntnis als Basis der Koinonia bestritten wird. Diese vielfachen gegenseitigen Verletzungen unter den Christen der Gemeinde, die dem Taufbekenntnis nicht in aller Form abgeschworen haben, zu heilen, ist das seelsorgerliche Anliegen des Verfassers: ôstin àmartùa o« pró™ hânaton. Dies ist ihm genauso wichtig wie die „lehramtliche“ Mahnung, am Bekenntnis festzuhalten. Denn: „Gott ist Liebe“ (4,16). Seine Gebote für die von ihm „gezeugten“ Kinder konvergieren – von diesem Wesen des in ihrer Mitte gegenwärtigen Gottes (Vater und Sohn) her – darin, daß sie einander lieben (3,14–18; 4,7 ff.).6 3. Zum Schluß ist die so ausgelegte Aussage 1. Joh 1,5–2,2 in den größeren Zusammenhang der Kirchengeschichte urchristlicher Zeit zu stellen.7 3.1. Die seelsorgerliche Mahnung des Briefautors, Gottes Vergebung in Anspruch zu nehmen, um die verletzte gegenseitige Liebe zu heilen, setzt wahrscheinlich einen gewissen Grad institutionalisierter Buße voraus. Daß es diese im umgebenden Urchristentum gegeben hat, zeigen Stellen wie Jak 5,16 und vor allem das Stück einer alten judenchristlichen dich ausrotten von der Erde.“ (Übers. K. Berger, JSHRZ II/3, 433); entsprechend Jub 15,34. Zur Geschichte der unvergebbaren Sünde im Christentum des 1. und 2. Jahrhunderts vgl. G. Strecker, Joh.briefe, 299–304. 6 Diese Deutung von 1. Joh 5,16–18 scheint mir im Gesamtzusammenhang des 1. Johannesbriefes plausibler als die von C. Frey, Eschatologie III, 75 f.: „Vermutlich nimmt der Autor mit seiner Rede von der ,Sündlosigkeit‘ der Christen eine ,perfektionistische‘ Parole der doketischen Gegner auf, um sie nun polemisch gegen sie zu wenden“. – Zu den Schlußsätzen 1. Joh 5,20 f. vgl. in diesem Band S. 108 ff. 7 Zum Folgenden vgl. U. Wilckens, Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung (GE) und ihre biblische Grundlage“, in: Th. Söding (Hg.), Worum geht es in der Rechtfertigungslehre? (QD 180), Freiburg 1999, 27–63, hier 47–56.

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Gemeindeordnung Mt 18,15–18, das der Evangelist in seine große Jüngerrede eingearbeitet hat. Sie steht unter der Überschrift der Urpflicht der Jünger Jesu, einander zu vergeben. (Lk 11,4; Mt 6,12; Mk 11,25). Aus etwas späterer Zeit sind außerdem Did 4,13 f. sowie 1.Klem 60,1 Zeugnisse aus der Anfangsgeschichte der Buße. Der 1. Klemensbrief gibt zugleich eine Fülle interessanter Beispiele dafür, von welch großer Bedeutung bei der Ausbildung einer Theologie der Buße und Bußpraxis das Alte Testament gewesen ist.8 Bekanntlich ist die Herausbildung institutionalisierter Buße im Urchristentum nicht ohne theologische Probleme gewesen. Es hat auch radikale Bestreitungen jeglicher Möglichkeit von Buße nach der grundlegenden Buße und Sündenvergebung in der Taufe gegeben (Hebr 6,4 ff.; 10,26 ff.; 12,15–17 sowie im 2. Jahrhundert der Hirte des Hermas und besonders Tertullian). Diese Abwehr und die daraus resultierende Neigung zu einer Radikalisierung der Tauftradition, die man gegen alle „Erweichungen“ verteidigen zu müssen meinte, sollte uns dazu dienen, die Ausgangslage des gesamten Urchristentums in der Taufe als Basis allen christlichen und kirchlichen Lebens und als „hermeneutisches Integral“ im Verständnis des Christseins noch einmal zu gewichten – und von da aus den „hermeneutischen Ort“ der Entstehung kirchlicher Bußpraxis genauer zu bestimmen. 3.2. Wenn man sich in die Gesamtsituation der Urkirche als Missionskirche historisch hineindenkt, ist es gut zu verstehen, daß man in der Anfangszeit der beiden ersten Generationen völlig selbstverständlich mit der Taufe gelebt und auf der Grundlage der „tauftheologischen“ Traditionselemente alles christliche und kirchliche Leben verstanden und geordnet hat. Doch von Anfang an kamen andere Traditions- und Erfahrungselemente hinzu, die sich in gleicher Selbstverständlichkeit im Verständnis des christlichen und kirchlichen Lebens zur Geltung gebracht haben: 3.2.1. Die Mitte des Lebens der Urkirche war ihr eucharistischer Gottesdienst. Hier ging man im Zusammenhang der Mahlgegenwart des Herrn in ständiger Wiederkehr mit dessen Worten um, mit denen er das gebrochene Brot als „gemeinsame Anteilhabe an seinem Leibe“ und den Becher als „gemeinsame Anteilhabe an seinem Blut“ deutet (1. Kor 10,16 f.). Das Kelchwort lautet in der Fassung Mt 26,28: „Dies ist mein Blut (das Blut) des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung 8 Dazu vgl. die Belege in: U. Wilckens, Die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigung“ a. a. O., 49 Anm. 33.

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der Sünden“. Hier ist dieses ursprünglich zur Taufe gehörende Element der Sündenvergebung in die eucharistische Liturgie hineingewachsen.9 Damit aber erfährt die Gemeinde in ihrem sonntäglichen Gottesdienst ständig neu, was sie grundlegend und ein für alle Mal am Ort der Taufe als dem allbestimmenden Anfang des Christseins erfahren hat. Von daher hat es seinen Sinn, daß nach der Didache und dem 1. Klemensbrief der Gottesdienst zum Ort einer eigenen Bußhandlung wird, in der der einzelne Sünder in die gottesdienstliche Gemeinschaft der Kirche wiederaufgenommen wird. 3.2.2. Das Vaterunser ist im Leben der Urkirche an die Stelle des Achtzehn-Bitten-Gebets der synagogalen Gemeinschaft getreten. In der Mitte dieses Herrengebets steht die Bitte um Vergebung der Sünden zusammen mit der ausgesprochenen Bereitschaft zu gegenseitiger Vergebung. Man wird den Einfluß kaum unterschätzen können, der von dieser ständigen Gebetspraxis (nach Did 8,3 dreimal an jedem Tag) auf die Praxis kirchlichen Lebens übergegangen ist. Hier gilt sicher: „lex orandi – lex credendi“. Die Praxis des Vaterunsergebets hat sicherlich mit am meisten dazu beigetragen, daß inmitten der durch die Taufe bestimmten Atmosphäre in völliger Selbstverständlichkeit ein Brauch von Buße und Vergebung mitsamt einer entsprechenden theologischen Begründung hat entstehen können. Öffnete doch die Vergebungsbitte des Vaterunsers die grundlegend in der Taufe erfahrene Sündenvergebung in das tägliche Leben und Zusammenleben der Christen hinein. Dazu ist nun nochmals sehr aufschlußreich, daß in der Didache die Anweisung zum täglichen Vaterunsergebet (8,2 f.) unmittelbar vor der liturgischen Anweisung zur Feier der Eucharistie (9 f.) steht. Daraus kann geschlossen werden, daß das Vaterunser aus der täglichen Gebetspraxis in die eucharistische Liturgie hineingewachsen ist. 3.2.3. Schließlich ist noch einmal auf das Alte Testament als „Schrift“ des Urchristentums hinzuweisen. Mit der Schrift lebte man in allen Bereichen kirchlichen Lebens. Sie war sozusagen der Mund des heiligen Geistes. So ist die Schrift geradezu zu einer Fundgrube zum Thema Buße und Sündenvergebung geworden. Gerade auch als Hintergrund von 1. Joh 1,5–2,2 ist es aufschlußreich, daß das Miteinander von Sündlosigkeit und Sündenbekenntnis in genau entsprechender Weise überall im Alten Testament zu finden ist. Erstens: Der Gerechte hat selbstverständlich gerecht zu leben – im Gegensatz zum Sünder (Ps 1). Zweitens: Der Gerechte bekennt Gott eine Fülle von Sünden und bittet im Vertrauen 9 Dazu verweise ich auf U. Wilckens, Theologie des NT I/2, 2002. Kap. 9.3.2.

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auf Gottes Barmherzigkeit im Sinne von Ex 34,6 um Vergebung (z. B. Ps 25; 32; 51; 143).10 Wenn Israel gesündigt hat, können Mose und die Propheten Gott um Aufgabe seines Zorns und um Wiederannahme seines erwählten Volkes bitten (Gen 18,23 ff.; Dan 9,3 ff.). Das Beispiel der Sünde Davids und seines Gebets um Vergebung (Ps 51,1 f.!) spielt im 1. Klemensbrief eine wichtige paradigmatische Rolle (1.Klem 18). Eine Stelle wie Ps 143,1 f. („Geh nicht ins Gericht mit deinem Knecht, denn keiner, der lebt, ist gerecht vor dir“) hat einerseits Paulus wie selbstverständlich auf die Rechtfertigung am Anfang des Christseins bezogen verstanden und so zitiert (Gal 2,16; Röm 3,20). Genauso selbstverständlich könnte andererseits der Verfasser des 1. Johannesbriefes dieselbe Stelle als Schriftbeleg für seine Lehrsätze 1,8–10 anführen.11 4. Fassen wir zusammen: 4.1. Alle gegenwärtig-aktuale Buße und Sündenvergebung im christlichen Leben gründet in der fundamentalen Buße und Sündenvergebung am Anfang des Christwerdens in der Taufe. 4.2. In der Eucharistie und im täglichen Gebet des Vaterunsers erfahren Christen von Anfang an, wie die Gnade Gottes und die unio mit Christus, durch die sie in der Taufe als Sünder gerechtfertigt worden sind, sie ständig umgibt und begleitet. Die ganzheitliche Verbindung ihres Lebens mit dem Auferstehungsleben Christi ist ebenso der Grund allen Wandels in Gerechtigkeit wie zugleich auch immer neuer Vergebung von Sünden. So wird der Anfang des Christwerdens nie zu einer abgeschlossenen Vergangenheit. Auf dem bleibenden Grunde der Vergebung erfahren Christen ständig aktuelle Sündenvergebung. Zum expliziten Thema wird dies aber erst in der zweiten urchristlichen Generation. 4.3. Daß „Christen aus der Gnade herausfallen“ können (Gal 5,4), sei es aufgrund von Irrlehre oder Abfall (Gal 1,6–9), sei es aufgrund von schwerer Sünde in der Lebenspraxis (1. Kor 5,1–5; Apg 5,1–11; vgl. die Warnung 1. Kor 6,15.19 f.), ist im Urchristentum von Anfang an bewußt. Dies wird alsbald zu einer Gruppe von „Todsünden“, die unvergebbar sind (Mt 12,32; Hebr 6; 1. Joh 5,16 f. – s. o.). 4.4. Schon relativ früh entwickelt sich ein fester Brauch von Bußakten, die kirchenordnungsmäßig geregelt sind: Mt 18,15–18; Jak 5,16; 1. Joh 10 Dazu vgl. H. Spieckermann, „Barmherzig und gnädig ist der Herr“„ 11 Zur Mahnung zu gegenseitiger Vergebung (1.Thess 5,12.14; Gal 6,1 f.; Röm 15,14) vgl. Th. Söding, Rechtfertigung der Sünder, a. a. O., 50 f.; zu entsprechenden Ansätzen kirchlicher Ordnung ebd., 51 f.

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5,16 f.; Did; 1.Klem. Daß von solcher geordneten Möglichkeit von Buße und Vergebung Todsünden ausgeschlossen sind, gilt bis ins 3. Jahrhundert hinein allgemein. 4.5. Im 1. Johannesbrief findet sich die erste und in ihrer Dichtheit und Tiefe für lange Zeit einzigartige theologische Durchdringung des spannungsreichen Verhältnisses zwischen dem vollen Gerechtsein und der vollen Verpflichtung zu einem Wandel in Gerechtigkeit einerseits und der ständigen Vergebungsbedürftigkeit des Christen und der ständigen Vergebungsbereitschaft und -kraft Gottes andererseits. Entscheidend ist: Beides, das Gerechtsein wie das Gerechtwerden durch Vergebung, gründet im dreieinigen Gott. Er ist es, der in der Taufe definitiv gehandelt hat. Er ist es, der in der ständigen Vergebung handelt. 4.6. So zeigt der 1. Johannesbrief als einziges direktes Zeugnis des Neuen Testaments, was sich auch bei einer kirchengeschichtlichen Begründung der reformatorischen Formel „simul iustus et peccator“ ergibt: Das damit Gemeinte erwächst aus der Buße und will diese aus der Wirklichkeit des Christseins als eines Seins „in Christus“ so erklären, daß die Taufwirkung der Rechtfertigung und die Taufgabe der Gerechtigkeit in der christlichen Lebenspraxis zusammengehalten werden. Das ist nur so möglich, daß die Buße ihre Verwurzelung in der Taufe und die Taufe ihre Offenheit zu ständiger Buße nicht verliert und in beidem der dreieinige Gott der entscheidend Handelnde bleibt. 4.7. Schaut man auf den Schriftgebrauch in den Bekenntnisschriften der lutherischen Kirche, so fällt allerdings sehr auf, daß hier 1. Joh 1,8–10; 2,1 f. als Beleg für das „simul iustus et peccator“ nahezu überhaupt nicht vorkommt. Im Blick darauf sind lediglich zwei Stellen zu finden: – In den Schmalkaldischen Artikeln stellt Luther an den Schluß seiner Polemik gegen die „falsche Buße der Papisten“ (III. Teil) die beiden Stellen 1. Joh 3,9 und 1,8 (BSELK 448,30–449,4) unmittelbar nebeneinander – kommentarlos. – In der Apologie zitiert Melanchthon in Artikel IV „Von der Rechtfertigung“ (BSELK 220,40 f.) 1. Joh 1,8 im Zusammenhang einer Reihe von alttestamentlichen Zitaten, angeführt von Ps 130,3, aus denen er schließt: „habent igitur et sancti peccata“. Offenbar hat im Zusammenhang der Auseinandersetzungen der Reformatoren um die Rechtfertigungslehre unter dem Aspekt „simul justus et peccator“ der 1. Johannesbrief, die einzige Schrift im Neuen Testament, an der ein theologisches Nachdenken über diese Spannung zu Wort kommt, kaum Beachtung gefunden. Jedenfalls hat sich davon in den Bekenntnisschriften nahezu nichts niedergeschlagen.

Maria, Mutter der Kirche (Joh 19,26 f.) Im Kontext der Passionsgeschichte der synoptischen Tradition steht die Szene Joh 19,26 f. einzigartig da. Nirgends sonst spricht der Gekreuzigte Menschen unmittelbar an1, zumal nicht solche, die ihm nahestehen. Seine Jünger sind bei seiner Gefangennahme geflohen (Mk 14,50; Mt 26,56). Nur eine Gruppe von Frauen, die Jesus von Galiläa nach Jerusalem begleitet hat, sieht dem Geschehen der Kreuzigung „von ferne“ zu (Mk 14,40 f.). Doch nirgends sonst wird unter diesen Frauen Jesu Mutter erwähnt, nirgends sonst einer seiner Jünger. In seinem Leiden und Sterben am Kreuz ist Jesus allein, von allen verlassen. Anders im Johannesevangelium. Hier stehen die Frauen2 nicht „fernab“, sondern nahe „bei Jesu Kreuz“ (19,25). An erster Stelle wird Jesu Mutter genannt. Jesus „sieht“ sie und „den Jünger, den Jesus liebte“, von dem im Satz vorher nicht die Rede war. Wie in einer testamentarischen Verfügung spricht er diese beiden einander zu: „Frau, siehe: Dein Sohn!“ und: „Siehe: Deine Mutter“ (19,26–27a). Ihren Abschluß findet diese kurze Szene mit der Feststellung des Erzählers, daß dieser Jünger „von jener Stunde an“ Jesu Mutter zu sich genommen habe (19,27b).

1 Einzige Ausnahme: die Verheißung an den „Schächer“ Lk 23,43. 2 Es ist nicht deutlich, ob „Maria, die Frau des Klopa“ als Name der „Schwester seiner Mutter“ gemeint ist, oder ob es sich um eine paarweise Anordnung von vier Frauen handelt: zwei Schwestern ohne Namen und zwei Frauen mit dem gleichen Namen Maria. Die zweite Auffassung ist ungleich überzeugender als die erste (und erst recht gegenüber einer Deutung, nach der die beiden Mariennamen auf die Mutter Jesu und ihre Schwester zurückzubeziehen wären). Denn erstens wäre bei einer Rückbeziehung von „Maria, die Frau des Klopa“ auf „die Schwester seiner Mutter“ die ganze Namenliste unproportioniert und sprachlich sehr schwerfällig. Dagegen ist sie bei paarweiser Anordnung sprachlich präzis und eindeutig zu verstehen. Zweitens wären die drei genannten Frauen alle Marien, und es bliebe unverständlich, warum „die Mutter Jesu“ dann die einzige namenlose Benennung wäre, obwohl ihr Name Maria zweifellos im Urchristentum bekannt und geläufig war. Sind dagegen die beiden ersten Frauen namenlos genannt, so ist hier das Prinzip der Formulierung, die Verwandtschaft mit Jesus hervorzuheben, klar erkennbar – und ebenso die Doppelung des Mariennamens bei der Nennung des zweiten Paares. – Wie sich Joh 19,25 zu Mk 15,40 verhält, muß hier unerörtert bleiben. – Zu der lebhaften und verzweigten Diskussion über Joh 19,25 vgl. J. Blinzler, Brüder und Schwestern Jesu, 111–113; R. Schnackenburg, Joh. III, 321–323.

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1. Kontextanalyse und Literarkritik Im Kontext ist diese Szene stark herausgehoben. Einerseits steht sie im Kontrast zu dem voranstehenden Geschehen (19,23 f.). Nach der Kreuzigung Jesu nehmen die römischen Soldaten seine Kleider und teilen sie in vier Teile, lassen aber seinen Leibrock ganz und würfeln um ihn. Der Erzähler fügt hinzu, daß sie damit, ohne ihr Wissen, „die Schrift erfüllt“ haben, nämlich Ps 22,19. Der kurze Satz 19,24b hat offenbar die erzählerische Funktion, dieses Geschehen von dem folgenden nachdrücklich zu unterscheiden. Auf der einen Seite sind die Soldaten die Handelnden, die Jesus das Letzte nehmen, was zu seinem irdischen Dasein gehört. Von da an handelt Jesus nur noch selbst. Seine Worte zu seiner Mutter und seinem Jünger sind ein hoheitlicher Akt. Und auch in seinem Sterben ist er souverän. Mit seinem Wort „Mich dürstet“ erfüllt er wissend die Schrift – im Unterschied zu den Soldaten zuvor (19,24). Es ist wie ein Befehl, der sogleich ausgeführt wird (19,28 f.). Und Jesus nimmt den Essig, der ihm gereicht wird, und stirbt mit dem Wort „Es ist vollbracht“ (19,30). So vollzieht er seinen Tod als die Vollendung seiner Sendung (13,1.31 f.; 17,1), indem er zum Vater geht, von dem er gekommen ist (16,28). „Deswegen liebt mich mein Vater: weil ich mein Leben hingebe, um es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es mir weg; sondern von mir selbst gebe ich es hin. Vollmacht habe ich, es hinzugeben, und Vollmacht, es wieder zu nehmen“ (10,17 f.). Eine literarkritische Analyse bestätigt die herausgehobene Bedeutung der Szene 19,26 f. Es ist offenbar der Evangelist, der sie in den Berichtskontext seiner Vorlage eingefügt hat.3 Da sich die Erwähnung der Frauen als „dabeistehende“ Zeugen (19,25) mit Mk 15,40 f. berührt, liegt die Vermutung nahe, daß diese Notiz im vorjohanneischen Bericht ihren Ort nach Jesu Tod gehabt hat. Das Verb eÜstŒkeisan entspricht Lk 23,49. Es paßt besser im Kontext der Feststellung der Zeugenschaft der Frauen denn als Einleitung der Szene 19,26 f. Der Evangelist hat den Satz an die jetzige Stelle vorgezogen und durch den Zusatz parä tã staurã die Gruppe der Frauen Jesus so nahegerückt, daß dieser dann aus ihr heraus seine Mutter anblicken und sie – zusammen mit dem „Jünger, den Jesus liebte“, einer rein johanneischen Gestalt – hervorrufen kann. Den Anlaß dazu gab die Nennung der Mutter Jesu in dieser Gruppe. Da sie darin neben ihrer Schwester ein Paar bildet, wie auch die beiden Marien, ist die Annahme wahrscheinlicher, daß beide Namen bereits im vorjohanneischen Bericht zusammengestanden haben, als daß es der Evangelist sei, der Jesu Mutter zusammen mit dem Jünger eingebracht hätte. Der Evangelist hat sich 3 So z. B. R. Schnackenburg, Joh. III, 321; zuletzt U. Schnelle, Joh., 288. Nach J. Becker, Joh., 697 f. handelt es sich um einen Einschub der „kirchlichen Redaktion“.

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vielmehr durch die Nennung der Mutter Jesu und ihrer Schwester in seiner Vorlage zur Bildung der Szene 19,26 f. und zur Vorziehung der Frauennotiz als Einleitung zu dieser Szene 19,25 inspirieren lassen. Auch der Satz 19,24b dürfte von ihm stammen. Denn nur zur Distanzierung des Handelns der Soldaten gegenüber dem Jesu selbst gewinnt dieser – sonst funktionslos-nachklappende – Satz literarischen Sinn. Darf man so zwischen „Tradition“ und „Redaktion“ unterscheiden, so wird die besondere Bedeutung und das große Gewicht erkennbar, das der Evangelist dieser Szene gegeben hat. Daß Jesus seiner Mutter den Jünger, den er liebte, als ihren Sohn gibt und diesem Jünger seine Mutter anvertraut, ist der letzte Akt seiner irdischen Sendung, mit dem diese sich erfüllt. Die testamentarische Verfügung tritt in der Zeit nach seinem Tode in Kraft und gewinnt so für die Kirche eine entsprechend gewichtige Bedeutung. Welche Bedeutung dies ist, läßt sich nur erkennen, wenn man sich mit diesen beiden Personen näher befaßt, denen Jesus sich hier zuwendet: seiner Mutter und dem namenlosen „Jünger, den er liebte“. Von beiden ist vorher im Johannesevangelium jeweils nur einmal die Rede: von Jesu Mutter in 2,1–11, von jenem Jünger in 13,23–25. Beide Stellen sind im folgenden zunächst je für sich zu behandeln, bevor wir zu 19,26 f. zurückkehren können.

2. Die Mutter Jesu – Joh 2,1–11 Mit der Perikope Joh 2,1–11 beginnt die Reihe der „Zeichen“-Handlungen Jesu, in denen er, der Mensch gewordene Gottessohn, „seine Herrlichkeit offenbart“ (2,11). Die soeben berufenen Jünger (1,35–51) sind hier nur als Begleiter Jesu genannt (2,2). Sie treten im folgenden völlig hinter Jesus und seine Mutter zurück, in deren eigenartiger Kooperation sich dieses Zeichen vollzieht: die wunderbare Verwandlung von Reinigungswasser (2,6) zu Festwein von außerordentlicher Qualität (2,10). Erst nachdem dieses „erste der Zeichen“ geschehen ist, treten die Jünger hervor: als die ersten Menschen, die an Jesus glauben (2,11). Das Licht der Erzählung fällt zuerst auf Jesu Mutter. Sie ist Gast bei der Hochzeitsfeier in Kana in Galiläa (2,1). Das Hochzeitspaar und die übrigen Gäste bleiben anonym im Hintergrund. Das Geschehen, das berichtet werden soll, beginnt mit dem Eintreffen Jesu und seiner Jünger, just in der katastrophalen Situation dieser Hochzeitsfeier, daß der Wein fehlt (2,3)!4 Hier ergreift die Mutter Jesu die Initiative, indem sie ihren 4 Beachte den Unterschied zwischen rn V. 1 und ÉklŒhv V. 2 in der Einleitung und dem

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Sohn auf diesen peinlichen Mangel hinweist – zweifellos als unausgesprochene Aufforderung an Jesus, dem Mangel abzuhelfen.5 In Jesu Antwort V. 4: tù Émoÿ kaÿ soù, g‹nai; muß zwar keine polemische Schärfe herausgehört werden6, eine Zurückweisung enthält sie jedenfalls. Allerdings antwortet Jesus auf einer anderen Ebene als der der Aufforderung seiner Mutter. „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ bezieht sich in 7,30 und 8,20 deutlich auf die Passion7, deren Beginn 13,1 mit theologischer Gewichtung als Vollendung der Sendung Jesu markiert wird: Er, den der Vater in die Welt gesandt hat, verläßt nun die Welt und geht zum Vater. Dieser Hingang zum Vater ist nach 12,23 die Stunde der Verherrlichung Jesu, die er in 17,1 vom Vater im Blick auf seinen bevorstehenden Kreuzestod erbittet. Nur wenn dieser „HintergrundSinn“ auch in der Antwort Jesu an seine Mutter 2,4 herausgehört wird, läßt sich der Fortgang des Geschehens verstehen. Seine Mutter weist nun die Diener an zu tun, was Jesus ihnen sagen wird (2,5). Er befiehlt ihnen, die sechs Krüge bis zum oberen Rand mit Wasser zu füllen (2,7). Sie tun es. Nun erfolgt sein zweiter Befehl: Sie sollen von dem Wasser schöpfen und dem Festordner bringen (2,8). Der stellt beim Kosten verwundert fest, daß es sich um Wein in bester Qualität handelt, den der Bräutigam offenbar zum Schluß und Höhepunkt des Festes aufgespart hat (2,10). Er weiß nicht, „woher er ist“ – im Unterschied zu den Dienern, die ja das Wasser in die Krüge gefüllt haben (2,9). Auch dies ist eine der tiefsinnigen Formeln johanneischer Theologie: Weder von Jesus selbst (7,27 f.; 8,14; 9,29 f.; 19,9) noch von seiner Gabe (4,11) noch auch von Gottes Geist (3,2) wissen Menschen, „woher er ist“. Nur Jesus selbst weiß es (8,14) – und der Glaube seiner Jünger (6,69 vgl. 16,28–30). Indem hier der Festordner „nicht weiß, woher“ der Bräutigam diesen Wein auf einmal hat, zeigt er sich als Typos eines Menschen, der zugleich auf einer anderen, tieferen Ebene unwissend ist: Er weiß nicht, daß es Jesus ist, der diesen Wein aus dem Wasser durch wunderbare Wandlung geschaffen hat; und er weiß nicht, wer Jesus ist, – daß es Gottes Herrlichkeit ist, die in ihm wohnt (1,14), und die in dieser Zeichenhandlung durch ihn offenbar wird (2,11). Das kann nur im Glauben an Jesus erkannt werden. Die Jünger, die mit Jesus zusammen zur mit ¡sterŒsanto™ o¥nou einsetzenden Handlungsablauf, der dann im Präsens erzählt wird. Zur Auffälligkeit, daß bei einer Hochzeitsfeier der Wein fehlt, vgl. M. Rissi, Hochzeit in Kana, 78. 5 R. Schnackenburg, Joh. I, 332 verweist auf 11,22, wo Martha in entsprechender Weise ein Eingreifen Jesu zu rechtzeitiger Wendung der Not erwartet hätte, wäre er dagewesen. 6 Dazu vgl. R. Schnackenburg, Joh. I, 333. 7 Vgl. so auch 7,6.8; wo im Kontext ebenfalls zwei Ebenen deutlich werden. Zu dieser Deutung des johanneischen Symbolwortes vgl. neuerdings Th. Knöppler, theologia crucis, 103; U. Wilckens, Joh., 56 f.; J. Frey, Eschatologie II, 182; U. Schnelle, Joh., 60.

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Hochzeit eingeladen worden sind, sind der Antityp zum unwissenden Festordner: Sie sind die einzigen Festgäste, die in diesem Zeichen die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu erkennen und so an ihn glauben (2,11). Inwiefern hat Jesus in diesem Zeichen seine Herrlichkeit offenbart? Das hängt mit der Verwandlung des Wassers in Wein zusammen. Nach jüdischem Brauch dient das Wasser in den Krügen der rituellen Reinigung (2,6). Rein aber wird ein Menschen in Wahrheit nur durch Jesus (13,10) und sein Wort (15,3 – im Kontext der Bildrede vom Weinstock und der „Reinigung“ seiner Reben). Dort wo Jesus tauft (3,22), geschieht wahre Reinigung; das Taufhandeln des Johannes daneben (3,23) hat diese Wirkung eschatologischer Reinigung nicht. Der Streit darum (3,25) ist müßig. Der Täufer Johannes erklärt selbst, in welchem Verhältnis Jesus zu ihm steht: Jesus ist der Bräutigam, der die Braut hat, – Johannes steht als Freund neben ihm und freut sich über die Stimme des Bräutigams. Und diese Freude ist dort „zur Vollendung gekommen“, wo Jesus wie die Sonne aufgeht, während Johannes wie der Mond abnimmt (3,29 f.). Das Zeichen bei der Hochzeit in Kana muß etwas damit zu tun haben, daß in Jesus die messianische Vollendung anbricht8, in der die bislang unvollkommene Reinigung des jüdischen Ritus zu eschatologisch vollkommener Wirkung gelangt. Daß dies in der christlichen Taufe geschieht, in der der Geist Gottes zum Wasser hinzutritt, wird sogleich im Gespräch Jesu mit Nikodemus zum Thema werden – wiederum auf dem Hintergrund eines massiven Nichtwissens dessen, der doch „der Lehrer der Juden“ ist (3,5–8). Doch was bedeutet es, daß hier in Kana Wasser zu Wein wird? Die große Fülle – sechs Krüge von je zwei bis drei Metreten (= 80–120 Liter), die jeweils bis zum Rande gefüllt werden – und die Tatsache, daß dieser wunderbar entstandene Wein nicht nur dem peinlichen Mangel aufhilft, sondern daß dieser zuletzt ausgeschenkte Wein der beste ist (2,10), weisen darauf hin, daß es die Fülle eschatologischer Heilswirklichkeit ist, die in diesem Zeichen offenbar wird.9 Es liegt nahe, darin einen Hinweis auf den Wein der eucharistischen Mahlfeier zu sehen, bei der nach 6,53–55 das Blut des Menschensohnes „der wahre Trank“ ist.10 8 Die Hochzeitsfeier ist im Urchristentum ein verbreitetes Symbolbild der messianischen Freude, vor allem im Zusammenhang der Reich-Gottes-Verkündigung Jesu, vgl. Lk 13,29; 14,15–24; Mt 25,1–13 sowie besonders das eschatologische Schlußwort der Abendmahlstradition Mk 14,25. 9 Zur eschatologischen Wein-Symbolik vgl. die Hinweise bei R. Schnackenburg, Joh. I, 341. 10 Vgl. besonders noch 19,34 f. sowie 1. Joh 5,6 f. Zu dieser bereits von Irenäus und Cyprian vertretenen Deutung vgl. die Hinweise bei R. Schnackenburg, Joh. I, 342, der ihr jedoch mit Reserve begegnet, weil weder in Joh 6 noch in 19,34 ausdrücklich von Wein

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Den entscheidenden Gesichtspunkt zum Verständnis der Zeichen gibt Jesus in 2,4: Es ist „die Stunde“ des Passionsgeschehens als seiner Verherrlichung, auf die das Zeichen hinweist. Wer immer ihn im Glauben als den vom Vater gesandten Sohn erkennt, wird zugleich zu erkennen haben, daß sich seine Sendung in seiner Kreuzigung als seiner Erhöhung erfüllt; daß er, wie er vom Vater ausgegangen ist, so in die Einheit und Gemeinschaft mit dem Vater zurückkehren wird (16,28). Die Verwandlung von Wasser in Wein verweist letztlich und eigentlich auf dieses Geschehen seiner Verherrlichung in seinem Kreuzestod. Indem das Wunder den Blick des Glaubens auf dieses entscheidende Geheimnis seiner Person in seiner Sendung öffnet, steht bereits hier am Anfang seines Weges dessen Ziel im Blick. Darum läßt der Evangelist unmittelbar auf dieses erste Zeichen die Tempelreinigung und die Ankündigung der Zerstörung und Neuerrichtung „des Tempels seines Leibes“ folgen (2,13–22), die er aus der Passionstradition hierher vorgezogen hat.11 Er kann damit rechnen, daß dieser Passionskontext seinen Lesern vertraut ist: Sie sollen, über den Horizont des Glaubens der Jünger in 2,11 hinaus, wissen, wie die Offenbarung der Herrlichkeit Jesu bereits im „ersten seiner Zeichen“ auf deren Vollendung im Passionsgeschehen verweist. So läßt sich nun auch der oft verhandelte Widerspruch klären, daß Jesus sogleich tut, was er in seiner Antwort an seine Mutter 2,4 zunächst abzuwehren scheint. Ihr Hinweis auf den fehlenden Wein (2,3) zielt offensichtlich auf sein helfendes Eingreifen durch ein Wunder. Das wehrt er ab – mit dem doppeldeutigen Argument: „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“. Bezogen auf das, wozu seine Mutter ihn in der kritischen Situation des Festes provozieren möchte, läßt sich das in der Tat nur als Abwehr verstehen. Die Heilsinitiative, zu der er vom Vater gesandt ist, nämlich zur eschatologischen Rettung, durch die eine vollkommene „Reinigung“ von den Sünden allererst geschehen wird, wird der Stunde seiner Passion vorbehalten sein (vgl. 12,32). Wenn seine Mutter daraufhin die Diener auf seinen Befehl zu achten anweist, der ja auch sogleich erfolgt, muß es zwischen ihr und ihm aufgrund seiner Antwort 2,4 die Rede ist. Doch da an beiden Stellen eindeutig von den beiden Elementen des eucharistischen Mahles die Rede ist, sollte es dann nicht als selbstverständlich anzunehmen sein, daß die Leser dort den Wein vor Augen hatten, wo sie vom „Blut“ Christi lasen, – und entsprechend umgekehrt beim Wein der Hochzeitsfeier in Kana das Blut Christi assoziiert haben, wenn sie im Wunder der Verwandlung einen symbolischen Vorverweis auf die Eucharistiefeier der nachösterlichen Kirche erkannt haben? Vgl. dazu M. Rissi, Hochzeit in Kana, 87 f.91 sowie zuletzt U. Wilckens, Joh., 58 f. U. Schnelle, Joh., 61 f. sieht mit Recht einen Zusammenhang zwischen 2,9 f. und 15,1: „Dem ersten Wunder Jesu korrespondiert nicht zufällig das letzte ,Ich-bin-Wort‘“. Doch auch in der Weinstock-Rede liegt ein eucharistischer Vorausbezug nahe; vgl. die Begründung bei U. Wilckens, Joh., 242 f. 11 Vgl. U. Wilckens, Joh., 60.

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nunmehr ein Einverständnis geben. Dieses kann nur in ihrer Erkenntnis bestehen, daß es sich, bezogen auf „seine Stunde“, jetzt und hier nur um ein „Zeichen“ handeln kann, das von denen, für die er das Weinwunder tut, in seiner eigentlichen Bedeutung noch nicht erkannt werden kann. Unter den Anwesenden sind es nur seine Jünger, die das Wunder in diesem Sinne als Zeichen verstehen, indem sie an ihn glauben, der im Zeichen seine Herrlichkeit offenbart, die sich in seinem Tod vollenden wird. So werden die Jünger in das stille Einverständnis zwischen Mutter und Sohn einbezogen – und ebenso die Leser des Buches! Im ganzen weiteren Buch taucht Jesu Mutter dann nicht mehr auf – bis zu der „Stunde“, von der in 2,4 die Rede ist. Es ist das letzte Ereignis seiner irdischen Geschichte vor seinem Tod, in dem sie auf einmal wieder in den Vordergrund tritt. Wieder geht es um das Verhältnis des Einverständnisses zwischen Mutter und Sohn: Jetzt aber, wo Jesu Sendung „vollendet“ ist (19,30), überträgt er dieses auf „den Jünger, den er liebte“ (19,26 f.).

3. „Der Jünger, den Jesus liebte“ – Joh 13,21–30 Auch dieser „Jünger, den Jesus liebte“, taucht vor 19,26 f. nur an einer einzigen Stelle auf: beim Abschiedsmahl Jesu 13,23–25. Jesus ist hier im engsten Kreis mit den Zwölf12 zusammen. Nach der Fußwaschung, mit der er seine Abschiedsrede13 einleitet, kündigt er an, daß einer von den hier Versammelten ihn an die Juden übergeben werde (13,21). In ihrer ratlosen Betroffenheit (V. 22) fällt das Licht der Erzählung überraschend auf einen in der Runde, der „an der Brust“ Jesu liegt. Mit starker Betonung wird er in einem angefügten Relativsatz als „der, den Jesus liebte“ charakterisiert (13,23). Simon Petrus bedeutet ihm durch ein Zeichen, er möge Jesus fragen, von wem er rede (13,24). An Jesu Brust sich zurücklehnend, stellt er diese Frage an ihn (13,25). Und Jesu Antwort schafft Klarheit. Bereits vorher hatte er mit einem Zitat aus Ps 41,10 die Tat des Verräters als eines Tischgenossen angedeutet (13,18). Jetzt entlarvt er Judas, indem er diesem das Stück Brot reicht (13,26). Da fährt der Satan in Judas. Jesus fordert ihn zu raschem Handeln auf (13,27), und während die anderen Jünger diese Aufforderung mißverstehen (13,28 f.), geht Judas schnurstracks in die Nacht hinaus (13,30). 12 Daß hier mit „den Jüngern“ (13,5) die Zwölf gemeint sind, zeigt sich an dem Stichwort Éxelexämvn 13,18 (vgl. 15,16.19). In 6,70 wird es ausdrücklich auf die Zwölf bezogen und begegnet sonst, außer an den eben genannten Stellen, nirgendwo, zumal nicht im Blick auf die Jüngerinnen oder Jünger, die nicht zum Kreis der Zwölf gehören. 13 Zur „Form des literarischen Testaments“ vgl. J. Becker, Joh. II, 523–529.

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Es verwundert, daß Petrus, der immerhin 6,68 f. als Sprecher der Zwölf das entscheidende Bekenntnis zu Jesus ausgesprochen hat, sich hier nicht selbst an den Meister wendet, sondern diesen Jünger geradezu als Vermittler zu Jesus in Anspruch nimmt (vgl. 12,21 f.). Erstaunlicher noch ist der Ort dieses Jüngers in der Mahlrunde: in der Mitte, an Jesu Brust, ihm also näher und vertrauter als alle anderen. Die einzige Parallele ist das Verhältnis des Logos zum Vater im Uranfang: „Gott hat keiner je gesehen, niemals. Als einziggeborener Sohn, der an der Brust des Vaters ist, hat jener Kunde gebracht“ (1,18). Der Leser hat diesen eindrücklichen Schlußsatz des Prologs im Ohr und soll sich in 13,23 an ihn erinnern14. Dieser Jünger ist in einzigartiger Weise mit Jesus vertraut – so wie Jesus selbst als der Sohn mit dem Vater, bevor er als dessen Gesandter in die Welt gekommen ist! Vor allem aber irritiert die Kennzeichnung dieses Jüngers: „der, den Jesus liebte“. Auch an den weiteren Stellen im Johannesevangelium wird er stereotyp so genannt (19,26; 20,2; 21,7.20)15. Durchweg erscheint er ohne Eigennamen – wie übrigens auch Jesu Mutter. Die Irritation geht von 13,1 aus: „Vor dem Passafest aber, als Jesus wußte, daß seine Stunde gekommen war, hinüberzugehen aus dieser Welt zum Vater, hat er, der die Seinen in der Welt liebte, sie bis zur Vollendung geliebt.“ Das ist die Überschrift über den ganzen Passions– und Osterbericht, eine konzentriert formulierte theologische Deutung alles folgenden Geschehens im Rückblick auf alles Voranstehende. Das Schlüsselwort ist die Liebe Jesu zu den Seinen. Von Anfang an hat er seine Jünger geliebt als die zu ihm Gehörigen, die er auserwählt hat. Und nun wird sich diese Liebe durchhalten „bis zum Ende“, das heißt, bis zu seinem Tode als der Vollendung seiner Sendung (19,30). Die Fußwaschung 13,2 ff. symbolisiert diese seine Liebe zu ihnen. Nur so hat jeder von ihnen an ihm teil (13,8) und ist „ganz rein“ (13,10). Und was er ihnen getan hat, sollen sie einander tun (13,12–15). Dasselbe wiederholt Jesus betont in 13,34 f. und 15,12–14. Und im Abschiedsgebet erbittet er das Gleiche vom Vater für die Seinen, „damit die Welt erkennt, daß Du mich gesandt und sie geliebt hast, wie Du mich geliebt hast“ (17,23)16. Demnach gilt für die 14 So mit Recht A. Kragerud, Lieblingsjünger, 72–74. U. Schnelle, Joh., 219 mit Anm. 45, macht darauf aufmerksam, daß Én tã kílpw im Johannesevangelium nur in 1,18 und 13,23 steht. 15 Auf die Stellen im 20. und 21. Kapitel kann hier nicht in gleicher Ausführlichkeit eingegangen werden. Dazu vgl. in diesem Band S. 75 ff. 16 Daß der Vater den Sohn liebt, ist eine Schlüsselaussage johanneischer Christologie, vgl. 3,35;5,20 sowie besonders 10,17: Der Vater liebt Jesus, weil dieser sein Leben einsetzt wie der Hirte für seine Schafe (10,11), um es (vom Vater) wieder zu empfangen. Gerade in seiner Selbsthingabe im Kreuzestod für die Seinen (17,19) sind Vater und Sohn eins. Der Vater liebt den Sohn mit eben der Liebe, mit der dieser die Seinen eÜ™ tìlo™ liebt

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gesamte Runde der bei diesem Abschiedsmahl um Jesus versammelten Jünger, für jeden einzelnen von ihnen in gleicher Weise, daß „er ihn liebte“! Die Benennung des einen, namenlosen Jüngers klingt dagegen so, als sei es allein dieser, „den Jesus liebte“. In der vielfältigen Diskussion über die rätselhafte Gestalt des sogenannten „Lieblingsjüngers“17 sind alle möglichen und unmöglichen Aspekte hin und her erörtert worden – nur die offensichtlichste und sozusagen schreiendste Frage nicht: wie dieser Widerspruch zwischen 13,23 und 13,1 zu klären ist. Die meisten Exegeten sehen nur eine Bevorzugung dieses Jüngers, die vor allem im Gegenüber zu Petrus hervortritt. Von daher entstand der Name des „Lieblingsjüngers“ und ist bis heute weithin zum festen Sprachgebrauch in der deutschen Forschung geworden18. Doch gibt es wegen der offensichtlichen Vorrangrolle dieses Jüngers keinerlei Rangstreit unter den Jüngern, weder hier noch an den übrigen Stellen, wo er auftritt. Gerade Petrus erkennt die Sonderstellung dieses Jüngers als des Vertrauten Jesu vollauf an, indem er ihn bittet, Jesus zu fragen. Und daß Jesus ihn mehr liebte als die übrigen, wird nirgendwo gesagt19. Gleichwohl liegt deutlich eine Exklusivität in der Formulierung des Namens des Jüngers, „den Jesus liebte“. Und diese stößt sich mit der nicht weniger betonten Grundaussage von 13,1, nach der Jesus die Seinen alle geliebt hat, und zwar bis in seinen Tod. Der Widerspruch ist deutlich im johanneischen Werk angelegt und muß also einen Sinn haben, der aus dem Zusammenhang johanneischer Theologie erklärbar ist. Dazu ist es hilfreich, im Blick auf die folgenden Abschiedsreden nach dem Verhältnis der Jünger zu Jesus vor und nach seinem Tode und seiner Auferstehung zu fragen. Daß sein Tod sie von ihrem Herrn trennen, sein Abschied von ihm das Ende seiner irdischen Nähe zu ihnen bedeuten wird, sagt er ihnen in voller Klarheit voraus: „Kinder, kurze Zeit bin ich nur noch bei euch. Ihr werdet mich suchen; und wie ich den Juden gesagt habe: Wohin ich gehe, könnt ihr nicht hinkommen, so sage ich es jetzt auch euch“ (13,33). Darüber sind die Jünger so bestürzt, daß die Trauer ihr Herz ganz ausfüllt (16,6). So gebannt von dieser Trauer sind sie, daß sie angesichts seines Abschieds nicht einmal fragen, wohin (13,1). Entsprechend gilt auch umgekehrt: Der Vater liebt Jesu Jünger, weil diese ihn geliebt und geglaubt haben, daß er vom Vater gekommen ist (16,27). 17 Dazu vgl. J. Becker, Joh., 516–523; U. Schnelle, Joh., 221 f. Beide Autoren nennen die wichtigste neuere Literatur. 18 Der in der englischsprachigen Exegese geläufige Name „The Beloved Disciple“ bleibt dem griechischen ú mahvtÀ™ ªn Õgâpa šIvsoø™ näher, wie R. Schnackenburg, Joh. III, 449 Anm. 1 mit Recht bemerkt. 19 Ein Komparativ findet sich, allerdings nicht im Blick auf Jesu Liebe, sondern auf die Liebe des Jüngers zu ihm, einzig in der Frage an Petrus 21,15.

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er gehe (16,5). Doch sein Abschied soll ihnen zugutekommen: Ohne ihn würde nämlich der Paraklet nicht zu ihnen kommen; dessen Kommen setzt seinen Abschied voraus (16,7). Denn er geht zum Vater, von dem er gekommen ist (16,28). Aus seiner damit wiedererlangten unmittelbaren Einheit und Gemeinschaft mit dem Vater (17,5) wird er ihnen den Parakleten zusenden (16,8), so wie der Vater den Sohn gesandt hat. Als „der Geist der Wahrheit“ wird der Paraklet in der Zeit nach Jesu Tod in genauer Entsprechung die Stelle in ihrer Mitte einnehmen, die Jesus selbst während seiner irdischen Zeit bei ihnen hatte. Der irdische Jesus war ihnen alles, was zum ewigen Heil notwendig ist: der Weg, die Wahrheit und das Leben (14,6). Darum konnte Petrus auf die Frage: „Wollt auch ihr weggehen?“ nur antworten: „Herr, zu wem sollen wir weggehen? Worte ewigen Lebens hast (nur) du!“ (6,68). Eben dies wird nach seinem Tod „der Geist der Wahrheit“ für sie sein: Er wird sie „den Weg in der ganzen Wahrheit führen“ (16,13). Er wird „mit ihnen“ und „in ihnen“ sein (14,17) wie zuvor Jesus selbst. Er wird alle Worte unter ihnen gegenwärtig halten, die Jesus ihnen gesagt hat (14,26), und in denen Wahrheit und Leben für sie da war (vgl. 8,31 f.; 6,63.68). So wird er den verherrlichten Jesus unter ihnen gegenwärtig machen. „Er wird mich verherrlichen, weil er vom Meinigen nehmen und es euch künden wird. Alles was der Vater hat, ist mein; darum habe ich euch gesagt: Vom Meinigen nimmt er und wird es euch künden“ (16,14 f.). Das heißt: Der Geist wird die Jünger auf Erden teilhaben lassen an der Herrlichkeit des mit dem Vater vereinten Sohnes (vgl. 17,22 f.). Er wird in ihrer Mitte verwirklichen, worum Jesus in seinem Abschiedsgebet gebeten hat: „Vater, ich will, daß, wo ich bin, auch die bei mir sind, die Du mir gegeben hast, damit sie meine Herrlichkeit schauen, die Du mir gegeben hast, weil Du mich geliebt hast vor Erschaffung der Welt“ (17,24)20. Darin wird die Wirklichkeit des Abschieds, der Trennung von ihm (13,33), aufgehoben sein. Dadurch, daß der Geist sie mit dem verherrlichten Jesus verbinden wird, wird ihr Glaube eine entsprechend andere „Qualität“ haben als vor Ostern. Zwar konnte Petrus im Perfekt der Vollendung sagen: „Wir haben geglaubt und erkannt: Du bist der Heilige Gottes!“ (6,69). Bezogen auf das, was Jesus ist, ist der Inhalt dieses Glaubens und seiner Erkenntnis wahr. Darin gibt es keine Steigerungsmöglichkeit. Der irdische Jesus und der Vater sind eines (10,30). Aber in der Antwort Jesu auf das Glaubensbekenntnis des Petrus zeigt sich, daß es sogar noch im Kreise der Zwölf, für die Petrus spricht, tiefe Einbrüche geben wird: „Habe ich nicht euch erwählt, die Zwölf? Und einer von euch ist ein Teufel!“ (6,70) Eben 20 Zum Verständnis der Parakletensprüche im Kontext der johanneischen Abschiedsreden und zum Verhältnis zwischen dem Parakleten und der Gestalt des „Jüngers, den Jesus liebte“ vgl. U. Wilckens, Der Paraklet und die Kirche, 185–203.

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dies vollzieht sich in der Szene 13,21 ff. Petrus, der trotz dieser Voraussage Jesu deren Wiederholung in 13,21 nicht versteht und den Jünger an Jesu Brust bittet, ihn zu fragen, wird gleich darauf auch Jesu Ankündigung seines Weggangs (13,33) nicht verstehen. Er bietet ihm an, ihm auch in den Tod zu folgen und sein Leben für ihn einzusetzen (13,37). Jesu Antwort konfrontiert ihn daraufhin persönlich hart mit seiner alsbaldigen Verleugnung (13,38). In seiner subjektiven Seite also ist vorösterlicher Glaube zerbrechlicher Glaube. Petrus wird von sich aus Jesus nicht folgen können dorthin, wohin er „weggeht“. Denn dies ist ein Weg, auf dem nicht der Jünger sein Leben für Jesus, sondern Jesus das seinige für seine Jünger einsetzen wird (10,15; 15,13). Es ist der Weg der Passion, auf dem Jesus die Seinen „bis zur Vollendung geliebt hat“ (13,1). Daß Jesus der Heilige Gottes ist, als welchen Petrus ihn mit Recht bekannt hat, das erweist und verwirklicht sich endgültig in seinem Kreuzestod als der „Stunde“ der Vollendung seiner Sendung (13,1.31 f.). Darum ist erst der Osterglaube, der Glaube an den verherrlichten Jesus, und der Umgang mit ihm, der durch die Sendung des Geistes ermöglicht wird, der wahre und vollkommene Glaube. Erst der nachösterliche Christ ist dem verherrlichten Jesus so nahe, wie es vor Ostern die Jünger dem irdischen Jesus gewesen sind. Erst der nachösterliche Glaube vermag in Wort und Werk des irdischen Jesus voll und ganz die Herrlichkeit des ewigen Gottessohnes und die Heilswirklichkeit seiner Liebe zu erkennen. Aus dieser Erkenntnis folgt zugleich die Liebe zu ihm, der die Seinen geliebt hat bis zur Vollendung, und das Tun der Wahrheit in der Liebe zum Bruder, die der Liebe Christi zu den Seinen entspricht (13,34 f.; 15,12 f.). Daraus ergibt sich für das Verständnis der Gestalt des „Jüngers, den Jesus liebte“, und sein Verhältnis zu den anderen Jüngern sowie für das Verhältnis der Liebe Jesu zu den Seinen insgesamt (13,1) zu seiner Liebe zu diesem einen Jünger (13,23): Dieser repräsentiert die nachösterlichen Jünger im Kreise der vorösterlichen Jünger. Einerseits nämlich ist es die Person des fleischgewordenen Logos, des vom Vater in die Welt gesandten Sohnes; und sind es die Worte und Taten des irdischen Jesus, auf die sich aller Glaube der nachösterlichen Christenheit gründet und an denen er sich ganz und gar ausrichtet. Mitten unter den von Jesus erwählten zwölf Jüngern ist darum der Platz des Jüngers, der unter ihnen die Glaubenden der nachösterlichen Kirche vertritt. Andererseits ist es die vom Geist vermittelte Erkenntnis des verherrlichten Jesus und die daraus erwachsende dichte Nähe und Vertrautheit mit ihm, dessen Liebe in seinem Kreuzestod ihre Vollendung gefunden hat. Nur aus dem Aspekt dieser Liebe vermag „der Jünger, den Jesus liebte“, die Worte und das Handeln Jesu in der letzten Phase seiner irdischen Sendung anders zu verstehen als die „historischen“ Jünger in der Situation ihrer Trauer und Bedrängnis.

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So ergibt sich, daß dieser Jünger einerseits zur Gruppe der von Jesus auserwählten Zwölf gehört, andererseits sich darin von allen anderen Jüngern heraushebt. Es ist ja zu bedenken: In dem höchst dramatischen Verlauf der Geschichte Jesu, wie der vierte Evangelist sie in seinem Buch erzählt, verschärft sich Zug um Zug die Krise im Verhältnis zwischen ihm und der „Welt“. Immer mehr profilieren sich die Pharisäer und Hohenpriester als die Führer der tödlichen Feindschaft gegen Jesus. Immer kleiner wird die Zahl der an ihn glaubenden und ihm nachfolgenden Jünger, immer größer die der Apostaten. In Galiläa sind es sehr bald nur noch die Zwölf, die bei ihm bleiben – und selbst noch unter ihnen ist ein Verräter! In Jerusalem und Judäa sind es darüber hinaus ebenfalls nur sehr wenige, die zu seinen „Freunden“ gehören, wie Lazarus und seine beiden Schwestern (11,1 f.;12,1–11). In der Szene des Abschiedsmahles bilden die Zwölf die Mahlgemeinschaft. So gab es die Tradition vor (Mk 14,17, vgl. Petrus in Mk 14,29–31 und 14,54–62). In dem Augenblick, in dem der Verräter entlarvt wird, tritt nun zum ersten Mal der „Jünger, den Jesus liebte“, in Erscheinung. Wo er in der Mitte ist, Jesus ganz nah und vertraut, kann der Verräter in die Nacht hinausgehen, ohne daß der Kreis der Zwölf zerbricht. Der Platz des Judas ist bereits durch den Jünger ersetzt, der die Glaubenden der nachösterlichen Kirche vertritt – und zwar am Ort der innigsten Nähe zu Jesus, so daß sich in seinem Verhältnis zu Jesus die vollkommene Gemeinschaft zwischen dem Sohn und dem Vater widerspiegelt. Darum ist er es, der die entscheidende Klärungsfrage an Jesus zu stellen vermag und darin die anderen vertritt. Schließlich erklärt sich so auch die durchgehende Anonymität dieses Jüngers. Ist er Repräsentant aller Jünger der nachösterlichen Kirche, so kann er nicht mit einem aus dem Kreis der Zwölf oder einem anderen „historischen“ Jünger21 identisch sein. Denn er vertritt ja auch sie allesamt, die nach seiner Auferstehung die ersten sein werden, denen der 21 R. Schnackenburg, Der Jünger, den Jesus liebte, 97–117; Joh. III, 449–464 sieht zwar die über den Horizont vorösterlicher Jüngerschaft herausragende Dimension der Gestalt dieses Jüngers, sucht zugleich aber wie die Exegeten, die er mit Recht kritisiert, seine historische Identität im Kreise von Jesus nahestehenden Jerusalemer Jüngern Jesu, ohne diese reine Vermutung irgendwie zu konkretisieren. Anders R.. Bultmann, Joh., 369 f.; A. Kragerud, Lieblingsjünger. Beide historisieren in verschiedener Weise die richtig erkannte Symbolbedeutung dieses namenlosen Jüngers. Bultmann jedoch will in ihm einen Repräsentanten des Heidenchristentums im Gegenüber zum (durch Petrus vertretenen) Judenchristentum erkennen, Kragerud einen Repräsentanten des prophetisch sich verstehenden und gestaltenden johanneischen Christentums im Gegenüber zur werdenden Amtskirche, die sich auf die apostolische Autorität des Petrus berufe und vom Evangelisten in dessen Person (kritisch) symbolisiert werde. Beide Hypothesen lassen sich im Text des Johannesevangeliums nicht überzeugend begründen. Sie suchen die symbolische Bedeutung des Jüngers in der Geschichte des Urchristentums – statt in der johanneischen Ekklesiologie.

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auferstandene Jesus erscheint und die zum vollkommenen Glauben der nachösterlichen Kirche gelangen, wie es paradigmatisch an Thomas herausgestellt wird. „Selig sind, die als Nichtsehende glauben!“ (20,29), das ist der Charakter nachösterlichen Glaubens. Diesen Glauben und die vollkommene Vertrautheit mit Jesus, die daraus erwächst, verkörpert der namenlose „Jünger, den Jesus liebte“, inmitten des vorösterlichen Kreises der Zwölf, wie es der vierte Evangelist aus dem Aspekt des nachösterlichen Glaubens für die nachösterliche Kirche erzählt. Insofern ist er der geeignete Zeuge, der die Geschichte der Sendung Jesu angemessen – nämlich aus der Sicht durchgängiger Vertrautheit mit Jesus – zu erzählen vermag und in Wahrheit zu erzählen legitimiert ist (vgl. 21,24 f.). Genau in dieser Doppelrolle als vorösterlicher Augenzeuge mit der vollen Erkenntnis und Vertrautheit des nachösterlichen Glaubens hat der Johannesevangelist diese Figur im Passions- und Osterbericht seines Evangeliums profiliert dargestellt. Weil die Kirche bis zur Parusie auf diese Geschichte der irdischen Sendung Jesu angewiesen bleibt, und weil der Geist in der nachösterlichen Kirche die entscheidende Funktion darin erfüllt, daß er die Worte und Taten des irdischen Jesus als des Gesandten des Vaters in ihr lebendig-gegenwärtig hält, darum ist das Bild der Anwesenheit des Jüngers, den Jesus liebte, im Kreise der Zwölf für die Kirche unverlierbar wichtig. Im Nachtragskapitel wird das in dem Wort des Auferstandenen an Petrus so ausgedrückt: „Ich will, daß er bleibt, bis ich komme“ (21,22). Und damit klar ist, daß nicht etwa das Wunder der Unsterblichkeit eines irdischen Jüngers gemeint ist, fügt der Erzähler in 21,23 eine entsprechende Belehrung, die derartige Mißverständnisse korrigiert, hinzu. Das „Bleiben“ dieses Jüngers bezieht sich auf das Bleiben seines Buches und darin seiner Anwesenheit im Kreise der Zwölf. Die Gestalt des „Jüngers, den Jesus liebte“, ist also als eine Symbolgestalt zu verstehen, der als solcher eine theologisch gewichtige Bedeutung zukommt: Seine Namenlosigkeit läßt den Platz für die Leser des Buches offen. Diese Deutung schließt aber nicht aus, daß der Verfasser des Nachtragskapitels den Johannesevangelisten aus späterer Sicht mit diesem Jünger identifiziert hat. Dies darf aber nur so interpretiert werden, daß der Sinn solcher Identifikation nicht exklusiv-„historisch“, sondern „inklusiv“-theologisch gemeint ist. Der „geliebte Jünger“ ist mit dem Tode der Person des Johannesevangelisten nicht eine Gestalt der Vergangenheit geworden, sondern er „bleibt“ in der ganzen Zeit der nachösterlichen Kirche in Gestalt eines jeden Lehrers gegenwärtig, der das Buch des Johannesevangelisten in demselben Geist, in dem es geschrieben ist, als lebendiges Zeugnis der Geschichte des irdischen Jesus auslegt.

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4. Die Mutter Jesu und der „Jünger, den Jesus liebte“ in Joh 19,26 f. Nach den beiden getrennten Erkundungsgängen zum Verständnis der Mutter Jesu und des „Jüngers, den Jesus liebte“, kehren wir nun zu der Szene unter dem Kreuz 19,25–27 zurück, um das Verhältnis zwischen ihnen zu verstehen, in das Jesus sie durch seine letztwillige Verfügung beruft. Es sind beides Menschen, die sich jeweils in einer voranstehenden Szene als mit Jesus besonders vertraut herausgestellt haben: Jesu Mutter am Anfang, der Jünger am Ende der Geschichte der Sendung Jesu. Bei beiden konzentriert sich diese Vertrautheit auf die zentrale Bedeutung des Kreuzestodes Jesu als der Vollendung seiner Sendung. Ihre Funktion erschöpft sich völlig in dieser Vertrautheit mit Jesus. Darum treten sie namenlos auf. Maria, deren Name doch wohl aus der Tradition bekannt war (vgl. 6,42), wird lediglich als „die Mutter Jesu“, der besondere Jünger durchweg als „der, den Jesus liebte“, genannt. Sowohl in 2,1–11 wie auch in 13,21 ff. ist Jesus der entscheidend Handelnde. Er ist es erst recht in 19,26 f. Unmittelbar vor seinem Tode ruft der Gekreuzigte diese beiden nun zusammen vor sich. Seine Mutter tritt damit aus der Gruppe der Frauen in 19,25 heraus. Der Jünger ist – wie in 13,23 – präsent, ohne daß der Leser erfährt, woher er hierher gekommen ist. Unter dem Kreuz werden sie durch Jesu Verfügung 19,26 zu einem Paar: Der Jünger tritt an Jesu Stelle; Jesu Mutter wird fortan zu seiner Mutter, die er zu sich nimmt (19,27). Und für sie wird nun er zu ihrem Sohn. Diese Verfügung Jesu ist zunächst gewiß ein fürsorglicher Akt des Sohnes für seine Mutter im Blick auf die Zeit nach seinem Tode, wie es die altkirchliche Auslegung ebenso liebevoll herausstellt wie später die protestantische22. Doch darin erschöpft sich die Bedeutung dieses testamentarischen Aktes Jesu im Sinne des Johannesevangelisten nicht. Wenn „der Jünger, den Jesus liebte“, im vorösterlichen Kreis der Zwölf die glaubenden Jünger der nachösterlichen Kirche repräsentiert, dann hat der Auftrag des Gekreuzigten an ihn, seine Mutter als die eigene Mutter zu sich zu nehmen, Bedeutung auch für die Kirche: In der Stunde der Vollendung seiner Sendung am Kreuz vertraut er seiner Kirche seine Mutter als ihre Mutter an und gibt sie in ihre Obhut. Und Gleiches gilt auch umgekehrt für seinen Auftrag an seine Mutter, „den Jünger, den er liebte“ an seiner Statt als ihren Sohn anzunehmen: Maria wird damit in der Tat zur „Mutter der Kirche“. 22 Beeindruckend bis in unsere Gegenwart bleibt es, wie Johann Sebastian Bach in seinem Oratorium der Johannespassion diesen Gesichtspunkt in dem Choral „Er nahm alles wohl in acht“ hat erlebbar werden lassen.

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Was bedeutet es für die Kirche, wenn sie Jesu leibliche Mutter für dauernd in ihre Mitte, in ihr eigenes Leben (eÜ™ tä ¥dia) nimmt? Nachdem Jesus selbst als der fleischgewordene Sohn Gottes nicht mehr in irdischleibhaftiger Präsenz da ist, so wie er während seines irdischen Lebens in der Mitte seiner Jünger da war, gibt die bleibende Gegenwart seiner Mutter in der lebendigen Erinnerung der nachösterlichen Kirche eine einzigartige Gewähr dafür, daß der verherrlichte Gottessohn, an den diese glaubt, als ihr leiblicher Sohn Jesus von Nazareth Fleisch geworden ist; daß seine Worte und Taten also mit menschlichen Ohren zu hören und mit menschlichen Augen zu sehen sind; daß er als Mensch gelitten hat (19,5!) und am Kreuz gestorben ist. Es ist für den Glauben entscheidend, daß dieser Jesus der Christus und der Sohn Gottes ist (20,31). Darum beginnt und endet seine Geschichte, die der Evangelist erzählt, mit dem Auftreten seiner Mutter an seiner Seite. Darin stimmt nun aber ihre Bedeutung zugleich überein mit der des „Jüngers, den Jesus liebte“. Dieser ist in 19,35 Augenzeuge der Öffnung der Seite des Gekreuzigten, aus der sogleich Wasser und Blut herausquillen (19,34). Er sieht dies einerseits als Bestätigung des eingetretenen Todes Jesu (19,33), andererseits aber als Zeichen der Heilswirkung des Todes des Sohnes Gottes. Die irdische Realität des Todes Jesu gehört zur irdisch-leibhaftigen Wirklichkeit der Inkarnation des Gottessohnes, das Zeichen der Heilswirkung des Kreuzestodes Jesu zu der Herrlichkeit, die der Glaube in der irdischen Erscheinung Jesu gewahrt (vgl. 2,11!). Beides gehört zusammen. Beides hat der Jünger als Zeuge im Blick. Eben darin besteht die Wahrheit seines Zeugnisses (19,35). Beides zusammen hatte bereits am Anfang der Geschichte Jesu seine Mutter verstanden, indem sie aus dem abwehrenden Wort ihres Sohnes: „Meine Zeit ist noch nicht gekommen“ (2,4), begreift, daß das Wunder der Wandlung von Wasser in Wein ein Zeichen ist, das auf die Heilswirkung seines Todes vorausweist. Zugleich soll Jesu Mutter, mit ihrem Sohn während der heilsentscheidenden Zeit seiner irdischen Sendung in geistlichem Einverständnis vertraut, eine permanente Stimme in der lebendigen Überlieferung der Kirche sein, an ihn als den Fleischgewordenen zu glauben, der im Tode am Kreuz seine göttliche Sendung erfüllt hat. Als Jesu Mutter von der Kirche als ihre Mutter angenommen, ist sie eine mütterliche Gewähr dafür, daß alle, die an Jesus glauben, zu den Seinen gehören, die er bis zur Vollendung geliebt hat (13,1), und daß sie in ihrem Zusammenleben so mit ihm vertraut sein dürfen, wie seine Mutter es mit ihrem Sohn in seinem irdischen Leben gewesen ist. Beide Aspekte sind gleichgewichtig. Wenn man 19,26 so auslegt, daß „der Text . . . gar nicht wegen Maria geschrieben (ist), sondern um des

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Lieblingsjüngers willen“23, verkürzt man das Mandat Jesu und wird auch der Feststellung des Evangelisten in 19,27 nicht gerecht, daß der Jünger sie zu sich genommen habe. Wenn man dagegen umgekehrt alles Gewicht auf die Mutter Jesu legt und sie als Bild der Kirche versteht, das das Lehramt (in Gestalt des Jüngers) wachzuhalten habe und in das die Frömmigkeit sich versenken dürfe24, dann tritt in den Hintergrund und droht verlorenzugehen, daß Maria hier ganz als Jesu Mutter erscheint und auch in Kana ganz auf ihn und sein Tun hingeordnet ist. Zugleich wird auch die Bedeutung des Jüngers verkürzt, der Jesu Mutter zu sich nehmen, „in das Seinige aufnehmen“ soll, und von dessen Zeugenfunktion erst in 19,35 die Rede ist. Wenn man in dem „Jünger, den Jesus liebte“, eine theologische Symbolgestalt sieht: als Repräsentant der wahrhaft Glaubenden der nachösterlichen Kirche im vorösterlichen Kreis der Zwölf, so wird damit eine in der mittelalterlichen Exegese verbreitete Deutung der Mutter Jesu in 19,26 f. hinfällig: als sei sie es, die hier typologisch die Kirche repräsentiere, während der Jünger die apostolische Autorität des kirchlichen Lehramtes symbolisiere. Indem er Maria zu sich nehme, stelle er zeichenhaft dar, daß die Kirche auf das apostolische Zeugnis bleibend angewiesen und in dessen lebendige Wahrheit hineingenommen sei.25 Daran schließt sich eine moderne Deutung an, die besonders von H. Schürmann26 vertreten worden ist: Jesu Mutter solle in 19,26 f. den für das Heil in Jesus aufgeschlossenen Teil Israels repräsentieren, und damit zugleich alle Jünger, die im wahren Glauben an Jesus alles eschatologische Heil von ihm erwarten. In dem „Jünger, den Jesus liebte“, hingegen sehe die johanneische Gemeinde den für sie autoritativen Vermittler und Interpreten des wahren Glaubenszeugnisses. Ist diese Zeugenfunktion des Jüngers im Blick auf 19,35 (und 21,34 f.) auch nicht zu bezweifeln, so ist jedoch von einem Hineinwirken der breiten alttestamentlich-jüdischen „Mutter-Zion“-Tradition27 in das johanneische Bild der Mutter Jesu nichts erkennbar.28 Sie wird durchweg als Jesu Mutter vorgestellt. Alles, 23 So J. Becker, Joh. II, 698; er fügt dort hinzu: „Maria – als eine der vier Frauen! – hat nur die Funktion, die Bedeutung dieses Jüngers zu bestimmen“. Wo hätte dieses Urteil Anhalt am Text in 19,26 f.? Maria wird doch hier aus der Gruppe der vier Frauen 19,25 herausgehoben. Von diesen steht nur sie unter dem Kreuz. Nur sie „sieht“ Jesus, nur zu ihr spricht er 19,26! 24 Dazu vgl. unten. 25 Vgl. dazu die Literaturhinweise bei R. Schnackenburg, Joh. III, 326 Anm. 48. 26 Vgl. H. Schürmann, Jesu letzte Weisung, 20–25. Ihm stimmt R. Schnackenburg, Joh. III, 324 zu. 27 Vgl. im Neuen Testament Gal 4,26 f.; 2.Kor 11,2; Offb 12,1–6. 28 Das Gleiche gilt erst recht gegenüber der Vermutung R. Bultmanns, Joh., 369 f.521, Maria solle in 19,26 das Judenchristentum, der sog. Lieblingsjünger „also“ (!) das Heidenchristentum repräsentieren.

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was sie sagt und tut, ist auf ihn bezogen. Vor allem die Verfügung Jesu in 19,26 gibt ihr ihre bleibende Funktion als Mutter „des Jüngers, den er liebte“, das heißt als Mutter aller Glaubenden, deren Ort zwar in der Kirche (19,27), deren Rolle als Mutter aber der Kirche gegenüber ist.

5. Wirkungsgeschichte: Maria als „Mutter der Kirche“ Aus den voranstehenden exegetischen Untersuchungen und Erwägungen ergibt sich überraschenderweise beispielhaft, daß manches, was in der Wirkungsgeschichte als „geistliche“ Auslegung vertreten worden ist und weite Verbreitung gefunden hat, auf den ganz anderen Wegen unserer modernen exegetischen Wissenschaft als durchaus stimmig erwiesen werden kann. Diese Einsicht ist Ignace de la Potterie zu verdanken.29 Durch alle Jahrhunderte hindurch hat die Stelle Joh 19,26 f. ein besonderes Interesse in der kirchlichen Auslegung gefunden. Die Väter der Alten Kirche sehen zumeist in der Sorge des Sohnes für seine Mutter und in der gehorsamen Ausführung seines letzten Willens durch seinen Jünger ein zentrales Vorbild für alle Gläubigen.30 In der mittelalterlichen Kirche des Westens entsteht dann eine neue, spezifisch marianische Deutung.31 Der Herr vertraut dem Jünger seine jungfräuliche Mutter so an, daß dieser sie „in sua“ aufnimmt – nämlich in die geistlichen Güter, die er vom Herrn selbst empfangen hat: die Gaben der Gnade, des heiligen Geistes. Da nun aber dieser Jünger alle Christen aller Orte und Zeichen repräsentiert32, bedeutet sein Akt der Hineinnahme der Mutter Jesu in die von ihm empfangenen Gaben des Geistes, daß Maria damit in die Mitte des geistlichen Lebens der Kirche eintritt. Zu dieser Auslegung gelangen vor allem diejenigen, die in ihrem Vulgatatext lasen: „Et accepit eam discipulus in suam“33. Hat nämlich jener Jünger, Jesu Weisung ge29 Das Wort Jesu „Siehe deine Mutter“. 30 Ebd., 193–196. 31 Ebd., 196–201. Diese Deutung geht teilweise auf Augustinus (ebd., 195 f.) und Ambrosius (ebd., 196 f.) zurück. 32 So z. B. Dionysos der Karthäuser ebd., 200: „Discipulus iste electus designat unumquodque fidelem. Quemadmodum ergo Christus dixit Joanni, Ecce mater tua; sic unicuique Christiano dedit Matrem suam in matrem.“ 33 Die Vulgata-Zeugen dieser Lesart notiert de la Potterie ebd., 198 Anm. 25. Vgl. die ebd., 199 zitierte Stelle in einer Homilie des Zisterziensers Odo von Morimond (gest. 1161). „,Ecce mater tua!‘ O verbum omni acceptatione dignum. Si enim Maria est mater tua, ergo Jesus est frater tuus, ergo Pater est Pater tuus, ergo regnum eius hereditas tua . . . ,Ecce mater tua‘! Ergo dilige eam et venerare tamquam praesentem tibi ubique, nec exspecta amplius, sed ,ab hac hora accipe eam in tuam‘, ut illa te tandem assumat in gloriam suam.“

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horchend, Maria als seine eigene Mutter angenommen, so dürfen und sollen alle Gläubigen der Kirche das Gleiche tun. Während diese Deutungstradition dort, wo „geistliche“ Schriftauslegung weiterlebte, noch bis ins 17. Jahrhundert anzutreffen ist34, bricht sie radikal ab dort, wo die methodischen Gesichtspunkte neuzeitlicher historischer Exegese wirksam werden. Jetzt wird in dem „Jünger, den Jesus liebte“, eine historische Person urchristlicher Zeit gesucht, wie unsicher auch immer die Ergebnisse bleiben. Und der in 19,26 f. beschriebene Vorgang wird historisch distanziert gesehen, auch dort, wo er als literarische Bildung mit symbolischer Bedeutung aufgefaßt wird – immer handelt es sich um ein Datum urchristlicher Geschichte ohne Relevanz für die Gegenwart. In protestantischer Literatur wird zumal jegliche mariologische Interpretation abgewiesen.35 Mein Vorschlag, den „Jünger, den Jesus liebte“, als theologische Symbolfigur zu verstehen, die als solche, über eine zeitbedingte Bedeutung in der Geschichte des Urchristentums hinaus, generell-theologische Bedeutung hat,36 ist bislang überwiegend abgewiesen worden.37 Wenn man aber in diesem Jünger nur einen Lehrer des johanneischen Christentums bzw. einer „johanneischen Schule“ sehen will, dessen Namen die Tradition hinter seiner Funktionsbezeichnung verberge (ähnlich wie die Qumrangemeinde in der ebenfalls anonymen Benennung des „Lehrers der Gerechtigkeit“38), so legt es sich nahe, eine symbolische Bedeutung eher der Mutter Jesu zuzuerkennen als diesem Jünger; und diese kann dann, im Gegenüber zu diesem als Lehrautorität, nur in der entsprechenden Rolle der Gemeinschaft, für die er die Autorität ist, gesucht werden. Generalisiert man dies, so erscheint Maria als Symbolfigur der Kirche. Doch diese Rolle wird im Text des Johannesevangeliums nicht gedeckt, weder in 2,1 ff. noch in 19,26 f. Vor allem die Benennung spricht dage34 35 36 37

Vgl. I. de la Potterie, ebd., 201 Anm. 36a. Als Beispiel aus der Gegenwart vgl. J. Becker, Joh., 698. U. Wilckens, Der Paraklet und die Kirche, 199–203. So z. B. J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, 298 mit Anm. 33: „verfehlt“ – ohne jede Begründung! Die Annahme, es müsse sich in jedem Fall um eine „. . . historische Gestalt“ handeln, ist so fest, daß die Spur, dieser Gestalt sei „eine über das bloß Historische hinausreichende Bedeutung zugewachsen“, nicht verfolgt wird. Meine Deutung dieses Jüngers schließt zwar nicht aus, daß eine zur Autorität gewordene Gestalt der „johanneischen Schule“ im Blick gestanden haben kann (in 21,24 f. ist dies deutlich der Fall). Aber diese Identifikation ist dort nicht exklusiv (worauf 21,33 hinweist), sondern sie ist offen für jeden Jünger der nachösterlichen Kirche, der die Funktion des „Geliebten Jüngers“ als des Zeugen der Wahrheit der im Johannesevangelium schriftlich vorliegenden Geschichte der Sendung Jesu wahrnimmt. So versteht offenbar auch J. Gnilka, Theologie des Neuen Testaments, 294.308 diesen Jünger und stellt ebd., 312 zur Bedeutung der Mutter Jesu in 19,26 f. die richtige Frage. 38 Dazu vgl. J. Roloff, Der johanneische „Lieblingsjünger“.

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gen. Maria wird als „Mutter Jesu“ durchweg Jesus zugeordnet; und dieser spricht sie dem Jünger als dessen Mutter zu, die er zu sich nehmen und als Mutter lieben, ehren und versorgen soll; ein Lehrer-Schülerin-Verhältnis entsteht zwischen ihnen nicht. Der Jünger dagegen erscheint durchweg als Jünger Jesu; und ein Jünger ist – nach 13,16 f. – dadurch charakterisiert, daß die Lehrerrolle ganz und allein bei Jesus liegt und bleibt, während dem Jünger die Rolle des Schülers zukommt. Das gilt auch für die Sicht des Nachtragskapitels: Als Jesu Schüler wird dieser Jünger zum Zeugen, dessen Zeugnis wahr ist, weil er in seinem Buch Jesu Taten und Worte als Augen- und Ohrenzeuge getreu wiedergibt (21,24)39. So sind im Paar-Verhältnis zwischen Jesu Mutter und dem „Jünger, den er liebte“, die Gewichte genau umgekehrt verteilt: Jesu Mutter soll auch in der nachösterlichen Obhut dieses Jüngers die Mutterrolle behalten: Sie ist und bleibt Jesu Mutter, als solche soll er sie annehmen und ehren. Und er ist und bleibt, auch nachdem er Jesu Mutter zu sich genommen hat, der Jünger Jesu; als solcher tritt er zwar im Verhältnis zu ihr in Jesu Sohnesrolle ein, doch lediglich vikariierend: Er wird nicht Jesus gleich – es entsteht zwischen ihnen keinesfalls eine entsprechende Rollenverteilung wie zwischen Jesus und seiner Mutter in 2,1–11. Dies alles wird ungleich besser berücksichtigt, wenn man in diesem „Jünger, den Jesus liebte“, die Symbolgestalt eines Repräsentanten der Kirche sieht, so daß es die Kirche ist, in deren Obhut Jesus in der Stunde der Vollendung seiner Sendung am Kreuz seine Mutter gibt. Indem er dies tut, vollendet sich seine Liebe zu den Seinen (13,1), die er diesem einen Jünger als dem Repräsentanten aller Jünger der Kirche vor- bzw. urbildhaft zuwendet. Maria wird so gerade nicht symbolisiert! Sie bleibt für die Kirche aller Zeiten die Mutter ihres Herrn. Weil dieser seine Kirche liebt, gibt er ihr seine eigene Mutter als ihre Mutter in ihre Mitte. Man kann durchaus 2,5 auf die nachösterliche Situation der Kirche übertragen. Was Jesu Mutter hier dem Diener sagt: „Was er euch sagt, das tut!“, das sagt sie als Mutter der Kirche ständig allen Gläubigen. Bei dieser Deutung wird man sich schwerlich der Konsequenz entziehen können, in Joh 19,26 f. (in Verbindung mit 2,1–11) einen Ansatz zu einer geistlichen Verehrung Marias im Urchristentum zu erkennen. Wer sie verehrt, tut es im Glauben und in der Liebe zu Jesus, der seiner Kirche vom Kreuz herab seine Mutter als die ihrige in ihre Mitte gegeben und ihr die Aufgabe zuerkannt hat, sie bleibend zu verehren. In ganz anderer Weise, aber in der Christozentrik des ganzen Aspektes entsprechend, finden sich sonst im Urchristentum nur noch in den sog. Vorgeschichten 39 Dazu vgl. in diesem Band S. 75 f.

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des Lukas- und Matthäusevangeliums Ansätze zu einer Marienverehrung.40 Theologisch bedeutet die hier vorgelegte Auslegung von Joh 19,26 f., „daß die Aussagen von Johannes über Maria nur in enger Verbindung mit seiner Ekklesiologie richtig verstanden werden können“41 – freilich diese in christologischer Zentrierung: Nur als Mutter Jesu ist Maria Mutter der Kirche.

40 Vgl. dazu U. Wilckens, „Jesus Christus, empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria“. 41 I. de la Potterie, Wort Jesu, 219.

Joh 21,15–23 als Grundtext zum Thema „Petrusdienst“ „Petrusdienst“ ist im ökumenischen Dialog ein relativ neuer Begriff. Seine Einführung dient dazu, dem gegenwärtig wohl schwierigsten Problem einen biblischen Namen zu geben, nämlich der Frage, ob und wie sich eine Erweiterung – und damit auch eine Veränderung – des Papstamtes denken läßt, durch die dem Bischof von Rom und dem Primas der römisch-katholischen Kirche zukünftig eine dritte Aufgabe zuwachsen könnte: ein universalkirchlicher „Vorsitz in der Liebe“ als „Zeichen der Einheit der Gesamtkirche“. Die so gestellte Frage provoziert beide Kirchen, die, die aus der Reformation hervorgegangen sind, nicht weniger als die römisch-katholische. Für die ersteren erscheint das Papstamt weithin bereits als solches unannehmbar, nicht nur aufgrund der Erinnerung an die Rolle der Päpste in der Reformationszeit, sondern vor allem im Blick auf die dogmatischverbindliche Definition dieses Amtes durch die beiden Vatikanischen Konzilien der Neuzeit. Eine künftige Anerkennung des Papstes als des Ehrenvorsitzenden für alle christlichen Kirchen wäre ja mit einer bleibenden grundsätzlichen Ablehnung des Primats in seiner Rechtsform nach Dogma und Kirchenrecht der katholischen Kirche kaum vereinbar. Für die katholische Kirche wäre andererseits ein reiner Ehrenvorsitz des Papstes, ohne rechtliche Zuordnung zu seinem Primat, für das KircheSein einer so vereinten Weltchristenheit zu wenig und daher ein nicht wirklich erstrebenswertes Ziel der ökumenischen Einigungsbewegung. Gleichwohl ist eine Lösung, wenn überhaupt, nur in dieser Richtung möglich. So ist im offiziellen Glaubensdialog zwischen den Kirchen nicht nur das bestehende Papstamt das „größte Hindernis auf dem Weg der Ökumene“ (Paul VI.), sondern von Anfang an auch die Beseitigung dieses Hindernisses in irgend einer Form als notwendig zu behandelndes Thema des Dialogs genannt worden1. 1 Vgl. das sog. Malta-Dokument: „Das Evangelium und die Kirche“ (1972), Nr. 66, in: H. Meyer u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, 1983, 266; danach auf der Ebene des internationalen Dialogs vor allem das Dokument „Das geistliche Amt in der Kirche“, Nr. 67–73, ebd., 350–353. Am ausführlichsten ist das Problem bisher im USA-Dialog behandelt worden, vgl. T. A. Murphy (Hg.), Papal primacy and the Universal Church. Lutherans and Catholics in Dialogue V (1974), 9–42; Ders., Teaching Authority and Infallibility in the Church, TS 39 (1979), 113–166. Ausführliche Berichte über diese

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Joh 21,15–23 als Grundtext zum Thema „Petrusdienst“

In den Texten des Zweiten Vatikanischen Konzils ist vom „Petrusamt“ unter der selbstverständlichen Voraussetzung die Rede2, daß allein die Bischöfe von Rom die Nachfolger des Apostels Petrus3, die übrigen Bischöfe dagegen Nachfolger der Apostel generell seien4. Als entscheidende Belegstellen werden immer wieder genannt Mt 16,18; Lk 22,32 sowie Joh 21,15–17. In der Alten Kirche sind freilich dieselben Stellen durchweg auf die Bischöfe insgesamt bezogen worden: Petrus gilt hier als Repräsentant der Apostel5. Das II. Vaticanum lehrt zwar, daß der Bischof von Rom als Nachfolger Petri seinen Ort innerhalb des Kollegiums der Bischöfe habe. Wie sich aber das Kollegium der Bischöfe, dem der Bischof von Rom zugehört, zum Primat des Papstes, durch den er der Gesamtheit der Bischöfe gegenübergestellt ist, genau verhält, ist in den Konzilstexten nicht im Detail festgeschrieben worden6. Daß die una catholica ecclesia eines „Dienstes an der Wahrheit und Einheit“ über das örtliche Pfarramt hinaus bedarf, ist im ökumenischen Dialog von Seiten der lutherischen Kirchen immer anerkannt worden. Wie sich allerdings solcher Dienst einer „episkope“ zu dem örtlichen Pfarramt, das selbst daran teilhat, genau verhält, und welche Gestalt ihm zu geben ist, darüber gehen die Meinungen innerhalb evangelischer Dokumente bei W. Klausnitzer, Das Papstamt im Disput zwischen Lutheranern und Katholiken (Innsbrucker Theologische Studien Bd. 20, 1987), 440 ff.; vgl. zuletzt: Das Papstamt, Anspruch und Widerspruch. Zum Stand des ökumenischen Dialogs über das Papstamt, Hg. Johann-Adam-Möhler-Institut Paderborn (1986), bes. S. 11 ff. Das letzte Ergebnis offiziellen ökumenischen Dialogs über den „Petrusdienst“ liegt in dem Dokument: Communio Sanctorum. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen, Paderborn/Frankfurt 2000, Nr. 153–199 vor (Bilaterale Arbeitsgruppe der Deutschen Bischofskonferenz und der Kirchenleitung der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands). 2 Der Name „Petrusamt“ taucht, soweit ich sehe, nur im Ökumenismus-Dekret auf. In der Kirchen-Konstitution ist stattdessen vom „Stuhl Petri“ (z. B. LG 13), vor allem aber vom Papst als dem „Nachfolger Petri“ die Rede (z. B. LG 22). 3 So dogmatisch-verbindlich zuerst im IV. Vaticanum (DS 3053 sowie besonders Canon 2, DS 3058). Der Anspruch als solcher ist von den Bischöfen Roms de facto bereits sehr früh erhoben worden, ausdrücklich unter Bezug auf Mt 16,18 und Lk 22,32 seit dem 4. Jahrhundert. 4 So ausdrücklich und sehr plastisch in LG 22. 5 Vgl. dazu zuletzt J. Ludwig, Die Primatsworte Mt 16,18–19 in der altkirchlichen Exegese, 1985. Zu Joh 21,15–17 ist mir eine exegesegeschichtliche Studie nicht bekannt. Im Sinne des Bischofsamtes als Amtes für die Einheit der Kirche hat z. B. Zyprian die Stelle gedeutet, De unitate ecclesiae 4, CSEL III/1, 212 (s. R. Schnackenburg, Joh. III, 436 Anm. 68). 6 Freilich ist im Blick darauf die „nota praevia“ vom 16.11.1964 zu beachten, in der das Gegenüber des Papstes zum Bischofskollegium im Sinne des Vaticanum I derart betont und zur Geltung gebracht wird, daß sich dieser Text streckenweise wie eine Korrektur der Konzilstexte selbst liest. Vgl. dazu O. H. Pesch, Das Zweite Vatikanische Konzil (21994), 99 ff. Der Text der nota findet sich in: K. Rahner, H. Vorgrimmler, Kleines Konzilskompendium, Herder Bücherei Bd. 270.

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Theologie auseinander. Da sich im 16. Jahrhundert keiner der ,altgläubigen‘ Bischöfe der Reformation angeschlossen hatte, gab es innerhalb der sich ausgestaltenden reformatorischen Kirchen kein traditional legitimiertes Bischofsamt, das für eine Ausgestaltung eines reformatorischen Bischofsamtes hätte Vorbild werden können. So traten per Notrecht die Landesherren in die entstandene Lücke und füllten diese alsbald bleibend aus, bis diese Konstruktion 1919 ein jähes – und zweifellos verdientes – Ende fand. Wichtige bischöfliche Funktionen wurden in der Reformationszeit in dem Amt von „Visitoren“ neu geschaffen; und dieses lebte unter der Rechtshoheit der Landesherren in verschiedenen Formen weiter. In Preußen wurde dafür das Amt der Generalsuperintendenten geschaffen, das dann im Zusammenhang des Anwachsens der preußischen Territorien im 19. Jahrhundert an gesamtkirchlicher Autorität gewonnen hat und dann nach 1919 ein maßgebliches Vorbild für die Neuschaffung evangelischer Bischofsämter in der Mehrzahl der evangelischen Landeskirchen wurde. Doch die Neuordnung staatsunabhängiger Landeskirchen mußte in den 20er Jahren so rasch geschehen, geriet dann alsbald im Kirchenkampf während der NS-Zeit in eine Krise und mußte nach 1945 wiederum unter Zeitdruck als nochmals neue Aufgabe bewältigt werden, daß es für eine gründliche theologische Besinnung über das Wesen und die angemessene Ausgestaltung des evangelischen Bischofsamtes keinen Kairos gegeben hat. Inzwischen sind die Verhältnisse aufgrund der tiefgreifenden Autoritätskrise seit dem Ausgang der 60er Jahre für eine ruhige Bearbeitung dieser Frage ausgesprochen ungünstig geworden. Immerhin ist es auf der Ebene des Lutherischen Weltbundes 1983 zu einer Konsultation über das Bischofsamt nach lutherischem Verständnis gekommen7. Jüngst haben die britischen und irischen anglikanischen Kirchen und die nordischen und baltischen lutherischen Kirchen in der sog. Porvoo-Erklärung einen Konsens über das Bischofsamt gefunden8. Ob dies eine Basis für die lutherischen Kirchen der Welt werden kann, ist noch nicht abzusehen. Über den Horizont regionaler Episkope hinaus ernsthaft über die Gestaltung einer universalkirchlichen Episkope gemeinsam verbindlich nachzudenken, dazu hat sich für die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen bislang ein Kairos noch nicht ergeben. Nur die Anglikanische Kirchengemeinschaft hat für ihren eigenen Bereich eine Form gefunden. Was das Papstamt betrifft, wirken die Wunden der Reformationszeit noch bis in die Gegenwart nach, obwohl sich die Amtsführung 7 Vgl. den Abdruck in: Amt – Frauen – Bischöfe, LWB-Studien, Genf 1993, 62–70. Vgl. auch den kurzen Abschnitt zu diesem Thema in H. Jetter u. a. (Hg.), Evangelischer Erwachsenenkatechismus, 5. neubearbeitete und ergänzte Auflage, Gütersloh 1975, 1184 f. 8 Vgl.: The Porvoo Common Statement, London 1993, Nr. 32 j, 34–57.

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der letzten Päpste von der der Päpste im 16. und auch im 19. Jahrhundert deutlich unterscheidet. So besteht immerhin ein allgemeiner Konsens, daß „die Aussage der Reformation, der Papst sei der Antichrist, heute bedauert und nicht mehr aufrechterhalten wird.“9 So kann nur festgestellt werden: Für die evangelischen Kirchen in Deutschland besteht nach wie vor ein ökumenisch dringliches Desiderat, über ihre Ämter der episkope theologisch hinreichend gründlich nachzudenken und darin einen Konsens zu finden. Jedem, der ein solches Amt während der letzten Jahre innegehabt hat, dürften überdies eine Vielzahl und Vielfalt von Erfahrungen vor Augen stehen, die die Aktualität dieses Desiderats auch für das innere Leben unserer evangelischen Kirchen selbst belegen. Eine eindringlichere Besinnung auf Joh 21, 15–19 kann dafür hilfreich sein, zumal zwischen der Ebene ökumenischer Dialoge einerseits und der der exegetischen Wissenschaft andererseits ein auffallender Hiatus besteht10. 1. Zunächst ist ein kurzer Hinweis auf die literarische Struktur des Gesamtabschnitts Joh 21 und seine Stellung im Ganzen des Vierten Evangeliums nötig. Gewichtige Gründe sprechen für die Annahme, daß dieses Kapitel zu der Ostergeschichte Joh 20 sekundär hinzugefügt worden ist.11 20,30 f. ist deutlich der ursprüngliche Buchschluß (vgl. 1. Joh 5,13!), nach dessen Vorbild 21,24(f.) als Schluß des Anhangs gestaltet worden ist. Mit „Danach“ (21,1) wird der Eindruck einer einfachen Fortsetzung erweckt. Doch weder läßt die Erzählung in 20,24–29 eine Fortsetzung erwarten – V. 29 klingt vielmehr als an die Leser adressiertes Schlußwort Jesu –; noch auch greift die neue Erzählung 21,1 ff. in irgendeiner Weise inhaltlich auf das Voranstehende zurück. Überdies ist der Ort der Erscheinungen des Auferstandenen in Joh 20 Jerusalem, in 21,1 ff. dagegen der galiläische See. Wie und warum die Jünger dorthin gekommen sind, wird nicht gesagt. Eine Anweisung Jesu, dorthin zu gehen – wie in Mk 16,7 und besonders Mt 28,10 –. fehlt in Joh 20. Außerdem sind dort mit „den 9 Communio Sanctorum Nr. 183 mit S. 92 Anm. 154. 10 Vgl. die sehr vorsichtigen Bemerkungen dazu bei J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament, Grundrisse zum NT, NTD Erg.reihe 10, Göttingen 1993, 322 f. Unter systematisch-theologischem Aspekt vgl. W. Pannenberg, Systematische Theologie Band 3, Göttingen 1993, 410–469. Die Hinweise auf die einschlägigen Stellen im Neuen Testament in Communio Sanctorum Nr. 158–163 reichen dafür natürlich nicht aus. 11 Zum Forschungsstand vgl. J. Frey, Eschatologie I, 446–451. Die wenigen Exegeten, die den common sense in Frage stellen, werden ebd., 446 Anm. 118 genannt. Die Gründe, die zum Urteil sekundärer Anfügung von Joh 21 durch die Herausgeber des Johannesevangeliums (21,24) nötigen, nennt z. B. J. Becker, Joh., 758 f.; vgl. auch U. Wilckens, Joh., 320.

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Jüngern“ selbstverständlich die Elf (bzw., wenn „der Jünger, den Jesus liebte“, von 20,2–10 in 20,19 ff. hinzuzusetzen ist, die Zwölf). In 21,2 dagegen sind es sieben Jünger, von denen vorher nur Simon Petrus, Thomas und Nathanael namentlich genannt worden sind, „die ZebedäusSöhne“ dagegen nicht – sie begegnen nur in den synoptischen Evangelien als festes Paar –; und ob die beiden weiterhin genannten Jünger zur Gruppe der Zwölf gehören, bleibt offen. Diese Sieben verhalten sich in 21,3 so, als habe sie der Alltag ihrer galiläischen Heimat aus der Zeit vor ihrer Berufung inzwischen wieder eingeholt. Doch davon, daß sie Fischer waren, verlautete in 1,35 ff. nichts – im Unterschied zu Mk 1,16 ff. par. und Lk 5,1 ff. Schließlich wird in 21,24 „der Jünger, den Jesus liebte“, als Verfasser des Buches herausgestellt. Dieser ist hier offenbar nicht mehr am Leben (vgl. V. 23). Es spricht ein Herausgeberkreis („wir“), der die Autorität dieses Jüngers und seines Buches posthum bekräftigt. Ob von einem aus dieser Schülergruppe der ganze Anhang verfaßt ist, kann hier offen bleiben. So deutlich sich alles in Joh 21 Berichtete von Kap. 20 abhebt, so deutlich ist, daß dieser Anhang ein in sich geschlossener, literarisch kunstvoll gestalteter Erzählungszusammenhang ist, der das ursprüngliche Buch Kap. 1–20 voraussetzt. Simon Petrus und der geliebte Anonymus stehen V. 15–23 in der Mitte. Die Erscheinungsgeschichte V. 2 ff. führt die Leser sehr eindrücklich auf diese zentrale Szene hin. Es geht um die solenne Berufung des Petrus durch den Auferstandenen, an seiner Statt seine Herde zu weiden. Hier wird ein Thema ältester Osterüberlieferung (1. Kor 15,5; Lk 24,34) in besonderer Weise ausgestaltet. Gleich danach geht es um das Verhältnis zwischen Petrus, dem Jesus das Martyrium voraussagt (V. 18 f.), und dem „geliebten Jünger“, der bis zur Wiederkunft Jesu „bleiben“ soll (V. 20–23). So überraschend dieser Jünger in V. 20 auftaucht, so deutlich ist das Gegenüber dieser beiden in V. 7 vorbereitet. Die beiden Szenen bilden konzeptionell eine Einheit. 2. Nach dem Mahl am Seeufer, das V. 13 im Anklang an 6,11 berichtet wird, spricht der Auferstandene in der Runde der Jünger Simon Petrus an. Die Frage an ihn in V. 15 kontrastiert mit der eigenartig geheimnisvollen Atmosphäre des vorangehenden Mahles, in der ein beklommenes Schweigen herrscht (V. 12): „Simon, Johannes‘ Sohn (vgl. 1,42 sowie Mt 16,17!), liebst du mich mehr als diese hier?“ Nicht um ein Mehr der Liebe zu seinem Herrn als zu seinen Mitbrüdern geht es – denn das ist selbstverständlich, da die Bruderliebe aus der Liebe Jesu zu ihnen hervorgeht (vgl. 13,34 f.; 15,9; 17,23; 1. Joh 4,19) –, sondern darum, ob die Liebe dieses einen Jüngers zu Jesus die der anderen übertrifft. In diesem provokanten Sinne (vgl. 13,12 ff.; Lk 22,24–27!) bezieht sich die Frage auf das vorher geschilderte Verhalten des Petrus. In der Tat ist

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dieser auf das klärende Wort des „geliebten“ Jüngers sogleich ins Wasser gesprungen, um seinen Herrn als erster vor den anderen zu erreichen (V.7). Ein spontaner Akt der Liebe war dies wohl – aber Jesu Frage zielt auf die Echtheit der Liebe dieses Jüngers. Hatte Petrus seinem Herrn doch zuvor in ebenso spontaner Nachfolgebereitschaft angeboten, sogar sein Leben für ihn hinzugeben (13,37: vgl. 10,11; 15,13!) – jedoch kurz danach, in der Stunde der Gefahr, ihn dreimal verleugnet (18,17.25.27)! Nur von daher erklärt sich, daß Jesus ihm hier dreimal hintereinander die gleiche Frage stellt, das zweite und dritte Mal freilich ohne den provozierenden Komparativ. Was soll Petrus anderes antworten als: „Ja, Herr, Du weißt, daß ich Dich liebe!“ (V. 15.16) und nach der dritten Frage in großer Betrübnis: „Herr, Du weißt alles! Du mußt doch erkennen, daß ich Dich liebe!“ (V. 17). Das betonte „Du“ in allen drei Antworten drückt aus, daß er seinen Herrn nicht nur wirklich liebt, sondern daß dies allein Jesus, der die Frage stellt, wissen kann. Im gleichen Sinne hat Petrus zuvor auf die ebenso provokante Frage Jesu an die Zwölf: „Wollt auch ihr weggehen?“ geantwortet; „Herr, wohin sollen wir weggehen? Wo doch Du Worte ewigen Lebens hast!“ (6,68). Damals konfrontierte Jesus das Bekenntnis seiner Jünger zu ihm, das Petrus in der Verbform eines Perfekts als vollgültig und definitiv zu Wort brachte (6,69), mit der Tatsache, daß einer in der Runde dieser von ihm auserwählten Zwölf ein Teufel sei (6,70). So hart verfährt hier der Auferstandene nicht. Er weiß ja in der Tat um die Liebe des Petrus. Und wenn er ihm auch durch die dreifach gestellte Frage die Erinnerung an sein dreifaches Versagen nicht erläßt, so spricht er von diesem schrecklichen Verleugnungsgeschehen selbst nicht ausdrücklich. Er stellt den schuldig Gewordenen nicht vor den Mitjüngern bloß. Es ist genug, wenn er ihn selbst an seine Schuld erinnert. Welch wunderbare seelsorgerliche Verbindung von Wahrheit und Güte! So überraschend, wie die Frage Jesu mitten hinein in das wunderbare Erfahrungswissen der Mahlrunde, „daß es der Herr ist“ (V. 12), Petrus mit seinem Treubruch konfrontiert, so überraschend spricht die Antwort Jesu auf das Bekenntnis seiner Liebe diesem schuldig gewordenen Jünger mehr zu als die Vergebung seiner Tat: Er beruft ihn zum Hirten seiner Schafe! Zweifellos soll er – und mit ihm der Leser – die Rede Jesu vom „guten Hirten“ in Joh 10 im Ohr haben. Es ist ja von Jesu Schafen die Rede, die ihm gehören und um die er sich kümmert bis zur Hingabe seines eigenen Lebens für sie (10,3.11–13; vgl. 14,27 f.). Von daher ist klar: Der Auferstandene, der zum Vater geht, vertraut seine in der Welt zurückbleibenden Jünger (17,11) der Hirtensorge dieses Jüngers an. Gerade Simon Petrus, der ihn dreimal verleugnet hat, soll der Hirte der Herde Jesu sein an seiner Statt! Wie die dreimalige Frage das dreimalige

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Schuldiggewordensein wachruft, so bekräftigt die dreimalige Berufung, daß Jesus wirklich „weiß“, was er tut: Dieser Jünger liebt ihn wirklich „mehr“ als die anderen (vgl. Lk 7,47!). Und so bekommt er von ihm „mehr“ als sie. Und doch geht es hier in der Sache um keinen Komparativ. Wie der Geist „nicht nach Maß“ gegeben wird (3,34), so ist dieser Hirtenauftrag im eschatologischen Sinne ganz – wie eben Jesu Hirtendienst, der sein Maß ist. Das „Mehr“ ist vielmehr von daher zu deuten, daß Petrus durch diese Berufung seinen Mitjüngern von nun an als Hirte gegenübertritt. Denn sie gehören ja zu den Schafen Jesu, die Petrus von nun an weiden soll. 3. In der Sprache des Urchristentums der zweiten Generation ist vom Amt des Gemeindeleiters als einem Hirtendienst die Rede. Nirgendwo ist es ein Bild, das zum Vergleich benutzt wird, sondern das Bild ist bereits zu einer festen Bezeichnung geworden. In Eph 4,11 ist von den Hirten in der Mitte zwischen den Evangelisten – das heißt: wandernden Missionaren – und den Lehrern die Rede (die hier bereits ein von den Gemeindeleitern unterschiedener ,Stand‘ mit einem christlichen Schulbetrieb als ,Sitz im Leben‘ sind).12 Nach 1. Petr 5,2 sind es Presbyter in ,episkopaler‘ Funktion13, die die Gemeinde als „Gottes Herde“ zu „weiden“ haben. Ähnlich sind es die Presbyter der Kirche von Milet (Apg 20,17), die Paulus in einer solennen Abschiedsrede ermahnt: „Habt Acht auf euch selbst und auf die ganze Herde, in der euch der Heilige Geist als ,Episkopen‘ eingesetzt hat, um die Kirche Gottes zu weiden, die Er sich erworben hat durch sein eigenes Blut“ (20,28). Im Blick auf künftige (das heißt: zur Zeit der Leser aktuelle) Konflikte mit Irrlehrern, die wie Wölfe in die Schafherde einbrechen (V. 29)14, ja die sich sogar aus den Reihen der angeredeten Presbyter selbst erheben und andere Jünger sich hörig machen und zum Abfall verführen (V. 30), ermahnt Paulus sie eindringlich, ihr Wächteramt wahrzunehmen (V. 31)15. 4. Dieser Traditionszusammenhang, der hinter Joh 21,15–17 steht, wird durch den Rückbezug auf Joh 10 christologisch vertieft begründet. Dort ist Jesus der Hirte seiner Schafe. Im Gegensatz zu allen Fremden, die als Räuber in das Gehege einbrechen, um sich der Schafe zu bemächtigen, gehören ihm die Schafe; er ruft sie mit ihrem Namen, und seine 12 Dazu vgl. R. Schnackenburg, Eph., 184 f.; J. Roloff, Kirche, a. a. O., 247 f. 13 Dazu vgl. J. Roloff, a. a. O., 277. Das Partizip Épiskopoønte™ fehlt in einigen Handschriften und ist vielleicht sekundär eingefügt, vgl. N. Brox, 1.Petr., 230. 14 Vgl. Mt 7,15; Did 16,3; Just Ap I 16,13; Dial 35,3; 2.Klem 5,2 ff. und dazu G. Bornkamm, ThWNT IV, 309–313. 15 Vgl. auch Ign. Röm 9,1 sowie polemisch Jud 12.

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Stimme ist ihnen vertraut, und er führt sie auf die Weide (V. 3 f.), wo sie „Leben im Überfluß“ haben (V. 10). Im Gegensatz zum Lohnarbeiter, dem die Schafe nicht selbst gehören und am Herzen liegen (V. 12 f.), ist er „der gute Hirte“, der sein Leben für seine Schafe einsetzt (V. 11.14 f.17). V. 27 f. fassen alle voranstehenden Aussagen zusammen. Und V. 29 f. nennen den Grund dieses Eigentum-Verhältnisses der Schafe zu ihrem Hirten: Der Vater selbst hat sie Jesus zu eigen gegeben, darum kann niemand sie aus seiner Hand wegrauben. Denn: „Ich und der Vater sind eines“. Die ganze Rede ist nur auf dem Hintergrund von Ez 34 zu verstehen.16 Sie ist geradezu eine „christologische relecture“ dieser Gerichtsrede Gottes gegen die falschen Hirten seines Volkes, die in dem Dienst versagt haben, zu dem er sie berufen hat: Sie weiden „sich selbst“ (V. 2.8) und kümmern sich nicht um das Wohl der Schafe, die deswegen der Hirten entbehren und „allen wilden Tieren zum Fraß geworden“ sind (V. 5). Darum kündigt Gott nunmehr sein Einschreiten gegen diese Hirten an (V. 10): „So spricht Gott der Herr: Siehe, Ich will mich meiner Herde selbst annehmen und sie suchen“ (V. 11). „Ich will sie auf die Weide führen“ (V. 14). „Ich selbst will meine Schafe weiden“ (V. 15). „Ich will ihr Hirte sein und für sie sorgen kraft (meines) Rechtes“ (V. 16). Als guten Hirten wird er „seinen Knecht David“ einsetzen (V. 23 f.; vgl. 37,24–28; Jer. 23,1–4.5 ff.). So wird sich die Erwählung Israels endzeitlich-vollkommen verwirklichen: „Ihr sollt meine Herde sein, die Herde meiner Weide; und Ich will euer Gott sein, spricht Gott der Herr“ (V. 31). Nahezu alle Motive von Joh 10 finden sich hier im gleichen Zusammenhang. Nur ist jetzt Jesus anstelle Davids der gute Hirte. Und während in Ez 34 das Verhältnis Davids zu Gott das des „Knechtes“ ist, ist Jesus mit Gott, als der Sohn mit dem Vater, eines. Sein „Amen, ich sage euch“ (10,1) entspricht Gottes „So wahr ich lebe“ (Ez 34,8). Der gleiche Ez-Text liegt auch dem Gleichnis Jesu Lk 15,4–7; Mt 18,12–14 zugrunde. Hier ist Gott selbst der Hirte – der Gott der von Jesus verkündigten Gottesherrschaft, der von der Vollzahl seiner Schafe auch nicht ein einziges verloren sein läßt, sondern die 99 auf der Weide läßt und diesem einen verlorenen nachgeht bis ins unwegsame Bergland hinauf, um es zu retten und heimzubringen. Im Unterschied zu diesem Gleichnis ist in Joh 10 betont, daß der Hirte alle Schafe, die Gott ihm gegeben hat, zur Weide führt. Sein Lebenseinsatz rettet sie alle vor dem Wolf; und seine eigentliche Gabe ist die Fülle ewigen Lebens. Dieser Unterschied hängt mit der christologischen Gesamtsicht in Joh 10 zusammen. Im Blick auf 10,30 kann man geradezu sagen: Jesus als der Sohn des Vaters ist hier in Person die Gottesherrschaft, und die Rettung 16 Dazu vgl. H. Hübner, Biblische Theologie III, 184 f.

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der Seinen geschieht entscheidend in seinem Kreuzestod als seiner Selbsthingabe für sie (15,13; 17,19)17. In 10,16 weitet sich der Blick vom Kreis der Jünger Jesu vor Ostern zur nachösterlichen Kirche, zu der er auch Nichtjuden zu seiner einen Herde hinzuführen wird18. So werden die Leser in die Rede Jesu einbezogen; und es wird deutlich, daß das Bild der Herde ekklesiologische Bedeutung hat. 5. Eben dies wird in Joh 21 in besonderer Weise relevant. Der Auferstandene beruft hier seinen Jünger Simon Petrus zum Hirten an seiner Statt. Es sind Jesu Schafe, die er weiden soll. Der Aspekt ist wie der in Joh 10 universal. Petrus ist hier nicht (wie in 6,68 f.) Repräsentant der Zwölf oder aller Jünger überhaupt. Wie Jesus in Joh 10 der eine Hirte seiner Schafe ist und diese seine eine Herde sind, so soll entsprechend Petrus diese Herde der Schafe Jesu als Hirte weiden. Das Hirtenamt der urchristlichen Tradition wird hier also über dessen regionale Begrenzung als Gemeindeleitung hinaus als universalkirchliches Leitungsamt ausgeweitet; und es ist Petrus, der dazu von Jesus selbst berufen wird.19 Daß er diesen Auftrag mit anderen Jüngern teilen soll, wird mit keinem Wort auch nur angedeutet; es liegt hier überhaupt nicht im Blick, – eben weil der Aspekt des Hirtendienstes Jesu von Joh 10 unmittelbar auf Petrus bezogen wird. Wie die dreifache Frage „Liebst du mich?“ die dreifache Verleugnung eben dieses Jüngers wachruft, so gilt der dreimal wiederholte Auftrag „Weide meine Schafe“ ihm persönlich. Es bleibt zwar völlig unbestimmt, wie dieser „Petrusdienst“ im Rahmen der Urkirche konkret wahrgenommen werden soll. Fragen der Kirchenordnung sind hier – wie durchweg im Johannesevangelium – nicht im Blick. Wahrscheinlich wird schlicht die traditionelle Rolle des Petrus in der Jerusalemer Urgemeinde reflektiert, wie sie die Apostelgeschichte aus dem Aspekt der späteren Zeit als die verklärte Zeit des Anfangs nacherzählt. Und so selbstverständlich, wie die Petrusbriefe die Autorität dieses Jüngers für die in 1.Petr. 1,1 genannten kleinasiatischen Gemeinden als gesamtkirchliche Autorität in Anspruch nehmen, wird auch der Hirtenauftrag des Auferstandenen an Petrus in Joh 21 verstanden sein: Es ist die Anfangszeit nach Ostern, in der Petrus ihn erhalten und ausgeübt hat. Zur Zeit der Leser ist dies heilige Vergangenheit, die für die Kirche der Gegenwart vor allem durch den Märtyrertod des Petrus V. 18 f. von außerordentlicher Bedeutung ist. 17 Dazu vgl. in diesem Band S. 41 f. 18 Joh 10,16 ist zwar eine Erweiterung der Hirtenrede, die jedoch nicht von späterer Hand stammt; gegen J. Becker, Joh., 389. 19 So mit Recht R. Schnackenburg, Joh. III, 436 f.

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6. Dieser Schlußsatz der Berufung V. 18 gewinnt durch die Einleitungsformel „Amen, amen, ich sage dir“ besonderes Gewicht. Wie das „Weiden“ der Schafe so geschehen soll, wie es Jesus in Joh 10 von seinem eigenen Hirtendienst gesagt hat, so gehört zum Hirtendienst des Petrus an Jesu Statt auch der gleiche Tod am Kreuz, mit dem er Gott verherrlichen soll (V. 19). Damit wird zwar dem Märtyrertod des Petrus gewiß nicht die Heilsbedeutung zuerkannt, die allein Jesu Kreuzestod zukommt. Der Einsatz seines Lebens, den er seinem Herrn in 13.37 angeboten hat, soll nun zwar tatsächlich zum Tragen kommen: aber als besonderer Schlußakt seiner persönlichen Nachfolge (V. 22), wie Jesus sie grundsätzlich allen Jüngern in Aussicht gestellt hat (12,25 f.; 15,20 f.). Der Lebenseinsatz für die Schafe ist Sache allein des einen guten Hirten (10,11.14 f.17; 15,13 f.; 17,19). Denn allein der Sohn des Vaters hat diese Vollmacht (10,17 f.). Allein der Menschensohn, der vom Himmel herabgestiegen ist, vermag zum Himmel aufzusteigen (3,13) – und das heißt: im Tode am Kreuz „erhöht“ zu werden (3,14) und so in seiner Liebe zu den Seinen (13,1) die rettende Liebe des Vaters zur Welt (3,16) zur Wirkung kommen zu lassen. Allein der Kreuzestod des Sohnes ist zugleich seine Verherrlichung durch den Vater (13,31; 17,1–5). Der Kreuzestod des Petrus verherrlicht dagegen Gott dadurch, daß er die äußerste Konsequenz der Jüngernachfolge Jesu ist (vgl. 1.Petr 4,16; Mart Polyk 14,3; 19,2). Was Jesus ihm hier voraussagt, steht darum in Kontrast zu dem, was Petrus in der vorausgegangenen Szene gerade getan hat: Dort „gürtete“ er sich selbst und sprang aus eigenem Antrieb ins Wasser, um so als Erster zu seinem Herrn zu gelangen (V. 7) –: In seinem bevorstehenden Tod wird „ein anderer ihn führen, wohin er nicht will_“ (V. 18)20. Kreuzesnachfolge ist kein Triumphzug. Wer dem für uns Gekreuzigten in seinen Tod folgt, muß sich selbst verleugnen, auf seinen eigenen Willen verzichten. Petrus wird „seine Arme ausstrecken“ und sich ganz und gar der Führung seines Herrn anvertrauen. 7. Daß der Auftrag an Petrus in diese Ankündigung des Martyriums ausmündet, ist zugleich ein Hinweis zu richtigem Verstehen dessen, wie er diesen Auftrag wahrzunehmen hat: als Hirte an Jesu Stelle zu treten. Nicht nur die Schafe bleiben Jesu Eigentum und gehen nicht etwa in den

20 R. Bultmann, Joh, 552 vermutet hinter V. 18 ein Sprichwort: „In der Jugend geht man frei, wohin man will; im Alter muß man sich führen lassen, wohin man nicht will.“ Weil der Gegensatz „als Jüngling – als Greis“ im Blick auf Petrus keine Bewandtnis hat, ist diese Vermutung erwägenswert. Der Ton in V. 18 liegt demgegenüber auf der Voraussage des Kreuzestodes, vgl. V. 19 – gegen Bultmann ebd. Vielleicht soll der Gegensatz „freiwillig – unfreiwillig“ den Unterschied zum Kreuzestod Jesu andeuten, der die Vollmacht hat, „sein Leben selbst hinzugeben und wieder zu nehmen“ (10,18).

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Besitz des Hirten Petrus über; sondern auch der Hirtendienst selbst ist durch Jesus vorgegeben und dient allein dazu, daß er als solcher fortgeführt wird. Das heißt: Es müssen Jesu Worte sein und bleiben, die sein Diener in seiner Nachfolge der Gemeinde seiner Jünger weitergibt – Jesu Schafen ist nur Jesu eigene Stimme vertraut (10,3.16.27). Und Petrus als Hirte wird dafür zu sorgen haben, daß es der Glaube an Jesus ist, Gottes Sohn, mit dem die Christen der Kirche – als Schafe seiner Herde – auf das Wort Jesu antworten. Sicherlich aber gilt auch für sein Verhalten das Gegenbild des Lohnarbeiters in 10,12 f.: Als Hirte an Jesu Statt muß er allezeit bereit sein, Jesu Schafe gegen Räuber zu verteidigen und gegen wilde Tiere zu schützen – das heißt: Irrlehrern den Weg zu versperren und sich in Verfolgungszeiten schützend vor die Gemeinde zu stellen (vgl. Apg 20,29). Hirtendienst in der Kirche ist „Dienst an der Wahrheit und Einheit“. Die urchristliche Tradition spricht von der Gemeindeleitung als Hirtendienst. Jesus bleibt der „Erzhirte“ (1.Petr. 5,4) – årcipoimŒn mit der Doppelbedeutung des Hirten des Anfangs, der für alle spätere Zeit bestimmend bleibt, und des Hirten, der die eigentliche „Herrschaft“ des Hirten behält und vor dem sich die Hirten an seiner Statt zu verantworten haben. Vom auferstandenen Herrn Jesus als „großem Hirten der Schafe“ spricht auch Hebr 13,20; und im Kontext ist es deutlich er, in dessen Dienst die Gemeindeleiter (13,17) stehen. Vor allem aber in der Abschiedsrede des Paulus in Apg 20,28 ff. tritt deutlich hervor, daß die, die als Hirten für „die ganze Herde“ Sorge zu tragen haben, zuerst auf sich selbst achthaben müssen (vgl. 1. Kor 9,27!). Es ist ein Wächterdienst (Apg 20,31), in dem sich die Hirten auch nicht davor scheuen dürfen, denen entgegenzutreten, die die Gemeinden von der Nachfolge des Herrn in ihre eigene Nachfolge „wegziehen“ (V. 30). Daß dies auch im johanneischen Umkreis akut gewesen ist, zeigt 1. Joh 2,19. In Apg 20,28 wird der Heilige Geist als der genannt, der die Episkopen als Hirten eingesetzt hat. Dabei mag eine Initial-Praxis wie in Apg 13,2 (vgl. 1.Tim 4,14; 2.Tim 1,6) vor Augen stehen. Sicher aber wirkt der Geist bei der Ausübung des Hirtenamtes in der Weitergabe der „gesunden Worte“ apostolischer Lehre (vgl. 2.Tim 1,14 f.). In Joh 21 ist vom Geist nicht die Rede. Hier ist Jesus der Berufende, und das Verhältnis zu ihm als dem guten Hirten bestimmt ganz und gar den Aspekt. Die Geistbegabung wird in Joh 20,21 f. allen anwesenden Jüngern zuteil, wie ja auch in den Abschiedsreden der Geist als Paraklet in der Nachfolge Jesu als des Parakleten (Joh 14,16.25 f.; 15,26; 16,7 ff.12 ff.) allen Jüngern verheißen wird. 8. Doch bedarf es hier noch eines Blickes auf die zweite Szene 21,20–23. Hier taucht plötzlich (wie zuvor in 21,7) der „geliebte Jünger“ auf, an

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dessen vertraute Nähe zu Jesus beim Abschiedsmahl in 13,23.25 die Leser hier ausdrücklich erinnert werden. Mit deutlicher Irritation im Unterton fragt Petrus, was es mit der Nachfolge dieses Jüngers auf sich habe (V. 21). Das ist sehr verständlich. Denn während bislang immer ein deutlicher Unterschied zwischen ihnen bestand, eben was die Nähe und das Vertrautsein mit Jesus und das entsprechende „Wissen“ betrifft, ist Petrus jetzt durch seine Berufung in Jesu eigenes Hirtenamt einer Nähe zu Jesus gewürdigt, die nun eigentlich ihn vor allen anderen Jüngern auszeichnet, während dies seit 13,23 immer bei dem „geliebten Jünger“ der Fall war. Die Antwort Jesu in V. 22 läßt einen ganz neuen Unterschied hervortreten: Petrus ist es bestimmt, in der Nachfolge seines Herrn den Märtyrertod zu sterben, – „jener Jünger“ dagegen soll nach Jesu Willen „bleiben, bis er kommt“. Der Autor klärt sogleich die Leser auf: Gemeint ist nicht, daß dieser Jünger zu denen gehörte, die die Parusie Jesu erleben werden, ohne vorher zu sterben (vgl. Mk 9,1).21 Das war die Fama, die sich nach V. 23a in der johanneischen Gemeinde um die Person des Verfassers des Johannesevangeliums gelegt hat, in dem man „den Jünger, den Jesus liebte“, gesehen hatte. Vielleicht kursierte ein auf ihn persönlich bezogenes Jesuswort nach Art der Zusage in Mk 9,1: „Ich will, daß dieser bleiben soll, bis ich kommen werde“. Der Verfasser dieses Nachtrags korrigiert dies V. 23b als ein Mißverständnis dieses Wortes. Er sieht sich dazu genötigt, weil der Autor des Johannesevangeliums gestorben ist, wie aus V. 24 hervorgeht. Dieser Tod des verehrten großen Lehrers, der doch als der vom Herrn geliebte Jünger nach dessen Wort bis zu seinem Kommen „bleiben“ sollte, dürfte erhebliche Irritationen in der Gemeinde ausgelöst haben. Darum stellt der Verfasser richtig: Nicht ein Privileg von persönlicher Unsterblichkeit dieses Jüngers hat Jesus mit seiner Zusage gemeint. Sondern das „Bleiben“ bezieht sich auf die bleibende Wahrheit des Zeugnisses des „geliebten Jüngers“ in Gestalt des Johannesevangeliums (V. 24). Die rätselhafte Gestalt dieses namenlosen Jüngers, der im Johannesevangelium erst zu Beginn des Passionsgeschehens im Kreise der Zwölf um Jesus ganz unvermittelt zum ersten Mal auftaucht (13,23 ff.), ist also in irgend einer Weise ablösbar von der Person des Autors, den man mit dieser Gestalt identifiziert hatte. Denn der Verfasser des Nachtrags wiederholt in V. 23 die Antwort Jesu V. 22 an Petrus im Wortlaut, so daß kein Zweifel daran bestehen kann, daß jener „geliebte Jünger“ tatsächlich bis zur Parusie „bleiben“ wird. Darin ist das Wissen begründet, daß sein Zeugnis wahr ist. Wahres Zeugnis gibt es also nur im Munde eines wahrhaftigen Zeugen. Wer immer jedoch in Zukunft Jesus als den Sohn 21 Vgl. dazu J. Frey, Eschatologie III, 19–21.

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Gottes bezeugen wird, der wird es tun müssen, indem er seinem je aktuellen Zeugnis das grundlegende Zeugnis des Johannesevangeliums zugrundelegt, als dessen Autor jener „geliebte Jünger“ gilt. Wie dies zu verstehen ist, hängt an der vielfach diskutierten Frage, wer im ursprünglichen Sinne des Johannesevangelisten mit dem „Jünger, den Jesus liebte“, gemeint ist (vgl. außer 13,23–24: 18,15 [?]; 19,26 f.; 20,2–10; [21,7]). Daß der Autor sich selbst in der Gestalt dieses namenlosen Jüngers als einem eigenartigen Incognito verborgen habe, ist schwerlich anzunehmen. Es besteht also ein Unterschied zwischen Autor und Nachtragsverfasser im Verständnis dieses Jüngers. Die Meinung des Autors läßt sich nur dann erkennen, wenn man die Namenlosigkeit dieses Jüngers, die der Evangelist – wie dann auch der Nachtragsverfasser – an allen Stellen, wo er ihn auftreten läßt, konsequent durchhält, nicht durch Vermutungen über seine Identität auflöst. Mag er vielleicht eine bestimmte Person im Auge haben (18,15?), so ist es doch eindeutig seine Absicht, dieser Person deswegen keinen Namen zu geben, weil im Bericht des Evangeliums nur die ,Funktion‘ dieser Gestalt von Bedeutung ist und allein von Interesse sein kann: Der „Jünger, den Jesus liebte“ repräsentiert einerseits alle Jünger, die Jesus „bis zum Ende“ bzw. „bis zur Vollendung seiner Sendung“ (19,30) geliebt hat (13,1). Daß Jesus diesen Anonymus den anderen Jüngern in seiner Liebe bevorzugt habe (als seinen „Lieblingsjünger“), wird nirgendwo gesagt noch auch nur angedeutet. Jesus liebt ihn ebenso wie alle anderen „Seinen“. In diese Liebe des Gekreuzigten sind über den Kreis der Zwölf hinaus alle Jünger der späteren Kirche im voraus mit einbeschlossen (17,20–23.26). Also repräsentiert der „Geliebte Jünger“ zugleich diese alle mit. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich also von den ,historischen‘ zwölf Jüngern. Das kommt auch darin zum Ausdruck, daß er mit Jesus vertraut ist wie keiner der anderen (vgl. besonders 13,23 mit 1,18!). Seine Erkenntnis Jesu entspricht der der nachösterlichen Christenheit. Andererseits gibt der Evangelist dem „geliebten Jünger“ seinen bestimmten Ort inmitten der Zwölf, besonders an der Seite des Petrus (13,23–25; 20,2 ff.: 21,7 sowie mit besonderem Gewicht 21,20–22). Es ist die Schlußphase der Geschichte Jesu, in der er auftritt – das Passionsund Ostergeschehen, in dem sich die Liebe Jesu nach 13,1 vollendet. Als Mit-Zeuge dieses heilsentscheidenden Geschehens ist er im Kreise der daran beteiligten Jünger gegenwärtig, die als die Augen- und Ohrenzeugen den Inhalt des Glaubens der ganzen nachösterlichen Kirche für immer verbürgen (20,30 f.). Darum ist sein Zeugnis in Gestalt des Johannesevangeliums „wahr“ (21,24). Diese doppelte Funktion ist es, die die besondere Bedeutung dieses „Jüngers, den Jesus liebte“, ausmacht: Er repräsentiert unter den ,histori-

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schen‘ Jüngern die Jünger der ganzen nachösterlichen Kirche. Und als solcher repräsentiert er umgekehrt für die nachösterliche Jüngerschaft die ,historischen‘ Jünger, auf deren Zeugnis der Glaube der Kirche aufruht.22 Von daher gewinnt das Wort Jesu in 21,22 einen guten Sinn; Dieser Jünger soll nach Jesu Willen „bleiben“ bis zu seiner Wiederkunft. Denn die Kirche seiner Jünger wird bleibenden Bestand haben (vgl. Mt 16,18!). Die Herde seiner Schafe wird niemand aus seiner Hand rauben können (10,29). Petrus wird in der Nachfolge seines Herrn sterben. Als von Jesus, dem guten Hirten, selbst zum Hirtendienst berufen, ist er zwar von nun an dem Auferstandenen so nah und so wesentlich verbunden, wie es ein Jünger nur sein kann. Darin ist er seit dieser Berufung dem „Jünger, den Jesus liebte“, gleich. Aber seine irdische Zeit ist begrenzt. Er soll seinem Herrn in den Tod am Kreuz folgen, – während jener Jünger „bleibt“. Genauso ist es freilich später dem Verfasser des Johannesevangeliums auch ergangen, der als solcher für die johanneische Gemeinde die Rolle des geliebten Jüngers eingenommen hat und mit sachlichem Recht in den johanneischen Gemeinden als solcher gilt. Doch ist es ein Mißverständnis, von diesem Verfasser anzunehmen, er werde als Person nicht sterben. Nach dessen Tode wird „der Jünger, den Jesus liebte“ in Gestalt wieder anderer Jünger, die wie jener ihren Mitjüngern Jesus als den Sohn Gottes bezeugen (20,31), „bleiben“, bis Jesus wiederkommt. Von einem Nachfolger Petri ist in Joh 21 nicht die Rede. Aber wenn die Herde der Schafe Jesu „bleibt“, die Petrus anstelle des irdischen Jesus im Auftrag des auferstandenen zu weiden hat, wird diese auch eines bleibenden Hirtendienstes bedürfen. Indirekt ist also dieser „Petrusdienst“ in seiner Besonderheit: als gesamtkirchliches Hirtenamt, sehr wohl ein „bleibendes“ Amt in der „bleibenden“ Kirche. Der Verfasser von Joh 21 hat es als „episkopales“ Amt aus der Tradition der Kirche seiner Zeit sicher gekannt und seinen Ursprung in der Gestalt des Petrus gesehen. Sollte er das an Petrus gerichtete Wort Jesu V. 22 so verstanden und an den Schluß der von ihm gestalteten Szene gestellt haben, daß in sehr hintergründiger Weise Petrus und der „geliebte“ Jünger als noch einmal ganz neues, österliches Paar in „bleibender“ Bedeutung zu Anfang der Geschichte der nachösterlichen Kirche auftreten läßt: nunmehr so, daß Petrus als erster das Hirtenamt an Jesu Statt auszuüben hat, das nach seinem Tode jeder Jünger ausüben wird, der wie der Verfasser des 4. Evangeliums in der Rolle des „Jüngers, den Jesus liebte“, in die Fußstapfen des Petrus treten wird, bis mit der Wiederkunft Jesu die Vollzahl der Schafe seiner Herde erreicht sein wird?23 22 Zu weiteren Aspekten an der Gestalt des ,geliebten Jüngers‘ vgl. in diesem Bande S. 72 ff.153 ff. 23 So bekäme die Feststellung J. Beckers, Joh., 772 Sinn: „Allerdings bleibt das über

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9. Was für ein Bild des „Petrusdienstes“ ergibt sich aus Joh 21? – Es ist wirklich ein Petrus-Dienst. Es ist dieser bestimmte Jünger aus

dem Kreise der Zwölf, den der Auferstandene in diesen Dienst beruft. Die Zwölf waren die Jünger, die nach dem Weggang vieler anderer bei Jesus geblieben sind. Ihr ,Sprecher‘ war Simon Petrus (6,68 f.). Jetzt wird dieser zum Hirten für alle Jünger der nachösterlichen Kirche. – Jesus beruft Petrus angesichts der Tatsache, daß dieser Jünger ihn zuvor

in der Stunde der Gefahr dreimal verleugnet hat. Deswegen wird seine Berufung dreimal ausgesprochen, nachdem er dreimal die Frage zu beantworten hat, ob er seinen Herrn jetzt liebe. Die Liebe zu Jesus deckt die Sünde seiner Verleugnung zu (vgl. Lk 7,47 und 1. Petr 4,8!), und diese Liebe allein ist es, aufgrund derer Jesus ihm den Hirtendienst anvertraut. – Es ist der Auferstandene, der ihn in diesen Dienst beruft, den bisher

Jesus selbst ausgeübt hat. Und es sind Jesu Schafe, die zu weiden er Petrus beauftragt. Auch die Herde der nachösterlichen Kirche bleibt das Eigentum des Auferstandenen, in dessen Auftrag Petrus seinen Hirtendienst auszuüben hat. – Der Dienst, zu dem Jesus Petrus an seiner Statt beruft, ist inhaltlich

bestimmt durch den Dienst Jesu in der Zeit seiner irdischen Sendung, wie er ihn in der Rede Joh 10 darlegt. Es geht darum, die Worte Jesu weiterzuverkündigen, in denen die Schafe auch nach Ostern die Stimme ihres Hirten erkennen. Es geht darum, Jesu Schafe vor Räubern und Wölfen zu schützen, das heißt: vor Irrlehrern, die Christen zum Abfall verführen, und vor Verfolgern, die sie von außen her bedrohen. Und es geht in all dem darum, daß das Verhältnis des gegenseitigen „Erkennens“ zwischen Hirt und Herde bewahrt wird. Die Berufung des Petrus an Jesu Statt dient also ganz und gar dazu, daß Jesus, der Auferstandene, selbst auch in der nachösterlichen Kirche der eine-einzige Hirte bleibt (vgl. 10,16, wo es Jesus selbst ist, der – nach Ostern! – andere Schafe zur Herde hinzuführt). – Zugrunde liegt eine breite Tradition des episkopalen Gemeindeleitungs-

amtes, das den festen Namen „Hirtenamt“ trägt. Doch während dieses Hirtenamt ortsgebunden ist, ist das Hirtenamt, in das Simon Petrus berufen wird, auf die Gesamtkirche bezogen.

Petrus in V. 15 ff. Gesagte, wie selbstverständlich, ohne Kontroverse oder teilweise Zurücknahme in Geltung. Auch ist zu beachten, daß der Lieblingsjünger weder unmittelbar von Jesus in einer zu V. 15 ff. parallelen Szene angesprochen wird, noch mittelbar ein besonderes Mandat erhält.“

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– Das Hirtenamt des Petrus ist auch darin auf seine Person bezogen,

daß es in seinem Märtyrertod enden wird. Wie sich alles, was Petrus zu tun hat, an dem bemißt, was Jesus als der Hirt seiner Schafe getan hat, so soll auch sein Tod dem Kreuzestod Jesu entsprechen. Darin findet die Nachfolge in ihrer von Jesus beschriebenen Struktur der Selbstverleugnung (12,25 f.) die besondere Form der Kreuzesnachfolge (V. 22: „Du folge mir!“). – Auch nach dem Tode des Petrus aber bleibt die Kirche Jesu Herde

und bedarf darum grundsätzlich einer Fortführung des zuerst Petrus anvertrauten Hirtendienstes an Jesu Statt. Möglicherweise deutet sich dies in 21,20–23 in dem Gegenüber des Petrus zu dem „Jünger, den Jesus liebte“, an. Dieser ist deswegen namenlos, weil er vom Evangelisten als Repräsentant der nachösterlichen Kirche inmitten des vorösterlichen Jüngerkreises Jesu gemeint ist. In seine ,Rolle‘ soll jeder Jünger eintreten, der in der nachösterlichen Kirche die Funktion des besonderen Vertrauten Jesu und darum seines wahrhaftigen Zeugen (21,24) innehat. In diesem Sinn sagt Jesus, dieser Jünger werde „bleiben“ bis zu seiner Parusie, also solange die Kirche als die Herde Jesu „bleibt“ und eines Hirtendienstes an Stelle des einen Hirten bedarf. Petrus hat diesen Dienst als erster empfangen. Nach seinem Tod wird der Wille des Auferstandenen dafür sorgen, daß immer einer da ist, der diesen Dienst an seiner Statt ausübt. Darum bleibt die ,Rolle‘ des „geliebten Jüngers“, auch nach dem Tode des Petrus. – Nach dem Urteil des Verfassers von Joh 21 war der Johannesevangelist

dieser geliebte Jünger. Sein Werk, dieses Evangelium, ist wahres Zeugnis Jesu und ist als solches in der Kirche in gebührender Achtung zu bewahren (V. 24). Der Tod des Evangelisten bedeutet aber ebensowenig das Ende des von Jesus geliebten Jüngers, wie der Märtyrertod des Petrus das Ende des ihm übertragenen Hirtendienstes bedeutet. Nach Jesu eigenem Willen bleibt der „geliebte Jünger“ in der ganzen Zeit der Kirche bis zu seiner Parusie. Er bleibt in Gestalt jedes Gemeindeleiters, der aus Jesu Mund in den Hirtendienst an seiner Stelle berufen werden wird. In jedem von ihnen bekommt der Namenlose einen Namen. Aber während die Träger dieses Dienstes mit ihren Namen kommen und gehen, bleibt die ,Rolle‘ dieses namenlosen Jüngers wie auch damit zugleich der gesamtkirchliche Hirtendienst an Jesu Statt, den Jesus selbst zuerst Petrus übertragen hat. Denn: Jesus bleibt der gute Hirte aller seiner Schafe bis zu seiner endzeitlichen Parusie. 10. Es gibt also ein Hirtenamt an Jesu Statt in der Kirche. Jesus selbst beruft in diesen Dienst; und alles, was darin zu tun ist, dient dazu, daß es der eine „gute Hirte“ ist, Jesus, Gottes Sohn, der die Kirche als seine

Joh 21,15–23 als Grundtext zum Thema „Petrusdienst“

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Herde weidet. Es ist darum ein Dienst an der Wahrheit und an der Einheit. Obwohl dieses Hirtenamt in der Leitung jeder Ortskirche wahrgenommen wird, bedarf es nach dem Willen Jesu um der Bewahrung der Einheit aller Christen willen (10,16; 17,20 ff.) eines gesamtkirchlichen Leitungsamtes an seiner Statt, kraft seiner Berufung und seiner Vollmacht. Dieses kann mit Recht im Blick auf Joh 21,15 ff. als „Petrusdienst“ bezeichnet werden, weil in der Berufung des Petrus das Wesen und alle Merkmale dieses Hirtendienstes unter dem einen Hirten Jesus Christus bleibend erkennbar sind.

Offenbarung und Lebensgeschichte Eine Nacherzählung und pastoraltheologische Auswertung der beiden Gespräche Jesu in Johannes 3 und 4

Alle Abschnitte des ersten Hauptteils des Johannesevangeliums stimmen darin überein, daß Jesus sich den Menschen, denen er begegnet, als der Sohn Gottes offenbart, als welcher er denen, die an ihn glauben, das vollkommene Heil der Endzeit vermittelt: ewiges Leben. In der Weise jedoch, wie die einzelnen Erzählungen dieses Ziel erreichen, sind sie voneinander unterschieden. Darin zeigt sich hohe literarische Darstellungskunst als Mittel theologischer Reflexion. Man verstellt sich den Blick dafür, wenn man sich bei der Interpretation dieser Perikopen allein auf jenes Aussageziel konzentriert und den Weg auf dieses Ziel nur unter dem Gesichtspunkt der Vorbereitung darauf sieht, statt den Weg als solchen thematisch zu gewichten. Dies gilt in besonderer Weise für die Erzählung der Begegnung Jesu mit der Samaritanerin (Joh 4,1–42).1 Sie ist als ganze als eine Weg-Geschichte konzipiert. In diesem Gespräch wird Jesus für diese Frau zum Wegführer. Der Weg durchläuft verschiedene Phasen2, die wie Serpentinen, eine nach der anderen, auf einen Berggipfel hinaufführen. In jedem Wegstück wird etwas an Höhe gewonnen – als Voraussetzung für das nächste. Darin zeigt sich: Weder Offenbarung noch Glaube ereignen sich im Nu eines ,Entscheidungs‘-Augenblicks. Der Glaube braucht Zeit für jede dieser Serpentinen, und der Offenbarer gönnt, ja gibt sie dem Menschen, den er führt. Es ist ein seelsorgerlicher Weg, der hier geführt und gegangen wird, Schritt für Schritt.3 Jeder Schritt hat seine eigene 1 Zur Literatur außer den Kommentaren vgl. J. Becker, Joh., 194. 2 R. Schnackenburg, Joh. I, 456 spricht von einer „stufenweisen Selbstoffenbarung“ Jesu, durch die er die Samaritanerin zum Glauben an ihn führt; vgl. als Stufen ihrer werdenden Glaubenserkenntnis ihre Anreden an Jesus: V. 9 „Du, ein Jude“; V. 11 „Herr“ (ebenso 15.19); V. 12 „größer als unser Vater Jakob“; V. 19 „ein Prophet“; V. 25.29 „Messias“; V. 42 „Retter der Welt“. 3 Gewiß ist die Perikope als ganze eine Missionsgeschichte, die die Gründung einer Gemeinde von Jesusjüngern in Samarien als Wirkung Jesu erzählt (vgl. Apg 8,52). Die Rede V. 31–38 gibt eine theologische Deutung von Mission als geschichtlichem Vorgang. Der Schluß V. 39–42 ist der Höhepunkt der Perikope. Vgl. T. Okure, Approach to Mission; M. R. Ruiz, Missionsgedanke, 179–210. So hat die Erzählung des Gesprächs Jesu mit der Frau die Funktion, den Vorgang des Gläubigwerdens an einem Einzelbeispiel zu illustrieren.

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Schwierigkeit, seine eigene Erleuchtung, seine eigene Bedeutung, die nicht verlorengeht. Jesus muß Judäa verlassen, weil die Pharisäer den Erfolg seines Wirkens dort mit wachsendem Unmut registrieren (V. 1–3). Das ist der Grund, warum er den kürzeren Weg nach Galiläa wählt, der üblicherweise von Juden gemieden wird, weil er durch Samarien führt. Zwischen Juden und Samaritanern bestand eine Erbfeindschaft besonderer Art: Sie verehrten den selben Gott – gegeneinander exklusiv an verschiedenen Kultorten, die Samaritaner auf dem Garizim bei Sichem, die Juden auf dem Berg Zion in Jerusalem (vgl. 2.Kön 17,28 ff.). Sie lebten mit den selben 5 Büchern Mose, zu denen die Juden die Propheten und Schriften hinzuzählten, die Samaritaner nicht. Sie hatten den gleichen Jahreszyklus der großen Feste, bestritten sich aber gegenseitig das Recht dazu. Sie wußten sich als die legitimen Erben der Erzväter – aber nur jeweils sich allein. Sie verurteilten sich gegenseitig als Ketzer und versagten einander jegliche Kommunikation. Diese Situation fester Tradition gegenseitiger Feindseligkeit ist in Joh 4 vorausgesetzt: Man „verkehrt nicht miteinander“ (V. 9).4 Der Ort des Gesprächs ist nun ausgerechnet durch den Erzvater Jakob sanktioniert. Es ist ein Brunnen, der in seiner Tiefe eine Wasserquelle birgt, und den Jakob seinem Sohn Josef geschenkt hat (V. 12)5. Er ist im Besitz der Samaritaner. Jesus hält dort in der Mittagshitze Rast, während seine Jünger zum Einkaufen in den nahegelegenen Ort Sychar gehen. Es ist die sechste Stunde.6 Von dort kommt nun eine Samaritanerin zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. Jesus spricht sie an: „Gib mir zu trinken!“ (V. 7). Darauf reagiert sie, indem sie auf die doppelte Ungehörigkeit seiner Bitte verweist: Er ist ein Jude – sie eine Samaritanerin; er ein Mann, sie eine Frau (V. 9 vgl. V. 27). Beide Rollen schließen seine Initiative und ihr Eingehen darauf normalerweise aus. Doch Jesus läßt das Gespräch nicht abbrechen. Er gibt ihm eine überraschende Wende. Geheimnisvoll spricht er von sich in der 3. Person und eröffnet der Frau die Möglichkeit, daß umgekehrt sie von ihm Wasser zu trinken bekommen könnte: „lebendes Wasser“ (V. 10). Der Dabei darf man jedoch nicht übersehen, in welcher Weise missionarisches Wirken geschehen soll: als ,seelsorgerliche‘ Hinführung zum Glauben auf je persönlichem Wege. 4 „Samariter“ ist Joh 8,48 ein besonders schroff-polemischer Schimpfname. Vgl. Mt 10,5; Lk 9,51–56; 10,33; 17,16. 5 Dies wird im AT nirgendwo erzählt. Hier steht wohl eine ätiologische Ortslegende der Samaritaner im Hintergrund. 6 K. Wengst, Joh., 156 weist auf die entgegengesetzte Zeit des vorangehenden Gesprächs mit Nikodemus Joh 3,2 hin. Im Aufbau des Joh.evangeliums stehen beide Gespräche im Kontrast zueinander vgl. unten S. 194 f.

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Ausdruck bezeichnet in der Alltagssprache Flußwasser im Gegensatz zu stehendem Zisternenwasser. So versteht ihn die Frau und sieht darin eine Anmaßung: Zwar gibt es auf dem Grunde dieses Brunnens in der Tat Quellwasser – aber wie will dieser Fremde Jude darankommen, wo er das hier vorhandene Schöpfgerät nicht anrühren darf? Und sollte er anderes Wasser meinen als das in diesem Brunnen, so ist das für Samaritaner eine Provokation: Will dieser Jude etwa „größer“ sein als der Erzvater Jakob, der das Wasser aus diesem Brunnen getrunken und für dessen ganze große Familie es ausgereicht hat samt ihren Herden! (V. 12). Aber Jesus meint „lebendes Wasser“ in einem anderen, tieferen Sinn. Das zeigt sich daran, daß er nicht von der Gabe des Erzvaters Jakob, sondern von „der Gabe Gottes“ gesprochen hat. Nur unter der Voraussetzung, daß sie von dieser Gabe wüßte und davon, wer es ist, der ihr davon spricht, kann sie „lebendes Wasser“ bekommen. Die Leser wissen, was er meint. Die Rede vom „Geschenk Gottes“ ist ihnen im Blick auf die Taufe vertraut: Es ist die Gabe des Geistes Gottes7, der Menschen von Sünden reinigt, so daß sie den Zutritt zu Gott und seinem Reich erhalten, und durch den ihr durch die Sünde zerstörtes Leben geheilt wird (Apg 2,38; 8,20; 10,45; 11,17; vgl. Röm 5,5.15.17; Eph 3,7; 4,7; Hebr 6,4). So wird die Taufe für Christen lebenslang tatsächlich zu einer Quelle, die zum ewigen Leben führt (vgl. Röm 6,3 ff.). Und „wer“ der Geber ist, bekennt der Getaufte mit dem Bekenntnis zu Jesus (vgl. Röm 10,9 f.; 1. Kor 12,3; 2.Kor 4,5; Phil 2,11). Geber und Gabe sind also identisch. Damit ist für die Leser das Ziel des hier beginnenden Gesprächs (vgl. V. 26) von Anfang an vorgezeichnet. Die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks „lebendes Wasser“ dient nun zunächst dazu, die Frau als Gesprächspartnerin zu gewinnen. Wo der Ort des Jakobsbrunnens sie von diesem Juden trennt, eröffnet das Quellwasser in der Tiefe dieses Brunnens das Gespräch zwischen ihnen. Jesus formuliert seine Rede so, daß die Frau die tiefere Bedeutung seines Angebots wenigstens erahnen kann. Und wenn sie darauf auch zunächst mit dem Selbstbewußtsein ihrer samaritanischen Gemeinde reagiert, das die Trennung zwischen ihnen nur noch betont, so hält die geheimnisvolle Sprachweise doch all die tiefen Heils- und Lebenswünsche, die sich seit alters mit dem Symbol des „lebenden Wassers“ verbinden, in ihr offen. Die Notwendigkeit des Wassers für alles Leben ist eine elementar menschliche Erfahrung. In der Wüstenzeit der Väter war es Gott selbst, der Mose für das verdurstende Volk eine wunderbare Quelle sprudelnden Wassers aus dem Felsen herausschlagen ließ, das sie vom drohenden Tode errettete (Ex 17,1–7 vgl. Num 20,2–13). In dieser Geschichte der 7 Dazu vgl. vor allem R. Schnackenburg, Joh. I, 464; J. Becker, Joh., 209 f.

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für Juden und Samaritaner gleich heiligen Exodus-Tradition spricht sich für alle Zeiten die Ur-Notwendigkeit Gottes für das Leben der Menschen aus. Im Psalter wird diese Urerfahrung in vielfacher Weise besungen (vgl. z. B. einerseits Ps 42,2 f.; 63,2; 107,5 f.9, andererseits Ps 23,2 f.; 36,9 f.; Jes 49,10; 55,1–3; 58,11 sowie Jer 2,13). In der späteren Erwartung einer neuen, heilen Lebenswelt der Endzeit taucht das Bild einer Fülle von Brunnen erquickenden Wassers auf (Hen 48,1 – vgl. Mt 5,6!). Auf diesem Hintergrund macht Jesu verhaltene Einladung Eindruck auf die Frau. In seiner Antwort auf ihren Widerspruch stellt Jesus in V. 13 f. nun die tiefere Bedeutung heraus, die in seiner Rede vom „lebenden Wasser“ verborgen war. Wer das Wasser dieses Brunnens trinkt, sei es nun der Erzvater Jakob damals oder die Samaritanerin heute, der wird auf jeden Fall alsbald wieder Durst bekommen. Wer dagegen von dem Wasser trinkt, das Jesus gibt – er spricht nun offen in der 1. Person –, der wird auf ewig nicht mehr nach Leben dürsten, denn es ist Wasser ewigen Lebens. Ein solcher Mensch wird selbst zu einem Brunnen, in dessen Innern eine Wasserquelle sprudelt „zum ewigen Leben“ (vgl. 4,36; 6,27; 12,25). Diese Formulierung hält zwei Bedeutungen offen. Zunächst ist es ein Angebot an die Frau: Ihr selbst wird dieses Wasser, das in ihr unaufhörlich zu sprudeln beginnt, zu ewigem Leben gereichen. Zugleich aber läßt sich die Formulierung auch so verstehen, daß die Frau zur Quelle von Lebenswasser für andere wird.8 Aus ihrem Inneren fließt es Menschen zu, für die sie zur Übermittlerin des ewigen Lebens wird, das sie von Jesus empfangen hat. Beide Bedeutungen kommen im Verlauf des folgenden Geschehens zum Tragen: Das Gespräch mit der Frau läuft darauf hinaus, daß sie in Jesus den endzeitlichen Messias erkennt, der ihr als solcher am vollkommenen Leben der Endzeit teilgibt, als „Geschenk Gottes“. Und die Folge dieser Erkenntnis wird sein, daß sie die Ihrigen aus der Stadt Sychar zu Jesus als dem Brunnen ewigen Lebens führt. Wieder aber versteht die Frau auch diese Verheißung wahren, ewigen Lebens im augenscheinlichen Sinn (V. 15). Da es auf der Ebene alltäglicher Erfahrung solches Wasser, das Durst für immer löscht, nicht gibt, erscheint ihr Jesu Angebot als phantastisches Wunder. Sie rechnet sich aus, was für eine Erleichterung ihres Arbeitsalltags es bedeuten würde, wenn daraus Wirklichkeit werden könnte: Sie selbst würde keinerlei Durst mehr haben, und sie brauchte auch nicht mehrmals am Tage den beschwerlichen Weg aus der Stadt hier heraus zum Brunnen zu gehen, um für ihre Leute das nötige Wasser zu schöpfen und ihnen zu bringen. So beginnt sie, wenn auch im Träumen, das Wort Jesu ernstzunehmen. Dabei ist ihre Abwehr gegenüber der Zudringlichkeit dieses fremden 8 So mit Recht K. Wengst, Joh. I, 159.

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Juden kein Thema mehr. Das Gespräch zwischen ihnen ist voll im Gange und nimmt von nun an von Phase zu Phase an Intensität und Tiefgang zu. Das Gespräch nimmt freilich zunächst noch einmal eine überraschende Wende: V. 16–18. Jesus fordert sie auf, ihren Mann herbeizurufen. Sie antwortet ausweichend, sie habe keinen Mann. Jesus durchstößt diesen Selbstschutz und zeigt ihr, daß er ihre Lebensgeschichte und ihre jetzige Lage genau kennt: „Fünf Männer hast du gehabt, und der, den du jetzt hast, ist nicht dein Mann“. Ob sie diese fünf Ehemänner durch Tod oder durch Scheidung verloren hat, – in jedem Fall ist dies eine Lebensgeschichte voll immer wiederholter Abbrüche und von entsprechend wachsender Lebensnot. Und diese zeichnet sich darin ab, daß sie nunmehr, das sechste Mal, ohne den Schutz des Ehestands, mit einem Mann zusammenlebt, der sie nicht zur Frau genommen hat. So ist sie in eine verzweifelte Lage persönlicher Unerfülltheit und sozialer Schutzlosigkeit geraten. Das ist die Wahrheit ihres Lebens.9 Im Licht seines Wissens führt Jesus ihr diese Wahrheit vor Augen, ohne sie damit zu verurteilen (vgl. 8,10 f.!). Er sagt nicht: „Du lügst“, sondern: „Zu Recht hast du das gesagt.“ Welche seelsorgerliche Weisheit und Liebe! Durch die offene Konfrontation mit der Wahrheit ihres Lebens verletzt er sie nicht; er öffnet ihr vielmehr den Zugang zu der Wahrheit Gottes, die er selbst ist (V. 23–26 vgl. 1,14; 14,6). So durchschaut, erkennt sie ihn als einen Propheten, der ihr die Wahrheit ihrer Lebenssituation überraschend aufgedeckt hat: V. 19 f. (vgl. V. 29). Im Griechischen erhält das ausdrückliche „Du“ am Schluß ihres Ausrufes ein starkes Gewicht. Was immer Propheten sind und sein mögen, dieser Mann hat sich ihr in einzigartiger Weise als Prophet erwiesen! Zu ihm faßt sie jetzt ein solches Vertrauen, daß sie, zum ersten Mal in diesem Gespräch, nunmehr selbst die Initiative ergreift und den Gegensatz zwischen ihrer Gemeinde und der dieses Propheten zur Sprache bringt: Vielleicht daß er auch darin über eine Hellsicht verfügt? Der Berg Garizim in der Nähe des alten Sichem (des heutigen Nablus) ist 9 Manche sehen in der auffallenden Lebensgeschichte dieser Frau in Joh 4,18 eine Anspielung auf die religiöse Situation Samariens seit der Zeit nach der Katastrophe des israelitischen Nordreichs. Der Assyrerkönig Sargon siedelte dort neue Bewohner aus fünf verschiedenen Volksstämmen an, vgl. 2.Kön 17,24 ff. Dann würde der Erzähler bereits in V. 18 in verborgener Weise auf das folgende Gesprächsthema in V. 19 ff. überleiten. so z. B. C. K. Barrett, Joh., 253; zuletzt F. Wessel, Fünf Männer. Daß in 2.Kön 17,29 ff. bei zwei Volksstämmen je zwei Götter genannt werden, muß dieser Deutung von Joh 4,18 nicht widersprechen, da in der Einleitung 17,29 darauf abgehoben wird, daß jedes der fünf Völker „sich seine eigenen Götter schuf“, und danach Josephus Ant IX, 288 entsprechend von fünf Göttern spricht. Dagegen z. B. J. Becker, Joh., 205 f., dessen Argumente aber deswegen nicht durchschlagen, weil sie die Leserperspektive des Joh.-Textes nicht treffen.

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nach der jahrhundertealten Kult- und Lehrtradition der Samaritaner der allein legitime Ort der Verehrung und Anbetung Gottes.10 Dagegen steht die Behauptung der Juden, daß dies allein der Tempel in Jerusalem sei. Die Voraussetzung des Exklusivanspruchs auf beiden Seiten ist, daß es der selbe einzig-eine Gott der Väter ist, der ausweislich der Schrift den einen wie den andern Ort zu seiner Wohnung und zu seiner Anbetung bestimmt hat (vgl. einerseits Dtn 11,29 f.; 27 12; andererseits 1.Kön 8; Ps 132,13 f.; Esr 3,8–6, 18). Wie kommt die Frau an dieser Stelle des Gesprächs auf diese Frage? Gewiß, nachdem Jesus sie als Frau ins Licht der Wahrheit Gottes gestellt hat, spricht sie nun als Repräsentantin ihres Volkes. So kommt im Übergang von V. 16–18 zu V. 20–24 ihre in V. 9 zweimal betonte Doppelrolle zum Tragen. Doch dieser Übergang zu dem neuen Thema der Legitimität des Anbetungsortes muß auch aus ihrer Lebenssituation, wie sie in V. 18 offenbar geworden ist, begreifbar werden. Dazu mag die folgende Überlegung dienen. Was tut ein Mensch in drückender Notlage? Das lehrt der Psalter. Der Beter erzählt in seiner Klage vor Gott alles, was immer ihm Not bereitet. Er bekennt vor Ihm auch seine Schuld. Der tatsächliche – oder beim Beten vor Augen stehende – Ort solcher Klage vor Gott und der Bitte um Erhörung und Hilfe ist der Tempel als Stätte der Wohnung Gottes (vgl. Ps 42,2–6; 63,2 f. sowie 26,8–12; 27,4–10; 22,2–4), und der Berg, auf dem dieses Heiligtum steht (vgl. Ps 3,5; 24,3–6; 48,2 f.10–15; 68,17; 74,2; 78,67–69; 87,2–7; 99,9; 125,1 f.). Es ist denkbar, daß die Samaritanerin in diesem Sinne vielfach zu Gott auf dem heiligen Gottesberg ihres Volkes gebetet hat. Und wo ihr nun durch diesen Propheten ihre ganze Geschichte vor Augen geführt wird, könnte sich daraus für sie die schreckliche Möglichkeit ergeben, ihr ständig wiederholtes Scheitern sei darin begründet, daß ihre Gebete Gott auf diesem Berge Garizim gar nicht erreicht haben, weil nicht er, sondern der Zionberg der einzige Ort sei, an dem Gott angerufen sein will und Gebete erhört. Wenn dies der persönliche Hintergrund ihrer Frage wäre, so würde sich aus dem vorherigen Gesprächsgang ihre Bitte gut erklären: Der Prophet, der ihre Lebensgeschichte aufgedeckt hat (vgl. auch V. 29!), möge nun auch klarstellen, wie sich dazu ihre Gottesbeziehung als Samaritanerin verhält. Jesu Antwort (V. 21) beginnt vertrauenerweckend: „Glaube mir, Frau!“ Es wird eine „Stunde“ kommen, da dieser Gegensatz zwischen den beiden Orten der Anbetung Gottes aufgehoben wird. Die Ursache dafür deutet sich darin an, daß Jesus von Gott als „dem Vater“ spricht. Im Verständnis des Johannesevangeliums ist Gott der Vater Jesu. Für Menschen ist Gott Vater nur dort, wo sie an Jesus als den vom Vater ge10 Das galt auch nach der Zerstörung des samaritanischen Tempels im Jahr 128 v. Chr. durch den Makkabäer Johannes Hyrkanos.

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sandten Sohn glauben (vgl. 8,42). Im Glauben an Jesus aber haben sie an Jesu Sohnesverhältnis zu Gott teil (vgl. 20,17); und so wird für alle Menschen allein Jesus zum Ort wahrer Anbetung Gottes (vgl. 14,8–11). Die Christen der johanneischen Gemeinde als Adressaten des Johannesevangeliums verstehen dies sofort. In der Zukunft liegt diese Stunde insofern, als erst der auferstandene Gekreuzigte die Seinen kraft des Geistes in seine eigene, vollkommene Gemeinschaft mit dem Vater aufnehmen wird. (vgl. 12,31–33; 13,31 f.; 14,20; 17,22 f.). Doch um das zu verstehen, bedarf es für die Frau zuvor noch einer radikalen Verdeutlichung ihrer Sorge, für Samaritaner könne Gott tatsächlich unerreichbar sein – nicht nur wegen des illegitimen Ortes, sondern ganz grundsätzlich: weil Samaritaner, Heiden gleich, aus dem Verhältnis Israels zu seinem Gott ausgeschlossen sind. Nur so gewinnt V. 22 mit der schroffen Entgegensetzung von „ihr“ und „wir“ mit dem begründeten Nachsatz: „Das Heil kommt von den Juden“ im Kontext Sinn.11 Jesus spricht hier für einen Moment als Jude, so wie die Frage der Frau in V. 20 die jüdische Position voraussetzt: Heiden „kennen“ Gott nicht (vgl. Gal 4,8; 1.Thess 4,5), sie „wissen“ also nicht, was sie anbeten (vgl. Apg 17,23.30). Denn Gott zu kennen, ist das heilsgeschichtliche Privileg Israels als des Volkes der auserwählten Gerechten (vgl. Bar 4,4!) Heiden kann die Gotteserkenntnis als Ursache des Heiles nur von den Juden zukommen (vgl. Röm 2,17–20!). Das ist nun zwar die harte Wahrheit des Verhältnisses zwischen Samaritanern und Juden, – aber nicht die Wahrheit, die mit Jesus in die Welt gekommen ist (vgl. 18,37). Diese besteht darin, daß die Stunde der Aufhebung dieses ausschließenden Gegensatzes nicht nur in der Zukunft der Endzeit einmal anbrechen wird (V. 21) – sie ist bereits da (V. 23)! Jesus selbst ist es, der diesen Gegensatz aufheben wird; und wo ein Mensch ihm als Gottes Sohn vis-à-vis steht, sei es in der Zukunft der Endzeit, sei es jetzt und hier in der Gegenwart, da steht dieser Mensch zugleich vor dem einen, wahren Gott. Wer jetzt Jesus im Glauben als den sieht, der er ist: als den Sohn Gottes, den der Vater gesandt hat, sieht in ihm zugleich den, der über das zukünftige Endheil entscheidet. Dieses ist nicht festgelegt auf einen der beiden irdischen Kultorte; es kommt auch nicht von den

11 Dazu vgl. besonders F. Hahn, „Das Heil kommt von den Juden.“ Dagegen scheidet J. Becker, Joh., 207 f. V. 22 als Nachtrag aus und zerstört so die Wirkung von V. 23, wo – mit schroff-adversativen ållâ – der in V. 22 auf die Spitze getriebene religiöse Gegensatz zwischen Juden und Samaritanern und ihren einander ausschließenden Anbetungsorten V. 21 mit eschatologischer Wahrheit aufgehoben wird. Ohne V. 22 würde zwar V. 23 an V. 21 unmittelbar anschließen. Doch dann würde die Antwort Jesu V. 23 ihre überraschende Kraft der Aufhebung des Gegensatzes verlieren; und Jesus spräche wie einer der vielen kultkritischen hellenistischen Philosophen (dazu vgl. U. Schnelle, Joh., 90 mit Anm. 148).

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Juden zu den Heiden, sondern wird Juden und Heiden allein im Glauben an Jesus zuteil. Er ist „der Heiland der Welt“ (V. 42). So darf sich jetzt der ganze, lebenslang ungestillte Durst dieser Frau nach wirklichem, erfülltem Leben auf Jesus richten. Die Ermutigung „Vertraue mir!“ bekommt so einen tiefen, heilsentscheidenden Sinn, der in V. 21 noch nicht herauszuhören war. Sie gilt nicht nur im Blick auf einen Propheten, der erschaut, was die Zukunft bringen wird, wie er die ganze zurückliegende Lebensgeschichte dieser Frau bis hinein in ihre Gegenwart mit einem Blick durchschaut; sondern sie gilt so, daß er jetzt an ihr und in ihr zu bewirken vermag, was er ihr zuspricht. Er ist also „mehr als ein Prophet“ (vgl. Mt 11,9) – er ist Gottes Sohn, der mit seinem himmlischen Vater eines ist (10,30). Was er über die „wahre“, die allein wirkliche und daher allein legitime Anbetung Gottes sagt, ist die Wahrheit in endzeitlich-vollkommener Klarheit: „Geist ist Gott“ (V. 24). Das heißt nicht nur, daß Gott eben himmlischen, nichtirdischen Wesens und darum nicht exklusiv an irgend einer irdischen Kultstätte allein zu erreichen ist (vgl. Jes 66,1 f.; Apg 7,48 f.; 17,24 f.). Vielmehr: Wie Gott nicht in irgend etwas außer ihm begründet ist, sondern ganz und gar aus sich selbst ist und lebt, so ist er für Menschen nur zu erreichen und zu erfahren in dem, was er selbst spricht und tut. Menschen sind „Fleisch“ und vermögen darum von sich aus überhaupt kein Verhältnis zu Gott zu haben oder herzustellen (vgl. 3,5–8). Nur wo Gott sich Menschen zu erkennen gibt, können sie ihn erreichen. Nur wo Er den Zugang zu Sich öffnet, können sie ihn anbeten als den, der von sich aus und in sich selbst ist: „in Geist und Wahrheit“. Beide Begriffe bestimmen sich gegenseitig: Gottes Geist ist Gottes Wirklichkeit, und allein Gottes Geist erschließt einem Menschen den Zugang zur Wahrheit dieser Wirklichkeit. Gottes Wirklichkeit aber ist nicht etwas anderes als sein Geist, der sie erschließt, sondern Gott ist, indem Er Sich offenbart. Diese Einheit von ,Wesen‘ und ,Erscheinung‘, von Sein und Tun Gottes ist Gottes ureigenes Geheimnis. Bereits die ersten Sätze des Prologs (1,1 ff.) haben Gott so besungen, daß im Uranfang Gott und Sein Wort eines waren, und daß sich diese Ureinheit von der Schöpfung an in der gesamten Geschichte zwischen Gott und den Menschen verwirklicht hat, einmündend im Zentralgeschehen der Inkarnation und von daher in der gesamten Geschichte Jesu bis zu seiner Kreuzigung, in der er seine Sendung vom Vater vollführt und vollendet (19,30). Wer immer im Glauben Jesus als den sieht, der er ist: Gottes Wort als den vom Vater gesandten Sohn, der sieht in ihm die ganze Wirklichkeit Gottes: „Geist und Wahrheit“. Und so kann es eine Anbetung Gottes als des Gottes, der Er ist, nur durch Jesus und im Glauben an Jesus als Gottes Sohn geben (14,6). Nur solche Glaubende, die an Gott glauben, indem sie an Jesus, Gottes Sohn, glauben, „sucht“ der Vater als seine Anbeter: Menschen, die in Jesus die

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erfüllte Wirklichkeit der Zuwendung Gottes zu den Menschen, zur Welt als ganzer, sehen.12 Noch einmal bleibt das, was die Frau von Jesu Rede in diesem Augenblick begreift, hinter dem, was er sagt, zurück. Sie bleibt bei der Zukunftsaussage von V. 21. Denn diese kann sie der Erwartungstradition ihres Volkes zuordnen. Die Samaritaner erwarten das Kommen dessen, der in ihrer heiligen Schrift der fünf Bücher Mose verheißen wird: des Propheten, den Gott als Nachfolger Moses erwecken wird, und auf den allein sein Volk hören soll: „Der soll zu ihnen reden alles, was Ich ihm gebieten werde.“ (Dtn 18,15–18).13 Nun ist der Augenblick gekommen, wo Jesus diese Frau zum letzten Schritt ihres Erkenntnisweges führt. Er weist sie mit ihrer Messiaserwartung zu ihm selbst: Der Erwartete steht vor ihr. Es ist der, der mit ihr redet – Jesus (V. 26). Es will aber beachtet sein, daß Jesus sich nicht direkt mit dem Messias, wie sie ihn nennt, identifiziert. Er sagt nicht: „Ich bin der Messias“. Seine Worte in V. 23 f. weisen ihn als den aus, der er ist! In V. 23 f. freilich ist von Jesus selbst nicht ausdrücklich die Rede, sondern nur vom Vater und von Gott, der Geist ist. Wenn er sich in V. 26 auf diese Worte zurückbezieht (ú lalÂn soi), muß dieses „Ich bin“ seinen eigentlichen Sinn von deren Inhalt her haben: Jesus selbst ist „Geist und Wahrheit“ Gottes. Von ihm gilt, was im Prolog vom Wort gesagt ist: „Gott war das Wort“. Das „Ich“ Jesu und Gottes eigenes „Ich“ stimmen überein. Gottes ureigener Name: „Ich bin, der Ich bin“ (Ex 3,14 vgl. 20,2) ist Jesu Name14, mit dem er sich dieser Frau hier bekannt macht, wie Gott sich einst Mose bekannt gemacht hat. Das ist der Grund, warum in V. 24 von Gott als dem Vater die Rede ist: Gott ist Gott als der Vater des Sohnes. In diesem Sinne ist Jesus nicht nur mehr als ein Prophet (V. 19), sondern auch mehr als der Messias der samaritanischen Erwartungstradition (V. 25). Dieser Unterschied bleibt freilich der Frau auch jetzt noch verborgen. Nur die Leser des Johannesevangeliums begreifen den Sinn der Selbstvorstellung Jesu in V. 26 als Selbstoffenbarung (vgl. 20,31). Für die Frau bleibt er einstweilen noch der Messias, „der mir alles gesagt hat, was ich getan habe“ (V. 29). Erfüllt von dieser Erfahrung, läßt sie ihren Wasserkrug stehen, als ob sie im Sinne von V. 15 nicht mehr Wasser zu schöpfen brauchte. Sie eilt zu den Ihrigen in die Stadt, um ihnen statt des Wassers die Kunde von Jesus zu bringen. Sie sollen alle den kennenlernen, den sie auf so überraschend persönliche Weise als Prophet erlebt hat, daß die Frage in ihr brennt, ob dieser Mann am Ende der Messias sein könnte? 12 Vgl. J. Becker, Joh., 210. 13 Vgl. R. Schnackenburg, Joh. I, 475 f. 14 Dazu vgl. in diesem Band S. 19 f.

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Wir übergehen das Gespräch, das Jesus in der Zwischenzeit mit seinen aus der Stadt zurückgekehrten Jüngern (V. 27) führt (V. 31–38), und schauen auf die Schlußszene (V. 39–42). Die Menschen von Sychar eilen zu Jesus heraus (V. 30), und viele von ihnen kommen zum Glauben an ihn (V. 39), bitten ihn zu sich in die Stadt, und er bleibt dort zwei Tage (vgl. 2,12). Während dieser Zeit des Zusammenseins mit ihm verwandelt sich ihr Glaube. War es anfangs die Erzählung der Frau, die sie zum Glauben motiviert hat, so glauben sie nun aufgrund des Wortes Jesu selbst (V. 41). Und sie sagen es ihr: „Jetzt glauben wir nicht mehr wegen deiner Rede – wir haben selbst gehört und wissen es: dieser ist in Wahrheit der Retter der Welt!“ (V. 42). Zum Glauben an Jesus kommt man nicht durch das, was Menschen als ihre Erfahrung mit ihm erzählen. Dies ist zwar wichtig als Anstoß, zu Jesus zu kommen (vgl. 1,39.46). Aber wahrer Glaube entsteht nicht sozusagen am Spiegelbild von Erlebnissen anderer mit Jesus, sondern dort, wo es Jesus selbst ist, vor den ein Mensch tritt, so wie man vor Gott tritt, und wo es Jesu eigenes Wort ist, das er mit dem Herzen hört, wie Gottes Wort gehört werden will (Dtn 6,4 f.).Dieses Hören ist im griechischen Urtext in der Zeitform des Perfekts ausgedrückt: als ein Hören, das im Glaubenden bleibt (vgl. 8,31 f.), und das im Herzen zum Wissen der Wahrheit wird (vgl. 6,68 f.). Aus dem „Bleiben“ Jesu bei den Samaritanern erwächst allererst der Glaube, der bei der Frau, die sie zu Jesus holt, zu seiner Reife noch nicht gekommen ist. Ihre Begegnung mit ihm brannte so in ihr, daß sie den Ihrigen davon mitteilen mußte, bevor sie selbst im Glauben erkannt hat, was sie eigentlich von ihm erfahren hat. Die Frage, mit der sie zu den Ihrigen kommt (V. 29), erhält ihre volle Antwort erst dort, wo sie zusammen mit ihnen Jesu Wort hört und erkennt, wer er „in Wahrheit“ ist (vgl. V. 24!). Man wird das im Sinne des Glaubensbekenntnisses am Schluß dieser Geschichte (V. 42) zu verallgemeinern haben: In Wahrheit erkennt der Glaube Jesus nur, wenn er in ihm den „Retter der Welt“ erkennt. Wahrer Glaube kann und darf sich nicht im Herzen eines Einzelnen gleichsam so ein- und abkapseln, daß ein individualistisches Privatchristentum entstünde. Ebenso kann aber auch ein ,konfessionalistisches‘ Gruppen-Christentum, das sich gegen andere Gruppen so exklusiv verhielte, wie nach Joh 4 Samaritaner und Juden, nicht die Gestalt der Kirche als Gemeinschaft von Glaubenden im Sinne des Johannesevangeliums sein. Zum Christsein des Einzelnen gehört persönliche Zeugenschaft. Und so kann auch die Kirche als ganze den Glauben an Jesus als Gottes Sohn nur bewahren, wenn sie ihn der Welt so bezeugt, daß „die Welt glaubt“ (17,20–23). *

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Pastoraltheologisch gesehen, zeigt sich eine staunenswerte Weisheit in dem, was wir heute seelsorgerliche Gesprächsführung nennen. In der Tat führt Jesus diese Frau, Schritt für Schritt, zum Glauben an ihn. Er führt sie jedoch so, daß sie den Weg in jeder Phase selbst finden kann. Es ist wie ein Gebirgspfad, der sich in Serpentinen aus der Tiefe in die Höhe des Gipfels hinaufwindet. Dieser selbst wird für die Bergsteigerin erst im letzten Augenblick sichtbar, in dem sie ihn erklommen hat (4,26). Den Lesern jedoch, die der Autor sie durch alle Windungen hindurch an Jesu Seite begleiten läßt, ist von Anfang an klar, daß der immer steiler werdende Berghang, an dem entlang sie von Serpentine zu Serpentine aufwärts geht, mit dem Gipfel zusammen ein einziges Bergmassiv bildet. Sie wissen: Der Unbekannte, den diese Frau zu Beginn am Brunnen sitzend findet, ist der Messias Jesus, der Sohn Gottes, den am Schluß der Geschichte die Bewohner der ganzen Stadt als den „Retter der Welt“ preisen (4,42). Sie wissen darum auch, daß seine Gabe, von der er ihr spricht, die Heilswirklichkeit der endzeitlichen Vollendung ist: ewiges Leben. In dieser Erkenntnis und diesem Wissen unterscheiden sich die Leser zutiefst von der Samaritanerin selbst auf der Ebene der Erzählung. Sie sind Glaubende – die Frau ist zu Anfang völlig unkundig und unverständig, sie muß den Weg aus totalem Unwissen zum Bekenntnis des Glaubens allererst finden. Doch der Evangelist legt seine Erzählung so an, daß sich seine Leser auf jeder Stufe dieses Gesprächs mit der Frau identifizieren können. An keiner Stelle entsteht ein Anreiz für sie, sich ihr überlegen zu fühlen. Mit ihr mitzugehen vielmehr, ist die Rolle, die die Erzählung den Lesern zuteilt, und dies in einer Unaufdringlichkeit und unbemühten Selbstverständlichkeit, die den erstaunen läßt, der als ,Exeget‘ dieser Perikope des Johannesevangeliums auf den leserpädagogischen Aspekt ihrer Erzählkunst achtet. 1. Folgt man nämlich zunächst dieser ,rezeptionsästhetischen‘ Spur, so fällt zunächst die völlige Verschiedenheit dieser Geschichte gegenüber der im dritten Kapitel voranstehenden Perikope in den Blick. Auch dort wird ein Gespräch erzählt, in dem Jesus seinen Partner zu demselben Ziel des Glaubens an ihn führen will. Aber hier scheitert diese Absicht von Anfang an; und auf jeder Stufe tritt nur immer deutlicher hervor, welche Kluft diesen „Lehrer Israels“ (3,10) vom Glauben an Jesus trennt. Allerdings unterscheiden sich die Gesprächspartner in den beiden aufeinanderfolgenden Perikopen von Grund auf. In Kapitel 4 ist es eine Samaritanerin, der bereits als solcher gegenüber dem Juden, der mit ihr redet, die Rolle der Unwissenden und Unterlegenen zukommt (4,22). Um wieviel mehr ist sie dies als ein Mensch, dem der Geist Gottes, in welchem wahre Anbetung allein möglich ist (4,23 f.), von Hause aus unzugänglich ist. Ihre schließliche Erkenntnis ist darum etwas ganz an-

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deres als nur eine Überwindung des Grabens zwischen Samaritanern und Juden – sie ist ein Wunder, ein Geschenk des Offenbarers Jesus. In Kapitel 3 dagegen beginnt der jüdische Partner sein Gespräch mit Jesus in dem Selbstbewußtsein völlig selbstverständlichen „Wissens“ als einer der Lehrautoritäten Israels: „Rabbi, wir wissen“ (3,2). Ob dies nun lediglich eine höflich-herablassende Eingangsformel ist, mit der das Gespräch einen bemüht guten Anfang bekommen soll, oder eine wirkliche Anerkennung Jesu als eines „von Gott gesandten Lehrers“, – jedenfalls beginnt Nikodemus dieses Lehrgespräch als Repräsentant eines elitären Kreises von Wissenden, für den das Gespräch mit Jesus nur den Sinn haben kann zu klären, ob das durchaus positive Vorurteil über diesen absonderlichen Rabbi zu Recht besteht oder nicht. Mit anderen Worten: Jesus soll geprüft werden. Ein positiver Ausgang ist von vornherein nur so denkbar, daß dieser neu auftretende Lehrer als zu der Elite der „Lehrer Israels“ gehörend eingestuft und so auf die Ebene deren „Wissens“ emporgehoben werden kann. Dies aber ist, vom Aspekt Jesu aus gesehen – und so zugleich auch aus dem der Leser – gänzlich ausgeschlossen. Das Umgekehrte ist der Fall: Dieser Lehrer Israels müßte seinerseits auf die ganz andere, unendlich höhere Ebene eines Wissens treten, das überhaupt nicht irdisch-menschlicher Art ist. So antwortet Jesus Nikodemus nicht, sondern er provoziert ihn, indem er diese Differenz der Ebenen anklingen läßt. Dies tut er zugleich mit einer feinen Ironie: Zu wissen, daß Nikodemus es in Wahrheit mit einem „von Gott gesandten Lehrer“ zu tun hat, erfordert eine völlige Umkehrung und einen Neuanfang seines Wissens, so als ob er dazu „von neuem geboren werden“, ja sogar „von oben“, nämlich von Gott selbst gezeugt werden muß (V. 3). Dazu bedarf es des Wunders geistlicher Erkenntnis, die sich von der Ebene irdischer Menschen, von der Ebene des „Fleisches“, gänzlich unterscheidet. Solche Erkenntnis ist darum nur zu gewinnen durch eine totale Veränderung der Person. Aus dem Ék tœ™ sarkí™ (aus dem Fleisch) Gezeugten und Geborenen muß ein Ék toø pne‹mato™ (aus dem Geist) Gezeugter und Geborener werden. Dem ersteren ergeht es wie mit dem Wind: Er hört ihn nur als Geräusch seines Sausens; aber woher der Wind kommt und wohin er fährt, weiß er nicht (V. 8). So kann ein „fleischlicher Mensch“, selbst wenn er ein Gelehrter ist, von Gottes Geist nur unverständliche, törichte Worte hören, deren Sinn er nicht versteht (3.6–8). Nikodemus gibt selbst den Erweis dessen: Er hört aus Jesu Wort V. 3 nur den Unsinn, als könne ein Mensch die Lebensrichtung von der Geburt bis zum Tode umkehren und als alter Mann in den Schoß seiner Mutter zurückkehren, um noch einmal neu geboren zu werden (V. 4). Mit dem gleichen Unverständnis reagiert er auch nach der Erläuterung Jesu V. 5–8. „Wie kann dies geschehen?“ (V. 9). Damit endet dieses Gespräch, wie es begonnen hat.

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Die Leser erkennen ihrerseits den Unsinn des Mißverstehens und der totalen Unwissenheit dieses Lehrers. Denn sie befinden sich auf der Erkenntnisebene, auf der Jesus redet. Sie haben den totalen Existenzwandel, von dem Jesus in V. 3 und V. 5 spricht, selbst erfahren: Sie sind in der Taufe „aus Wasser und Geist“ gezeugt und neu geboren worden. So kann Jesus sich mit ihnen im „Wir“ der Geistlichen zusammenschließen; „Wir reden, was wir wissen, und bezeugen, was wir gesehen haben“ (V. 11). Mit diesem Satz wird Nikodemus von der Szene des Gesprächs verabschiedet, nachdem er sich als „Lehrer Israels“ disqualifiziert hat (V. 10). Das christliche „Wir wissen“ ist eine schneidende Antithese zu seinem „Wir wissen“, mit dem er das Gespräch in V. 2 eröffnet hat. Die Taufe (V. 5) erweist sich hier als fundamentale Barriere: Sie ist die einzige Tür, durch die hindurch der Überschritt von der Existenzebene des „Fleisches“ zur der des Geistes vollzogen werden kann – als Gabe von oben (3,27). Wer aber aus dem Fleisch ist und so denkt, versteht und redet, der kann die Ebene des Geistes nicht erreichen. Eben dies ist es, was die Leser in Joh 3 miterleben. Der Evangelist erzählt den Verlauf dieses Gesprächs von beiden Seiten aus so, daß die Distanz aufs deutlichste hervortritt, die sich dort auftut, wo Blinde sagen: „Wir sehen“, statt daß sie sagen: „Wir sind blind“ (9,41). Den Letzten kann geholfen werden, den Ersten nicht. Das hat dort die vorangehende Geschichte des Blindgeborenen gezeigt: Seine Blindnis hat Jesus geheilt; die Blindnis derer, die ihn deswegen als „Sünder von Geburt an“ aus der Synagoge hinauswerfen (9,34), erweist sich als unheilbar: „Eure Sünde bleibt“ (9,41). Diese gegenseitige Ausgeschlossenheit ist in der Erzählung Joh 9 ebenso deutlich zu erleben wie in dem Gespräch mit Nikodemus Joh 3. Dem dient dort die Serie von Verhören, hier die schonungslose Herausstellung des Mißverstehens in 2,3, und der Unmöglichkeit des Verstehens in 3,10. So wesenhaft-tiefgreifend jedoch der Gegensatz zwischen Fleisch und Geist als solcher auch ist, – die Person des Nikodemus ist darauf nicht festgelegt. Später, in der entscheidenden Sitzung des Hohenrats, auf der der Tod Jesu beschlossen werden soll, schert er mit seinem Votum 7,50 f., aus dem Konsens der Gegner Jesu aus und bewirkt damit für sich selbst eine ähnliche Reaktion der übrigen Ratsmitglieder wie hernach der Blindgeborene: Sie rechnen ihn bereits dem Galiläer zu, dessen Todesurteil er verhindern will (7,52). Und schließlich: Am Begräbnis des gekreuzigten „Königs der Juden“ beteiligt er sich selbst als ein ihm bereits Zugehörender wie Josef von Arimatäa (19,39 ff.). Es gibt also durchaus einen Zugang zu Jesus auch für einen Menschen, für den dies bei der ersten Begegnung ausgeschlossen schien. Die Leser, die diese miterleben, dürfen Nikodemus also keineswegs als unverbesserlichen Feind verurteilen! Würde er an Jesus glauben, gälte ja auch für ihn die Zusage ewigen Lebens

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(3,16). Und weil Jesus dazu von Gott in die Welt gesandt ist, verurteilt er selbst niemanden (3,17). 2. Dies verbindet die beiden Gesprächsszenen in Kapitel 3 und 4 bei aller Verschiedenheit: Der Zugang zu Jesus ist wegen des kontradiktorischen Gegensatzes zwischen Fleisch und Geist schlechthin ein Wunder, – als solches aber in keinem Fall ausgeschlossen. Jesus selbst will, daß jeder, der zu ihm kommt, zum Glauben an ihn findet. Er ist als Gottes Sohn vom Vater in die Welt gesandt, nicht um sie zu verurteilen, sondern zu retten (3,17). Dies ist der Wille der Liebe Gottes: Jeder, der an ihn glaubt, soll ewiges Leben als ihre Heilsgabe empfangen (3,16). Während nun aber das Gespräch mit Nikodemus zunächst mit seinem Abtritt von der Bühne endet, ohne daß sich ein Übergang zum Glauben auch nur andeutet; und während es dort für den Leser unerklärlich bleibt, wie dieser Übergang sich dann später doch anbahnt und schließlich überraschend vollzogen hat, – kann und soll der Leser im Gespräch mit der Samariterin Schritt für Schritt den Weg mitvollziehen, den Jesus sie führt. Dies ist das Besondere dieser Perikope im Unterschied zur vorangehenden: Jesus handelt als Wegführer (wie in der nachösterlichen Zeit der Geist: 16,13). Darin gibt er den Lesern ein Beispiel, wie solche pastorale Wegführung sich vollzieht: Seelsorgerliche Hinführung zum Glauben nimmt den Menschen ernst, der einen Weg gehen soll, den er eigentlich, von sich aus, nicht finden kann. Es ist eine ,Empathie‘ besonderer Art, in der Jesus mit dieser Frau umgeht: Nicht nach ihren Möglichkeiten richtet er sich – dann wäre ja ein Zugang zum Glauben ebenso unmöglich wie zuvor bei Nikodemus. Wohl aber entspricht er in seiner Gesprächsführung ihrer persönlichen Situation, indem er sie schrittweise dem Ziel näher führt. Jedesmal schafft er ihr sozusagen eine neue Absprungmöglichkeit, so daß sie den Wechsel von der einen zur anderen Ebene nicht auf einmal, sondern in Etappen aufgeteilt vollziehen kann. Darin zeigt sich eine mystagogische Weisheit voller ganz persönlich zugemessener Menschenliebe. Jesus „weiß, was im Menschen ist“ (2,25) – sowohl im Blick auf Nikodemus, den der Evangelist darum zuerst als einen „Menschen“ einführt (3,1), wie nun auch, wenngleich in anderer Weise, in seiner Begegnung mit der Samaritanerin, die sich nicht nur als solche gegenüber einem Juden, sondern zugleich als Frau zu diesem Mann verhält (V. 9a). 3. So gesehen, ist es bemerkenswert, wie Jesus das Gespräch eröffnet: Er bittet sie, – und zwar um etwas, was sie als Samaritanerin ihm, dem Juden, an sich gar nicht geben darf. Doch der Erzähler hat zuvor den Zustand der Erschöpfung Jesu in der sengenden Mittagshitze für die Leser so beschrieben, wie auf der Ebene des Erzählten die Samariterin

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als Frau sie wahrnimmt. Diesem Mann in seiner offenkundigen Schwachheit zu helfen, legt sich in dieser Situation für sie nahe. So reagiert sie auf seine Bitte nicht mit abweisendem Schweigen, sondern mit einer Frage, in der Vorwurf wie auch Erstaunen zusammenklingen, – und jedenfalls indirekt auch ihre Bereitschaft, den Fremden trinken zu lassen, ungeachtet der Barriere, die die verhärtete Verhaltenstradition zwischen ihren Völkern errichtet hat. Die Leser gewahren mit Erstaunen: Der Messias, der „Retter der Welt“ (V. 42), bittet diese Samaritanerin um Hilfe und läßt es darauf ankommen, daß sie ihn abweist! Eben so aber kommt es zum Beginn eines Gesprächs zwischen ihnen, das sonst unmöglich wäre. Die ganz einfache menschliche Hilfsbedürftigkeit des Fleisch gewordenen Gottessohnes wird so zugleich zum Anfang der Überwindung der ungleich tieferen Barriere zwischen Fleisch und Geist. Dazu allerdings bedarf es nun einer Initiative Jesu, in der sich die Umkehrung im wahren Verhältnis von Geben und Empfangen zuerst andeutet. Sie ist nötig, wenn aus dem menschlichen Kontakt zwischen ihnen eine Heilsbegegnung werden soll. Jetzt wird aus dem Bittenden der Geber und aus der zur Hilfe Bereiten die Empfangende. In dem Wenn-Satz V. 10 spricht Jesus davon zunächst nur als von einer Möglichkeit: Wenn du wüßtest von der Gabe Gottes, und wer es ist, der dich um einen Schluck zu trinken bittet von dem Wasser, das du hier geschöpft hast, so würdest du ihn bitten und er würde dir anderes Wasser geben: „lebendes Wasser“. Die Samaritanerin reagiert auf dieses Angebot genauso unverständig wie zuvor Nikodemus. Über dessen ironisches Mißverständnis (3,4) hinaus meldet sich in ihrer Antwort sogar ein handfester Vorwurf gegen den Juden, der offenbar mehr zu geben beansprucht als der Vater Jakob, der diesen Brunnen den Samaritanern gegeben hat und nicht den Juden (4,11 f.). In dieser Reaktion zeigt sich, daß die Frau sehr wohl etwas von jener Umkehrung heraushört, die Jesus ihr zumutet, jedoch ganz auf der Verstehensebene des ,Fleisches‘ und also als Mißverständnis. Jesus schilt sie deswegen nicht. Er geht aber auch auf ihren Vorwurf überhaupt nicht ein, sondern führt unbeirrt sein Angebot nur weiter aus (V. 13 f.). Aus dem doppeldeutigen „lebendigen Wasser“ (V. 10) wird nun Wasser „zum ewigen Leben“ (V. 14). Zwar nimmt sie auch aus dieser Erläuterung nur das eine Motiv auf, das ihr auf ihrer Verstehensebene einleuchtet: keinen Durst mehr haben, auch nicht mehr die tägliche Mühsal des Wassertragens! Das erscheint ihr so attraktiv, daß sie darüber allen Vorwurf und alle Berührungsscheu vergißt (V. 15). Damit hat Jesus ihre Barriere gegen ihn unmerklich entfernt; jetzt wird tatsächlich sie die Bittende (vgl. V. 9). Damit ist der kritische Punkt des Gesprächs erreicht. Mit ihrer Bitte öffnet sie sich zu ihm. Nun gilt es, sie erfahren zu lassen, wie sein

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Angebot nicht nur ihre Lebensumstände betrifft, sondern ihr Leben selbst. Mit einem Mal liegt ihre ganze, unselige Lebensgeschichte im Licht: „alles, was ich getan habe“, wie sie es hernach den Ihrigen in der Stadt zweimal staunend berichtet (V. 29.39). Für die Leser ist das Erstaunliche dies: Jesus benennt diese ganze Geschichte in aller Deutlichkeit (V. 18), – aber ohne sie zu verletzen oder gar moralisch zu disqualifizieren! Offenbar ist in seiner Nähe die Wahrheit ihrer Lebensgeschichte nichts Unerträgliches, nichts, was sie vernichtet. Jesus fixiert sie damit nicht auf sie selbst, – sondern er ist es, auf den sie schaut. Von ihm als Propheten ist sie fasziniert. Und so bleibt sie nicht ihrer Lebensgeschichte verhaftet. Sie traut diesem Propheten vielmehr zu, auch das ganze Problem der Trennung zwischen ihrem Volk und dem seinen zu lösen (V. 19 f.). Daß es diese Frau selbst ist, die nun ihrerseits das Gespräch ganz auf die religiöse Ebene bringt, das ist die ganz erstaunliche Folge der Aufdeckung ihrer eigenen Geschichte unter dem Aspekt Jesu, der ihr dies eröffnet hat. Von nun an erwartet sie die Klärung auch aller Fragen des Gottesverhältnisses von ihm So ist der Augenblick nahegekommen, daß ihr offenbar wird, wer er ist, und welches die wahre Gabe ist, die nur er zu geben vermag (vgl. V. 10). Doch zuvor bedarf es noch eines letzten Schrittes, durch den das Gespräch endgültig die Ebene des Menschlichen überschreitet und die des Geistlichen erreicht. Ihre Frage nach dem Recht zwischen Samaritanern und Juden erfährt eine überraschend harte Antwort: „Das Heil kommt von den Juden.“ Das klingt zunächst wie eine Abfuhr: Im Gegenüber zu Jesus als Juden ist klar, daß die wahre Gotteserkenntnis aufseiten der Juden ist, in die er sich mit dem „wir“ einreiht, in schroffem Gegensatz zu „euch“, den Samaritanern. Doch gerade in dieser abweisenden Antwort ist der Ansatz zur Transzendierung dieser Ebene des Gegensatzes bereits enthalten. Die künftige „Stunde“ in der die Alternative zwischen den beiden irdischen Anbetungsorten aufgehoben sein wird (V.21), ist bereits jetzt da (V. 23): Die wahre Anbetung Gottes wird „in Geist und Wahrheit“ geschehen. Denn Gott ist in Wahrheit der Vater dessen, der mit der Frau spricht; und dieser Vater sucht Menschen, die Gott als solchen anbeten: „im Geist“ Gottes und „in der Wahrheit Gottes“ (V. 24). Wieder wissen hier die Leser mehr als die Samaritanerin, die das, was ihr jetzt noch unverständlich ist, von der Offenbarung durch den Messias in der zukünftigen Endzeit erwartet (V. 25) und sich also an das Futurum der ersten Antwort Jesu V. 21 hält. Die Leser dagegen wissen, daß jene zukünftige Stunde bereits jetzt sich ereignet, weil Jesus, der mit ihr spricht, der Messias ist. Seine Antwort, die in dem ICH BIN beschlossen ist (V. 26), ist der Inhalt ihres Glaubens. Darum verstehen sie, daß sich Jesus im „wir“ von V. 22 gar nicht mit den Juden gegen die Samaritaner

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zusammenschließt, sondern mit der Gemeinde der an ihn Glaubenden gegenüber allen Nichtglaubenden, sei es aus den Juden, sei es aus den Samaritanern. Als der Messias ist Jesus, der Sohn Gottes, der Ort der Gegenwart Gottes und seiner Heilsgabe, des ewigen Lebens. Nur die an ihn Glaubenden sind die, die „wissen, wen sie anbeten“. Jesus offenbart sich dieser Frau (V. 26), damit sie diese Ebene des wahren Glaubens in Geist und Wahrheit erreicht und so die Ebene des ausschließenden Gegensatzes zwischen Juden und Samaritanern ganz hinter sich läßt. So gesehen, verliert denn auch Jesu erste Antwort V. 23 den Charakter einer die Samaritaner ausschließenden Abweisung, sondern schließt umgekehrt diese Samaritanerin in das „Wir“ der um Jesus versammelten Gemeinde ein. Und nicht nur sie allein, sondern durch sie auch die ganze Gemeinde in der „Stadt Samariens“ (V. 4). Die Erzählung geht darum unmittelbar vom Höhepunkt des missionarischen Gesprächs Jesu mit dieser Frau (V. 26) in eine neue Phase des Missionsgeschehens über, in der nun sogleich sie zur Missionarin für andere wird. Bevor sie Jesu Selbstoffenbarung schon richtig verstanden hat, eilt sie bereits in die Stadt zu den Ihrigen und ruft sie, zu Jesus, diesem Propheten, hinauszugehen. Diese tun es; und für sie ist keine Frage mehr, „ob“ Jesus der Messias sei (V. 29). Sie erfahren es und bitten darum ihn als den „Heiland der Welt“ zu Gast in ihrer Stadt (V. 39–42). Dabei spielt eine Rolle, daß ein Unterschied besteht zwischen dem Glauben auf die werbende Rede der Missionarin hin und dem Glauben aufgrund des Wortes Jesu selbst (V.42). Wieder erfahren davon die Leser durch die zwischeneingestellte Rede Jesu zu seinen Jüngern V. 31–38. Doch dieses schwierige Redestück soll hier nicht noch eigens betrachtet werden. 4. Nun gilt es, diesen zweiten Durchgang durch das Gespräch mit der Samaritanerin unter dem Aspekt der Leserorientierung zusammenzufassen. Dieser Aspekt dient ja dem Ziel, uns als Leser dieser Perikope aufmerksam werden zu lassen auf die besondere Art der Gesprächsführung Jesu und des Gesprächsgeschehens aufseiten seiner Partnerin. Für uns, die Leser, enthält die Erzählung also eine ,missionsdidaktische‘ Lehrfunktion. Erstens. Die Voraussetzung ist: Jesus ist ein Mensch von Fleisch und Blut, der sich nach der Wanderung in der glühenden Hitze erschöpft am Brunnen niedersetzt. Es ist diese Situation seiner menschlichen Schwachheit, die ihn die fremde Frau um etwas von dem Wasser bitten läßt, das sie aus dem Brunnen geschöpft hat, und das nur sie mit ihrem Schöpfgerät aus der Tiefe des Brunnens herausholen kann. Es gibt keine missionarische Predigt, die nicht von Jesus zu handeln hätte, der Gottes Sohn ist als „wahrer Mensch“. Und so sollte es auch kein seelsorgerliches

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Gespräch geben, in dem der Seelsorger sich selbst nicht in seiner eigenen Menschlichkeit, und das heißt immer auch: in menschlicher Schwachheit, offen zeigen dürfte. Wenn Jesus seine Schwachheit dieser Frau gegenüber nicht verborgen hat, so auch kein Seelsorger, der in Jesu Namen handelt. Und wenn Jesus seine unendliche Überlegenheit als Gottes Sohn dieser Frau gegenüber überhaupt nicht ausgespielt hat, so ist auch dem Seelsorger jederart Überlegenheitspose verboten. Im übrigen läßt sich dies auch positiv wenden: Wie Jesus eben dadurch, daß er in seiner Erschöpfung die Frau um etwas Wasser bittet, ein Gespräch mit ihr eröffnen kann, so kann auch ein Seelsorger viel Vertrauen in seinem ,Klienten‘ wecken, indem er ihm zeigt, daß er menschliche Not auch am eigenen Leibe erfahren hat. Zweitens. Das Ziel des Gesprächs ist allerdings von Anfang an, die Frau zur Erkenntnis zu führen, wer Jesus ist: Gottes Sohn, und welches die Gabe ist, die nur er zu geben vermag: „ewiges Leben“, das heißt, Leben in der vollkommenen Wirklichkeit des Lebens aus Gottes Leben, in der Gott jeden Menschen leben lassen will. Der Weg auf dieses Ziel zu kann darum nicht anders verlaufen als so, daß der unendliche Wesensunterschied zu überwinden ist zwischen dem Horizont menschlichen Fassungs- und Verstehensvermögens und dem Erkennen und Verstehen wahren Glaubens. Menschliche ,Solidarität‘ allein und als solche kann zu diesem Ziel nicht führen, weder so, daß das Gespräch über diese Ebene mit-menschlicher Kommunikation überhaupt nicht hinausgehen wollte oder dürfte, noch auch so, daß der Seelsorger sich grundsätzlich immer nur dem anzupassen hätte, was sein ,Klient‘ von sich aus sagt und vorbringt. Die seelsorgerliche Kunst Jesu, in die der Johannesevangelist seine Leser einzuführen sucht, besteht vielmehr darin, die Gesprächsschritte zu finden, die von Stufe zu Stufe aus der Ebene nurmenschlicher Kommunikation zur ganz anderen Ebene des Zugangs zu Gottes Sohn im Glauben an ihn führen. Dabei geht es einerseits darum, daß die Frau in der Gesprächssituation den jeweils nächsten Schritt zu tun vermag, ohne daß sie überfordert wird; andererseits darum, daß ihr von Stufe zu Stufe eine Annäherung an die göttliche Wirklichkeit möglich wird, die immer mit einem entsprechenden Loslassen menschlicher Reserve und Widerwillens verbunden ist, bisweilen sogar aggressiver Abwehr. Drittens. Dadurch, daß die Leser bei jeder neuen Gesprächswendung mit ihrem Glaubensverstehen wissen, was Jesus meint und vorauf er hinauswill, können sie so zugleich auch die ,Didaktik‘ seiner Gesprächsführung und vor allem die je neue Weise seiner seelsorgerlichen Zuwendung lernend mit vollziehen. Was hier zu lernen ist, ist dies: In jedem Angebot, das Jesus ihr macht, ist eine Verlockung enthalten, das ihr fremde, nicht verständliche Heil dennoch haben zu wollen als etwas,

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was für ihr Leben gut ist. Und in jeder Provokation, die er ihr zumutet, steckt immer auch eine Ermutigung, frei zu werden von dem, was sie in ihrem eigenen Lebensbereich am Leben verhindert hat, um eine ganz neue ,Qualität‘ von Leben zu gewinnen. Von Jesus geht eine so absolute Selbstgewißheit aus, die ihr mehr und mehr Sicherheit gibt, sich auf ihn einzulassen; und zugleich eine so persönlich-liebevolle Zuwendung, die mehr und mehr Vertrauen in ihr weckt, bei ihm Hilfe zum Leben zu finden, von der sie schließlich – im Glauben – weiß, daß diese die Rettung ihres Lebens ist. Eine entsprechend absolute Gewißheit darf und soll jeder Missionar und Seelsorger ausstrahlen, die in dem Wissen gründet, daß Jesus, den sie Menschen zu verkündigen und nahezubringen haben, denen er zunächst ganz fremd erscheint, „der Weg, die Wahrheit und das Leben ist“ (14,6). Ohne diese Grundsicherheit kann es keine Überzeugung zum Glauben geben. Viertens. Es kann lange dauern und mancher Umwege bedürfen, bis ein Mensch sich innerlich Jesus öffnet. Immer aber wenn dies geschieht, tritt die ganze eigene Lebensgeschichte in den Blick, in der Wahrheit des göttlichen Wissens Jesu. Das hat darin seinen Grund, daß dort, wo Jesus ist, die zukünftige „Stunde“ des endzeitlichen Gerichts „schon jetzt ist“ (V. 23). Nach der jüdischen Enderwartung wird jeder Mensch mit allem, was er getan hat, vor Gott ins Licht treten (vgl. 3,20; 5,29). Aber dort wo Jesus ist, vollzieht sich dieses Offenbarwerden bereits in der Gegenwart – und zwar so, daß wer an ihn glaubt, damit der ewigen Verurteilung entgangen ist (3,18), weil Jesus als Gottes Sohn von Gott in die Welt gesandt worden ist, damit alle, die an ihn glauben, durch die Zugehörigkeit zu ihm am „ewigen Leben“ teilhaben (3,16; 5,21.24–27). Insofern beschreibt die Samaritanerin ihre Begegnung mit dem „Propheten“ Jesus in der Sprache der eschatologischen Gerichtserwartung ganz richtig: „Alles, was ich getan habe, hat er mir gesagt“ (V. 29.39). Das Entscheidende aber ist, daß Jesus sie mit dieser Offenbarung ihrer Lebensgeschichte nicht verurteilt, sondern sie rettet. Das ist es, was sie dazu bewegt, sofort in ihre Stadt zu eilen, um alle zur Begegnung mit diesem Messias-Propheten zu rufen. Daß er der „Retter der Welt“ ist, vermag sie selbst noch nicht einmal mit eigenen Worten zu sagen – es reicht, daß sie mit staunender Begeisterung den Ihrigen berichtet, was ihr in der Begegnung mit diesem Propheten widerfahren ist, der sich ihr durch die Offenbarung ihrer Lebensgeschichte als der Messias „der uns alles verkünden wird“ (V. 25), erwiesen hat. Man mag dazu erwägen: Die eigene Lebensgeschichte erschließt sich einem Menschen aus dem Aspekt seiner innergeschichtlichen Erfahrung niemals als ganze. Diese Erkenntnis ist einem Aspekt jenseits des Todes vorbehalten. Das ist die Wahrheit der frühjüdischen Enderwartung, nach der im klaren Licht des göttlichen Gerichts jeder Mensch dem Geschick

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endgültig anheimgegeben werden wird, das er sich durch sein gesamtes Tun während seines Erdenlebens selbst zugezogen hat: Wer als Gerechter gelebt hat, wird durch das Urteil des endzeitlichen Richters ewiges Leben, sozusagen als seine Lebensernte, erhalten; wer als Sünder gelebt hat, wird dem ewigen Tod verfallen, gleichsam als Sold, den die Sünde ihm auszahlt (Röm 6,23). Die Ur- und Grunderfahrung des christlichen Glaubens hat diesen Zentralaspekt des zukünftigen Endgerichts verändert: Jesus als der Richter zur rechten Hand Gottes wird sein Urteil nach Maßgabe des Heilswillens der Liebe Gottes fällen, der ihn zu den Menschen in die Welt gesandt hat, um alle vor der ewigen Vernichtung zu erretten, die sich im Glauben .ihm anvertrauen und zu eigen geben (3,16). Dieser seiner Sendung entspricht es, daß er der Samaritanerin zwar in der Tat „alles, was sie getan hat“, auf den Kopf zusagt, aber so, daß er zugleich alle Wunden ihrer Lebensgeschichte heilt. Dahinter steht die Erfahrung der Taufe, in der alle Sünden, die der Täufling bekennt, kraft des Namens Jesu vergeben werden (vgl. Apg 1,38–40; 5,30 f.; 10,42 f. und in johanneischer Sprache 1. Joh 1,9; 2,1 f.12 ff.). So wird der Glaube an Jesus zum allein-entscheidenden Kriterium des Endgerichts, nach dem bereits in der Gegenwart der Heilsvollendung zugehört, wer sein ganzes Leben als Christ nach der Taufe durch den Glauben bestimmt sein läßt. Die Todeswirkung des ganzen Lebens vor der Taufe ist durch die Zugehörigkeit zu Jesus als Gottes Sohn erloschen. So gehört es zum Christsein, auf seine vorchristliche Lebensgeschichte ohne Gerichtsangst zurückzuschauen. In diesem Sinne ist die Perikope Joh 4 – altkirchlich formuliert – ein Ur- und Vorbild jedes zur Taufe hinführenden mystagogischen Gesprächs. Indem es hier Jesus ist, der im Gespräch mit dieser Samaritanerin den Weg alles mystagogischen Gesprächs in der Kirche vorzeichnet, kann und soll der Leser des Johannesevangeliums im Mitverfolgen dieses Weges Jesu lernen, wie sich alle seelsorgerliche Hinführung zum christlichen Glauben zu vollziehen hat – heute nicht anders als zu allen Zeiten der Geschichte der Kirche.

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