Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit [1 ed.] 9783428538942, 9783428138944

Die vorliegende Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff im Grundrecht der Gewissensfreiheit sucht die Fragen zu klär

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Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit [1 ed.]
 9783428538942, 9783428138944

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Schriften zur Rechtstheorie Heft 260

Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit

Von Nikolai Horn

Duncker & Humblot · Berlin

NIKOLAI HORN

Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit

Schriften zur Rechtstheorie Heft 260

Das normative Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit

Von Nikolai Horn

Duncker & Humblot · Berlin

Die Philosophische Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Wintersemester 2011/2012 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2012 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 978-3-428-13894-4 (Print) ISBN 978-3-428-53894-2 (E-Book) ISBN 978-3-428-83894-3 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinem Sohn

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2011/2012 von der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Tag der mündlichen Prüfung war der 9. Dezember 2011. Sie versteht sich als eine interdisziplinäre philosophisch-rechtswissenschaft­ liche Auseinandersetzung mit der Bedeutung von „Gewissen“ – sowohl als eines moralphilosophischen Begriffs als auch als eines Rechtbegriffs. Die philosophische Behandlung des Themas dient dabei dem ganzheitlichen Problemverständnis der gegenwärtigen theoretischen Verunsicherung über den Gehalt des Gewissensbegriffs und der Verdeutlichung des Schutzgutes der Gewissensfreiheit. Die Arbeit geht der Frage nach, inwiefern der Wandel der Gewissensinterpretation unterschiedlicher Denktraditionen das moderne rechtliche Gewissensverständnis prägt. Sie hat gleichzeitig zum Ziel, den Stellenwert des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Zusammenhang mit der verfassungsimmanenten Werteordnung zu rezipieren und ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln hervorzuheben. Mein besonderer Dank an dieser Stelle gilt Professor Dr. Dr. Udo Di Fabio, der neben Professor Dr. Wolfram Hogrebe Co-Betreuer der Arbeit war. Die Zeit an seinem Lehrstuhl hat mich nachhaltig geprägt und bereichert. Für wertvolle Diskussionen und Anregungen zur Arbeit möchte ich meinen ehemaligen Lehrstuhlkollegen und für die Korrekturlektüre Frau Bianka Hilfrich danken. Ganz besonderer Dank für die Förderung und Unterstützung während der Dissertationsanfertigung gilt Herrn Wilfried Breuer und meiner Mutter. Der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung sowie der Herbert Quandt-Stiftung verdanke ich einen Druckkostenzuschuss für die Veröffentlichung der ­Arbeit. Berlin, im April 2012

Nikolai Horn

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 I. Stoisch-christliche Gewissenskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 1. Stoisches Gewissenverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 2. Gewissenskonzeption des frühen Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 3. Gewissenskonzeption bei Thomas von Aquin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4. Zum naturrechtlichen Interpretationsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 II. Gewissenskonzeption der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Die Wende zum Subjekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Vernunftrechtliche Konzeption von Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 a) Die Grundlagen der Moralphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 b) Das Gewissensmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 3. Subjektivismuskritische Konzeption von Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Positivierung des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1. Relativierung des Gewissens bei Schopenhauer und Nietzsche . . . . . . . . . . . . 40 a) Arthur Schopenhauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 b) Friedrich Nietzsche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Psychologisches Gewissensverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 3. Funktionalistisches Gewissensverständnis bei Luhmann . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 1. Der gegenwärtige Bedeutungsschwund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 a) Sprachlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 b) Gesellschaftlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Philosophisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Der Übergang zum modernen Gewissensbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 V. Das Gewissen als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . 63 1. Der Selbstbezug des freien Vernunftwesens im Gewissensurteil . . . . . . . . . . . 64 2. Unzulänglichkeit der Gewissenserklärung durch positivistische Modelle . . . . 69 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

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Inhaltsverzeichnis

B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit und seine Ausgestaltung im Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Rechtsgeschichtliche Entwicklung der säkularen Gewissensfreiheit im Kontext der Entstehung des modernen Verfassungsstaates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Gewissensfreiheit vor dem Hintergrund von Freiheitsbedrohungen der NS-Zeit . 77 III. Die Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Grundgesetz . . . . 82 IV. Die Gewissensfreiheit im Kontext der Menschenwürde als höchstem Verfassungswert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 V. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 I. Definitionsproblem des Gewissens im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 1. Unbestimmtheit des grundrechtlichen Gewissensbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . 93 2. Zur Interpretation der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 1. Psychologischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 2. Funktionalistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 III. Normatives Gewissensverständnis nach Maßgabe des  verfassungsimmanenten Menschenbildes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 1. Das Menschenbild des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 2. Normatives Verständnis der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3. Die metaphysischen Annahmen im normativen Gewissensverständnis . . . . . . 123 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung . . 132 I. Gewissensfreiheit als Verfassungsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 II. Die Normativität der Rechtsordnung und die Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 1. Der Rechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 2. Die Rechtspflicht und die Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 III. Verfassungsrechtliche Grenzen der Gewissensfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172

Einleitung Das „Gewissen“ wird vor allem aus rechtspraktischen Gründen zum Thema juristischer Definition.1 Die zentrale Fragestellung bei der grundrechtsdogmatischen Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff im Grundrecht der Gewissensfreiheit besteht zum einen in der Problematik der juristischen Definition des Gewissens, was unter dem Gewissensbegriff in diesem Grundrecht zu verstehen ist und welche Schutzrichtung dieses Grundrecht besitzt. Zum anderen geht es um das Problem der Begrenzung der Gewissensfreiheit durch die staatliche Rechtsordnung: Insbesondere weil die Gewissensfreiheit ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht ist, so muss die Frage beantwortet werden, inwiefern die Geltung des positiven Rechts in der Abhängigkeit von subjektiven Gewissensüberzeugungen steht.2 Das erste Problem liegt in der besonderen Schwierigkeit bei der Schutzgutbestimmung und bei der Feststellung der Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit. Da eine rechtliche Norm nur dann praktische Geltung erlangen kann, wenn ihre Begriffe eindeutig definiert sind3, ist die Frage nach dem Gewissensbegriff im Kontext des Grundrechts der Gewissensfreiheit für die Bestimmung der Bedeutung, der Reichweite und damit auch der Grenzen dieses Grundrechts entscheidend.4 Untrennbar mit dem Definitionserfordernis geht die Intentionsfrage einher, was der Staat mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht der Gewissensfreiheit eigentlich schützt – denn was er nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen.5 Das Problem bei der Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit besteht dabei im Dilemma, „daß hier eine genuin außerrechtliche Sache zu definieren ist, die nicht bereits vorab begriffliche Identität und Kontur aufweist“6. Die Gründe für die Problematik der Schutzgutbestimmung liegen dabei sowohl in der gegenwärtigen theoretischen Verunsicherung über den Gehalt des Gewissensbegriffs7 als auch in der formalen Breite und prinzipiellen Mehrdeutigkeit8 der Gewissensdefinition durch das Bundesverfassungsgericht. Die Notwendigkeit einer eindeutigen Schutzgutbestimmung gründet nicht zuletzt auch in der Gefahr, dass

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Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 46. Vgl. ebd., S. 41 ff. 3 Ebd., S. 46. 4 Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 121. 5 Arendt., A., Die Kunst im Recht, S.  28; Isensee, J., Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 35. 6 Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 46. 7 Dazu: Abschnitt A. IV. 1. 8 Dazu: Abschnitt C. I. 1.

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die Berufung auf die Gewissensfreiheit inflationäre Züge annehmen kann und damit als eine Art der „Eruption der Eigentlichkeit des Selbst“9 „zusehends im banalen tagespolitischen Getriebe zu verschleißen droht“10. Die Frage nach dem Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit ist somit eine Frage nach der Schutzrichtung dieses Grundrechts: Schützt es den Menschen vor einer Gewissensnot und damit vor einer Verletzung der psychischen Integrität seiner Persönlichkeit oder vielmehr vor einer Einbuße an der Möglichkeit der konsistenten Selbstdarstellung und der Identitätsbewahrung sozialer Rollenbeziehungen des Individuums? Schützt dieses Grundrecht konkrete moralisch begründete Überzeugungen des Einzelnen oder hält es eher den Rahmen offen, in dem sich die urteilende und handelnde Individualität zeigen kann? Die Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff im Kontext des Grundrechts der Gewissensfreiheit sucht daher die Fragen zu beantworten, worin die Ursachen für die theoretische Verunsicherung über den Begriffsgehalt von „Gewissen“ liegen, was unter dem Gewissensbegriff im Grundgesetz zu verstehen ist, welche Schutzrichtung sowie welche Funktion das Grundrecht der Gewissensfreiheit hat und welchen Stellenwert es in der freiheitlichen Verfassung einnimmt. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird in diesem Kontext zu klären sein, welche Aspekte des Gewissensphänomens für sein Verständnis wesentlich sind, warum die Gewissenshaltung einer Person Achtung gebietet und welche grundrechtsdogmatischen Interpretationsansätze den grundlegenden Aspekten des Gewissensphänomens gerecht werden. Die zweite Problematik bei der Auseinandersetzung mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit betrifft das Geltungsverhältnis zwischen subjektiven Gewissensgeboten und der normativen rechtlichen Ordnung. Es ist die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen subjektiven moralischen Pflichten des Einzelnen und der Geltung des Rechts überwunden werden kann, sodass einerseits die Rechtsgeltung nicht in die Abhängigkeit vom individuellen Gewissen gerät und andererseits der Staat dem Auftrag, die sich im Gewissensurteil äußernde Selbstverantwortlichkeit des Individuums durch Art. 4 Abs. 1 GG zu schützen, gerecht wird. Da es keinen Gegenstand gibt, in den nicht jemand sein Gewissen legen könnte11, kann prinzipiell jede Rechtsnorm unter der Berufung auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit infrage gestellt werden. Auf der einen Seite steht dabei die Gewissensfreiheit als eine objektive wertentscheidende Grundsatznorm12, in der sich der Verfassungsgeber vor dem Hintergrund historischer Erfahrung der totalitären Einparteidiktatur für die Notwendigkeit der Wahrung der Gewissensfreiheit ohne einen Vorbehalt des Gesetzes bewusst entschieden hat. Auf der anderen Seite steht jedoch das staatliche Recht, das seine Geltung unabhängig von

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Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 58. 11 Schreiber, H.-L., Gewissen im Recht, S. 38. 12 BVerfGE 23, 127 (134). 10

Einleitung

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der Billigung durch den Einzelnen beansprucht. Dieses Spannungsverhältnis führt zu Fragen, ob die Geltung des allgemeinen Gesetzes von der Billigung durch das individuelle Gewissen abhängt und ob die Anerkennung des Gewissens die Allgemeinverbindlichkeit – als Basis des Rechts – außer Kraft setzte.13 Das Dilemma bei der Auseinandersetzung mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG besteht folglich darin, dass „der deutsche Verfassungsstaat kann weder auf den Rechtsgehorsam seiner Bürger noch auf die Anerkennung [der Gewissensfreiheit] verzichten, ohne sich selbst preiszugeben“14. Die zweite Aufgabe bei der Beschäftigung mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit liegt somit in der Überwindung des Spannungsverhältnisses zwischen normativen subjektiven Gewissensgeboten und der Normativität der gesetzlichen Ordnung. Dabei muss geklärt werden, in welchem Verhältnis die schrankenlos gewährleistete Gewissensfreiheit zu anderen Rechtsgütern steht und wo die Grenzen der Umsetzung von subjektiven moralischen Überzeugungen in einem freiheit­ lichen Rechtsstaat liegen. Die Methode, mit welcher die obengenanten Fragestellungen in der vorliegenden Arbeit aufgegriffen werden, besteht darin, dass auf der geisteswissenschaft­ lichen Ebene ein begriffliches Fundament für die Judikatur des Grundrechts der Gewissensfreiheit ausgearbeitet und damit eine begriffliche Orientierungshilfe für die juristische Auseinandersetzung mit den oben dargestellten Problemen bereitgestellt wird. Wegen der Eigenart des Gewissensphänomens muss die Rechtswissenschaft bei der Bestimmung des Gewissensbegriffs im Recht nolens volens mit außerrechtlichen Überlegungen arbeiten. Aufgrund der Besonderheit des Schutzguts der Gewissensfreiheit, ein subjektinternes Phänomen zu sein, das einer unmittelbaren objektiven Erkenntnis nicht zugänglich ist, ist für die grundrechtsdogmatischen Auseinandersetzungen mit der Gewissensfreiheit ein Rückgriff auf bestimmte geisteswissenschaftliche, d. h. sowohl philosophische als auch andere gesellschaftswissenschaftliche, Vorverständnisse über das Gewissensphänomen unvermeidbar. Die Frage nach dem Gewissen bewirkt bei der Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit wie bei keinem anderen Grundrecht  – außer der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG – einen interdisziplinären Diskurs.15 Erst aus einer moralphilosophischen Betrachtung des Gewissensbegriffs kann verständlich gemacht werden, worin die Probleme der rechtstheoretischen Gewissensinterpretation gründen. Darüber hinaus wird durch den Rückgriff auf die Begriffsbestimmungsebene das Ziel verfolgt, die Rechtsdogmatik vor reduk­ tionistischen Annahmen zu bewahren, welche essenzielle Komponente des Gewissensphänomens, die eine Achtung des individuellen Gewissens begründen, unberücksichtigt lassen. Die Darstellung einzelner Gewissensinterpretationsansätze

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Vgl. Schreiber, H.-L., Gewissen im Recht, S. 29. Klein, H. H., Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 484. 15 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 104, Fn. 352.

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stellt dabei ein begriffliches Fundament für die Auseinandersetzung mit einzelnen dogmatischen Konzeptionen des Grundrechts der Gewissensfreiheit dar. Dadurch wird der Jurisprudenz eine begriffliche Orientierungsbasis geboten, um die Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit zu konturieren und Widersprüche sowie auch Mehrdeutigkeiten bei der Interpretation dieses Grundrechts zu vermeiden. Dabei kann die moralphilosophische Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff im Grundrecht der Gewissensfreiheit nicht das Ziel verfolgen, aus der philosophischen Betrachtung eine in sich geschlossene rechtswissenschaftliche Interpretation mit konkreten juristisch ausformulierten Lösungswegen abzuleiten. Vielmehr dient die theoretische Betrachtung des Gewissensphänomens der Verdeutlichung der Lösungsrichtung bei der rechtswissenschaftlichen Interpretation des Grundrechts der Gewissensfreiheit. Dementsprechend wird im Folgenden zunächst eine Darstellung theoretischer Modelle des Gewissensbegriffs im Laufe der Ideengeschichte vorgenommen und die wesentlichen Wandlungen in den Gewissenskonzeptionen seit ihren stoischchristlichen Ursprüngen bis zum 20. Jahrhundert verfolgt. Zum einen wird durch die Auseinandersetzung mit den Grundannahmen einzelner geisteswissenschaftlicher Interpretationsansätze ein begriffliches Fundament für die Behandlung unterschiedlicher grundrechtsdogmatischer Konzeptionen der Gewissensfreiheit gewonnen. Zum anderen werden damit die Ursachen für die gegenwärtige theoretische Verunsicherung über den Gehalt des Gewissensbegriffs aufgezeigt und gleichzeitig eine der Schwierigkeiten der rechtlichen Gewissensinterpretation deutlich gemacht. Ferner wird auf der philosophischen Ebene der Versuch unternommen, die wesentlichen Aspekte des Gewissensphänomens hervorzuheben und daraus die moralitätsstiftende Kraft der Gewissensbindung und den achtungsgebietenden Wert einer Gewissenshaltung zu erklären. Nach der Darstellung von geistesgeschichtlichen Grundlagen des Gewissensbegriffs und nach der Erläuterung der rechtsgeschichtlichen Intention des Verfassungsgebers bei der Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit wird auf die Schutzgutbestimmung dieses Grundrechts eingegangen. Es werden unterschiedliche Interpretationsansätze der Schutzrichtung der Gewissensfreiheit dargestellt und anhand vorangegangener theoretischer Erörterung einzelner Gewissensdeutungen darauf untersucht, ob und warum sie der systematischen und verfassungsgeschichtlichen Grundlage von Art. 4 Abs. 1 GG entsprechen bzw. zuwiderlaufen. Der Schwerpunkt wird dabei insbesondere auf die Explikation des normativen Gewissensverständnisses gelegt, in der durch den Rückgriff auf philosophische Darstellung der Normativität des Gewissens die Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit verdeutlicht wird. Abschließend wird im Rahmen einer rechtsphilosophischen Betrachtung das Geltungsverhältnis zwischen der sittlichen Selbstverpflichtung und der Rechtspflicht untersucht und daraus rechtsdogmatische Konsequenzen für die Bestim-

Einleitung

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mung von Grenzen der Gewissensfreiheit, inwiefern die Anerkennung des norma­ tiven Anspruchs außerhalb des Rechts durch die freiheitliche Rechtsordnung möglich ist, gezogen. Durch die Betrachtung des Geltungsverhältnisses werden die Grenzen der Umsetzung von subjektiven moralischen Überzeugungen ausgewiesen und zugleich die Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit verdeutlicht.

A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs Der erste Abschnitt der vorliegenden Arbeit beschäftigt sich mit der Darstellung des ideengeschichtlichen Hintergrunds des modernen Gewissensbegriffs. Bevor die rechtsdogmatische Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit vorgenommen wird, ist eine theoretische Darstellung von dem der Gewissensfreiheit zugrunde liegenden Gewissensbegriff unumgänglich. Das „Gewissen“ ist ein moralphilosophischer Begriff, der allein mit der juristischen Interpretationsmethode nicht zu bestimmen ist und welcher daher auf eine geisteswissenschaftliche Erörterung angewiesen ist. Erst aus einer ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff kann verständlich gemacht werden, worin die Probleme der rechtstheoretischen Gewissensinterpretation gründen und welche Aspekte des Gewissensverständnisses bei der rechtspraktischen Gewissensinterpretation beachtet werden müssen. Aus diesem Grund wird im Folgenden eine Darstellung von theoretischen Auseinandersetzungen mit dem Gewissensbegriff im Laufe der Ideengeschichte vorgenommen und die wesentlichen Wandlungen in den Gewissenskonzeptionen seit ihren stoisch-christlichen Ursprüngen bis zum 20.  Jahrhundert verfolgt. Außerdem wird auf die gegenwärtige gesellschaftliche und philosophische Situation des Gewissensbegriffs eingegangen, welche vor dem Hintergrund der ideengeschichtlichen Darstellung der Ambivalenz zwischen verschiedenen Grundansätzen der Gewissensdeutung kritisch bewertet wird. Abschließend wird der Versuch unternommen, wesentliche Aspekte des Gewissensbegriffs hervorzuheben und daraus die moralitätsstiftende Kraft der Gewissensbindung und die sittliche Würde einer Gewissenshaltung zu erklären. I. Stoisch-christliche Gewissenskonzeption Der Ursprung der ideengeschichtlichen Entwicklung des modernen Gewissensbegriffs liegt im stoisch-christlichen Gewissensverständnis. Die Gewissensmodelle in der Zeit seit der griechisch-römischen Antike bis in das ausgehende Mittelalter sind naturrechtlich ausgeprägt. Das Naturrecht geht von der Existenz objektiv gültiger moralischer Prinzipien aus, die ihre Grundlage in der besonderen Beschaffenheit der Weltordnung haben. Daraus wird ein Gewissensverständnis entwickelt, wonach der Mensch objektiv gegebene moralische Grundsätze antizipiert und dementsprechend sein Handeln gestaltet. Im Folgenden wird auf wesentliche Ansätze naturrechtlicher Gewissensinterpretation eingegangen und ihre grundlegenden Aspekte aufgezeigt. Durch die Dar-

I. Stoisch-christliche Gewissenskonzeption

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stellung von einzelnen stoischen, frühchristlichen und scholastischen Gewissenskonzeptionen wird insbesondere ihr naturrechtliches Fundament hervorgehoben. Anschließend wird durch einen Vergleich stoischer Gewissenskonzeption mit dem Gewissensmodell bei Thomas von Aquin der Frage nach den gemeinsamen Grundelementen naturrechtlicher stoisch-christlicher Gewissensmodelle nachgegangen und deren wesentliche Grundannahmen verdeutlicht. 1. Stoisches Gewissenverständnis Der Begriff des Gewissens wird von dem lateinischen conscientia abgeleitet, welches seinen Ursprung im griechischen syneidesis hat. In seiner Ursprungsbedeutung bezieht sich syneidesis im weiteren Sinne auf das innere Bewusstwerden der persönlichen Verfassung1, d. h. es beschreibt ein reflexives Erkennen von geistig-sittlichen Grundlagen. Als Bewusstsein von schlechten Handlungsweisen erscheint der syneidesis-Begriff erstmals im Fragment 297. des Demokritos von Abdera.2 Bei Platon und Aristoteles wird die Verbalform von syneidenai in der Bedeutung als Wissen um eine persönliche Sache, Erkenntnis der eigenen Würdigkeit und Mitwissen um eigene Schuld verwendet.3 In der griechischen Philosophie wurde allerdings keine eigenständige Gewissenstheorie entwickelt und das Wort syneidesis wurde vielmehr als ein Fachterminus verwendet.4 Der spezifische Gewissensbegriff als eine subjektive Erkenntniskraft des Guten ist daher in der klassischen griechischen Philosophie nicht nachzuweisen.5 Vielmehr taucht er in vieldeutigen Prägungen auf, welche sich auf die Erkenntnis und das Bewusstsein der Gebundenheit an überindividuelle Werte beziehen.6 Die Überlegungen zur Erkenntnis des Richtigen durch das reflexive Selbstanschauen sind in der älteren Stoa eng mit dem Logos-Gedanken verknüpft.7 Die stoische Ethik ist ontologisch und kosmologisch fundiert. Ihr liegt das Verständnis der Welt als ein Logos-strukturiertes Gebilde zugrunde. Logos (gr.: λόγος) ist ein Begriff für das universelle Weltgesetz, welches als ein Grundprinzip des Weltgeschehens in allen Dingen präsent ist.8 Auch der Mensch ist ein Träger von Logos, da seine Vernunft ein Teil der allumfassenden Weltvernunft ist. In der mensch­ lichen Wesensart kommt Logos sowohl als das Vermögen des Denkens, des Sprechens und des Wählens zum Ausdruck als auch als ein Geist, der das Gute er

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Vgl. Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 23 ff. Diels, H., Die Fragmente der Vorsokratiker, S. 206 f. 3 Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 24 m.N. 4 Schröder, R., Der drohende Verlust des Gewissen: Moral als „paradigm lost“, S. 57. 5 Dauner, P., Das Gewissen, S.  47, Fn.  135; Mock, E., Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 22; Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 26. 6 Vgl. ebd., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 29, 34. 7 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 47; Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 29 f. 8 Vgl. Forschner, M., Die stoische Ethik, S. 32.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

kennt und das sittliche Handeln bestimmt.9 Durch seine Vernunftbegabung erfährt der Mensch das Naturgemäße, das wahrhaft Gute10 und gewinnt durch die Vernunftreflexion eine ethische Orientierung. Aus dem Grundsatz der stoischen Ethik, dem universellen Logos gemäß zu sein und zu handeln11, folgt, dass der letzte Bezugspunkt der Ethik das Gute im Sinne der Ordnung des göttlichen Kosmos ist.12 Die Naturphilosophie und die Ethik sind in der älteren Stoa eng miteinander verbunden. „Logos“ impliziert sowohl die Naturgesetzlichkeit im Sinne eines Zusammenhangs der Erscheinungen als auch eine naturgesetzliche normative Ordnung.13 Die stoische Ethik muss insofern als naturalistisch verstanden werden, weil die vernünftige Natur des Menschen im Sinne einer Vollendung der göttlichen Natur begriffen wird.14 Insbesondere in der jüngeren Stoa, bei Cicero und Seneca, steht die Ausein­ andersetzung mit der Gewissensthematik eng mit dem stoischen Gedanken der Naturrechtslehre in Verbindung.15 Für Seneca ist conscientia die Selbstoffenbahrung der höheren Natur16 des Menschen, die als ständiger Wächter17 und als Bewusstsein der Wahrhaftigkeit das menschliche Verhalten verpflichtend leitet.18 Seine sittliche Orientierung gewinnt der Mensch aus dem klaren Bewusstsein von sich selbst. Auch bei Cicero ist conscientia das sittliche Bewusstsein, das im Menschen als ein „nicht geschriebenes, vielmehr angeborenes Gesetz“19 verankert ist. Die conscientia ist dem Menschen von den Göttern gegeben und dient als Zeuge guter Ratschläge und Taten.20 Die Anlage zur sittlichen Erkenntnis ist nach stoischer naturrechtlicher Gewissenskonzeption jedem Menschen qua Vernunftwesen immanent. Eine sittliche Entscheidung erfolgt durch die Reflexion an dem verinnerlichten Maßstab des Guten,



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Ebd., S. 185. Vgl. ebd., S. 151. 11 Ebd., S. 40. 12 Vgl. ebd., S. 203. 13 Vgl. ebd., S. 11. 14 Ebd., S. 159. 15 Dauner, P., Das Gewissen, S.  48; Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 29 f. 16 Kähler, M., Das Gewissen, S. 164. 17 Dauner, P., Das Gewissen, S. 49; Mock, E., Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 24. 18 Dauner, P., Das Gewissen, S. 48 f.; Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 34. 19 Cicero, M. T., Oratio pro Milone 10: „est igitur haec iudicis non scripta sed nata lex, quam non didicimus accepimus legimus, verum ex natura ipsa arripuimus hausimus expressimus, ad quam non docti sed facti.“, zitiert nach: Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 29, Fn. 70. 20 Cicero, M. T., Pro Culentio 25, zitiert nach: Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 28.

I. Stoisch-christliche Gewissenskonzeption

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d. h. des Naturgemäßen. Seine sittliche Orientierung bezieht der Mensch aus den durch die Vernunft vorgegebenen objektiven naturrechtlichen Maximen. Allerdings ist der Mensch trotz seiner natürlichen Einsichtsfähigkeit in das Gute nicht vom Irrtum frei. Insbesondere bei Cicero kann die Einsicht in das Gute durch die Unkenntnis von naturrechtlichen Maximen verfehlt werden. Die fehlerhafte Kenntnis des Naturrechts entlastet den Menschen jedoch nicht von seiner Verantwortung für das moralisch verwerfliche Handeln21 und die Berufung auf das Gewissen verliert in diesem Fall an sittlicher Qualität.22 Für Seneca und Cicero ist conscientia das „Mit-Wissen mit sich selbst“. Das Gute ist der menschlichen Natur immanent und dessen Erkenntnis bedarf nichts anderes als eines reflektierenden Selbstbetrachtens. Für die Autoren der lateinischen Antike ist die sittliche Ordnung in einem universellen Weltgesetz verankert und hat damit einen objektiven Charakter. Die subjektive Leistung des Menschen bei der Erkenntnis des objektiv Guten besteht in der Kontemplation über die höhere Natur seines Wesens. Allerdings darf die Orientierung an dem der mensch­ lichen Natur immanenten Guten nicht so verstanden werden, als ob die Grundsätze des moralisch Richtigen unmittelbar evident im „Ich-Bewusstsein“ vorhanden wären. Vielmehr muss unter dem „Mit-Wissen mit sich selbst“ ein Bewusstseinszustand verstanden werden, der erst im lebenslangen Üben, durch die Verschärfung der Kognitionsfähigkeit, d. h. durch das Philosophieren erarbeitet werden muss.23 2. Gewissenskonzeption des frühen Christentums Die naturrechtliche Gewissenskonzeption als syneidesis bzw. conscientia, ist nicht nur in der stoischen Antike anzutreffen sondern ist auch in der christlichen Lehre gegenwärtig. Vor allem in den Paulusbriefen des Neuen Testaments wird der hellenische Begriff syneidesis häufig verwendet.24 Obwohl dieser Begriff aus der stoischen Tradition übernommen wird, erhält er durch Paulus eine eigenständige christliche Prägung. Syneidesis wird als ein Wissen um natürliche Forderungen des Sittengesetzes dargestellt, die mit der Goldenen Regel (Tob. 4,16; Mt. 7, 12), beziehungsweise mit Zehn Geboten des Dekalogs im Einklang stehen.25 Die sittliche Erkenntniskraft ist allen Menschen gleichermaßen von Gott ge­ geben und schließt daher auch die Heiden mit ein: „Denn so die Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur tun des Gesetzes Werk, sind dieselben, dieweil sie das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, als die da be

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Cicero, M. T., De legibus I, 15, 42. Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 47. 23 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 235. 24 Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 35. 25 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 49; Schockenhoff, E., Das Gewissen: Quelle sittlicher Urteilskraft und personaler Verantwortung, S. 9.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs  weisen, des Gesetzes Werk sei geschrieben in ihren Herzen, sintemal ihr Gewissen ihnen zeugt, dazu auch die Gedanken, die sich untereinander verklagen oder entschuldigen, auf den Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird laut meines Evangeliums.“26

Demnach ist jeder Mensch unabhängig von seiner Kenntnis christlicher Offenbarung im Besitz eines Zugangs zum Fundament der Sittlichkeit göttlicher Weltordnung. Das Gewissen ist somit ein durch Gott dem Menschen einverleibtes Kognitionsorgan von Sittlichkeitsgrundlagen. Syneidesis wird weiterhin als eine innerlich gefühlte Verpflichtung beschrieben, die sogar stärker als die Furcht vor Gottes Zorn wiegt: „Ich sage die Wahrheit in Christus und lüge nicht, wie mir Zeugnis gibt mein Gewissen in dem Heiligen Geist, dass ich große Traurigkeit und Schmerzen ohne Unterlass in meinem Herzen habe.“27

und weiter unten: „Deshalb ist es notwendig, Gehorsam zu leisten, nicht allein aus Furcht vor der Strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen.“28

Dem Gewissen kommt die Bedeutung einer subjektiven Rezeption des gött­ lichen Sittengesetzes zu, das als letztverbindlicher Grundsatz moralischer Handlungsbestimmung uneingeschränkt gilt. Die vor allem durch Paulus geprägte neutestamentarische Auffassung vom Gewissen als ein Rezeptionsorgan des göttlichen Naturrechts wird von Kirchen­vätern aufgenommen und weiter ausgebaut.29 In der Patristik wird neben der Gewissens­ funktion als sittliche Orientierung außerdem die besondere Rolle des ­Gewissens herausgestellt, ein Wegleiter zu Gott zu sein.30 So bekommt beispielsweise bei Augus­tinus das Gewissen die Bedeutung der „Stimme Gottes“ und wird damit zum Ort der liebenden Gottesbegegnung, wo dem Menschen in konkreten Entscheidungssituationen der richtige Weg gewiesen wird.31 Auf diese Weise bekommt der Gewissensbegriff eine metaphysische Dimension, sodass er für die unmittelbare Partizipation des Menschen an der Sphäre des Göttlichen steht. Genauso wie antike Syneidesis-Konzeptionen gründet auch das christliche Gewissensverständnis auf der Vorstellung einer objektiven sittlichen Ordnung. Was aber die christliche Gewissensauffassung von der hellenischen in besonderer Weise abhebt, ist ihre immanente Religionsverbundenheit. Der Gewissensbegriff

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Röm. 2, 14 f. Röm. 9, 1 f. 28 Röm. 13, 5. 29 Vgl. Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 57. 30 Vgl. ebd., S. 43 ff.; Dauner, P., Das Gewissen, S. 50. 31 Schockenhoff, E., Das Gewissen: Quelle sittlicher Urteilskraft und personaler Verantwortung, S. 8 f.

I. Stoisch-christliche Gewissenskonzeption

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des Christentums ist explizit auf Gott gerichtet und bringt die Gottverbundenheit des Menschen zum Ausdruck, dass er durch sein Gewissen Grundsätze gött­licher Weltordnung, d. h. die an ihn gerichteten göttlichen Gebote erkennen und sein Handeln dementsprechend ausrichten kann.32 Das Gewissen im naturrechtlichen Ansatz der Gewissensdeutung durch Christentum muss somit als menschliches Rezeptionsvermögen objektiv gültiger göttlicher Gebote verstanden werden. 3. Gewissenskonzeption bei Thomas von Aquin Ihren ausgeprägten Ausdruck findet die naturrechtliche Gewissenskonzeption in der scholastischen Naturrechtslehre bei Thomas von Aquin. Sein Ansatz stellt sowohl eine Rezeption der stoischen Syneidesis-Vorstellung als auch eine vertiefte Ausarbeitung der christlichen Gewissenskonzeption dar. Im Mittelpunkt seines Konzepts der menschlichen Moralität steht das Prinzip der Gesetzlichkeit der natürlichen Weltordnung. Nach der Auffassung von Thomas von Aquin unterliegt die Welt einer Dynamik, welche vom Schöpfer eingeleitet wurde. Diese Gesetzmäßigkeit, nach der das Seiende geordnet ist, wird als das ewige Gesetz (lex aeterna) bezeichnet. Das ewige Gesetz ist nichts anderes als der Plan göttlicher Weisheit, insofern sie alle Handlungen und Bewegungen lenkt.33 Das, was den Menschen vor allen anderen Lebewesen in einer besonderen Weise auszeichnet, ist seine kognitive Teilhabe an der göttlichen Weltordnung. Das ewige Gesetz enthält den Grund für die Vernünftigkeit des Menschen und kommt als eine göttliche Anordnung zum Ausdruck, dass der Mensch gemäß seiner Vernunft handelt. Das Licht der göttlichen Vernunft zeigt sich bei dem Menschen in seiner Fähigkeit, das Gute als Gutes und das Böse als Böses zu erkennen. Die Einprägung des ewigen Gesetzes im Menschen wird von Thomas von Aquin als das natürliche Gesetz (lex naturalis) bezeichnet.34 Der Begriff des natürlichen Gesetzes meint, dass der Mensch weder durch naturgesetzliche Ereignisse determiniert ist noch unmittelbar in seinem Handeln an eine göttliche Normsetzung gebunden, sondern allein durch die Vernunft einen Zugang zur Einsicht in die allgemeinen Maximen der göttlichen Ordnung hat. Das natürliche Gesetz stellt die Grundlage für die Form des moralischen Handlungsprinzips bereit, dessen oberstes Gebot lautet, das Gute zu Tun und das Böse zu meiden.35 Demnach verfügt der Mensch über einen Raum, in dem er für sein Handeln selbstverantwortlich ist. Die ethische Konzeption bei Thomas von Aquin muss insofern als naturrechtlich begriffen werden, als dass die menschliche Moralität ihre Grundlage in göttlicher Weltordnung hat. Durch die

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Vgl. Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 63 f. Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I–II q. 93, 1. 34 Ebd., I–II q. 91, 2.  35 Ebd., I–II q. 94, 2.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Partizipation der menschlichen Vernunft an dieser für sich selbst bestehenden objektiven sittlichen Ordnung erhält der Mensch einen Maßstab für das moralisch Gute. Entsprechend seiner Naturrechtslehre wird die Thomasische Konzeption des Gewissens als eines Organs der Erkenntnis des objektiv Guten entwickelt. Dabei wird der Gewissensbegriff durch zwei Termini beschrieben, synderesis und ­conscientia, welche sich auf verschiedene Aspekte des sittlichen Wissens beziehen.36 Synderesis ist ein Inbegriff für die Einsicht in das oberste sittliche Prinzip.37 Es ist ein ursprüngliches Wissen vom sittlichen Grundsatz, welches in jedem Menschen als natürliches Sittengesetz eingeprägt ist.38 Synderesis ist als Habitus der Vernunft39, als unzerstörbare Anlage zum Guten im menschlichen Geist zu verstehen, welche jedem Menschen apriorisch anhaftet und eine Richtung für das Handeln vorgibt. Daneben ist conscientia ein Vermögen der Anwendung vom objektiven mora­ lischen Grundsatz auf einen konkreten Fall.40 In conscientia wird das naturrecht­ liche Prinzip, das Gute zu tun und das Böse zu meiden, unter situativen Bedingungen des konkreten Handlungskontexts subsumiert. Es ist eine reflexive Leistung der Vernunft, über konkrete Handlungen nach Maßstab des obersten moralischen Prinzips zu reflektieren. Die Anwendung vom naturrechtlich eingeprägten Wissen des moralischen Grundsatzes auf das menschliche Tun bezieht sich sowohl auf gegenwärtige als auch auf vergangene und zukünftige Handlungssituationen.41 Die Ableitung von moralischen Weisungen aus dem natürlichen Gesetz ist dabei der Vernunft überlassen. Das Gewissen als conscientia muss somit als Leistung des menschlichen Intellekts bei der Konkretisierung von allgemeinen sittlichen Vorschriften im jeweiligen Handlungskontext verstanden werden. Es ist die Anwendung vom ursprünglichen moralischen Wissen auf unser Handeln und insofern eine Tätigkeit.42 Auch die Möglichkeit des Fehlschlusses in einem Gewissensurteil wird von Thomas von Aquin thematisiert.43 Das ewige Gesetz kann nicht irren, wohl aber die menschliche Vernunft.44 Vom irrenden Gewissen kann daher nicht im Sinne einer fehlerhaften Rezeption der objektiven Ordnung durch synderesis gesprochen werden. Ein Irrtum des Gewissens ist nur im Bereich der conscientia mög

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Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 51, Fn. 166. Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I q. 79, 12. 38 Vgl. Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 90. 39 Forschner, M., Thomas von Aquin, S. 115. 40 Thomas von Aquin, Summe der Theologie I q. 79, 13; dazu: Forschner, M., Thomas von Aquin, S. 116 f. 41 Forschner, M., Thomas von Aquin, S. 118 f. 42 Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I q. 79, 13. 43 Dazu: Dauner, P., Das Gewissen, S. 50 f.; Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 49. 44 Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I–II q. 19, 6.

I. Stoisch-christliche Gewissenskonzeption

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lich, wo über konkrete Handlungsbestimmungen nach Maßgabe des allgemeinen moralischen Grundsatzes reflektiert wird. Die Möglichkeit des Gewissensirrtums ist naheliegend, da die menschliche Vernunft bei der Prüfung von konkreten Handlungsbestimmungen nach Maßgabe des objektiven Prinzips prinzipiell irrtumsanfällig ist. Das Gewissen irrt, indem es dasjenige verfehlt, was der objektiven göttlichen Ordnung entspricht. Eine grundsätzliche Rechtfertigung kann dabei nur ein unabsichtlicher Gewissensirrtum erfahren, der aufgrund von Unkenntnis irgendeines Umstandes45 hervorgeht und damit unvermeidbar46 ist. Dagegen ist sowohl eine willentliche Abkehr vom objektiven Grundsatz als auch ein Irrtum aufgrund grober Nachlässigkeit und Unkenntnis dessen, was man zu wissen gehalten ist, moralisch verwerflich.47 Die Gewissenskonzeption von Thomas von Aquin ist fest in seiner Auffassung über die Synthese48 von Glauben, Wissen und Handeln verankert, wonach die Erkennbarkeit der Welt und die Gewissheit menschlichen Handelns in der Vernünftigkeit Gottes gründen. Gott wird als Ursprung und Ziel allen Denkens und Handelns begriffen.49 Das Vertrauen in seine Vernünftigkeit und Güte garantiert die Gewissheit über die Gültigkeit von moralischen Grundsätzen, welche durch kognitive Fähigkeit des Menschen erkannt werden. Das Gewissen, conscientia, besteht in der Vernunftreflexion des ursprünglichen Wissens vom sittlich Gebotenen auf konkrete Handlungssituationen. Die Gewissenskonzeption von Thomas von Aquin hat eine religiös-theologische Basis, wonach die Bedingungen der moralischen Erkenntnis in Gott liegen. 4. Zum naturrechtlichen Interpretationsansatz Die Betrachtung von Gewissenskonzeptionen in der Antike, im frühen Christentum und in der Scholastik bei Thomas von Aquin lässt Gemeinsamkeiten im Entwurf dieser Gewissensmodelle erkennen. Die Gemeinsamkeiten gründen nicht zuletzt darin, dass die scholastische Philosophie, wo die kritische Funktion der urteilenden Vernunft zunehmend an Bedeutung gewinnt, unter dem Einfluss der antiken und insbesondere der aristotelischen Denktradition steht.50 Das frühchristliche Modell muss dabei als Identifikation der antiken Vorstellung über die kosmische Ordnung des Logos mit der christlichen Auffassung über die gottkreierte Welt begriffen werden. In all diesen Konzeptionen wird das Gewissen als mensch­ liche Antizipation von objektiven Gesetzen des Moralischen dargestellt, welche

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Ebd., I–II q. 19, 6. Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 49. 47 Thomas von Aquin, Summe der Theologie, I–II q 19,6. 48 Dazu: Schrimm-Heins, A., Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, S. 165 ff. 49 Vgl. ebd., S. 181. 50 Vgl. Forschner, M., Thomas von Aquin, S. 32 f.; S. 110.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

als Komponente einer vernünftigen Weltordnung begriffen werden. Die stoischchristliche Gewissensauffassung muss daher als naturrechtlich aufgefasst werden. Um die Eigenart der stoisch-christlichen naturrechtlichen Gewissenskonzeption darzustellen, muss insbesondere auf die grundlegenden Gemeinsamkeiten des stoischen und des scholastischen Modells näher eingegangen werden. Zum einen zeigen die den beiden Konzeptionen zugrunde liegende Weltbilder in ihrer Grundstruktur eine bestimmte Analogie, welche für das jeweilige Gewissensmodell prägend ist. Beiden Konzeptionen liegt die Vorstellung von der Welt als einer vernünftig strukturierten universellen Ordnung zugrunde. Das universelle Weltgesetz, sowohl als griechisches Logos als auch als lex aeterna bei Thomas von Aquin, umfasst nicht nur die Grundprinzipien der physischen, sondern auch der geistigen Natur. Das Gute wird demnach als dem Logos bzw. dem göttlichen Willen Gemäße verstanden. Da die Sittenordnung ein Teil der objektiv bestehenden Naturordnung ist, so bedeutet moralisch gut zu handeln, naturgemäß zu handeln. Zum anderen besitzen auch die Menschenbilder beider Gewissenskonzeptionen eine gemeinsame Grundform. In beiden Konzeptionen partizipiert die mensch­ liche Vernunft an der allumfassenden göttlichen Weltordnung. Sowohl im christlichen Glauben, der Mensch sei ein von Gott nach seinem Ebenbild geschaffenes Wesen, als auch in der stoischen Vorstellung, er sei ein Teil des kosmischen Logos, wird das besondere Vermögen des Menschen hervorgehoben, sich durch den Intellekt auf das Weltganze zu beziehen. Dem Gewissen kommt dabei die Bedeutung eines Rezeptionsorgans zu, welcher objektiv gegebene moralische Grundsätze antizipiert. Im Gewissen hat der Mensch einen subjektiven Zugang zu objektiven Gesetzen einer unwandelbaren moralischen Ordnung. Die der stoisch-christlichen Tradition zugrunde liegende Struktur des Welt- und Menschenbildes ist für die Beschreibung der menschlichen Moralität entscheidend. Die Überzeugung von der Vernünftigkeit der Seinsordnung ist der Grund, das Bestehen objektiver moralischer Grundsätze anzunehmen und von ihrer unabänderlichen Gültigkeit auszugehen. Weil die moralischen Grundsätze als ein Teil  der von einer höheren übermenschlichen Vernunft gestalteten Weltstruktur begriffen werden, so haben sie für den einzelnen Menschen die höchste Autorität. Die vernünftige Weltordnung ist in diesen Gewissensmodellen der Ursprung und das Ziel des sittlichen Strebens. Das Subjekt ist nicht der Urheber von moralischen Grundsätzen, sondern deren Rezipient. Die moralischen Grundprinzipien werden nicht als vom Menschen aufgegeben, sondern als objektiv vorgegeben verstanden. Dementsprechend ist das Gewissen ein Vermögen der Rezeption von universell Gültigem. Der naturrechtliche Ansatz im stoisch-christlichen Gewissensverständnis ist von der Vorstellung einer moralische Prinzipien implizierenden Weltordnung und der subjektiven Leistung des Menschen, diese Normativität zu antizipieren und sich von ihr im konkreten Handeln als Maßstab leiten zu lassen, geprägt. Die Auffassung über die Welt als einer vernünftig strukturierten physischen und geistigen

II. Gewissenskonzeption der Neuzeit

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Ganzheit und die besondere Stellung des Menschen, der durch seinen Intellekt an der objektiven Normativität partizipiert, machen den Wesenskern naturrechtlicher Gewissensmodelle aus. II. Gewissenskonzeption der Neuzeit In der Neuzeit, deren Beginn auf dem Gebiet der Philosophie im 17.  Jahrhundert vor allem mit dem Namen René Descartes verbunden ist, geschieht ein durchgreifender geistiger Wandel, welcher auf alle Wissenschaftsgebiete Einfluss nimmt und bis in die heutige Zeit eine prägende Bedeutung hat. Es ist die Los­lösung des neuzeitlichen Menschen aus vorgegebenen theologisch fundierten Auto­ritäten und die Hinwendung zum Subjekt, welcher die Geltungsmaßstäbe für das Wissen und das Handeln nunmehr aus sich selbst bezieht. Insbesondere im Hinblick auf die Grundlagen menschlicher Moralität bedeutet es eine Abkehr vom objektivistischen naturrechtlichen Gewissensverständnis und eine Hinwendung zu Gewissensmodellen, welche aus der Betrachtung der Eigenart der subjektiven Erkenntnis des Moralischen durch den einzelnen Menschen erarbeitet werden. 1. Die Wende zum Subjekt Das fraglose Vertrauen in den Ordnungsrahmen scholastisch-theologisch geprägter Wissenschaftsbestände, in denen die Welt- und Naturordnung zweckmäßig auf den Menschen gerichtet ist, wird in der Neuzeit erschüttert und einer radikalen Revision unterzogen. Die Welt wird nicht mehr als durch eine höhere Vernunft geordnet verstanden, sondern als von allgemeinen Kausalgesetzen durchdrungen. Nicht mehr die göttliche Vernunft ist die ordnungsstiftende Kraft, sondern die wissenschaftliche Vernunft des Menschen: „In dem Maße, in dem die Auffassung des Kosmos als eines Ortes der Geister und der sinnvollen Kausalkräfte an Bedeutung verliert, öffnet sich der Raum für das Bild des von allgemeingültigen Kausalgesetzen regierten Universums, wobei dieses Bild seinerseits zur weiteren Öffnung des Raums beiträgt. Die nach Galilei gängige Vorstellung von diesen Gesetzen hat für Zwecke keinen Platz mehr und schließt Kausalkräfte, die etwa in Reliquien oder an heiligen Orten verkörpert sein sollen, grundsätzlich aus. Die wissenschaftliche Vernunft war zugleich Motor und Nutznießerin dieser Entzauberung, und ihr Fortschritt führte dazu, daß alle möglichen traditionellen Überzeugungen und Praktiken als Aberglaube gebrandmarkt wurden.“51

Das stoisch-christliche Weltbild als eines vernünftig gestalteten Kosmos wird durch ein wissenschaftliches Weltbild abgelöst, wonach die Welt ein von Kausal

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Taylor, Ch., Ein säkulares Zeitalter, S. 461.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

kräften regiertes Universum ist52, welches erst durch die menschliche Vernunft erkennbar und beherrschbar wird. Mit dem Aufkommen der Neuzeit wird das Individuum als einer unbeherrschten Welt gegenübergestellt gedacht. Das neuzeitliche Weltbild verändert sich insoweit, als dass die Vernünftigkeit der Weltordnung nicht mehr angenommen und die Natur stattdessen als zügellos und unbeherrscht verstanden wird. Das Universum wird „nicht nur als etwas Gleichgültiges, sondern als etwas in gewissem Sinn Bösartiges und Grausames gesehen […] als ‚an Klaue und Zahn rote Natur‘“53. Das Aufkommen neuer Wissenschaften ist daher von der Vorstellung geleitet, mit Hilfe mathematisch-naturwissenschaftlicher Methode Herr und Eigentümer über die Welt zu werden.54 Die Welt wird nicht mehr als ein geordneter Kosmos verstanden, sondern als ein Mechanismus, in dem die Menschen zweckrationale Akteure sind. Als die Welt ihr orientierendes, auf den Menschen gerichtetes Sinnsystem nicht mehr zu haben scheint, wird der sichere Ordnungsrahmen durch den Menschen selbst, durch das zweckrationale Tun, bewerkstelligt. Der Mensch versteht sich nunmehr als Bezugspunkt der ihn umgebenden Natur. Mathematisch-logische Wissenschaftsmethode wird dabei zum sicheren Instrument der Außenweltbeherrschung des Subjekts. Es ist insbesondere René Descartes, der das selbstgewisse Subjekt als das letzte Fundament des Wissens ausweist. Er unterzieht das philosophische Wissen um die Welt und um den Menschen einer kritischen Überprüfung, welche  – gleich der naturwissenschaftlichen Methode  – ausschließlich von logischen Grundsätzen der Vernunft geleitet ist.55 Mit „methodischem Zweifel“ sucht er zu ergründen, worin der Ursprung für die Gewissheit unserer Erkenntnis liegt. In seiner Suche nach dem Fundament des sicheren Wissens stößt er schließlich auf das Subjekt, weil es, wenn und solange es denkt, d. h. als denkende Substanz (res cogitans), über allen möglichen Zweifel erhaben ist.56 Damit findet die Subjektzentrierung und Emanzipation des Menschen aus einem vorgegebenen außersubjektiven Ordnungsrahmen ihren Abschluss und wird für die neuzeitliche Philosophie richtungweisend. Ihr Ergebnis ist ein Menschenbild, wonach der Mensch nicht mehr die vernünftige Gestaltung der Weltordnung rezipiert, sondern selbst, kraft seines Intellekts, die Außenwelt nach Grundsätzen der Vernunft erkennt und gestaltet. Die neuzeitliche Subjektzentrierung gewinnt zunehmend auch auf dem Gebiet der Moralphilosophie an Bedeutung. Es heben die Versuche an, die Wurzel der

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Ebd., S. 478. Ebd., S. 478. 54 Descartes, R., Abhandlung über die Methode, S. 101. 55 Ebd., S. 31. 56 Descartes, R., Meditationen über die Grundlage der Philosophie, S. 51.

II. Gewissenskonzeption der Neuzeit

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Wertnormen und des Gewissens „ohne Offenbarung und theologischen Hintergrund zu finden“57. Den Menschen motiviert nicht mehr das Gefühl, mit der Natur des Kosmos in Einklang zu stehen, sondern ein selbstbezügliches Gefühl des eigenen inneren Wertes.58 Die Grundlagen der menschlichen Moralität werden nunmehr aus der Perspektive des Subjekts erschlossen, aus der Eigenart seines Bezugs zu der Welt. Dabei belaufen sich die neuen Ansätze entweder auf der Betonung einer moralischen Anlage der menschlichen Vernunft oder auf der sensualistisch-empiristischen Hervorhebung moralitätskonstituierender Kraft der Tatsachen der Erfahrung. Während sensualistisch-empiristischen Gewissenserklärungsansätze59 vor allem von englischen Philosophen unternommen werden60, wie z. B. Gewissensdeutung als reine Lust- und Unlustwertungen durch John Locke61, wird das Gewissen bei den deutschen Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts als innere Instanz des moralischen Bewusstseins behandelt. Insbesondere Gewissensmodelle des deutschen Idealismus können als Höhepunkt in der Geschichte philosophischer Gewissenstheorie angesehen werden.62 Die neuzeitliche Loslösung von theologisch fundierten Auffassungen über die Grundlagen menschlicher Moralität, begleitet vom Aufkommen des Subjektivismus und der mathematisch-logischen Wissenschaftsmethode, bringt eine nachhaltige Veränderung in die Gewissensdiskussion mit sich. Diese Loslösung ist vom naturwissenschaftlichen Vorbild geprägt, zum sicheren Wissen im Bereich des Moralischen mittels logisch-mathematischer Erkenntnismethode zu gelangen. Die stoisch-christliche Vorstellung von dem metaphysischen Weltbezug des Gewissens wird von dem Ansatz abgelöst, das Gewissen transzendental oder idealistisch auf einen Vernunft- bzw. Geistbezug zurückzuführen. 2. Vernunftrechtliche Konzeption von Kant Die neuzeitliche Wende zum Subjekt und der damit verbundene Anspruch, die Grundlage des menschlichen Wissens und der Moralität mit der wissenschaftlichen Methode vom Subjekt her zu erklären, wird am deutlichsten in der Philosophie von Immanuel Kant zum Ausdruck gebracht. In seinen kritischen Schriften wird die Grundlage des theoretischen und des praktischen Wissens aus dem spezifischen Erkenntnisvermögen des Menschen als eines vernunftbegabten Wesens erklärt. Dabei spielt die Auseinandersetzung mit dem Freiheitsbegriff und mit der

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Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 107. Taylor, Ch., Ein säkulares Zeitalter, S. 233 f. 59 Vgl. Kersting, W., Politik und Recht, S. 304 f. 60 Vgl. Stelzenberger, J., Syneidesis, conscientia, Gewissen, S. 112 ff. 61 Locke, J., Versuch über den menschlichen Verstand, Buch I, Kap. 3, § 8. 62 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 92 f. 58

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

menschlichen Veranlagung zur freien Handlungsbestimmung eine entscheidende Rolle. Auch die Gewissenslehre von Immanuel Kant folgt konsequent seiner Philosophie der Freiheit und gibt dem menschlichen Gewissen eine für seine Zeit neuartige humanistische Bestimmung. Im Folgenden werden zunächst die Grundlagen Kants Morallehre dargestellt. Es wird die Eigenart der menschlichen Freiheitsnatur und der oberste Grundsatz des moralischen Handelns veranschaulicht. Alsdann wird auf seine Gewissens­ konzeption eingegangen. a) Die Grundlagen der Moralphilosophie Das Subjekt wird sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie Immanuel Kants als Quelle der objektiven Erkenntnis ausgewiesen. In der „Kritik der reinen Vernunft“ unternimmt er den Versuch, die Grundlage und die Grenzen menschlicher Erkenntnis aufzuzeigen, d. h. der Frage „Was kann ich wissen?“ nachzugehen. Dabei wirft er den bisherigen erkenntnistheoretischen Ansätzen vor, da sie sich nicht der den Naturwissenschaften entsprechenden wissenschaftlichen Methode bedienten, ein bloßes Herumtappen unter Begriffen ge­wesen zu sein.63 Sein eigener Lösungsansatz, die Metaphysik in den sicheren Gang einer Wissenschaft zu bringen, besteht in der sogenannten „Kopernikanischen Wende“, wonach die Erkenntnis sich nicht nach den Gegenständen, sondern die Gegenstände sich nach unserer Erkenntnisart richten.64 Nach Kant zeichnet sich der menschliche Erkenntnisprozess dadurch aus, dass die Gegenstände durch die Sinnlichkeit gegeben und durch den Verstand gedacht werden.65 Die Allgemeinheit und die Notwendigkeit, welche für jede objektive Erkenntnis konstitutiv sind, beruhen demnach nicht in den Gegenständen der Außenwelt, sondern in dem erkennenden Subjekt.66 Damit wird die objektive Gültigkeit des theoretischen Wissens auf die Erkenntnisleistung des Subjekts zurückgeführt. Auch in der praktischen Philosophie, wo Kant der Frage nach dem moralisch Guten, d. h. der Frage „Was soll ich tun?“ nachgeht, wird objektive Gültigkeit der Sittlichkeit erst durch das Subjekt möglich. Kant sucht zu zeigen, dass jeder Mensch im Besitz von erfahrungsunabhängigen sittlichen Vorstellungen ist, welche in seiner Vernunftnatur gründen.67 Die Tatsache, dass alle Menschen in ihrer Vernünftigkeit gleich sind und dass die Regeln der Vernunft bei jedem dieselben sind, zeichnen die Vernunft als eine allgemeingültige Instanz des moralischen Bewusstseins aus. Der Apriorismus der Vernunft sichert einen unveränderlichen Be

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Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, B XIV. Ebd., B XVI f. 65 Ebd., B 33. 66 Vgl. Höffe, O., Immanuel Kant, S. 56. 67 Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 411.

II. Gewissenskonzeption der Neuzeit

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stand von sittlichen Begriffen. Allein die allgemeinen und notwendigen Vernunftprinzipien a priori erlauben es, jede besondere Situation nach einem allgemeinen Grundsatz zu beurteilen. Der entscheidende Gesichtspunkt der Moralphilosophie Immanuel Kants liegt in seinem Welt- und Menschenbild, aus dem die Bestimmung des Menschen als ein freies Vernunftwesen hervorgeht. Bereits in der „Kritik der reinen Vernunft“ wird die Frage nach dem Wesen der menschlichen Freiheit erörtert und spielt auch in seiner praktischen Philosophie eine zentrale Rolle. Die Möglichkeit der Kausalität aus Freiheit wird von Kant anhand der Differenzierung zwischen der Welt der Erscheinungen und der intelligiblen Verstandeswelt verdeutlicht. Die Wirklichkeit wird von dem Menschen nicht so erfahren, wie sie an sich ist, sondern wie sie ihm erscheint. Da alle Erscheinungen dem Kausalitätsprinzip unterliegen, kann in der Erscheinungswelt nichts Unbedingtes angetroffen werden. Im intelligiblen Bereich der Verstandeswelt, welcher von dem Bereich der Erfahrungswelt kategorial verschieden ist, ist dagegen ein unbedingter Akt der Spontaneität durchaus denkbar. Für den Bereich des Noumenalen haben die kausalen Naturgesetze, d. h. die Gesetze der Erscheinungswelt, keine Gültigkeit. Hieraus folgt, dass die Idee einer unbedingten Erstursache in keinem Widerspruch zu den Gesetzen der Natur steht.68 In dieser Theorie der Freiheit wird der Mensch als Bürger zweier Welten begriffen, der einerseits ein Verstandes- und andererseits ein Sinneswesen ist.69 Als ein Vernunftwesen partizipiert der Mensch an der intelligiblen Verstandeswelt, wo Kausalität aus Freiheit, d. h. die Möglichkeit eine neue Kausalkette zu beginnen denkmöglich ist. Diese Doppelnatur des Menschen ist der Grund dafür, dass der Mensch zugleich ein Subjekt als auch ein Objekt der moralischen Gesetzgebung ist. Als Glied der Verstandeswelt ist er der Urheber des moralischen Gesetzes. Dieser entstammt der Vernunft und unterliegt keinerlei sinnlichen Antrieben. Als Teil der Sinneswelt ist der Mensch dem Vernunftgesetz unterworfen, welches die Sinnesneigungen bindet und den Willen ausschließlich der Vernunft zu gehorchen verpflichtet. Als Sinneswesen ist der Mensch ein Empfänger des Gesetzes, welches ihm seine intelligible Natur diktiert.70 Die moralische Autonomie ist auf dieser Doppelnatur des Menschen gegründet. Moralisch autonom zu sein bedeutet demnach sinnlichen Antrieben einen Abbruch zu tun und dem selbstaufgegebenen Vernunftgesetz zu folgen. Die Freiheit ist somit die ratio essendi des moralischen Gesetzes.71 Der Mensch ist im praktischen Sinne frei, da er sich durch das Sittengesetz unabhängig von den Antrieben der Sinnlichkeit autonom zum Handeln zu bestimmen vermag.



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Kant, I., Kritik der reinen Vernunft, B 534. Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 452. 70 Ebd., S. 452. 71 Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, S. 4, Anm.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Das Prinzip der Sittlichkeit gilt ungeachtet irgendeiner Absicht, welche der Handelnde verfolgt und betrifft das Handeln unmittelbar, d. h. kategorisch.72 Der Imperativ der Sittlichkeit erhält seinen normativen Gesetzescharakter dadurch, dass er die Form der Handlungsbestimmung und nicht den Gegenstand des Handelns betrifft. Die Form des Kategorischen Imperativs bringt zum Ausdruck, dass jeder subjektiver Handlungsgrundsatz eine verallgemeinerungsfähige und objektive Gestalt haben soll. Das Prinzip des Kategorischen Imperativs besteht darin, die subjektiven Handlungsgrundsätze auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit hin zu prüfen. Der Imperativ der Sittlichkeit wird entsprechend auf folgende Weise formuliert: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“73

Diese Formulierung besagt, dass die Maximen  – verstanden als subjektive Handlungsgrundsätze  – auf ihre Allgemeingültigkeit hin geprüft werden sollen und dass nur derjenige Handlungsgrundsatz als moralisch verpflichtend gilt, welcher als allgemeinverbindliches Handlungsprinzip gewollt werden kann. Das Sittengesetz muss als ein immerwährender Bestandteil des menschlichen Bewusstseins verstanden werden, der dem Einzelnen nicht erst durch eine intellektuelle Reflexion offenbart wird, sondern jedem unabhängig von seiner geistigen Befähigung bewusst ist. Mit der philosophischen Bestimmung der Form des Sittengesetzes als eines Kategorischen Imperativs greift Kant auf ein seiner Ansicht nach in jeder Person vorhandenes Moralitätsprinzip zurück.74 Das allgemeine Bewusstsein des Grundprinzips der Sittlichkeit bezeichnet er als das „Faktum der Vernunft“.75 Das Bewusstsein des Sittengesetzes geht „allem Vernünfteln über seine Möglichkeit“76 vor und wird von Kant für unleugbar gehalten.77 Es muss als ein grundlegendes erstes Datum der menschlichen Moralität verstanden werden, welches der intelligiblen Natur des Menschen immanent ist. Dessen Ursprung ist prinzipiell unergründbar, da es sich um einen unmittelbar gegebenen, d. h. unabgeleiteten moralischen Grundsatz der Vernunft handelt.78 Es ist nichts anderes als das Bewusstsein, dass die Vernunft ein allgemeingültiges und notwendiges Handlungsprinzip kategorisch fordert. Das Bewusstsein des Sittengesetzes ist ferner ein Zeugnis für die Autonomie der praktischen Vernunft, d. h. der moralischen Freiheit. Die intelligible Freiheit des Menschen kommt in einem Akt der freien moralischen Selbstbestimmung zum

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Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 416. Ebd., S. 421. 74 Auf das ursprüngliche Bewusstsein des Sittengesetzes als Faktum der Vernunft bezieht sich offenbar auch Kants berühmt gewordenen Satz über „das moralische Gesetz in mir“. Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, S. 161. 75 Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, S. 31. 76 Ebd., S. 91. 77 Vgl. Höffe, O., Immanuel Kant, S. 208. 78 Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, S. 91.

II. Gewissenskonzeption der Neuzeit

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Ausdruck, wo das Sittengesetz zum Maßstab für das moralische Handeln herangezogen wird.79 Das Bewusstsein des moralischen Gesetzes ist somit eine Voraussetzung dafür, dass die Freiheit des Menschen als wirklich begriffen werden kann. Es bildet die ratio cognoscendi der Freiheit.80 Erst durch das Bewusstsein des mora­ lischen Gesetzes kommt man zur Erkenntnis, dass man wirklich frei sei. b) Das Gewissensmodell Die Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff erfolgt bei Kant sowohl in der vor- als auch in der kritischen Phase seines Denkens. Ein abschließendes Gewissensverständnis konnte allerdings erst infolge seiner Bestimmung der Form moralischer Verbindlichkeit und der Präzisierung des ethischen Grundansatzes in kritischen Schritten ausformuliert werden.81 In der „Metaphysik der Sitten“ wird das Gewissen am Modell eines Gerichtshofs veranschaulicht. Demnach muss es als das Bewusstsein des inneren Gerichtshofes im Menschen vorgestellt werden, wo über die handlungsleitenden Vorstellungen geurteilt wird: „Jeder Mensch hat Gewissen und findet sich durch inneren Richter beobachtet, bedroht und überhaupt im Respekt (mit Furcht verbundener Achtung) gehalten, und diese über die Gesetze in ihm wachende Gewalt ist nicht etwas, was er sich selbst (willkürlich) macht, sondern es ist seinem Wesen einverleibt.“82

Das Gewissen muss demzufolge als eine angeborene intellektuelle Anlage gedacht werden, welche in der intelligiblen Natur des Menschen gründet und über alle freien Handlungen der innere Richter ist.83 Das Gewissen ist somit nichts Erwerbliches, was man sich erst aneignen soll, sondern ursprünglich in jedem Menschen als einem freien Vernunftwesen verankert. Im Hinblick auf den in kritischen Schriften ausgearbeiteten Grundsatz der Moralität muss das Gewissen als die subjektive Reflexion darüber verstanden werden, ob man seine Handlungsbestimmung wirklich dem Sittengesetz unterstellt. Es ist eine Applikation von Handlungen auf das Sittengesetz.84 Durch das Gewissen wird im Subjekt der Selbstbezug des moralischen Urteilens und Handelns hergestellt. Da das Sittengesetz mit dem Interesse der Freiheit identisch ist, so ist das Gewissen, wo eine Reflexion über die Handlungsbestimmung aus Pflicht stattfindet, „ein Bewusstsein, das für sich selbst Pflicht ist“85.

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Ebd., S. 33. Ebd., S. 4, Anm. 81 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 96 f. 82 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 438. 83 Ebd., S. 438 f.; vgl. Hübsch, S., Philosophie und Gewissen, S. 103. 84 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 105. 85 Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 185.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Das Gewissen ist jedoch keine Überprüfung der Form der Handlungsbestimmung, ob diese dem Kategorischen Imperativ entspreche, sondern der inneren Überzeugung, sich wirklich vom Sittengesetz  – und nicht etwa von einem anderweitigen Handlungsgrundsatz  – zum Handeln bestimmt zu haben. Anhand des Sittengesetzes wird von der Vernunft objektiv festgestellt, ob eine bestimmte Handlung Pflicht sei. Denn „Ob eine Handlung überhaupt recht oder unrecht sei, darüber Urteilt der Verstand, nicht das Gewissen.“86 Im Gewissen wird seinerseits ein reflexives Urteil darüber gefällt, ob man subjektiv von der Richtigkeit des objektiven Urteils überzeugt ist. Es zielt auf die innere Übereinstimmung der Person mit sich selbst, ob man sich selbst gegenüber aufrichtig ist, dass die Handlung, die man unternehmen will, nicht unrecht sei.87 In der „Religionsschrift“ heißt es weiterhin: „Das Gewissen richtet nicht die Handlungen nach Casus, die unter dem Gesetz stehen; denn das thut die Vernunft […]; sondern hier richtet die Vernunft sich selbst, ob sie auch wirklich jene Beurtheilung der Handlung mit aller Behutsamkeit (ob sie recht oder unrecht sind) übernommen habe, und stellt den Menschen wider oder für sich selbst zum Zeugen auf, daß dieses geschehen oder nicht geschehen sei.“88

Insofern ist das Gewissen eine Instanz, welche über die objektive Willens­ bestimmung durch das Sittengesetz subjektiv urteilt. Es muss als Selbstbezug der praktischen Vernunft verstanden werden. Einerseits ist es selbst kein Prinzip ethischer Grundsätze, aus welchem Antworten nach dem moralisch guten Handeln geschöpft werden könnten. Andererseits ist aber der Gewissensgebrauch auf die Ethik als Ausgangspunkt angewiesen.89 An dieser Stelle wird die viel umstrittene These von Kant nachvollziehbar, dass es ein irrendes Gewissen nicht geben kann: „Moralisten reden von einem irrenden Gewissen. Aber ein irrendes Gewissen ist ein Unding; […] Ich kann zwar in dem Urteile irren, in welchem ich glaube, Recht zu haben; […] aber in dem Bewußtsein: ob ich in der Tat glaube Recht zu haben […] kann ich schlechterdings nicht irren […].“90

Demnach ist ein Irrtum nur in der Feststellung der Pflichten möglich, was ich für moralisch geboten erachte. Dagegen ist ein Irrtum in der Prüfung, ob ich die vom Verstand erkannte Pflicht als meine Pflicht anerkenne, verwerfe oder befolge undenkbar.91 Von einem Irrtum kann nur in Bezug auf ein Objekt gesprochen werden, d. h. ob eine Übereinstimmung bzw. Nichtübereinstimmung mit dem Objekt vorliegt. Das Gewissensurteil bezieht sich dagegen auf das Subjekt, wo es

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Ebd., S. 186. Ebd., S. 186. 88 Ebd., S. 186. 89 Hoffmann, Th., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 441. 90 Kant, I., Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee, AA VIII, 267. 91 Vgl. Hoffmann, Th., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 439.

II. Gewissenskonzeption der Neuzeit

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„weder Wahrheit noch Falschheit und damit auch keinen Irrtum“ gibt.92 In seinem Subjektbezug prüft das Gewissen die Aufrichtigkeit der Person gegenüber sich selbst. Wenn der Mensch nach außen die Motive seines Handelns verschiedentlich darstellen kann, so kann er aber sich selbst nicht vortäuschen, aus Pflicht gehandelt zu haben, wenn er ungeachtet des Pflichtbewusstseins sich zu einer anderen Handlung entschließt. Die Möglichkeit eines Irrtums ist nur im Verstandesurteil über das, was Pflicht ist, denkbar. So könnte jemand, der im Verstandesurteil einem Irrtum unterlegen ist, grundsätzlich dennoch gewissenhaft handeln.93 Über die moralische Qualität der Handlung entscheidet nicht das Gewissen, sondern der Verstand in seiner Bestimmung der moralisch gebotenen Handlung. Das Gewissen führt nicht zum sturen Eigensinn, sondern ist eine Aufforderung, sich zu seinen Handlungen noch einmal reflexiv zu verhalten und sich der Richtigkeit der moralischen Urteile zu versichern.94 Abschließend muss festgestellt werden, dass Kant mit dem Kategorischen Imperativ einen Maßstab für die Sittlichkeit begründet, der zwar im Subjekt verortet ist aber dennoch eine universelle Gültigkeit beansprucht. Damit wird ein Fundament für ein säkulares Moralitätsverständnis bereitgestellt, wonach die Grundlage von Moralitätsprinzipien nicht mehr, wie in der stoisch-christlichen Tradition, außerhalb des Menschen verortet, sondern als seiner Vernunftnatur immanent verstanden wird. Dabei ist das Verständnis des Menschen als ein autonomes Vernunftwesen entscheidend. Der Mensch ist moralisch aufgrund seiner Freiheitsnatur. Mit der Form des Kategorischen Imperativs wird von der Vernunft ein Maßstab für moralisches Handeln vorgegeben und zugleich die menschliche Autonomie zum Ausdruck gebracht, nicht nach den Gesetzen der Natur, sondern nach einer Vorstellung vom Gesetz zu handeln.95 Auch Kants Auffassung über das Gewissen zielt auf die Selbstwahrnehmung des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen im Handeln. In seiner Philosophie der Freiheit wird Moralität als praktische Autonomie eines Vernunftwesens erklärt und durch den Gewissensbegriff ein Rahmen für die Identität und Verantwortung eines selbstreflektierenden Freiheitswesens ausgewiesen. Die Gewissenhaftigkeit ist demzufolge „die Innenseite von Vernünftigkeit und Freiheit“.96 Mit der Bestimmung der Freiheit als Grundlage menschlicher Moralität und der Gewissenhaftigkeit gewinnt Kants moralphilosophische Konzeption an humanistischer Größe, die bis in die Gegenwart herausragende Tragweite entfaltet.



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Dauner, P., Das Gewissen, S. 177. Hoffmann, Th.-S., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 439. 94 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 105; Hoffmann, Th.-S., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 440. 95 Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 412. 96 Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 115.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

3. Subjektivismuskritische Konzeption von Hegel Der transzendentale Idealismus Kants stellt den Ausgangspunkt für die Entwicklung der Philosophie des deutschen Idealismus dar. Im Bereich der Moralphilosophie zeichnet sich diese Entwicklung vor allem durch die Auseinandersetzung mit dem von Kant vorgezeichneten, aus der Sicht von Vertretern dieser Denktradition jedoch nicht konsequent zu Ende gedachten, Verhältnis zwischen dem moralischen Bewusstsein des Subjekts und der empirisch-seienden Welt ab. Es ist ferner eine Beschäftigung mit der Frage, inwiefern die Moralphilosophie, im Sinne einer „reinen Philosophie“, als verlässliche Handlungsorientierung dienen kann.97 So ist nach der Auffassung von Johann Gottlieb Fichte die praktische Vernunft der theoretischen übergeordnet und die moralische Bestimmung des Menschen besteht allein im Handeln und nicht, wie bei Kant, in der Form der Handlungsbestimmung.98 Die Wahrheit von moralischen Überzeugungen wird dabei unabhängig von jeglicher „Materie des Willens“ allein auf das Subjekt, auf das selbstbetätigende und selbstverwirklichende Ich zurückgeführt.99 Dementsprechend wird auch unter dem Gewissen „das unmittelbare Bewußtsein unserer bestimmten Pflicht“100 verstanden. In Fichtes moralphilosophischer Konzeption wird der ­Eigenwert der Handlung als einer solchen ausgewiesen und die Moralität des Individuums allein aus dem selbstreflektierenden Tätigkeitscharakter des Ich begründet. Während bei Fichte im Anschluss an Kant die Subjektseite der Sittlichkeit stärker akzentuiert wird, verortet Hegel die Sittlichkeit erst in der objektiven, über die subjektive Einsicht in das Gesollte hinausgehenden, Wirklichkeit des geistigen Seins als Ganzes. Hegel kritisiert den absoluten Sollensstandpunkt des Individuums als eine Anmaßung der endlichen Vernunft gegenüber der absoluten Vernunft, welche die Gesamtheit der Wirklichkeit umfasst und als eine Einheit vom Denken und Sein gedacht werden muss.101 Er stellt der Auffassung über die Moralität als einer Summe von subjektiven Einstellungen den Begriff der Sittlichkeit gegenüber, welcher als ein Inbegriff für die ethischen, rechtlichen und politischen Verhältnisse der Individuen in der Wirklichkeit zu verstehen ist. Hieraus wird sein Hauptkritikpunkt an Kants ethischer Theorie entwickelt, dass subjektive Moralität den Standpunkt der Sittlichkeit unmöglich macht.102 Die subjektive Einsicht in das moralisch Richtige erlaubt demzufolge keinen Zugriff auf die objektive Wirklich-



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Vgl. Pleines, J.-E., Von Kant zu Hegel, S. 409. Fichte, J. G., Bd. II (Die Bestimmung des Menschen), S. 263; vgl. Hartmann, N., Die Philosophie des deutschen Idealismus, S. 81 f. 99 Fichte, J. G., Bd. IV (Das System der Sittenlehre), S. 170. 100 Ebd., S. 225. 101 Vgl. Hartmann, N., Die Philosophie des deutschen Idealismus, S. 267 f. 102 Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 33, S. 88.

II. Gewissenskonzeption der Neuzeit

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keit mit ihrem selbstreflexiven Charakter. Die Kritik einer allein vom Standpunkt des subjektiven moralischen Reflexionsvermögens ausgehenden ethischen Konzeption wird vor allem im Zusammenhang mit Hegels Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff deutlich. Die Beschäftigung mit dem Gewissensbegriff verläuft bei Hegel im Rahmen seiner Theorie des „objektiven Geistes“, wonach die menschliche Moralität eine vom einzelnen Subjekt getragene Entwicklungsstufe des objektiven Geistes ausmacht. Im Entwicklungsprozess des Zu-Sich-Selbst-Kommens des absoluten Geistes, d. h. in der Entwicklung der absoluten Idee und des Weltprinzips, ist der objektive Geist eine Form, wo der freie subjektive Geist seine Erfüllung in der wirklichen Welt erfährt.103 Die Stufen des objektiven Geistes sind Sittlichkeit, Moralität und Recht. Dabei wird unter dem „Recht“ die Freiheit im Äußeren, unter der „Moralität“ die subjektive Sittlichkeit und unter der „Sittlichkeit“ das objektivierte Gute verstanden, welches sich in Institutionen der Familie, der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates manifestiert. Die subjektive Einsicht ins moralisch Gebotene wird von Hegel nicht als eine im Kantischen Sinne universelle normative Instanz begriffen, sondern als eine Durchgangsphase zur objektiven Sittlichkeit. Das Gute wird nicht im Willen eines vernunftbegabten Wesens indiziert, sondern im „allgemeinen, an und für sich seienden Willen“104. In „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ heißt es: „Das Gute ist die Idee als Einheit des Begriffs des Willens und des besonderen Willens […] die realisierte Freiheit, der absolute Endzweck der Welt.“105

Im Hinblick auf den Bereich der Moralität bedeutet es, dass der subjektive Wille an der Realisierung des allgemeinen Guten partizipiert. Das einzelne Subjekt ist der Zufälligkeit seines äußeren Daseins gegenübergestellt und muss in seinem besonderen freien Willen beliebig viele gleichwertige Handlungsmöglichkeiten in Relation zur äußeren Wirklichkeit setzen.106 Die Realisierung des an und für sich Guten auf der Stufe der Sittlichkeit ist demnach vom einzelnen subjektiven Willen getragen. Dementsprechend wird die Moralität als eine Reflexionsleistung des freien Willens über die äußere Wirklichkeit begriffen. Entsprechend dieser Moralitätskonzeption fallen im Gewissen die subjektive Einsicht des Einzelnen und die reflektierte Allgemeinheit des Guten zusammen: „Um der abstrakten Beschaffenheit des Guten willen fällt das andere Moment der Idee, die Besonderheit überhaupt, in die Subjektivität, die in ihrer in sich reflektierten Allgemeinheit die absolute Gewißheit ihrer selbst in sich, das Besonderheit Setzende, das Bestimmende und Entscheidende ist – das Gewissen.“107 103

Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, § 385, S. 32. Ebd., § 507, S. 314. 105 Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 129, S. 243. 106 Vgl. ebd., § 508, S. 315. 107 Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 136, S. 254.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Es wird von Hegel dabei zwischen zweierlei Aspekten des Gewissens unterschieden – dem subjektiven Aspekt, der sich im Wissen und Wollen des Subjekts äußert, und dem objektiven, der den Bezug zum Allgemeinen ausmacht. Mit dem Begriff des „formellen“ Gewissens wird dabei die subjektive Seite der Bestimmung des Guten beschrieben. Dieses Gewissen ist bloß „formell“, weil es noch keine inhaltliche Bestimmung des an und für sich Guten enthält, sondern lediglich die Form der zufälligen Bestimmtheit des Subjekts ausmacht.108 Gegen eine Auffassung, wonach das Gute durch ein ausschließlich auf das Subjekt gerichtetes Gewissen bestimmbar wäre, wendet Hegel ein, dass einem solchen subjektiven formalisierten Gewissen jeglicher Bezug zum Allgemeinen, und damit zum objektiv Guten, fehlen würde. Im Subjekt gibt es keine selbstständige von der außersubjektiven Materie der Sittlichkeit unabhängige sittliche Größe. Das Subjektive allein ist daher für die Bestimmung des Guten unzureichend. Das subjektive formalisierte Gewissen kann grundsätzlich vielerlei Verirrungen über die Rechtmäßigkeit von Handlungsabsichten ausgesetzt werden und sogar ins Böse umschlagen.109 Ein von dem Subjekt ausgehendes und gleichzeitig auf das Subjekt gerichtetes Gewissen ist „dem entgegen, was es sein will, die Regel einer vernünftigen, an und für sich gültigen allgemeinen Handlungs­ weise“110. Erst im „wahrhaften“ Gewissen werden der formelle Aspekt der Subjektivität und der Bezug zum Allgemeinen vereint. Die objektiven Werte können nur infolge einer Übereinstimmung des subjektiven Urteils mit der objektiven Wertesphäre erkannt werden. Das „wahrhafte“ Gewissen ist als sittliche Gesinnung zu verstehen, das, was an und für sich gut ist, zu wollen.111 Es ist die Nachzeichnung der objektiven sittlichen Ordnung im Bewusstsein des Einzelnen. Im „wahrhaften“ Gewissen wird zum einen die „absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins“112 zum Ausdruck gebracht, welche sich in der Tätigkeit des subjektiven Willens im Prozess der Konkretisierung der an und für sich gültigen allgemeinen Handlungsweise äußert. Und zum anderen ist es auf einen konkreten Inhalt bezogen, der sich in „allgemeinen, gedachten Bestimmungen, d. i. in der Form von Gesetzen und Grundsätzen“113 ausdrückt. Im „wahrhaften“ Gewissen wird das subjektive formalisierte Gewissen einem Urteil unterworfen, welches auf allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen beruht. Im Gewissen dokumentiert sich die Freiheit des Menschen, sich von dem Gebrauch der subjektiven Freiheit zu distanzieren und diese reflexiv zu überholen.114 Insoweit wird auch Hegels Zurückweisung eines irren-

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Ebd., § 137, S. 254 f. Ebd., § 139, S. 261. 110 Ebd., § 137, S. 255. 111 Ebd., § 137, S. 254. 112 Ebd., § 137, S. 255. 113 Ebd., § 137, S. 255. 114 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 127.

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II. Gewissenskonzeption der Neuzeit

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den Gewissens115 verständlich, weil man sich über die Faktizität einer distanzierten Prüfung von subjektiven Absichten nicht irren kann.116 Das „wahrhafte“ Gewissen wird als Identität des subjektiven Willens und der Allgemeinheit des Guten aufgefasst. Die Identität der Subjektivität und der abstrakten Allgemeinheit des Guten macht ihrerseits den Bereich der Sittlichkeit aus.117 Die „sittliche Wirklichkeit“ kann von Individuen erst in der sittlichen Substanz erfahren werden, an deren Gestaltung sie partizipieren und zugleich von ihnen selbst akzidierten „sittlichen Mächten“118 regiert werden. Die Sittlichkeit wird ihrerseits in Gestalt des überindividuellen Staates wirklich119, in dem das Individuum in der Einheit des objektiven Geistes die substanzielle Freiheit erlangt.120 Da die sittliche Normativität erst in der im Staat verwirklichten Sittenordnung besteht, kann ein einzelnes Individuum keinen Vorrang der subjektiven Überzeugungen gegenüber der objektiv verwirklichten Sittlichkeit beanspruchen: „Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigentümlichen Form, d. i. als subjektives Wissen nicht anerkennen, sowenig als in der Wissenschaft die subjektive Meinung, eine Gültigkeit hat.“121

Das Subjektive muss folglich eine Identität mit der staatlich verfassten und auf der objektiven Sittlichkeit beruhenden Ordnung anstreben. Hegels Gewissenslehre wird damit im Zuge einer dialektischen Synthese des Subjektiven und des Objektiven zwangsläufig in eine Staatsphilosophie transformiert.122 Allerdings muss an dieser Stelle, vor allem vor dem Hintergrund der Gewissenslehre, vor einer einseitigen Interpretation Hegels als eines „etatistischen“ Denkers gewarnt werden.123 Denn im „wahrhaften“ Gewissen werden sowohl allgemeine Bestimmungen in Form von Gesetzen und Grundsätzen als aber auch gerade die subjektive Bestimmungen des Individuums, das „formelle“ Gewissen, vereinigt. Es muss abschließend festgestellt werden, dass in Hegels Gewissenslehre die Einheit der subjektiven Reflexionstätigkeit und der Partizipation dieser Reflexivität an der Bestimmung des allgemeinen Willens dargelegt wird. Mit seiner subjektivismuskritischen Gewissenskonzeption übt er Kritik an philosophischen Konzeptionen seiner Gegenwart, in denen aus seiner Sicht die Auflösung des abstrakten subjektiven Gewissens vom objektiven Wirklichkeitsraum stattfindet und

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Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 137 (Anm.), S. 257. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 127. 117 Vgl. Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 141, S. 286. 118 Ebd., § 145, S. 294. 119 Ebd., § 257, S. 398. 120 Ebd., § 258, S. 399. 121 Ebd., § 137, S. 255. 122 Dauner, P., Das Gewissen, S. 188, Fn. 627. 123 Dazu: Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 112 f.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

bezeichnet diese Auffassungen als „Krankheit dieser Zeit“124. Die neuzeitliche Abkopplung des subjektiven Gewissens von den Grundsätzen einer objektiven Weltordnung, welche noch für die stoisch-christliche Moralitätskonzeption konstitutiv war, wird in Hegels Zeitdiagnose als großes Rätsel der Gegenwart über das hohe Renommee, das das subjektive Gewissen für sich beansprucht, charakterisiert und gleichzeitig einer Kritik unterworfen.125 Zusammenfassend muss festgehalten werden, dass in der neuzeitlichen Moralphilosophie die Grundlagen des sicheren Wissens im Subjekt, und zwar in seiner vernunftbegründeten moralischen Autonomie, ausgewiesen wurden. Damit war die Basis für die Sicherheit in moralischen Urteilen gefunden, die gleichzeitig dem Subjekt den höchsten Wert – den Eigenwert – zusicherte. Mit diesem Modell war ebenfalls die Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit verbunden: was gemeinhin als sittlich galt, war noch lange nicht moralisch.126 Was von Hegel an Kants Konzeption kritisiert wurde, ist die scheinbar uneingeschränkte Überzeugung von der moralischen Kraft des Individuums, die ohne jeglichen Bezug zum sittlich Gegebenen auszukommen beanspruchte. Dem sich mit der Reflexion auf die eigenen Maximen beschäftigten Selbstbewusstsein fehlt nach Ansicht von Hegel eine Möglichkeit zum Übergang von der Moral zur Sittlichkeit, was aus seiner Sicht eine Handlungsunfähigkeit der „reinen Moral“ zur Folge hat.127 Wenn man Hegels Moralphilosophie ihrerseits aus der vernunftrechtlichen Perspektive kritisch betrachtet, so muss festgestellt werden, dass Hegels Subjektivismuskritik der Moralitätskonzeption von Immanuel Kant nicht gerecht wird. Es ist bereits aus der Tatsache erkennbar, dass bei Kant die Fähigkeit zur Einsicht in das moralisch Gute nicht eine beliebige subjektive Disposition über Wertevorstellungen bedeutet, sondern eine vernunftbestimmte Einsicht in das allgemeingültig Notwendige durch die Vernunftreflexion. Das Prinzip der sittlichen Ordnung wird damit durch die Vorstellung des gemeinsamen Zusammenseins vernunftbegabter autonomer Individuen begründet, welche die Grenze der subjektiven Beliebigkeit in der Freiheit der Mitmenschen finden. Die moralische Selbstbestimmung des Individuums in vernunftrechtlicher Konzeption führt damit nicht zur Beliebigkeit in moralischen Urteilen, sondern findet ihre immanente Grenze in der Freiheit des anderen, d. h. in der Frage nach der Allgemeingültigkeit des eigenen moralischen Standpunktes. Mit seiner subjektivismuskritischen Konzeption leitet Hegel eine Relativierung der Idee über die normative Kraft des subjektimmanenten Moralitätsvermögens 124

Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 138 (Anm.), S. 260. Dauner, P., Das Gewissen, S. 90; vgl. Hegel, G. W. F., Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 137, S. 256. 126 Vgl. Pleines, J.-E., Von Kant zu Hegel, S. 383 f. 127 Ebd., S. 393. 125

III. Positivierung des Gewissens

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des Individuums ein. Durch ihn wird der moralphilosophische Akzent von der vernunftimmanenten moralischen Kraft des freien Vernunftwesens auf die kontingenten gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse verschoben. Bei der Betrachtung der neuzeitlichen Entwicklung von Moralitäts- und Gewissenskonzeptionen lässt sich zusammenfassend feststellen, dass humanistisch geprägte neuzeitliche Aufklärung den in seiner Autonomie fundierten Eigenwert des Menschen zum Ausgangs- und zum Bezugspunkt der moralischen Konzeption machte. Zugleich wurden aber von ihr selbst, wie man es im Rahmen der Subjektivismuskritik von Hegel beobachtet, Ansätze für die Kritik an der Vorstellung intersubjektiv erkennbarer und gleichzeitig objektiv gültiger moralischer Werte in die Wiege gelegt.128 Denn die Gewissensauffassung als ein subjektives freiheit­ liches Vermögen kann durchaus zu einer solchen Interpretationsweise verleiten, wo das Gewissen als willkürliche Festlegung von Gewissensinhalten gedeutet wird.129 III. Positivierung des Gewissens Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzt die Tendenz zur Abkehr von der Vorstellung objektiv gültiger Moralitätsgrundlagen ein, seien es solche natur- oder auch vernunftrechtlicher Art.  Mit der Abwendung von der Philosophie des Idealismus, mit der immer wichtiger werdenden Rolle der empirischen Wissenschaften und mit der sich immer weiter verfestigten Säkularisierung der Gesellschaft verbreiteten sich zunehmend Ansätze, im Bereich der Moralphilosophie anhand der den Naturwissenschaften verwandten Methode unmittelbarer Wirklichkeits­ erforschung vorzugehen. Nicht mehr die Gebote der Vernunft oder des christlich fundierten Naturrechts werden zum Gegenstand philosophischer Untersuchung, sondern der Mensch, wie er in der empirischen Wirklichkeit anzutreffen ist. Für die nachfolgenden Gewissenskonzeptionen hat dieser Prozess eine Positivierung des Gewissensbegriffs zur Folge. Durch die Abkehr von der neuzeitlichen 128

Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 91 f. Als Beispiel für eine Interpretation der neuzeitlichen Subjektzentrierung als Verinnerlichung vom sittlichen Bewusstsein kann die Beschreibung der Abkopplung des Gewissens von der Vorstellung objektiver Moralitätsgrundlagen durch Niklas Luhmann angeführt werden (Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260 ff.). In seiner Analyse der gegenwärtigen Situation des Gewissensbegriffs stellt Luhmann eine Relativierung des Gewissensverständnisses in Form der Verinnerlichung des sittlichen Bewusstseins fest und führt diese auf die Abkopplung der Gewissensauffassungen von der objektiven Wahrheitssphäre in der Neuzeit zurück. Die neuzeitliche Interpretation des Gewissensbegriffs hat seiner Ansicht nach den „Recht und Gewissen übergreifende(n) Wahrheitskosmos gesprengt“ (S. 260.) und das Gewissen verlor dadurch sein normatives sittliches Element. Die Abkopplung des Gewissens von der objektiven Wahrheit hatte demnach die Verinnerlichung des sittlichen Bewusstseins zur Folge und ist daher zur Instanz individueller Handlungsregulierung geworden (S. 262.). 129

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Vorstellung über die erfahrungsunabhängigen Grundlagen objektiv gültiger sittlicher Normativität wird der Gewissensbegriff auf kontingente Phänomene zurückgeführt und damit relativiert. Im Folgenden wird der Prozess der Gewissenspositivierung aufgezeigt und seine wesentlichen Aspekte erläutert. Durch die Gewissensauffassungen in moralphilosophischen Konzeptionen von Schopenhauer und Nietzsche wird die Tendenz zur Relativierung des Gewissensbegriffs veranschaulicht. Der Grundansatz der Gewissensdeutung durch moderne gesellschaftswissenschaftliche Theorien wird exemplarisch an Gewissensmodellen von Freud und Luhmann dargestellt. 1. Relativierung des Gewissens bei Schopenhauer und Nietzsche Die Gewissenskonzeptionen von Arthur Schopenhauer und Friedrich Nietzsche markieren jenen Übergang zum Gegenständlichen, welcher den bis in das zwanzigste Jahrhundert hineinwirkenden Prozess der Formalisierung des Gewissensbegriffs einleitete. Trotz unterschiedlicher philosophischer Ansätze bei der Moralitätsbegründung weisen sie dennoch eine gemeinsame Grundtendenz auf, die unmittelbare Lebensrealität des Menschen zum Ausgangspunkt der Moralitätsbegründung zu nehmen und normative Erklärungsansätze als Scheinwahrheiten auszuweisen. Diese Tendenz und ihre Bedeutung für das Gewissensverständnis werden im Folgenden durch die Darstellung von beiden Gewissenskonzeptionen verdeutlicht. a) Arthur Schopenhauer Die Grundlage der Moralphilosophie Schopenhauers bilden die Beobachtungen über die Eigenart des menschlichen Charakters. Im Geiste des mechanistisch-naturwissenschaftlichen Denkens des 19. Jahrhunderts ist die Moralitätsauffassung Schopenhauers nach dem Muster des physikalischen Weltbildes geprägt. Die Ethik – im Gegensatz zur theologischen Moral – ist seiner Ansicht nach keine Wissenschaft über die Grundlagen des Begriffs des Sollens, sondern eine Wissenschaft, welche die wirklichen Handlungen des Menschen mittels empirischer Methode a posteriori erforscht und, indem sie diese Handlungen auf bestimmte Triebfedern zurückführt, moralphilosophisch deutet.130 Die Ethik von Schopenhauer ist auf Handlungen gerichtet, wie sie in der Wirklichkeit immer wieder vorgefunden werden, und wendet sich gegen die Vorstellung eines metaphysisch begründbaren Sollens. Dementsprechend wird auch das Gewissen als Selbsterkenntnis eigener Handlungsmotivationen ausgewiesen.131 130

Schopenhauer, A., Die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 551. Ebd., S. 534 f.

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III. Positivierung des Gewissens

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Wenn von Kant die Autonomie des menschlichen Willens zum Ausgangspunkt der Begründung des ethischen Fundaments genommen wird, so geht die Moralphilosophie nach Schopenhauer gerade von einer entgegengesetzten Auffassung aus, und zwar von der Heteronomie des Willens. Der menschliche Wille ist seiner Ansicht nach dem universellen Kausalitätsprinzip unterworfen und insofern nur relativ frei.132 Der Wille ist durch das Einwirken von Handlungsmotivationen determiniert, welche von dem Menschen mittels seines Denkvermögens beliebig abwechselnd vergegenwärtigt werden.133 Die Abkehr von der Vorstellung der Möglichkeit einer autonomen Willensbestimmung hat zur Folge, dass Schopenhauer alle Handlungen auf materielle Triebfedern zurückführt, und zwar entweder auf den Egoismus oder auf die Bosheit oder auch auf das Mitleid.134 Während die Handlungen mit dem Eigennutz als Triebfeder ohne moralischen Wert sind135, sind diejenigen, welche das Wohl und Wehe des Anderen zum Motiv haben, moralisch. Das Phänomen des Mitleids wird als eine die Mortalität des Menschen konstituierende Triebfeder ausgewiesen, welche die Grundlage für die „Kardinaltugenden“, wie beispielsweise die Gerechtigkeit und die Menschenliebe, bildet und woraus Handlungen von moralischem Wert abgeleitet werden.136 Das Mitleidempfinden ist aus der Sicht Schopenhauers eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewusstseins. Dieses Empfinden ist kein Resultat bestimmter gesellschaftlicher Einflüsse, wie z. B. der Religion, der Kultur oder der Erziehung, sondern ist der menschlichen Natur unmittelbar immanent.137 Schopenhauers Auffassung über das Gewissen ist von seinem methodischen Ansatz geprägt, die Moral aus der Perspektive von wirklichen Handlungen zu betrachten und nicht auf erfahrungsunabhängige Sollensbegründungen zurückzugreifen. Dementsprechend wird dem Gewissen jegliche Referenz auf religiös und naturrechtlich fundierte normative Gehalte oder auf eine objektive Wertesphäre abgesprochen und als eine Illusion ausgewiesen.138 Stattdessen wird der herkömmliche Gewissensbegriff in Bestandteile aus einzelnen Gefühlsregungen zerlegt: „Mancher würde sich wundern, wenn er sähe, woraus sein Gewissen, das ihm ganz sittlich vorkommt, eigentlich zusammengesetzt ist: etwa aus 1/5 Menschenfurcht, 1/5 Deisidämonie, 1/5 Vorurteil, 1/5 Eitelkeit und 1/5 Gewohnheit: so daß er im Grunde nicht besser ist, als jener Englender, der geradezu sagte: I cannot afford to keep a conscience (ein Gewissen zu halten ist für mich zu kostspielig).“139

132

Ebd., S. 393. Ebd., S. 393. 134 Ebd., S. 609. 135 Ebd., S. 562. 136 Ebd., S. 564. 137 Ebd., S. 569 f. 138 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 62. 139 Schopenhauer, A., Die beiden Grundprobleme der Ethik, S. 548.

133

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Mit dieser Relativierung des Gewissensbegriffs wird eine Abkehr von der Gewissensauffassung als einer Reflexionsinstanz allgemeingültiger Normen – seien diese objektiv-naturrechtlicher oder vernunftrechtlicher Art – vollzogen. Gemäß Schopenhauers Ethik des Mitleids wird das Gewissen stattdessen als eine Instanz gedeutet, welche über die aus Mitleid bzw. aus anderen Triebfedern erfolgten Handlungen rückblickend reflektiert: „Die immer vollständiger werdende Bekanntschaft mit uns selbst, das immer mehr sich füllende Protokoll der Thaten, ist das Gewissen. Das Thema des Gewissens sind zunächst unsere Handlungen, und zwar sind es diejenigen, in welchen wir dem Mitleid, das uns auf­ forderte, Andere wenigstens nicht zu verletzen, ja sogar ihnen Hülfe und Beistand zu leisten, entweder kein Gehör gegeben haben, weil Egoismus, oder gar Bosheit uns leitete; oder aber, mit Verleugnung dieser beiden, jenem Rufe gefolgt sind.“140

Als ein „Protokoll der Thaten“ ist das Gewissen nichts anderes als eine Eigenart der empirischen Selbstwahrnehmung der Person. Es ist nur insofern ein „richtendes Gewissen“ als es eine Form der Rückerinnerung an vergangenes Tun ist, aus der auf eine künftige Missbilligung ähnlich gearteter Fälle geschlossen werden kann.141 Die moralische Normativität wird folglich auf kontingente Phänomene des menschlichen Bewusstseins zurückgeführt. Somit führt Schopenhauer eine durchgehend auf empirische Beobachtungen gestützte Grundlegung der Moralität und des Gewissensbegriffs durch. b) Friedrich Nietzsche Ähnlich wie bei Schopenhauer richtet sich auch Nietzsches Gewissenskonzeption gegen ein objektivistisches und vor allem gegen ein christlich fundiertes Verständnis vom Gewissen. Sein Gewissensmodell basiert allerdings nicht auf einer Untersuchung von Bewusstseinsphänomenen, sondern auf einer genealogischen Geschichtsbetrachtung im Hinblick auf den Ursprung des Gewissens. Die genealogische Untersuchung der Moralität setzt Nietzsche bei dem Begriff des „schlechten Gewissens“ an. Der Ursprung der Moral wird von ihm als die Entstehung des schlechten Gewissens in jüngeren Zeiten der Zivilisation begriffen.142 Demnach wurden in dieser kulturgeschichtlichen Phase die ursprünglichen Instinkte, wie beispielsweise die Unterdrückung und die Feindschaft, von dem Menschen verinnerlicht. Diese Verinnerlichung kam dadurch zustande, dass Instinkte, indem sie keine Entfaltung nach außen fanden, sich gegen den Menschen selbst wandten und von ihm einverleibt wurden.143 Die Introvertiertheit von ursprüng­

140

Ebd., S. 613 f. Ebd., S. 614. 142 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 139. 143 Nietzsche, F., Zur Genealogie der Moral, (2.16), S. 322 f.

141

III. Positivierung des Gewissens

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lichen Instinkten ließ das seelische Innenleben im Menschen entfalten und das, was die menschliche Seele genannt wird, heranwachsen. Aus diesem neu geschaffenen Raum, wo der Mensch nach Ansicht von Nietzsche zum Gefangenen der gegen sich selbst gerichteten Grausamkeit wurde, erwuchs schließlich das „schlechte Gewissen“: „Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man ‚zähmen‘ will, […] – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfinder des ‚schlechten Gewissens‘.“144

Das „schlechte Gewissen“, wo der Mensch der Selbstverweigerung und der gegenüber sich selbst gerichteten Grausamkeit ausgesetzt wurde, bildete seinerseits die Grundlage für die Entwicklung der menschlichen Kultur und muss ­Nietzsche zufolge als ein Durchgangspunkt zum höheren Kultivierungsgrad begriffen ­werden.145 Dieses „vor-moralisch-schlechte“ Gewissen formte die Basis für das Entstehen des „moralisch-schlechten“ Gewissens. Das Moralische, das von Nietzsche mit der jüdisch-christlichen Moral identifiziert wird146, entstand seiner Ansicht nach im Zuge der Verwicklung des „schlechten Gewissens“ mit dem Gottes­begriff.147 Dabei wurde der Begriff der Schuld, welcher bei dem Menschen eigentlich schon zu früheren Zeiten als Inbegriff für die Verantwortlichkeit des Verursachers für einen Schaden herausgebildet wurde148, nunmehr als „Schuld gegen Gott“ begriffen und mit dem ursprünglichen „vor-moralisch-schlechten“ Gewissen ver­ wickelt.149 Damit beschreibt Nietzsche die Entstehung des moralischen Bewusstseins als einen Prozess der Moralisierung des „schlechten Gewissens“ in Folge seiner Verbindung mit dem jüdisch-christlichen Gottesbegriff. Die Entwicklung der Moral des „schlechten Gewissens“ wird von Nietzsche alsdann als nihilistische Selbstverleugnungsmoral kritisiert, da in ihr das natürliche Selbstvertrauen des Menschen vergiftet wird.150 Der christlich fundierten Moral wirft er vor, den Willen zur Selbstmisshandlung, der in Form der Selbstlosigkeit, der Selbstverleugnung und der Selbstopferung in Erscheinung tritt, zum obersten moralischen Wert zu erheben.151 Mit dieser Kritik wird von ihm gleichzeitig auch eine Gegenwartskritik ausgeübt, wo aus seiner Sicht das christlich geprägte Ideal der Selbstlosigkeit die Kreativität persönlicher Lebensäußerung unter­drückt.152 144

Ebd., (2.16), S. 323. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 139. 146 Ebd., S. 139. 147 Nietzsche, F., Zur Genealogie der Moral, (2.21), S. 330. 148 Vgl. ebd., (2.4), S. 297 f. 149 Ebd., (2.21), S. 331. 150 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 139. 151 Nietzsche, F., Zur Genealogie der Moral, (2.18), S. 326 f. 152 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 140.

145

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Allerdings sieht er in der Entselbstungsmoral des schlechten Gewissens auch nur eine temporäre Entwicklungsstufe: „Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist.“153

Demnach ist das schlechte Gewissen nur eine vorübergehende Moralitätskonzeption innerhalb der menschlichen Geschichte, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt überwunden werden muss. Diese Überwindung des „schlechten Gewissens“ erfolgt nach Nietzsche im Zuge der Überwindung des Menschen im Übermenschen, wo „[…] die unnatürlichen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Tierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesamt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen“ „verschwistert“ werden.154 Dieser Vorgang ist auch als eine „Umwertung aller Werte“ zu verstehen, wonach alles, was Leben verneint, nunmehr als „böse“ und spontane Lebensäußerungen als „gut“ bezeichnet werden.155 Am Ende dieser Entwicklung steht ein souveräner Mensch, der die Welt kraft seines Willens gestaltet und sein Gewissen als „Wissen um das außer­ ordentliche Privilegium der Verantwortlichkeit“156 nennt. Das Modell des souveränen Gewissens, das Nietzsche mit seiner genealogischen Methode ausarbeitet, bedeutet eine Abkehr des Menschen von den objektiven Werten und eine Hinwendung zur Lebensbejahung. Dieses Gewissen muss als ein Resultat des kulturgeschichtlichen Prozesses der „Selbstbefreiung“ begriffen werden, wo das selbstbejahende Bewusstsein zunächst verdeckt, dann ins Gegenteil pervertiert und am Ende, mit dem Aufkommen des souveränen Individuums, befreit wird.157 Es muss als „Gedächtniss des Willens“158, d. h. als ein mensch­licher Wille zur Zukunftsgestaltung auf der Basis des Geschichtsbewusstseins aufgefasst werden.159 Durch die genealogische Betrachtung des menschlichen Gewissens wird von Nietzsche die objektivistische Moral des christlichen Abendlandes zum einen als Nihilismus kritisiert und zum anderen als eine Durchgangsphase zur Befreiung des Individuums aus der überkommenen moralischen Ordnungssphäre gedeutet. Trotz unterschiedlicher Ansätze bei der Moralitätsbegründung weisen die Gewissenskonzeptionen Schopenhauers und Nietzsches eine gemeinsame Grundtendenz auf, das Gewissen aus der kontingenten Lebensrealität des Menschen zu erklären. Im Ergebnis gleicht Nietzsches Auffassung der von Schopenhauer in­ 153

Nietzsche, F., Zur Genealogie der Moral, (2.19), S. 327. Ebd., (2.24), S. 335; vgl. Holzapfel, C., Heideggers Auffassung des Gewissens vor dem Hintergrund traditioneller Gewissenskonzeptionen, S. 29. 155 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 148. 156 Nietzsche, F., Zur Genealogie der Moral, (2.2), S. 294; vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 145. 157 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 146. 158 Nietzsche, F., Zur Genealogie der Moral, (2.1), S. 292. 159 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 145 f. 154

III. Positivierung des Gewissens

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sofern, als er dem Gewissen die Bedeutung der Rückerinnerung zuweist; allerdings einer Rückerinnerung an den geschichtlichen Ursprung des Gewissens.160 Mit der Rückerinnerung ist jedoch in beiden Konzeptionen der Lebenswirklichkeitsbezug des Menschen gemeint, sei es als ein Bezug auf das eigene Bewusstsein, sei es als Vergegenwärtigung der geschichtlichen Herausbildung der Moral. Im Gewissen vergegenwärtigt der Mensch seine natürlichen Veranlagungen und beurteilt danach das konkrete Handeln. Er greift dabei weder auf objektive Wertevorstellungen zurück noch prüft er die Handlungsmaximen nach den erfahrungsunabhängigen Maßgaben der Vernunft. Vielmehr beurteilt der Mensch den moralischen Wert von Handlungen aus der Selbstwahrnehmung als ein durch Motivationen bedingtes bzw. als kulturgeschichtlich geprägtes Wesen. Es wird nicht mehr von der Existenz objektiver moralischer Grundsätze oder von einem erfahrungsunabhängigen Sittengesetz ausgegangen, sondern der Ursprung der Moralität wird aus der spezifischen kontingenten Natur des Menschen erklärt. 2. Psychologisches Gewissensverständnis Der seit Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Prozess der Relativierung des Gewissensbegriffs wurde zum wesentlichen Teil durch die Neuentstehung und immer größer werdende Bedeutung der Psychologie vorangetrieben. Die psychologische Gewissensdeutung, welche vor allem durch das psychoanalytische Modell von Siegmund Freud repräsentiert wird, bedeutete einen Vorgang der Emanzipation der Gewissenstheorie von der Herrschaft der Philosophie.161 Das Eingehen auf das psychologische Gewissensverständnis ist vor allem wegen seiner starken Ausprägung im gegenwärtigen Denken162 und nicht zuletzt wegen der Favorisierung des empirisch-psychologischen Verfahrens in der modernen Rechtswissenschaft163 unumgänglich. Im Folgenden wird das Freudsche Gewissensverständnis zusammenfassend dargestellt und auf die Bedeutung des psychologischen Modells im Kontext philosophischer Gewissenstradition eingegangen. Im psychoanalytischen Gewissensverständnis Freuds wird das Gewissen als Stimme einer nach innen verlegten äußeren Autorität begriffen. Das Gewissen ist nichts, was dem Menschen angeboren ist, sondern ein im Laufe der Entwicklung des einzelnen Menschen sich herausbildendes Kontrollorgan. Die Vorstufe der Gewissensgenese besteht demnach in der kindlichen Angst vor dem elterlichen Liebesverlust, welche das Kind dazu drängt, eigenen Trieben Abbruch zu tun und sich dem Willen der Eltern zu fügen.164 160 Holzapfel, C., Heideggers Auffassung des Gewissens vor dem Hintergrund traditioneller Gewissenskonzeptionen, S. 25. 161 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 36. 162 Vgl. ebd., S. 32. 163 Dauner, P., Das Gewissen, S. 106. 164 Freud, S., Das Unbehagen an der Kultur, S. 88, 90.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Die Entstehung des eigentlichen Gewissens geht aber erst mit der Aufrichtung eines von dem bewussten Ich abgespaltenen Über-Ichs einher, wo sich das Kind mit der Autoritätsperson identifiziert.165 Das Verhältnis zu den Eltern wird in diesem Stadium nicht mehr ausschließlich als Liebeszuwendung erlebt, sondern auch als Einschränkung eigener Triebe. Dies erzeugt bei dem Kind den Wunsch, sich gegen die Triebeinschränkung zu widersetzen und sich davon zu emanzipieren. Auf diese Weise entsteht in der Entwicklungsphase etwa um das 5. Lebensjahr der sogenannte Ödipuskomplex, der als Verlangen des Kindes, die Autoritätsstelle des andersgeschlechtlichen Elternteils anzunehmen, begriffen werden muss. Da sich aber dieser Identifikationswunsch in der Wirklichkeit nicht realisieren lässt, wird er ins Unterbewusste verlegt und dort verfestigt.166 Aus der fiktiven Selbstidentifizierung mit der Autoritätsperson entsteht somit das Über-Ich. Die in das Über-Ich übertragenen ursprünglichen Triebe, wie z. B. die Aggression, lassen nach Freud ihrerseits Schuldgefühle entstehen.167 Das Über-Ich, das über die negativen Triebe objektiv, d. h. als sei es eine außenstehende Autoritätsperson reflektiert, wird zur Quelle des Schuldgefühls, welches sich an das Ich in Form eines Vorwurfs für das Entstehen von Trieben richtet. Bei erwachsenen Menschen ändert sich dieses Modell lediglich insofern, als dass anstelle der Eltern die Gemeinschaft zur Identifikationsquelle mit der autoritativen Instanz wird.168 In beiden Fällen ersetzt das Über-Ich die äußere Autorität. Die Angst vor der Autorität wird ihrerseits zur Angst vor dem Über-Ich.169 Das Gewissen, das Freud im Über-Ich lokalisiert, entsteht demnach als Folge des Triebverzichts und entwickelt sich als eine Instanz, welche den weiteren Triebverzicht fordert.170 Aus der obigen Darstellung wird deutlich, dass die Funktion des Gewissens im Freudschen Modell eine Kontrollfunktion ist.171 Das unterbewusste Über-Ich wird zur Kontrollinstanz des Ich. Es stellt an das bewusste Ich Forderungen und überwacht deren Einhaltung. Das Gewissensverständnis Freuds muss analog zum Begriff des „schlechten Gewissens“ Nietzsches als ein nötigendes Gewissen verstanden werden. Aber das, was den psychoanalytischen Ansatz in einer besonderen Weise von einem philosophischen unterscheidet, ist die Konsequenz, dass die Gewissensnötigung eine Ursache für die Erkrankung des Menschen sein kann. Die ­psychoanalytische Gewissensdeutung Freuds trägt eine psychotherapeutische Intention, bestimmte psychische Erkrankungen als Folge der Gewissensnot zu deuten und dement-

165

Ebd., S. 88. Vgl. ebd., S. 94 f. 167 Ebd., S. 95. 168 Ebd., S. 88. 169 Ebd., S. 90. 170 Ebd., S. 91. 171 Vgl. Reiner, H., Die Funktionen des Gewissens, S. 304.

166

III. Positivierung des Gewissens

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sprechend zu behandeln.172 Seine Konzeption ermöglichte der Psychotherapie, Charakterstörungen und Neurosen als durch Gewissenseinwirkung ausgelöste Störungen der Sinnfindung und der Sinnrealisierung zu interpretieren.173 Eine seelische Krankheit erweist sich demnach als Missglücken der Lösung eines Gewissenskonflikts.174 Obwohl Freuds Gewissenskonzeption von nachfolgenden Psychologen nicht unkritisiert geblieben ist175, bildet sie die Grundlage für die Entwicklung moderner psychologischer Gewissensdeutungen. An ihr lässt sich am deutlichsten der psychologische Grundansatz erkennen, das Phänomen des Gewissens auf bestimmte äußere Einflüsse auf die menschliche Psyche zurückzuführen und ihre Auswirkungen auf die geistige und körperliche Verfassung des Menschen zu untersuchen. Es muss abschließend festgestellt werden, dass dem psychologischen Gewissensmodell ein positivistisches werteneutrales Gewissensverständnis zugrunde liegt.176 In Analogie zu Nietzsches Ansatz, das Gewissen genealogisch kulturgeschichtlich zu erklären, leitet der psychologische Ansatz den Gewissensbegriff genealogisch aus der Individualgeschichte der Autoritätsverinnerlichung her. Die Psychologie geht dabei deskriptiv vor und betrachtet das Gewissen als etwas im Prozess der Persönlichkeitsbildung Gewordenes. Das Auftreten des Gewissens wird somit aus der Ursache-Wirkungs-Beziehung von kontingenten empirischen Phänomenen erklärt.177 Mit Hilfe des Gewissensbegriffs sucht sie schließlich Aussagen über die seelischen Veranlagungen, individuelle Einstellungen und Verhaltensweisen zu machen, welche alsdann von der psychotherapeutischen Seite für die Erklärung von seelischen Erkrankungen herangezogen werden. Das psychologische Gewissensverständnis gründet auf der empirischen Erforschung seelischer Phänomene und verzichtet dabei auf einen Bezug zur moralischen Wertesphäre. Das psychologische Erklärungsmodell beeinflusst zum wesentlichen Teil  den gegenwärtigen common sense über das, was Gewissen bedeutet.178 Die Plausibilität der den Naturwissenschaften verwandten empirischen Methode, welche empirische Erkenntnisse in einen Kausalzusammenhang bringt und daraus Erkenntnisaussagen ableitet, lässt die psychologische Gewissensdeutung im alltäglichen Verständnis des „Mannes von der Straße“ als besonders plausibel179 erscheinen. 172

Vgl. Blum, E., Freud und das Gewissen, S. 168. Rüdiger, D., Der Beitrag der Psychologie zur Theorie des Gewissens und der Gewissensbildung, S. 467. 174 Blum, E., Freud und das Gewissen, S. 173. 175 Exemplarisch ist der Vorwurf von Jung zu nennen, Freuds Theorie sei einseitig, da sie das Gewissen um den in der Vernunft verankerten Aspekt des autonomen psychischen Antriebes verkürze. Vgl. Jung, C. G., Das Gewissen in psychologischer Sicht, S. 185 ff. 176 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 109. 177 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 36. 178 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 35. 179 Vgl. ebd., S. 32 f.; Dauner, P., Das Gewissen, S. 109. 173

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Es entsteht der Eindruck, dass gegenüber früheren Modellen mit ihrem verdunkelten Gewissensbegriff endlich die Klarheit geschaffen wird, was auch ein vermeint­ liches Gefühl der Aufklärung vermittelt.180 3. Funktionalistisches Gewissensverständnis bei Luhmann Die soziologische Gewissenskonzeption Niklas Luhmanns ist für die ideen­ geschichtliche Untersuchung des Gewissensbegriffs aus mehreren Gesichtspunkten interessant. Zum einen beinhaltet sie eine aufschlussreiche These über den Verlust des sittlichen Bedeutungselements im modernen Gewissensverständnis, woraus Aporien und Sinnwidrigkeiten in Gewissensdeutungen erklärt werden.181 Zum anderen stellt sein eigenes Konzept, den Gewissensbegriff durch die Funktion des Gewissens zu deuten, einen seinerzeit (1965) neuartigen modernen Ansatz dar, einen moralphilosophischen Begriff wirklichkeitswissenschaftlich orientiert182 zu beschreiben. Außerdem ist seine Konzeption gerade für die Betrachtung des Gewissensbegriffs im Hinblick auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit von einer besonderen Bedeutung, da sie in den sechziger Jahren als Reaktion auf das juristische Problem der Anerkennung von Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen entstanden ist und eine prägende Nachwirkung in der Praxis der Interpretation des Grundrechts der Gewissensfreiheit erfahren hat.183 Das Bemerkenswerte an Luhmanns Konzeption ist seine Diagnostizierung des gegenwärtigen Problems, dass unter dem Gewissen meist eine höchstpersönliche Instanz individueller Handlungsregulierung verstanden wird.184 Es wird erkannt, dass der Verlust des sittlichen Bedeutungselements im modernen Gewissensverständnis zur Unzugänglichkeit zum Gewissensphänomen und zu Inkonsequenzen bei der praktischen Beurteilung von Gewissenshaltungen führt: „Gewissen ist nicht mehr syn-eidesis, con-scientia, Ge-Wissen, gemeinsames Wissen, ist überhaupt kein Wissen mehr, sondern eine Art Eruption der Eigentlichkeit des Selbst, die man nur mit stauender Toleranz zur Kenntnis nehmen und respektieren, aber inhaltlich nicht überprüfen kann.“185

Eine individuelle von der objektiven Wertesphäre abgekoppelte Disposition über persönliche Gewissenshaltung hat nach Luhmann willkürliche Berufung auf das Gewissen zur Folge, was die Verwendung des Gewissensbegriffs problematisch macht, weil er nicht mehr von der bloßen Meinung unterscheidbar wird. Im 180

Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 35. Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 116; dazu näher im Abschnitt A. IV. 1. 182 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 258. 183 Auf die grundrechtsdogmatische Bedeutung des Gewissensmodells von Luhmann wird ausführlich im Abschnitt C. II. 2. dieser Arbeit eingegangen. 184 Vgl. unten, Abschnitt A. IV. 1. b). 185 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260 f. 181

III. Positivierung des Gewissens

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modernen Verständnis ist es daher zur Instanz individueller Handlungsregulierung geworden: „Das Gewissen ist höchstpersönlich geworden und verpflichtet deshalb nur persönlich.“186

Diesen Mangel sucht Luhmann durch seinen funktionalistischen Interpreta­ tionsansatz zu beheben. Bei der Auseinandersetzung mit dem Gewissensphänomen grenzt Luhmann seinen empirisch-wissenschaftlichen Ansatz von naturrechtlichen Erklärungs­ modellen ab. Den naturrechtlich fundierten Gewissenskonzeptionen hält er vor, dass ihre normative Grundlage eine Konsensfähigkeit impliziert, wo es jedoch bei Gewissensfragen meistens um „nichtinstitutionalisierbare normative Urteile geht, die eine Identität gegen Fakten sichern, ohne dafür auf Konsens angewiesen zu sein“187. Die naturrechtlichen wertegebundenen Gewissensbeschreibungen stützen sich außerdem auf etwas Vorgegebenes und Unveränderliches und legen damit die Reflexion über das Gewissensphänomen still. Durch das Naturrecht wird der zu behandelnde Gegenstand gegenüber sozialen Differenzierungen immobilisiert.188 Während klassische naturrechtliche Gewissenskonzeptionen das Gewissen im Hinblick auf die Übereinstimmung mit einer objektiv gültigen Wertesphäre interpretieren, so ist dagegen Luhmanns Ansatz auf eine empirische Untersuchung der Gewissensfunktion für die Persönlichkeitsstruktur ausgerichtet: „Die klassische ‚Logologie‘ des Gewissens hatte vor allem theologische und moralphilosophische Bezugsinteressen. Formeln wie ‚die Stimme Gottes in uns‘ oder ‚forum internum‘ sind aus solchen Kontexten heraus zu begreifen; sie artikulieren deshalb die Realität des Gewissens im Hinblick auf Perfektion. Die folgenden Überlegungen suchen einen anderen Zugang zum Phänomen mit Hilfe einiger Denkmittel der empirischen Wissenschaften; sie artikulieren deshalb die Realität des Gewissens im Hinblick auf ihre Funktion.“189

Obwohl das Gewissensphänomen sich nicht aus dem Bezug zu einer objektiven Werteordnung erklären lässt, ist seiner Ansicht nach damit noch nicht gesagt, „dass es in sozialer Isolierung entstehe und von den sozialen Systemen seiner Umwelt unabhängig sei“190. Durch die wirklichkeitsorientierte Untersuchung beabsichtigt Luhmann der Einengung des Gewissensbegriffs durch die wertethische allgemeine Unterscheidung von „gut“ und „böse“ zu entgehen und das Gewissensphänomen im Hinblick auf seine Funktion zu erklären.191 186

Ebd., S. 262. Ebd., S. 268. 188 Ebd., S. 262 f.; Luhmann, N., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 233 f.; s.a. Luhmann, N., Grundrechte als Institution, S. 39 f. 189 Luhmann, N., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 223. 190 Ebd., S. 237. 191 Vgl. Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 258. 187

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Nach Luhmanns Auffassung liegt „das Phänomen des Gewissens im Bereich derjenigen Strukturen und Prozesse […], die zur Selbstidentifikation der Persönlichkeit beitragen“192. Bei dieser Gewissensauffassung ist der Begriff der Identität der Persönlichkeit entscheidend. Nach Luhmanns Konzeption macht sich der Mensch selbst zu einem System, indem er eine Persönlichkeit ausbildet und sich eine Einheit des sinnvollen persönlichen Daseins schafft.193 Die Konsistenz der Persönlichkeit muss als Selbstidentifikation begriffen werden, wodurch dem Menschen eine individuell-sinnvolle widerspruchsfreie Selbstdarstellung ermöglicht wird. Der Mensch grenzt sich dabei von der Umwelt von Informationen ab, die er sich nicht selbst zurechnet, richtet das Erleben reflexiv auf seine eigene Identität und rechnet sich Handlungen zu.194 Die Identität der Persönlichkeit ist jedoch stets der Gefahr ausgesetzt, durch bestimmte Handlungsweisen, welche dem wesentlichen Persönlichkeitskern zuwiderlaufen, tangiert zu werden. Solche Fehlhandlungen können Konsistenz und Kontinuität von Persönlichkeitsstrukturen stören und damit das Vertrauen des Menschen in seine eigene Integrität infrage stellen.195 Das Gewissen fungiert dabei als diejenige Kontrollinstanz, welche über die Selbsterhaltung der Identität des Persönlichkeitssystems wacht.196 Im Gewissen wird über die Einheitsbewahrung der Persönlichkeit reflektiert. In einer zeitlichen Perspektive wird dort die Identität der Persönlichkeit, wer man ist und was man sein will, mit einer bevorstehenden Handlung, welche die Person zu einer anderen machen würde, konfrontiert.197 Die Funktion des Gewissens besteht darin, dass: „… das Gewissen […] zur Identifikation mit der Vergangenheit [zwingt], zu der Erkenntnis, daß ich auch jetzt noch für immer einer bin, der so handeln konnte. Das Gewissen fordert mich dann auf, in den Trümmern meiner Existenz die verbleibenden Möglichkeiten neu zu ordnen.“198

Die Gewissensfunktion muss demzufolge als normativ verstanden werden.199 Nicht weil das Gewissen sich auf eine objektive Werteordnung bezieht, sondern weil es in „zeitlicher Generalisierung von Verhaltenserwartungen“200 die menschliche Identität als Soll für sich selbst und als Maß für die Bewertung umwelt­

192 Luhmann, N., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 224. 193 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 264. 194 Vgl. Luhmann, N., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 224. 195 Vgl. Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 269. 196 Ebd., S. 264. 197 Ebd., S. 266 f. 198 Ebd., S. 267. 199 Ebd., S. 267. 200 Ebd., S. 268.

IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs

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abhängiger Handlungsmotive festhält. Der normative Charakter kommt dem Gewissensspruch als einer zeitübergreifenden, von der Änderung äußerer Umstände unabhängigen Forderung zu.201 Zusammenfassend muss festgestellt werden, dass Luhmann den Gewissens­ begriff aus der Struktur der individuellen Persönlichkeit ableitet. Der Verzicht auf material-ethische Festlegung führt in seiner Konzeption aber keineswegs zur subjektiven Willkür des Gewissensgebrauchs202, sondern schafft einen neuen Gewissensbegriff, der seinen normativen Charakter durch die maßstabsetzende Funktion, das konkrete Handeln an persönlicher Identität zu messen, erhält. Seine Gewissenskonzeption gründet auf empirischen Erkenntnissen über die Eigenart menschlicher Personalität. Dadurch beansprucht sie eine höhere Plausibilität als werte­ orientierte moralphilosophische Konzeptionen zu entfalten. Bei einer näheren Betrachtung des Gewissenskonzepts von Luhmann zeigt sich jedoch, dass sein systemtheoretischer Ansatz im Kern dem in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts angesetzten Prozess der Formalisierung des Gewissens entspricht. Die systemtheoretische Gewissenskonzeption erweist sich als Fortführung der seit Nietzsche und Schopenhauer einsetzenden Tendenz, das Gewissensphänomen aus kontingenten empirisch erfassbaren Zusammenhängen zu erklären. Auf gleiche Weise wird von ihm der Gewissensbezug zum Naturrecht für überwunden erklärt und stattdessen das Gewissen wirklichkeitsbezogen interpretiert. Ähnlich wie bei psychologischen Gewissenserklärungsmodellen erhebt Luhmann den Anspruch, durch die Wirklichkeitsorientierung den „Mangel an gedanklicher Durchdringung des [Gewissens-]Tatbestandes“203 zu überwinden und dem vermeint­ lichen Versagen der geisteswissenschaftlich-wertethischen Betrachtungsweise ein konsensfähiges empirisch fundiertes Modell gegenüber zu stellen. IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs Nachdem die einzelnen Stationen der ideengeschichtlichen Entwicklung des Gewissensbegriffs aufgezeigt wurden, wird im Folgenden ein Ausblick über die gegenwärtige Unbestimmtheit des Gehalts des Gewissensbegriffs und über die theoretische Verunsicherung bei der Auseinandersetzung mit dem Gewissensphänomen vorgestellt. Anschließend wird eine zusammenfassende Darstellung der Entwicklung des Gewissensbegriffs vorgenommen, in der vor allem die wesentlichen Veränderungen seiner theoretischen Darstellung in der Moderne hervorgehoben werden. Es wird insbesondere auf den Prozess der Abkopplung der Gewissenskonzeption von der objektiven Wertesphäre und auf die Formalisierung des Gewissensbegriffs eingegangen. 201

Ebd., S. 267. Ebd., S. 270. 203 Ebd., S. 258.

202

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

1. Der gegenwärtige Bedeutungsschwund Sowohl in der gesellschaftlichen als auch in der philosophischen Diskussion lässt sich gegenwärtig eine Unbestimmtheit über den Gehalt des Gewissens­ begriffs feststellen. Zum einen wird diese Unklarheit an dem zunehmend inflationären sprachlichen Gebrauch des Gewissensbegriffs deutlich. Zum anderen muss eine Tendenz zur Privatisierung der Wertesphäre festgestellt werden, wodurch die Unbestimmtheit über die Bedeutung vom „Gewissen“ vorangetrieben wird. Auch in der philosophischen Diskussion scheint der Gewissensbegriff keine zentrale Rolle mehr zu spielen. Im Folgenden wird auf die Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs deskriptiv eingegangen und ihre gegenwärtige Ausprägung sowohl im Sprachgebrauch und in den gesellschaftlichen Diskursen als auch in den philo­ sophischen Auseinandersetzungen verdeutlicht. a) Sprachlich Schon allein auf der Ebene des alltäglichen Sprachgebrauchs lässt sich gegenwärtig ein Schwund der Möglichkeiten einer plausiblen Verwendung des Gewissensbegriffs feststellen.204 Stefan Hübsch konstatiert in seiner Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Situation der Gewissenssprache, dass den Sprachakteuren zunehmend der Spielplan abhanden kommt, nach dem sich der einschlägige Umriss und ein eindeutiger Begriffsgehalt vom „Gewissen“ feststellen lässt.205 Auf der einen Seite wird von Hübsch der Rückgang der Gewissenssprache hervorgehoben, der sich darin zeigt, dass die Redewendungen mit dem Bezug auf das Gewissen, sei es als Bezug zu einem Gegenstand (z. B.: „Das Gewissen zeigen“), sei es als eine Qualifikation durch ein Adjektiv (z. B.: „Das schlechte Gewissen“) oder auch im Kontext einer Tätigkeitsbeschreibung (z. B.: „Jemanden ins Gewissen reden“) zunehmend dem allgemeinen Sprachgebrauch entrücken.206 Die Stagnation der Gewissensprache ist auf der anderen Seite vom Schwund der Möglichkeiten begleitet, den Bedeutungsgehalt des Gewissensbegriffs plausibel zu machen.207 Während einerseits der Anwendungsbereich des öffent­lichen Gebrauchs dieses Begriffs zunehmend eingeschränkt wird, ist andererseits die sprachliche Reflexivität auf den mit dem Gewissensbegriff bezeichneten Gegenstand von einer Entgrenzung gezeichnet.208 Die Berufung auf das Gewissen nimmt die Gestalt einer taktisch motivierten Begründung von beliebigen individuellen Standpunkten an. Das Gewissen wird als ein letztinstanzlicher argumenta­ tiver Rechtfertigungsgrund für jede mögliche subjektive Haltung herangezogen. 204

Dazu grundlegend: Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 22 ff. Vgl. ebd., S. 24. 206 Vgl. ebd., S. 24–25. 207 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 95. 208 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 26.

205

IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs

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Es wird verwendet, um einer Äußerung die Qualität einer wertegebundenen Aussage zu verleihen (z. B.: „Mein Gewissen sagt, dass …“). „Die Sprachpraxis bleibt dabei allerdings kriteriell derart vage, dass nicht mehr erkennbar ist, wodurch sich der Gewissensbegriff über den bloßen Subjektbezug bzw. über die subjektive Willkür hinaus“ als etwas Sittlichkeitsbezogenes auszeichnet.209 Insofern wird das Gewissen zum Inbegriff einer undurchschaubaren Privatsache210 und sein öffentlicher Gebrauch zeichnet sich durch eine zunehmende Inflationierung ab. Beide Entwicklungen – der Rückgang der reflexiven Gewissenssprache, die das Gewissen als einen Gegenstand der Erfahrung abbildet, und die Inflationierung des sprachlichen Gewissensgebrauchs – weisen aufeinander hin und bedingen einander.211 In dem Maße, wie die metaphorische Reflexivität auf das Gewissensphänomen im öffentlichen Sprachgebrauch schwindet, nimmt die Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs aufgrund der individuellen Disposition über seinen Begriffs­ gehalt zu. Im Endeffekt geht die Orientierungsbasis für den Begriffsgebrauch verloren und die alltagssprachliche Verwendung des Gewissensbegriffs wird zunehmend gegenstandslos. b) Gesellschaftlich Die sprachliche Marginalisierung des Gewissensbegriffs spiegelt im Grunde die steigende Unbestimmtheit des Gewissens im gesellschaftlichen Diskurs wider. In öffentlichen Diskussionen nimmt das Gewissens-Argument einerseits einen appellativen Charakter an. Der Appell an das Gewissen wird vor allem dort eingesetzt, wo das spezifische Handeln keinen eindeutigen Regelungsbereich aufzuweisen hat.212 Als Beispiel kann der öffentlich aufgebaute Druck auf das „Gewissen“ von Finanzmarktmanagern infolge der Finanzkrise von 2008 dienen, als die offenbar lückenhafte Regelung des Bonusauszahlungsverfahrens zunächst mit einem öffentlichen Appell an das „Gewissen“ von den Finanzmarktakteuren bei der Formulierung ihrer Prämienansprüche aufgegriffen wurde. Der appellative Bezug auf das Gewissen gibt allerdings nicht zu erkennen, auf welche ethischen Grundsätze genau die Forderung nach der Gewissenhaftigkeit abzielt. Vielmehr wird mit einem solchen strategischen Gewissensappell der Handlungswille des Einzelnen herausgefordert. Der instrumentelle Gewissensaufruf kann aber genauso gut auch für jeden anderen beliebigen Gegenstand eines möglichen praktischen Interesses verwendet werden.213 Auf welche ethischen Kategorien der appellative Gewissensbegriff sich eigentlich bezieht, bleibt bei seiner Verwendung jedoch unbestimmt.

209

Dauner, P., Das Gewissen, S. 93. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 26. 211 Ebd., S. 25. 212 Vgl. ebd., S. 29. 213 Ebd., S. 29.

210

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Eine andere Form des gegenwärtig bevorzugten öffentlichen Gewissensgebrauchs besteht in der Aufwertung von individuellen Standpunkten durch das Gewissensargument. Diese Tendenz wird insbesondere von Luhmann treffend beschrieben, wenn er feststellt, dass die Abkopplung von der objektiven Wertesphäre zur Verinnerlichung des sittlichen Bewusstseins führte und dass unter dem Gewissen nunmehr eine höchstpersönliche Instanz individueller Handlungsregulierung verstanden wird.214 Der Verweis auf das eigene Gewissen erfolgt als Begründung für eine bestimmte Haltung (z. B.: „Ich beziehe Position „x“ aufgrund meines Gewissens.“). Es fungiert dabei als ein letztinstanzliches Argument für eine bestimmte Handlung, das aber genauso gut auch durch die Begriffe wie „Ehre“ oder „tiefe Überzeugung“ ersetzt werden könnte. Mit der Berufung auf das eigene Gewissen wird das Bewusstsein einer persönlichen sittlichen Verpflichtung zum Ausdruck gebracht „und bestimmte Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen letztgültig gerechtfertigt“215. Dabei wird mit dem Gewissensargument der jeweilige individuelle Standpunkt als eine „isolierte Privatsache“216 vermittelt, die ihren Wert allein aus sich selbst schöpft. Man zieht sich „auf eine nicht mitteilbare und für Diskussionen unzugängliche Position“217 zurück und das „Gewissen“ wird zu einem ethischen Argument, dessen Gültigkeit zu hinterfragen nicht mehr zulässig ist. Insofern wohnt dem autonomen individualisierten Gewissen eine Tendenz zur moralischen Selbstrechtfertigung inne.218 Sie birgt aber zugleich die Gefahr in sich, dass der kriterienlose Gewissensgebrauch zu einem schrankenlosen wird.219 Auf diese Weise kann jeder beliebige Standpunkt als ein Gewissensfall ausgewiesen werden. Ohne die Referenz auf objektive moralische Normativität führt es zur Verabsolutierung der jeweiligen eigenen Position. Da das individualisierte Gewissen nicht zur Konfrontation mit dem Anspruch der sittlichen Wahrheit führt, sondern der Legitimation individueller Handlungsentwürfe dient, bleibt es gegenüber jedem normativen Diskurs verschlossen.220 Mit dem Gewissensargument wird die Diskursebene verlassen und ein letztgültiger individueller Standpunkt postuliert. Es bleibt dabei jedoch undurchschaubar, wodurch die Gewissenshaltung ihre sittliche Größe empfängt. Die Subjektivität und die Individualität werden zum „allein noch sicher stehenden Kriterium“ für die sittliche Qualifikation des jeweiligen Gewissensstandpunktes.221 Der willkürliche 214

Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260, 262. Dauner, P., Das Gewissen, S. 93. 216 Ebd., S. 97. 217 Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 29. 218 Schockenhoff, E., Das Gewissen: Quelle sittlicher Urteilskraft und personaler Verant­ wortung, S. 4. 219 Dauner, P., Das Gewissen, S. 96. 220 Schockenhoff, E., Das Gewissen: Quelle sittlicher Urteilskraft und personaler Verant­ wortung, S. 7. 221 Dauner, P., Das Gewissen, S. 96. 215

IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs

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öffentliche Gebrauch des Gewissensbegriffs lässt die Grenze zwischen einer Gewissenshaltung und einer bloßen Meinung schwinden und der Bedeutungs­gehalt von „Gewissen“ wird unscharf. Die individualisierte Berufung auf das Gewissen ist daher von der Marginalisierung des Gewissensverständnisses und dem Verlust der sittlichen Qualität des Gewissensarguments in seiner öffentlichen Verwendung gezeichnet. c) Philosophisch Auch in gegenwärtigen philosophischen Diskussionen scheint der Gewissensbegriff keine bedeutsame Rolle mehr zu spielen. Nach Ansicht zahlreicher Autoren befindet sich die Gewissenstheorie in einer „desolaten Lage“222, da der Gewissensbegriff keinen festen Diskussionsbestandteil der gegenwärtigen Philosophie mehr darstellt.223 Zwar finden gelegentlich Symposien und Podiumsdiskussionen zur Gewissensthematik statt, die Auseinandersetzung mit dem Gewissen erfolgt jedoch nicht in Form eines kontinuierlichen moralphilosophischen Diskurses und ist losgelöst vom übrigen ethischen Diskussionsforum.224 Es kann keine einheitliche Auseinandersetzung mit dem Gewissensphänomen beobachtet werden und die Beschäftigung mit dem Gewissen erfolgt zunehmend in partikularen zumeist sozio­logisch und psychologisch orientierten Arbeitskreisen.225 Wie bereits dargestellt, tendieren die modernen soziologischen und psychologischen Auseinandersetzungen mit dem Gewissen vornehmlich zu einer Desavouierung226 des diesem Begriff zugrundeliegenden Phänomens, indem sie ihn funktionalistisch auf kontingente Ursachen zurückführt. Die deontologische Gesinnungsethik als Ganzes scheint überdies zu einem „Auslaufmodell“227 geworden zu sein und durch die teleologische (der Entwicklung moderner Wissenschaft und Technik scheinbar adäquatere)228 Verantwortungsethik abgelöst zu werden. Der Verantwortungsbegriff als eine zentrale ethische Kategorie hat seit dem 18. Jahrhundert eine „steile Karriere“229 gemacht und ist nicht nur im gegenwärtigen ethischen Diskurs, sondern auch im politischen und wissenschaftlichen Forum beherrschend. Nicht mehr die Motivation des einzelnen 222

Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 54. Vgl. dazu: Dauner, P., Das Gewissen, S.  123; Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 68; Schröder, R., Der drohende Verlust des Gewissens: Moral als „paradigm lost“, S. 52 f.; Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S.  114; Lenk, H., Einführung in die angewandte Ethik, S. 25; Blühdorn, J-G., Das Gewissen in der Diskussion, S. 4 f. 224 Dauner, P., Das Gewissen, S. 123. 225 Vgl. Braun, W., Was wird heute unter Gewissen verstanden?, S. 47 f.; Lenk, H., Einführung in die angewandte Ethik, S. 25. 226 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 40. 227 Dauner, P., Das Gewissen, S. 124. 228 So ebd., S. 132. 229 Bayertz, K., Verantwortung als Reflexion, S. 99. 223

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Subjekts wird zum Gegenstand ethischer Reflexionen, sondern die Folgenabschätzung des kollektiven Handelns. Mit dem Verantwortungsbegriff werden synergetische Effekte aus dem Zusammenwirken unzähliger einzelner Akteure umspannt (wie z. B. der Einfluss des Kohlendioxidausstoßes auf das Klima) und zu ethischen Konzeptionen der Verantwortungsverteilung umgewandelt.230 Der individuelle Gewissensbegriff erweist sich im Kontext dieser Modelle als nicht mehr ausschlaggebend. Während die Anzahl verantwortungsethischer Ansätze mittlerweile unüberschaubar geworden ist, ist die Idee des individuellen Gewissens als Ausgangspunkt ethischer Theorien in den Hintergrund getreten.231 Die Verdrängung des Gewissensbegriffs äußert sich allerdings nicht nur in der Bedeutungszunahme teleologischer Konzepte, sondern ist auch in den sich an Kantische Deontologie anknüpfenden ethischen Konzeptionen zu beobachten. Gemeint ist speziell die Diskursethik von Habermas, die bei ihrer Begründung des Geltungsgrunds moralischer Normen auf den Gewissensbegriff weitgehend verzichtet. Einerseits weist der diskursethische Grundansatz eine Übereinstimmung mit der kantischen Position auf, wenn er an die Vorstellung eines normativen all­gemein bindenden Vernunftprinzips anknüpft.232 Es wird nach der Sollgeltung von moralischen Normen gefragt und er sucht diese durch ein formales Universalisierungsprinzip rational zu begründen. Insofern ist dieser Grundansatz genauso wie Ethik von Kant deontologisch, formalistisch, universalistisch und kognitivistisch orientiert.233 Andererseits verortet die diskursethische Konzeption den Geltungsgrund moralischer Normen in der Struktur des kommunikativen Diskurses, und nicht – wie beim Gewissensbegriff – im einzelnen Subjekt.234 Der entscheidende Unterschied zum subjektintrovertierten Moralitätsprinzip wird von Habermas auf folgende Weise dargestellt: „In der Diskursethik tritt an die Stelle des Kategorischen Imperativs das Verfahren der moralischen Argumentation. Sie stellt den Grundsatz >D< auf: – daß nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden können. Zugleich wird der Kategorische Imperativ zu einem Universalisierungsgrundsatz >U< her­ abgestuft, der in praktischen Diskursen die Rolle einer Argumentationsregel übernimmt: – bei gültigen Normen müssen Ergebnisse und Nebenfolgen, die sich voraussichtlich aus einer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der Interessen eines jeden ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden können. […] 230

Dauner, P., Das Gewissen, S. 134 f. Ebd., S. 135. 232 Habermas, J., Erläuterungen zur Diskursethik, S. 11 f. 233 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 69. 234 Ebd., S. 71.

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IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs

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Jeder, der ernsthaft den Versuch unternimmt, an einer Argumentation teilzunehmen, läßt sich implizit auf allgemeine pragmatische Voraussetzungen ein, die einen normativen Gehalt haben; das Moralitätsprinzip läßt sich dann aus dem Gehalt dieser Argumentations­ voraussetzungen ableiten, sofern man nur weiß, was es heißt, eine Handlungsnorm zu recht­ fertigen.“235

Demnach wird der Gehalt des moralischen Prinzips nicht in der sittlichen Persönlichkeit, sondern im forum externum des Diskurses ausgewiesen, wo die Geltungsansprüche moralischer Normen durch die Kommunikationsgemeinschaft erhoben und vertreten werden.236 Weil aber das Gewissen im Sinne klassischer Deontologie als eine subjektive Rezeption des moralisch Verbindlichen gedacht werden muss, wird es von der Diskursethik, der zufolge die Normbegründung erst durch die kommunikative Reflexion erfolgt, in dieser ursprünglichen Bedeutung nicht übernommen. Es ist das Reflexionswissen und nicht das Gewissen, das den Grund der moralischen Verbindlichkeit bildet.237 Die Diskursethik erarbeitet daher die Grundlage der praktischen Verbindlichkeit, ohne auf den Gewissensbegriff zurückzugreifen. Allerdings wird in der Diskurstheorie auf den Gewissensbegriff nicht vollständig verzichtet. Er erscheint im Kontext einer praktischen Bedingung eines gesellschaftlichen Diskurses, wonach die Diskursteilnehmer „stark internalisierte Gewissenskontrollen“ und „verhältnismäßig abstrakte Ich-Identität“ zur Einhaltung von Kommunikationsregeln des Diskurses herausbilden.238 Die Gewissensherausbildung vollzieht sich mit der Sozialisation, wo die Geltung von Normen kommunikativen Handelns, deren Verletzung zur Sanktionierung durch ein „Schuldgefühl“ führt, verinnerlicht wird.239 Durch die Internalisierung äußerer Sanktionen herausgebildete Gewissensinstanz240 der abstrakten Ich-Identität fordert die Einhaltung von Argumentationsregeln des Diskurses und reagiert auf die Verletzung von Normen verständigungsorientierten Handelns.241 Das so verstandene Gewissen bezieht sich auf eine der Bedingungen der Einhaltung moralischer Regeln  – auf die diskursorientierte Persönlichkeitsstruktur  – und nicht auf die Begründung der Geltung von moralischen Normen. Insofern beschreibt der diskursethische Gewissensbegriff nur eine Randbedingung von Moralität und Sittlichkeit.242 Der obige Ausblick über die gegenwärtige Situation des Gewissens in gesellschaftlichen und philosophischen Diskussionen macht deutlich, dass über das Ge-

235

Habermas, J., Erläuterungen zur Diskursethik, S. 12 f. Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 69, 74. 237 Ebd., S. 77. 238 Habermas, J., Erläuterungen zur Diskursethik, S. 25. 239 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 78. 240 Habermas, J., Erläuterungen zur Diskursethik, S. 151. 241 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 72 f. 242 Ebd., S. 73.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

wissen zu reden nicht gerade modern ist.243 Es gibt keine sicheren Maßstäbe, an denen der Bedeutungsgehalt des Gewissens plausibilisiert werden könnte. Vor allem im gesellschaftlichen Forum kann eine zunehmende Privatisierung der Wertesphäre beobachtet werden, wo die subjektiven Standpunkte einzelner Individuen allein durch den Hinweis auf das subjektive Gewissen eine moralische Geltung beanspruchen. „Damit befindet sich das Gewissen permanent in der Unbestimmtheit, […] sich auf woher auch immer kommende normative Größen zu beziehen.“244 2. Der Übergang zum modernen Gewissensbegriff Zum Ausgangspunkt der Darstellung der Wandlung des Gewissensbegriffs in der ideengeschichtlichen Tradition wird die im vorangegangenen Kapitel dargestellte Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs in der Gegenwart genommen. Durch eine kritische Betrachtung der ideengeschichtlichen Entwicklung des Gewissensverständnisses werden Veränderungen deutlich gemacht, welche der moderne Gewissensbegriff gegenüber klassischen naturrechtlich fundierten Gewissenskonzeptionen erfahren hat und welche für die gegenwärtige Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs ausschlaggebend sind. Ein besonderer Schwerpunkt der nachfolgenden Auseinandersetzung wird auf die Darstellung der sich auf die kontingente Lebensrealität stützenden Gewissenskonzeptionen und ihrer Auswirkung auf das moderne Gewissensverständnis gelegt. Die gegenwärtige Relativierung des Gewissensbegriffs in Form der Verinnerlichung des sittlichen Bewusstseins wird in der Analyse des modernen Gewissensverständnisses durch Niklas Luhmann auf die neuzeitliche Abkopplung der Gewissenskonzeptionen von der objektiven theologischen bzw. naturrechtlichen Wahrheitssphäre zurückgeführt.245 Luhmann beschreibt die klassischen Gewissenskonzeptionen als Modelle, bei denen das Gewissen als ein Vermögen des subjektiven Zugriffs auf objektive Wahrheitssphäre im Hinblick auf die Perfektion, d. h. im Sinne der Übereinstimmung mit der höheren Natur begriffen wird.246 Die neuzeitliche Interpretation des Gewissensbegriffs hat seiner Ansicht nach den „Recht und Gewissen übergreifende(n) Wahrheitskosmos gesprengt und durch sehr viel komplexere, differenziertere Vorstellungen ersetzt“247, in denen jedoch offen gelassen wird, ob die Gewissenssprüche wahr sind.248 Nach der Abkopplung von der Vorstellung über die objektiven Moralitätsgrundlagen kann das Gewissen nunmehr lediglich Respektierung von individuellen Positionen verlangen, nicht 243

Vgl. Braun, W., Was wird heute unter Gewissen verstanden? S. 47. Ebd., S. 88. 245 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260. 246 Luhmann, N., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 223. 247 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260. 248 Ebd., S. 259. 244

IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs

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aber den Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben.249 Aus diesem Grund besitzt der Gewissensbegriff nunmehr lediglich einen relativen Bedeutungsgehalt. Obwohl in ihrer Beschreibung der gegenwärtigen Situation des Gewissensbegriffs zutreffend, muss Luhmanns These über die „Abkopplung von der objektiven Wahrheitssphäre“ differenziert betrachtet werden. Eine nähere Darstellung des Übergangs zum modernen Gewissensbegriff lässt deutlich werden, dass entgegen seiner Auffassung die Relativierung des Gewissensverständnisses nicht in der Neuzeit, sondern erst mit seiner Positivierung in der Moderne einsetzte. Die These über die Abkopplung der Gewissensauffassungen von einer naturrechtlich fundierten Grundlage und über die darauf folgende Verinnerlichung und Relativierung des sittlichen Bewusstseins in Form der Aufwertung individueller Standpunkte darf nicht auf die Weise gedeutet werden, dass diese Tendenz bereits bei neuzeitlichen subjektbezogenen Gewissenskonzeptionen anhebt. Dieses Missverständnis kann dann entstehen, wenn man die neuzeitliche Subjektzentrierung mit der Verinnerlichung des sittlichen Bewusstseins in dem Sinne gleich setzt, dass man die Abkopplung vom theologisch fundierten Naturrecht als Grund für das Hervortreten der subjektiven Beliebigkeit im Verständnis des Moralischen versteht. Es muss dagegen betont werden, dass die neuzeitliche Subjektzentrierung keineswegs die Individualisierung moralischer Positionen zur Folge hatte, was am deutlichsten an der moralphilosophischen Gewissenskonzeption Kants zu beobachten ist.250 Die objektivierte naturrechtliche Theorie wurde in der Neuzeit vielmehr durch den moralphilosophischen Ansatz abgelöst, objektive Moralitätsgrundlagen ausgehend von der spezifischen Natur des vernunftbegabten Subjekts zu begründen. Damit zeigt sich, dass in der Neuzeit ein Moralitätskonzept aufgekommen ist, das zwar nicht vom objektiven theologisch fundierten Naturrecht ausgeht und dennoch einen Typus des Naturrechts – das Vernunftrecht – darstellt. Der Grundansatz, die Moralität des Menschen aus der Vernunftnatur zu erklären, begründet ein 249

Vgl. ebd., S. 262. Gerade die einflussreichsten neuzeitlichen Philosophen, Kant und Hegel, wehrten sich vehement gegen Gewissens- und Moralitätsauffassungen, wonach die Begründung mora­lischer Werte dem Belieben einzelner Individuen überlassen wird. So wendet sich beispielsweise ­Hegel explizit gegen eine einseitige Hervorhebung des „formellen“ GewissenS. Vor allem zeigt aber Kant die Möglichkeit eines zwar im Subjekt verankerten und dennoch Allgemeingültigkeit beanspruchenden Moralitätsmaßstabs auf. Kants Position macht deutlich, dass die Moralität gerade nicht aus einem subjektiven moralischen Gefühl heraus begründet wird (So aber Kant-Verständnis von Luhmann: „Ensprechend wurde das Gewissen subjektiv im moralischen Gefühl (Kant) […] lokalisiert“, in: Luhmann, N., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 236), sondern aus der Vernunfteinsicht in die Notwendigkeit heraus folgt. Die Moralität einer Handlung wird bei Kant nicht durch ein kontingentes Belieben, sondern anhand eines jedem Vernunftwesen immanenten normativen Maßstabs, den kategorischen Imperativ, beurteilt. Das moralische Handeln beruht also nicht auf einer subjektiven Normsetzung, sondern auf der subjektiven Einsicht in das objektiv Notwendige. Demnach darf die sittliche Autonomie nicht als Freiheit im Sinne subjektiver Beliebigkeit verstanden werden, sondern als Freiheit zur Selbstbestimmung aus der Vernunfteinsicht in das Notwendige. s. o. Abschnitt A. II. 2. 250

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Modell, wonach der Mensch kraft seiner Vernunft das objektiv Notwendige autonom zu durchschauen vermag. Die gegenwärtige Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs und die Verinnerlichung des sittlichen Bewusstseins hat folglich nicht allein in der Abkehr vom theologisch fundierten Naturrecht, sondern auch in der Loslösung von dem vernunftrechtlichen Modell ihre Gründe. Nach Ansicht von Hannah Arendt hat der Glaubensverlust in der Moderne nicht nur den Glauben an Gott, sondern ebenso das Vertrauen auf die menschliche Vernunft erschüttert.251 In diesem Sinne schreibt auch Husserl: „Die Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit einer Metaphysik, der Zusammenbruch des Glaubens an eine universale Philosophie als Führerin des neuen Menschen, besagt eben den Zusammenbruch des Glaubens an die ‚Vernunft‘, so verstanden, wie die Alten die Episteme der Doxa gegenüber setzten. Sie ist es, die allem vermeintlich Seienden, allen Dingen, Werten, Zwecken letztlich Sinn gibt nämlich ihre normative Bezogenheit auf das, was seit den Anfängen der Philosophie das Wort Wahrheit – Wahrheit an sich – und korrelativ das Wort Seiendes bezeichnet.“252

Der Schwerpunkt dieser Entwicklung liegt daher nicht in der subjektzentrierten Philosophie der Neuzeit, sondern bei den Formalisierungs- und Positivierungstendenzen253 in moralphilosophischen Ansätzen seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Wenn man diese Tendenzen im Hinblick auf die im Abschnitt A. III. dargestellten moralphilosophischen Konzeptionen von Nietzsche und Schopenhauer und psychologische und soziologische Gewissensmodelle betrachtet, so muss die Formalisierung des Gewissensbegriffs als Folge der Schwerpunktverschiebung bei den Moralitätserklärungsansätzen auf die kontingente Lebensrealität des Menschen ausgewiesen werden. Es ist eine Verschiebung des philosophischen Interesses an der Welt, d. h. an der allgemeinen Natur des Seienden und ihrer Ausprägung im einzelnen Individuum im Besonderen hinweg zur unmittelbaren Lebensrealität des Menschen.254 Dieser Vorgang setzt sich vor allem mit „Nietzsches „umgekehrte(n) Platonismus“, seine(r) Betonung des unmittelbar lebendig und sinnlich Gegebenen im Gegensatz zu den übersinnlichen, transzendentalen Ideen, nach denen seit Plato das Gegebene gemessen, beurteilt und mit Sinn erfüllt worden war …“255 an. Das moralische Vermögen des Menschen wird nunmehr nicht aus dem Bezug zu transzendenten Maßstäben oder aus der transzendentalen Betrachtung seiner Vernunftnatur erklärt, sondern aus den unmittelbar zugänglichen innerpersonellen und gesellschaftlichen Relationen. Dieser Prozess kann mit Charles Taylor auch als der Aufbruch der „immanenten Gegenaufklärung“ beschrieben werden, welche die 251

Arendt, H., Tradition und die Neuzeit, S. 28. Husserl, E., Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, S. 10. 253 Ebd., S. 4. 254 Vgl. Arendt, H., Was ist Politik?, S. 23 f. 255 Arendt, H., Tradition und die Neuzeit, S. 30. 252

IV. Die Situation des modernen Gewissensbegriffs

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naturalistische Bejahung des Lebens in all seinen Erscheinungsformen bedeutet und wo jegliche Ordnung und jeglicher Sinn vom Menschen her ausgeht.256 Sie nimmt „eine dritte Position jenseits der Religion und des säkularen Humanismus ein und lehnt sowohl das Christentum als auch die Aufklärung ab“257, denen sie Irrationalität, Hochmut und Elitedenken (im Fall der Religion) vorwirft oder den Egalitarismus, die Unterdrückung der Vitalität, Leidenschaftsfeindlichkeit und der Kreativität (im Fall des neuzeitlichen Humanismus) zum Vorwurf macht.258 „Sie rebelliert gegen den […] Humanismus, der die moderne Kultur dominiert. Aber zugleich lehnt sie alle bisherigen, ontisch fundierten Auffassungen von Transzendenz ab.“259 Im Zuge der immanenten Gegenaufklärung werden Ansätze aufgegriffen, welche die Moralität aus der Immanenz des menschlichen Lebens erklären. Damit wendet man sich nicht nur gegen das theologisch fundierte Naturrecht, sondern auch gegen den neuzeitlichen subjektbezogenen Humanismus. Das Aufkommen der Positivierung des Gewissens und die Verinnerlichung des sittlichen Bewusstseins infolge der Abkehr von objektiven Wertegrundlagen können somit erst mit der Formierung von den sich auf die Immanenz stützenden Moralitätskonzeptionen in Verbindung gebracht werden. Mit den moralphilosophischen Gewissenskonzeptionen Schopenhauers und Nietzsches wird somit eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts sich verbreitende Tendenz zur Relativierung des Gewissensbegriffs markiert. Bei Schopenhauer ist diese Entwicklung durch die Reduktion der Moralität auf kontingente Bewusstseinsphänomene vorgezeichnet. Bei Nietzsche, obwohl ihm ein Geschichtsrelativismus nach Ansicht von Stefan Hübsch zu Unrecht vorgehalten wird260, ist dennoch eine Relativierungstendenz in Form der Referenz des souveränen Gewissens auf seine kulturgeschichtlichen Grundlagen zu erkennen. Für die Relativierung des Gewissensbegriffs ist die Fokussierung beider Philosophen auf kontingente Bedingungen des moralischen Bewusstseins ausschlaggebend. Der Prozess der Naturalisierung von moralischen Phänomenen, wie z. B. des Gewissens, wurde weiterhin vom Aufstieg der modernen Wissenschaftlichkeit begleitet. Im Positivierungsprozess des Gewissens nehmen insbesondere die zu Beginn des 20.  Jahrhunderts zunehmend einflussreicheren Wissenschaften der Psychologie und Soziologie eine zentrale Stellung ein. Die Gewissenstheorie emanzipiert sich allmählich von der Vorherrschaft der Philosophie und wird zur Hoheit von empirisch forschenden Gesellschaftswissenschaften.261 Der Gewissensbegriff wird dabei durch deskriptive Beschreibung bestimmter innerpersonel 256 „‚Immanent‘ heißt sie deshalb, weil sie auf keine transzendente Realität Bezug nimmt.“ (Taylor, Ch., Das säkulare Zeitalter, S. 693). 257 Di Fabio, U., Zur Aufklärung der säkularisierten Gesellschaft, S. 692. 258 Taylor, Ch., Das säkulare Zeitalter, S. 264; vgl. Di Fabio, U., Zur Aufklärung der säkularisierten Gesellschaft, S. 692. 259 Taylor, Ch., Das säkulare Zeitalter, S. 627. 260 Dazu: Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 134 f., 137, 139. 261 Ebd., S. 36.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

ler Phänomene erschlossen. Sein Bedeutungsgehalt wird nicht mehr aus ideellen moralphilosophischen Grundannahmen deduziert, sondern anhand von empirisch beobachtbaren Vorgängen expliziert. Das jeweilige Gewissensmodell beansprucht dabei die „eigentliche“ Erklärungsform des Gewissensphänomens zu erarbeiten262 und hebt einen besonderen Vorzug seiner Wissenschaftlichkeit aufgrund der empirischen Forschungsmethode hervor.263 Durch die empirische Zugangsweise wird versucht, eine höhere Plausibilität des Gewissensbegriffs als bei den bisherigen wertetheoretischen Konzeptionen zu erreichen und eine besondere Praktikabilität zu gewinnen. Es muss zusammenfassend festgestellt werden, dass mit dem Aufkommen der Tendenz zur wirklichkeitsorientierten Interpretation des Gewissensphänomens der Gewissensbegriff seine klassische moralphilosophische Bedeutung eingebüßt hat und das Gewissensverständnis von einer Formalisierung gekennzeichnet wurde. Zum einen muss mit Luhmann festgestellt werden, dass mit der Abkopplung des Gewissensbegriffs von den objektiven normativen Moralitätsauffassungen (wobei, wie oben erläutert, zu objektiven moralphilosophischen Konzeptionen auch die neuzeitliche vernunftrechtliche Moralitätskonzeption zugerechnet werden muss) die Plausibilität seiner Verwendung schwindet und das Gewissen jeder praktischen Handhabung entgleitet.264 Dies hat die von Luhmann dargestellte Folge, dass das Gewissen lediglich Respektierung von individuellen Positionen verlangen, nicht aber den Anspruch auf Wahrhaftigkeit erheben kann.265 „Mit der abhandengekommenen Beziehung auf eine […] objektive Wertesphäre hat sich die Eindeutigkeit, Verlässlichkeit und sittliche Plausibilität des Gewissens verflüchtigt.“266 Zum anderen muss hervorgehoben werden, dass die Relativierung des Gewissensbegriffs insbesondere mit dem Aufkommen der Tendenz zur wirklichkeitsorientierten Gewissensdeutung aus den unmittelbar zugänglichen innerpersonellen und gesellschaftlichen Relationen ansetzte (damit muss Luhmanns Gewissensmodell selbst in die Reihe der gewissensrelativierenden Ansätze eingeordnet werden267). Die „genetisierende Enttarnung“268 des Gewissens hat zur Folge, dass mit dem Gewissensbegriff nicht mehr die Sphäre der menschlichen Moralität beschrieben wird, sondern die kontingenten Einflüsse auf die menschliche Personalität. Dem Gewissensbegriff kommt damit seine ursprüngliche Bedeutung als ein subjektiver Bezug zum Moralischen abhanden und er verliert seine essenzielle Bedeutungsgrundlage. Indem sein Bedeutungsgehalt von dem jeweiligen gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsgegenstand abhängig gemacht wird (sei es die

262

Ebd., S. 37. Ebd., S. 45 f. 264 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260. 265 Vgl. ebd. S. 262. 266 Dauner, P., Das Gewissen, S. 84. 267 Vgl. Abschnitt A. V. 2. 268 Dauner, P., Das Gewissen, S. 112.

263

V. Das Gewissen als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit 

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psychotherapeutische Intention oder die Intention, personelle Identität des Menschen als eines sozialen Akteurs zu beschreiben), wird er relativiert. Im Ergebnis steht eine Pluralität von Zugangsweisen und Erklärungsmodellen zu diesem Begriff, ohne dass klar wird, was die einzelnen Modelle in ihrem Verständnis vom „Gewissen“ verbinden könnte. Mit dem Abhandenkommen des ursprünglichen normativen moralphilosophischen Gehalts und mit der Relativierung, der Positivierung und der Funktionalisierung des Gewissensbegriffs ist das Fundament für die gegenwärtige Unbestimmtheit und für die im vorigen Kapitel dargestellte gegenwärtige theoretische Verunsicherung in der moralphilosophischen Diskussion über das Gewissen gelegt worden. Die obige Darstellung der gegenwärtigen Orientierungs- und Verständnisprobleme im Bezug auf das Gewissen darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die moderne Verunsicherung über den Bedeutungsgehalt des Gewissensbegriffs keinesfalls das Verschwinden des Orientierungswillens bedeutet.269 Die theoretische Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs bedeutet nicht, dass das praktische Interesse an der Gewissensorientierung in der Gesellschaft verschwunden ist. Die Verunsicherung über den Bedeutungsgehalt macht das „Gewissen“ noch lange nicht zu einem leeren Ausdruck, sondern ist im Gegenteil von einem theoretischen Interesse am Gewissensphänomen begleitet.270 Man kann auch keinesfalls über den Verlust der Fähigkeit der Menschen sprechen, aufgrund der Unbestimmtheit des Gewissensbegriffs sich in ihrem Alltag am eigenen Gewissen zu orientieren. Das Problem der gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Gewissen besteht vielmehr darin, die real erfahrene subjektive ethische Orientierung theoretisch zu begründen. V. Das Gewissen als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit Nachdem der Prozess der ideengeschichtlichen Wandlung des Gewissensverständnisses beschrieben wurde, die gegenwärtige Unbestimmtheit über den Gehalt des Gewissensbegriffs aufgezeigt und die theoretische Verunsicherung bei der Auseinandersetzung mit der moralphilosophischen Grundlage des subjektiven Moralitätsbezugs verdeutlicht wurde, wird im Folgenden auf der Grundlage der vorangegangenen ideengeschichtlichen Darstellung auf die Veranschaulichung von konstitutiven Elementen des Gewissensphänomens eingegangen. Vor dem Hintergrund bereits dargestellter klassischer Gewissenskonzeptionen von Thomas von Aquin und Kant wird insbesondere das normative Element der Gewissensbindung hervorgehoben und daraus die sittliche Würde einer Gewissenshaltung deutlich gemacht. Schließlich wird vor dem Hintergrund des normativen Gewissens 269

Schröder, R., Der drohende Verlust des Gewissens: Moral als „paradigm lost“, S. 52. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 32.

270

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

verständnisses auf die Unzulänglichkeit positivistischer Gewissenskonzeptionen eingegangen, die substanzielle sittliche Bedeutung des Gewissensphänomens darzustellen und die sittliche Qualität einer Gewissensentscheidung zu erklären. 1. Der Selbstbezug des freien Vernunftwesens im Gewissensurteil Die Verwendung des Begriffes „Gewissen“ zielt auf die Beschreibung des Phänomens der moralischen Verbindlichkeit, das ungeachtet seiner jeweiligen theoretischen Begründung für jede Person real erfahrbar ist. Die Erfahrung moralischer Verantwortung zwingt zu ihrer theoretischen Deutung. Sowohl metaphysische als auch theologische und empirische Deutungsansätze setzen das Gewissen als eine real vorhandene Größe voraus.271 Insofern zielt die theoretische Auseinandersetzung mit dem Gewissensphänomen auf eine möglichst umfassende Erklärung des Faktums der menschlichen Fähigkeit zur moralischen Selbstverpflichtung ab. Das Gewissensphänomen wäre indes nur unzureichend beschrieben, würde man es bloß als einen subjektiven Bezug zu einer wie auch immer begründeten objektiven Wertesphäre deuten. Würde man das Gewissen mit der Einsicht in fest vorgegebene inhaltliche Wahrheiten oder mit dem apriorischen Bewusstsein materieller Werte gleichsetzen, so wäre man außerstande zu erklären, warum ein negativ zu beurteilendes Handeln als ein persönlich vorwerfbares Tun, d. h. als innere moralische Schuld zu qualifizieren ist.272 Das Gewissen wäre alsdann eine „Applikationsinstanz einer ihm zwar vorgegebenen, aber nicht von ihm selbst betroffenen inhaltlichen Sittenordnung“.273 Andererseits wäre auch ein Gewissensverständnis als Bezug auf subjektiv-beliebig als moralisch qualifizierten Grundsätzen nichts weiter als ein blindes Gefühl, als eine „Eruption der Eigentlichkeit des Selbst“274, das keine moralische Qualität zu vermitteln imstande ist und von einer bloßen Meinung nicht mehr unterscheidbar wäre.275 Die Betrachtung des Gewissensphänomens als einer Instanz persönlicher moralischer Verantwortung erfordert daher die Bezugnahme auf den zentralen Aspekt des sittlichen Urteils, und zwar auf die Frage nach der Art und Weise, wie sich das Subjekt die sittlichen Maßstäbe zu eigen macht.276 Denn nur anhand dieser Klärung kann verdeutlicht werden, auf welche Weise die Person zur Einsicht in das moralisch Gebotene gelangt, d. h. auf welchen moralitätskonstituierenden innerpersonellen Phänomen sich der Gewissensbegriff bezieht. 271

Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 114. Ebd., S. 113. 273 Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 33. 274 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 260. 275 Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 20. 276 Vgl. Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 113; Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 19. 272

V. Das Gewissen als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit 

65

Wenn man die klassischen Auseinandersetzungen mit dem Gewissensphänomen näher betrachtet, so wird deutlich, dass die Beschäftigung mit dem Gewissensbegriff nicht nur die Frage nach den inhaltlichen Maßstäben des sittlichen Handelns umfasste, sondern schwerpunktmäßig auf die Frage nach der Bildung und der Verbindlichkeit von moralischen Handlungsgrundsätzen einging. Bereits bei Thomas von Aquin wird das Gewissensphänomen als subjektive Vernunftreflexion des ursprünglichen Wissens um das Gute im Bezug auf konkrete Handlungssituationen thematisiert [vgl. Abschnitt A. I. 3] und von Kant als eine Instanz, welche über die Willensbestimmung der praktischen Vernunft reflektiert, behandelt [vgl. Abschnitt A. II. 2. b)]. Die Auseinandersetzung mit dem Gewissen umfasst in der klassischen Auslegung somit nicht nur die Frage, welche Grundsätze als moralisch verbindlich gelten, sondern schwerpunktmäßig die Problematik, auf welche Weise diese Grundsätze das Subjekt moralisch verpflichten. Erst durch die Betrachtung des Internalisierungsprozesses von dem als sittlich geboten Erkannten wird die moralische Bindungskraft des Gewissens aufgegriffen und das Phänomen der moralischen Selbstverpflichtung des Menschen umfassend behandelt. Wenn man der Frage nachgeht, wie sich der Urteilende die sittlichen Maßstäbe zu eigen macht, so zeigen die oben erwähnten Ansätze in ihren Begründungen gewisse Parallelen auf. Beide gehen von einem im menschlichen Geist vorhandenen obersten moralischen Konsistenzprinzip aus, das zwar noch keine inhaltliche Bestimmung des sittlich Gebotenen gibt aber dafür eine oberste Konsistenz­regel, nach welcher jede besondere Handlung beurteilt wird. Bei Thomas von Aquin ist es das oberste Gebot, das Gute zu tun und das Böse zu meiden277 („bonum est ­faciendum et prosequendum, malum vitandum“), an welchem konkrete Handlungen geprüft werden und das, was als gut erkannt wird, gleichzeitig auch als das zu Tuende anerkannt wird. Bei Kant ist es der Kategorische Imperativ, nach dessen Maßgabe die konkreten Handlungsmaximen auf ihre Konsistenz mit dem Vernunftprinzip geprüft und im Fall ihrer Übereinstimmung als das zu Befolgende anerkannt werden. In beiden Ansätzen ist das oberste praktische Prinzip durch die Vernunft konstituiert und die Erkenntnis dessen, was für das einzelne Subjekt verpflichtend ist, erfolgt in Form der Zustimmung zu dem durch die Vernunft als praktisch Gutes Erkannten.278 Beide Ansätze gehen von einem vernunftimmanenten Prinzip der moralischen Erkenntnis aus  – einem „Urgewissen“ in Form der syn­deresis bei Thomas von Aquin und in Form des Kategorischen Imperativs bei Kant. Damit besteht die Art und Weise, wie sich das Subjekt moralische Grundsätze zu eigen macht, in der Reflexion von konkreten Handlungsgrundsätzen nach Maßgabe eines formellen Vernunftprinzips. Das Moralische wird dem Subjekt nicht unmittelbar evident, sondern erst im Zuge der Vernunftreflexion erschlossen. Die Einsicht in das Gute wird folglich nicht aus der Deduktion von konkreten Handlungsbestimmungen gewonnen, sondern entspringt einer praktischen 277

Thomas von Aquin, Th., Summe der Theologie, I–II q. 94, 2. Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 23.

278

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Überlegung über eigene Strebungen und Wünsche im Licht des obersten Vernunftprinzips.279 Diesen Überlegungen zu folgen, bedeutet entsprechend einer objektiven Norm, die von der praktischen Vernunft als verpflichtend erkannt wurde, zu handeln. Darüber hinaus wird bei Thomas von Aquin und Kant in einer ähnlichen Weise ein weiterer Aspekt der Gewissensbindung thematisiert, und zwar der Bezug des erkennenden Subjekts zu dem von ihm selbst als gut erkannten Handlungsprinzip. Im Gewissensurteil, sowohl in conscientia als auch im Gewissenskonzept bei Kant, bezieht sich das Gewissen auf das Subjekt, das sich aufgrund der vernunft­ reflektierten Einsicht in das sittlich Gebotene zum Handeln bestimmt. Das Gewissen richtet sich nicht auf die Handlungsmaxime, sondern auf das Verhältnis des Subjekts zu dem von ihm als moralisch verpflichtend Erkannten.280 Das Gewissen ist somit das Wissen um die Art und Weise der Aneignung des zu tuenden Guten, d. h. es ist ein Urteil darüber, wie ich dieses moralische Urteil getroffen und auf mein Handeln bezogen habe.281 Mit ihrem Selbstbezug prüft die praktische Vernunft, ob man sich in der konkreten Handlungssituation von dem im (Ur-)Gewissen gemäß dem Vernunftprinzip als gut Erkannten leiten lässt. Mit diesem reflektierenden vernunftgeleiteten Selbstverhältnis im Gewissensurteil wird das Prinzip der vernunftgemäßen Existenz anerkannt und damit die Identität des Menschen als moralisches, d. h. sich selbst nach Maßgabe der Vernunft zum Handeln bestimmendes Wesen sichergestellt. Dieser Aspekt des Gewissens wird insbesondere von Ludger Honnefelder auf den Punkt gebracht, wenn er schreibt: „Die Form der Vernünftigkeit erscheint nicht nur als oberster Zweck, sondern als Zweck an sich selbst, das Gewissen als Instanz seiner Wahrung. Gewissen zu haben heißt deshalb nicht einfach, ein gegenständlich Gutes zu ergreifen und dadurch sittlich zu werden, sondern im Ergreifen des jeweils Guten allererst sich selbst zu ergreifen als das durch Vernunft in Freiheit sich bestimmende Wesen, um eben damit dieses Wesen zu sein.“282

Es zeigt sich, dass der Prozess der Gewissensbildung in der Übereinstimmung des Vernunftwesens mit seiner Vernunftnatur im sittlichen Urteil besteht und dass das Gewissen nicht mit oberflächlichen Überzeugungen gleichgesetzt werden darf.283 Nach dieser Darstellung wird deutlich, auf welche Weise eine Person zur Einsicht in das moralisch Gebotene gelangt und was die Moralität einer Gewissensbindung ausmacht. Die Einsicht in das Moralische ist die Anerkenntnis des Gebotenen aufgrund der vernunftgeleiteten Reflexion über einen bestimmten Handlungsgrundsatz. Die Moralität der Gewissensbindung besteht in der Befol 279

Vgl. ebd., S. 25. Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 186; vgl. Abschnitt A. II. 2. b). 281 Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 26, 28. 282 Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 116. 283 Vgl. Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127. 280

V. Das Gewissen als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit 

67

gung des als „gut“ Erkannten in Form der Selbstbejahung der freien menschlichen Vernunftnatur. Aus dem oben Dargestellten folgt, dass die Erklärung des Gewissensphänomens das Verständnis des Menschen als eines aufgrund seiner Vernunftbegabung sich frei bestimmenden Wesens voraussetzt. Um das Gewissensphänomen zu erklären, muss angenommen werden, dass der Mensch aufgrund seiner Vernunftbegabung sich selbst zu entwerfen imstande ist, d. h. in seinem Tun sich frei von Vernunftgründen bestimmen zu lassen. Diese Grundannahme entspricht auch der humanistischen Grundidee, wonach der Mensch zum Schöpfer seiner selbst berufen ist, welche seit der Renaissance des 15. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung gewinnt. So wird bereits vom Renaissancehumanisten Pico della Mirandola die Freiheit und Würde des Menschen aus seiner Gottesebenbildlichkeit erklärt, wonach der Mensch kraft seiner Vernunft das Vermögen inne hat, die Welt nach seiner Vorstellung schöpferisch zu gestalten.284 Als freies Vernunftwesen ist er für sein Handeln selbstverantwortlich und wenn er sich im Handeln von seiner Vernunftnatur – und nicht von sinnlichen Trieben – leiten lässt, dann ist er auch moralisch. Wie man letztlich genau den Ursprung des Moralitätsvermögens des Menschen erklärt, ob theologisch als Licht der göttlichen Vernunft oder transzendentalphilosophisch als ein nicht weiter erklärbares erstes Faktum, ist für die Beschreibung des real erfahrbaren Gewissensphänomens nicht unmittelbar ausschlaggebend. Das Entscheidende ist, dass die metaphysische Annahme der Vernünftigkeit und der Freiheit des Menschen notwendig vorausgesetzt werden muss, will man das Phänomen moralischer Selbstverpflichtung im Gewissensurteil erklären: „Die Erfahrung moralischer Verantwortung wird metaphysisch gedeutet und nicht umgekehrt aus einer metaphysischen Erkenntnis des menschlichen Wesens die sittliche Verantwortung des Menschen gefolgert. […] Das Faktum des Gewissens nötigt zur metaphysischen Deutung, nicht die Metaphysik zur Annahme eines Gewissens.“285

Die Beschreibung des Gewissensphänomens geht daher untrennbar mit der Annahme der menschlichen Freiheits- und Vernunftnatur als Voraussetzung für die Willentlichkeit und Intentionalität des moralischen Handelns einher. Insofern ist „Die Gewissenhaftigkeit […] gleichsam die Innenseite von Vernünftigkeit und Freiheit“286. Das Gewissensverständnis als Selbstbezug des freien Vernunftwesens im moralischen Urteil und im Handeln erweist sich als eine normative Gewissenskonzeption. Da das Gewissen auf die Wahrung des Selbstseins des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen, d. h. auf die vernunftgemäße Existenz bezogen ist, ist es normativ.287 Weil bestimmte Taten im Gewissensurteil nicht aufgrund ihrer Über 284

della Mirandola, P., Über die Würde des Menschen, S. 5 f. Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 117. 286 Ebd., S. 115. 287 Ebd., S. 117.

285

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

einstimmung mit irgendeiner objektiven Ordnung, sondern als Folge der Konsistenz mit dem vernunftimmanenten Prinzip, d. h. aus Vernunftgründen sich als moralisch geboten erweisen, wird durch die Gewissensbindung die Freiheit des Menschen manifestiert. Die Preisgabe der Gewissensbindung als Selbstbestimmung durch die Vernunft würde umgekehrterweise auf „die Selbstaufhebung als Vernunft- und Freiheitswesen hinauslaufen“.288 Liegt die Würde des Menschen nach dem Mirandolischen Verständnis darin, durch die Vernunft und freien Willen die Welt zu gestalten, so darf das Gewissen nicht anders als ein unmittelbarer Ausdruck der menschlichen Würde verstanden werden. Im individuellen Gewissensurteil erweist sich der Mensch als eine einmalige selbst urteilende und handelnde Person, die seine Existenz als Vernunft- und Freiheitswesen wahrt. „Deshalb gehört es auch zur unaufgebbaren Würde des Menschen, dem zuzustimmen und zu folgen, was das eigene Gewissen gebietet.“289 Die Gewissenshaltung, verstanden als der Ausdruck der menschlichen Würde, ein freies Vernunftwesen zu sein, gewinnt folglich selbst an einer sittlichen Qualität. Wenn man die Gewissens­ entscheidung eines Menschen achtet, so achtet man seine durch die Gewissensbindung zum Ausdruck gebrachte Würde. Indem durch das Gewissensurteil der Selbstausdruck des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen getätigt wird, gewinnt die Gewissenshaltung einen sittlichen Wert. Die Gewissensentscheidung einer Person gebietet daher Achtung um der durch das Gewissensurteil zum Ausdruck gebrachten menschlichen Würde willen. Die Darstellung von konstitutiven Elementen des Gewissensphänomens muss mit der Feststellung abgeschlossen werden, dass das Gewissensphänomen als Selbstbezug des freien Vernunftwesens im moralischen Urteil zu verstehen ist. Dieses Vermögen ist ein Ausdruck der freiheitlichen Vernunftnatur des Menschen, wo im Gewissensurteil über die Vernunftbestimmung des Willens reflektiert wird. Es ist ein Urteil darüber, ob man innerlich mit sich selbst übereinstimmt, dass das moralische Urteil, dem man zu folgen beabsichtigt, auch wirklich dem von der Vernunft Geforderten entspricht. Ein Gewissensurteil muss somit als ein Akt des Selbstbezugs der menschlichen Vernunftnatur verstanden werden. Das Gewissensverständnis als „transzendentale Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst“290 ist folglich auf das normativ ausgezeichnete Selbstsein des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen bezogen.291 Weil die Gewissensbindung ein „Ausdruck der Vernünftigkeit und der Freiheit“ des Menschen ist, kann eine Erklärung des Gewissensphänomens nicht ohne die metaphysische Annahme, dass der Mensch ein freies Vernunftwesen ist, auskommen. Weil ein Gewissensurteil der Selbstausdruck des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen und damit als Träger einer unbedingten Würde ist, verdient die Gewissenshaltung eines Menschen Achtung.

288

Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen S. 41. Ebd., S. 37. 290 Krings, H., Einführung, S. 99. 291 Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 117.

289

V. Das Gewissen als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit 

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2. Unzulänglichkeit der Gewissenserklärung durch positivistische Modelle Vor dem Hintergrund der Gewissensdarstellung als eines „Ausdrucks der Vernünftigkeit und der Freiheit“ wird abschließend über formalistische Gewissenskonzeptionen reflektiert, wie sie im Abschnitt A. III. dargestellt wurden. Es muss festgestellt werden, dass, indem die naturrechtlichen Auffassungen über die Grundlagen menschlicher Moralität ab der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verdrängt wurden, auch die Gewissenhaftigkeit nicht mehr als ein Ausdruck von einer besonderen eigenwertigen Natur des Gewissensträgers verstanden werden konnte. Indem das Gewissen aus empirischen, und damit zufälligen, Zusammenhängen erklärt wird, kann die sittliche Qualität einer Gewissenshaltung nicht mehr plausibel gemacht werden.292 Der Gewissensbegriff wird damit zur formellen Bestimmung empirisch fassbarer Phänomene. Dem positivierten Gewissensverständnis entgeht damit die substanzielle sittliche Bedeutung als ein Phänomen der moralischen Selbstverpflichtung. Die Frage nach dem moralitätsstiftenden innerpersonellen Prinzip wird in diesen Modellen ausgeblendet, was seinerseits die Frage nach der moralischen Geltungskraft von dem aus kontingenten Phänomenen abgeleiteten Gewissensverständnis aufwirft. Die aus akzidentiellen Motivationen oder aus gesellschaftlichen Konnotationen hergeleitete Moralitätsauffassung kann nur relativ – weil zufällig – gelten. Dem aus relativen Moralitätsgrundlagen abgeleiteten Gewissensverständnis kann daher wiederum auch nur eine bloß relative Bedeutung zukommen. Wenn man speziell das psychologische Modell betrachtet, so muss festgestellt werden, dass Psychologie zwar das Gewissen positivistisch werteneutral zu beschreiben vermag, aber „kein Aufschluss über die sittliche Qualität des Gewissens“293 zu geben imstande ist, warum die Gewissenshaltung einer Person selbst eine moralische Achtung gebietet. Das psychologische Verfahren erlaubt zwar mittels seiner Gewissenskonzeption Aussagen über die psychische und körperliche Verfassung des Menschen zu machen, aber sie kann aus sich selbst heraus nicht erklären, warum eine bestimmte sittliche Position – im Gegensatz zum sonstigen nötigenden Begehren – einen moralischen Wert beansprucht. Mit dem psychologischen Vokabular und der psychologischen Eigenrationalität lässt sich daher der moralische Wert einer sittlichen Haltung nicht hinreichend erfassen.294 Der Selbstwiderspruch der vernunftgemäßen Existenz kann zwar durchaus psychische Störungen nach sich ziehen, die negativen Folgen können aber nicht zum Ausgangspunkt für die Erklärung des noumenalen Gewissensphänomens herangezogen werden. Ohne den Rekurs auf die den moralischen Wert der Gewissenshaltung konstituierenden in der Vernunft des Menschen verankerten Grundlagen lässt sich der besondere sittliche Anspruch des Gewissens nicht verstehen. 292

Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 109. Ebd., S. 109. 294 Ebd., S. 107.

293

70

A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Die Kritik des psychologischen Gewissensbegriffs darf allerdings nicht als eine Kritik an der Wissenschaftlichkeit der psychologischen Methode missverstanden werden. Die therapeutischen Erfolge auf der Grundlage psychologischer Gewissenskonzeption belegen eindeutig den hohen Erkenntniswert dieses Verfahrens und seine beträchtliche wissenschaftliche Bedeutung. Das Problem der Relativierung des Gewissens liegt aber nicht in der psychologischen Methode als solchen, sondern in einer Reduktion des allgemeinen Gewissensverständnisses auf eine ausschließlich psychologische Erklärungsform. Dass das psychologische Gewissensmodell auf kontingenten empirischen Phänomenen beruht, liegt in der Natur und der Eigenrationalität dieser Wissenschaft. Die Relativierung des Gewissens setzt aber in dem Moment ein, wo die psychologische Verständnisart als die „eigentliche“ Zugangsweise zu diesem Phänomen gedeutet wird.295 Man lässt dabei außer Acht, dass die besondere moralische Qualität einer Gewissensposition sich nicht anhand von psychologischen Kriterien erklären lässt und dass dazu vielmehr ein Bezug zur normativen Moralitätsauffassung notwendig ist. Der Hauptkritikpunkt an der Psychologisierung des Gewissens betrifft somit die Verabsolutierung des psychologischen Standpunktes, in dem das Gewissensverständnis auf kontingente Phänomene der menschlichen Psyche reduziert wird. Insofern trifft der gegenüber dem psychologischen Gewissensverständnis geäußerte Kritikpunkt auch auf das soziologische Modell von Niklas Luhmann zu. Ein aus der kontingenten Funktion der personellen Identitätssicherung abgeleiteter Gewissensbegriff vermag keinen Aufschluss über die sittliche Qualität einer Gewissenshaltung zu geben.296 Da er sich lediglich auf das kontingente Streben nach Konsistenz und Kontinuität sozialer Rollenmuster bezieht, und nicht angibt, warum sich eine selbstbestimmende Persönlichkeit einem unbedingten Guten unterstellt, ist er nicht imstande, den von Luhmann selbst als paradigmatisch bezeichneten Fall zu erklären, warum ein Gewissenskonflikt eher zur vollständigen Preisgabe des naturalen Systems (dem Tod)297, als zum Verzicht auf die Identität des personalen Systems führen kann.298 Das Gewissen ist hier eine Instanz der Sicherung der kontingenten Identität, nicht aber der Widerspruchslosigkeit der Existenz als selbstbestimmendes Wesen, d. h. der Identität als freies Vernunftwesen. Ein positivistischer Gewissensbegriff ist zwar durch die Möglichkeit empi­ rischer Zugangsweise praktikabel, aber aufgrund der Reduzierung auf seine kontingente Funktion nicht imstande, den achtunggebietenden unbedingten Gehalt des Gewissens zu vermitteln. Der Hauptkritikpunkt an Luhmanns Gewissenskonzeption liegt daher in seiner Gleichsetzung der empirisch bezogenen identitätssichernden Instanz menschlicher Personalität mit dem sittlichkeitsbezogenen Gewissens 295

Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 37. Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 109. 297 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 269. 298 Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 118. Ebd., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 31. 296

VI. Fazit

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begriff, wodurch eine Möglichkeit des alternativen Konzepts zum eigenwertigen normativ-sittlichen Gewissensverständnis suggeriert wird. Die funktionale empirische Gewissensdeutung greift an dem normativen Element der Gewissensbindung vorbei. Es muss jedoch auch an dieser Stelle angemerkt werden, dass trotz dieser Kritikpunkte die Anforderungen an die personale Identitätssicherung, so wie sie von Luhmann beschrieben werden, in der Lebenswirklichkeit durchaus zu beobachten sind. Diese Kritik darf daher nicht als eine pauschale Kritik an der systemtheoretischen Methode missverstanden werden. Luhmanns Ansatz stellt zweifellos eine aufschlussreiche Methode dar, eine Zugangsweise zur Funktion gesellschaft­licher Systeme zu bekommen und die Eigenart des Menschen als eines von sozialen Rollenmustern geprägten Wesens zu begreifen. Problematisch wird es nur, wenn mit dem systemtheoretischen Ansatz versucht wird, ursprünglich wertevermittelnde moralphilosophische Begriffe, wie z. B. das Gewissen oder die Menschenwürde299, durch empirische Funktionen zu erklären: Mit einer solchen induktiven Vorgehensweise werden diese Begriffe um ihre sittliche Substanz verkürzt und damit sinnentfremdet. Die Verabsolutierung des soziologischen Erklärungsmodells hat genauso wie die Absolut-Setzung des psychologischen eine Relativierung und Entwertung des ursprünglich sittlichkeitsbezogenen Gewissensphänomens zur Folge. In beiden Ansätzen wird der normative, die moralische Dimension des Gewissensphänomens konstituierende Aspekt des Gewissens als eines Ausdrucks der Vernünftigkeit und Freiheit ausgeblendet und der Gewissensbegriff damit um seine sittliche Dimension verkürzt. VI. Fazit Die Behandlung des ideengeschichtlichen Hintergrunds des modernen Gewissensbegriffs hat gezeigt, dass die Gewissenskonzeptionen seit der stoisch-christlichen Antike bis in die Neuzeit hinein naturrechtlich geprägt waren. Zu ihrer grundlegenden Prämisse gehörte das Verständnis der moralischen Erkenntnis als Anerkennung des moralisch Gebotenen durch den menschlichen Intellekt. Die Differenzen zwischen stoisch-christlichen und insbesondere der Kantischen Gewissenskonzeption ergaben sich in der theoretischen Deutung der Fähigkeit des Intellekts, das moralisch Gebotene zu erkennen. Während die stoisch-christlichen Modelle die Gewissenhaftigkeit vornehmlich als Partizipation der menschlichen Vernunft an der göttlichen Weltordnung verstanden, sah die vernunftrechtliche Konzeption die Grundlage dieser Fähigkeit im Subjekt selbst verankert, als eine besondere Eigenart des vernunftbegabten Geschöpfs. 299 Zu Luhmanns funktionalistischem Erklärungsmodell der Menschenwürde s. Luhmann, N., Grundrechte als Institution, S. 53 ff.

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A. Ideengeschichtlicher Hintergrund des Gewissensbegriffs 

Ein grundlegender Bruch mit der naturrechtlichen Gewissenskonzeption ergab sich erst mit der Tendenz zur empirisch fundierten positivistischen Gewissensdeutung in der Moderne. Die Betrachtung der Ambivalenz zwischen positivistischen und metaphysischen Gewissenskonzeptionen hat ergeben, dass die natur- bzw. vernunftrechtliche Moralitätsdeutung durch positivistische Konzeptionen der Moderne nicht „überwunden“, sondern vielmehr durch die immer größer werdende Bedeutungszunahme empirischer Forschungsmethode verdrängt wurde. Einerseits haben die formalistischen Gewissensmodelle aufgrund ihrer sich auf die Empirie stützenden Methode einen höheren Plausibilitätsgrad für die Auseinandersetzung mit dem Gewissensphänomen entfaltet. Andererseits ist ihnen jedoch durch den Verzicht auf die metaphysische Dimension des Gewissensbegriffs gleichzeitig die Möglichkeit der Darstellung der sittlichen Eigenart der moralischen Selbstverpflichtung des Subjekts und des sittlichen Eigenwerts einer Gewissensbindung abhanden gekommen. Denn mit dem Zugang zum Moralitätsphänomen mittels Beobachtung von kontingenten Persönlichkeitsstrukturen hat die Gewissenstheorie ihren metaphysisch geprägten Leitfaden verloren, der die moralitätsstiftende Kraft der Gewissensbindung und den Eigenwert einer Gewissensposition zu beschreiben ermöglicht. Es wurde deutlich, dass die normative Dimension des Gewissensphänomens nur auf die Weise aufgegriffen werden kann, dass man auf die metaphysische Erörterung der Freiheits- und der Vernunftnatur des Menschen eingeht. Die gegenwärtige theoretische Verunsicherung bei der Beschäftigung mit dem Gewissen muss daher mitunter als Folge dieses Formalisierungsprozesses betrachtet werden. Es wurde schließlich aufgezeigt, dass die Darstellung des für jeden Menschen real erfahrbaren Phänomens, zur moralischen Selbstbestimmung fähig zu sein, nur dann überzeugen kann, wenn man dieses Phänomen mit dem Verständnis des Menschen als Freiheits- und Vernunftwesen verbindet, wie es am ausdrücklichsten in den Gewissenskonzeptionen bei Thomas von Aquin und Immanuel Kant vorgenommen wurde. Das Moralische bei der Gewissensbindung, das dieser Bindung selbst eine sittliche Qualität verleiht, ist nur in Verbindung mit dem Menschenbild als freies Vernunftwesen theoretisch erfassbar. Weder ein Gewissensverständnis als bloßer Bezug auf feststehende objektive Normen noch als Bezug auf subjektiv-beliebig als moralisch verstandene Ansichten aber auch nicht ein bloß aus kontingenten Phänomenen hergeleitetes Gewissensmodell können die in der menschlichen Freiheit verankerte normative Kraft der moralischen Selbstbestimmung hinreichend begründen.

B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit und seine Ausgestaltung im Grundgesetz Nach der Auseinandersetzung mit dem ideengeschichtlichen Hintergrund des Gewissensbegriffs wird im Folgenden die rechtsgeschichtliche Entwicklung des Grundrechts der Gewissensfreiheit behandelt. Bevor auf die einzelnen Probleme der rechtstheoretischen Gewissensinterpretation eingegangen werden kann, muss die besondere Eigenart der Ausgestaltung der Gewissensfreiheit in Art. 4 GG veranschaulicht werden. Da der Kerngehalt des Art. 4 GG aus den maßgeblichen gesellschaftspolitischen Veränderungen seit der Reformationszeit resultiert, kann dies allerdings nur im Zusammenhang mit einzelnen geschichtlichen Entwicklungsstationen dieses Grundrechts geschehen. Der rechtsgeschichtliche Rückblick erlaubt nicht nur die Intention des Verfassungsgebers bei der Verankerung der individuellen Gewissensfreiheit im Grundgesetz nachzuvollziehen, sondern auch die inhaltliche Form dieses Grundrechts zu erklären. I. Rechtsgeschichtliche Entwicklung der säkularen Gewissensfreiheit im Kontext der Entstehung des modernen Verfassungsstaates Der Ursprung des Grundrechts der Gewissensfreiheit liegt in den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16.  und 17.  Jahrhunderts. Diese Auseinandersetzungen standen im Licht der Problematik, wie im Zuge der Reformation und der darauf folgenden konfessionellen Glaubensspaltung die herkömmliche Ordnungsvorstellung als Einheit von Glaube-Kirche-Staat weiterhin zu verwirklichen war. Vor allem vor dem Hintergrund von Religionskriegen sollte sich zeigen, dass das weitere Festhalten an der Vorstellung der „wahren Religion“ und der staatlichen Verfolgung abweichender christlicher Konfessionen den inneren Frieden permanent in Frage stellte.1 Mit der Überwindung von konfessionellen Konflikten durch Ausgestaltung des Rechts der Glaubens- und Gewissensfreiheit, begleitet von geistigen Umbrüchen der Neuzeit, setzte allmählich der Prozess der Säkularisierung ein, der im Ergebnis die Entstehung des modernen weltanschaulich neutralen Verfassungsstaates hatte. Im Folgenden wird dieser Prozess anhand der Darstellung von einzelnen Stationen der Entwicklung der Glaubens- und Gewissensfreiheit vom Augsburger Religionsfrieden bis zur Weimarer Reichsverfassung

1

Kneib, M., Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, S. 10 f.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

nachgezeichnet und dabei zugleich die Wandlung im Verständnis der Gewissensfreiheit deutlich gemacht. Die erstmalige Anerkennung der Glaubensfreiheit im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation erfolgte im Augsburger Religionsfrieden vom 25.  September 1555 mit dem Ziel, eine friedliche Koexistenz zwischen Lutheranern und Katholiken zu ermöglichen. Im ius reformandi wurde den Landesherren nach dem Grundsatz „cuius regio, eius religio“ die Befugnis eingeräumt, die Konfession innerhalb ihres jeweiligen Territoriums selbst zu bestimmen. Dadurch wurden sie von dem Zwang befreit, gegen ihr Gewissen ihren Glauben zu ändern.2 Insofern wird in Augsburg der Begriff der Gewissensfreiheit zwar noch nicht verwendet, dafür aber die „Freiheit vom (religiösen) Gewissenszwang“ festgeschrieben.3 Allerdings richtete sich das Recht zur freien Konfessionswahl nur an die Reichsstände, und nicht an deren Untertannen, welche an die Konfession ihres Fürsten weiterhin gebunden blieben. Der einzige Anklang4 an die Religionsfreiheit der Untergebenen äußerte sich im Recht, in ein Gebiet ihrer Konfession auszuwandern5, was allerdings das Toleranzproblem in das Freizügigkeitsproblem abwandelte.6 Der zweite Schritt in der Entwicklung der Religions- und Gewissensfreiheit im Sinne eines Abwehrrechts des Individuums gegenüber einem unmittelbaren Bekenntnis- und somit auch gegen religiösen Gewissenszwang setzte infolge des Dreißigjährigen Krieges mit dem Westfälischen Frieden von 1648 ein. Das ius refor­mandi des Augsburger Religionsfriedens wird durch die Einführung des Begriffs „conscientia liberta“ modifiziert, wodurch der religiöse Freiheitsraum nunmehr eingeschränkt auch den Untertanen gewährt wird. Das Recht der freien Hausandacht gemäß dem eigenen Bekenntnis bedeutete ein Verbot an den Landesherren, den Innenbereich des häuslichen religiösen Lebens zu bestimmen.7 Innerhalb ihrer eigenen vier Wände konnten sich die Untergebenen ungehindert der freien Ausübung ihrer (von der landesfürstlich festgesetzten abweichenden) Konfession widmen. Die öffentliche Religionsausübung abweichender Konfessionen blieb allerdings weiterhin untersagt. Unter dem Einfluss der Ideen der Aufklärung und im Kontext geistiger Umbrüche des 18.  Jahrhunderts fand eine Ausdehnung der Gewissensfreiheit zuerst in Brandenburg-Preußen statt. Einen wesentlichen Durchbruch für die Liberalisierung der Religionsrechte brachte dabei das Allgemeine Landrecht Preußens (ALR) aus dem Jahr 1794. Das ALR gewährte die Religions- und Gewissensfreiheit nicht



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Vgl. Borowski, M., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, S. 19 f. Kneib, M., Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, S. 13. 4 Ebd., S. 13. 5 Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 48 f. 6 Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 256 f., m. w. N. 7 Vgl. Kneib, M., Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, S. 13.

I. Rechtsgeschichtliche Entwicklung

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nur den staatlich anerkannten Konfessionen, sondern auch den „Sekten“.8 Es gewährleistete außerdem die Freiheit des häuslichen Gottesdienstes, gewährte religionsgesellschaftliche Vereinigungsfreiheit, das Recht zu öffentlichen Feierlichkeiten und schloss das landesherrliche konfessionsbedingte Ausweisungsrecht aus.9 Außerdem wurde im ALR die Gewissensfreiheit zum ersten Mal im Gesetzestext mit dem Begriff der Glaubensfreiheit verbunden (ALR  II 11 § 2), was das Verständnis einer spiritualisierten religiösen Gewissensfreiheit verfestigte.10 Auch in der preußischen Verfassungsurkunde von 1850 wurde die religiöse Komponente der Gewissensfreiheit beibehalten. Unter dem Einfluss vom ALR und der Paulskirchenverfassung11 wurden dort die religionsgesellschaftliche Vereinigungsfreiheit und das Recht zur öffentlichen Religionsausübung übernommen. Allerdings ging die Verfassungsurkunde in der Ausgestaltung der Religionsfreiheit über das Preußische Allgemeine Landrecht hinaus12 und sicherte in Art.  12 den „Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte unabhängig von dem religiösen Bekenntnisse“ (Satz 2), wobei den „bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten […] durch die Ausübung der Religionsfreiheit kein Abbruch geschehen [durfte]“ (Satz 3). Diese Bestimmung, welche das bürgerliche Leben von dem religiösen Bekenntnis der Bürger abkoppelte, stellte offenkundig einen entscheidenden Schritt in Richtung der Säkularisierung dar. Insofern kann festgestellt werden, dass sich die preußische Verfassung eingeschränkt zum Grundsatz der Trennung von Kirche und Staat bekannte, ohne jedoch dabei die Bindung an christliche Wertegrundlagen in einer absoluten religiösen Neutralität des Staates aufgehen zu lassen.13 Die infolge der Glaubensspaltung entstandene religiöse Gewissensfreiheit, die ursprünglich als „pragmatische Übergangs- und Kompromissform“14 eingesetzt wurde, entwickelte sich somit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Recht, das ein individuelles von der Staatsreligion abweichendes religiöses Bekenntnis schützt. Mit der Aufhebung kirchlicher Hoheitsrechte des Staates in der Weimarer Reichsverfassung von 1919 (Art. 137 Abs. 1 und 2 WRV) kam der entscheidende Schritt zur völligen Lösung der Einheit von Kirche und Staat.15 Indem der Staat nicht mehr gemäß dem Toleranzprinzip bloß bekenntnisneutral, sondern nunmehr grundlegend religionsneutral wurde16, war die Säkularisierung auf dem Gebiet der Weimarer Republik im Sinne einer einheitlichen reichsrechtlichen Trennung von

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Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 58. Vgl. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S.  38; Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 257 f. 10 Kneib, M., Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, S. 15. 11 Vgl. Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 77 f. 12 Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 258. 13 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 78. 14 Kneib, M., Entwicklungen im Verständnis der Gewissensfreiheit, S. 15. 15 Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 78. 16 Vgl. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 43.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

Kirche und Staat endgültig vollzogen. Mit der Beseitigung der im ius reformandi enthaltenen Staatskirchenhoheit wurde der Staat im strengen Sinn zum weltlichen Gemeinwesen, was auch eine Neukonzeption der Gewissensfreiheit nach sich zog.17 Demnach wurde die Gewissensfreiheit in der Weimarer Reichsverfassung von dem Regelungszusammenhang der Glaubensfreiheit zugunsten einer Schutznorm gelöst, welche auch die von den religiösen Vorstellungen unabhängigen Gewissenspositionen mit einschloss (Art.  135 Satz  1 WRV).18 Durch die Gewissensfreiheit wurde das Recht zur freien, von den religiösen Weltbildern unabhängigen Weltanschauung eingeräumt, das auch areligiöse Lebensüberzeugungen umfasste.19 Allerdings bezog sich das Verständnis der Gewissensfreiheit der WRV auf freie Bildung und Äußerung des weltanschaulichen Bekenntnisses, und nicht auf die freie Betätigung nichtreligiöser sittlicher Überzeugungen.20 Insofern müssen die Regelungen zur Gewissensfreiheit in der WRV als Liberalisierung des Rechts der freien Weltanschauung durch die Loslösung des Gewissens aus dem religiösen Kontext begriffen werden. Indem das Gewissen von seiner ursprünglichen Verbindung mit dem Glauben getrennt wurde, wird es nicht mehr als ein spiritualisiertes Gewissen eines Gläubigen21, sondern als eine weltliche Instanz der autonom gefundenen individuellen Lebensüberzeugung aufgefasst.22 Die Religionsfreiheit der WRV wurde weiterhin ähnlich wie in Art. 12 Satz 3 der preußischen Verfassung von 1850 unter den Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes gestellt (Art. 135 Satz 3), d. h. einer Regelung unterworfen, wonach die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten durch die individuelle Weltanschauung weder bedingt noch behindert werden dürfen. Die Staatsgewalt blieb damit im Hinblick auf mögliche Kollisionen mit der Weltanschauungsfreiheit immer unbedingt übergeordnet.23 Die Betrachtung der rechtsgeschichtlichen Entwicklung der Glaubens- und Gewissensfreiheit lässt deutlich werden, dass die Identität des modernen Staates seit dem Mittelalter durch die allmähliche Loslösung der politischen Ordnung von ihrer religiösen Bestimmung und Durchbildung begleitet ist.24 Indem die Fragen der Religion in der Weimarer Reichsverfassung für staatlich unerheblich erklärt wurden, beschränkte sich der Staat auf die säkularen Staatszwecke wie die innere und äußere Sicherheit und fand damit eine neue Grundlage für seine Legitimität.25

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Ebd., S. 42. Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.  78; Böcken­förde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 43 f. 19 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.79. 20 Ebd., S. 79. 21 Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 82. 22 Vgl. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 42. 23 Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.80. 24 Mock, E., Gewissen und Gewissensfreiheit, S. 82. 25 Ebd., S. 89.

II. Gewissensfreiheit vor dem Hintergrund der NS-Zeit

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Mit seiner weltanschaulich-religiösen Neutralität wurde somit der entscheidende Schritt bei der Entwicklung des modernen säkularen Verfassungsstaates vollzogen.26 Der moderne Staat gewinnt durch seine Neutralität dasjenige Mindestmaß an Distanz, welches ihm in Konflikten einzelner Gesellschaftsgruppen erlaubt, die Position eines unparteilichen Richters zu beziehen und dadurch integrativ Frieden und Einheit zu stiften.27 Insofern muss festgestellt werden, dass die Religions- und Gewissensfreiheit die Entstehung des modernen säkularen Staates von Anfang an begleitet.28 Im neutralen Staat der Weimarer Reichsverfassung wird die Gewissensfreiheit zum Prinzip der Trennung von Kirche und Staat.29 Das Verständnis der Gewissensfreiheit hat sich somit im Zuge ihrer rechtsgeschichtlichen Entwicklung aus dem religiösen Kontext als spiritualisiertes religiöses Gewissen befreit und zu einer Freiheit des weltlichen Gewissens entfaltet. Der Säkularisierungsprozess hat daher nicht nur auf das Verhältnis zwischen Kirche und Staat durchgegriffen, sondern auch das differenzierte Verständnis eines nichtreligiösen individuellen Gewissens im Recht geprägt. Die ursprünglich religiös motivierte Forderung nach Gewissensfreiheit hat somit auch den Begriff des Gewissens im Recht säkularisiert.30 II. Gewissensfreiheit vor dem Hintergrund von Freiheitsbedrohungen der NS-Zeit Die Gewissensfreiheit des Grundgesetzes hat im Vergleich zur Religions- und Gewissensfreiheit der Weimarer Reichsverfassung erhebliche Veränderungen erfahren, welche in neuen Akzentsetzungen und in einem weitreichenden Inhalt bestanden. Zum einen wurde die Gewissensfreiheit weitgehend verselbstständigt. Unter den Schutzbereich dieses Grundrechts fiel nicht mehr nur die Weltanschauungsfreiheit im Sinne eines Bindeglieds zwischen Glaube und Überzeugung, sondern es wurde nunmehr auch die weltanschauungsneutrale moralische Freiheit garantiert.31 Der andere wesentliche Unterschied zu den bisherigen Konzeptionen dieses Rechts bestand darin, dass der Vorbehalt des allgemeinen Gesetzes bei der Gewissensfreiheit des Grundgesetzes fallen gelassen wurde und somit eine besondere Unantastbarkeit und Unverletzlichkeit dieses Grundrechts zum Ausdruck gebracht.

26 Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 238 f.; Morlok, M., Artikel 4, Rn. 12. 27 Vgl. Isensee, J., Staat und Verfassung, Rn. 67. 28 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 45. 29 Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 96. 30 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 109. 31 Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 111.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

Diese und weitere Veränderungen, welche im nächsten Kapitel bei der inhaltlichen Darstellung des Grundrechts der Gewissensfreiheit näher erläutert werden, können nur im Kontext des gemeinsamen historisch-politischen Zeitbewusstseins der Grundgesetzgeber als einem Abwehrwillen gegen die Freiheitsbedrohungen der NS-Zeit erklärt werden.32 Der spezifische Charakter der Entstehung des Grundrechts der Gewissensfreiheit gründet in normativen Impulsen des Verfassungsgebers als Antwort auf elementare Freiheitsverletzungen in der NS-Zeit, die individuelle Freiheit des Einzelnen gegen die Eingriffsmöglichkeiten des Staates zu sichern.33 Entsprechend dieser normativen Grundintention sollten vor allem diejenigen Freiheiten einen besonderen Schutz erhalten, die während der NS-Diktatur in einer besonderen Weise staatlicher Missachtung und Bedrohung ausgesetzt waren.34 Ein solcher Fall war gerade bei der staatlichen Missbilligung von individuellen Gewissensgeboten und bei der staatlichen Vereinnahmung des individuellen Gewissens im Dritten Reich gegeben. Die Behandlung der Entstehungsgeschichte des Grundrechts der Gewissensfreiheit muss daher an den „Gewissenskollaps“35 im Dritten Reich anknüpfen und in diesem Zusammenhang die Intention des Grundgesetzgebers bei der Ausgestaltung dieses Grundrechts verdeutlichen. Obwohl die These von dem „Gewissenskollaps“ unter der NS-Diktatur äußerst plausibel erscheint, ist dennoch eine nähere und ausdifferenzierte Betrachtung dieses geschichtlichen Phänomens geboten, damit die Zwiespältigkeit der Missachtung von individuellen moralischen Haltungen durch den nationalsozialistischen Unrechtsstaat eindeutig zum Ausdruck gebracht wird und die daraus resultierende rechtsgeschichtliche Einzigartigkeit der Gewissensfreiheit des Grundgesetzes erklärt werden kann. Schließlich ist es nicht nur die gewaltsame Unterdrückung des individuellen Gewissens der Bürger, welche die Gewissenskrise während des NS-Regimes ausmacht, sondern auch der damit Hand in Hand gehende Anspruch nationalsozialistischer Machthaber, eigens die höchste moralische Instanz zu verkörpern. Die Aversion des Nationalsozialismus gegen die Vorstellung vom individuellen Gewissen ist bereits an Hitlers Äußerung deutlich zu erkennen: „Wir beenden einen Irrweg der Menschheit. […] Das Gewissen ist eine jüdische Erfindung. Es ist wie die Beschneidung eine Verstümmelung des menschlichen Wesens“36. Die nationalsozialistische Diktatur, in der der ganze Bereich des politischen und gesellschaftlichen Lebens gleichgeschaltet wurde und von Führerkult durchdrungen war, war mit der Idee der individuellen Persönlichkeit unvereinbar. Die Vorstellung der Existenz einer individuellen moralischen Instanz läuft der Logik des tota

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Vgl. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 48. Vgl. ebd., S. 47. 34 Ebd., S. 48. 35 Dazu insb.: Dauner, P., Das Gewissen, S. 38 ff. 36 Zitiert nach: Rauschning, H., Gespräche mit Hitler, S. 210.

II. Gewissensfreiheit vor dem Hintergrund der NS-Zeit

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litären Regimes schon allein deswegen zuwider, da sie in sich die Möglichkeit einschließt, der einzelne Mensch könne die Richtigkeit der Staatsordnung prinzipiell immer infrage stellen. Die neuzeitliche Vorstellung vom Gewissen als einer Instanz autonomer moralischer Willensbestimmung wurde deswegen im Nationalsozialismus durch Werte wie Tapferkeit, soldatische Härte und Führertreue ersetzt.37 Insofern waren diejenigen Menschen, welche gegen das vom nationalsozialistischen Staat Verlangte einen Gewissenszweifel erhoben, gezwungen, sich dem Machtwillen bedingungslos zu unterwerfen. Und solche Persönlichkeiten, die sich dennoch entschieden, ihrem Gewissen zu folgen, mussten für ihre Gewissenshaltung mit dem Tod rechnen. Am eindringlichsten zeugt davon folgender Brief eines einfachen Bauernsohns aus dem Sudetenland, geschrieben am 3. Februar 1944: „Liebe Eltern: Ich muß Euch heute eine traurige Nachricht mitteilen, daß ich zum Tode verurteilt wurde, ich und Gustav G. Wir haben es nicht unterschrieben zur SS, da haben sie uns zum Tode verurteilt. Ihr habt mir doch geschrieben, ich soll nicht zur SS gehen, mein Kamerad Gustav hat es auch nicht unterschrieben. Wir beide wollen lieber sterben als unser Gewissen mit so Greueltaten zu beflecken … Ich weiß, was die SS ausführen muß.“38

Solche Beispiele39 zeigen, dass „Hitlers erklärter Wille zur Abschaffung des Gewissens […] repräsentativ für die geistige Verfasstheit des ganzen Dritten Reichs“40 ist. Die Aversion gegenüber der Idee des individuellen Gewissens ist allerdings nur ein Aspekt des „Gewissenskollaps“ im Nationalsozialismus. Auf der anderen Seite steht die Vereinnahmung des moralischen Standpunktes durch nationalsozialistische Staatsideologie. Görings Äußerung „Ich habe kein Gewissen. Mein Gewissen heißt Adolf Hitler“41 kann symptomatisch für den Austausch der Vorstellung des individuellen Willens als einer Quelle moralischer Normativität durch die des Führerwillens – als der vermeintlich höchsten moralischen Instanz – genommen werden. Die Führerworte hatten im Dritten Reich nicht nur eine positive, sondern darüber hinaus auch eine „quasi-naturrechtliche“ moralische Gesetzeskraft.42 Paradigmatisch dafür ist eine groteske Umkehrung des Kategorischen Imperativs von Kant durch nationalsozialistische Staatsideologen: „Handle so, daß der Führer, wenn er von Deinem Handeln Kenntnis hätte, dieses Handeln billigen würde“43. Während das Sittengesetz von Kant die Willensautonomie zum Ausdruck bringt, begründet sein nationalsozialistisch pervertiertes Äquivalent die Willensheteronomie, welche dem Einzelnen die Fähigkeit einer individuellen mora­lischen Ur

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Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 40 f. Zitiert nach: Fischer-Fabian, S., Die Macht des Gewissens, S. 21. 39 Ein weiteres signifikantes Beispiel in: ebd., S. 21. 40 Dauner, P., Das Gewissen, S. 22. 41 Zitiert nach: Rauschning, H., Gespräche mit Hitler, S. 77; vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 21. 42 Ebd., S. 26. 43 Frank, H., Technik des Staates, S. 9; dazu: Dauner, P., Das Gewissen, S. 26 f.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

teilsbildung schlechterdings abspricht.44 Anstelle der subjektiven Einsicht in das moralisch Gebotene wird damit die Unterordnung unter den Führerwillen postuliert. Auf diese Weise wurde die Gewissensauffassung als einer subjektiven Moralitätsinstanz durch das Selbstverständnis des nationalsozialistischen Staates, ein Ausführungsorgan des quasi-naturrechtlichen Führerwillens zu sein, abgelöst. Als „moralisch“ hat demnach nur das vom Führer Verlangte gegolten. Welche Konsequenz die Vereinnahmung des moralischen Standpunktes durch den Führerkult für das Gewissensverständnis im Dritten Reich hatte, kann am deutlichsten an der von Hannah Arendt beschriebenen Eichmann-Kontroverse45 beobachtet werden. Der SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann war einer der hauptverantwortlichen Holocaust-Planer und wurde 1961 vom Jerusalemer Bezirksgericht u. a. wegen „Verbrechen gegen das jüdische Volk“ und wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zum Tode verurteilt. Die Kontroverse des Eichmann-Prozesses bestand in dem Umstand, dass Eichmann in der Gerichtsverhandlung energisch daran festhielt, ein pflichtbewusster Bürger gewesen zu sein, der streng nach seinem Gewissen handelte und sich daher für seine Taten vor dem Gewissen gerechtfertigt sah.46 Das Gewissen in Eichmanns Selbstverständnis war das pflichtbewusste Erfüllen des Führerwillens47, das von allen subjektiven Affekten und Regungen frei war. Das eigentlich Dramatische an seiner Haltung sah Hannah Arendt darin, dass er vor dem Gericht sich nicht als ein dämonischer Bösewicht oder als ein fanatischer Judenhasser erwies, sondern als ein pflichtbewusster Untergebener des Führers, der seinem Willen nach bestem „Gewissen“ folgte: „Das beunruhigende an der Person Eichmanns war doch gerade, daß er war wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Urteilsmaßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen, denn sie implizierte […], daß dieser neue Verbrechertypus […] unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Un­taten bewußt zu werden.“48

Eichmanns Berufung auf das Gewissen bei der Rechtfertigung seiner Beteiligung an der Massenvernichtung von Juden bringt die volle Perversion von fundamentalen Grundnormen abendländischer Sittlichkeit im Nationalsozialismus zum Ausdruck49, dass nämlich die durch den Führerwillen verkörperte objektive Normativität der nationalsozialistischen Ideologie die Instanz der subjektiven Moralität tatsächlich verstummen zu lassen imstande war. Wie aus der Eichmann-Kontroverse hervorgeht, hatte die nationalsozialistische Vereinnahmung des Gewissens

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Dazu: Dauner, P., Das Gewissen, S. 30 f. Arendt, H., Eichmann in Jerusalem. 46 Ebd., S. 233 f. 47 Ebd., 232 f., 383. 48 Ebd., S. 400 f. 49 Dauner, P., Das Gewissen, S. 32.

II. Gewissensfreiheit vor dem Hintergrund der NS-Zeit

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zum Ziel, dass der Mensch seine Handlungen nicht auf ihre Moralität hinterfragt, sondern nur noch nach ihrer Konformität mit der Staatsideologie beurteilt. Die „Banalität des Bösen“50 im Dritten Reich bestand gerade darin, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten nicht unbedingt aus einer dämonischen Bösartigkeit ihrer Mitläufer geschahen, sondern aufgrund einer gezielt herbeigeführten, teils manipulierten teils gewaltsam erzwungenen Gewissensverstummung der breiten Maße möglich wurden. An dieser Stelle zeigt sich das ganze Ausmaß der Gewissenskrisis im Dritten Reich. Indem die nationalsozialistische Diktatur die Möglichkeit der Inanspruchnahme des individuellen Gewissens gewaltsam verdrängte und gleichzeitig den Führerwillen als eigentlichen Maßstab des Moralischen festlegte, suchte sie das moralische Urteilsvermögen in der Bevölkerung zu unterdrücken. Mit der Vermittlung des „guten Gewissens“ im Sinne der Führergefolgschaft steuerte sie darauf hin, die moralische Reflexion des Einzelnen stumm zu schalten und damit die Grundlagen der totalitären Herrschaft zu sichern. In diesem Kontext ist das Festhalten der Widerstandskämpfer aber auch anderer Bürger an einer individuellen Gewissensposition besonders beachtlich. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele, wie die „Flugblätter der weißen Rose“51 der Geschwister Scholl oder wie das gescheiterte Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 oder wie das oben angeführte Beispiel eines SS-Dienst-Verweigerers. Das Festhalten am eigenen Gewissen trotz der totalitären Unterdrückung des individuellen moralischen Urteilsvermögens und der damit verbundenen unmittelbaren Todesgefahr zeugt von der besonderen normativen Kraft der Gewissenshaltung. Das eventuelle Ausblenden oder das Nicht-Befolgen der inneren Gewissensstimme kam bei diesen Persönlichkeiten offensichtlich der existenziellen Selbstnegation gleich. Aus der Darstellung der Gewissensunterdrückung unter der NS-Herrschaft wird die normative Intention des Grundgesetzgebers gegen das Dritten Reich deutlich, den dort erfahrenen Widerstreit zwischen Staatsbefehl und Gottes- und Gewissensgebot durch die Neugestaltung des Grundrechts der Glaubens- Bekenntnis- und Gewissensfreiheit in Zukunft zu verhindern.52 Als Konsequenz wollte der Verfassungsentwurf insbesondere die moralische Freiheit des Individuums garantieren53, was zum Aufgeben des alten einheitlichen Begriffs der Glaubensund Gewissensfreiheit der Weimarer Verfassung führte.54 Die Gewissensfreiheit wurde in Art. 4 Abs. 1 GG nunmehr als eigenständiges Grundrecht garantiert, das auch diejenigen Tatbestände umfasst, die nicht unter eine Glaubensentscheidung

50 Der Ausdruck stammt aus dem Untertitel des o.g. Werkes von Hannah Arendt: „Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. 51 Dazu: Fischer-Fabian, S., Die Macht des Gewissens, S. 349 ff. 52 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 49. 53 Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 111. 54 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 50.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

fallen.55 Der Schutz des Gewissens als einer höchstpersönlichen Moralitätsinstanz bringt den Abwehrwillen gegen die unter der NS-Herrschaft möglich gewordene staatliche Vereinnahmung des Moralitätsstandpunktes und der Unterdrückung der individuellen moralischen Urteilskraft zum Ausdruck. Mit der Ausgestaltung des eigenständigen Grundrechts der Gewissensfreiheit macht der Grundgesetzgeber deutlich, dass die Bildung des moralischen Standpunktes ein ausschließlich subjektives Recht ist, das in einer besonderen Weise gegen staatliche Eingriffe und Vereinnahmungen geschützt werden soll. Die Darstellung des Entstehungshintergrunds der Gewissensfreiheit des Grundgesetzes lässt deutlich werden, dass die normative Entscheidung des Grundgesetzgebers, das Grundrecht der Gewissensfreiheit als unverletzlich und unbedingt zu garantieren, nicht anders als unter der Berücksichtigung der Bedrohung des Glaubens, des Gewissens und der Bekenntnisfreiheit im Dritten Reich erklärt werden kann.56 Die Intention des Grundgesetzgebers im Jahr 1949, die Glaubens- Bekenntnis- und Gewissensfreiheit unbedingt zu schützen, muss auf das besondere zeitgeschichtliche Bewusstsein zurückgeführt werden, das aus der unmittelbaren Erfahrung der gewaltsamen Unterdrückung moralischer Standpunkte der Bürger unter der Hitlerherrschaft stammt. III. Die Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Grundgesetz Aus den Darstellungen in beiden vorhergegangenen Kapiteln wird deutlich, dass die Gewissensfreiheit auf eine lange Geschichte zurückblickt und dass ihre Ausgestaltung im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland auf maßgebliche geschichtliche und gesellschaftspolitische Veränderungen zurückzuführen ist. Der Verfassungsgeber hat bei der Ausgestaltung der Grundrechte in Art. 4 GG auf verschiedene historisch in Erscheinung getretene Bedrohungen für die moralische Autonomie und Sinnorientierung reagiert57, was unter anderem die Einräumung eines eigenständigen Stellenwertes der Gewissensfreiheit zur Folge hatte. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der NS-Zeit sollte im Grundgesetz ein besonderer Schutz des inneren Kerns der Persönlichkeit vor den Eingriffen durch den Staat gewährleistet sein.58 Die wichtigen Elemente des inneren Persönlichkeitsschutzes, welche die sinnhafte Orientierung an eigene Selbst- und Weltvorstellungen umfassen sowie für die Selbstidentifikation als moralische Person konstitutiv sind, wurden in Art. 4 GG als Freiheitsrechte der religiösen, weltanschaulichen und individuellen moralischen Orientierung und des daran orientier

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Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 114. Vgl. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S.48. 57 Morlok, M., Artikel 4, Rn. 52. 58 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 22.

III. Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Grundgesetz 

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ten Handelns gewährleistet.59 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit zielte dabei auf den Schutz der Unverletzlichkeit der individuellen normativen Orientierung, welche auch unabhängig von religiösen oder sonstigen weltanschaulichen Konnotationen als innerstes Zentrum der Persönlichkeit60 begriffen wurde. Dieser innere Kern der Persönlichkeit soll durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit dem staatlichen Einwirken entzogen sein und wird deshalb, wie die Freiheit des Glaubens und des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses, in Art. 4 Abs. 1 GG für „unverletzlich“ erklärt. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit des Art.  4 Abs.  1 GG stellt somit das erste Grundrecht im Sinne eines säkularen Freiheitsrechts dar, das sich in einem unaufhaltsamen Prozess aus der Unterordnung unter das Recht der Glaubensfreiheit emanzipiert hat und zu einem eigenständigen Grundrecht wurde.61 Die ursprünglich religiös vermittelte Gewissensfreiheit wird unter dem Grundgesetz profanisiert und vom Glauben getrennt.62 Als relevante Gewissensmotivationen kommen somit nicht nur religiöse Gründe in Betracht, sondern sie können auch auf „unbewussten oder bewussten gefühlsmäßigen Bindungen, undogmatischer, individueller sittlicher Überzeugung“, „auf vernunftmäßigen Überlegungen, auf weltanschaulichen Grundsätzen oder auf einer ernsten politischen Überzeugung“ beruhen.63 Im Unterschied zum sachlichen Schutzbereich der Religions- und Glaubensfreiheit steht im Mittelpunkt der Gewissensfreiheit nicht der transzendente Bezug zu einem „höheren Wesen“64, sondern das Faktum der moralischen Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen. Insofern wird in Art. 4 Abs. 1 GG die Gewissensfreiheit neben der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit als partikulares Grundrecht gewährleistet.65 Im Unterschied zur Freiheit der Religionsausübung ist die Gewissensfreiheit ein höchstpersönliches Individualrecht, und kein Recht von Gruppen, auch nicht der Religionsgesellschaften.66 Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass, obwohl Glaube, Weltanschauung, Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2) und Gewissen als eigenständige Grundrechte nebeneinanderstehen, dennoch zwischen ihnen wechselseitige Impulse67 bestehen, und sie auf diese Weise praktisch ineinandergreifen können.68 Denn die Gewissensausbildung und Gewissensausübung kann durchaus religionsmäßig fundiert sein, sodass die Ausübung der Glaubens-, Be

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Morlok, M., Artikel 4, Rn. 41 f. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 54 f. 61 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 10. 62 Morlok, M., Artikel 4, Rn. 11. 63 BverwGE 7, 245 f.; Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 266. 64 Vgl. Hufen, F., Grundrisse des Rechts. Staatsrecht II, S. 354. 65 Dazu: Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 10; Starck, Ch., Artikel 4, Rn. 13, 63. 66 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 65. 67 Starck, Ch., Artikel 4, Rn. 63. 68 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 50.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

kenntnis- oder der Religionsfreiheit im Einzelfall zugleich Ausübung der Gewissensfreiheit sein kann.69 In solchen Fällen stehen diese Grundrechte weiterhin nebeneinander, greifen aber ineinander über.70 Eine weitere historisch bedingte Besonderheit von Art. 4 Abs. 1 GG ist der Verzicht auf den in Art. 135 Weimarer Reichsverfassung festgeschriebenen Gesetzesvorbehalt. Gerade vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Religionspolitik wollte der Grundgesetzgeber damit der Gefahr begegnen, durch einschränkende Gesetze die Garantie der Religionsfreiheit zu unterlaufen.71 Entsprechendes gilt auch für die Gewissensfreiheit, die in Art.  4 Abs.  1 erstmals als eigenständiges Grundrecht aufgenommen wurde. Das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts, das einen staatlichen Eingriff in die Gewissensfreiheit rechtfertigen würde, muss als Intention des Grundgesetzgebers gedeutet werden, die besondere Unantastbarkeit und Unbedingtheit dieses Grundrechts zum Ausdruck zu bringen.72 Durch den Verzicht auf den Vorbehalt der allgemeinen Gesetze hat der Verfassungsgeber den besonderen Wert des individuellen sittlichen Standpunktes zum Ausdruck gebracht. Der allgemeine Gesetzesvorbehalt wurde im Grundsatzausschuss des Parlamentarischen Rates nur im Zusammenhang mit der öffentlichen Religionsausübung diskutiert, schließlich aber auch an dieser Stelle abgelehnt.73 Die Kritiker einer Streichung des Gesetzesvorbehalts konnten sich in den Verhandlungen des Parlamentarischen Rats gegenüber der dominierenden Meinung, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung auch ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet werden kann, nicht durchsetzen.74 Allerdings ändert es nichts an dem Umstand, dass auch ein vorbehaltloses Grundrecht notwendig Einschränkungen unterzogen werden muss. Die Freiheit als rechtliche Freiheit kann niemals schrankenlos und absolut sein.75 Eine unbedingt gewährleistete Gewissensfreiheit würde die Geltung der allgemeinen Rechtsordnung völlig dem privaten Gewissensurteil der Bürger überantworten und sie damit praktisch aufheben.76 Das wichtigste und wohl auch das schwierigste Problem, das das Grundrecht der Gewissensfreiheit aufwirft, betrifft somit die Begrenzung durch die staatliche Rechtsordnung.77

69 Ebd., S. 50; So z. B. die Weigerung eines evangelischen Pfarrers, der als Zeuge vor Gericht aussagte, unter Berufung auf sein Grundrecht der Glaubens- und Gewissensfreiheit den Zeugen­eid zu leisten (BVerfGE 33, 23 ff.). 70 Zur Konkurrenz zwischen den Rechten aus Art. 4 Abs. 1 GG s. Bethge, H., Gewissens­ freiheit, Rn. 35 m. w. N. 71 Morlok, M., Artikel 4, Rn. 18. 72 Vgl. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 46. 73 Ebd., S. 49. 74 Morlok, M., Artikel 4, Rn. 18. 75 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 54. 76 Ebd., S. 53. 77 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn.  37; Ausführliche Behandlung dieses Problems wird zum Gegenstand der Auseinandersetzung im Abschnitt C. dieser Arbeit.

III. Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Grundgesetz 

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Wenn man indes auf die Bestimmung des Inhalts der Gewissensfreiheit, d. h. des Schutzbereiches dieses Grundrechts, eingeht, so reicht dieser vom Denken über das Äußern bis zum gewissensgeleiteten Handeln.78 Die sachliche Dimension des Grundrechtsschutzes betrifft zum einen den menschlichen Innenbereich der Gewissensbildung, das forum internum, das dem Staat den Zugriff auf den inneren Bereich der Gewissensbildung durch Indoktrination, Gehirnwäsche, Hypnose oder Narkoanalyse verwehrt.79 Diese Schutzdimension ist vor allem vor dem Hintergrund der im vorherigen Kapitel dargestellten Vereinnahmung des moralischen Standpunktes durch die nationalsozialistische Staatsideologie ausgewiesen worden und ist deswegen bedeutend, weil sich totalitäre Regime regelmäßig nicht damit begnügen, das Handeln des Menschen zu überwachen, sondern auch den Zugriff auf Denken und Glauben suchen.80 Allerdings ist der Schutzbereich der Gewissensfreiheit nicht auf den Innenbereich beschränkt, sondern umfasst zum anderen auch das gewissensgeleitete Handeln, das forum externum. Damit schließt die Gewissensfreiheit grundsätzlich auch das Recht mit ein, nach den innerlich als bindend und verpflichtend erfahrenen Geboten zu handeln, d. h. von der öffentlichen Gewalt nicht dazu verpflichtet zu werden, entgegen den Gewissensüberzeugungen handeln zu müssen.81 Hinter der Ausdehnung der Gewissensfreiheit auf das gewissensgeleitete Handeln steht die Vorstellung, dass es an der Dignität dieses Grundrechts vorbei gehen würde, die Freiheit, sich nach seinem Gewissen zu entscheiden, einzuräumen, jedoch die Freiheit, sich entsprechend dieser Gewissensentscheidung zu verhalten, zu verweigern.82 Für die Ausdehnung der Gewissensfreiheit auf den Außenbereich des gewissensbestimmten Handelns spricht außerdem der Umstand, dass die Gewissensentscheidung regelmäßig überhaupt erst durch ein entsprechendes Handeln zu einem gesellschaftlichen Konflikt werden kann.83 Seit der Verankerung der Gewissensfreiheit im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland gab es nur eine verhältnismäßig kleine Anzahl von Berufungen auf dieses Grundrecht. Die Berufung auf die Gewissensfreiheit ist kein „Massenphänomen“ und die wenigen Fälle sind nur auf begrenzte Lebensbereiche (wie z. B. Verweigerung staatlicher Dienste)  konzentriert.84 Diese Tatsache ist vor allem damit zu erklären, dass die Auflehnung des Gewissens gegen das Recht nur in Ausnahmesituationen stattfindet und die rechtlichen Regelungen meist in größt-



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Pieroth, B.,/Schlink, B., Grundrechte, Rn. 566. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 24; Morlok, M., Artikel 4, Rn. 58, 110. 80 Kokott, J., Art. 4, Rn. 79. 81 BVerfGE 48, 127 (163); 78, 391 (395); Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 25; Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 53; Kokott, J., Art. 4, Rn. 80. 82 Vgl. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 25; Herzog, R., Glaubens-, Bekenntnis- und Gewissensfreiheit, Sp. 1160 f. 83 Pieroth, B.,/Schlink, B., Grundrechte, Rn. 566. 84 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 212.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

möglichem Umfang dem allgemeinen und individuellen Rechtsbewusstsein entsprechen.85 Es seien an dieser Stelle einige Beispiele aus verschiedenen Rechtsgebieten vorgestellt, wo über die Gewissensfreiheit durch die Rechtsprechung der obersten Gerichte judiziert wurde: – In einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wurde deutlich, dass die Gewissensfreiheit zugunsten des Tierschutzes86 wirken kann, wenn sich Angestellte oder Studierende weigern, aus Gewissensgründen an den zu Forschungs- oder Lehrzwecken getöteten Tieren zu arbeiten oder an Tierversuchen mitzuwirken.87 Das Gericht machte deutlich, dass bei der Abwägung mit der Lehr- und Forschungsfreiheit dem hohen Rang der Gewissensfreiheit Rechnung getragen werden muss. Außerdem wurde bei dieser Entscheidung vom Gericht hervorgehoben, dass ein Indiz für die Ernsthaftigkeit der Gewissenshaltung die Bereitschaft des Betroffenen sein kann, um seiner Gewissenshaltung willen auch bereit zu sein, eventuell damit verbundene Nachteile in Kauf zu nehmen. – Die Klage eines Bundesoffiziers, der sich unter der Berufung auf sein Gewissen geweigert hatte, sich an der Entwicklung einer Software zu beteiligen, die für den nach seiner Ansicht völkerrechtswidrigen und damit auch unethischen IrakKrieg nutzbar sein könnte, führte dazu, dass das Bundesverwaltungsgericht die Gewissensfreiheit des Offiziers über die Pflicht zum Befehlsgehorsam gestellt hat. Das Gericht stellte fest, dass auch ein Soldat einen Anspruch darauf hat, von der öffentlichen Gewalt nicht daran gehindert zu werden, sich gemäß den ihn bindenden Gewissensgeboten zu verhalten.88 – Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht im Bezug auf Abgabenverweigerung der Sozialversicherungsbeiträge aus Gewissensgründen die Vorlage der Verfassungsbeschwerde einer Klägerin für unzulässig erklärt, die gegen ihre gesetz­liche Krankenversicherung auf Unterlassung der Finanzierung von „rechtswidrigen“ Abtreibungen klagte.89 Das Gericht stellte dabei fest, dass der Einzelne aus seinen Grundrechten keinen Anspruch auf Unterlassung der beanstandeten Verwendung der Beiträge herleiten könne, da er nicht verlangen könne, dass seine Überzeugungen zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen oder ihrer Anwendung gemacht werden.90 – Ebenso wies das Gericht die Verfassungsbeschwerde eines Postbeamten zurück, der sich aus Gewissensgründen geweigert hat, die Postwurfsendungen

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Würtenberger, Th., Gewissen und Recht, S. 427. Vgl. Kokott, J., Art. 4, Rn. 85. 87 BVerwGE 105, 73 ff. 88 BVerwGE 127, 302 ff. 89 BVerfGE 67, 26 ff. 90 BVerfGE 67, 26 (37).

III. Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Grundgesetz 

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der „Scien­tology-Organisation“ zuzustellen und sie stattdessen vernichtete. In seinem Urteil stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass ein Postbediensteter seine Dienstpflichten verletzt, wenn er sich unter Berufung auf sein Gewissen weigert, Postwurfsendungen der Scientology zuzustellen, ohne dass er zuvor zumutbare Möglichkeiten wahrgenommen hat, seinen Gewissenskonflikt mit den Mitteln des Beamtenrechts – etwa durch Umsetzung – zu lösen.91 Die Beispiele aus der Rechtspraxis lassen deutlich werden, dass bei der Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit insbesondere die Geltungsthematik, wie sich das individuelle Gewissen zur allgemeinen Rechtsordnung verhält, eine wesentliche Rolle spielt.92 Zum Abschluss der Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung der Gewissensfreiheit im Grundgesetz muss noch auf die besondere Regelung des Grundgesetzes bezüglich der Kriegs- und Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Art. 4 Abs. 3 GG eingegangen werden. Genauso wie die Gewährleistung des Grundrechts der Gewissensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG hat auch die Einführung des Rechts der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Art. 4 Abs. 3 GG einen besonderen historischen Hintergrund. In der Diskussion des Parlamentarischen Rates um die Kriegsdienstverweigerung93 kam zum Ausdruck, dass man nicht mehr einem Massenschlaf des Gewissens Vorschub leisten wolle und dass daher beim Widerstreit zwischen der Pflicht des Bürgers zur Landesverteidigung und dem Gewissensgebot, keinen Kriegsdienst mit der Waffe zu leisten, die Gewissensentscheidung des Einzelnen einen besonderen Vorrang haben solle.94 Der Kerngehalt dieses Grundrechts besteht darin, den Verweigerer vor dem Zwang zu bewahren, töten zu müssen, wenn ihm das Gewissen das Töten ausnahmslos zwingend verbietet.95 Obwohl das Töten zum maßgeblichen Bezugspunkt der Auslegung dieses Grundrechts genommen wird, richtet sich der unmittelbare Anknüpfungspunkt auf den „Kriegsdienst mit der Waffe“.96 Demnach fallen unter den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 3 alle Aktivitäten, die ausschließlich den Zweck haben, den Betroffenen auf eine Tätigkeit vorzubereiten, die er aus Gewissensgründen ablehnt.97 Aus dem Zusammenhang mit Art. 12 Abs. 2 GG, nach dem man zum Ersatzdienst verpflichtet werden kann, ergibt sich, dass die Ablehnung des Kriegsdienstes auch in

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BVerwG, Urteil vom 29.6.1999, 1 D 104/97; in: NJW 2000, S. 88. Dieses Problem wird explizit im Abschnitt C. dieser Arbeit aufgegriffen. 93 So Abg. Dr. Schmid (SPD) und Abg. Dr. Eberhard (SPD) in 2. Lesung des Hauptausschusses, 43. Sitzung am 18.1.1949, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, 1951, S 77 f. 94 Scholler, H. J., Die Freiheit des Gewissens, S. 115; Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 68; Morlok, M., Artikel 4, Rn. 156. 95 BVerfGE 32, 40 (45); 48, 127 (163 f.). 96 Morlok, M., Artikel 4, Rn. 159 f. 97 BVerfGE 12, 45 (56); Kokott, J., Art. 4, Rn. 95.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

den Friedenszeiten gilt.98 Die Beeinträchtigung von Art. 4 Abs. 3 liegt vor, wenn man zum Kriegsdienst mit der Waffe trotz vorliegender entgegengesetzter Gewissensentscheidung rechtlich gezwungen ist. IV. Die Gewissensfreiheit im Kontext der Menschenwürde als höchstem Verfassungswert Im Anschluss an die Darstellung des rechtsgeschichtlichen Hintergrunds der Gewissensfreiheit und ihrer Ausgestaltung im Grundgesetz muss auf den normativen Rahmen der verfassungsrechtlichen Ordnung eingegangen werden, in welchem die Gewissensfreiheit neben anderen Grundrechten in einem konsistenten Sinnzusammenhang steht. Die Auseinandersetzung mit dem normativen Hintergrund der Verfassung ist vor allem für die Bestimmung der Schutzrichtung dieses Grundrechts bei der nachfolgenden Beschäftigung mit dem Schutzgut der Gewissensfreiheit entscheidend. Die einzelnen Grundrechte des Grundgesetzes sind ein Teil  der verfassungsrechtlichen Gesamtordnung und können daher nicht für sich isoliert betrachtet werden, ohne auf den Sinnzusammenhang der Verfassung, d. h. auf die verfassungsrechtliche Intention bei der Gewährleistung von Freiheitsrechten Bezug zu nehmen. Die Auseinandersetzung mit der Zielrichtung der Gewährleistung von Freiheitsrechten im grundrechtlichen System ist unumgänglich, um die Schutzrichtung einzelner Grundrechte – und damit auch des Grundrechts der Gewissensfreiheit – zu verdeutlichen. Die Zielrichtung der Gewährleistung von Freiheitsrechten im Grundrechtssystem muss aus der Zentralstellung des Menschen und seiner Würde erklärt werden. Die Achtung des Menschen als Einzelwesen ist als oberster Zweck des vom Grundgesetz verfassten Staates zu verstehen.99 Die Menschenwürde wird vom Bundesverfassungsgericht als „oberster Verfassungswert“100 sowie auch als ein „Konstitutionsprinzip“101 beschrieben und damit als Mittelpunkt102 der grundgesetzlichen Ordnung.103 Auch aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes geht hervor, dass mit der Feststellung, dass der Staat um des Menschen willen da ist, und nicht der Mensch um des Staates willen104, die Achtung der Menschen-



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BVerfGE 48, 127, (163 f.); Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 81 f. Di Fabio, U., Einführung in das Grundgesetz, S. XII; BVerfGE 12, 45 (51). 100 BVerfGE 32, 98 (108); 33, 23 (29); 50, 166 (175); 54, 341, (357). 101 BVerfGE 6, 32 (36); 45, 187 (227); 87, 209 (228). 102 BVerfGE 65, 1 (41); vgl. Di Fabio, U., Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, Rn. 25. 103 Vgl. Häberle, P., Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Rn. 7. 104 Bucher, P., Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd., 2, S. 217.

IV. Die Gewissensfreiheit im Kontext der Menschenwürde

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würde in den Vordergrund der staatlichen Ordnung gestellt wird.105 Der „Vorrang des Menschen und seiner Würde gegenüber der Macht des Staates“106 wird ebenfalls durch die Voranstellung des Grundrechtsabschnitts im Grundgesetz zusammen mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG auf eine besondere Weise betont. Im Mittelpunkt des Grundrechtsabschnitts des Grundgesetzes befindet sich damit die sich frei entfaltende menschliche Persönlichkeit und ihre Würde.107 Das Bundesverfassungsgericht spricht aus diesem Grund auch von einem Wertesystem108 der Verfassung, in welchem die Würde des Menschen einen zentralen Bezugspunkt einnimmt: „Ebenso richtig ist aber, dass das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Werteordnung aufgerichtet hat und dass gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt. Dieses Wertesystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeiten und ihrer Würde findet, muss als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten.“109

In ihrer Richtlinien- und Maßstabfunktion110 stellt die Menschenwürde somit einen Quellcode111 des Wertefundaments des Rechts dar. Die Beschreibung der Menschenwürde als Höchstwert im Wertesystem der Verfassung darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass der Staat sich mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde auf konkrete positive Werteinhalte mit einem Absolutheitsanspruch festlegt und damit gegen das Neutralitätsgebot verstößt.112 Das Neutralitätsprinzip bedeutet nicht, dass die staatliche Ordnung sich in einem Wertevakuum befindet.113 Die weltanschauliche Neutralität darf nicht als staatliche Indifferenz gegenüber religiösen oder ethischen Vorstellungen gedeutet werden. Den Grundwerten der Grundrechte verpflichtete Pluralität der Wertevorstellungen hat genauso wenig mit einem prinzipiellen Relativismus oder mit Indifferenz gemein, wie die Neutralität nicht generell Neutralisierung meint.114 Vielmehr bedeutet der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität die Aufgabe des Staates, ein loyaler Mittler zwischen gleichberechtig 105 Vgl. Merten, D., Das Prinzip Freiheit im Gefüge der Staatsfundamentalbestimmungen, Rn. 9. 106 BVerfGE 7, 198 (205). 107 BVerfGE 7, 198 (205). 108 BVerfGE 21, 362 (372); 24, 119 (144); 50, 166 (175). 109 BVerfGE 7, 198 (205). 110 Enders, Ch., Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 310 ff. 111 Di Fabio, U., Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, Rn. 37. 112 Dazu: Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 52; Di Fabio, U., Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, Rn. 14 f. 113 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 208. 114 Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S.  256; vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 240.

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

ten Weltanschauungen zu sein und gleiche Entfaltungs- und demokratische Mitwirkungschancen zu ermöglichen.115 So wird vom Bundesverfassungsgericht bereits in einer seiner ersten Entscheidungen festgestellt, dass „die Grundordnung eine wertgebundene Ordnung [ist]. Sie ist das Gegenteil des totalen Staates, der als ausschließliche Herrschaftsmacht Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit ablehnt.“116 Die Existenz einer den Grundrechten heimischen Werteordnung kann daher nicht in Abrede gestellt werden.117 Bei der Bestimmung der Menschenwürde als Höchstwert der Verfassungsordnung geht es darum, anhand grundsätzlicher Aussagen über die Ordnung des Grundgesetzes deren Unverträglichkeit mit bestimmten anderen Ordnungsvorstellungen darzutun.118 Gerade vor dem Hintergrund der Erfahrungen des Kampfes mit dem totalitären System bedeutet die Entscheidung des Verfassungsgebers für eine wertegebundene Ordnung eine Absage an die Werteneutralität der Weimarer Reichsverfassung, um die freiheitliche Demokratie und die Menschenwürde zu verteidigen und zu sichern.119 Die Menschenwürde statuiert damit einen vorstaatlichen Staatszweck und kennzeichnet ihn als personale Freiheitsnatur des Menschen.120 Se ist kein unmittelbarer Gegenstand und Inhalt bestimmter Rechtsnormen, sondern der Grund aller möglichen Rechtsverhältnisse.121 Durch das Bekenntnis zur Menschenwürde als höchstem Verfassungswert wird den Bürgern keine Wertehierarchie aufgezwungen, sondern im Gegenteil – eine Werteoffenheit, Wertepluralität und Möglichkeit der freien Wertewahl erst möglich gemacht.122 Die mit dem Würdebegriff einhergehende Idee über den höchsten Selbstwert der sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeiten muss in diesem Zusammenhang als ein Programm des Grundgesetzes verstanden werden123, das in der Substanz anderer Grundrechte nicht vollständig verloren gehen darf.124 Mit der Ausweisung der Menschenwürde als dem höchsten Verfassungswert wird kein positiver, sondern ein normativer Leitwert gesetzt, welcher den Grundrechten 115

BVerfGE 105, 279 (294 f.); 108, 282 (299–301) m. w. N.; Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 55; Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 100 f.; Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 205 f., 240; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn., 383; Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 256 f.; Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 262 f. 116 BVerfGE 2, 1 (12). 117 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn.  52; Di Fabio, U., Grundrechte als Werteordnung, S. 1 ff. 118 Enders, Ch., Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 43. 119 BVerfGE 5, 85 (138); Enders, Ch., Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 43. 120 Ebd., S. 155. 121 Ebd., S. 155. 122 Vgl. Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 264. 123 Bryde, B.-O., Programmatik und Normativität der Grundrechte, Rn. 26. 124 Di Fabio, U., Grundrechte als Werteordnung, S. 5.

IV. Die Gewissensfreiheit im Kontext der Menschenwürde

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des Grundgesetzes eine Schutzrichtung verleiht – und zwar ein eigener selbstständiger Wert125 des Menschen. Die Menschenwürde im Sinne eines tragenden Konstruktionsprinzips126 der Verfassung ist in ihrer maßstabsetzenden Funktion „normativ“. Sie hat eine normierende Funktion bei der Bestimmung von Teilaspekten des positiven Rechts und markiert damit auch die Zielrichtung der Gewährleistung von Freiheitsrechten im grundrechtlichen System. Damit erscheint sie auch als die „Quelle der Grundrechte“127, welche den einzelnen Grundrechten eine Zielrichtung verleiht und als „Schlüssel für das Ganze“128 des Grundrechtskatalogs in die Erscheinung tritt. Sie gestattet, die Grundrechte in einem konsistenten Sinnzusammenhang zu betrachten, und zwar als auf ihre Entfaltung gerichtete Freiheiten.129 Die Menschenwürde wird damit auch zum Maßstab bei der Spezialinterpretation des jeweiligen Grundrechts.130 In diesem Sinne wird die Menschenwürde auch vom Bundesverfassungsgericht mehrfach als Ausgangspunkt der Grund­gesetzinterpretation genommen131, indem die einzelnen Grundrechte im Zusammenhang mit der Menschenwürde ausgelegt bzw. verstärkt werden.132 Das Verständnis der Menschenwürde als ein normativer Leitwert des Grundrechtssystems bedeutet für die Auseinandersetzung mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit, dass die Gewährleistung der Freiheit, eigenen sittlichen Überzeugungen zu folgen, im Kontext der auf die Menschenwürde gerichteten Verfassungsordnung betrachtet werden muss. Dies wird auch vom Bundesverfassungsgericht eindeutig festgestellt, wenn es sagt, dass Art. 4 Abs. 1 GG ein spezifischer Ausdruck der in Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde ist.133 Die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit muss folglich im Zusammenhang mit der systematischen verfassungsrechtlichen Intention ausgelegt werden, die Würde der sich frei entfaltenden Persönlichkeit durch die Freiheitsrechte des Grundgesetzes zu wahren. Die Normativität des Grundrechts der Gewissensfreiheit, welche insbesondere durch das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts verstärkt wird, kann nur im Zusammenhang mit der normativen Leitidee der Menschenwürde erklärt werden, welche diesem Grundrecht seine Zielrichtung verleiht. Auch der Rückblick auf die Entstehungsgeschichte des Art. 4 GG lässt deutlich werden, dass die gewaltsame Unterdrückung moralischer Standpunkte der Bürger im Dritten Reich nicht anders zu verstehen ist denn als Missachtung der menschlichen Würde.

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BVerfGE 2, 1 (12). Di Fabio, U., Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, Rn. 32. 127 Ebd., Rn. 37. 128 Abg. Dr. Carlo Schmid (SPD) in der 4. Sitzung des Ausschusses für Grundsatzfragen v. 23.09.1948, in: Bucher, P., Der Parlamentarische Rat 1948–1949, Bd. 5/1, S. 64. 129 Di Fabio, U., Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, Rn. 36 ff. 130 Dürig, G., Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 81 (1956), S. 122. 131 Z. B.: BVerfGE 32, 373 (379); 33, 23 (28 f.); 36, 174 (188); 54, 341 (357); 56, 54 (74 f.). 132 Häberle, P., Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Rn. 6. 133 BVerfGE 33, 23 (28 f.). 126

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B. Entstehungshintergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

Der Befund, dass die Menschenwürde die normative Zielrichtung der Gewährleistung von Freiheitsrechten im Grundrechtssystem darstellt, lässt deutlich werden, dass die Konkretisierung des Schutzguts des Grundrechts der Gewissensfreiheit auf die durch die Gewissensentscheidung zum Ausdruck gebrachte besondere menschliche Eigenart, eine sich frei entfaltende Persönlichkeit zu sein, gerichtet sein muss. Bei der Interpretation des Schutzguts des Grundrechts der Gewissensfreiheit ist damit der Zusammenhang zwischen der Menschenwürde und der Gewissensfreiheit maßgebend. V. Fazit Mit der Darstellung des rechtsgeschichtlichen Hintergrunds der Entwicklung der Gewissensfreiheit wurde deutlich, dass die Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit in Art. 4 GG durch vielfältige gesellschaftspolitische Wandlungen geprägt ist. Zum einen steht die Entwicklung dieses Grundrechts untrennbar mit dem Entstehungsprozess des modernen säkularen Verfassungsstaats in Verbindung. Die Loslösung des Gewissens aus dem spiritualisierten religiösen Kontext und die Entwicklung zum eigenständigen Grundrecht kann nur im Zusammenhang mit dem jahrhundertelangen Entwicklungsgang der Säkularisierung nachvollzogen werden, d. h. der allmählichen Entbindung der politischen Ordnung von der religiösen Bestimmung und ihrer Beschränkung auf weltliche Staatszwecke. Zum anderen muss die Ausgestaltung der Gewissensfreiheit in Art. 4 GG als eigenständiges unbedingt zu achtendes Grundrecht, das durch den Verzicht auf einen einschränkenden Gesetzesvorbehalt mit einer besonderen Unantastbarkeit ausgestattet ist, auf die normative Intention des Verfassungsgebers zurückgeführt werden, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft erfahrene Unterdrückung der individuellen moralischen Orientierung in Zukunft zu verhindern. Die Entstehungsgeschichte des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Hinblick auf die Missachtung der subjektiven Moralität unter der nationalsozialistischen Diktatur und die Beschreibung der Menschenwürde als höchstem normativen Leitwert der Verfassung lässt deutlich werden, dass sich die Interpretation der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG auf die verfassungsrechtliche normative Komponente der Menschenwürde beziehen muss.

C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit Nachdem die geistesgeschichtlichen Grundlagen des moralphilosophischen Gewissensbegriffs erläutert wurden und sowohl die rechtsgeschichtliche als auch systematische Intention des Verfassungsgebers bei der Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit im Art. 4 Abs. 1 GG dargestellt wurde, wird im folgenden Abschnitt näher auf die Schutzgutbestimmung dieses Grundrechts eingegangen. Nach der Erläuterung der Schwierigkeit, den grundrechtlichen Gewissensbegriff zu erfassen, werden unterschiedliche Interpretationsansätze der Schutzrichtung der Gewissensfreiheit dargestellt und darauf untersucht, ob sie der systematischen und verfassungsgeschichtlichen Grundlage von Art. 4 Abs. 1 GG entsprechen bzw. zuwiderlaufen. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf die Darstellung des normativen Gewissensverständnisses gelegt. I. Definitionsproblem des Gewissens im Recht 1. Unbestimmtheit des grundrechtlichen Gewissensbegriffs Die Auseinandersetzung mit der Frage, was „Gewissen“ im Sinne des Grundrechts bedeutet, wird vor allem aus rechtspraktischen Gründen zum Thema juristischer Definition.1 Da eine rechtliche Norm nur dann praktische Geltung erlangen kann, wenn ihre Begriffe eindeutig definiert sind2, ist die Frage nach dem Gewissensbegriff im Kontext des Grundrechts der Gewissensfreiheit für die Bestimmung der Bedeutung, der Reichweite und damit auch der Grenzen dieses Grundrechts entscheidend.3 Die Notwendigkeit, das dem Gewissensbegriff zugrunde liegende Phänomen rechtsdogmatisch zu erschließen, ergibt sich für die Rechtswissenschaft insbesondere aus dem Erfordernis, ihn gegen andere Rechtsgüter, wie z. B. der Meinungsfreiheit oder gegen die allgemeine Handlungsfreiheit (im Fall vom gewissensgeleiteten Handeln im forum externum), abzugrenzen.4 Untrennbar mit dem Definitionserfordernis geht daher die Intentionsfrage einher, was der Staat mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht der Gewissens-



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Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 46. Ebd., S. 46. 3 Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 121. 4 Vgl. Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 66; Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 47.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

freiheit eigentlich schützt. Denn was er nicht definieren kann, das kann er auch nicht schützen.5 Obwohl mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit das „Gewissen“ als eine bekannte Größe vorausgesetzt wird, besteht dennoch eine beträchtliche Schwierigkeit, das Schutzgut zu bestimmen, auf welchen Wirklichkeitsabschnitt sich die Gewissensfreiheit bezieht.6 Diese Schwierigkeit gründet nicht zuletzt in der bereits näher beschriebenen gegenwärtigen gesellschaftlichen und philosophischen Unbestimmtheit über den Gehalt des Gewissensbegriffs, welche sowohl in der Unbestimmtheit über die moralischen Maßstäbe als auch in der Tendenz zur Privatisierung von moralischen Standpunkten gründet.7 Die Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gewissensbegriffs und seine Mehrdeutigkeit ändern allerdings nichts an der Tatsache, dass der Jurist zur Konkretisierung dieses Begriffs ge­ zwungen ist.8 Aus rechtspraktischen Gründen kann das Definitionsproblem nicht zur Resignation und damit zur Deklaration des Gewissens als definiens indefinibilis führen.9 Ein konturloser Rechtsbegriff ist wegen seiner Vieldeutigkeit und Unbestimmtheit der juristischen Auslegung als einer positiven Rechtsnorm verschlossen. Genauso wie die Gewissensbeschreibung als ein grundsätzlich undefinierbarer Begriff, müssen auch diejenigen Interpretationsansätze von vornherein zurückgewiesen werden, welche im Ergebnis Mehrdeutigkeit und Konturlosigkeit dieses Begriffs begründen. So wird das Definitionsproblem kaum durch den Ansatz, in Anlehnung an den „Lumpensammler-Beschluss“10 zur Religionsfreiheit, den Schutzbereich der Gewissensfreiheit dem Selbstverständnis des betroffenen Grundrechtsträgers zu überlassen11, gelöst.12 Der Schutzbereich der Gewissensfreiheit könnte von Person zur Person nach Maßgabe des Selbstverständnisses verschiedentlich interpretiert werden und damit zu Widersprüchen und je nach individueller Begabung, seine Interessen zu artikulieren, zur Ungleichbehandlung führen.13 Das individuelle Selbstverständnis kann zwar im Einzelfall als Indiz für das Vorliegen einer Gewissensentscheidung herangezogen werden14, darf aber nicht zum alleinigen Merkmal rechtlicher Gewissensbestimmung erklärt werden.

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Arendt., A., Die Kunst im Recht, S.  28; Isensee, J., Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 35. 6 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 174; Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 4. 7 Dazu: s. o. Abschnitt A. IV. 1. 8 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 15. 9 Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 46. 10 BVerfGE 24, 236 (245 ff.). 11 In diese Richtung das Sondervotum des Richters Hirsch in: BVerfGE 48, 185 (188 f.). 12 Vgl. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 17; Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 137; Isensee, J., Wer definiert die Freiheitsrechte?, S. 12, 17 ff.; Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127. 13 Vgl. Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 48 f. 14 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 17.

I. Definitionsproblem des Gewissens im Recht

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Genauso wenig wie aus dem Selbstverständnis des Grundrechtsträgers kann die Gewissensdefinition dem „allgemeinen Sprachgebrauch“ entlehnt werden.15 Da der Sprachgebrauch je nach besonderen gesellschaftlichen Bedingungen äußerst sinnvariabel sein kann, kann er nicht als ein sicherer Garant für die Bestimmung des Gewissensbegriffs im Recht dienen.16 Wie außerdem bereits im Abschnitt A. IV. 1. a) dieser Arbeit dargestellt wurde, befindet sich die Verwendung der reflexiven Gewissenssprache gegenwärtig selbst im Rückgang. Die Gewissensdefinition im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners seiner Sprachverwendung würde darüber hinaus nicht unbedingt den Wesenskern des Begriffs im Sinne einer Minimalübereinstimmung über seine Bedeutung beinhalten, sondern durchaus mehrere voneinander unabhängige und aufeinander nicht zurückführbare heterogene Bedeutungsgehalte.17 Eine einheitliche Substanz des Gewissensphänomens würde sich auf diese Weise nicht bestimmen lassen. In seiner auf den allgemeinen Sprachgebrauch zurückgreifenden Definition wird das Gewissen vom Bundesverfassungsgericht als „ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen […], dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind“ bestimmt und eine Gewissensentscheidung als „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könne“.18 Unabhängig von der Kritik, dass diese weitgehend anerkannte19 Definition gar nicht dem allgemeinen Sprachgebrauch entspricht20, muss festgestellt werden, dass in seinem Versuch, eine konsensfähige Gewissensdefinition auszuarbeiten, das Gericht mehrere heterogene Begriffskomponenten nebeneinander stellt. Das Schutzgut der Gewissensfreiheit wird einerseits als ein „real erfahrbares seelisches Phänomen“ bezeichnet und durch eine affektive21 Komponente der „Gewissensnot“ beschrieben, was als ein Verweis auf die Rezeption eines em-



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So aber der Ansatz des Bundesverfassungsgerichts, „Gewissen“ im Sinne des allgemeinen Sprachgebrauchs zu bestimmen: BVerfGE 12, 45 (54 f.). 16 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 67; Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 47. 17 Als Beispiel dafür kann die Gewissensbestimmung vom Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 12, 45 (55)) selbst angeführt werden, die mehrere Aspekte einer Gewissensentscheidung gleichrangig nebeneinander stellt, welche jedoch für sich genommen grundverschiedene Gewissensinterpretationen erlauben (dazu weiter unten). Zur Gewissensbestimmung aus dem allgemeinen Sprachgebrauch s. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 29 f. 18 BVerfGE 12, 45 (54 f.). 19 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 174. 20 Dazu: Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 67, Fn. 110; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 30, 174 f. 21 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 145 ff.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

pirischen Befundes gedeutet werden kann.22 Andererseits wird das Schutzgut durch die normativ-kognitive Komponente der „an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierten Entscheidung“ und „unmittelbar evidenten Gebote“ umschrieben.23 Aus dieser Vielschichtigkeit der Gewissensbestimmung erwächst die Unsicherheit, welches Schutzgut und welche Schutzrichtung Art. 4. Abs. 1 GG eigentlich hat.24 Es entsteht die Frage, auf welchen Aspekt der sittlichen Entscheidung der Schutz der Gewissensfreiheit primär abzielt. Ist es der Schutz des Menschen vor der Gewissensnot und damit vor einer Verletzung der kontingenten Integrität seiner Persönlichkeit, oder ist es der Schutz einer normativen Entscheidung des Individuums?25 Je nach dem, welcher Aspekt bei der Schutzgutbestimmung hervorgehoben wird, ergeben sich unterschiedliche Interpretationsansätze des Grundrechts der Gewissensfreiheit. Im Falle der Akzentuierung der affektiven Komponente wäre der Schutzgutbestimmung ein empirisches Gewissensverständnis zugrunde gelegt26, wonach sich Art. 4 Abs. 1 GG auf den Schutz der Persönlichkeit vor einem affektiv empfundenen Gewissenskonflikt, d. h. vor negativen Folgen des rechtmäßigen Verhaltens bezieht. Im Falle der Betonung des normativ-kognitiven Aspekts würde das Grundrecht der Gewissensfreiheit vom normativen Gewissensverständnis ausgehen27, bei welchem das Grundrecht die sittliche Selbstverantwortlichkeit des Individuums und seine ethische Überzeugungen vor Kollisionen mit der normativen Ordnung des Rechts schützt. Beide Interpretationstendenzen sind in der Literatur vertreten und werden in den nachfolgenden Kapiteln näher erläutert. Die Darstellung der Unbestimmtheit des rechtlichen Gewissensbegriffs muss zusammenfassend mit der Feststellung abgeschlossen werden, dass die Zuordnungsschwierigkeit, auf welchen Wirklichkeitsabschnitt und auf welchen Gegenstand sich die Gewissensfreiheit bezieht, weder durch den Verweis auf die Selbst­interpretation des Grundrechtsträgers noch durch den Rückgriff auf den allgemeinen Sprachgebrauch jedoch auch nicht unmittelbar aus der Definition des Bundesverfassungsgerichts („trotz und wegen ihrer formalen Weite“28) zu lösen ist.



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So z. B. ebd., S. 243. Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 175 f. 24 Ebd., S. 175. 25 Ebd., S. 175. 26 Ebd., S. 176. 27 Ebd., S. 176. 28 Ebd., S. 174.

I. Definitionsproblem des Gewissens im Recht

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2. Zur Interpretation der Gewissensfreiheit Die oben dargestellte Ambivalenz der Gewissensbestimmung durch das Bundesverfassungsgericht lässt die Notwendigkeit der Orientierung über den Bedeutungsgehalt des Schutzguts der Gewissensfreiheit deutlich werden.29 Aus der Mehrdeutigkeit dieses Begriffs folgt das Erfordernis, „sich für eine oder einige bestimmte unter den möglichen Bedeutungen zu entscheiden“30. Eine solche Entscheidung bedarf jedoch einerseits eines Katalogs möglicher Bedeutungen31 und andererseits eines Maßstabs, an dem die jeweiligen Gewissensinterpretationen auf ihre Eignung, den Gewissensbegriff im Kontext des Grundrechts der Gewissensfreiheit zu erklären, gemessen werden können. Als Maßstab für die Auseinandersetzung mit einzelnen Interpretationsansätzen wird im Anschluss an Abschnitt B. dieser Arbeit sowohl die rechtsgeschichtliche Intention des Verfassungsgebers bei der Gewährleistung des Grundrechts der Gewissensfreiheit genommen als auch die verfassungsrechtliche Intention, die Würde der sich frei entfaltenden Persönlichkeit durch die Freiheitsrechte des Grundgesetzes im Allgemeinen und durch die Gewissensfreiheit im Besonderen zu wahren.32 Sowohl die rechtsgeschichtliche Intention als auch die verfassungsrechtliche systematische Verbindung der Gewissensfreiheit mit der Menschenwürde legen die Schutzrichtung dieses Grundrechts als Wahrung der im sittlichen Urteil sich ­äußernden eigenwertigen freiheitlichen Natur des Menschen fest.33 Anhand dieser Intentionalität muss die Gewissensbetätigung einer Person als Ausdruck der eigenwertigen Natur des Menschen verstanden werden, woraus eine unbedingte Achtung gegenüber der Gewissenshaltung einer Person folgt. Die einzelnen Ansätze der Gewissensbestimmung werden dementsprechend daran gemessen, ob sie der verfassungsrechtlichen Intentionalität gerecht werden, d. h. ob sie mit ihrer spezifischen Gewissensinterpretation die unbedingte Achtung einer Gewissenshaltung im Sinne der Würdigung der freiheitlichen Natur des Menschen zu begründen vermögen. Diejenigen grundrechtsdogmatischen Gewissensbestimmungen, welche dem normativen Maßstab nicht gerecht werden, müssen als mit der verfassungsrechtlichen Intentionalität inkompatibel und somit für die Bestimmung des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit als unzulänglich ausgewiesen werden. Wenn man indes auf einzelne Interpretationsansätze näher eingeht, so muss festgestellt werden, dass die Schutzgutbestimmung sowohl durch die Hervorhebung der affektiven als auch der normativ-kognitiven Komponente auf bestimmte außerrechtliche Gewissensvorverständnisse zurückgreift. Dies ist naheliegend,

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Vgl. ebd., S. 195. Tiedemann, P., Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 62. 31 Ebd., S. 62. 32 s. o. Abschnitt B. IV. 33 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 115.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

denn das „Gewissen“ ist kein Rechts-, sondern ursprünglich ein moralphilosophischer Begriff, der „außerhalb des verfassungsstaatlichen Systems“34 liegt. Da es kein Rechtsbegriff ist, muss die Rechtswissenschaft mit außerrechtlichen Überlegungen arbeiten.35 Es gehört dabei gerade zur Kompetenz von geisteswissenschaftlichen Disziplinen, den Zugang zur Struktur des menschlichen Geistes im Hinblick auf das dem Gewissensbegriff zugrunde liegende Phänomen der moralischen Selbstverpflichtung zu verschaffen. Jeder der im Folgenden darzustellenden grundrechtsdogmatischen Interpretationsansätze greift somit nolens volens auf ein außerrechtliches geisteswissenschaftliches Vorverständnis über die konstitutiven Elemente des Gewissensphänomens zurück. Das gilt sowohl für die Gewissensinterpretation aus dem verfassungsimmanenten Menschenbild als auch für diejenigen Ansätze, welche durch ihre Methode einen Rückgriff auf die philosophische Ebene explizit zu vermeiden suchen. Auch sie beziehen sich jedoch auf bestimmte außerrechtliche – psychologische bzw. soziologische – Vorannahmen36, wenn sie bestimmte empirische Vorgänge unter dem Gewissensbegriff subsumieren. Wegen der Besonderheit des Schutzguts der Gewissensfreiheit, ein subjektinternes Phänomen zu sein, das einer unmittelbaren objektiven Erkenntnis nicht zugänglich ist, ist für die grundrechtsdogmatischen Auseinandersetzungen mit der Gewissensfreiheit ein Rückgriff auf bestimmte geisteswissenschaftliche, d. h. sowohl philosophische als auch gesellschaftswissenschaftliche Vorverständnisse über das Gewissensphänomen unvermeidbar.37 Die Frage nach dem Gewissen bewirkt daher bei der Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit wie bei keinem anderen Grundrecht – abgesehen von der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG – einen interdisziplinären Diskurs.38 Es steht außerdem auch dem Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität nicht entgegen, wenn einzelne Interpretationsansätze auf bestimmte psychologische, soziologische oder philosophische Vorverständnisse über das Gewissensphänomen zurückgreifen39, um die konstitutiven Elemente des Gewissensbegriffs im Kontext der Gewissensfreiheit aufzuzeigen.40 Denn auch der zur weltanschaulichen Neutralität verpflichtete Staat muss eine Position bei der Schutzgutbestimmung dieses Grundrechts beziehen.41 Die geisteswissenschaftliche Betrachtung des real erfahrbaren Phänomens subjektiver sittlicher Orientierung betrifft dabei nicht die Frage, welche konkreten inhaltlichen moralischen Grundsätze das

34 Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 43; vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 139. 35 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 104, Fn. 352. 36 Vgl. Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 159. 37 Vgl. Ebd., S. 159. 38 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 104, Fn. 352. 39 Vgl. Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 159. 40 s. u. Abschnitt C. III. 3. 41 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn.  16; Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 159.

I. Definitionsproblem des Gewissens im Recht

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Art. 4 Abs. 1 GG schützt, sondern auf welche Substanz und wogegen der Schutz des Gewissens im Grundgesetz gerichtet ist und welchen Stellenwert42 man bei der Auslegung dieses Grundrechts dem Gewissen beimisst. Die interdisziplinären Zugänge suchen die Frage zu beantworten, warum die Gewissenshaltung einer Person eine rechtsstaatliche Achtung gebietet.43 Sie betreffen nicht die Fragestellung, welche von dem Grundrechtsträger vorgetragene Grundsätze als moralisch verpflichtend anerkannt werden dürfen, sondern eine Reflexion darüber, welche konstitutiven Elemente im Verständnis des Gewissens notwendig vorausgesetzt und bei der Judikatur des Art. 4 Abs. 1 GG berücksichtigt werden müssen.44 Das Schutzgut dieses Grundrechts wird somit anhand von Vorverständnissen, welcher Realitätsabschnitt des menschlichen Seins durch die Gewissensentscheidung zum Ausdruck gebracht wird, bestimmt. Es geht bei dem jeweiligen Rückgriff auf ein außerrechtliches Vorverständnis über das Gewissen um die Interpretation der Schutzrichtung der Gewissensfreiheit. An dieser Stelle gewinnt die im ersten Abschnitt der vorliegenden Arbeit vorgenommene Auseinandersetzung mit ideengeschichtlichen Hintergründen des Gewissensbegriffs eine besondere Relevanz. Indem die einzelnen, sowohl naturrechtlichen als auch positivistischen Gewissenskonzeptionen auf ihre Grundannahmen bei der Bestimmung des Gewissens untersucht wurden und die Wandlung des Gewissensverständnisses verdeutlicht wurde, kann im Folgenden bei der Auseinandersetzung mit einzelnen grundrechtsdogmatischen Konstruktionen auf die bereits vorgenommene Explikation ihrer Grundannahmen zurückgegriffen werden. Die Darstellung einzelner Gewissensinterpretationen und des normativen Gehalts des Gewissensbegriffs im Abschnitt A. dieser Arbeit stellt somit ein begriffliches Fundament für die Auseinandersetzung mit einzelnen grundrechtsdogmatischen Konzeptionen des Grundrechts der Gewissensfreiheit dar. Nachdem als Maßstab der Gewissensinterpretation die Wahrung der sich im sittlichen Urteil äußernden eigenwertigen Natur des Menschen, eine freie Persönlichkeit zu sein, ausgewiesen wurde und die möglichen Gewissensinterpretationen als solche, die auf einen bestimmten außerrechtlichen Kontext bei der Bestimmung des Gewissensbegriffs zurückgreifen, werden im Folgenden einzelne Ansätze vorgestellt und mit der normativen Intentionalität der Verfassung bei der Gewährleistung der Gewissensfreiheit abgeglichen. Diese Abgleichung soll vor allem der Verdeutlichung des Bedeutungsgehalts von „Gewissen“ im Kontext des Grundrechts der Gewissensfreiheit dienen. Es soll gezeigt werden, ob und beziehungsweise warum die in diesen Konzeptionen vertretene Gewissensauffassungen der verfassungsrechtlichen Intention bei der Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit entsprechen bzw. zuwiderlaufen. Diese Reflexionsebene



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Vgl. ebd., S. 193. Vgl. Abschnitt A. V. 44 Vgl. Abschnitt C. III. 3.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

hat folglich die Aufgabe, der Rechtswissenschaft eine Orientierungshilfe bei der grundrechts­dogmatischen Auseinandersetzung mit einzelnen Interpretationsansätzen des Schutzgutes der Gewissensfreiheit zu geben. II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle Einem Teil von Arbeiten zum Grundrecht der Gewissensfreiheit liegen schwerpunktmäßig Erkenntnisse aus empirischen Humanwissenschaften zugrunde.45 Diese Tendenz setzt vor allem seit Ende der 60er Jahre ein mit dem pragmatischen Ziel, durch ein säkulares und inhaltlich-sittlich neutrales Grundrechtsverständnis die Funktionsfähigkeit der Rechtsordnung zu stützen.46 Zum Ausgangspunkt positivistischer Interpretationsansätze wird das Gewissensverständnis als ein „real erfahrbares seelisches Phänomen“47 genommen und darin ein Verweis auf die Rezeption eines empirischen Befundes gesehen.48 In positivistischen Modellen wird unter „Gewissen“ eine Funktion innerhalb der Struktur der Identitätssicherung und Stabilisierung des Persönlichkeitssystems verstanden.49 Der Gewissensbegriff ist in diesen Interpretationsansätzen nicht an die allgemeine ethische Unterscheidung von „gut“ und „böse“ gebunden, sondern mittels einer empirisch-wissenschaftlichen Analyse der Gewissensfunktion bestimmt.50 Mit ihrem „Anspruch auf naturwissenschaftliche Objektivität“51 wird von Vertretern dieser Ansätze der besondere Vorzug des Rückgriffs auf die empirischen Erkenntnisse im Verzicht auf die „spekulativen Elemente des traditionellen philosophischen Ansatzes“52 gesehen.53 Durch den Verzicht auf den Rekurs auf objektiv-ethische Normativität und mit der Zuhilfenahme von Ergebnissen empirischer Untersuchungen wird bei der Normkonkretisierung ein höherer Plausibi­ litätsgrad beansprucht.54 Der Vorzug einer auf seelische Erfahrbarkeit abhebenden Gewissenskonzeption wird in der Möglichkeit gesehen, die Gewissensentschei-



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Dauner, P., Das Gewissen, S. 106; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S.  28; Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.  139; vgl. Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie. 46 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 165; Klein, H. H., Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 479 f. 47 Vgl. Gewissensdefinition in: BVerfGE 12, 45 (54 f.). 48 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 243. 49 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 118 f., 165. 50 Vgl. Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 258; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 118 f. 51 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 193. 52 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 159. 53 Vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 37; Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 159, 235 f. 54 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 106 f.; Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Norma­ tivität des positiven Rechts, S. 140, 156.

II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle

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dungen an erfahrungswissenschaftlich gesicherten Kriterien zu messen.55 Eine besondere Rolle spielt dabei die Intention, eine solche Interpretation des Gewissens zu finden, welche auf eine inhaltliche Bewertung der Gewissensposition des Grundrechtsträgers verzichtet. Der positivistische wertneutrale Ausgangspunkt findet damit eine „starke rechtswissenschaftliche Indienstnahme“ des psychologischen und soziologischen Instrumentariums.56 1. Psychologischer Ansatz Im psychologischen Interpretationsansatz geht die Konkretisierung des Gewissensbegriffs von der Grundannahme aus, dass die psychische Integrität der Persönlichkeit das eigentliche Schutzgut des Grundrechts der Gewissensfreiheit ist.57 Dem Gewissensbegriff wird dabei das im Abschnitt A.  III.  2. dieser Arbeit bereits näher erläuterte auf Freud zurückgehende psychologische Gewissensverständnis als einer Kontrollinstanz von internalisierten Verbots- und Gebotsnormen zugrunde gelegt.58 In diesem Sinne hat das Gewissen die Funktion innerhalb des Systems der menschlichen Psyche, die Integrität und die Identität der Persönlichkeit vor der drohenden Einbuße der seelischen Substanz zu wahren.59 Im Vordergrund des psychologischen Interpretationsansatzes steht damit als geschütztes Rechtsgut „die psychische Integrität des Einzelnen und dessen Freiheit, seine Lebensgestaltung eigenverantwortlich an internalisierten Wertvorstellungen auszurichten“.60 In Anlehnung an die Gewissensbestimmung des Bundesverfassungsgerichts61 wird von den psychologischen Interpretationsansätzen ebenfalls zwischen einer kognitiven und einer affektiven Komponente differenziert62, wobei das affektive Element der „Gewissensnot“ als Hauptmerkmal63 des Gewissensbegriffs herausgehoben wird. Die affektive Komponente des Gewissens nimmt in diesen Konzeptionen eine besondere Stellung ein. Der Rückgriff auf das psychologische Ge

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Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 243. Dauner, P., Das Gewissen, S. 109. 57 Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.  310; Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S.  141 ff.; Preuß, U. K., Art.  4 Abs.  1, 2 GG, Rn. 38; dazu: Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 131. 58 Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.  142; Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 137 f.; Preuß, U. K., Art. 4 Abs. 1, 2, Rn. 42. 59 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S.  186; Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 142 f., 244 f.; s. o. Abschnitt Abschnitt A. III. 2. 60 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 310. 61 BVerfGE 12, 45 (54 f.); s. o. Abschnitt C. I. 1. 62 Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 244 f. 63 BVerwGE 7, 242 (248); vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 186, 193.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

wissensvorverständnis als eine stark affektiv aufgeladene Bindung erlaubt nach Ansicht von Vertretern dieses Interpretationsansatzes, „im Hinblick auf Gewissensklauseln höchstpersönliche Wertpositionen zu „filtern“, ohne einen bestimmten ethischen Kodex mit objektivem feststehenden Inhalt zugrunde zu legen“64. Nicht der moralische Standpunkt eines Subjekts wird damit zum entscheidenden Kriterium einer Gewissenshaltung, sondern das empirisch feststellbare affektive Engagement des Individuums. Damit verzichtet die Gewissensinterpretation auf die Festlegung auf ein bestimmtes Weltbild65 und entgeht damit der Gefahr, mit ihrem Interpretationsansatz gegen den Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität zu verstoßen. Darüber hinaus dient die Betonung der affektiven Komponente der Abgrenzung von Gewissensentscheidungen gegenüber bloßen Gewissensbedenken, welche mit der affektiven Intensität der typischen Gewissensregung nicht verbunden sind.66 Wenn man auf den psychologischen Interpretationsansatz näher eingeht, so muss zunächst festgestellt werden, dass dort unter der kognitiven Komponente des Gewissens die intellektuelle Entwicklung der Person verstanden wird67, d. h. die Bildung von den auf Einflüsse des sozialen Umfelds und anderer Erfahrungen zurückgehenden Wertevorstellungen.68 Die kognitive Internalisierung verpflichtender Verhaltensregeln ist dabei von der jeweiligen Persönlichkeitsentwicklung und dessen Sozialisation abhängig und führt auf diese Weise zur individuellen Bildung von Gewissensinhalten.69 Die kognitive Komponente stellt allerdings nur einen Ausgangspunkt für die Bestimmung des eigentlichen, für das psychologische Gewissensverständnis konstitutiven Elementes dar – der affektiven Empfindung. Die affektive Kom­ponente des Gewissens kommt in den durch die Gewissensfunktion ausgelösten psychischen Prozessen zum Ausdruck, die eine gemeldete Abweichung von Gewissensinhalten begleiten.70 Das Gewissen ist somit eine Kontrollinstanz, die in einer personalen Konfliktsituation auf „einen von innen oder außen herantretenden Impuls“71 affektiv reagiert. Sie betrifft die psychische Reaktion auf die gewissensbestimmten Erwartungen an das eigene Verhalten, welche im Fall eines Gewissenskonflikts zur Infragestellung der eigenen Identität und den damit einhergehenden belastenden Schuldgefühlen führt.72 Das Gewissen reagiert auf kollidierende



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Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 146. Ebd., S. 146. 66 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 142; Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 146. 67 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 141. 68 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 144. 69 Ebd., S. 144 f.; s. o. Abschnitt A. III. 2. 70 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 141. 71 Ebd., S. 137. 72 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 145.

II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle

103

Verpflichtungen negatorisch.73 In einer Konfliktsituation kommt es zum Spannungsverhältnis innerhalb der psychischen Substruktur des Individuums, was in Grenzfällen zur Zerstörung der personellen Identität in Form von Neurosen und Zuständen personaler Desintegration führen kann.74 Das affektive Element der „Gewissensnot“ wird damit für die Bestimmung des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit zum zentralen Bezugspunkt der Interpretation.75 Das Gewissen wird als eine vom Grundgesetzgeber vorgefundene psychische Realität begriffen76, welche durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit vor Dekonstituierung77, vor Identitätskrisen und vor schweren Schäden78 geschützt wird.79 Im Vordergrund des Grundrechts der Gewissensfreiheit steht somit die Bewahrung der psychischen Integrität vor einer Einbuße an „seelischer Substanz“ infolge von Konflikten zwischen gesetzlichen Geboten und Gewissensbefehlen.80 Mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit wird folglich die psychische Integrität der Persönlichkeit vor „negativen psychischen Folgen […] rechtmäßigen Verhaltens“81 geschützt. Die Darstellung des Schutzes der psychischen Integrität als Primärfunktion82 des Grundrechts der Gewissensfreiheit lässt dabei die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit als Spezialfall des Schutzes körperlicher und psychischer Unversehrtheit nach Art.  2 Abs.  2 Satz  1 GG erscheinen.83 Der Schutzbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit muss demnach als psychische Unversehrtheit84 des Individuums betrachtet werden. Geschützt ist nicht das Gewissen als Handlungsmotiv, sondern die menschliche Psyche vor der nachfolgenden Gewissensnot als affektivem Phänomen.85 Aus dieser Parallelstellung leitet beispielsweise Herdegen die rechtspraktische Konsequenz ab, dass die Gewissensfreiheit als durch einfachen Gesetzesvorbehalt eingeschränkt betrachtet werden muss. Da die psychische Unversehrtheit und

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Preuß, U. K., Art. 4 Abs. 1, 2, Rn. 42. Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 138 f. 75 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 186 f. 76 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 165. 77 Bäumlin, R., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 23. 78 BVerfGE 41, 53 (55). 79 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 186. 80 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 179. Zur Hervorhebung des seelischen Schadens infolge der Gewissensnot als primäre Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit s.  a. BVerwG von 3.10.1958; BVerwGE 7, 242 (248); BVerwG vom 18.10.1972; BVerwGE 41, 53 (55). 81 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 187. 82 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 250. 83 Ebd., S. 290; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 123, 125, 131 f., 188, 201. 84 Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 250, 290, 136 ff., 310. 85 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 187.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

die psychische Integrität nicht unterschiedlich gewichtet werden sollten, ließe sich ihm zufolge die Schrankenregelung des Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG auch im Rahmen der Gewissensfreiheit fruchtbar machen.86 Die psychologisierte Schutzgutbestimmung hat nach Herdegen die rechtspraktische Konsequenz, dass die Berufung auf eine Gewissensentscheidung grundsätzlich keinen Anspruch auf Freistellung von Rechtspflichten oder auf die Bereitstellung von Alternativen begründet.87 Die vom psychologischen Gewissensverständnis dominierte Schutzgutbestimmung als Wahrung psychischer Integrität hat allerdings nur begrenzt88 Eingang in die höchstrichterliche Rechtsprechung gefunden, und zwar vordergründig bei der Behandlung der Kriegsdienstverweigerung nach Art. 4 Abs. 3 GG. In diesem Zusammenhang betonte das Bundesverwaltungsgericht, dass das „Wesentliche“89 für die Gewissensbestimmung ist, ob „sie für den Betroffenen als innerer Zwang verbindlich ist, so daß ein Zuwiderhandeln gegen diesen Zwang die sittliche Persönlichkeit schädigen oder zerbrechen würde“90. Dabei sind für das Gericht nicht die Motive, sondern der mit dem Motivationsdruck einhergehende „unausweich­ liche Zwang“ für den Betroffenen entscheidend.91 Die Schutzrichtung des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen wurde damit als Bewahrung des Verweigerers vor „unüberwindlichem innerlichen Zwang“92 und vor „schwerem seelischen Schaden“93 ausgewiesen. Die Praxis empirischer Konkretisierung des Gewissenstatbestandes stößt allerdings auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Anforderungen des Bundesverwaltungsgerichts an den subjektiven Tatbestand, dass dem Gewissen entgegengesetztes Verhalten einen nachfolgenden schweren psychischen Schaden zur Konsequenz haben werde, erweisen sich als unerfüllbar, da sie auf eine negative Zukunfts­ prognose abstellen, obwohl schon das Fundament dessen, woraus dieses ent­ wickelt werden könnte, zur Frage ansteht.94 Der Rückschluss vom Drohen psychopathologischer Folgen gewissenswidrigen Verhaltens auf das Vorhandensein der Gewissensentscheidung und damit die Feststellung über das Vorliegen eines Gewissenskonflikts erweist sich als unzulässig. 86 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 290, 312; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 131 f. 87 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S.  290, 312. Diese Konsequenz gewinnt vor allem im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen der subjektiven moralischen Normativität und der Normativität der objektiven Rechtsordnung im Abschnitt D. dieser Arbeit an Relevanz. 88 Vgl. ebd., S. 123, 189. 89 BVerwGE 7, 242 (247); 23, 98 (99). 90 BVerwGE 7, 242 (247); vgl. BVerwGE 9, 97 (97); 23, 96 (97 f.); 23, 98 (99). 91 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 155. 92 BVerfGE 23, 127 (133). 93 BVerwGE 41, 53 (55). 94 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 234; Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 121; Tiedemann, P., Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 65.

II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle

105

Es ist außerdem strittig, wie und ob überhaupt ein psychologischer Fachgutachter95 das Vorliegen einer „Gewissensnot“ festzustellen vermag, ob eine eindeutige Messung des „affektiven Drucks“ möglich ist96 und ob die klinischen Krankheitsbegriffe (insbesondere in ihrer Verwendung durch psychologische Laien) in einer eindeutigen Weise bei der Bestimmung des Gewissenstatbestandes anzuwenden sind.97 Nicht zuletzt wegen seiner Unpraktikabilität wurde der Versuch empirischer Konkretisierung des Gewissenstatbestandes aufgegeben und seit 1984 „die Gewissensprüfung in Form der Befragung durch eine Kommission für den Regelfall gesetzlich98 abgeschafft“99. Abgesehen von praktischen Schwierigkeiten einer psychologisierten Interpretation der Gewissensfreiheit besteht aber vor allem ein grundsätzliches und an dieser Stelle zentrales Bedenken, ob die Gewissensbestimmung in einer psychologischen Kategorie als „psychische Unversehrtheit“ überhaupt auf die Schutzgutbestimmung des Grundrechts der Gewissensfreiheit anwendbar ist. Es drängt sich die Frage auf, ob aus der Stärke der affektiven Bindung irgendein normativer Aspekt des Gewissens folgt, der die Bestimmung des Grundrechts der Gewissensfreiheit als ein Freiheitsrecht rechtfertigen würde.100 Wenn man die verfassungsrechtliche Zielrichtung bei der Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit in Wahrung der im sittlichen Gewissensurteil sich äußernden freiheitlichen Natur des Menschen sieht, so stellt sich die Frage, ob die Schutzgutbestimmung als „psychische Unversehrtheit“ und das Gewissensverständnis als „innerer Zwang“ der Schutzrichtung dieses Grundrechts überhaupt gerecht wird.101 Der psychologische Gewissensbegriff beruht auf einer formellen Bestimmung des empirisch fassbaren Phänomens des psychischen Zwangs.102 Es sind in diesem Verständnis also nicht die vernünftigen Gründe, die einem Menschen als verbindlich erscheinen, sondern innere psychische Nötigung, A zu tun und B zu lassen.103 Die Umschreibung des Gewissensbegriffs als eine Art der „Zwangsneurose“ erhält damit eine heteronome Prägung und die Gewissensfreiheit erweist sich als Schutz vor dem psychischen Zerbrechen.104 Fridtjof Filmer beschreibt die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit in einem psychologischen Gewissensverständnis treffend als Schutz eines faktischen Zustandes:



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Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 88. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 190. 97 Dazu: Ebd., S. 121, 188, 190, 192. 98 Kriegsdienstverweigerungs-Neuordnungsgesetz v. 28.02.1983. 99 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 123. 100 Dauner, P., Das Gewissen, S. 107. 101 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 115, 121; Tiedemann, P., Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 64 f. 102 s. o. Abschnitt A. V. 103 Tiedemann, P., Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 64. 104 Ebd., S. 65.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

„Der Mensch wird nicht als frei Handelnder und einem normativen Anspruch gehorchender geschützt, nicht in seinen Handlungsmöglichkeiten und -entwürfen, sondern in seinem bedrohten faktischen Dasein, seiner Zuständlichkeit. Es geht nicht um das, was er sein kann, will und soll, sondern um das, was er ist.“105

Die „psychische Unversehrtheit“ ist damit nichts anderes als eine durch psychologisierte Interpretation gewonnene Erweiterung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG grundrechtlich geschützten „körperlichen Unversehrtheit“ und die Gewissensfreiheit lediglich ein Spezialfall des umfassenden Schutzes der psychischen Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG.106 Die Abgrenzung zum vorbehaltlos gewährleisteten Art. 4 Abs. 1 GG wird damit undeutlich. Die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit als eines Rechts zur freien sittlichen, d. h. vom Bewusstsein von „gut“ und „böse“ ausgehenden Selbstbestimmung wird durch die Schutzgutbestimmung als Bewahrung des Stabilitätszustandes der menschlichen Psyche verlagert.107 Im psychologisierten Interpretationsmodell wird das Gewissen als psychischer Zustand zum grundrechtlichen Schutzgut, wogegen in Art. 4 Abs. 1 GG nicht das Gewissen, sondern die „Freiheit“ des Gewissens für „unverletzlich“ erklärt ist.108 „Setzte der Gewissensschutz an der Schwelle der Identitätsstörung ein, wäre die Bildung und Bewahrung einer freien, selbstbestimmten Persönlichkeit kaum möglich.“109 Das Schutzgut der Gewissensfreiheit wird folglich durch die Gewissensbestimmung anhand von psychologischen Kategorien um ihren konstitutiven normativen Gehalt als Freiheit zur sittlichen SelbstBestimmung reduziert.110 Es wird deutlich, dass mit dem psychologischen Vokabular nicht zu erfassen ist, warum „die Gewissensfreiheit eben doch auf die Absicherung einer genuin sittlichen Haltung zielt“111 und warum eine sittliche Position einen höheren verfassungsrechtlichen Rang als ein sonstiges nötigendes Begehren beansprucht.112 Mit dem psychologischen Gewissensbegriff verliert das Grundrecht der Gewissensfreiheit seine „Bezugsgröße einer durch sie eröffneten Selbstbestimmung“113. Wenn die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit in Wahrung der im sittlichen Gewissensurteil sich äußernden freiheitlichen Natur des Menschen besteht und wenn man von der Annahme ausgeht, dass der Mensch im Gewissen sich seiner Freiheit und seiner Verantwortung gewiss wird114, so wird in der heteronomen psycho 105

Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 186. So explizit Herdegen in: Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 290; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 188, 201. 107 Ebd., S. 121, 123. 108 Ebd., S. 125. 109 Franke, D., Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 15. 110 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 193. 111 Dauner, P., Das Gewissen, S. 107. 112 s. o. Abschnitt A. V. 113 Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 95. 114 BVerwGE 7, 242 (246 f.). 106

II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle

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logischen Gewissenskonzeption die Freiheit des Menschen geradezu negiert und durch die Zwanghaftigkeit substituiert.115 Auch der Blick auf die rechtsgeschichtliche Intention bei der Ausgestaltung der Gewissensfreiheit macht deutlich, dass der schrankenlos gewährleistete Art. 4 Abs. 1 GG weniger als Reaktion auf eine psychische Deformation der Menschen unter der totalitären Herrschaft in den Grundrechtskatalog aufgenommen wurde, sondern vielmehr mit der Intention, die Unterdrückung der Möglichkeit zur subjektiven moralischen Orientierung, als einen spezifischen Ausdruck der Würde einer freien Person, in Zukunft zu verhindern.116 Die Auseinandersetzung mit dem psychologischen Interpretationsansatz muss mit der Feststellung abgeschlossen werden, dass das psychologische Vorverständnis über das Gewissen sich für die Schutzgutbestimmung des Grundrechts der Gewissensfreiheit als unzulänglich erweist. Die Hervorhebung der affektiven Komponente der „Gewissensnot“ als konstitutives Element des Gewissensphänomens und die daraus folgende Schutzrichtung der Gewissensfreiheit als Wahrung der „psychischen Unversehrtheit“ verkürzt dieses Grundrecht um seine konstitutive Grundbestimmung als Freiheit zur sittlichen Selbst-Bestimmung eines freien Individuums. Damit ist das psychologische Interpretationsmodell nicht imstande zu erklären, worin das Achtungswürdige an der Gewissensbindung einer Person und in dem gewissensgeleiteten Handeln besteht. 2. Funktionalistischer Ansatz Im Anschluss an die Darstellung des psychologischen Ansatzes muss als Nächstes auf ein weiteres positivistisches Erklärungsmodell eingegangen werden – auf den funktionalistischen Interpretationsansatz. Die funktionalistische Konzeption unterscheidet sich von der psychologischen vor allem dadurch, dass dort nicht der seelische Schaden als solcher zum Schutzgut des Grundrechts der Gewissensfreiheit erklärt wird, sondern die Identität der Persönlichkeit im Sinne der Konsistenz und der Kontinuität der Persönlichkeitsstruktur im Hinblick auf unterschiedliche soziale Rollenerwartungen. Die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit im funktionalistischen Modell wird nicht als Abwehr gegen einen affektiv erfahrbaren inneren Zwang verstanden, sondern als Sicherung des Individuums vor einer Dissonanz unterschiedlicher sozialer Rollenerwartungen und als Absicherung des sozialen Systems vor der Deformation sozialer Rollenbeziehungen. Die funktionale Analyse des Grundrechts der Gewissensfreiheit, welche vor allem auf die Auseinandersetzung mit der Funktion des Gewissens durch Niklas Luhmann zurückgeht, geht von der Annahme aus, dass die „Gewissensfreiheit

115 Vgl. Tiedemann, P., Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 63, 66. 116 s. o. Abschnitt B. III.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

gar nicht dem Gewissen dient“117, sondern andere Funktionen hat.118 Wie bereits im Abschnitt A. III. 3. dargestellt, liegt für Luhmann „das Phänomen des Gewissens im Bereich derjenigen Strukturen und Prozesse […], die zur Selbstidentifikation der Persönlichkeit beitragen“119. Es ist eine Kontrollinstanz, welche über die Selbsterhaltung der Identität des Persönlichkeitssystems wacht.120 Das Gewissen in der funktionalen Analyse wird als identitätssichernde Instanz der Persönlichkeit verstanden, welche in „zeitlicher Generalisierung von Verhaltenserwartungen“121 die Konsistenz und Kontinuität von Persönlichkeitsstrukturen im Hinblick auf das bevorstehende Handeln festhält.122 Das Gewissen dient somit der Stabilisierung des Ichs anhand von Verhaltenserwartungen, welche die Persönlichkeit an sich selbst stellt.123 Anstatt der Wahrheitsprüfung von Gewissensinhalten muss bei der Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit daher die Prüfung von Konsequenzen des Gewissens treten und insbesondere auf die Gefahren des Gewissensgebrauchs hingewiesen werden: Die Gewissensfragen stellen das Vertrauen in die eigene Integrität radikal in Frage und es entsteht eine Verunsicherung, welche Fragwürdigkeit des eigenen Seins bedeutet.124 Die Gewissensfragen können aber auch für die Sozialordnung eine Gefährdung darstellen. Durch den Versuch, eine eigene Identität mit Hilfe gegebener sozialer Rollenmuster aufzubauen, kann durchaus ein Gewissenskonflikt entstehen, welcher Rollenbeziehungen des Individuums stören und sogar zerstören imstande ist.125 So beispielsweise ein möglicher Konflikt zwischen der Rolle als Familienvater und als wirtschaftlicher Akteur bzw. als ehrenamtlich oder parteipolitisch Engagierter.126 Insofern „müßte eine differenzierte Sozialordnung stärkste Vorbehalte gegen eine Orientierung am eigenen Gewissen haben“127. Für die Thematik des Grundrechts der Gewissensfreiheit wird hieraus gefolgert, dass unter diesem Grundrecht das Abbauen von Anlässen zur Gewissensorientierung verstanden werden muss.128 „Es geht dann nicht mehr darum, ob der Einzelne auf sein Gewissen hört […]; sondern das Problem lautet, daß er, wenn er auf 117

Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 259. Podlech, A., Diskussionsbeitrag, S. 132 f.; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 115 f. 119 Luhmann, N., Das Phänomen des Gewissens und die normative Selbstbestimmung der Persönlichkeit, S. 224. 120 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 264. 121 Ebd., S. 268. 122 s. o. Abschnitt A. III. 3.; Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 267 f. 123 Vgl. Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 142 f. 124 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S.  269; Luhmann, N., Grundrechte als Institution, S. 77. 125 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 270 f.; vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 51. 126 Zu den Beispielen Vgl. Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 271. 127 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 273. 128 Vgl. ebd., S. 273 f. 118

II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle

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sein Gewissen hört, eine Quelle sozialer Störungen werden kann.“129 Die Situationen, in denen das Gewissen einer Person aufgefordert wird, sollen daher durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit entschärft und Gründe für das Aufkommen von Gewissensfragen abgebaut werden: „Die Gewissensfreiheit soll die Orientierung des Handelns am individuellen Gewissen nicht ermöglichen, sondern ersparen.“130

Das Grundrecht der Gewissensfreiheit muss somit im Kontext der Entlastungen eingeordnet werden, sodass die Einzelperson und ihre vielfältigen Rollenbeziehungen gegen Gewissenskrisen geschützt wird.131 Die rechtspraktischen Konsequenzen, welche Luhmann aus seiner Gewissensanalyse ableitet, bestehen darin, dass unter dem Gewissenstatbestand alle Themenbereiche umfasst werden, die den Menschen in seinem persönlichen Verhalten als seine eigene symbolisieren.132 Die Zwangsläufigkeiten (und hier unterscheidet sich Luhmanns funktionalistischer Ansatz entscheidend von dem psychologischen) werden von dem Gewissenstatbestand nicht umfasst.133 Die Gewissensfreiheit im Sinne eines Grundrechts, das die Einzelperson und ihre Rollenbeziehungen gegen Gewissenskrisen schützt, legitimiert außerdem keine Erfüllungsansprüche134, kann aber wohl einen Anspruch auf Bereitstellung von bestimmten Handlungsalternativen als Ausweichmöglichkeiten in andere Rollenmuster begründen (wie z. B. Zivildienst als Ersatz für den Wehrdienst).135 Auf diese Weise wird nicht nur die Integrität der Persönlichkeit geschützt, sondern auch die Stabilität des gesellschaftlichen Systems gewährleistet, das durch Gewissensberufungen gestört werden könnte.136 In der soziologischen Analyse von Luhmann wird somit die entlastende Funktion der Gewissensfreiheit auf die konsistente Selbstdarstellung und Identitätsbewahrung unter Harmonisierung vielfältiger Rollenerwartungen zurückgeführt.137 Luhmanns Gewissenskonzeption hat in rechtswissenschaftlichen Diskussionen über das Grundrecht der Gewissensfreiheit vielfach positive Aufnahme gefunden.138 Ähnlich wie bei dem psychologischen Interpretationsansatz besteht die zentrale Fragestellung bei der Auseinandersetzung mit der funktionalistischen Interpretation des Gewissensbegriffs jedoch nicht in praktischen Konsequenzen dieses 129

Ebd., 279 f. Ebd., S. 271, 280. 131 Ebd., S. 277, 281. 132 Ebd., S. 281. 133 Ebd., S. 281. 134 Ebd., S. 282. 135 Vgl. ebd., S. 283 f.; vgl. Hübsch, St., Philosophie und Gewissen, S. 52. 136 Dauner, P., Das Gewissen, S. 117. 137 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 183. 138 Insb.: Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit; Podlech, A., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse. 130

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

Interpretationsmodells139, sondern in der grundlegenden Problematik, ob die Gewissensbestimmung aus der Gewissensfunktion als Sicherung sozialer Rollenbeziehungen auf die Schutzgutbestimmung des Grundrechts der Gewissensfreiheit grundsätzlich übertragbar ist. In diesem Zusammenhang kann dem funktionalistischen Ansatz – ähnlich wie dem psychologischen – der Vorwurf des „Austauschs des Schutzobjektes“140 entgegengehalten werden. Wenn im funktionalistischen Ansatz die Schutzgutbestimmung von dem Gewissensverständnis als einer Internalisierungsinstanz der vorgegebenen sozialen Ordnung und damit als Sicherungsinstanz der Konsistenz und Kontinuität sozialer Rollenmuster innerhalb der Persönlichkeit ausgeht141, wird das Gewissensphänomen um seinen imperativistischen, präskriptiven Charakter verkürzt.142 In dieser Konzeption ist das Gewissen eine Instanz, welche die Identität des Menschen sichert, so zu handeln, wie er immer schon gehandelt hat. Dieses Gewissensverständnis betrifft jedoch nicht die Widerspruchslosigkeit der Existenz der Persönlichkeit als selbstbestimmendes Wesen, das sich zu einem bestimmten Verhalten moralisch zu verpflichten weiß.143 Damit wird das Gewissensverständnis um sein normatives Element der sich im Gewissensurteil äußernden freiheitlichen Natur des Menschen verkürzt und die Gewissensfreiheit um ihren konstitutiven Gehalt als Freiheit zur sittlichen Selbstbestimmung reduziert.144 Durch die Reduktion des Gewissensbegriffs auf die Funktion des Gewissensphänomens innerhalb der sozialen Ordnung ist er nicht mehr imstande, den achtunggebietenden unbedingten Charakter des Gewissens zu vermitteln.145 Wie bereits oben im Kontext der Auseinandersetzung mit dem psychologischen Gewissensmodell erwähnt, läuft eine solche Verengung des Gewissensverständnisses der verfassungsrechtlichen Intention zuwider, durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit die Freiheit der subjektiven moralischen Orientierung zu gewährleisten. Indem Luhmann die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit dadurch bestimmt, die Orientierung am individuellen

139 Es muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass einige aus dem funktionalistischen Interpretationsansatz abgeleitete rechtspraktische Konsequenzen durchaus zustimmungsfähig sind. So z. B. die aus funktionalistischem Gewissensverständnis abgeleitete Konsequenz, dass die Darlegungslast bei der Geltendmachung einer Gewissensposition bei dem Grundrechtsträger liegt und dass beim Nichtvorhandensein von Alternativen die Folgen wieder auf den Inhaber der Gewissensposition zurück fallen (Podlech, A., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 37). Dazu: Vgl. unten, Abschnitt D. III. Auch die von Böckenförde im Anschluss an Luhmann geforderte rechtspraktische Konsequenz, die Ernsthaftigkeit einer Gewissenshaltung anhand der Bereitschaft zu lästigen Alternativen zu prüfen (Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 71). Dazu: Vgl. unten, Abschnitt C. III. 3. 140 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 117. 141 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 264, 285 f. 142 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 117, 119 f. 143 s. o. Abschnitt A. V.; Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 119 f. 144 s. o. Abschnitt C. II. 1. 145 s. o. Abschnitt A. V. 2.

II. Gewissensbestimmung durch positivistische Modelle

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Gewissen zu ersparen146, damit über ein Zum-Zuge-Kommen der Gewissensfreiheit Gewissensentscheidungen selbst verhindert werden können147, wird die Gewissensfreiheit von ihrer substanziellen sowohl rechtsgeschichtlichen als auch systematischen Bestimmung als Wahrung der sich im sittlichen Urteil äußernden eigenwertigen freiheitlichen Natur des Menschen148 entfremdet.149 Außerdem ist in diesem Zusammenhang Herdegen zuzustimmen, dass wenn es in einer Gesellschaftsordnung nur noch darum geht, den Einzelnen an Gewissensentscheidungen vorbeizuleiten, damit im Grunde keine neue Funktion der Gewissensfreiheit begründet wird.150 Die Verschiebung der Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit in funktionalistischer Interpretation wird darüber hinaus darin deutlich, dass in Luhmanns Konzeption die Funktionalität des sozialen Systems zum Bezugspunkt dieses Grundrechts genommen wird.151 Auf diese Weise erhält die Gewissensfreiheit die Schutzrichtung als Wahrung der Integrität und Stabilität der Gesellschaftsordnung gegenüber der Destabilisierung durch enttäuschte Rollenerwartungen Einzelner.152 Dadurch wird die Gewissensfreiheit vom übergeordneten sozialen System her bestimmt und eingegrenzt.153 Indem die Schutzwürdigkeit von Gewissenspositionen vom „rechtlichen Zustand der Gesellschaft“154 abhängig gemacht wird, wird die Gewissensfreiheit als ein genuines materielles subjektives Recht aus dem Kontext der Verfassung herausgenommen.155 Diese Konzeption läuft somit offensichtlich an dem verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt des Grundgesetzes, Art. 1 Abs. 1 GG, vorbei, der die Würde des Individuums zum primären Bezugspunkt der Grundrechte macht und in einer systematischen Verbindung156 mit Art. 4 Abs. 1 GG steht.157 Die Auseinandersetzung mit positivistischen Auslegungsmodellen des Grundrechts der Gewissensfreiheit lässt deutlich werden, dass die Schutzgutbestimmung sowohl im psychologischen als auch im soziologischen Interpretationsansatz an der konstitutiven Bestimmung dieses Grundrechts als Freiheit zur sittlichen Selbstbestimmung eines freien Individuums vorbeigreift. Indem das Schutzgut des Grundrechts der Gewissensfreiheit ausgehend vom Merkmal des inneren „Gewis 146

Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 271, 280. Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 253. 148 s. o. Abschnitt B. IV. 149 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 115 f. 150 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 184. 151 Luhmann, N., Die Gewissensfreiheit und das Gewissen, S. 272, 279 Fn. 38. 152 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 116; vgl. Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 253. 153 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 257. 154 Podlech, A., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 156. 155 Vgl. Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 251, 253 f., 256. 156 Vgl. BVerfGE 33, 23 (28 f.). 157 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 254. 147

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

senskonflikts“ bestimmt wird, wird die konstitutive normative Bedeutung dieses Grundrechts als Freiheit zur sittlichen Selbstbestimmung eines freien Individuums ausgeblendet. Es führt zum „Austausch des Schutzobjektes“158 der Gewissensfreiheit. Der Gewissenskonflikt taucht hier als pathologischer Befund und das Gewissen als eine ruhigzustellende irrationale Instanz auf. Die Gewissensfreiheit gerät damit staatstheoretisch „an den Rand der Irrelevanz“.159 Ein positivistischer Gewissensbegriff, der entweder von „verhaltensdeterminierenden psychischen Funktionszusammenhängen“160 ausgeht oder von der sozialen Determination161 der Persönlichkeitsstruktur, kann nicht plausibel werden lassen, worin die unbedingte Achtung der Freiheit des Gewissens besteht und warum die Gewissensfreiheit zu einem besonderen vorbehaltlos gewährleisteten Schutzgut des Grundgesetzes erklärt wird, das in einem systematischen Zusammenhang mit Art. 1 Abs. 1 GG steht. Indem die affektive Gewissensnot, und nicht der Gewissenskonflikt als „Konflikt zwischen der zur normativen Überzeugung gefestigten Gewissensposition des Einzelnen und der Rechtsordnung“162, zum Schlüsselbegriff für das Verständnis der Gewissensfreiheit erklärt wird163, wird die Wahrung der im sittlichen Urteil sich äußernden eigenwertigen freiheitlichen Natur des Menschen als substanzielles Element der Gewissensfreiheit verdrängt. Die positivistischen Modifikationen der Schutzgutbestimmung der Gewissensfreiheit greifen damit an der normativen verfassungsrechtlichen Intentionalität bei der Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit vorbei. Wie bereits im Abschnitt A. V. 2. dargestellt, liegt die Unzulänglichkeit positivistischer Modelle, aufzuzeigen, warum die Gewissenshaltung einer Person eine Achtung gebietet und warum sie einen höheren Wert als ein sonstiges nötigendes Begehren beansprucht, in ihrer substanziellen Beschränkung auf kontingente Gewissensfunktionen, woraus sich die in dem Vernünftigkeits- und Freiheitsvermögen verankerte normative Kraft des Gewissens, welche allein die Würde einer Gewissenshaltung zu begründen vermag, grundsätzlich nicht ableiten lässt. Diese Feststellung gilt dabei nicht nur für die oben dargestellten positivistischen Gewissensmodelle, sondern auch für jede andere, evtl. zukünftig für die Schutzgutbestimmung dieses Grundrechts heranzuziehende, positivistische Gewissenskonzeption (sei diese gesellschafts- oder aber auch naturwissenschaftlicher Art), welche auf die normative Deutung der ideellen in der Vernünftigkeit und Freiheit des Menschen verankerten Gewissensgrundlage verzichtet.

158

Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 117. Franke, D., Gewissensfreiheit und Demokratie, S. 16. 160 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 120. 161 Klier, G., Gewissensfreiheit und Psychologie, S. 250. 162 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 233. 163 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 179.

159

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 113

III. Normatives Gewissensverständnis nach Maßgabe des verfassungsimmanenten Menschenbildes Aus der obigen Auseinandersetzung mit positivistischen Interpretationsmodellen des Gewissens geht hervor, dass diese Ansätze mit ihrem Anspruch auf naturwissenschaftliche Objektivität offensichtlich den normativen Aspekt des Gewissens übergehen.164 Sie sehen sich offenkundig vor die vermeintliche Alternative der Gewissensinterpretation gestellt, wonach man sich entweder für Dogmatismus165 zu entscheiden gehalten ist, der sich im naturrechtlichen Bezug auf das inhaltlich vorgegebene Richtige äußert, oder für Relativismus166, der auf die Beschäftigung mit normativen Grundlagen verzichtet167 und von einem ausschließlich empirischen Gewissensverständnis ausgeht, und legen sich dabei auf das Letztere fest.168 Der Relativismus mündet damit aus in den Positivismus.169 Die Möglichkeit eines durch die inhaltlich-neutrale Gewissensvorstellung geprägten normativen Gewissensbegriffs wird von den Vertretern positivistischer Modelle jedoch nicht erwogen.170 Es wird unbeachtet gelassen, dass die „Alternative zwischen Dogmatismus und Relativismus“ keine absolute ist171 und dass es jenseits dieses dialektischen Verhältnisses ein normatives Gewissensmodell denkbar ist, das weder von einer inhaltlich bestimmten Moralordnung ausgeht noch auf ausschließlich empirischen Zügen des Gewissensphänomens beruht. Ein solches normatives nicht-empirisches Gewissensverständnis setzt zwar keine vorgegebene objektive Moralordnung voraus, geht jedoch von der These aus, dass die Normativität der Gewissensfreiheit auf ihrem unmittelbaren Bezug zur Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) beruht und dementsprechend der dem Grundrecht der Gewissensfreiheit zugrunde liegende Gewissensbegriff als Teilaspekt der menschlichen Würde zu verstehen ist.172 In einer solchen Konzeption muss die Gewissensfreiheit als unmittelbare Konkretisierung der Menschenwürdegarantie verstanden werden173 und der Gewissensbegriff auf das verfassungsimmanente Menschenbild einer „innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden Persönlichkeit und ihrer Würde“174 zurückgeführt werden.

164

Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 193. Vgl. Ryffel, H., Zum ethischen Fundament der Rechtswissenschaften, S. 143. 166 Ryffel, H., Zur Begründung der Menschenrechte, S. 67. 167 Vgl. Ryffel, H., Zum ethischen Fundament der Rechtswissenschaften, S. 152. 168 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 209; Ryffel, H., Zum ethischen Fundament der Rechtswissenschaften, S. 152. 169 Vgl. Radbruch, G., Der Relativismus in der Rechtsphilosophie, S. 82. 170 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 198. 171 Ebd., S. 210. 172 Ebd., S. 107 f.; vgl. Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 20 f. 173 Vgl. Zippelius, R., Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, S. 275. 174 BVerfGE 7, 198 (205). 165

114

C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

In diesem Sinne wird im Folgenden das Gewissensverständnis nach Maßgabe des verfassungsimmanenten Menschenbildes erläutert und diejenigen konstitutiven Elemente aufgezeigt, welche das Verständnis des sich im sittlichen Gewissensurteil äußernden freiheitlichen Eigenwerts des Menschen begründen. Die systematische Verbindung der Gewissensfreiheit mit der Menschenwürdegarantie wird unter der Heranziehung bereits vorgenommener Explikation von dem normativen Fundament des Gewissensphänomens im Abschnitt A. V. 1. dieser Arbeit und durch die Darstellung von konstitutiven Elementen des verfassungsimmanenten Menschenbildes erklärt. 1. Das Menschenbild des Grundgesetzes Die Erläuterung des Gewissensverständnisses aus dem verfassungsimmanenten Menschenbild setzt einen begrifflichen Konsens darüber voraus, was unter dem Menschenbild der Verfassung zu verstehen ist und welche konstitutiven Elemente das Verständnis des Menschen als eines Würdeträgers begründet. Die „Würde“ gilt als allgemeine Bezeichnung dessen, was das Wesen des Menschen ausmacht, und die Aufklärung über ihren Begriff kann umgekehrt nur aus dem Wesen des Menschen erlangt werden.175 Es ist die Frage nach dem grundlegenden Verständnis des Begriffs „Mensch“, von welchem der Verfassungsgeber ausgeht. Es muss notwendigerweise ein elementares Vorverständnis über das Wesen des Menschen geben, wenn der Mensch im Verfassungsstaat zum Träger einer unantastbaren Würde erklärt wird, auf deren Achtung und Schutz die staatliche Gewalt durch Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG verpflichtet ist. Die Bestimmung des verfassungsimmanenten Menschenbildes ist indes nicht unproblematisch. Anders als den Begriff der Menschenwürde kennt das Grundgesetz den Begriff des Menschenbildes nicht.176 Je nach besonderem Konfliktfeld erhält das Menschenbild der Verfassung unterschiedliche Prägungen, sodass auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts das Menschenverständnis je nach Streitgegenstand in seinen unterschiedlichen Teilaspekten erfasst.177 Als ein Teil des souveränen Volkes (Art. 20 Abs. 2 GG), das am Anfang der demokratischen Legitimationskette steht178, und als ein wahlberechtigter Bürger (Art.  38 Abs. 2 GG) kann der Mensch als „homo politicus“ bezeichnet werden.179 Als wirtschaftlich agierendes Individuum, welcher im privaten Interesse Eigentum nutzt180 175

Enders, Ch., Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 17. Schmidt-Preuß, M., Menschenwürde und „Menschenbild“ des Grundgesetzes, S.  921, 934. 177 Häberle, P., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S.  37; Schmidt-Preuß, M., Menschenwürde und „Menschenbild“ des Grundgesetzes, S. 935. 178 BVerfGE 83, 60 (71 ff.); 93, 37 (67). 179 Vgl. Schmidt-Preuß, M., Menschenwürde und „Menschenbild“ des Grundgesetzes, S. 935. 180 BVerfGE 100, 226 (241). 176

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 115

(Art. 14 GG), die Grundlage seiner Existenz181 erwirtschaftet und durch die Berufsausübung seine Persönlichkeit entfaltet182 (Art.  12 GG), kann der Mensch auch als „homo oeconomicus“ bezeichnet werden.183 Als ein Wesen, das seine Lebenswelt durch Kommunikation, Meinungs- und Informationsaustausch gestaltet (Art. 5 Abs. 1 GG), kann der Mensch als „homo communicativus“ bezeichnet werden.184 Allerdings kann aus der Summe einzelner Teilaspekte des Menschseins kein geschlossenes positives Menschenbild der Verfassung erschlossen werden.185 Im Verfassungsrecht sind einzelne Aspekte des Bildes vom Menschen normiert, ohne dass dadurch der Anspruch erhoben wäre, durch diese Teilaussagen ein geschlossenes Menschenbild zu entwerfen.186 Die einzige Möglichkeit, den Aufschluss über das verfassungsimmanente Menschenbild zu gewinnen, besteht in der Bestimmung von konstitutiven Elementen der menschlichen Natur, welche unabhängig von kontingenten Seins- und Betätigungsformen des Menschen gelten. Ein solches präpositives Menschenbild betrifft keinen bestimmten Ausdruck der menschlichen Lebensform, sondern einen allgemeinen Befund über die menschliche Wesensart. Es hat einen ideellen Charakter, d. h. es ist nicht aus konkreten Erscheinungsformen des menschlichen Handelns abgeleitet, sondern bezieht sich auf konstitutiven Elemente der menschlichen Wesensart, auf ein grundlegendes elementares Vorverständnis über dasjenige, was den Menschen als Menschen ausmacht. Diese konstitutiven Grundelemente fungieren als Beurteilungsvoraussetzungen für die Erscheinungsformen des konkreten menschlichen Handelns. In seinem Kerngehalt ist das präpositive Menschenbild statisch und gleichzeitig für die Veränderungen in der Erfahrungswelt offen. Da das präpositive Menschenbild unabhängig von der besonderen Erfahrung gilt und gleichzeitig für die Beurteilung von konkreten Erscheinungsformen prägend ist, kann es als „normativ“ bezeichnet werden. Ein normatives Menschenbild impliziert die objektive Wertegebundenheit des Grundgesetzes187, welche die Verbindlichkeit und die verpflichtende Kraft der Verfassung begründet.188 Bei der Auseinandersetzung mit der Frage nach dem verfassungsimmanenten Menschenbild muss auf die nähere Bestimmung von konstitutiven Elementen dieses überpositiven Menschenbildes eingegangen werden. Es ist die Frage nach den konstitutiven Komponenten des normativen Menschenverständnisses, die dem Art.  1 Abs.  1 GG zugrunde liegen. Der Begriff der Menschenwürde impliziert zwar die Normativität des verfassungsimmanenten Menschenbildes, es lassen sich aber allein aus diesem Begriff noch keine bestimmten Aussagen über die konstitu 181

BVerfGE 81, 242 (254). BVerfGE 19, 330 (336 f.). 183 Vgl. Schmidt-Preuß, M., Menschenwürde und „Menschenbild“ des Grundgesetzes, S. 936. 184 Vgl. ebd., S. 939; dazu: BVerfGE 57, 295 (319 f.); 82, 272 (281); 97, 391 (397, 399). 185 Vgl. Häberle, P., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 63. 186 Ebd., S. 63. 187 Vgl. Abschnitt B. IV. 188 Vgl. Dürig, G., Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 81 (1956), S. 117.

182

116

C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

tiven Elemente der menschlichen Natur ableiten. Erst aus der näheren Betrachtung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird deutlich, welche Grundannahmen über die menschliche Eigenart das normative Menschenverständnis des Grundgesetzes ausmachen. Aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts lassen sich zwei konstitutiven Elemente des verfassungsimmanenten Menschenbildes entnehmen. Der erste Aspekt wird in der Rechtsprechung als Eigenwert des einzelnen Menschen beschrieben, welcher in seiner Personalität und in seiner Individualität189 besteht. So wird vom Bundesverfassungsgericht in der „SRP-Entscheidung“ festgestellt, dass der Ordnung des Grundgesetzes „die Vorstellung zugrunde [liegt], daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbstständigen Wert besitzt“190. Dem Begriff der Eigenwertigkeit liegt die Vorstellung zugrunde, dass das einzelne Individuum nicht zum bloßen Objekt des staatlichen Handelns gemacht werden darf191 und dass der Mensch eine eigenverantwortliche192, selbstbestimmungsfähige193 Person ist.194 Die Personalität eines freien Individuums wird demnach als ein konstitutives Element des verfassungsimmanenten Menschenbildes ausgewiesen. Der andere Gesichtspunkt des verfassungsimmanenten Menschenbildes ist die Gemeinschaftsbezogenheit des Menschen. In der „Investitionshilfe-Entscheidung“ wird dieses Element des Menschenbildes der Verfassung auf folgender Weise dargestellt: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten.“195

Es wird dabei deutlich, dass nicht allein die Individualität ein Grundmerkmal der menschlichen Wesensart ist, sondern auch die Pluralität von freien Individuen. Die Betrachtung des Menschen als ein Gemeinschaftswesen stellt dabei seine Eigen­wertigkeit und seine Individualität nicht infrage.196 Vielmehr wird durch die Gemeinschaftsbezogenheit die Tatsache hervorgehoben, dass das eigenwertige Individuum von Natur aus in die Gemeinschaft von anderen eigenwertigen Individuen eingebunden ist. 189

Kirchhof, P., Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, Rn. 66. BVerfGE 2, 1 (12). 191 BVerfGE 9, 89 (95); 27, 1 (6), 50, 166 (175); 87, 209 (228); vgl. Dürig, G., Der Grundrechtssatz von der Menschenwürde, in: AöR 81 (1956), S. 128 f. 192 BVerfGE 5, 85 (204 f.). 193 BVerfGE 65,1 (41 ff.). 194 Vgl. Becker, U., Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 34 ff. 195 BVerfGE 4, 7 (15 f.). 196 BVerfGE 8, 274 (329); 33, 303 (334); 45, 187 (227 f.); 50, 166 (175) und 290 (353 f.). 190

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 117

Durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird somit ein Bild des Menschen gezeichnet, in welchem der Mensch einerseits eine eigenwertige Persönlichkeit ist, welcher kraft seines Individuum-Seins eine Würde zukommt; andererseits wird der Mensch als ein Gemeinschaftswesen verstanden, welches in das soziale Zusammenleben eingebettet und daher in seiner Beliebigkeit beschränkt ist.197 Zwar lässt sich wegen unterschiedlicher Akzentuierungen des Gemeinschaftsbezuges und des Individualitätscharakters in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kein konturenscharfes Menschenbild entnehmen198, aber es lässt sich dennoch feststellen, dass sich diese Komponenten als konstitutiven Elemente des normativen Menschenbildes der Verfassung erweisen. Durch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts werden die Eigenwertigkeit der Person und seine Gemeinschaftsgebundenheit als Hauptcharakteristika des verfassungsimmanenten Menschenbildes herauskristallisiert.199 Zusammenfassend lässt sich somit feststellen, dass das Menschenbild der Verfassung von der Menschenwürde her gedacht wird und sein konstitutives Element die Idee des Menschen als eines freien, sich selbst entwerfenden Individuums ist, welcher in der Gemeinschaft von seinesgleichen autarken Individuen lebt. Das Prinzip der Personalität und der Pluralität ist dem Menschenbild der Verfassung immanent. Es muss daher festgestellt werden, dass das Menschenbild des Grundgesetzes ein normatives Menschenbild ist, welches von einer bestimmten anthropologischen Prämisse200 über die menschliche Natur ausgeht. 2. Normatives Verständnis der Gewissensfreiheit In einzelnen GG-Artikeln wird das normative Menschenbild rezipiert und positiviert, sodass es dem Grundgesetz „immanent“ und zugleich „transzendent“ ist.201 Wie bereits im Abschnitt B.  IV. dieser Arbeit dargestellt, kann die Menschenwürde – und damit konsequenterweise das verfassungsimmanente Menschenbild – zum Ausgangspunkt der Spezialinterpretation einzelner Grundrechte genommen werden, um konkrete verfassungsrechtliche Fragestellungen aufzuklären.202 Auch die verfassungsgeschichtliche und systematische Verbindung der Gewissensfreiheit mit der Menschenwürdegarantie legt es nahe, den Gewissens­begriff des Grundgesetzes anhand des verfassungsimmanenten Menschenbildes zu bestim 197

Kirchhof, P., Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, Rn. 66. Ebd., S. 44 f. 199 Becker, U., Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 43. 200 Häberle, P., Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, Rn. 56. 201 Häberle, P., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, S. 72. 202 s. o. Abschnitt B.  IV.; vgl. Becker, U., Das „Menschenbild des Grundgesetzes“ in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S 33, 78 f.; Kopp, F., Das Menschenbild im Recht und in der Rechtswissenschaft, S. 55. 198

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

men.203 In diesem Sinne wird in Folgendem das Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit aus den konstitutiven Elementen des grundgesetz­ lichen Menschenbildes expliziert. Wenn man die konstitutiven Elemente des Menschenbildes der Verfassung  – die Eigenwertigkeit des Menschen als eines selbstbestimmungsfähigen, eigenverantwortlichen Individuums und seine Gemeinschaftsgebundenheit  – auf die Bestimmung des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit überträgt, so muss unter der Gewissenhaftigkeit die moralische Selbstbestimmung eines eigen­verantwortlichen Individuums verstanden werden, welches in eine Gemeinschaft von Menschen eingebunden ist, in der jeder über eine dem anderen gleich zu achtende moralische Instanz204 verfügt. Für die Konkretisierung des Gewissensbegriffs der Verfassung ist insbesondere das erste Element – die selbstbestimmungsfähige eigenverantwortliche Natur – ausschlaggebend. Das zweite Element gewinnt seine tragende Bedeutung erst bei der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis der individuellen Gewissensfreiheit zur objektiven Rechtsordnung.205 Ausgehend vom Menschenbild als eigenverantwortlichem selbstbestimmungsfähigem Individuum kann das Gewissen im Anschluss an Abschnitt A. V. 1. dieser Arbeit nicht anders denn als Selbstbezug des freien Vernunftwesens im moralischen Urteil gedeutet werden. Die Personalität und die Selbstverantwortlichkeit des Menschen als das grundlegende Element des verfassungsimmanenten Menschenbildes bedeutet, dass der Mensch kraft seiner freiheitlichen Vernunftnatur sich selbst zu entwerfen und die Welt nach eigener Vorstellung zu gestalten imstande ist.206 Die moralische Autonomie des Menschen, welche ihn von allen anderen Sinneswesen in einer besonderen Weise unterscheidet, besteht in seinem besonderen Vermögen, dem Reiz sinnlicher Triebe zu widerstehen und dem selbstaufgegebenen Vernunftgesetz zu folgen.207 Die aus der Vernunft- und Freiheitsnatur des Menschen resultierende Bestimmung des Willens durch Vernunft208, welche nach Mirandolischem Verständnis auch als Ausdruck der Gottesebenbildlichkeit des Menschen gedeutet werden kann209, macht seine Würde aus, die im verfassungsimmanenten Menschenbild als Eigenverantwortlichkeit, Selbstbestimmungsfähigkeit und hieraus auch als Eigenwertigkeit des Menschen rezipiert ist. Im Gewissen wird vom Menschen nicht einfachhin ein gegenständliches Gutes aufgegriffen, sondern er rechnet sich sein Tun als eigenes zu und begreift sich damit selbst als ein durch Vernunft in Freiheit selbstbestimmendes Wesen.210 Ein 203

s. o. Abschnitt B. IV. Zippelius, R., Rechtsphilosophie, S. 95. 205 Dazu unten, Abschnitt D. III. 206 s. o. Abschnitt A. V. 1. 207 Vgl. Moralitätskonzeption von Kant, Abschnitt A. II. 2. 208 Vgl. Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 35. 209 Vgl. Abschnitt A. V. 1.; dazu unten, Abschnitt C. III. 3. 210 Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 116; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 207; vgl. Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 28. 204

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 119

Gewissensurteil ist demnach keine Deduktion bestimmter objektiver moralischer Grundsätze, sondern ein reflexives Urteil darüber, ob man sich in seiner mora­ lischen Einsicht tatsächlich von einer vernunftgeleiteten Güterabwägung und nicht etwa von bestimmten Neigungen, Leidenschaften oder einem Sachzwang leiten ließ.211 Im Gewissen wird folglich ein reflexives Urteil darüber gefällt, ob man subjektiv von der Richtigkeit des objektiven Urteils überzeugt ist. Das Gewissensurteil zielt auf die innere Übereinstimmung der Person mit sich selbst, ob man sich selbst gegenüber aufrichtig ist, dass die Handlung, die man unternehmen will, nicht unrecht sei.212 Die Gewissensfreiheit bedeutet demnach die Freiheit, Handlungsurteile auf ihr Gut-Sein zu hinterfragen213 und damit die Identität als vernunftbestimmtes Freiheitswesen zu ergreifen. Durch den Akt des Selbstbezugs im Gewissensurteil kommt die mensch­ liche Würde zum Ausdruck, durch die Vernunft die Welt nach eigener Vorstellung schöpferisch zu gestalten und damit seine vernunftgemäße Existenz zu bejahen.214 Gemäß diesem Gewissensverständnis ist die vernunftgemäße Existenz des Menschen der letzte Zweck seiner Handlungen, welche allein am eigenen Selbstwert orientiert sind.215 Das im Gewissensurteil sich explizit äußernde menschliche Vermögen der Selbstbestimmung und der Eigenverantwortung ist ein unmittelbares Kennzeichen menschlicher Würde. Dieses Gewissensverständnis ist normativ, weil es auf das normativ ausgezeichnete Selbstsein des Menschen als Vernunftund Freiheitswesen bezogen ist.216 Die Anerkennungs- und Überzeugungsfähigkeit von Gewissensinhalten beruht somit auf der transzendentalen Übereinstimmung der Vernunft mit sich selbst.217 Weil „die Gewissenhaftigkeit gleichsam die Innenseite der Vernünftigkeit und Freiheit“218 ist, muss das Gewissensurteil des Menschen als Ausdruck seiner Würde verstanden werden und die Gewissensfreiheit als Recht auf Entfaltung der mit dem Menschenwürdeverständnis unmittelbar zusammenhängenden Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung. „Gerade in der Gewissensbindung zeigt sich die Freiheit des Menschen“219, sodass die Achtung der Gewissensentscheidung einer Person die Achtung ihrer durch die Gewissensentscheidung zum Ausdruck gebrachten menschlichen Würde bedeutet.220 Die selbstbestimmungsfähige 211 Vgl. Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, S. 185 f.; Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 119 f. 212 Kant, I., Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft,, S. 186; s. o. Abschnitt A. II. 2. 213 Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127. 214 Vgl. Abschnitt A. V. 1. 215 Vgl. Tiedemann, P., Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 62. 216 Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 117. 217 Krings, H., Einführung, S. 99. 218 Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 115. 219 Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 34. 220 s. o. Abschnitt A. V.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

eigenverantwortliche Natur des Menschen als konstitutives Element des Menschenbildes der Verfassung begründet das normative Gewissensverständnis als unmittelbare Konkretisierung der Menschenwürde und verleiht dem Grundrecht der Gewissensfreiheit die Schutzrichtung als Wahrung der sich im sittlichen Urteil äußernden eigenwertigen Natur des Menschen. Das Gewissensverständnis nach Maßgabe von konstitutiven Elementen des verfassungsimmanenten Menschenbildes gehört damit zum höchsten Rechtswert, und zwar zur Freiheit und Würde aller Bürger.221 Da die menschliche Würde und seine sittliche Autonomie eine untrennbare Einheit bilden, bedeutet die Achtung der Gewissensfreiheit die „Achtung des Einzelnen als Subjekt“222. Vom Gewissen zu reden, heißt daher von der Würde des Menschen reden.223 Die Gewissensbestimmung anhand von konstitutiven Elementen des verfassungsimmanenten Menschenbildes, in welchem die Normativität von Gewissensüberzeugungen auf nicht-empirischen Zügen des Gewissensphänomens beruht und daher nicht überindividuell, autoritativ oder inhaltlich bestimmt werden kann224, lässt den Gewissensbegriff notwendig weit und undifferenziert.225 Das heißt allerdings nicht, dass dadurch seine Normativität infrage gestellt wäre.226 Die Normativität des Gewissens bedeutet mehr als bloße formale Inhaltlichkeit227, sie bezieht sich auf einen „Zurechnungspunkt“228 jeder Verantwortlichkeit des Subjekts für sein Tun: „Art.  4 I GG macht nicht nur bestimmte, empirisch faßbare Äußerungsformen mensch­ lichen Lebens zu seinem Regelungsgegenstand, sondern ein empirisch jedenfalls praktisch nicht vollständig auflösbares Urteilsvermögen des Menschen. Das Gewissen-Haben ist nicht allein empirisch feststellbare Eigenschaft des Menschen, sondern wie die Würde in Art. 1 I GG, normative Zuschreibung.“229

Da die Normativität dieses Gewissensverständnisses in der Selbstverpflichtung des Menschen und in seiner Verantwortlichkeit für das selbstbestimmte Handeln beruht, muss unter der Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit die selbstauferlegte Verantwortlichkeit für eigenes Handeln verstanden werden.

221

Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S.  108; Dauner, P., Das Gewissen, S. 77; Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 32. 222 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 108. 223 Spaemann, R., Moralische Grundbegriffe, S. 74 f.; vgl. Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 123 f., 126. 224 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 120. 225 Ebd., S. 113, 210; Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 19. 226 Vgl. Höver, G., Transzendentalität und argumentative Leistungskraft des Gewissens  – Diskussionsbericht, S. 123 f.; Krings, H., Einführung, S. 99; Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 120. 227 Höver, G., Transzendentalität und argumentative Leistungskraft des Gewissens – Diskussionsbericht, S. 124. 228 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 207. 229 Ebd., S. 207 f.

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 121

Bei der Abgleichung des dargestellten normativen Gewissensverständnisses mit der Gewissensdefinition des Bundesverfassungsgerichts230 lässt sich die anfangs im Abschnitt C. I. 1. dargestellte Unsicherheit beheben, welcher Aspekt des Gewissensphänomens (entweder der affektive oder normativ-kognitive)  bei der Bestimmung des Schutzgutes der Gewissensfreiheit maßgebend ist und welche Schutzrichtung Art. 4 Abs. 1 GG umfasst.231 Wenn man die selbstbestimmungsfähige eigenverantwortliche Natur als das konstitutive Element des verfassungsimmanenten Menschenbildes zum Ausgangspunkt für die Gewissensbestimmung des Grundgesetzes nimmt, so muss die Zielrichtung der Gewissensfreiheit als Schutz der im Gewissensurteil sich äußernden Selbstverantwortlichkeit und des Entwurfsvermögens des Individuums vor Kollisionen mit der normativen Ordnung des Rechts verstanden werden. Die Berufung auf das Gewissen ist dabei kein Akt der Willkür, sondern der sittlichen Notwendigkeit eines vernunftbestimmten freien Individuums. Damit wird die normativ-kognitive Komponente der bundesverfassungsgerichtlichen Gewissensbestimmung der „an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierten Entscheidung“ und „unmittelbar evidenten Gebote“ zum ausschlaggebenden Element des grundgesetzlichen Gewissensverständnisses. In diesem Kontext muss die „an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung“ als ein reflexives Urteil über das Gut-Sein von Handlungsbestimmungen verstanden werden. Die normative Funktion des Gewissens bezieht sich hierbei auf die kognitive Überprüfung, ob die Handlung, die man unternehmen will, ein moralisches Unrecht darstellen könnte. Die „unmittelbar evidenten Gebote“ dürfen dabei nicht als Evidenz inhaltlich bestimmter Moralvorstellungen aufgefasst werden, sondern als eine Evidenz, die sich aus der Vernunftübereinstimmung ergibt, dass man sich in seiner moralischen Einsicht tatsächlich von einer vernunftgeleiteten Güterabwägung, und nicht von „blinden“, d. h. unreflektierten Überzeugungen leiten lässt. In diesem Sinne bezieht man sich im Gewissensurteil auf Gebote, die aus Vernunftgründen als evident erscheinen. Wie bereits dargestellt, wird von Vertretern positivistischer Interpretations­ ansätze in der Gewissensbezeichnung des Bundesverfassungsgerichts als ein „real erfahrbares seelisches Phänomen“ ein Verweis auf die Rezeption eines empirischen Befundes gesehen232 und die Komponente der „Gewissensnot“ als ein Hinweis auf die affektiv-empirische Natur des Gewissensphänomens gedeutet. Wenn man jedoch vom normativen Gewissensverständnis nach Maßgabe des verfas 230

Die Beschreibung des Gewissens als „ein (wie immer begründbares, jedenfalls aber) real erfahrbares seelisches Phänomen […], dessen Forderungen, Mahnungen und Warnungen für den Menschen unmittelbar evidente Gebote unbedingten Sollens sind“ und die Beschreibung einer Gewissensentscheidung als „jede ernste sittliche, d. h. an den Kategorien von „Gut“ und „Böse“ orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Lage als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könne“ (BVerfGE 12, 45 (54 f.)). 231 s. o. Abschnitt C. I. 1. 232 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 243.

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

sungsimmanenten Menschenbildes ausgeht, muss unter „Gewissensnot“ die verstandesmäßige Notlage im Sinne von einem kognitiv wahrgenommenen (und nicht unbedingt affektiv empfundenen) Selbstwiderspruch verstanden werden. Der Selbstwiderspruch äußert sich darin, dass diejenigen Grundsätze, welche vom Subjekt für moralisch geboten gehalten werden, nicht als Gründe für seine Handlungsbestimmung herangezogen werden. Die Gewissensnot ergibt sich daraus, dass das Selbstverständnis des Menschen, ein nach Vernunftgründen handelndes Wesen zu sein, infrage gestellt wird. Ob dieser Selbstwiderspruch der vernunftgemäßen Existenz in psychische Erkrankung umschlägt und einen schweren seelischen Schaden hervorruft, ist für das Gewissensverständnis nicht ausschlaggebend. Da das Gewissensphänomen einer intelligiblen Natur ist, sind physische Folgen eines Gewissenskonflikts für das Verständnis dieses Phänomens nicht entscheidend. Genauso wie die Willensfreiheit ein real erfahrbares Phänomen ist, das allerdings aufgrund seiner intelligiblen Natur einer empirischen Erklärung unzugänglich ist233, kann auch das Gewissen (als ebenfalls ein real erfahrbares Phänomen), das, wie gezeigt, seinen Ursprung in der intelligiblen Natur des Menschen hat, nicht aus empirischen Befunden erklärt werden.234 Die Gewissensbestimmung des Bundesverfassungsgerichts als ein „real erfahrbares seelisches Phänomen“ und die Beschreibung der Gewissens­ entscheidung mittels der Komponente der „Gewissensnot“ müssen in einem normativen Gewissensverständnis als ein Hinweis auf kognitive Elemente des Gewissensphänomens aufgefasst werden. Zum Abschluss der Darstellung der Normativität des Gewissensbegriffs muss zusammenfassend festgestellt werden, dass das Gewissensverständnis nach Maßgabe von konstitutiven Elementen des verfassungsimmanenten Menschenbildes dem normativen Maßstab der auf die Menschenwürde gerichteten Verfassungsordnung entspricht. Das normativ-kognitive Gewissensverständnis bringt sowohl die systematische als auch die rechtsgeschichtliche Intentionalität bei der Gewährleistung der Gewissensfreiheit zum Ausdruck, die Würde der sich frei entfaltenden Persönlichkeit durch die Freiheitsrechte des Grundgesetzes zu wahren und die unter der nationalsozialistischen Herrschaft erfahrene totalitäre Unterdrückung der individuellen moralischen Orientierung in Zukunft zu verhindern.235 Die Konkretisierung des Gewissensbegriffs des Grundgesetzes als einer Instanz mora­ lischer Selbstbestimmung und Eigenverantwortung lässt deutlich werden, dass die 233

Da alle Gegenstände der Natur dem Kausalgesetz unterworfen sind, kann mit der empirischen Methode höchstens das Gegenteil  – die Willensheteronomie  – aufgezeigt werden. Als Beispiel dafür können die Versuche der Hirnforscher aufgeführt werden, die Willensfreiheit aufgrund von Ergebnissen empirischer Forschung zu widerlegen (vgl. Roth, Gerhard, Aus Sicht des Gehirns). Grundlegend zum Thema „Kausalität aus Freiheit“: Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Dritter Abschnitt, S. 446 ff. 234 Zur Auseinandersetzung mit der Notwendigkeit von metaphysischen Annahmen bei der Gewissensbestimmung s. u. Abschnitt C. III. 3. 235 Vgl. oben, Abschnitt B. IV.

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 123

Schutzrichtung der Gewissensfreiheit in Art.  4 Abs.  1 GG in Wahrung der sich im sittlichen Urteil äußernden eigenwertigen Natur des Menschen gegen staatliche Indoktrination besteht. Indem dem Menschen das Gewissen zugeschrieben wird, erscheint er unmittelbar als normativ urteilendes Subjekt mit einer „normativen Kompetenz“, und nicht nur als Objekt einer rechtlichen Regelung.236 Damit darf die Berufung auf das Gewissen auch nicht als ein Akt der Willkür verstanden werden, sondern der sittlichen Notwendigkeit eines vernunftbestimmten freien Individuums. Die enge systematische und anthropologische Verbindung der Gewissensfreiheit mit der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG erklärt auch den besonderen Stellenwert dieses Grundrechts, der durch das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts in Art. 4 Abs. 1 GG verstärkt wird. 3. Die metaphysischen Annahmen im normativen Gewissensverständnis Nach der Darstellung des normativen Charakters des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit wird weiterhin auf das normative Gewissensverständnis vor dem Hintergrund seiner metaphysischen Annahmen eingegangen. An dieser Stelle ist zu zeigen, warum der eingangs zum Abschnitt C. III. erwähnte Dogmatismusverdacht gegenüber naturrechtlich fundierten Gewissenskonzeptionen dem Gewissensverständnis nach Maßgabe des verfassungsimmanenten Menschenbildes nicht gerecht wird. Es wird aufgezeigt, dass der Interpretation des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit bestimmte metaphysische Annahmen zugrunde liegen, wie diese Annahmen sich zum Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität des Staates verhalten und welche Konsequenz aus der normativen Gewissenskonzeption für die objektive Erkennbarkeit einer Gewissensentscheidung folgt. Im Anschluss an die Auseinandersetzung mit dem kognitiv-normativen Gewissensmodell muss festgestellt werden, dass das Gewissensverständnis als Selbstausdruck der Vernunft- und Freiheitsnatur des Menschen nicht nur der verfassungsgeschichtlichen und systematischen Verbindung der Gewissensfreiheit mit Art. 1 Abs. 1 GG entspricht, sondern darüber hinaus auch für die Erklärung des Phänomens moralischer Selbstverpflichtung im Gewissen und für die Begründung von dem Achtungsanspruch des Gewissensurteils eines Menschen ein denknotwendiges Gewissenskonzept ist. Einerseits ist die Annahme der Idee des Menschen als einer freien Persönlichkeit im Grundgesetz sowohl ein Produkt von konkreten politischen Erfahrungen als auch einer geistesgeschichtlichen Entwicklung.237 In diesem Sinne schlägt das Grundgesetz eine normative Brücke zu den hinter der materiellen Werteordnung 236

Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 208. Vgl. Geiger, W., Menschenrecht und Menschenbild in der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, S. 3. 237

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

stehenden geistesgeschichtlichen Grundlagen238 und folgt einer geistigen Traditionslinie, welche von einem bestimmten Grundverständnis über den Menschen ausgeht. Wie bereits im Abschnitt B.  IV. ausgeführt, geht die Verfassungsordnung von einem bestimmten „Quellcode“ des Wertefundaments des Rechts aus, in dem die Freiheit und Würde des Menschen der Quellengrund aller Normativität ist.239 Genauso wie in der Annahme der Menschenwürde als obersten Verfassungsprinzip nimmt der Verfassungsgeber auch bei der Ausgestaltung des Art. 4 Abs. 1 GG „eine Wertung vor, die auch in der christlich-abendländischen Tradition wurzelt“240. Die Ausgestaltung des Art. 4 Abs. 1 GG als eines spezifischen Ausdrucks der Menschenwürde241 steht somit in Verbindung mit der geistesgeschichtlichen abendländischen Tradition. Das dem Gewissensverständnis zugrunde liegende Autonomieprinzip beansprucht andererseits auch unabhängig von seiner philosophiegeschichtlichen und christlich-theologischen Genesis seine Geltung als das konstitutive Prinzip im normativen Gewissensverständnis. Das heißt, dass das Verständnis des Gewissens nach Maßgabe des Menschenbildes als freien Vernunftwesens bei der Auslegung des Grundrechts der Gewissensfreiheit nicht nur als eine Konsequenz aus den geistesgeschichtlichen Grundlagen des Grundgesetzes, sondern auch kulturinvariant als eine notwendige metaphysische Annahme für die Erklärung der normativen Dimension der Gewissensfreiheit zu begreifen ist. Die Denknotwendigkeit dieses Prinzips ergibt sich unabhängig von seiner kultur- und geistesgeschichtlichen Genesis. Das Faktum der freiheitlichen Vernunftnatur des Menschen muss notwendig angenommen werden, will man das Gewissen als eine normative Instanz sittlicher Selbstbestimmung erklären. Wie man letztlich diese vorverfassungsrechtliche metaphysische Annahme, diese „normative Zuschreibung“242 der freiheitlichen Vernunftnatur des Menschen deutet, ob christlich-theologisch als Licht der göttlichen Vernunft oder transzendentalphilosophisch als ein nicht weiter erklärbares erstes Faktum, ist für die Beschreibung des real erfahrbaren Gewissensphänomens nicht unmittelbar ausschlaggebend. Das Entscheidende ist, dass die metaphysische Annahme der Vernünftigkeit und Freiheit des Menschen notwendig vorausgesetzt werden muss, will man das Phänomen moralischer Selbstverpflichtung im Gewissensurteil erklären.243 Das Phänomen moralischer Verantwortung des Individuums zwingt zur metaphysischen Deutung – und zwar zur Herleitung der sittlichen Verantwortung des Menschen aus seiner freiheitlichen Vernunftnatur – und ist nicht umgekehrt aus 238

Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 210. Di Fabio, U., Zur Theorie eines grundrechtlichen Wertesystems, Rn. 37; Enders, Ch., Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 310 ff.; Ryffel, H., Zum ethischen Fundament der Rechtswissenschaften, S. 143; vgl. Di Fabio, U., Einführung in das Grundgesetz, S. XII. 240 BVerfG, 1 BvR 2857/07 vom 1.12.2009, Rn. 148. 241 BVerfGE 33, 23 (28 f.). 242 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 208. 243 s. o. Abschnitt A. V. 1. 239

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 125

einer beliebig gewählten metaphysischen Konzeption theoretisch gefolgert. „Das Faktum des Gewissens nötigt zur metaphysischen Deutung, nicht die Metaphysik zur Annahme eines Gewissens.“244 Nur die metaphysische Annahme der Vernunftund Freiheitsnatur des Menschen macht den Achtungsanspruch des Gewissensurteils eines Menschen plausibel.245 Will man daher das Gewissen als Schutzgut des Grundgesetzes normativ erschließen, muss es notwendig als Selbstausdruck des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen metaphysisch gedeutet, d. h. normativ zugeschrieben werden. Wenn man von dieser Annahme absieht, ist die systematische Verbindung der Gewissensfreiheit mit der Menschenwürdegarantie und der durch das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts zum Ausdruck gebrachte besondere Stellenwert dieses Grundrechts nicht plausibel zu erklären. Dem Gewissensverständnis in Art. 4. Abs. 1 GG liegt damit notwendigerweise die metaphysische Annahme über das Selbstsein des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen zugrunde. Wegen seinen normativen metaphysisch fundierten Grundannahmen muss das Gewissensverständnis nach Maßgabe des Menschenbildes der Verfassung jedoch mit dem Vorwurf konfrontiert werden, durch den Rückgriff auf bestimmte metaphysische Vorverständnisse über die Natur des Menschen gegen den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität zu verstoßen. In diesem Sinne müssen alle interdisziplinären Interpretationszugänge zum Gewissensbegriff, und insbesondere der philosophische, dem weit verbreiteten Einwand begegnen, der Gewissensbegriff des Grundrechts der Gewissensfreiheit lasse sich nicht durch einen Rückgriff auf geisteswissenschaftliche Gewissensmodelle bestimmen.246 Als Begründung für diese These wird vor allem vorgetragen, dass es allein schon am Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates scheitern würde, bei der Interpretation des Grundrechts der Gewissensfreiheit auf ein bestimmtes philosophisches Gewissensmodell zurückzugreifen. Dieses – im Grunde zutreffende – Argument bedarf jedoch einer näheren differenzierten Betrachtung. Um dem Einwand des Verstoßes gegen das Gebot der weltanschaulichen NichtIdentifikation des Staates zu begegnen, muss zunächst auf das Prinzip der weltanschaulichen Neutralität und sein Verhältnis zum Grundrecht der Gewissensfreiheit eingegangen werden. Im Abschnitt B.  IV. wurde bereits angesprochen, dass das verfassungsrechtliche Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität die Nicht-Identifikation des Staates mit ideologischen, theologischen oder philo­ sophischen weltanschaulichen Gesamtkonzepten bedeutet und dass der Staat sich des Anspruchs begibt, Verkörperung oder Mittler oberster Werte, des Wahren und

244

Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 117; s. o. Abschnitt A. V. 1. s. o. Abschnitt A. V. 1. 246 Vgl. BVerfGE 12, 45 (54 f.); Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 16; Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 66 f.; Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 43; Podlech, A., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 21 f., 31. 245

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C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

des Richtigen zu sein.247 Demnach darf der Staat keine bestimmte weltanschauliche Position zum Maßstab der Auf- oder Abwertung von Meinungen und Überzeugungen im Hinblick auf ihre Zuordnung zu einem bestimmten Weltbild erheben.248 Das Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität dient dabei der Abwehr gegen eine Totalidentifikation des Staates und damit gegen eine ideologische Verstaatlichung der Gesellschaft, in der die Weltanschauungsfreiheit einzelner Bürger durch den Totalanspruch des Staates auf die „Wahrheit“ aufgehoben wäre.249 Aus dem Prinzip der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates folgt, dass die oben erwähnte These über die Unzulässigkeit der Gewissensbestimmung anhand einer bestimmten geisteswissenschaftlichen Position nur dann zuträfe, wenn man den Versuch unternimmt, dem rechtlichen Gewissensbegriff eine konkrete als „richtig“ vorausgesetzte geisteswissenschaftliche Konzeption zuzuordnen und anhand dieser Konzeption die Gewissensentscheidungen inhaltlich zu bewerten.250 Ausgehend vom Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität darf der Gewissensbegriff des Grundgesetzes nicht mit einer feststehenden positiven Werterangordnung gleichgesetzt werden251, sodass im Einzelfall über das Vorliegen oder Nichtvorliegen einer Gewissensentscheidung in der Weise geurteilt wird, dass man die von dem Grundrechtsträger vorgebrachten Werteüberzeugungen inhaltlich an einem feststehenden Wertekatalog abgleicht und danach feststellt, ob es sich in gegebener Situation auch wirklich um den Gewissenstatbestand handelt. Dem Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität entspricht folglich das Verbot der inhaltlichen Bewertung von Gewissensentscheidungen.252 Der Rückgriff auf philosophische Grundannahmen bei der Schutzgutbestimmung der Gewissensfreiheit würde dem Prinzip der weltanschaulichen Neutralität also dann entgegenstehen, wenn man den Gewissensbegriff mit einem konkreten positiven Wertegehalt identifizieren würde. Dies würde beispielsweise im Einzelfall bedeuten, dass „dem staatlichen Richter […] ein Rekurs auf die traditionellen naturrechtlichen Referenzsysteme des Gewissens in dem Sinne verboten [ist], daß er den Inhalt von Gewissensentscheidungen nicht an überindividuellen naturrechtlichen Normen messen darf, und in dem Sinne, daß er solche naturrechtlichen Selbstinterpretationen des Grundrechtsträgers nicht als einzig tatbestandliche im Sinne des Art. 4 I GG betrachten darf“253. 247 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S.  99 f.; Herdegen, M., Gewissens­ freiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 176; Hesse, K., Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn.  383; Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 236 f. 248 Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts, S. 209. 249 Schlaich, K., Neutralität als verfassungsrechtliches Prinzip, S. 238 f. 250 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 99; vgl. Podlech, A., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 21. 251 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 99. 252 Ebd., S. 114; Podlech, A., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, S. 20 ff. 253 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 120.

III. Gewissensverständnis nach Maßgabe verfassungsimmanenten Menschenbildes 127

Aus der oben dargestellten normativen Gewissenskonzeption nach Maßgabe des verfassungsimmanenten Menschenbildes geht dagegen hervor, dass es sich bei dieser Konzeption gerade nicht um eine Gewissensbestimmung mittels Gleichsetzung von Gewissensentscheidungen mit einer bestimmten Moralordnung handelt. Das Gewissensverständnis als Selbstbezug des freien Vernunftwesens im moralischen Urteil behandelt die Art und Weise des Selbstbezugs der menschlichen Vernunftnatur im Gewissensurteil. Dieses Gewissensverständnis verzichtet auf die Annahme einer feststehenden inhaltlichen Moralordnung. Über das Vorliegen des Gewissenstatbestandes wird hier nicht ausgehend von der Übereinstimmung des Gewissensurteils mit bestimmten Werten entschieden. Wie bereits im vorigen Kapitel erwähnt, gründet die Verbindlichkeit eines Gewissensurteils nicht im Wahrheitsbezug zu einer positiven inhaltlich bestimmten Moralordnung, sondern in einer praktischen vernunftgeleiteten Überlegung – d. h. in der formalen Struktur des Gewissensurteils.254 Es ist keine Deduktion bestimmter Moralvorstellungen, sondern ein reflexives sittliches Urteil in Form einer vernunftgeleiteten Güterabwägung.255 Das Gewissen ist in dieser Konzeption kein Prinzip ethischer Grundsätze, aus welchem Antworten nach dem moralisch guten Handeln geschöpft werden, sondern eine Instanz, in der ein reflexives Urteil darüber gefällt wird, ob man auch wirklich den vernunftbestimmten Überlegungen im moralischen Urteil gefolgt ist.256 Insofern ist das Gewissen der Selbstbezug der praktischen Vernunft, der auf die innere Übereinstimmung der Person mit eigener Vernunftnatur  – und nicht mit einer bestimmten Werteordnung – zielt. Die Gewissensfreiheit bedeutet demnach nicht, dass das Gewissen der Ursprung der Wahrheit ist, sondern es ist ein Ausdruck menschlicher Freiheit, Handlungsurteile auf ihr Gut-Sein zu hinterfragen.257 Das Gewissen darf daher in dieser Konzeption nicht mit bestimmten Überzeugungen gleichgesetzt werden258, sondern muss als eine Forderung an uns selbst zu verstehen sein.259 Aus dem Gewissensverständnis als reflexivem praktischem Bewusstsein dürfen nicht im Kurzschluss materielle Pflichten abgeleitet werden.260 Das Gewissen darf nicht mit oberflächlichen Überzeugungen gleichgesetzt werden.261 Im dargestellten Gewissensverständnis hängt die Normativität einer Gewissensentscheidung nicht vom Inhalt und der Begründung einzelner Gewissens­urteile, sondern von der individuellen Sollenserfahrung ab. Welchen konkreten Bezugs 254

Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 119 f. Ebd., S. 120. 256 Vgl. dazu Gewissenskonzeption von Kant, in der es zwischen dem moralischen Gesetz – dem kategorischen Imperativ – und dem Gewissen differenziert wird [s. o. Abschnitt A. II. 2. b)]. 257 Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127. 258 Ebd., S. 127. 259 Spaemann, R., Moralische Grundbegriffe, S. 75. 260 Hoffmann, Th., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 442. 261 Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127. 255

128

C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

punkt die Gewissensentscheidung hat, ob sie sich auf bestimmte theologische, naturrechtliche oder kulturelle Grundsätze bezieht, ist für die Begründung des Gewissenserlebnisses nur von einer sekundären Bedeutung262  – das Ausschlaggebende für die Normativität der Gewissensentscheidung ist das innere höchstsubjektive Phänomen moralischer Selbstverpflichtung. Da in diesem Gewissensverständnis das Gewissen nicht mit der Einsicht in eine inhaltlich vorgegebene objektive Sittenordnung gleichgesetzt ist, sondern als Form der Aneignung von moralischen Einsichten erklärt wird263, verstößt diese Gewissenskonzeption nicht gegen den Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität. Abschließend muss auf eine spezifische Konsequenz aus dem normativen Gewissensverständnis für die objektive Erkennbarkeit einer Gewissensentscheidung hingewiesen werden: Aufgrund ihrer intelligiblen264 Natur ist die Selbstverpflichtung im Gewissensurteil jeglicher Erkenntnis von außen, und damit einer eindeutigen Feststellung über das Vorliegen des Gewissenstatbestandes, prinzipiell verschlossen. Die prinzipielle Nicht-Erkennbarkeit des Gewissenstatbestandes ist jedoch kein Mangel des normativen Gewissensverständnisses, sondern eine notwendige Konsequenz aus der normativen Natur des Gewissensphänomens. Da die Normativität des Gewissens nur aus dem Prinzip der sittlichen Autonomie begründbar ist, und das Faktum der Autonomie einer objektiven Erkenntnis prinzipiell unzugänglich ist, kann das Vorhandensein des Gewissenstatbestandes seitens Dritter grundsätzlich nicht mit einer absoluten Eindeutigkeit festgestellt werden. Obwohl diese Konsequenz für die Rechtspraxis nicht zufriedenstellend zu sein scheint, muss dennoch betont werden, dass die grundsätzliche Unerkennbarkeit eine notwendige Folge aus dem normativen Gewissensverständnis ist und zur normativen Natur des Gewissensphänomens intrinsisch dazugehört. Die prinzipielle Unerkennbarkeit des Gewissensphänomens bedeutet allerdings nicht, dass die Gewissensfreiheit der rechtspraktischen Handhabung verschlossen ist. Obwohl die Feststellung des Gewissenstatbestandes nie mit absoluter Sicherheit erfolgen kann, steht dem Normanwender die Möglichkeit offen, das Vorhandensein der Gewissensentscheidung anhand von bestimmten Indizien, welche die Gewissenshaltung des Grundrechtsträgers plausibilisieren, nachzuvollziehen. Solche Hinweise können in der Ernsthaftigkeit und dem Gewicht der Entscheidung265,

262

Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 234. Vgl. Honnefelder, L., Praktische Vernunft und Gewissen, S. 20, 28. 264 Die prinzipielle objektive Nichterkennbarkeit des Gewissensphänomens gründet in der besonderen Vernunftnatur des Menschen, in der der Vorgang der moralischen Selbstverpflichtung und Überprüfung des moralischen Urteils auf seine vernunftgemäße Konsistenz ein Akt der Kausalität aus Freiheit (d. h. der Willensfreiheit) ist, welcher der Erkennbarkeit von außen unzugänglich ist und nur in der Selbstwahrnehmung des Subjekts als ein real erfahrbares Phänomen vernommen wird. 265 Starck, Ch., Artikel 4, Rn. 67. 263

IV. Fazit 

129

im Selbstverständnis des Grundrechtsberechtigten266 und seiner Plausibilität267, in der Bereitschaft zu lästigen Alternativen268 oder im offensichtlichen Bezug des Grundrechtsträgers zu bestimmten allgemein anerkannten Regeln269 liegen.270 Diese Indizien müssen dabei jedoch stets als ein möglicher Hinweis auf den Gewissenstatbestand gedeutet werden und dürfen nicht zum unmittelbaren Rückschluss auf das Vorhandensein einer Gewissenshaltung führen. Obwohl die Indizien niemals die absolute Sicherheit bei der Feststellung des Gewissenstatbestandes geben können, und die Entscheidung über das Vorliegen des Gewissenstatbestandes letztlich immer von der Einsicht des zuständigen Normanwenders abhängt (was natürlicherweise immer die Gefahr in sich birgt, dass eine echte Gewissensentscheidung verkannt bzw. eine vorgetäuschte für eine tatsächliche gehalten wird), bleibt die Feststellung einer Gewissensentscheidung mittels bestimmter Indizien und durch „differenzierte Regelung der Darlegungs-, Argumentations- und Beweislast“271 die einzig denkbare Möglichkeit, sich dem Gewissensphänomen in der Rechtspraxis zu nähern.272 Dabei geht es nicht um die Frage, ob die Gewissensentscheidung „richtig“ oder „überzeugend“ ist, sondern „auf das „Ob“, also auf die hinreichende Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins eines Gewissensgebots“273. Diese latente Unsicherheit bei der Judikatur des Grundrechts der Gewissens­freiheit ist eine unabwendbare Folge rechtlicher Gewährleistung der Gewissensfreiheit im Art.  4 Abs. 1 GG, in dem das höchstsubjektive Gewissensphänomen zum grundrechtlichen Schutzgut erklärt wird.  IV. Fazit  Die Auseinandersetzung mit dem Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit ging von der Annahme aus, dass aus der Tatsache, dass das „Gewissen“ kein Rechtsbegriff ist, die Rechtswissenschaft nolens volens mit außerrechtlichen Überlegungen arbeitet. Die besondere Schwierigkeit bei der Schutzgutbestimmung und bei der Feststellung der Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit wurde dabei nicht nur in der gegenwärtigen gesellschaftlichen und

266 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 17; Mit dem Selbstverständnis des Gewissensprätendenten ist dabei jedoch nicht die Befugnis zur autoritativen Interpretation seiner Freiheit gemeint. 267 Morlok, M., Artikel 4, Rn. 55. 268 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 71. 269 Wobei ausgehend vom Grundsatz der weltanschaulichen Neutralität keiner der mora­ lischen Referenzsysteme als „einzig tatbeständliches“ (Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 120.) anerkannt werden darf. 270 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 251 f.; Rupp, H. H., Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, S. 1035. 271 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 185. 272 Vgl. Rupp, H. H., Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, S. 1034 f. 273 Deiseroth, D., Gewissensfreiheit und Recht, S. 231.

130

C. Normbereich des Grundrechts der Gewissensfreiheit 

philosophischen Unbestimmtheit über den Gehalt des Gewissensbegriffs274, sondern auch in der formalen Breite und prinzipiellen Mehrdeutigkeit der Gewissensdefinition durch das Bundesverfassungsgericht275 gesehen. Die Möglichkeiten der Schutzgutbestimmung sowohl durch positivistische als auch durch das normativkognitive Interpretationsmodell wurden anschließend darauf untersucht, ob und beziehungsweise warum die in diesen Konzeptionen vertretenen Gewissensauffassungen der systematischen verfassungsgeschichtlichen Intention bei der Ausgestaltung des Grundrechts der Gewissensfreiheit entsprechen bzw. zuwiderlaufen. Es wurde dabei die Frage erörtert, welche konstitutiven Elemente im Gewissensverständnis notwendig vorausgesetzt werden müssen, damit die Schutzrichtung dieses Grundrechts dem normativen Maßstab der auf die Menschenwürde gerichteten Verfassungsordnung gerecht wird. Bei der Explikation des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit spielte die im ersten Abschnitt dieser Arbeit vorgenommene Darstellung des ideengeschichtlichen Hintergrunds des modernen Gewissensbegriffs eine entscheidende Rolle. Aufgrund der vorangegangenen theoretischen Auseinandersetzung mit dem Gewissensphänomen konnte zum einen der Aufschluss über die Ursprünge der Unbestimmtheit des modernen Gewissensbegriffs und damit auch über eine der Schwierigkeiten der rechtlichen Gewissensinterpretation gewonnen werden. Zum anderen konnte durch die Darstellung von Grundannahmen einzelner geisteswissenschaftlicher Interpretationsansätze auf der theoretischen Ebene ein begriffliches Fundament für die Auseinandersetzung mit einzelnen grundrechtsdogmatischen Konzeptionen gewonnen werden. Die theoretische Betrachtung konnte damit der Verdeutlichung des Problemverständnisses bei der Auseinandersetzung mit dem Schutzgut des Grundrechts der Gewissensfreiheit dienen. Die Untersuchung von einzelnen Interpretationsansätzen des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit hat ergeben, dass sowohl der psychologische als auch der soziologische Interpretationsansatz der konstitutiven Bestimmung dieses Grundrechts als Freiheit zur sittlichen Selbstbestimmung eines freien Individuums nicht gerecht werden. Die Gewissensinterpretationen aus kontingenten empirisch erfassbaren Zusammenhängen vermögen keine Auskunft über die sittliche, d. h. achtunggebietende Qualität einer Gewissenshaltung zu geben. Indem in diesen Modellen ausschließlich empirische Phänomene zur Grundlage für das Verständnis der Gewissensfreiheit herangezogen werden, wird die Wahrung der im sittlichen Urteil sich äußernden eigenwertigen freiheitlichen Natur des Menschen als substanzielles Element der vorbehaltlos gewährleisteten Gewissensfreiheit verdrängt. Die These über die Ungeeignetheit positivistischer Modelle für die Gewissensinterpretation im Grundrecht der Gewissensfreiheit gilt dabei nicht nur für die in diesem Abschnitt dargestellten positivistischen Konzeptionen, sondern auch für jede andere, evtl. zukünftig für die Schutzgutbestimmung dieses Grundrechts 274

s. o. Abschnitt A. IV. 1. s. o. Abschnitt C. I. 1.

275

IV. Fazit 

131

heranzuziehende, positivistische Gewissenskonzeption (sei diese gesellschaftsoder aber auch naturwissenschaftlicher Art), welche auf die normative Deutung der ideellen in der Vernünftigkeit und Freiheit des Menschen verankerten Gewissensgrundlage verzichtet. Im Anschluss an die Darstellung positivistischer Gewissensmodelle wurde ein normatives Gewissensverständnis nach Maßgabe von konstitutiven Elementen des verfassungsimmanenten Menschenbildes vorgestellt. Das normative Gewissensverständnis als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit, in dem das Gewissensphänomen als Selbstbezug des freien Vernunftwesens im sittlichen Urteil zu verstehen ist (vgl. Abschnitt A. V. 1.), bildete dabei eine Grundlage für die Darstellung der Gewissenskonzeption nach Maßgabe des verfassungsimmanenten Menschenbildes. In dieser Konzeption wurde die Gewissensfreiheit als Freiheit des Menschen ausgewiesen, Handlungsurteile auf ihr Gut-Sein zu hinterfragen und damit die Identität als vernunftbestimmtes Freiheitswesen zu ergreifen. Es wurde deutlich, dass die Berufung auf das Gewissen kein Akt der Willkür, sondern der sittlichen Notwendigkeit eines vernunftbestimmten freien Individuums ist. Aus der engen systematischen und anthropologischen Verbindung der Gewissensfreiheit mit der Menschenwürdegarantie in Art. 1 Abs. 1 GG wurde gleichzeitig auch der besondere Stellenwert dieses Grundrechts erklärt, der durch das Fehlen eines Gesetzesvorbehalts in Art. 4 Abs. 1 GG verstärkt wird. Mit der Darstellung des normativen Gewissensverständnisses wurde deutlich, dass die „Alternative zwischen Dogmatismus und Relativismus“ bei der Bestimmung des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit keine absolute ist.276 Die Auseinandersetzung mit dem Gewissensverständnis im ersten, zweiten und dritten Abschnitt dieser Arbeit kann somit mit der Feststellung abgeschlossen werden, dass das Gewissensphänomen als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit und damit auch der Würde des Menschen verstanden werden muss. Dementsprechend besteht die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit in Art.  4 Abs.  1 GG in Wahrung der sich im sittlichen Urteil äußernden eigenwertigen Natur des Menschen gegen staatliche Indoktrination. Dieses Grundrecht muss folglich als ein Recht auf Entfaltung der sittlichen Autonomie, d. h. der Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung in Form der vernunftgeleiteten Abwägung eigener Handlungsgrundsätze verstanden werden.

276

Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 210.

D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung Die sachliche Dimension des Grundrechtsschutzes von Art.  4. Abs.  1 GG schließt nicht nur den Innenbereich der Gewissensbildung, das forum internum, sondern auch das gewissensgeleitete Handeln, das forum externum, mit ein.1 Der Handlungsbezug ist notwendigerweise dadurch gegeben, dass im Gewissensurteil der Mensch das Tun als sein eigenes zurechnet2 und das Gewissensphänomen auf die Beurteilung der moralischen Richtigkeit von Handlungs-Urteilen3 gerichtet ist. Erst als Handelnder „erscheint der Grundrechtsträger als Zurechnungspunkt und Subjekt der Veränderung von Situationen und Zuständen“4 und realisiert sein „Selbst- und Weltverständnis“5. Weil das Gewissensphänomen auf das aktive Handeln und auf das Bewerten dieses Handelns gerichtet ist, liegt der Schutzbereich des Art. 4. Abs. 1 GG nicht nur in der Freiheit, sich nach seinem Gewissen zu entscheiden, sondern auch in der Freiheit, sich entsprechend der Gewissensentscheidung zu verhalten und von der öffentlichen Gewalt nicht dazu verpflichtet zu werden, entgegen den Gewissensüberzeugungen handeln zu müssen.6 Mit der Ausweitung der sachlichen Dimension des Grundrechtsschutzes von Art.  4. Abs.  1 GG auf das gewissensgeleitete Handeln zeichnet sich jedoch das Problem der Begrenzung der Gewissensfreiheit durch die staatliche Rechtsordnung ab: Da die Gewissensfreiheit ein schrankenlos gewährleistetes Grundrecht ist, so muss die Frage beantwortet werden, inwiefern die Geltung des positiven Rechts in der Abhängigkeit von subjektiven Gewissensüberzeugungen steht. Im Anschluss an die Darstellung des normativen Gewissensverständnisses wird im Folgenden auf das Geltungsverhältnis zwischen subjektiven Gewissensgeboten und der normativen rechtlichen Ordnung eingegangen. Durch die Betrachtung des Geltungsverhältnisses werden die Grenzen der Umsetzung von subjektiven moralischen Überzeugungen ausgewiesen und gleichzeitig die Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit verdeutlicht.



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2

s. o. Abschnitt B. III. Vgl. Honnefelder, L., Vernunft und Gewissen, S. 116. 3 Vgl. Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127. 4 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 184. 5 Ebd., S. 184. 6 Vgl. BVerfGE  48, 127 (163); 78, 391 (395); Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn.  25; ­Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 53; Kokott, J., Art. 4, Rn. 80.

I. Gewissensfreiheit als Verfassungsproblem 

133

I. Gewissensfreiheit als Verfassungsproblem Mit Art. 4 Abs. 1 GG wurde ein spezifischer Konflikt in das System des Rechts hineingenommen – und zwar eine Kollision zwischen rechtlichen und außerrechtlichen Verhaltenspflichten.7 Der vom Art. 4 Abs. 1 GG gemeinte Gewissenskonflikt ist ein Konflikt zwischen einer normativen „Gewissensposition des Einzelnen und der Rechtsordnung, zwischen der Rechtspflicht und der Gewissenspflicht“8. Dieser Regelungsbereich birgt eine spezifische Problematik in sich, dass die innere und die äußere Quelle normativer Handlungsbestimmung in ein gegenseitiges Spannungsverhältnis geraten können. Die zentrale Problemstellung bei der Auseinandersetzung mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit besteht somit im Dilemma der Überwindung des Spannungsverhältnisses zwischen normativen subjektiven Gewissensgeboten und der Normativität der gesetzlichen Ordnung. Es geht um die Begrenzung dieses Grundrechts durch die staatliche Rechtsordnung.9 Es ist ein Problem des Kompatibilitätsverhältnisses zwischen der vorbehaltlos gewährleisteten Gewissensfreiheit und dem allgemeinen Gesetz des demokratischen Rechtsstaates. Auf der einen Seite steht dabei das im Abschnitt C. III. skizzierte normative Gewissensverständnis als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit, in dem das Gewissensphänomen als Selbstbezug des freien Vernunftwesens im sittlichen Urteil zu verstehen ist und daher eine besondere Achtung gebietet. Auf der anderen Seite steht das staatliche Recht, das seine Geltung unabhängig von der Billigung durch den Einzelnen beansprucht. Dieses Spannungsverhältnis führt zu Fragen, ob die Geltung des allgemeinen Gesetzes von der Billigung durch das individuelle Gewissen abhängt und ob die Anerkennung des Gewissens die Allgemeinverbindlichkeit – als Basis des Rechts – außer Kraft setzte.10 Das Spannungsverhältnis zwischen dem subjektiven Gewissen und dem objektiven Recht führt somit zum Problem, „in welchem Umfang eine Verfassung, die den Staat als demokratischen Rechtsstaat verfaßt, diese Gewissensfreiheit, die sie gewährleisten will, zu gewährleisten in der Lage ist, ohne sich dadurch wiederum selbst in Frage zu stellen“11. Einerseits hat die Auseinandersetzung mit dem normativen Gewissensverständnis im Grundgesetz ergeben, dass die vorbehaltlos gewährleistete Gewissensfreiheit sich auf das Phänomen der Vernünftigkeit und Freiheit des Menschen und damit auch auf seine Würde bezieht. Aus diesem Grund muss die Gewissensfreiheit als ein hoch zu schätzendes Schutzgut verstanden werden, sodass der Verfassungsgeber sogar auf einen einschränkenden Vorbehalt des Gesetzes verzichtet. Das

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Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 235. Ebd., S. 233. 9 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 37; vgl. Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 41. 10 Vgl. Schreiber, H.-L., Gewissen im Recht, S. 29. 11 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 35 f. 8

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

Fehlen des Gesetzesvorbehalts muss beim normativen Gewissensverständnis als bewusste Intention des Verfassungsgebers interpretiert werden, den hohen Stellenwert dieses Grundrechts zum Ausdruck zu bringen. Die Gewissensfreiheit ist eine objektive wertentscheidende Grundsatznorm12, bei der der Verfassungsgeber sich vor dem Hintergrund historischer Erfahrung der totalitären Ein-Partei-Diktatur für die Notwendigkeit der Wahrung der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit ohne einen Vorbehalt des Gesetzes bewusst entschieden hat.13 Das Verhältnis zwischen dem vom Gewissensbegriff umfassten Wirklichkeitsabschnitt und der Wirklichkeit der freiheitlichen Rechtsordnung kann somit mit Filmer auf folgende Weise beschrieben werden: „Ein Staat, der für sein Recht über bloße Zwangswirkung hinausgehende Geltung oder Normativität beansprucht, kann nicht an der Sache Gewissen, an der (Selbst-)Verantwortlichkeit des einzelnen für sein Tun, vorbeigehen, und er sollte das Gewissen – in seiner Ambivalenz – auch dort als solches ernstnehmen, wo es sich gegen ihn wendet.“14

Gerade die Achtung vor der Gewissensfreiheit der Bürger verschafft dem demokratischen Rechtsstaat Legitimität und damit innere Stabilität.15 Insofern kann das Spannungsverhältnis zwischen individuellem Gewissen und objektivem Recht nicht mit einem Modell des „uneingeschränkten Vorrangs“ des (einfachen) Gesetzes gelöst werden.16 Andererseits folgt jedoch aus dem bewussten Verzicht auf einen Gesetzesvorbehalt zwangsläufig die Frage, „ob das Grundrecht deshalb auch „schrankenlos“ ist“17. Kann etwa hieraus folgen, dass sich wirklich jedes Individuum auch gegenüber dem „geltenden Recht“ auf sein individuelles Gewissen berufen darf?18 Aus dem normativ-kognitiven Gewissensverständnis wurde bereits deutlich, dass die Berufung auf das Gewissen kein Akt der Willkür, sondern der sittlichen Notwendigkeit eines vernunftbestimmten freien Individuums ist. Es gibt jedoch bei diesem Gewissensverständnis keine Gewähr dafür, dass die subjektive Sicht der sittlichen Notwendigkeit, wie sie sich aus dem Gewissensurteil ergibt, mit der durch Gesetze vermittelten rechtlichen Normativität übereinstimmt.19 Das Grundrecht der Gewissensfreiheit setzt den Rechtsgehorsam voraus und stellt ihn nicht in Frage.20 Es kann gar nicht sittliche Pflicht sein, gegen gültiges Recht zu handeln, da die Aufhebung der Rechtsordnung zum Untergang auch

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BVerfGE 23, 127 (134); vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 100. Vgl. Klein, H. H., Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 482; s. o. Abschnitt B. III. 14 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 206. 15 Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 58. 16 Dazu: Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 138 ff. 17 Deiseroth, D., Gewissensfreiheit und Recht, S. 229. 18 Ebd., S., 229. 19 Vgl. Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 41. 20 Ebd., S. 54; vgl. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 37; Deiseroth, D., Gewissensfreiheit und Recht, S. 230.

I. Gewissensfreiheit als Verfassungsproblem 

135

des sittlichen Lebens führen würde.21 Die Gewissensfreiheit ist in die staatliche Rechtsordnung eingebettet, von der sie gewährleistet wird.22 Die Vorstellung eines schrankenlosen Grundrechts ist sowohl praktisch unmöglich als auch theoretisch widersinnig, da „die Freiheit als rechtliche Freiheit […] niemals schrankenlos und absolut sein [kann]“23.24 Eine schrankenlose Ausübung der Gewissensfreiheit ohne Rücksicht auf Befindlichkeit anderer Rechtsgenossen würde zu unlösbaren Konflikten25 führen und ein Zusammenleben unmöglich machen.26 Außerdem darf keine Verfassungsnorm so interpretiert werden, dass sie die Auflösung der freiheitlichen Rechtsordnung impliziert und den Rechtsgrund bietet, die Verfassung selbst aus den Angeln zu heben.27 Die Gewissensfreiheit, verstanden als Befugnis, aus subjektiven Gründen nach Belieben den Rechtsgehorsam zu verweigern, würde sich als anarchischer Sprengsatz erweisen, der die Friedenseinheit und die Mehrheitsdemokratie zunichte machen könnte.28 Wegen der prinzipiell unbegrenzbaren Anzahl von möglichen Verhaltensimperativen, welche die allgemeinen Gesetze möglicherweise infrage stellen können, kann die Geltung der Gesetze nicht von der Billigung durch individuelles Gewissen abhängig gemacht werden. „Ein Gesetz, das im Einzelfall das Grundrecht verletzt, [kann] nicht [schon] deswegen nichtig [sein]“.29 Die Geltung von Recht und Gesetz darf nicht in die Abhängigkeit vom individuellen Gewissen geraten. Die Gewissensfreiheit darf daher nicht als prinzipiell uneingeschränkt verstanden werden und muss notwendig einer Grenze unterworfen werden, welche die Rechtsgeltung sicher stellt. Das Dilemma bei der Auseinandersetzung mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG besteht folglich darin, dass „der deutsche Verfassungsstaat kann weder auf den Rechtsgehorsam seiner Bürger noch auf die Anerkennung [der Gewissensfreiheit] verzichten, ohne sich selbst preiszugeben“30. Die Gewissensfreiheit ist zum einen ein individuelles Grundrecht und zugleich eine objektive Werteentscheidung, die für alle Bereiche des Rechts gilt.31 Zum anderen erfordert jedoch die Verpflichtung des Staates, Konflikte zwischen Gesetz und Gewissen zu meiden oder zu mindern, die Beschränkung seiner Rechtssetzungstätigkeit.32 Das Gewissen ist somit „zen-



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Kaufmann, A., Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, S. 23 f. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 37. 23 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 54. 24 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 37. 25 Rupp, H. H., Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, S. 1036. 26 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 37; vgl. Schreiber, H.-L., Gewissen im Recht, S. 38. 27 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 54; Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 49; Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 121. 28 Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 54. 29 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 126. 30 Klein, H. H., Gewissensfreiheit und Rechtsgehorsam, S. 484. 31 BVerfGE 23, 127 (134). 32 Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 101.

136

D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

traler Bezugspunkt und dauernde Gefahr für das Recht zugleich“33, „es ermöglicht und gefährdet jede über eine bloße Zwangsordnung hinausgehende normative Ordnung“34. Die nachfolgende Auseinandersetzung mit dem Geltungsverhältnis von moralischer Normativität und der Normativität des Rechts wird sich vor dem Hintergrund der dargestellten Ambivalenz der verfassungsrechtlich gewährleisteten Gewissensfreiheit mit der Frage beschäftigen, in welcher Beziehung die sittliche Selbstverpflichtung und die Rechtspflicht zueinander stehen und inwiefern die Anerkennung vom normativen Anspruch außerhalb des Rechts durch die freiheit­ liche Rechtsordnung möglich ist. Auf der rechtsphilosophischen Ebene wird auf das Geltungsverhältnis zwischen Rechts- und Gewissenspflichten eingegangen. Auf der grundrechtsdogmatischen Ebene werden praktische Berührungspunkte zwischen Gewissen und Rechtsordnung untersucht und ein mögliches Kompatibilitätsverhältnis zwischen diesen Bereichen ausgearbeitet, ob und auf welche Weise der freiheitliche Rechtsstaat individuelle Freistellungen vornehmen bzw. eine Nicht-Anwendung oder Nicht-Durchsetzung von Rechtsnormen zulassen kann.35 II. Die Normativität der Rechtsordnung und die Moralität 1. Der Rechtsbegriff Die rechtsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Geltungsverhältnis zwischen Rechts- und Gewissenspflichten beschäftigt sich mit der Frage, ob es eventuell schon aus der Eigenart von Geltungsbedingungen rechtlicher Normativität und ihrem Verhältnis zum Phänomen moralischer Handlungsbestimmung eine Auskunft über die Begrenzung von Tugendpflichten durch das Recht folgen könnte. Die Betrachtung des Verhältnisses zwischen den Rechtspflichten und der Moralität bedarf jedoch zunächst einer Auskunft über die Grundlagen der Rechtsgeltung und einer näheren Bestimmung des Rechtsbegriffs. Im Folgenden wird bei der Frage nach der Legitimität des Rechts auf die Rechtslehre von Immanuel Kant zurück gegriffen, in der die Begründung des Rechts als einer Institution der Freiheitsermöglichung konzipiert ist. In der Rechtsphilosophie von Kant bezieht sich der Rechtsbegriff auf die äuße­re Freiheit des Menschen, unabhängig von der nötigenden Willkür anderer Beliebiges zu tun und zu unterlassen. Der Regelungsbereich des Rechts wird durch das wechselseitige Verhältnis von Handlungsfreiheiten gebildet, sodass sich das Recht um Aufrechterhaltung der äußeren Freiheit und der Handlungsfähigkeit der



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Ebd., S. 95; vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 101. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 210. 35 Vgl. ebd., S. 128.

II. Die Normativität der Rechtsordnung und die Moralität 

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­ enschen sorgt.36 Bei seiner Bestimmung des Rechtsbegriffs fragt Kant nach raM tionalen Bedingungen, unter welchen eine Gemeinschaft äußerer Freiheit möglich ist, sodass die uneingeschränkte Freiheit in sozialer Perspektive zu keinem Widerspruch führt, d. h. nicht zur Unterwerfung und somit Vernichtung äußerer Freiheit.37 Angesichts der räumlichen Koexistenz endlicher Vernunftwesen in einem begrenzten Raum, in dem Leib und Leben verletzt werden können, in welchem es Gegenstände gibt, die man zum Eigentum machen kann, in dem man Verträge abschließt usw., hat man keine andere Wahl als in der Gemeinschaft zu leben, in der sich die äußere Freiheit einzelner Individuen wechselseitig beeinträchtigt.38 Der Begriff des Rechts betrifft daher „[…] das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“39. Es geht in Kants Rechtslehre folglich um die Koexistenzbedingung freier zurechnungsfähiger Individuen, d. h. um die Bedingung gleicher Freiheit für alle.40 Das Prinzip des Rechts fungiert dabei als Konsistenzprinzip der äußeren Handlungswelt41, in der der äußere Freiheitsgebrauch eines Menschen jederzeit im Konkurrenzverhältnis zum Freiheitsgebrauch anderer steht. Das Recht bezieht sich folglich auf die Bedingungen der Möglichkeit einer Konfliktfreiheit handelnder Menschen.42 Kant zufolge ist die äußere Freiheit in der Gemeinschaft als Unabhängigkeit von der Willkür anderer nur dann widerspruchsfrei möglich, wenn sie im Hinblick auf ihre Übereinstimmung mit der äußeren Freiheit anderer eingeschränkt wird. Um diese Freiheitssicherung zu gewährleisten, muss jedes Rechtsgesetz einen bestimmten Allgemeinheitsgrad beinhalten, d. h. dass jede Freiheitseinschränkung nach einem allgemeinen Gesetz vorgenommen werden muss.43 Der Begriff des Rechts ist dementsprechend ein „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“44. Damit formuliert Kant die grundlegende Rechtsposition, welche Menschen als freie und gleiche in einem begrenzten Raum lebende Individuen in der Welt äußerer zwischenmenschlicher Freiheit einnehmen.45 Als Konsequenz heißt dies, dass jede Person und jede Gruppe den Anspruch auf ihre Eigenart und ihren Eigensinn hat, solange sie sich an streng allgemeine Prinzipien bindet.46 Das allgemeine Rechtsgesetz heißt daher: „handle

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Vgl. Kersting, W., Politik und Recht, S. 317 f. Vgl. Höffe, O., Immanuel Kant, S. 220. 38 Vgl. Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 130 f. 39 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 230. 40 Kersting, W., Politik und Recht, S. 317 f. 41 Ebd., S. 318. 42 Vgl. Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Metaphysik der Sitten“, S. 174. 43 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 230. 44 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 230. 45 Kersting, W., Politik und Recht, S. 328. 46 Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 138.

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“47. In diesem Zusammenhang wird von Kant aus der Perspektive des Subjekts auch das grundlegende „Menschenrecht“ formuliert, das jedem Menschen als Menschen unabhängig von kontingenten Umständen, vor allen rechtlichen Akten apriorisch allein kraft seines Menschseins zukommt: „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“48

Dieses ursprüngliche Recht darf jedoch nicht als ein positives Menschenrecht verstanden werden – ein Katalog von positiv formulierten Menschenrechten wird von Kant nicht vorgestellt49 –, sondern muss als ein allgemeingültiger normativer Maßstab aufgefasst werden, der die grundlegende Rechtsposition des Menschen beschreibt, die ihm kraft seines Menschseins zukommt und unabhängig von materiellen Elementen, Zwecken und Bedürfnissen gilt.50 Neben der grundlegenden ursprünglichen Rechtsposition sind Menschen in der Rechtsordnung gleichzeitig aber auch Adressaten von Rechtspflichten. Entsprechend Kants Auffassung über das Rechtsprinzip als Konsistenzprinzip äußerer Freiheiten können Rechtspflichten nur äußere Pflichten sein51, d. h. dass sie zu ihrem Gegenstand Handlungen haben, „zu deren Durchführung mich ein anderer aufgrund des Rechtsgesetzes und seines in diesem fundierten Rechts verpflichten kann“52. In Gestalt rechtlicher Verpflichtung begegnet dem Verpflichteten die eigene Vernunft in Gestalt des ihn verpflichtenden Anderen.53 „Eine Rechtspflicht haben“ bedeutet demnach der äußeren Vernunftgesetzgebung unterworfen zu sein.54 Das Eigentümliche an der juridischen Gesetzgebung liegt weiterhin in der Verknüpfung des Prinzips von Handlungspflichten mit der äußeren Triebfeder des Zwangs.55 Aus der grundlegenden Rechtsposition des Menschen geht hervor, dass



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Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 231. Ebd., S., 237. 49 Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 139. 50 Zu Recht wird daher von Wolfgang Kersting festgestellt, dass genauso wenig wie sich aus dem kategorischen Imperativ ein inhaltlicher Pflichtenkatalog ableiten lässt, kann auch aus Kantischem Menschheitsrecht keine Vielzahl von natürlichen Rechten und Freiheiten analytisch gewonnen werden. Denn die Allgemeingültigkeit eines normativen Prinzips ist nur um den Preis seiner Formalität und Negativität zu bekommen. Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 163. 51 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 219. 52 Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 144. 53 Kersting, W., Politik und Recht, S. 322. 54 Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 145. 55 Ebd. S. 142.

II. Die Normativität der Rechtsordnung und die Moralität 

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jeder Eingriff in die Freiheit, die mit der Freiheit der anderen nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist, selbst illegitim ist. Mit anderen Worten tut mir jeder unrecht, der mich an den mir rechtlich erlaubten Handlungen hindert.56 Deshalb ist der Zwang, der den illegitimen Eingriff verhindert und somit das Unrecht abwehrt, selber legitim.57 Der praktischen Vernunft als einer rechtlichen geht es somit um die Sicherung der Erzwingbarkeit von Schuldigkeitspflichten seitens des Berechtigten.58 Der legitime Zwang ist von defensiver Natur, da er nicht eingreift, sondern den legitimen Freiheitsraum eines anderen gegen den ausgeübten illegitimen Zwang verteidigt.59 Die Auseinandersetzung mit Kants rechtsphilosophischer Konzeption muss mit der Feststellung abgeschlossen werden, dass er die verbindlichkeitstheoretische Seite von Recht hervorhebt60, welche begründet, warum es die Rechtsordnung überhaupt gibt und warum die Rechtsgesetze einen Anspruch auf Richtigkeit haben. Gemäß Kants moralphilosophischer Konzeption besteht das Gute allein im guten Willen, welcher nur aufgrund seines Prinzips der vernunftgeleiteten Selbstbestimmung gut ist.61 Der Anspruch der Vernunft, der Bestimmungsgrund menschlichen Handelns zu sein, bezieht sich dabei jedoch nicht nur auf die innere Komponente der individuellen Willensbestimmung des Menschen, sondern auch auf die Außenkomponente der Regelung des menschlichen Zusammenlebens.62 Das schlechthin Gute fordert die unbedingte Verbindlichkeit und strenge Allgemeinheit für die menschliche Praxis überhaupt.63 Im Hinblick auf die Moralität des Einzelnen betrifft die vernunftgeleitete Willensbestimmung unmittelbar den individuellen Willen im Inneren und im Bereich des Zusammenseins der Menschen bezieht sich das Vernunftprinzip auf die Regelung des Zusammenlebens im Äußeren. Moral ist demnach ein „Inbegriff aller Ansprüche menschlicher Praxis auf uneingeschränkte Richtigkeit, unabhängig davon, ob die Ansprüche in Bezug auf persön­liche oder auf öffentliche (rechtliche) Praxis erhoben werden“64. Dabei muss Moral (nicht die Moralität als individueller Sittlichkeitsbegriff) im Sinne des metaethischen Begriffs der Sittlichkeit, d. h. als Oberbegriff von Recht und Tugend verstanden werden, welche Teilgebiete der Versinnlichung der sittlichen Ordnung sind.65 Die Moralität und das Recht haben ihre Gemeinsamkeit in ihrer Gesetzgebung aus der reinen praktischen Vernunft und damit in ihrer allgemeinen und not-



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Vgl. Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 231. Ebd., S. 231; vgl. Höffe, O., Immanuel Kant, S. 223. 58 Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 143. 59 Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 142. 60 Kersting, W., Politik und Recht, S. 320. 61 Kant, I., Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 393 ff. 62 Vgl. Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Metaphysik der Sitten“, S. 182. 63 Ebd., S. 156. 64 Ebd., S. 7. 65 Jakl, B., Recht aus Freiheit, S. 111 f.

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

wendigen Geltung.66 Die im nächsten Kapitel noch näher zu erörternde Unabhängigkeit der Rechtspflichten von den ethischen Pflichten bedeutet deshalb nicht die Indifferenz des Rechts gegenüber der Sittlichkeit überhaupt. In diesem Zusammenhang kann der Rechtsbegriff auch als ein „moralischer“67 verstanden werden.68 Moralisch bzw. sittlich ist der Rechtsbegriff insofern, als er sich auf das Kriterium der allgemeinen, für alle Seiten gleichen gesetzlichen Verbindlichkeit bezieht.69 Die Ermöglichung der Willkürfreiheit in der Sinnenwelt ist kein Zweck des Rechts an sich und sie kann als solche die Notwendigkeit des Rechtsprinzips und seine unbedingte Verbindlichkeit nicht begründen.70 Die Verbindlichkeit des Rechtsprinzips kann erst aus dem Begriff des schlechthin Guten, der die unbedingte Verbindlichkeit und strenge Allgemeinheit impliziert, gewonnen werden. Sofern das Recht den Willkürgebrauch nach Sittlichkeitskriterien der Allgemeinheit und der unbedingten Verbindlichkeit regelt, wird der äußere Freiheitsgebrauch im menschlichen Zusammenleben vernunftbestimmt.71 Weil der Rechtsbegriff sich auf eine Verbindlichkeit bezieht und die Verbindlichkeit „die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem Kategorischen Imperativ der Vernunft“72 ist, entspricht der Rechtsbegriff dem Begriff und Maßstab des moralisch gebotenen Rechts.73 Der Maßstab des Rechtsprinzips verpflichtet die Gemeinschaft äußerer Freiheit genauso auf die allgemeine Gesetzlichkeit wie der Kategorische Imperativ den persönlichen Willen.74 Das Recht sichert die vernünftige Struktur zwischenmenschlicher Handlungsbeziehungen und bewahrt damit die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung. Weil durch das Recht gezeigt wird, dass das äußere Handeln nur dann selbstbestimmtes (vernünftiges) Handeln ist, wenn es gesetzliches (vernunftvermitteltes) Handeln ist75, entspricht es dem Begriff der Sittlichkeit, menschliche Praxis überhaupt vernünftig zu gestalten. Der Vernunftbegriff des Rechts ist demnach Sittlichkeit im Zusammenleben der Personen.76 Das Recht 66 Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Meta­physik der Sitten“, S. 149. 67 „Der Ausdruck „moralisch“ ist nicht Adjektiv zu „Moralität“, sondern zu „Moral“. […] Der Ausdruck „moralisch“ ist also gegenüber der Unterscheidung von Rechts- und Tugendlehre indifferent; er betrifft die Freiheitsgesetze als a priori gültige Gesetze menschlichen Handelns, also die Gattung zu den beiden Arten, den juridisch- und den ethisch-moralischen Freiheitsgesetzen.“ (Höffe, O., Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstraffe, S. 343). 68 Dazu insb.: Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 119 ff. 69 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 230. 70 Vgl. Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Metaphysik der Sitten“, S. 135. 71 Vgl. ebd., S. 146. 72 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 222. 73 Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 137. 74 Höffe, O., Immanuel Kant, S. 221. 75 Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Meta­physik der Sitten“, S. 179. 76 Ebd., S. 106 f.

II. Die Normativität der Rechtsordnung und die Moralität 

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wird aus der Achtung vor dem Unbedingten im Menschen begründet, d. h. aus der Anerkennung des Menschen als freie und sittliche Person.77 „Da es eine staatliche Rechtsordnung nur deshalb und insofern gibt, wie die Moralität nicht greift, ist die Rechtsordnung zwar moralitätsfreie und dennoch eine moralische Ergänzung zur moralitätsbestimmten Ordnung.“78 Die Freiheit ist dabei kein Selbstzweck des Rechts und kein Programm für die Wirklichkeit, sondern ein Prinzip des Rechts, dem Menschen als Person eine als sittlich begreifbare Existenz unter Menschen zu ermöglichen.79 2. Die Rechtspflicht und die Moralität Wenn man vor dem Hintergrund des oben dargestellten Rechtsbegriffs auf das Verhältnis zwischen dem Recht und der subjektiven Moralität eingeht, so muss festgestellt werden, dass zwischen diesen Bereichen kein instrumentaler Zusammenhang existiert. Da es eine grundlegende Differenz zwischen personaler und öffentlicher Sittlichkeit besteht – die eine gründet in der Autonomie des Willens und die andere in der äußeren Freiheit – leitet Kant das Recht nicht aus der Willens­ autonomie, sondern aus dem Vernunftkriterium der allgemeinen Gesetzlichkeit ab.80 Die Freiheit im Bereich des Rechts qualifiziert nicht ein subjektives Begehrungsvermögen des individuellen Willens, sondern den Bereich des gemeinschaftlichen Willens, d. h. die objektive Ordnung der Beziehungen zwischen Willkürfreiheiten.81 Der wesentliche Unterschied zwischen Moral und Recht liegt dabei in der unterschiedlichen Gesetzgebungsweise der praktischen Vernunft – in der Ersetzung der inneren Triebfeder durch die äußere im Recht.82 Während die ethische Gesetzgebung die Idee der Pflicht zur Triebfeder der Handlungsbestimmung hat, lässt die juridische eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht zu, und zwar die äußere des Zwangs.83 Die ethische Pflicht ist demnach eine solche, wozu nur eine innere Nötigung erforderlich ist und die Rechtspflicht dagegen diejenige, wozu eine Nötigung durch äußere Gesetzgebung möglich ist.84 Der äußere Rechtszwang, der Schuldigkeitspflichten einfordert, ist somit ein Gegenstück85 zum moralischen Selbstzwang. Die sittliche Freiheit gründet in der Selbstbindung und kann daher nicht von außen erzwungen werden. Gleichzeitig

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Vgl. Krings, H., System und Freiheit, S. 198. Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 118. 79 Krings, H., System und Freiheit, S. 220. 80 Höffe, O., Immanuel Kant, S. 222. 81 Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 118. 82 Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 139, 142. 83 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 219. 84 Ebd., S. 394. 85 Vgl. Kersting, W., Politik und Recht, S. 319; Höffe, O., Immanuel Kant, S. 221.

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

kommt auch das Recht ohne die moralische Gesinnung aus.86 Der Gegenstand des Rechts ist nicht das moralisch Gute, sondern die Koexistenzsicherung äußerer Willkürfreiheit: „Durch Rechtstreue wird nicht das Gute in der Welt vermehrt, sondern das Böse verhindert. Das Recht prämiiert nicht, sondern es straft; seine Sanktionsentscheidung ist an der Verhinderung des Rechtsbruchs interessiert, Rechtschaffenheit bleibt daher unauffällig.“87

Hieraus folgt, dass die Moralität weder Entstehungsvoraussetzung noch Erhaltungsbedingung des rechtlichen Zustandes ist.88 Das Recht steht nicht im Dienste der Moralität und es besteht zwischen diesen beiden Sphären keinerlei Verbindlichkeitsgefälle.89 Die rechtliche Gesetzgebung ist keine halbierte ethische90, sie setzt an keiner Stelle die personale Sittlichkeit voraus91, sondern löst Organisationsprobleme äußerer Freiheit.92 Es muss daher festgestellt werden, dass mit Kants moralischem Rechtsbegriff nicht nur der strenge Rechtspositivismus, sondern auch jede Moralisierung des Rechts abgelehnt wird.93 Auch im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Rechtspflichten und ethischen Pflichten gibt es in Kants Begründung beider Verpflichtungsarten eine entscheidende Unterschiedlichkeit bezüglich ihrer Anwendungsbereiche. Während der Tugendlehre ein Prinzip zugrunde liegt, das nur als Gesetz für Maximen der Handlungen, nicht aber als Handlungsnorm auftritt, ist das Rechtsgesetz ein Pflichtgesetz der Handlungen.94 Das moralische Gesetz bezieht sich auf den inneren Bereich der Bildung von Handlungsgrundsätzen  – auf die Form der Handlungsbestimmung95 – in dem zwar die Verwirklichung von dem als moralisch geboten Erkannten impliziert ist, jedoch keine bestimmte Handlungsweise ausgewiesen wird. Da die Verwirklichung von Handlungsgrundsätzen von vielerlei kontingenten Faktoren abhängig ist, kann von der Vernunft zwar a priori die ethische Pflicht erkannt werden, jedoch keine bestimmte Form ihrer empirischen Umsetzung.96 Bei diesen Pflichten wird die Maxime der Handlung erkannt, die Art und Weise und der Intensitätsgrad der Befolgung der Maxime wird allerdings offen gelassen. Die Realisierung von den als moralisch geboten erkannten Handlungsmaximen bedarf einer



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Vgl. Höffe, O., Kategorische Rechtsprinzipien, S. 88. Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 147. 88 Kersting, W., Politik und Recht, S. 321. 89 Vgl. ebd., S. 328 f. 90 Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 142. 91 Ebbinghaus, J., Positivismus – Recht der Menschheit – Naturrecht – Staatsbürgerrecht, S. 359; Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Metaphysik der Sitten“, S. 78. 92 Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 118; Kersting, W., Politik und Recht, S. 321. 93 Höffe, O., Immanuel Kant, S. 221. 94 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 390 f.; vgl. Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 150 f. 95 s. o. Abschnitt A. II. 2. a). 96 Vgl. Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 152.

II. Die Normativität der Rechtsordnung und die Moralität 

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näheren inhaltlich-formalen Ausgestaltung. Die ethischen Pflichten werden daher von Kant auch als „Pflichten von weiter Verbindlichkeit“ bzw. als „unvollkommene Pflichten“ bezeichnet.97 Das Rechtgesetz ist dagegen ein Pflichtgesetz der Handlungen, das sich nicht mit dem Grundsatz der Handlungsbestimmung und dem Zweck der Handlung98, sondern mit der Bedingung der Qualifikation von konkreten Handlungen zu einer möglichen allgemeinen Gesetzgebung befasst.99 Es überlässt der freien Willkür des Einzelnen, „welchen Zweck er sich für seine Handlung setzen wolle“100 und formuliert seine Verbindlichkeit in Hinsicht auf eine konkrete Handlung und auf ihre Übereinstimmung mit äußerer Freiheit anderer.101 Gerade weil sich das Rechtsgesetz nicht auf den Bestimmungsgrund einer Handlung bezieht, sondern auf das inhaltlich-formale Verhältnis äußerer Handlungen, kann er dem Anspruch auf unbedingte Verbindlichkeit genügen.102 Die Rechtspflichten sind daher „genau bestimmt“103. Weil die Rechtspflichten inhaltlich präzise bestimmt sind und einen näheren Informationsgehalt tragen, werden sie als „Pflichten von enger Verbindlichkeit“ bzw. als „vollkommene Pflichten“ bezeichnet.104 Zwischen ethischen Pflichten und den Rechtspflichten besteht somit eine inhaltliche Differenz und die Unterschiedlichkeit in ihren Anwendungsbereichen: „Als Antwort auf meine Frage: Was soll ich tun? Gibt mir das Recht ein Kriterium an die Hand, das bei jeder Handlung zu eindeutigen Entscheidungen führt, kann die Ethik mir aber nur objektive Zwecke nennen, die ich mir zu eigen machen soll, und muß mich hinsichtlich der weiteren Frage nach der Weise ihrer Realisierung an die Umstände verweisen.“105

Die ethischen Pflichten haben folglich keine geringere Verbindlichkeit als Rechtspflichten, sondern einen anderen Anwendungsbereich – die Zweckbestimmung einer Handlung. Das Spezifische an der rechtlichen Verbindlichkeit ist der Verzicht des Rechts, um der subjektiv erkannten Notwendigkeit eines Rechtshandelns willen befolgt zu werden.106 Man braucht nicht erst von der Notwendigkeit einer Rechtsnorm subjektiv überzeugt zu sein, um diese als verbindlich anerkennen zu sollen. Das Recht gilt unabhängig von individuellen Einschätzungen über Notwendigkeit konkreter Rechtsnormen. Da das Moralitäts- und das Rechtsgesetz unterschiedliche Bereiche menschlicher Praxis betreffen, schließen sie einan-



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Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 390. Vgl. ebd., S. 382. 99 Vgl. ebd., S. 230, 389. 100 Ebd., S. 382. 101 Vgl. Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 151 f. 102 Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Meta­physik der Sitten“, S. 157. 103 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 375, Anm. 104 Ebd., S. 390. 105 Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 153. 106 Kersting, W., Politik und Recht, S. 320 f.

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

der nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig.107 Das Recht impliziert „die Forderung nach vernünftiger Regelung jenes Bereichs menschlicher Praxis, der durch ein Moralitätsgesetz gar nicht sinnvoll geregelt werden kann“108. An dieser Stelle muss allerdings angemerkt werden, dass aus der ethischen Perspektive die Rechtspflichten als indirekt-ethische Pflichten zu betrachten sind. Die allgemeine Forderung der praktischen Vernunft, Pflichten allein aus Achtung vor dem Gesetz zu erfüllen, erstreckt sich auf jede Pflicht.109 Da das Rechtspflicht-­ Haben die Unterwerfung unter dem von der Vernunft gebotenen notwendigen und allgemeingültigen Prinzip bedeutet, kann das dem Rechtsprinzip inhärente Vernunftgesetz von der Moralität nicht ignoriert werden. Alle Rechtspflichten gehören somit mittelbar zum Bereich ethischer Pflichten. Insofern muss man bei den ethischen Pflichten zwischen jenen, die bloß ethischer Natur (die direkt-ethischen) und jenen, die auch rechtliche Pflichten (die indirekt-ethischen) sind, unterscheiden.110 Folgt man dementsprechend einer Rechtspflicht allein aus äußerem Zwang, handelt man bloß pflichtgemäß und beweist damit Legalität.111 Erkennt man dagegen die Rechtspflicht gleichzeitig als indirekt-ethische Pflicht und überbietet damit die bloße Legalität, beweist man die Moralität.112 Moralität kann somit nicht die Bedeutung haben, dass die Pflichten, die das Recht fordert, nicht zu beachten sind. Für die an dieser Stelle zentrale Thematik des Verhältnisses zwischen ethischen Pflichten und dem Recht können aus der obigen Darstellung des Moralitäts- und des Rechtsbereiches folgende Konsequenzen gezogen werden. Zunächst muss festgestellt werden, dass aufgrund unterschiedlicher Anwendungsbereiche den Tugendpflichten keine Rechtspflichten gegenüberstehen können, sodass der Bereich der Zwecksetzung kein Anwendungsfeld äußerer Gesetzgebung sein kann.113 Da durch die ethische Pflicht ein Zweck geboten wird und durch das Recht Handlungen nach formalen Gesichtspunkten rechtlich ausgezeichnet werden, ist eine Pflichtenkonkurrenz unmöglich.114 Gleichzeitig gilt, dass jede Verwirklichung der Zweckpflicht in Form der Handlung unter die Handlungsnorm des Rechtsgesetzes fällt und dass die Realisierung der Zweckpflicht der Rechtmäßigkeitsbedingung unterworfen ist.115 Die Realisierung der Tugendpflicht in Form 107 Müller, A., Das Verhältnis von rechtlicher Freiheit und sittlicher Autonomie in Kants „Meta­physik der Sitten“, S. 122. 108 Ebd., S. 121 f. 109 Vgl. Kersting, W., Politik und Recht, S. 323. 110 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 221; Höffe, O., „Königliche Völker“, S. 112. 111 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 219; Zur Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität s.a. Kant, I., Kritik der praktischen Vernunft, S. 71 f., S. 151 f. 112 Kant, I., Die Metaphysik der Sitten, S. 219. 113 Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 151. 114 Ebd., S. 154. 115 Kersting, W., Politik und Recht, S.  324 f.; vgl. Kersting, W., Wohlgeordnete Freiheit, S. 151.

II. Die Normativität der Rechtsordnung und die Moralität 

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ä­ ußerer Handlung kann nicht dazu führen, dass dadurch ein illegitimer Eingriff in die Freiheit, die mit der Freiheit der anderen nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist, vollzogen wird. Eine Handlung, die unzulässig in die Freiheit anderer eingreift, kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie der Verwirklichung einer Tugendpflicht dient. Kants Aussage „alle Macht des Himmels steht auf den Seiten des Rechts“116 ist daher so zu verstehen, dass bei der Formulierung von konkreten Handlungspflichten die inhaltlich präzise bestimmten Rechtspflichten für die vernünftige Regelung des äußeren menschlichen Zusammenlebens die ausschlaggebenden sind. Es gehört zur Priorität von rechtlichen Pflichten, die konkrete Ausgestaltung des menschlichen Zusammenseins in der Gemeinschaft abschließend zu regeln. Die Priorität des Rechts bei der Regelung des äußeren Handelns bedeutet nicht, dass das Recht gegebenenfalls ein moralitätswidriges Verhalten fordern kann, sondern dass die Realisierung von den als moralisch geboten erkannten Handlungsgrundsätzen nicht gegen das grundlegende Rechtsprinzip verstoßen darf, d. h. dass diese Handlungen nicht auf Kosten äußerer Freiheit anderer durchgesetzt werden können. Aus der Perspektive der Moralität muss weiterhin hervorgehoben werden, dass aufgrund obiger Bestimmung von Rechtspflichten als indirekt-ethischen Pflichten die Rechtspflicht prinzipiell keinem moralischen Zweck entgegen stehen kann. Wenn die rechtlichen Pflichten als indirekt-ethische zu verstehen sind und die Moralität das Überbieten der Legalität bedeutet, kann eine dem allgemeingültigen und notwendigen Vernunftprinzip gemäße Rechtspflicht nicht von der vernunftbestimmten moralischen Einsicht verworfen werden. Eine Pflicht, die im Zusammenleben der Menschen die Koexistenz äußerer Freiheiten nach einem allgemeinen Gesetz der Vernunft sichert, kann per definition keinem von dem moralischen Vernunftgesetz geforderten Handlungszweck widersprechen. Eine Handlungsform, welche Legalität aufweist, muss zwar nicht moralisch sein, kann aber auch nicht der Moralität entgegenstehen. Gleichzeitig muss jede moralische Handlung notwendigerweise der Legalitätsform genügen. Eine freiheitssichernde Rechtspflicht kann daher grundsätzlich nicht der Vernunftforderung nach Moralität zuwiderlaufen. Für das bereits dargestellte normative Gewissensverständnis kann somit festgestellt werden, dass die Achtung der menschlichen Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung in Form der vernunftgeleiteten Abwägung eigener Handlungsgrundsätze keinesfalls die Einschränkung der äußeren Freiheit Dritter rechtfertigen kann. Wie gezeigt, betrifft das Gewissen nicht unmittelbar die moralische Handlungsbestimmung nach dem Vernunftgesetz, sondern den Selbstbezug des freien Vernunftwesens, in dem man reflexiv darüber urteilt, ob man auch wirklich den vernunftbestimmten Überlegungen im moralischen Urteil gefolgt ist.117

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Kant, I., Reflexionen, Refl. 7006, S. 224. s. o. Abschnitt A. V. 1.

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

Aufgrund seines Gegenstandes – der vernunftgeleiteten Handlungsbestimmung – muss das Gewissen dennoch dem Bereich der sittlichen Freiheit, d. h. dem der Zweckbestimmung einer Handlung zugeordnet werden. Moralisches Handeln kann folglich als Resultat sowohl der vernunftgeleiteten Handlungsbestimmung als auch zugleich der selbstreflexiven Abwägung eigener Handlungsgrundsätze im Gewissensurteil betrachtet werden. Die Realisierung dieser Handlungsgrundsätze betrifft jedoch nicht mehr den Anwendungsbereich der Bestimmung von Handlungszwecken, sondern den des inhaltlich-formalen Verhältnisses äußerer Handlungen. Da aber die Verwirklichung von Handlungszwecken der abschließenden Regelung durch das Recht unterliegt und der Rechtsmäßigkeitsbedingung, dass sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, findet das gewissensgeleitete Handeln an dem legitimen Freiheitsraum anderer notwendigerweise seine Grenze. Im Anschluss an die metaphysische Betrachtung des Verhältnisses zwischen dem Moralitäts- und dem Rechtsprinzip muss abschließend auf das Verhältnis zwischen der Moralität und dem Recht in empirischen Rechtssystemen eingegangen werden. Aus der bisherigen Darstellung rechtlicher Normativität wurde deutlich, dass die normative Verbindlichkeit des Rechts ihre Geltung unabhängig von der subjektiven Moralität beansprucht. Wenn man allerdings auf die Ausgestaltung empirischer Rechtssysteme eingeht, so muss festgestellt werden, dass jedes Recht zugleich in kulturelle Selbstverständigungs- und Rechtfertigungsprozesse eingebunden ist und die Anerkennung der Bürger verlangt.118 Das Recht hat die Grundlage seiner Normativität in der vernunftrechtlichen Forderung nach der Sicherung äußerer Freiheit. In der empirischen Durchsetzung seines normativen Anspruchs ist es jedoch in kontingente gesellschaftliche Prozesse eingebunden. In seinen einzelnen Sachgehalten gründet das Recht nicht in den von der Vernunft a priori bestimmten Wahrheiten, sondern auf menschlichen Satzungen, die das soziale Leben richtig und gerecht zu regeln versuchen.119 Die Bürger betrachten dabei das Recht aus der Teilnehmerperspektive und es steht unter einer Richtigkeits- und Anerkennungsdifferenz.120 Die Begründung der normativen Geltung des Rechts ist zwar von dem Moralitätsbereich unabhängig, aber in der Umsetzung als einzelne Rechtsnormen erhebt das positive Recht dennoch den Anspruch, im Gewissen des Einzelnen anerkannt zu werden121, damit die Rechtsordnung nicht dem Menschen entfremdet wird.122 Mit der Anerkennung durch das Gewissen ist in diesem Kontext der Anspruch gemeint, dass die objektiven Rechtsnormen ihrem Inhalt nach durch den Einzelnen aus Vernunftgründen grundsätzlich eingesehen werden könnten und dass sich damit die moralische Innenseite123 des Rechts zeigt. Die Aner 118

Kersting, W., Politik und Recht, S. 320. Schreiber, H.-L., Gewissen im Recht, S. 37. 120 Kersting, W., Politik und Recht, S. 320. 121 Kaufmann, A., Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, S. 19. 122 Ebd., S. 19, 25. 123 s. o. Abschnitt D. II. 1.

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III. Verfassungsrechtliche Grenzen der Gewissensfreiheit 

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kennung von Rechtsnormen durch ihre Adressaten ist dabei zwar nicht die Bedingung ihrer Geltung, jedoch ein „Ziel“124 des positiven Rechts. Wie gezeigt, ist das Recht in seinem Geltungsanspruch von der moralischen Gesinnung der Rechtssubjekte unabhängig. Gleichzeitig appelliert es jedoch an sich selbst, in seiner empirischen Umsetzung durch die Bürger anerkannt zu werden, um in der Gesellschaft nicht als etwas Artfremdes zu erscheinen. Der „Anspruch, von jedermanns Gewissen akzeptiert zu werden“125 ist somit „ein Anspruch, den das Recht [in seiner empirischen Umsetzung] an sich selbst stellt“126. Die rechtsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen den Rechtspflichten und der Moralität kann somit zusammenfassend mit folgenden Feststellungen abgeschlossen werden. Aus dem Befund, dass der Gegenstand des Rechts nicht das moralisch Gute, sondern die Koexistenzsicherung äußerer Willkürfreiheit ist, wurde gefolgert, dass zwischen ethischen Pflichten und den Rechtspflichten eine inhaltliche Differenz und die Unterschiedlichkeit in ihren Anwendungsbereichen besteht. Demzufolge können den Tugendpflichten keine Rechtspflichten gegenüberstehen und eine Handlung, die unzulässig in die Freiheit anderer eingreift, kann nicht damit gerechtfertigt werden, dass sie der Verwirklichung einer Tugendpflicht dient. Jede moralische Handlung muss notwendigerweise der Legalitätsform genügen, d. h. dass sie nicht gegen das grundlegende Rechtsprinzip verstoßen darf. Das gewissensgeleitete Handeln kann somit keinesfalls die Einschränkung der äußeren Freiheit Dritter rechtfertigen. Zugleich müsste jedoch eingeräumt werden, dass im Hinblick auf die Ausgestaltung empirischer Rechtssysteme das positive Recht einen Selbstanspruch auf die Anerkennung von Rechtsnormen im Gewissen ihrer Adressaten erhebt, was jedoch nicht als Bedingung der Normgeltung, sondern als selbstauferlegtes Ziel des positiven Rechts verstanden werden muss. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse wird im Folgenden eine grundrechtsdogmatische Auseinandersetzung mit dem vorbehaltlos gewährleisteten Grundrecht der Gewissensfreiheit in Art.  4 Abs.  1 GG vorgenommen und auf die rechtspraktischen Berührungspunkte zwischen individuellem Gewissen und der Verfassungsordnung eingegangen. III. Verfassungsrechtliche Grenzen der Gewissensfreiheit Die bisherige Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff im Grundrecht der Gewissensfreiheit und mit theoretischen Grundlagen objektiv-rechtlicher und moralischer Normativität hat gezeigt, dass dieses Grundrecht auf der einen Seite als Schutz der im Gewissensurteil sich äußernden Selbstverantwortlichkeit und des 124

Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 95. Kaufmann, A., Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, S. 22. 126 Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 95.

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

Entwurfvermögens des Individuums vor Kollisionen mit der Rechtsordnung zu verstehen ist, was aber auf der anderen Seite nicht heißen kann, dass es zum Aufkündigen des Rechtsgehorsams legitimiert. Im Folgenden werden aus diesen Feststellungen rechtsdogmatische Konsequenzen für die Bestimmung von Grenzen der Gewissensfreiheit gezogen und die Schutzrichtung dieses Grundrechts verdeutlicht. Aus der Auseinandersetzung mit dem Geltungsverhältnis zwischen Rechtsund Gewissenspflichten wird deutlich, dass die Vorbehaltlosigkeit der Gewissens­ freiheit keinen unbedingten Vorrang von subjektiven moralischen Überzeugungen gegenüber positiven Rechtsnormen eines freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates begründen kann. Die Gewissensfreiheit kann „nicht, weil prinzipiell auf jeden Gegenstand beziehbar, zur Verweigerung praktisch jeder Rechtspflicht [führen] und zur Etablierung eines von Person zu Person verschiedenen Sonderrechts“127. Der Verwirklichung von konkreten moralischen Auffassungen sind daher notwendigerweise Grenzen gesetzt. In diesem Zusammenhang muss zum einen hervorgehoben werden, dass die Durchsetzung von subjektiven Überzeugungen unter der Berufung auf die Gewissensfreiheit dadurch eingeschränkt ist, dass die subjektive Auffassung über das „Richtige“ nicht zum Zugriff auf Belange der Allgemeinheit legitimieren kann.128 Als eine Reflexionsinstanz über das Gut-Sein von Handlungsgrundsätzen ist das Gewissen auf die Abwägung eigener Handlungsbestimmungen gerichtet. Die Gewissensfreiheit zielt daher auf die selbstauferlegte Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Wenn man dagegen unter der Berufung auf die Gewissensfreiheit eine generelle Umsetzung eigener moralischer Überzeugungen durchzusetzen sucht, verlässt man den Verantwortungsbereich eigener Selbstbestimmung und somit auch den Gegenstand der Gewissensfreiheit.129 Vor allem in Fällen der Abgabeverweigerung wird diese immanente Grenze der Gewissensfreiheit besonders deutlich.130 Die Gewissensfreiheit betrifft nur den persönlichen Verantwortungsbereich. Zum anderen muss festgestellt werden, dass die immanenten Grenzen der Gewissensfreiheit bereits aus der Eigenart des normativen Gewissensverständnisses zu erkennen sind. Aus dem zweiten Element des verfassungsimmanenten Menschen‑

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Rupp, H. H., Verfassungsprobleme der Gewissensfreiheit, S. 1037. Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 56. 129 Vgl. BVerfGE 67, 26 (37). 130 So kann beispielsweise die subjektive Ablehnung der Atomkraftnutzung unter der Berufung auf das eigene Gewissen nicht zur Verweigerung der Entrichtung von Stromgebühren ermächtigen (OLG Hamm, Urteil vom 01.07.1981, in: NJW 1981, S. 2473 ff.). Auch ein Krankenkassenmitglied, das Schwangerschaftsabbrüche für grundrechtswidrig hält, kann nicht aus seinem Grundrecht der Gewissensfreiheit die Zahlungsverweigerung von Krankenkassenbeiträgen begründen und somit eine generelle Unterlassung der Mittelverwendung erzwingen (BVerfGE 67, 26 (37)); vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 256. 128

III. Verfassungsrechtliche Grenzen der Gewissensfreiheit 

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bildes – der Eingebundenheit des eigenwertigen Individuums in die Gemeinschaft von anderen eigenwertigen Individuen131 – wird deutlich, dass die Pluralität von freien Individuen keine uneingeschränkte Freiheitsausübung durch Einzelne zulässt, sondern dass die Freiheit anderer als Korrektiv individueller Freiheitsausübung mitgedacht werden muss. Im Hinblick auf das vorangegangene Kapitel müssen die Grenzen der Verwirklichung moralischer Überzeugungen daher im Bestand und in den Grundstrukturen der freiheitssichernden Rechtsordnung sowie auch in der Freiheit anderer Rechtsgenossen ausgewiesen werden.132 Die Vorbehaltlosigkeit von Art. 4 Abs. 1 GG kann somit nicht als uneingeschränkter Vorrang von inhaltlichen Überzeugungen Einzelner gegenüber den Schutzgütern133

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s. o. Abschnitt C. III. 1. Vgl. Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 55. 133 Auf der Ebene der Verfassung wird die Gewissensfreiheit durch kollidierende Rechts­ güter – durch sogenannte „immanente Schranken“ – beschränkt, welche die thematische Reichweite der Freiheitsgewährleistung von vornherein reduzieren (Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 54; Morlok, M., Artikel 4, Rn. 115). Zu diesen Schranken gehören die „letzten Zwecke“ des freiheitlichen Rechtsstaates – der innerstaatliche Friedenszustand, der Bestand des Staates und die Möglichkeit seiner Sicherung nach außen, die Sicherung von Leben und Freiheit der Person und die unbedingt zu schützenden Rechte der Einzelnen (Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 59). Niemand, der die Grundlagen des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates zur Disposition stellt oder verfassungsrechtlich geschützte Rechtsgüter anderer verletzt, kann sich auf die Gewissensfreiheit berufen (vgl. Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 55; Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 42, 48 f.). So kann beispielsweise Art. 4 Abs. 1 GG die Eltern nicht dazu ermächtigen, aus der Überzeugung über den „natürlichen Lauf der Dinge“ dem Kind eine lebensnotwendige Bluttransfusion zu verweigern (OLG Celle, Beschluss vom 21.02.1994, in: NJW 1995, S. 792–794). Genauso wenig kann die Gewissensfreiheit als Rechtfertigung für eine Abtreibung in Anspruch genommen werden, da das Lebensrecht des ungeborenen Kindes nicht von dem Anspruch auf Selbstbestimmung der Schwangeren abhängig gemacht werden kann (BVerfGE 39, 1 (36 ff.); vgl. Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 56; Warum ausgehend vom normativen Gewissensverständnis die Abtreibung keine achtenswerte Gewissensentscheidung sein kann, wird insbesondere von Manfred Spieker dargelegt: Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 121 ff.). Zu den Verfassungsgütern, welche potentielle Schranken der Gewissensfreiheit darstellen, müssen ausserdem die s.g. relativen Schranken zugerechnet werden, wie z. B. die Funktionsfähigkeit der Verwaltung, der Bundeswehr und der Justiz (Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 41.). Wenn bei Konflikten zwischen dem Grundrecht der Gewissensfreiheit und dem Schutz anderer verfassungsrechtlich garantierter Rechtsgüter, wie z. B. zwischen der Gewissens- und der Wissenschaftsfreiheit, die Möglichkeit eines schonenden Ausgleichs besteht, muss der Konflikt durch konkret-individuelle Rechtsgüterabwägung nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz gelöst werden (BVerwGE 105, 73 ff.; Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 45). Die Schrankenbestimmung der Gewissensfreiheit als andere Rechte vom Verfassungsrang darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass potenziell jedes beliebige durch einfache Gesetze geschütztes Rechtsgut als Verfassungsrechtsgut ausgelegt werden kann und einen „Verfassungswert“ zugesprochen bekommen (Kriele, M., Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, Rn. 70). Insofern kann praktisch jede positive Rechtsnorm in ihrer Aus­ legung mit dem Verfassungsrang versehen werden, wodurch die Beschränkung vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte durch Verfassungsschutzgüter letztendlich der Beschränkung durch den einfachen Gesetzesvorbehalt gleich kommt. 132

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

und positiven Rechtsnormen des freiheitlichen Rechtsstaates gedeutet werden. Die Gewissensfreiheit ist folglich bereits von ihrem Tatbestand her begrenzt.134 Die Darstellung von immanenten Grenzen der Gewissensfreiheit führt allerdings zu der Frage, wann und auf welche Weise der Vorrang der Gewissens­position vor einer Rechtsnorm gegeben ist. Kann etwa jedes Gesetz im materiellen Sinne als absolute Grundrechtsbegrenzung wirken und verliert dadurch das Grundrecht der Gewissensfreiheit womöglich seinen Grundrechtscharakter?135 Als ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht kann die Gewissensfreiheit nicht vor jedweden Normbefehl zurücktreten.136 Der Verweis auf einen ungeschriebenen einfachen Gesetzesvorbehalt137 kann jedenfalls nicht das Ergebnis der Schrankenbestimmung dieses Grundrechts sein.138 Wie gezeigt, ist der Verzicht auf einen einschränkenden Gesetzesvorbehalt eine bewusste Entscheidung des Grundgesetzgebers, vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen die besondere Unantastbarkeit und Unbedingtheit dieses Grundrechts zum Ausdruck zu bringen.139 Um zu zeigen, auf welche Weise das individuelle Gewissen durch das Grundrecht der Gewissensfreiheit vor staatlichen Eingriffen geschützt ist, muss noch einmal näher auf die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit eingegangen werden. Im Anschluss an die Darstellung des normativen Gewissensbegriffs und des Verhältnisses zwischen der objektiv-rechtlichen und moralischen Normativität muss festgestellt werden, dass die Gewissensfreiheit sich nicht unmittelbar auf inhaltlich formulierte Überzeugungen bezieht, sondern auf den Schutz der selbstauferlegten Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Das Gewissen darf nicht mit bestimmten Überzeugungen und inhaltlichen Pflichten gleichgesetzt werden, sondern ist als eine Instanz zu verstehen, welche reflexiv über das Gut-Sein von eigenen Handlungsgrundsätzen urteilt.140 Es muss bei der Auseinandersetzung mit dem Gewissen zwischen dem Bereich der Reflexion über Handlungsgrundsätze und dem der Bildung von konkreten Handlungsbestimmungen unterschieden werden. Aus dem reflexiven praktischen Bewusstsein im Gewissen können nicht im Kurzschluss konkrete materielle Pflichten abgeleitet werden.141 Die Gewissenspflichten betreffen die objektive Zweckbestimmung einer Handlung, deren Realisierung noch einer näheren inhaltlich-formalen Ausgestaltung bedarf.142 Da die als moralisch geboten erkannten Grundsätze noch keine nähere Auskunft über ihre konkrete Verwirklichung beinhalten und grundsätzlich mehrere Handlungs­optionen 134 Isensee, J., Gewissen im Recht, S.  45; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 127 f. 135 So der Einwand von Filmer (Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 130). 136 Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 54. 137 Borowski, M., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, S. 572 f. 138 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 41. 139 s. o. Abschnitt B. II. 140 s. o. Abschnitt A. V. 1. und C. III. 2. 141 Hoffmann, Th., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 442. 142 s. o. Abschnitt D. II. 2.

III. Verfassungsrechtliche Grenzen der Gewissensfreiheit 

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bzw. Möglichkeiten der Handlungsunterlassung zum Ergebnis haben können, gehören einzelne inhaltlich bestimmte Handlungsweisen nur mittelbar zum Gegenstand des Gewissens. Die Realisierung von Handlungsgrundsätzen betrifft den Anwendungsbereich äußerer Handlungen, welche, wie gezeigt, der abschließenden Regelung durch das freiheitssichernde Recht unterliegen.143 Das Gewissen ist nicht der Ursprung der Wahrheit, sondern eine Forderung an uns selbst.144 Konkrete inhaltlich formulierte moralische Überzeugungen können zwar ein Resultat eines Gewissensurteils sein, sind aber kein unmittelbarer Gegenstand der Gewissensfreiheit. Das Wesentliche der Gewissensfreiheit ist nicht der Schutz von faktischen subjektiven Überzeugungen, sondern das Gewissensurteil selbst – die selbstauf­erlegte Verantwortlichkeit für das eigene Handeln. Die Gewissensfreiheit besteht in der Verpflichtung, jenen Raum offen zu halten, in dem sich die urteilende und handelnde Individualität zeigen kann.145 Das moralische Urteilsvermögen des Individuums zu achten, heißt daher nicht, immer den Vorrang seiner moralisch begründeten Ansichten gegenüber Rechtsnormen einzuräumen. Die Gewissensfreiheit kann nur bedeuten, dass der Mensch die Freiheit hat, seine Handlungsurteile auf ihr Gut-Sein zu hinterfragen.146 Diese Freiheit äußert sich dadurch, dass das Individuum für die Verwirklichung von moralischen Grundsätzen unterschiedliche Handlungsmöglichkeiten ergreifen bzw. bestimmte Verhaltensalternativen in Anspruch nehmen kann und dass er damit die Möglichkeit zur moralischen Orientierung bekommt. Die individuelle Reflexionsinstanz des Individuums zu achten, heißt daher, dass der Staat die Bereitschaft hat, auf moralisch begründete Überzeugungen des Einzelnen wohlwollend147 (z. B. im Zuge einer partiellen Entpflichtung) einzugehen und – sofern es verfassungsrechtlich möglich ist – im Einzelfall Verhaltensalternativen anzubieten.148 „Das in Art. 4 Abs 1 GG gewährleistete Grundrecht der Gewissensfreiheit kann deshalb „lediglich“ die Beschränkung der Erzwingbarkeit des Rechts beinhalten.“149 Die Achtung der Gewissensfreiheit durch die staatliche Rechtsordnung heißt daher, dass das Recht darauf verzichtet, die Befolgung jeder Rechtsnorm vom Bürger ausnahmslos und notfalls durch Strafandrohung zu erzwingen150 und bereit ist, im Einzelfall die Gewissenspositionen zu antizipieren und ihnen wohlwollend zu begegnen. Damit geht der Staat loyal auf die Auswahl von Handlungsoptionen für die Verwirklichung des im Gewis-

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s. o. Abschnitt D. II. 2. Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127; Spaemann, R., Moralische Grund­ begriffe, S. 75. 145 Hoffmann, Th., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 442. 146 Spieker, M., Grenzen der Gewissensfreiheit, S. 127. 147 BVerfGE 23, 127 (134); BVerwGE 105, 73 (78). 148 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 59; Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 50, 54, 67; vgl. BVerfGE 33, 23 ff. 149 Deiseroth, D., Gewissensfreiheit und Recht, S. 231. 150 Vgl. ebd., S. 231. 144

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

sensurteil als moralisch geboten erkannten Handlungsgrundsatzes ein und bietet dem Individuum den Raum, seinem Handlungsgrundsatz im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen gerecht zu werden. Das Ergebnis, dass die Gewissensfreiheit keinen unbedingten Vorrang konkreter individueller Überzeugungen vor Rechtsnormen begründen kann, darf jedoch nicht dahingehend gedeutet werden, dass dadurch „eine auf „Kulanz“ reduzierte Grundrechtsposition überhaupt ihren Rechtscharakter [verliert]“151. Da die Gewissensfreiheit nicht den Inhalt konkreter Überzeugungen schützt, sondern die Reflexivität des Menschen im Bezug auf seine Handlungsbestimmungen, steht eine mögliche Beeinträchtigung einzelner moralisch begründeter Verhaltensformen in keinem Widerspruch zu dem Fehlen eines einschränkenden Gesetzesvorbehaltes bei Art. 4 Abs. 1 GG. Durch die Bereitschaft des Staates, im Einzelfall die Gewissensposition zu antizipieren und ihr wohlwollend zu begegnen, nimmt er „seinen Loyalitätsanspruch an den Staatsbürger bis zur Grenze des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren zurück“.152 Dass die Gewissensfreiheit nicht zur Durchsetzung jeder subjektiven moralischen Ansicht legitimiert, sondern den Anspruch auf wohlwollende Antizipation subjektiver Überzeugungen durch den Staat begründet, stellt keinesfalls den Grundrechtscharakter der Gewissensfreiheit infrage. Dies wird insbesondere aus dem rechtsgeschichtlichen Kontext von Art.  4 Abs.  1 GG deutlich: Kein totalitärer Staat ist bereit, die Gewissensposition des Einzelnen zu antizipieren und gegebenenfalls der moralischen Einsicht des Einzelnen wohlwollend zu begegnen. Die Perversion des nationalsozialistischen Unrechtsstaates zeigte sich gerade durch die Intoleranz gegenüber vernunftgeleiteter Reflexivität des Einzelnen und dem Anspruch, letztinstanzlich über das „Richtige“ zu bestimmen: Notfalls wurde dieser Anspruch durch den Mord des über seine Handlungsbestimmungen Reflektierenden durchgesetzt.153 Auch vor dem Hintergrund der Diskussion über die Strafbarkeit von Grenzposten wegen Todesschüssen auf DDR-Flüchtlinge und der Mauernschützen-Urteile154 wird die besondere Rolle der Gewissensfreiheit für einen freiheitlichen Rechtsstaat deutlich. Ohne auf die Frage nach der Geltung des gesetzlichen Unrechts näher einzugehen155, muss hervorgehoben werden, dass die Grenzsoldaten auch im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der Schüsse faktisch keine Möglichkeit hatten, einen gewissensbegründeten Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Handlungen gegenüber dem Staat

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Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 130. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 50. 153 s. o. Abschnitt B. II. 154 Insbesondere: BVerfGE 95, 96 ff. 155 Vgl. dazu: Kaufmann, A., Die Radbruchsche Formel vom gesetzlichen Unrecht und vom übergesetzlichen Recht in der Diskussion um das im Namen der DDR begangene Unrecht, S. 81 ff.; Ambos, K., Zur Rechtswidrigkeit der Todesschüsse an der Mauer, S. 983 ff.; Freund, Ch., Rechtsbeugung durch Verletzung übergesetzlichen Rechts, S. 171 ff. 152

III. Verfassungsrechtliche Grenzen der Gewissensfreiheit 

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rechtlich zu erheben.156 Ein totalitärer Staat erzwingt notfalls mit Degradierung, Ächtung, Drohung der physischen oder psychischen Vernichtung die Erfüllung seiner Forderungen und zeigt keine Loyalität gegenüber dem Zweifel Einzelner über die Rechtsmäßigkeit seiner Gesetze.157 Dagegen zeigt ein freiheitlicher Rechtsstaat durch die Gewährleistung der Gewissensfreiheit, dass er bereit ist, die Gewissensposition des Einzelnen zu antizipieren und ihr wohlwollend zu begegnen. Besonderes vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen wird deutlich, dass die Gewissensfreiheit – verstanden als Freiheit zur Verwirklichung moralischer Handlungsgrundsätze im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen  – keinesfalls seinen Grundrechtscharakter verliert, sondern im Gegenteil  – ein konstitutiver Bestandteil jeder freiheitlichen Verfassung ist. Durch die wohlwollende Antizipation von Gewissensstandpunkten Einzelner und durch sein Entgegenkommen verschafft sich der freiheitlichdemokratische Rechtsstaat seine Legitimität158, bezeugt Toleranz und zeigt damit seine Würde.159 Abschließend muss festgestellt werden, dass der Konflikt zwischen individuellem Gewissen und der auf die Sicherung der Freiheit und Würde des Menschen verpflichteten Rechtsordnung im freiheitlichen Rechtsstaat immer ein Ausnahme-, und kein Regelfall bleibt. Bereits die These des vorangegangenen Kapitels, dass die Möglichkeit einer Pflichtenkonkurrenz zwischen dem freiheitssichernden Recht und den Tugendpflichten theoretisch als ausgeschlossen betrachtet werden muss, erklärt die Tatsache, warum in der Rechtspraxis bislang nur eine geringe Anzahl von Berufungen auf die Gewissensfreiheit im Verhältnis zu anderen Grundrechten vorliegt. Weil im Mittelpunkt des Grundgesetzes die sich frei entfaltende menschliche Persönlichkeit und ihre Würde befindet160, welche als Grund aller möglichen Rechtsverhältnisse fungiert und somit auch als ein Programm des Grundgesetzes auftritt161, entspricht die normative Ordnung des Grundgesetzes weitgehend dem normativen freiheitlichen Rechtsbegriff (wie z. B. dem von Kant (s. o. Abschnitt D. II. 1.), der die Freiheitssicherung und die Ermöglichung einer als sittlich begreifbaren menschlichen Koexistenz zum Prinzip hat. Da das Prinzip der personalen Sittlichkeit niemals einen unzulässigen Eingriff in die Freiheit anderer implizieren kann, entsprechen die rechtlichen Regelungen einer auf die 156 Zwar wird die Gewissensfreiheit auch von der DDR-Verfassung gewährleistet (Art.  20 Abs. 1 Satz 2 DDR-Verfassung). Aber schon aus dem Verfassungskommentar wird deutlich, dass darunter „Grundsätze sozialistischer Moral und damit wahrer Menschlichkeit bestimmtes Denken“ (Sorgenicht, K., u. a. (Hrsg.), Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik, S. 30) gemeint ist, d. h. das vom Staat als „richtig“ vorbestimmte, und nicht das indivi­duelle Moralitätsverständnis. 157 Rüthers, B./Fischer, Ch., Rechtstheorie, S. 323, Rn. 489. 158 Isensee, J., Gewissen im Recht, S. 58. 159 Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 50. 160 BVerfGE 7, 198 (205). 161 Bryde, B.-O., Programmatik und Normativität der Grundrechte, Rn. 26; s. o. Abschnitt B. IV.

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

Freiheit und Würde des Menschen verpflichteten Verfassungsordnung, wie der des Grundgesetzes, meist im größtmöglichen Umfang dem allgemeinen und dem individuellen Rechtsbewusstsein.162 Insofern wird deutlich, warum die Berufung auf die Gewissensfreiheit zu keinem „Massenphänomen“ wird und dass die Auflehnung des Gewissens gegen das Recht unter der Ordnung des Grundgesetzes nur in Ausnahmesituationen stattfindet.163 Diese Ausnahmefälle sind in der freiheitlichen Rechtsordnung deswegen nicht auszuschließen, weil das positive Recht trotz seiner normativen Grundlage in kontingente gesellschaftliche Selbstverständigungs- und Rechtfertigungsprozesse eingebunden ist164: Innerhalb von gesellschaftlichen Entwicklungen können jederzeit neue moralische Dilemmata aufkommen, welche eine Konfliktsituation zwischen einer positiven Rechtsnorm und dem moralischen Bewusstsein der Rechtsunterworfenen auslösen können. So zeigte beispielsweise die Klage einer Biologiestudentin, welche es mit ihrem Gewissen für nicht vereinbar hielt, an Tierversuchen oder Übungen an den zu Forschungs- oder Lehrzwecken getöteten Tieren zu arbeiten165, dass der Tierschutz zu einem wichtigen moralischen Anliegen in der Gesellschaft herangewachsen ist.166 Dass die Veränderungen der gesellschaftlichen und politischen Ordnung zu neuen Konflikten führen können, welche das individuelle Gewissen aufs neue herausfordern, wird auch aus der Klage eines Bundeswehroffiziers deutlich, der sich unter der Berufung auf sein Gewissen geweigert hatte, sich an der Entwicklung einer Software zu beteiligen, die für den nach seiner Ansicht völkerrechtswidrigen und für ihn damit auch unethischen Irak-Krieg nutzbar sein könnte.167 Aus der nicht unumstritten gebliebenen168 Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, in der die Gewissensfreiheit des Offiziers über die Pflicht zum Befehlsgehorsam gestellt wurde, wird deutlich, dass sich mit den Veränderungen der weltpolitischen Gefahrenlage auch das Verhältnis der Gewissensfreiheit zu bestimmten Verfassungsgütern ändern kann: Während zur Zeit des Ost-West-Konfliktes die Funktionsfähigkeit der Bundeswehr durchaus als Schranke der Gewissensfreiheit gesehen wurde169, sind mit der gegenwärtigen Einbindung der Bundesrepublik als eines NATO-Bündnispartners in einzelne Militäraktionen, welche 162

Vgl. Würtenberger, Th., Gewissen und Recht, S. 427. Vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 212; Würtenberger, Th., Gewissen und Recht, S. 427. 164 s. o., Abschnitt D. II. 2. 165 BVerwGE 105, 73 ff. 166 Seit 2002 ist der Tierschutz auch als Staatszielbestimmung in das Grundgesetz aufgenommen worden (Art. 20 a GG). 167 BVerwGE 127, 302 ff. 168 Kritische Reaktionen auf das Urteil: „Ein Tor geöffnet“, FAZ v. 24.06.2005; Kokott, J., Art. 4, Rn. 89; Sohm, St., Vom Primat der Politik zum Primat des Gewissens?, S. 1 ff.; Kotzur, M., Gewissensfreiheit contra Gehorsamspflicht. Oder: der Irak-Krieg auf verwaltungsrechtlichem Prüfstand, S. 25 ff.; Schafranek, F., Die Gewissensfreiheit des Soldaten – Anmerkung zum Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 21.06.2005 – (2 WD 12.04) –, S, 234 ff.; La­ diges, M., Das BVerwG und die Gewissensfreiheit, S. 956 ff. 169 Vgl. BVerfGE 48, 127 (160); 69, 1 (21). 163

IV. Fazit 

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völkerrechtlich und innenpolitisch zumindest umstritten sind, für die betroffenen Soldaten auch neue praktische Implikationen über die Rechtsmäßigkeit ihrer Befehle entstanden.170 Dies hat in der Entscheidung zur neuen Gewichtung des Verhältnisses zwischen der Gewissensfreiheit und dem Verfassungsgut der militärischen Funktionsfähigkeit geführt.171 Es wird somit deutlich, dass die Gewissensfreiheit dem Individuum die Möglichkeit gibt, auf gesellschaftliche Veränderungen, welche möglicherweise neue moralische Herausforderungen mit sich bringen, zu reagieren und vom Staat entsprechende Rücksichtnahme auf moralische Standpunkte einzufordern: „An der Nahtstelle von Legalität und Legitimität klagt das Gewissen die im positiven Recht möglicherweise verkümmerten Postulate einer gerechten Ordnung ein.“172

Dass der Rechtsstaat Gewissenspositionen wohlwollend antizipiert, erklärt auch seinen Anspruch und das selbstauferlegte Ziel des positiven Rechts, im Gewissen des Einzelnen anerkannt zu werden.173 Die Judikatur zur Gewissensfreiheit kann insofern auch als ein „sensibler Indikator für den Bewusstseinszustand unserer Gesellschaft“ angesehen werden.174 Die Kompatibilität der freiheitlichen Rechtsordnung mit dem moralischen Bewusstsein von Rechtsadressaten bleibt dennoch eine von der freiheitlichen Verfassung vorausgesetzte Normallage.175 Der Konflikt zwischen individuellem Gewissen und der auf die Sicherung der Freiheit und Würde des Menschen verpflichteten Rechtsordnung ist daher immer ein Ausnahme- und kein Regelfall. Es muss zum Abschluss dieser Arbeit festgestellt werden, dass trotz der Beschränkung der Gewissensfreiheit auf die Forderung der wohlwollenden Loyalität des Staates gegenüber moralischen Standpunkten des Einzelnen und des Befundes, dass die Berufung auf dieses Grundrecht in einem freiheitlichen Rechtsstaat nur in Ausnahmefällen und daher nur selten stattfindet, das Grundrecht der Gewissensfreiheit dennoch ein unverzichtbarer Bestandteil jeder freiheitlichen Verfassung ist. IV. Fazit Die Auseinandersetzung mit dem Geltungsverhältnis zwischen subjektiven Gewissensgeboten und der normativen rechtlichen Ordnung konzentrierte sich auf die Frage, wie das Spannungsverhältnis zwischen subjektiven moralischen Pflich 170

Deiseroth, D., Gewissensfreiheit und Recht, S. 234, Fn. 42. Ebd., S. 234 f. 172 Ebd., S. 230. Dabei bezieht sich Deiseroth auf: Habermas, J., Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?, S. 15. 173 Vgl. Kaufmann, A., Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, S. 19, 22, 25; s. o. Abschnitt D. II. 2. 174 Tiedemann, P., Der Gewissensbegriff in der höchstrichterlichen Rechtsprechung, S. 67. 175 Böckenförde, E.-W., Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, S. 80. 171

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

ten des Einzelnen und der Geltung von Recht überwunden werden kann, sodass einerseits die Rechtsgeltung nicht in die Abhängigkeit vom individuellen Gewissen gerät und andererseits der Staat dem Auftrag, die sich im Gewissensurteil äußernde Selbstverantwortlichkeit und das Entwurfvermögen des Individuums durch Art. 4 Abs. 1 GG zu schützen, gerecht wird. Durch die rechtsphilosophische Reflexion wurde dabei die Beziehung zwischen der sittlichen Selbstverpflichtung und der Rechtspflicht untersucht und das Geltungsverhältnis zwischen diesen beiden Verpflichtungsarten aufgezeigt. Anschließend wurden daraus rechtsdogmatische Konsequenzen für die Bestimmung von Grenzen der Gewissensfreiheit, inwiefern die Anerkennung vom normativen Anspruch außerhalb des Rechts durch die freiheitliche Rechtsordnung möglich ist, gezogen und gleichzeitig die Schutzrichtung dieses Grundrechts verdeutlicht. Die rechtstheoretische Auseinandersetzung mit rechtlichen und moralischen Pflichten führte zum Ergebnis, dass die Realisierung von ethischen Pflichten bereits aufgrund der Eigenart von Geltungsbedingungen rechtlicher Normativität und ihrem Verhältnis zum Phänomen moralischer Handlungsbestimmung begrenzt ist. Es wurde deutlich, dass moralische Grundsätze den Menschen objektive Zwecke vorgeben, deren Realisierung jedoch den Anwendungsbereich äußerer Handlungen betrifft. Die abschließende Regelung von Handlungsbeziehungen und damit der äußeren Freiheit gehört dabei dem Anwendungsbereich des Rechts, dessen Prinzip als Konsistenzprinzip der äußeren Handlungswelt fungiert und eine vernünftige Struktur zwischenmenschlicher Handlungsbeziehungen sichert sowie auch die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung bewahrt. Die Realisierung einer Tugendpflicht in Form äußerer Handlung kann daher nicht dazu führen, dass dadurch ein illegitimer Eingriff in die Freiheit, die mit der Freiheit anderer nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist, vollzogen wird. Aus dem Befund, dass der Gegenstand des Rechts nicht das moralisch Gute ist, sondern die Koexistenzsicherung äußerer Willkürfreiheit, wurde gefolgert, dass zwischen ethischen Pflichten und den Rechtspflichten eine inhaltliche Differenz und die Unterschiedlichkeit in ihren Anwendungsbereichen besteht. Da durch die ethische Pflicht ein moralischer Zweck geboten wird und durch das Recht die auf Zweckverwirklichung gerichteten Handlungen nach formalen Gesichtspunkten rechtlich ausgezeichnet werden, ist eine Pflichtenkonkurrenz unmöglich. Obwohl das Moralitäts- und das Rechtsgesetz unterschiedliche Bereiche menschlicher Praxis betreffen, schließen sie einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig. Das gewissensgeleitete Handeln findet dementsprechend an dem legitimen Freiheitsraum anderer notwendigerweise seine Grenze. Für die grundrechtsdogmatische Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit wurde aus diesen Feststellungen gefolgert, dass dieses Grundrecht bereits von seinem Tatbestand her begrenzt ist. Die Vorbehaltlosigkeit von Art. 4 Abs. 1 GG kann keinen uneingeschränkten Vorrang von inhaltlichen Überzeugungen Einzelner gegenüber den grundlegenden Schutzgütern und positiven Rechtsnormen des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates begründen. Da konkrete inhaltliche Über-

IV. Fazit 

157

zeugungen des Einzelnen nicht mit seinem Gewissen gleichgesetzt werden dürfen, unterliegt die Realisierung von moralischen Handlungsgrundsätzen der abschließenden Regelung durch das freiheitssichernde Recht. Weil die Gewissensfreiheit nicht den Inhalt konkreter Überzeugungen schützt, sondern die Reflexivität des Menschen im Bezug auf seine Handlungsbestimmungen, steht eine mögliche Beeinträchtigung konkreter moralisch begründeter Verhaltensformen in keinem Widerspruch zu dem Fehlen eines einschränkenden Gesetzesvorbehaltes bei Art.  4 Abs. 1 GG. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit beinhaltet die Beschränkung der Erzwingbarkeit des Rechts, d. h. den Verzicht, die Befolgung jeder Rechtsnorm vom Bürger ausnahmslos und notfalls durch Strafandrohung zu erzwingen. Mit der Gewährleistung der Gewissensfreiheit geht der Staat auf die Auswahl von Handlungsoptionen für die Verwirklichung des im Gewissensurteil als moralisch geboten erkannten Handlungsgrundsatzes wohlwollend ein und bietet dem Individuum den Raum, seinem Handlungsgrundsatz im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen gerecht zu werden. Mit dieser immanenten Tatbestandsbeschränkung werden diejenigen juristischen Interpretationsansätze der Gewissensfreiheit theoretisch gestärkt, welche „Gewissensfreiheit als Wohlwollensgebot“ begreifen176, ohne dabei dieses Grundrecht dem einfachen Gesetzesvorbehalt zu unterwerfen177. Aus dem Befund der theoretischen Ausgeschlossenheit einer Pflichtenkonkurrenz zwischen dem freiheitssichernden Recht und den Tugendpflichten wurde weiterhin aufgezeigt, dass der Konflikt zwischen individuellem Gewissen und der auf die Sicherung der Freiheit und Würde des Menschen verpflichteten Rechtsordnung, wie der des Grundgesetzes, immer ein Ausnahme-, und kein Regelfall bleibt. Diese Ausnahmefälle sind in der freiheitlichen Rechtsordnung deswegen nicht auszuschließen, weil das positive Recht, trotz seiner normativen Grundlage, in kontingente gesellschaftliche Selbstverständigungs- und Rechtfertigungsprozesse eingebunden ist. Dabei gibt die Gewissensfreiheit dem Individuum die Möglichkeit, auf gesellschaftliche Veränderungen, welche möglicherweise neue moralische Herausforderungen mit sich bringen, zu reagieren und vom Staat entsprechende Rücksichtnahme auf moralische Standpunkte einzufordern. Die Kompatibilität der freiheitlichen Rechtsordnung mit dem moralischen Bewusstsein von Rechtsadressaten bleibt dennoch eine von der freiheitlichen Verfassung voraus­ gesetzte Normallage. Nicht zuletzt im Kontext der geschichtlichen Erfahrungen mit totalitären Systemen wurde deutlich, dass indem der Rechtsstaat die Bereitschaft zeigt, auch abweichende Gewissenspositionen wohlwollend zu antizipieren, er seine Toleranz

176

So insb.: Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 50. So aber: Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts; Borowski, M., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, S. 572 f.; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 131 ff., 264 ff. 177

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D. Normatives Gewissensverständnis und die Normativität der Rechtsordnung 

bezeugt und seine Würde zeigt.178 In diesem Zusammenhang wurde auch ersichtlich, dass trotz der Beschränkung der Gewissensfreiheit auf die Forderung der wohlwollenden Loyalität des Staates gegenüber moralischen Standpunkten Einzelner und des Befundes, dass die Berufung auf dieses Grundrecht in einem freiheitlichen Rechtsstaat nur in Ausnahmefällen und daher nur selten stattfindet, die Gewissensfreiheit zum konstitutiven Bestandteil jeder freiheitlichen Verfassung gehört.

178

Vgl. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 50.

Schlussbetrachtung Die Behandlung des ideengeschichtlichen Hintergrunds des modernen Gewissensbegriffs hat ergeben, dass die Gewissenskonzeptionen seit der stoisch-christlichen Antike bis in die Neuzeit hinein naturrechtlich geprägt waren. Zu ihrer grundlegenden Prämisse gehörte das Verständnis der moralischen Erkenntnis als Anerkennung des moralisch Gebotenen durch den menschlichen Intellekt, wonach der Mensch kraft seiner Vernunftnatur das objektiv Notwendige zu durchschauen vermag. Während die stoisch-christlichen Modelle die Gewissenhaftigkeit vornehmlich als Partizipation der menschlichen Vernunft an der göttlichen Weltordnung verstanden, sah die vernunftrechtliche Konzeption die Grundlage dieser Fähigkeit im Subjekt selbst verankert, als eine besondere Eigenart des vernunftbegabten Geschöpfs. Durch diese Konzeption wurden die Grundlagen der Moralität des Menschen im Subjekt selbst – und zwar in seiner vernunftbegründeten Autonomie – ausgewiesen. Das Gewissen wurde dabei als eine Instanz verstanden, welche das Subjekt auffordert, sich zu seinen Handlungsgrundsätzen reflexiv zu verhalten und sich über die Richtigkeit eigener moralischer Urteile zu vergewissern. In diesem Modell wird die Gewissenhaftigkeit des Menschen als ein Vermögen der Selbstreflexivität eines vernunftbegabten Freiheitswesens erklärt.1 Weiterhin wurde gezeigt, dass in der Moderne ein grundlegender Bruch mit natur­rechtlich bzw. vernunftrechtlich fundierten Gewissenskonzeptionen geschehen ist und eine seit Mitte des 19.  Jahrhunderts sich verbreitende Tendenz zur Positi­vierung des Gewissensbegriffs einsetzte. Dabei nehmen insbesondere die zu Beginn des 20.  Jahrhunderts zunehmend einflussreicheren Wissenschaften der Psychologie und Soziologie eine zentrale Stellung ein. Mit dem Aufkommen der Tendenz zur positivistischen Gewissensdeutung aus den unmittelbar zugänglichen innerpersonellen und gesellschaftlichen Relationen wurde der Gewissensbegriff nicht mehr aus ideellen Grundannahmen erschlossen, sondern anhand von empirisch beobachtbaren Vorgängen expliziert. In diesen Modellen wird das Gewissen als eine Instanz der Sicherung der kontingenten Identität der Person beschrieben.2 Die Betrachtung positivistischer Gewissenskonzeptionen wurde mit der Feststellung abgeschlossen, dass die aus akzidentiellen Motivationen oder aus gesellschaftlichen Konnotationen hergeleitete Moralitätsauffassung nur relativ  – weil zufällig – gelten kann. Dem aus relativen Moralitätsgrundlagen abgeleiteten Gewissensverständnis kann daher wiederum auch nur eine bloß relative Bedeutung

1



2

Abschnitte A. I. und A. II. Abschnitt A. III.

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Schlussbetrachtung

zukommen. Diese Modelle vermögen „kein Aufschluss über die sittliche Qualität des Gewissens“3 zu geben, warum eine bestimmte sittliche Position – im Gegensatz zum sonstigen nötigenden Begehren – einen moralischen Wert beansprucht und aus welchem Grund die Gewissenshaltung einer Person selbst eine Achtung gebietet. Es wurde deutlich gemacht, dass durch die Schwerpunktverschiebung bei der Gewissenserklärung auf die kontingente Lebensrealität des Menschen und dem Verzicht auf die metaphysische Dimension des Gewissensphänomens zugleich die Möglichkeit einer plausiblen Darstellung der sittlichen Eigenart der moralischen Selbstverpflichtung des Subjekts und des sittlichen Eigenwerts einer Gewissensbindung abhanden gekommen ist.4 Es wurde schließlich deutlich, dass damit das Fundament für die gegenwärtige theoretische Verunsicherung bei der Auseinandersetzung mit dem „Gewissen“ gelegt worden.5 Im Anschluss an die Darstellung positivistischer Modelle wurde festgestellt, dass die normative Dimension des Gewissensphänomens nur auf die Weise aufgegriffen werden kann, dass man auf die metaphysische Erörterung der Freiheitsund Vernunftnatur des Menschen eingeht. Das Moralische bei der Gewissensbindung, das dieser Bindung selbst eine sittliche Qualität verleiht, ist nur aus der Eigenart der Vernünftigkeit und der Freiheitlichkeit des Menschen theoretisch erfassbar. Dabei geht es weniger darum, wie man letztlich genau den Ursprung des Moralitätsvermögens des Menschen erklärt, ob theologisch als Licht der göttlichen Vernunft oder transzendentalphilosophisch als ein nicht weiter erklärbares erstes Faktum – das Entscheidende ist, dass die metaphysische Dimension der Vernünftigkeit und der Freiheitlichkeit des Menschen bei der Explikation des Moralitätsvermögens notwendig aufgegriffen werden muss, will man die Eigenart moralischer Selbstverpflichtung im Gewissensurteil erklären. Im Anschluss an die Gewissenskonzeptionen von Thomas von Aquin und Kant wurde festgestellt, dass das Gewissen als Selbstbezug der praktischen Vernunft verstanden werden muss. Es ist selbst kein Prinzip ethischer Grundsätze, aus welchem Antworten nach dem moralisch guten Handeln geschöpft werden, sondern das Wissen um die Art und Weise der Aneignung des zu tuenden Guten, d. h. es ist ein reflexives Urteil darüber, wie ein moralisches Urteil getroffen und auf das Handeln bezogen wurde. Damit zielt das Gewissen auf die Selbstwahrnehmung des Menschen als Vernunft- und Freiheitswesen im Handeln. Durch das Gewissen wird der Rahmen für die Identität und Verantwortung eines vernünftigen Freiheitswesens ausgewiesen. Gründet die Würde des Menschen in dem Vermögen, durch die Vernunft und freien Willen in der Welt selbstbestimmend agieren zu können, darf das Gewissen nicht anders als ein Ausdruck der menschlichen Würde verstanden werden. Die Gewissensentscheidung einer Person gebietet da-



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Vgl. Dauner, P., Das Gewissen, S. 109. Abschnitt A. IV. 2. 5 Vgl. Abschnitte A. IV. 1. und A. V. 2.

Schlussbetrachtung

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her ­Achtung um der durch das Gewissensurteil zum Ausdruck gebrachten menschlichen Würde willen.6 Die Auseinandersetzung mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit wurde mit der Darstellung seines rechtsgeschichtlichen Entstehungshintergrunds und seiner Ausgestaltung im Grundgesetz begonnen. Die Betrachtung des Entstehungshintergrunds der Gewissensfreiheit ließ deutlich werden, dass die Entwicklung dieses Grundrechts untrennbar mit dem Entstehungsprozess des modernen säkularen Verfassungsstaats in Verbindung steht7 und dass die Ausgestaltung der Gewissensfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG als eigenständiges unbedingt zu achtendes Grundrecht – das durch den Verzicht auf einen einschränkenden Gesetzesvorbehalt mit einer besonderen Unantastbarkeit ausgestattet ist  – auf die normative Intention des Verfassungsgebers zurückzuführen ist, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft erfahrene Unterdrückung der individuellen moralischen Orientierung in Zukunft zu verhindern.8 In diesem Zusammenhang wurde insbesondere die verfassungsrechtliche systematische Verbindung der Gewissensfreiheit mit der Menschenwürdegarantie aus Art. 1 Abs. 1 GG hervorgehoben.9 Vor dem Hintergrund der ideengeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Gewissensbegriff wurde weiterhin auf die Untersuchung von einzelnen Inter­ pretationsansätzen des Gewissensbegriffs im Grundrecht der Gewissensfreiheit eingegangen. Die Betrachtung von positivistischen Erklärungsansätzen hat dabei ergeben, dass sowohl der psychologische als auch der soziologische Interpretationsansatz der konstitutiven Bestimmung dieses Grundrechts als Freiheit zur sittlichen Selbstbestimmung eines freien Individuums nicht gerecht werden. Indem in diesen Modellen ausschließlich positivistische Phänomene zur Grundlage für das Verständnis der Gewissensfreiheit herangezogen werden, wird die Wahrung der im sittlichen Urteil sich äußernden eigenwertigen freiheitlichen Natur des Menschen – als substanzielles Element der vorbehaltlos gewährleisteten Gewissensfreiheit  – ausgeblendet.10 Die Feststellung, dass positivistische Gewissenserklärungsansätze für das Verständnis des Schutzgutes des Grundrechts der Gewissensfreiheit unzureichend sind, gilt dabei nicht nur für die in dieser Arbeit dargestellten Gewissensmodelle, sondern auch für jede andere  – eventuell zukünftig für die Schutzgutbestimmung dieses Grundrechts heranzuziehende  – positivistische Gewissenskonzeption (sei diese gesellschafts- oder aber auch naturwissenschaftlicher Art), welche auf die normative Deutung der ideellen, in der Vernünftigkeit und Freiheit des Menschen verankerten Gewissensgrundlage verzichtet.



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Abschnitt A. V. 1. Abschnitt B. I. 8 Abschnitte B. II. und B. III. 9 Abschnitt B. IV. 10 Abschnitt C. II. 7

162

Schlussbetrachtung

Anschließend wurde das normative Gewissensverständnis nach Maßgabe des verfassungsimmanenten Menschenbildes ausgearbeitet. Vor dem Hintergrund der Darstellung des Gewissensphänomens als Ausdruck der Vernünftigkeit und Freiheit11 wurde die Schutzrichtung der Gewissensfreiheit in Art.  4 Abs.  1 GG als Wahrung der sich im sittlichen Urteil äußernden eigenwertigen Natur des Menschen gegen staatliche Indoktrination und die Gewissensfreiheit als ein Recht auf Entfaltung der sittlichen Autonomie, d. h. der Fähigkeit zur moralischen Selbstbestimmung in Form der vernunftgeleiteten Abwägung eigener Handlungsgrundsätze ausgewiesen.12 Ausgehend vom normativen Gewissensverständnis wurden im letzten Abschnitt die Grenzen der Umsetzung subjektiver moralischer Überzeugungen ausgewiesen und gleichzeitig die Schutzrichtung des Grundrechts der Gewissensfreiheit verdeutlicht.13 Im Bezug auf das Geltungsverhältnis zwischen subjektiven Gewissensgeboten und der normativen rechtlichen Ordnung führte die rechtsphilosophische Auseinandersetzung mit rechtlichen und moralischen Pflichten zum Ergebnis, dass die Realisierung von ethischen Pflichten bereits aufgrund der Eigen­art von Geltungsbedingungen rechtlicher Normativität und ihrem Verhältnis zum Phänomen moralischer Handlungsbestimmung begrenzt ist. Es wurde deutlich gemacht, dass moralische Grundsätze dem Menschen objektive Zwecke vorgeben, deren Realisierung jedoch den Anwendungsbereich äußerer Handlungen betrifft. Die abschließende Regelung von Handlungsbeziehungen und damit der äußeren Freiheit gehört jedoch zum Anwendungsbereich des Rechts, dessen Prinzip als Konsistenzprinzip der äußeren Handlungswelt fungiert und dabei eine vernünftige Struktur zwischenmenschlicher Handlungsbeziehungen sichert sowie auch die Möglichkeit individueller Selbstbestimmung bewahrt. Für die grundrechtsdogmatische Auseinandersetzung mit der Gewissensfreiheit wurde aus dieser Feststellung gefolgert, dass dieses Grundrecht bereits von seinem Tatbestand her begrenzt ist. Die vorbehaltlose Gewährleistung des Art. 4 Abs. 1 GG kann keinen uneingeschränkten Vorrang von inhaltlichen Überzeugungen Einzelner gegenüber den grundlegenden Schutzgütern und positiven Rechtsnormen einer freiheitlichen Rechts­ordnung begründen. Die Verdeutlichung der Schutzrichtung der Gewissensfreiheit ist weiterhin von der Grundannahme des normativen Gewissensverständnisses ausgegangen, dass aus dem reflexiven praktischen Bewusstsein im Gewissen nicht im Kurzschluss konkrete materielle Pflichten abgeleitet werden dürfen. Auf der philosophischen Ebene wurde hervorgehoben, dass konkrete inhaltliche Überzeugungen des Einzelnen nicht mit seinem Gewissen gleichgesetzt werden dürfen und dass bei der Auseinandersetzung mit dem Gewissen daher zwischen dem Bereich der Reflexion über Handlungsgrundsätze und dem der Bildung von konkreten Hand

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Abschnitt A. V. 1. Abschnitt C. III. 13 Abschnitt D.

Schlussbetrachtung

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lungsbestimmungen unterschieden werden muss. Für die grundrechtsdogmatische Auseinandersetzung mit dem Grundrecht der Gewissensfreiheit wurde daraus gefolgert, dass, da die Gewissensfreiheit nicht den Inhalt konkreter Überzeugungen, sondern den Rahmen für die Reflexivität des Menschen in Bezug auf seine Handlungsbestimmungen schützt, eine mögliche Beeinträchtigung konkreter moralisch begründeter Verhaltensformen in keinem Widerspruch zu dem Fehlen eines einschränkenden Gesetzesvorbehaltes bei Art. 4 Abs. 1 GG stehen muss. Mit dieser immanenten Tatbestandsbeschränkung wurden diejenigen juristischen Interpretationsansätze der Gewissensfreiheit theoretisch gestärkt, welche „Gewissensfreiheit als Wohlwollensgebot“ begreifen14, ohne dabei dieses Grundrecht dem einfachen Gesetzesvorbehalt zu unterwerfen15. Die Darstellung der Schutzrichtung der Gewissensfreiheit wurde mit der Feststellung abgeschlossen, dass dieses Grundrecht die Beschränkung der Erzwingbarkeit des Rechts beinhaltet, d. h. den Verzicht, die Befolgung jeder Rechtsnorm vom Bürger ausnahmslos und notfalls durch Strafandrohung zu erzwingen. Die Gewissensfreiheit besteht vielmehr in der Verpflichtung des Staates, jenen Raum offen zu halten, in dem sich die urteilende und handelnde Individualität zeigen kann.16 Mit der Gewährleistung der Gewissensfreiheit geht der Staat auf die Auswahl von Handlungsoptionen für die Verwirklichung des im Gewissensurteil als moralisch geboten erkannten Handlungsgrundsatzes wohlwollend (wie z. B. durch die Bereitstellung von gewissensschonenden Verhaltensalternativen) ein und bietet dem Individuum den Raum, seinem Handlungsgrundsatz im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen gerecht zu werden. Darüber hinaus wurde aus der rechtsphilosophischen Betrachtung des Geltungsverhältnisses deutlich, dass der Konflikt zwischen individuellem Gewissen und einer auf die Sicherung der Freiheit und Würde des Menschen verpflichteten Rechtsordnung – wie der des Grundgesetzes – immer ein Ausnahme- und kein Regelfall bleibt. Solche Ausnahmefälle sind in einem freiheitlichen Rechtsstaat deswegen nicht auszuschließen, weil das positive Recht, trotz seiner normativen Grundlage, in kontingente gesellschaftliche Selbstverständigungs- und Rechtfertigungsprozesse eingebunden ist. Dabei gibt die Gewissensfreiheit dem Individuum die Möglichkeit, auf gesellschaftliche Veränderungen, welche möglicherweise neue moralische Herausforderungen mit sich bringen, zu reagieren und vom Staat entsprechende Rücksichtnahme auf moralische Standpunkte einzufordern. Die Kompatibilität der freiheitlichen Rechtsordnung mit dem moralischen Bewusstsein von Rechtsadressaten bleibt dennoch eine von der freiheitlichen Verfassung vorausgesetzte Normallage.

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15

So insb.: Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 50. So aber: Herdegen, M., Gewissensfreiheit und Normativität des positiven Rechts; Borowski, M., Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, S. 572 f.; vgl. Filmer, F., Das Gewissen als Argument im Recht, S. 131 ff., 264 ff. 16 Vgl. Hoffmann, Th., Gewissen als praktische Apperzeption, S. 442.

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Schlussbetrachtung

Die Auseinandersetzung mit dem normativen Gewissensverständnis im Grundrecht der Gewissensfreiheit wurde mit der Feststellung abgeschlossen, dass, indem der Rechtsstaat die Bereitschaft zeigt, auch abweichende Gewissenspositionen wohlwollend zu antizipieren, er seine Toleranz bezeugt und seine Würde zeigt.17 Die besondere Bedeutung dieser Grundrechtsfunktion wird dabei vor allem im Kontext der geschichtlichen Erfahrungen mit totalitären Systemen deutlich. In diesem Zusammenhang wurde auch ersichtlich, dass trotz der Beschränkung der Gewissensfreiheit auf die Forderung der wohlwollenden Loyalität des Staates gegenüber moralischen Standpunkten Einzelner und des Befundes, dass die Berufung auf dieses Grundrecht in einem freiheitlichen Rechtsstaat nur in Ausnahmefällen und daher nur selten stattfindet, die Gewissensfreiheit zum konstitutiven Bestandteil jeder freiheitlichen Verfassung gehört.



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Vgl. Bethge, H., Gewissensfreiheit, Rn. 50.

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Personen- und Sachverzeichnis Achtung  12 f., 31, 68 f., 88, 97, 99, 112, 114, 119, 133 f., 141, 144 f., 151, 160 f. Arendt  11, 60, 80 f., 94 Aristoteles  17 Aufklärung  39, 48, 61, 74, 114 Augustinus  20 Autonomie  29 f., 33, 38 f., 41, 59, 82, 118, 120, 128, 131, 137, 139, 140–144, 159, 162 Cicero  18 f. Demokritos von Abdera  17 Descartes  25 f. Determination  112 Diktatur  78, 81, 92, 134 Dogmatismus  113, 131 Eichmann  80 f. Ethik  17, 32, 40–42, 55 f., 143 Fichte  34 Formalisierung  40, 51, 60, 62 Freud  40, 45–47, 101 Gesetzesvorbehalt  84, 92, 103, 134, 149 f., 157, 161, 163 Gewissenskonflikt  70, 87, 96, 108, 112, 133 Gewissensnot  12, 46, 95, 101, 103, 105, 107, 112, 121 f. Gottesebenbildlichkeit  67, 118 Gute  17, 19, 21 f., 24, 35 f., 38, 65, 139, 142, 147, 156

Kant  27–34, 38, 41, 56, 59, 63, 65 f., 72, 79, 118 f., 122, 127, 136–145, 153, 160 Kategorische Imperativ  56, 65, 140 Kausalität  29, 122, 128 Kriegsdienstverweigerung  48, 87, 104 Lebensrealität  40, 44, 58, 60, 160 Legalität  144 f., 155 Legitimität  76, 134, 136, 153, 155 Locke  27 Logos  17, 23 f. Luhmann  12, 39 f., 48–51, 54, 58 f., 62, 64, 70 f., 100, 107–111 Menschenbild  26, 29, 72, 98, 113–118, 123 Menschenrecht  123, 138 Menschenwürde  71, 88–92, 97, 113–117, 120, 122, 124, 130 Metaphysik  28–31, 33, 60, 67, 122, 125, 137–144 Moralität  21, 24 f., 27, 30 f., 33–35, 38, 42, 45, 57, 59, 61 f., 66, 69, 80, 92, 136, 139, 140–142, 144–147, 159 Neutralität  75, 77, 89 f., 98, 102, 123, 125 f., 128 f. Neuzeit  25 f., 39, 59 f., 71, 73, 159 Nietzsche  40, 42–44, 51, 60 f.

Habermas  56 f., 155 Hegel  34–39, 59 Hitler  78 f., 81 Humanismus  61

Paulus  19 f. Pflicht  31–34, 86 f., 134, 141 f., 144 f., 154, 156 Philosophie  17, 19, 23, 25–29, 31, 33–39, 42–45, 47 f., 52–57, 60 f., 63, 70, 100, 108 f. Pico della Mirandola  67 Platon  17 Positivismus  113, 142 Psychologie  45, 47, 61, 69, 98, 100–105, 111 f., 159

Individualrecht  83

Rechtsbegriff  94, 98, 129, 136, 140, 142, 153

Personen- und Sachverzeichnis Rechtsbewusstsein  86, 154 Rechtsgeltung  12, 135 f., 146 f., 155 f. Rechtspflicht  14, 133, 136, 138, 141, 144 f., 148, 156 Rechtsprinzip  138, 144–147 Relativismus  89, 113, 131 Religionsfreiheit  74–76, 84, 94 Säkularisierung  39, 73, 75, 92 Schopenhauer  40–42, 44, 51, 60 f. Schutzbereich  77, 83, 85, 87, 94, 103, 132 Schutzrichtung  11 f., 14 f., 88, 91, 93, 96 f., 99, 103–107, 110 f., 120 f., 123, 129, 131 f., 148, 150, 156, 162 f. Seneca  18 f. Sittengesetz  22, 29–32, 45, 79 Sittlichkeit  20, 28, 30, 33–38, 57, 80, 139– 142, 153

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Soziologie  61, 159 Taylor  25, 27, 60 f. Thomas von Aquin  17, 21–24, 63, 65 f., 72, 160 Tugendlehre  140, 142 Vernunftprinzip  65 f., 139, 145 Vorbehaltlosigkeit  148 f., 156 Werteentscheidung  135 Werteordnung  7, 49 f., 89 f., 123, 127 Willensbestimmung  32, 41, 65, 79, 139 Willkürfreiheit  140, 142, 147, 156 Wohlwollensgebot  157, 163 Zwang  74, 87, 104 f., 107, 139, 144 Zweckpflicht  144