Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rechtssystem der Europäischen Union: Überlegungen zur Rechtsnatur und Quellenhermeneutik der unionalen Rechtsschutzgarantie sowie zur Wirksamkeit des Systems primären Individualrechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte [1 ed.] 9783428530748, 9783428130740

Die Garantie effektiven Rechtsschutzes nimmt im rechtsstaatlichen System der EU eine herausragende Stellung ein. Christo

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Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rechtssystem der Europäischen Union: Überlegungen zur Rechtsnatur und Quellenhermeneutik der unionalen Rechtsschutzgarantie sowie zur Wirksamkeit des Systems primären Individualrechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte [1 ed.]
 9783428530748, 9783428130740

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Schriften zum Europäischen Recht Band 149

Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rechtssystem der Europäischen Union Von Christoph-David Munding

!"#$%&'( Duncker & Humblot · Berlin

CHRISTOPH-DAVID MUNDING

Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rechtssystem der Europäischen Union

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 149

Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz im Rechtssystem der Europäischen Union Überlegungen zur Rechtsnatur und Quellenhermeneutik der unionalen Rechtsschutzgarantie sowie zur Wirksamkeit des Systems primären Individualrechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte

Von Christoph-David Munding

!"#$%&'( Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Potsdam hat diese Arbeit im Wintersemester 2008/2009 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 517 Alle Rechte vorbehalten ! 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-13074-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 !

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2008/2009 von der Juristischen Fakultät der Universität Potsdam als Dissertation angenommen. Sie wurde mit dem Wolf-Rüdiger-Bub-Preis ausgezeichnet und ihr Druck durch das Auswärtige Amt bezuschusst. Christoph-D. Munding

Inhaltsübersicht Einleitung

33

A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Teil 1 Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

38

A. Die Unionsgrundrechte und ihre Rechtsnatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kleine Geschichte des Grundrechtsschutzes im Rechtssystem der EU . . II. Die Rechtsnatur der Grundrechte im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 39 47

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung zur Gewähr und zum Inhalt effektiven Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schrifttum zur Rechtsnatur der Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eigene Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

100 100 127 129

C. Ergebnis zu Teil 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Teil 2 Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie A. Verfahrensrechte als rechtsstaatliche Konsequenz zur Anerkennung materieller Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Herleitung der Rechtsschutzgarantie aus den materiellen Grundrechten II. Argumentationsflankierung durch die Grundsätze des Anwendungsvorrangs und der praktischen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einwände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Art. 6 Abs. 2 EUV: Grundlage der unionsrechtlichen Grundrechtsbindung und der Grundrechtsquellensystematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Grundsätze der Normauslegung im primären Unionsrecht . . . . . . . . . II. Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV für die allgemeine Grundrechtsbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtsquellensystematik des Art. 6 Abs. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ergebnis zu Bedeutung und Regelungsgehalt des Art. 6 Abs. 2 EUV . .

136 136 137 139 141 149 150 151 163 207 318

C. Konsequenzen für die Quellen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz 319

10

Inhaltsübersicht Teil 3 Ausblick auf bevorstehende Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

A. Die Charta der Grundrechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anwendungsbereich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zwischen einer rechtsverbindlichen Grundrechte-Charta und dem kontemporären Grundrechtsquellensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nutzen einer verbindlichen Grundrechte-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Formalverbindlichkeit der Grundrechte-Charta de constitutione vel de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

320 320 320 330 350 354

B. Beitritt der EU zur EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 I. Formale Probleme und ausgewählte offene Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 II. Überlegungen zum Für und Wider eines Beitritts der EU zur EMRK . . . 373 C. Fazit zu Teil 3. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Teil 4 Effektivität des Systems primären Individualrechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte A. Das unionale Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Systematik des Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bereichsspezifischer Blick auf die einzelnen Mittel prinzipalen und inzidenten, echten und unechten Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . III. Gesamtbetrachtung zu den Problemen beim Primärangriff unmittelbar individualbelastender EG-Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

385

385 385 386 484

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . I. Einfluss grundrechtlicher Wertungen auf das primärrechtliche EG-Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Wesentliche Rechtsschutzfaktoren und ihr Schutzgehalt . . . . . . . . . . . . . . . III. Systemabgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501

C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Lösungsmöglichkeiten de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gesamtbewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

526 526 557 568

502 505 518

D. Ausblick: Die Änderungen des Systems individuellen Rechtsschutzes gegen normative Unionsrechtsakte im Verfassungsvertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 572 I. Die wesentlichen Änderungen des Systems primären Rechtsschutzes . . . 572 II. Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 586 E. Ergebnis zu Teil 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592

Inhaltsübersicht

11

Zusammenfassung und abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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A. Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

35

Teil 1 Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie A. Die Unionsgrundrechte und ihre Rechtsnatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Kleine Geschichte des Grundrechtsschutzes im Rechtssystem der EU . . 1. Anfangs fehlender gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz . . . . . 2. Entwicklung eines eigenen Grundrechtsregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Anerkennung des primärrechtlichen Rangs und der unmittelbaren Geltung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Rechtsnatur der Grundrechte im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Begriff der grundrechtlichen Rechtsnatur im Kontext der Systementscheidung für oder gegen eine subjektiv-rechtliche Rechtskonzeption a) Blick auf ausgewählte mitgliedstaatliche Systementscheidungen . aa) Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Rechtsschutzsystemen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Objektiv- und subjektiv-schützender Geltungsgrund . . . . . . . . cc) Fehlende Übertragbarkeit der deutschen Schutznormtheorie dd) Abwesenheit streng objektiver oder subjektiver Systeme . . . . ee) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gemeinschaftsrechtsspezifik der Kriterienanwendung . . . . . . . . . . . 2. Wertender Blick auf die Positionen im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wertender Blick auf die gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung . a) Die allgemeine Grundrechtsformel des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begriff des subjektiven Rechts und Existenz individualschützender Rechte im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Hinweise auf ein subjektives Grundrechtsverständnis des EuGH d) Zwischenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Eigene Bestimmung der Rechtsnatur der Unionsgrundrechte. . . . . . . . a) Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze: Grammatikalische Annäherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Rechtsnatur der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38 38 39 39 41 45 47 48 48 48 50 50 51 53 53 54 59 59 60 63 69 69 70 72

14

Inhaltsverzeichnis c) Überlegungen zu einer rechtsnatürlichen Schicksalsgemeinschaft der allgemeinen Rechtsgrundsätze und der Grundrechte . . . . . . . . . d) Funktionale und prozessuale Betrachtung der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Funktionalität der Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeine Funktionalität der Grundrechtsgewährung . . . (2) Einzelne Grundrechtsfunktionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Modus der Justitiabilität von Rechten im Verfahrenssystem des EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Wesensvielfalt des EG-Rechtsschutzsystems . . . . . . . . . . . . (2) Wesenszüge der Individualnichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Systemapproximation zur französischen Konzeption (b) Subjektiv-rechtliche Elemente. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Subjektive Elemente in der Zulässigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Implikation materieller Rechts- oder Interessenverletzungen in der Klagebegründetheit . . . . (3) Wesenszüge der Individualuntätigkeitsklage . . . . . . . . . . . . (4) Wesenszüge des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . (5) Konzeption des sekundären Rechtsschutzes . . . . . . . . . . . . (6) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Folgerungen für die Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte . . f) Überlegungen zur Übertragbarkeit der Theorie der Grundrechte von Alexy in den gemeinschaftsrechtlichen Bereich. . . . . . . . . . . . .

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung zur Gewähr und zum Inhalt effektiven Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Maßgebende Rechtsprechungsschritte auf dem Weg zur Anerkennung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gängige und abweichende Quellensystematik des EuGH . . . . . . . . . . . 3. Einzelne Anforderungen an die Rechtsschutzgewähr . . . . . . . . . . . . . . . a) Effektiver Zugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Recht auf rechtliches Gehör und Anspruch auf ein faires Verfahren sowie hiermit zusammenhängende Schutzaspekte . . . . . . . . . . . aa) Grundsatz des Fair Trial und Anspruch auf rechtliches Gehör . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Vereinheitlichte Rechtsherleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Schutzaspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Entscheidung in angemessener Frist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Der Verfahrensgrundsatz „ne bis in idem“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bewertung der Rechtsprechung hinsichtlich einer Positionierung des EuGH pro oder contra grundrechtliche Rechtsnatur der Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74 77 79 79 79 81 81 83 83 85 85 88 90 91 93 95 96 98 100 100 100 103 106 107 110 111 111 112 117 119

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Inhaltsverzeichnis

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Prima-facie-Positionierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unschärfen in der Terminologieanwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Grundrechtliche Qualifizierung einzelner Verfahrensrechte . . . . . . Quellenrechtliche Rechtsnaturrückkopplung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neuere Tendenzen einer Vergrundrechtlichung der Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schrifttum zur Rechtsnatur der Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Eigene Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsschutzgarantie als rechtliche Einheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subsumtion der Rechtsschutzgarantie unter den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 121 122 124

a) b) c) d) e)

125 126 127 129 129 131

C. Ergebnis zu Teil 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 Teil 2 Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie A. Verfahrensrechte als rechtsstaatliche Konsequenz zur Anerkennung materieller Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Herleitung der Rechtsschutzgarantie aus den materiellen Grundrechten 1. Wesentliche Argumentationsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Bestätigende Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . II. Argumentationsflankierung durch die Grundsätze des Anwendungsvorrangs und der praktischen Wirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Einwände. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Fehlende Prägung des Unionsrechtssystems durch common law . . . . 2. Generalklauselcharakter des Art. 10 EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Spezifische Einwände gegen die Argumentation Sacks wider die Eigenständigkeit der Rechtsschutzgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Relative und reziproke Abhängigkeit zwischen materiellen und prozessualen Grundrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Differenzierung der Rechtsquellen nach dem Schutzobjekt oder einheitliche Quellenhermeneutik der Rechtsschutzgarantie? . . . . . . . . . . . 6. Notwendigkeit der Zuordnung einer eigenständigen Rechtsgrundlage IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Art. 6 Abs. 2 EUV: Grundlage der unionsrechtlichen Grundrechtsbindung und der Grundrechtsquellensystematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Grundsätze der Normauslegung im primären Unionsrecht . . . . . . . . . 1. Allgemeines zur unionalen Norminterpretatorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zur Anwendbarkeit der Wiener Vertragsrechtskonvention . . . . . . . . . . a) Betrachtungen aus der Perspektive der WVK . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Betrachtungen aus der Perspektive des Unionsrechts. . . . . . . . . . . . c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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136 137 137 139 139 141 142 143 143 145 147 148 149 150 151 151 153 153 154 158

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Inhaltsverzeichnis 3. Unionale Besonderheiten der Auslegungsmethoden im Einzelnen. . . . II. Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV für die allgemeine Grundrechtsbindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick zu den unterschiedlichen Ansätzen und erste Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Schrifttum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Zusammenfassende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überlegungen zu Historie, Wortlaut und interner Systematik . . . . . b) Externe Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Teleologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vergleichender Blick auf die Grundrechtsbindungskonzeptionen der Mitgliedstaaten und der EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundrechtsträger und Adressaten des allgemeinen Grundrechtsachtungsgebots . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grundrechtsberechtigte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grundrechtsverpflichtete. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Europäische Gemeinschaft und Europäische Union . . . . . . . . . bb) Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Grundfreiheitliche Einschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Richtlinienumsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Umsetzungsakte in den Bereichen der GASP und der PJZS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Partikuläre Beschränkungen der Gerichtskontrolle im Bereich völkerrechtlich bedingter Handlungen? . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die Entscheidungen des EuG und des EuGH in den Rechtssachen Yusuf, Kadi und Ayadi. . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Tatsächliche und rechtliche Hintergründe . . . . . . . . . . (b) Wesentliche Rechtsausführungen des EuG. . . . . . . . . . (c) Wesentliche Rechtsausführungen des EuGH . . . . . . . . (2) Die Entscheidung des EuG in der Rechtssache Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran. . . . . . . . . . . . . . (a) Tatsächliche und rechtliche Hintergründe . . . . . . . . . . (b) Wesentliche Rechtsausführungen des EuG. . . . . . . . . . (3) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Grundrechtsbindung natürlicher und juristischer Personen des Privatrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Grundrechtsquellensystematik des Art. 6 Abs. 2 EUV. . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Überblick zu den unterschiedlichen Ansätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Ansichten im Schrifttum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159 163 164 164 165 167 168 168 171 171 174 176 178 178 180 180 182 183 185 188 189 191 191 192 195 198 198 200 201 206 207 207 207 210 215

Inhaltsverzeichnis a) Zur allgemeinen Grundrechtsquellensystematik. . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Semantische und systematische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . (1) Die deutsche Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV. . . . . . . . . . (2) Die weiteren Sprachfassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV . . (3) Kriterien zur Auflösung des Vertragssprachenkonflikts . . bb) Teleologische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeine Überlegungen zu Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 EUV im Hinblick auf die Grundrechtsquellendogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Betrachtungen zur unmittelbaren Bindung der EU an die EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Gewohnheitsrechtliche Bindung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Bindung aufgrund zwingenden Völkerrechts . . . . . . . (c) Bindung kraft Rechtsnachfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (d) Bindung durch einseitige Inkorporation. . . . . . . . . . . . (3) Betrachtungen zur Bindung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Konventionsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Blick auf die EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Blick auf die Rechtsprechungspraxis des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtssache Melchers & Co. . . . . . . . . . b) Die Rechtssache Cantoni. . . . . . . . . . . . . . . . . g) Die Rechtssachen Matthews, Waite und Kennedy sowie Beer und Regan . . . . . . . . . . d) Die Rechtssachen DSR Senator Lines und Emesa Sugar NV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Die Rechtssache Bosphorus . . . . . . . . . . . . . . (cc) Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Unionsrechtliche Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Blick auf die Rechtsordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Blick auf die Rechtsprechungspraxis des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Bezugnahmen als Ausdruck kohärenter Rechtsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konvergenzbemühungen des EuGH . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Folgerungen für die allgemeine Quellensystematik des Art. 6 Abs. 2 EUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Auflösung des Vertragssprachenkonflikts . . . . . . . . . . . . . . (2) Existenz einer Rechtsquelle und zweier norminterner Erkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Einwände gegen den Wolfschen Rechtsquellenansatz . . .

17 215 216 216 216 217 219

219 219 221 221 223 224 227 227 227 230 231 232 232 233 235 238 242 242 244 244 246 249 251 251 252 255

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Inhaltsverzeichnis dd) Reichweite des Quellenverweises auf die EMRK . . . . . . . . . . . (1) Bindungsdichte in Bezug auf die EMRK und die Verfassungstraditionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Einbeziehung der Zusatzprotokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Vorbehalte . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zum inneren Quellenverhältnis und einer normativen Exklusionswirkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anwendungs- und Rangverhältnis der beiden Rechtserkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Kumulative oder alternative Anwendung der Erkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Wortlaut und interne Systematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Sinn und Zweck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Interne Hierarchie der Erkenntnisquellen. . . . . . . . . . . . . . . bb) Offenes oder geschlossenes System der Rechtserkenntnisquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Offene Quellensystematik des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Keine Ausschlusswirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV . . . . . . (3) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Überlegungen zu normexternen Grundrechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. . . . . . . . . . . . aa) Zweck und Inhalt im Kurzüberblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtliche Bindungswirkung der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Selbstbindung einzelner EU-Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Bezugnahmen und Hinweise auf die Charta in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Wertende Darstellung der rechtsdogmatischen Ansätze zur Begründung einer Bindungswirkung der Charta . . . . . (a) „Rechtliche Wirksamkeit“ der zu Art. 6 Abs. 2 EUV kongruenten Teile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Die Charta als Bestandteil des Rechts im Sinne des Art. 220 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Die Charta als echte Rechtserkenntnisquelle . . . . . . . . (d) Weiche Charta-Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (e) Die Charta als mitgliedstaatlicher Wertekonsens . . . . (f) Rechtserhebliche Bedeutung der Charta bei der Auslegung späteren EG-Sekundärrechts . . . . . . . . . . . . (g) Die Charta als Hilfserkenntnisquelle . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Fürsprechende Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unzulänglichkeiten der fünften Präambelerwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

257 257 258 261 263 264 264 264 265 265 269 271 271 274 276 276 276 277 280 280 281 285 285 286 288 289 292 293 295 296 297 297

Inhaltsverzeichnis

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b) Vielfalt der Chartavorbilder . . . . . . . . . . . . . . g) Kein Vorbildschwerpunkt zugunsten der Verfassungstraditionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Keine Folgerung von den Verfahrensbeteiligten auf einen gemeinsamen verfassungsrechtlichen Wertekonsens . . . . . . . . . . . . . . . . e) Kein Schluss pars pro toto . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Nutzen einer fallabhängigen Aktivierung der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (h) Die Charta als Auslegungshilfe im Bereich der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtsquellencharakter der Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . c) Überlegungen zu weiteren internationalen Menschenrechtsquellen aa) Unverbindlichkeit der AllgErklMenschenR . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Indizierung gemeinsamer Verfassungstraditionen durch Menschenrechtsverträge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Herleitung von Verfassungstraditionen über das Völkergewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Direkte Quellenimplementierung über die Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Gemeinschaftsrecht . . ee) Die völkervertragsrechtlichen Menschenrechtsverpflichtungen der Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquelle . . . . . . . . . IV. Ergebnis zu Bedeutung und Regelungsgehalt des Art. 6 Abs. 2 EUV . .

298 299

301 301 302 304 304 306 307 308 309 312 313 315 318

C. Konsequenzen für die Quellen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz 319 Teil 3 Ausblick auf bevorstehende Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes A. Die Charta der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geltung gegenüber den „Organen der Union“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Geltung gegenüber den Mitgliedstaaten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Grammatikalische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Teleologische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Unmittelbare Drittwirkung der Chartarechte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Räumlicher Anwendungsbereich und persönliche Grundrechtsberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis zwischen einer rechtsverbindlichen Grundrechte-Charta und dem kontemporären Grundrechtsquellensystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Chartainternes Vertikalverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Allgemeine Schrankensystematik des Art. 52 Abs. 1 u. 2 GrCh. .

320 320 320 321 323 323 324 326 327 330 330 330

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Inhaltsverzeichnis b) Spezifische Vorgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zu den der EMRK entsprechenden Chartarechten. . . . . . . . . . . bb) Zu den verfassungsverwandten Chartarechten . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechte unter Spezialvorbehalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Risiken und Schwächen der Schrankenregelung . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Chartaexternes Horizontalverhältnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Koexistenz unionaler Grundrechtsquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bildung einer einheitlichen Grundrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . c) Konkurrenzverhältnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Redundante Chartarechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Nutzen einer verbindlichen Grundrechte-Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Formalverbindlichkeit der Grundrechte-Charta de constitutione vel de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Grundrechte-Charta im EU-Reformvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Hintergrund zur Enstehung des Vertragsentwurfs. . . . . . . . . . . . . . . . b) Ausgewählte Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verschmelzung der EU und EG zu einer „Union“. . . . . . . . . . . cc) Inhaltliche Schwächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Stellung der Charta im EU-Reformvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Alternative Behandlung der Charta im Falle des Scheiterns der Reformvorhaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Beitritt der EU zur EMRK. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Formale Probleme und ausgewählte offene Fragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beitrittsfähigkeit der EU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Öffnung der Konvention für ein nichtstaatliches Mitglied. . . . . . . . . . . 3. Probleme eines „bedingten Beitritts“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Weitere anstehende Änderungen im Verfahrenssystem der EMRK . . . a) Streitgenössische Bindung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahrensvertretung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Vorlageverfahren zum EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Überlegungen zum Für und Wider eines Beitritts der EU zur EMRK . . . 1. Gefahr einer heteronomen Steuerung des systemeigenen Grundrechtsregimes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Eigenständigkeit der Rechtsordnung und Verbesserung des individuellen Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erstrebung paneuropäischer Grundrechtskohärenz vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Folgen einer Einbindung der EU in das Konventionssystem für den EuGH. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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5. Kompetenzüberhang zugunsten des EGMR in den intergouvernementalen Säulen des Unionsrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 380 6. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 C. Fazit zu Teil 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383 Teil 4 Effektivität des Systems primären Individualrechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte A. Das unionale Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Allgemeine Systematik des Individualrechtsschutzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bereichsspezifischer Blick auf die einzelnen Mittel prinzipalen und inzidenten, echten und unechten Individualrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Nichtigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gerichtszuständigkeit, Parteifähigkeit und Klagegegner . . . . . . . . . b) Anfechtungsgegenstand und Klagebefugnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Allgemeine Klagegegenstandssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Allgemeine Klagezugangssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unmittelbare Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Individuelle Betroffenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Problemkomplex zur Angreifbarkeit normativer Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Anfechtbarkeit echter Verordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Verordnungen als zulässiger Klagegegenstand . . . . . . (b) Anforderungen an die individuelle Betroffenheit . . . (aa) Beeinträchtigung einer materiellen Rechtsposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Verfahrensbeteiligung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (cc) Berücksichtigungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . (dd) Gemeinschaftsgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Materielle Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfahrensgrundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (ee) Betroffenheit von Vereinigungen . . . . . . . . . . . . . (ff) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Anfechtbarkeit von Richtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Klagefrist und Eintritt der Bestandskraft des Klagegegenstands . . d) Weitere Sachentscheidungsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Begründetheit und Urteilsbindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Gesamtschau zu den neuralgischen Punkten der Individualnichtigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Untätigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Inzidentkontrolle gemäß Art. 241 EGV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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385 385 386 387 387 388 388 389 390 391 392 392 393 396 396 397 399 399 400 402 406 406 407 410 411 412 414 415 418

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Inhaltsverzeichnis a) Wesentliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Anhängiges Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rügefähigkeit und Rügegegenstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Entscheidungserheblichkeit und Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . dd) Folgen der zulässigen Rüge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Neuralgie der inzidenten Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vorabentscheidungsverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Wesentliche Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Zuständigkeit, Verfahrensbeteiligte und deren Verfahrensstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Verfahrensgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Vorlageberechtigung, Vorlageverpflichtung und Grenzen . . . . (1) Initiativberechtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Vorlageverpflichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Grenzen der Vorlagepflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Entscheidungserheblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Keine relative Bestandskraft des Vorlagegegenstands. . . . . . . . ff) Urteilsbindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wesentliche neuralgische Punkte des Vorabentscheidungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtsschutzmöglichkeiten im Falle einer pflichtwidrigen Nichtvorlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entfernte Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Nichtvorlage auf der zentralen Rechtsschutzebene: Anregung eines Vertragsverletzungsverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsbehelfe gegen die pflichtwidrige Nichtvorlage im Rahmen der nationalen Gerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Ordentliche Rechtsbehelfsmöglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . (a) Primärer Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Antrag auf Aufhebung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Sekundärer Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Die Rechtssache Köbler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (bb) Die Rechtssache Traghetti del Mediterraneo . . . (cc) Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verfassungsbeschwerde zum BVerfG . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Mögliche verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte (b) Anforderungen an eine auf das Recht auf den gesetzlichen Richter gestützte Verfassungsbeschwerde (c) Blick auf die neuere Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . (d) Würdigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Individualbeschwerde zum EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

419 419 420 421 422 423 424 426 426 427 428 428 429 431 434 435 436 438 440

440 445 445 445 447 449 450 452 454 458 458 459 461 462 468 470

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5. Schadensersatzklage gegen die Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zulässigkeitsvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Temporäre Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Rechtsschutzbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Subsidiaritätsaspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Begründetheitsanforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Schutz gemeinschaftsrechtlicher Rechtspositionen durch den EGMR 7. Primäre Rechtsschutzmöglichkeiten im weiteren Sinne: Der Bürgerbeauftragte, das Petitionsrecht und die Nichtigkeitsklage der privilegiert Klagebefugten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Einlegung einer Petition beim Parlament . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschwerde zum Ombudsmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Anregung einer privilegierten Nichtigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis: Mittelqualifizierung als „unechte“ Rechtsbehelfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gesamtbetrachtung zu den Problemen beim Primärangriff unmittelbar individualbelastender EG-Rechtsakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Rechtswegklarheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Drohende Bestandskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gerichtszugang auf der nationalen Ebene vor dem Hintergrund der Rechtssachen Unión de Pequeños Agricultores und Jégo-Quéré . . . . . a) Mitgliedstaatlicher Rechtsschutz in Abwesenheit nationaler Durchführungshandlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Klagemöglichkeiten nach der deutschen Verwaltungsprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gerichtszugang über einen intentionellen Rechtsverstoß. . . . . . . . . 4. Unzureichende Auffangwirkung der sekundären Rechtsschutzebene 5. Gesamtschau zur Systemneuralgie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

470 470 471 472 474 475 477

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . I. Einfluss grundrechtlicher Wertungen auf das primärrechtliche EG-Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Auslegungsrelevanz der Grundrechte im Allgemeinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Primärrechtliche Auslegungsrelevanz der Rechtsschutzgarantie . . . . . II. Wesentliche Rechtsschutzfaktoren und ihr Schutzgehalt . . . . . . . . . . . . . . . 1. Bestimmung des allgemeinen Kontrollmaßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Schutzanforderungen im Einzelnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Effektiver Zugang zu einem gesetzlich errichteten Gericht . . . . . . b) Angemessene Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Abwägungskriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Fristbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rechtsfolgen der Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

479 479 480 482 484 484 485 485 490 490 492 493 496 498 501 502 502 503 505 505 508 508 512 513 514 516

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Inhaltsverzeichnis III. Systemabgleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zugang zu einer gerichtlichen Kontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitliche Angemessenheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Eingeschränkte Aussagekraft der konventionsrechtlichen Äquivalenzbestätigung durch den EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Lösungsmöglichkeiten de lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Modifikationen im Zusammenhang mit dem dezentralen Rechtsschutzzweig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verbesserung der Initiativstellung des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . b) Effektuierung der Vorlageverpflichtung durch den EuGH . . . . . . . . c) Effektuierung über die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . d) Revision der Rechtsprechung zur Bestandskraft des Vorlagegegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenresümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Modifikationen zum inzidenten Normkontrollverfahren nach Art. 241 EGV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Modifikationen zur Klagefrist der Direktklage nach Art. 230 EGV . . 4. Modifikation der Anforderungen an die individuelle Betroffenheit des Direktklägers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsfähigkeit des Begriffs der individuellen Betroffenheit . b) Norminterpretative Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Semantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Betrachtungen zur norminternen und -externen Systematik . . (1) Interne Systematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Normexterne Systematik zu Art. 249 EGV . . . . . . . . . . . . . (3) Normexterne Systematik zum allgemeinen Subsidiaritätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Weitere vertragsübergreifende und entstehungsgeschichtliche Überlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Teleologische Wertungsfaktoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenergebnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Neuauslegungsvorschläge des EuG und von Generalanwalt Jacobs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beurteilung und eigener Auslegungsansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Betrachtung rechtlicher und praktischer Einwände . . . . . . . . . . . . . . aa) Subsidiäre Rechtsschutzlast der zentralen Gemeinschaftsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Systemimmanente Grenzen prätorischer Rechtsgestaltungskompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kapazitätsüberlastung des Gerichtshofs und Verfahrensverlängerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärrechtliche Verbesserungsmöglichkeiten im Kontext zum dezentralen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Zentrale Kontrolle des nationalgerichtlichen Vorlageverhaltens . . b) Echte Initiativberechtigung des Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Modellkombinierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Funktionale Stärkung der dezentralen Gemeinschaftsgerichte . . . . e) Zwischenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Primärrechtliche Verbesserungsmöglichkeiten auf der Zentralebene . a) Effektuierung der Inzidentkontrolle nach Art. 241 EGV. . . . . . . . . b) Veränderungen im Bereich prinzipalen Rechtsschutzes . . . . . . . . . . aa) Modifikation der Klagezugangsanforderungen . . . . . . . . . . . . . bb) Einrichtung einer Grundrechtsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenschaltung eines Annahmeverfahrens . . . . . . . . . . . . . . dd) Modifikation der Klagefrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Gesamtbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Ausblick: Die Änderungen des Systems individuellen Rechtsschutzes gegen normative Unionsrechtsakte im Verfassungsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die wesentlichen Änderungen des Systems primären Rechtsschutzes. . . 1. Neue Rechtsaktssystematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Komparative Deskription der Neuerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wesentliche Schwachpunkte der neuen Systematisierung . . . . . . . . aa) Begrenzte Aussagekraft des Gesetzesbegriffs . . . . . . . . . . . . . . bb) Doppelfunktionale Stellung des Rats . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Wirkungskongruenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Beibehaltung intergouvernementaler Züge im Bereich der GASP und der GSVP. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Zwischenbewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neuregelung des Zugangs zum EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Adressatenklagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Betroffenenklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Verordnungsklagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Beschränkung auf Rechtsakte mit Verordnungscharakter . . . . bb) Beschränkung auf Rechtsakte ohne Durchführungsmaßnahmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beschränkung auf unmittelbar Betroffene. . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Bewertung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

558 558 559 559 560 560 562 563 563 563 564 565 567 568 572 572 573 573 575 576 576 576 577 578 578 579 581 582 583 584 585 586

E. Ergebnis zu Teil 4. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 592 Zusammenfassung und abschließende Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 593 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 598 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637

Abkürzungsverzeichnis a. A., A. A. ABl. Abs. AdV AEUV a. F. AfP AJDA AJIL Alt. AöR Art. Aufl. AVR BayVBl. Bd. Bearb. Beschl. Beschw.Nr(n). BGBl. Bull. EG BVerfG BverfGE BverfGG bzw. ca. C.C. CDE C.E. CMLR ColJEL DB ders. d.h. Diss. DÖV

anderer Ansicht Amtsblatt Absatz Archiv des Völkerrechts Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alter Fassung Zeitschrift für Medien- und Kommunikationsrecht Actualité Juridique Edition Droit Administratif American Journal of International Law Alternative Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Archiv des Völkerrechts Bayerische Verwaltungsblätter Band Bearbeiter Beschluss Beschwerdenummer(n) Bundesgesetzblatt Bulletin der Europäischen Gemeinschaften Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsgerichtsgesetz Beziehungsweise Cirka Conseil Constitutionnel Cahiers de droit européen Conseil d’État Common Market Law Review Columbia Journal of European Law Der Betrieb derselbe das heißt Dissertation Die öffentliche Verwaltung

28 D.R. DriZ Dt. DVBl. DZWir EAG EC EG EGKS EGMR EGV EKMR EL ELR EMRK Entsch. EPL ESA ESOC etc. EU EuG EuGH EuGH-Satzung EuGH-VerfO EuGRZ EuR EUV EUV in spe EuZW EV EWG EWS f./ff. Fn. FS FYIL GA GA/GÄ

Abkürzungsverzeichnis Decisions and Reports, Sammlung der Entscheidungen der EKMR (seit 1975) Deutsche Richterzeitung Deutsch(e/er) Deutsches Verwaltungsblatt Deutsche Zeitschrift für Wirtschafts- und Insolvenzrecht Europäische Atomgemeinschaft European Community Europäische Gemeinschaft(en) Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Kommission für Menschenrechte European Law European Law Review Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Entscheidung European Public Law European Space Agency European Space Organisation Centre et cetera Europäische Union Europäisches Gericht erster Instanz Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Verfahrensordnung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften Europäische Grundrechtszeitschrift Europarecht Vertrag über die Europäische Union Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon Europäische Zeitschrift für Wirtschaftsrecht Europäische Verfassung (Vertrag über eine Verfassung für Europa) Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht und der (die) folgende(n) Fußnote(n) Festschrift Finnish Yearbook of International Law Goltdammer’s Archiv für Strafrecht Generalanwalt/Generalanwältin

Abkürzungsverzeichnis GASP gem. GG ggf. GO GrCh GS GVG Habil.- Schr. HdBStR HK Hochsch. HRLJ Hrsg. Hs. ICJ IGH insb. i. S. i. S. d. i. S. v. i.Ü. i. V. m. JA JBl. JöR JRP JTDE Jura JuS JZ KJ lit. MDR Mio. MJ m. w. N. NAFO NdsVBl. n. F. NJW Nr.

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gemäß Grundgesetz gegebenenfalls Geschäftsordnung Charta der Grundrechte der Europäischen Union Gedächtnisschrift Gerichtsverfassungsgesetz Habilitations-Schrift Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland Handkommentar Hochschule Human Rights Law Journal Herausgeber Halbsatz International Court of Justice Internationaler Gerichtshof Insbesondere im Sinne im Sinne des/der im Sinne von im Übrigen in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Juristische Blätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts Journal für Rechtspolitik Journal des tribunaux, Droit européen Juristische Ausbildung Juristische Schulung Juristenzeitung Kritische Justiz litera (Buchstabe) Monatszeitschrift für deutsches Recht Millionen Maastricht Journal of European and Comparative Law mit weiteren Nachweisen Northwest Atlantic Fisheries Organization Niedersächsisches Verwaltungsblätter neuer Fassung Neue Juristische Wochenschrift Nummer

29

30 NVwZ RabelsZ RDI RDP RIW Rn. Rs(n). Rspr. RTDE RUDH S. SGG Slg. s. o. sog. SpStr. st. Rspr. s. u. ThürVBl. u. a. UAbs. UfR UNCIO Univ. UN(O) Urt. v. VBl.BW VE verb. VerwArch VfSlg. vgl. VO VSSR VVDStRL

Abkürzungsverzeichnis Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Rabels Zeitschrift für ausländisches und internationales Privatrecht Rivista del diritto industriale Revue du droit public et de la science politique en France et à l’étranger Recht der Internationalen Wirtschaft Randnummer(n) Rechtssache(n) Rechtsprechung Revue trimestrielle de droit européen Revue universelle des droits de l’homme Satz/Seite(n)/siehe Sozialgerichtsgesetz (amtliche) Sammlung der Entscheidungen des EuGH und des EuG siehe oben So genannte(e, er, es) Spiegelstrich Ständige Rechtsprechung siehe unten Thüringer Verwaltungsblatt und andere/unter anderem Unterabsatz Ugeskrift für Retsvæsen (Standardzeitschrift für die Veröffentlichung von Gerichtsentscheiungen) Documents of the United Nations Conference on International Organization, San Francisco, 1945 ff. Universität United Nations (Organization) Urteil von/vom Verwaltungsblätter Baden-Württemberg Verfassungsvertragsentwurf Verbundene(r) Verwaltungsarchiv Amtliche Sammlung der Erkenntnisse und wichtigsten Beschlüsse des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vergleiche Verordnung Vierteljahresschrift für Sozialrecht Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer

Abkürzungsverzeichnis VwGO WG WHI WTO Yb. YBLIC ZaöRV z. B. ZEuS ZfRV ZfV ZG Zit. ZÖR ZPJS ZPO ZRP ZSR zugl. ZUM ZUR ZZP

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Verwaltungsgerichtsordnung Working Group (Arbeitsgruppe) Walter Hallstein-Institut World Trade Organization Yearbook (Jahrbuch) Yearbook of the International Law Commission Zeitschrift für ausländisches und öffentliches Recht und Völkerrecht zum Beispiel Zeitschrift für europarechtliche Studien Zeitschrift für Rechtsvergleichung Zeitschrift für Verwaltung Zeitschrift für Gesetzgebung Zitiert Zeitschrift für öffentliches Recht Zusammenarbeit in polizeilichen und justitiellen Angelegenheiten Zivilprozessordnung Zeitschrift für Rechtspolitik Zeitschrift für Schweizerisches Recht zugleich Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht Zeitschrift für Umweltrecht Zeitschrift für Zivilprozess

Einleitung A. Problemaufriss Ein effektives System zum Schutz der Rechte des Einzelnen und die darauf bezogene Rechtsschutzgarantie1 bilden ein Kernelement aller rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Rechtsordnungen2. Nachweise ihrer Anerkennung finden sich im Völkerrecht vornehmlich in Art. 10 der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 beschlossenen Allgemeinen Erklärung der Menschrechte3 sowie in Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 19664. Speziell für den europäischen Raum begründen die Art. 6 und 13 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschrechte und Grundfreiheiten5 das maßgebende regionale Völkerrecht zum Rechtsschutzgebot. Im Gemeinschaftsrecht6 war das Recht auf Rechtsschutz bereits Gegenstand intensiver rechtswissenschaftlicher Diskussionen7. Während die TatsaDie Begriffe „Gebot effektiven Rechtsschutzes“, „Prinzip effektiven Rechtsschutzes“, „Rechtsschutzgarantie“ und „Recht auf effektiven Rechtsschutz“ u. ä. werden im Rahmen dieser Bearbeitung grundsätzlich gleichbedeutend verwendet, sofern es nicht auf eine Unterscheidung ankommt, was an gegebener Stelle deutlich gemacht wird. Es sei insoweit vorangestellt, dass deren Verwendung hier in erster Linie im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der Beschreitung angemessener prozessualer Wege zur wirksamen und hinreichenden Individualverteidigung gegen eine im Bereich des Unionsrechts ergangene belastende Maßnahme erfolgen soll und mithin auf die Rechtsweggarantie im weiteren Sinne gerichtet ist. Andere mit ihr verbundene Rechtsschutzausprägungen wie etwa das Recht auf ein faires Verfahren und auf Gewährung rechtlichen Gehörs sollen hier demnach keine vordergründige Rolle spielen, sondern vielmehr nur an den ihre gesonderte Behandlung gebietenden Stellen einer Erörterung unterzogen werden. 2 Ähnlich Nettesheim, JZ 2002, 928. 3 AllgErklMenschenR: Sartorius II Nr. 19; internationale Quelle: Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records (GAOR), Third Session (part I), Resolutions (Doc. A/810), 71. 4 IPbürgR: BGBl. 1976 II 1068; Sartorius II Nr. 20. 5 EMRK vom 4. November 1959; BGBl. II 1952 685; abgedruckt u. a. in Sartorius II Nr. 130; die Konvention ist von sämtlichen Mitgliedstaaten der europäischen Union unterzeichnet und ratifiziert worden. 6 Auf dieses soll sich die vorliegende Arbeit im Wesentlichen konzentrieren. Soweit von besonderem Interesse, werden auch Exkurse in das weitere Unionsrecht 1

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Einleitung

che seiner Anerkennung dabei keiner streitigen Auseinandersetzung mehr unterliegt, wird die rechtsdogmatische Einordnung und Herleitung dieses Rechts in Rechtsprechung und Literatur bis heute nicht vollends einheitlich vorgenommen. Der wesentliche Grund für die divergierenden Ansätze dürfte primär in dem Fehlen einer ausdrücklichen, etwa dem Art. 19 Abs. 4 des deutschen Grundgesetzes vergleichbaren Regelung im Unionsrecht zu sehen sein8. Die Abwesenheit einer geschriebenen Rechtsgrundlage vermag jedoch schon im Hinblick auf die unterschiedlichen die Rechtsschutzgarantie betreffenden Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten nicht sonderlich zu überraschen. Haben einige Mitgliedstaaten jenes Recht nämlich schriftlich und hierbei mehr oder minder explizit geregelt9, so wird es in anderen Ländern aus – teils ihrerseits ungeschriebenen – Rechtsgrundsätzen hergeleitet, so etwa in Frankreich aus dem Recht auf den gesetzlichen Richter10 sowie in den beiden anglophonen Mitgliedstaaten aufgrund der dort vorwiegend von „common law“ geprägten Rechtssysteme11. Erst ein Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon12 könnte hier in der Zukunft zumindest partielle Abhilfe schaffen. erfolgen. Die Begriffe Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht sowie deren terminologische Derivate werden demnach im hiesigen Rahmen grundsätzlich einheitlich verwendet, sofern es nicht auf eine Differenzierung ankommt, die ggf. kenntlich gemacht wird. 7 Verwiesen sei bereits hier insbesondere auf die Darstellung bei Tonne, Rechtsschutz, S. 200 ff. und S. 309 sowie die weiteren Nachweise ebenda. 8 Hierzu schon Bleckmann, in: FS Menger, S. 871, 884 f.; Sack, EuR 1985, 319, 325 f.; Feger, Jura 1987, 6 ff. Die Regelungen der Grundrechte-Charta bleiben hier zunächst unbeachtet. Ihre möglichen Rechtswirkungen sollen später einer eingehenden Erörterung zugeführt werden. 9 So neben Deutschland etwa auch Italien (vgl. Art. 113 der Verfassung der italienischen Republik vom 27. Dezember 1947), Finnland (vgl. Art. 17 Abs. 2 der Verfassung der Republik Finnland vom 11. Juni 1999), Griechenland (vgl. Art. 20 I der Verfassung der Griechischen Republik vom 9. Juni 1975), Portugal (vgl. Art. 20 der Verfassung der portugiesischen Republik vom 2. April 1976), Schweden (vgl. Kapitel 2 § 9 der Verfassung des Königreichs Schweden vom 1. Januar 1975) und Spanien (vgl. Art. 17 IV der Verfassung des Königreichs Spanien vom 20. Dezember 1978). 10 Sog. „droit au juge“. Soweit dieses Recht etwa die Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte enthält, erfolgt dabei die Herleitung auf der Grundlage der Französischen Verfassung von 1958, soweit die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit gemeint ist, wird es den allgemeinen Rechtsgrundsätzen („principes fondamentaux“) entnommen. 11 Indessen befinden sich in der irischen Verfassung zumindest partielle Anforderungen an das Strafverfahren (vgl. Art. 38 der Verfassung der Irischen Republik vom 1. Juli 1937). 12 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Entwurf im Internet abrufbar unter www.consilium.europa.eu/igcpdf/de/07/cg00/cg00001-re01.de07.

B. Gang der Untersuchung

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Hinsichtlich der aus der Rechtsschutzgarantie folgenden Systemanforderungen wird fernerhin nicht einheitlich beurteilt, ob das derzeitige Verfahrensrecht der EU tatsächlich einen wirksamen Schutz jener materiellen Rechte gewährleistet, welche die Rechtsordnung dem Einzelnen verleiht. Denn soweit der EG-Vertrag ein recht differenziertes System von Rechtsbehelfen zur Erlangung eines Judikats des EuGH zu Fragen von gemeinschaftsrechtlichem Belang vorsieht, dessen Nutzung teilweise auch privaten Rechtsträgern offen steht, so beschränken sich die letzteren zugänglichen Möglichkeiten doch nicht selten auf die Verfolgung eines indirekten Rechtsschutzes und bergen dabei partiell die Gefahr, im Einzelfall gänzlich auszufallen. Die betreffenden Zweifel an der Wirksamkeit des Rechtsschutzsystems konzentrieren sich hierbei vor allem auf die Erreichbarkeit hinreichenden primären Rechtsschutzes gegen solche Rechtsakte der Union, die mit normativer Wirkung die Rechtspositionen des Einzelnen beschneiden.

B. Gang der Untersuchung Solange es an einer schriftlichen und unmittelbar rechtsverbindlichen Normierung der Rechtsschutzgarantie im Unionsrecht mangelt, erscheint es nicht ohne weiteres möglich, die rechtlichen Quellen des hier interessierenden Rechts punktgenau zu ermitteln. Erst die Feststellung der Rechtsnatur und der Rechtsgrundlagen erlaubt unterdessen eine hinreichende Bestimmung seines Schutzgehalts im Allgemeinen sowie auch im Einzelfall. Da manche der hier in den Mittelpunkt zu rückenden rechtlichen Grundlagen ihrem Wortlaut nach wohl allein Grundrechte abdecken, so etwa Art. 6 Abs. 2 EUV13, andere hingegen, wie die Charta der Grundrechte14, sowohl solche als auch objektiv-rechtliche Grundsätze beinhalten können, ist das Bedürfnis festzustellen, die in Betracht kommenden Rechtsquellen im Vorfeld einer Effektivitätskontrolle auf den Kreis der zutreffenden Quellen einzugrenzen. pdf.). Sofern es im Rahmen dieser Bearbeitung auf die Regelungen des EUV in der in dem Vertrag von Lissabon vorgesehenen Fassung ankommt, werden die Regelungen des EUV regelmäßig als „Art. XY EUV in spe“ bezeichnet. 13 Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 (ABl. EG C 191 vom 29. Juli 1992; Vertrag von Maastricht) in der Fassung des Beschlusses vom 1. Januar 1995 (ABl. EG L 1/1), geändert durch den Amsterdamer Vertrag (ABl. EG C 340 vom 10. November 1997) in der konsolidierten Fassung vom 24. Dezember 2002 (ABl. EG C 325 vom 10. März 2003, Vertrag von Nizza). 14 Zu finden in EuGRZ 2000, 554 ff.; ebenfalls abgedruckt als Sonderbeilage zur Jus 2000, NJW 2000, H. 49 (mit Anm. von Hilf, 5 ff.) sowie im Sartorius II Nr. 146. Die Charta soll – mit kleineren redaktionellen Modifikationen – im wesentlichen unverändert als Teil II in die Europäische Verfassung aufgenommen werden.

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Einleitung

Vor diesem Hintergrund wird in der vorliegenden Bearbeitung in einem ersten Schritt zu klären sein, welche Rechtsnatur das hier interessierende Recht im Rechtssystem der EU aufweist, namentlich ob es sich um ein echtes Grundrecht oder aber nur um ein objektives Rechtsgebot handelt. Im Zuge dieser Untersuchung wird auch der Frage nachzugehen sein, welche Rechtsnatur den im Unionsrecht gewährten Grundrechten zukommt (zu alledem Teil 1). Auf der Suche nach den rechtlichen Quellen der Rechtsschutzgarantie werden sodann nicht zuletzt mit Blick auf die „raison d’être“ der Verfahrensrechte zunächst die materiellen Grundrechte der EU, die ihrerseits mannigfaltige Grundlagen haben können, als Rechtsquellen ins Zentrum der Überlegungen zu rücken sein. Hiermit einhergehend werden nicht zuletzt das Prinzip des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber dem nationalen Recht15 sowie das aus Art. 10 EGV resultierende Gebot der Gemeinschaftstreue, auf welchem auch das Prinzip der praktischen Wirksamkeit fußt, von Interesse sein. Darüber hinaus wird aber insbesondere Art. 6 Abs. 2 EUV als mögliche rechtliche Grundlage des Rechts auf effektiven Rechtsschutz in den Fokus der Überlegungen geraten, wobei eine erste maßgebende Weichenstellung durch die Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Bedeutung dieser primärrechtlichen Regelung vorzunehmen sein wird. Die Pluralität der durch sie in Bezug genommenen Quellen, namentlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze, der EMRK und der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, wird zudem die Inzidentfrage nach der allgemeinen Grundrechtsquellensystematik des Unionsrechts mit sich bringen. Im unmittelbaren Zusammenhang hierzu wird auch die aktuelle Bedeutung der Grundrechte-Charta im unionalen Grundrechtsquellengefüge zu erörtern sein (zu alledem Teil 2). In Ermangelung einer Formalverbindlichkeit wird die Charta der Grundrechte16 zugleich und vornehmlich im Rahmen des sich daran anschließenden Ausblicks auf weitere mögliche Entwicklungen des unionalen Grundrechtssystems im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen und mit ihr einhergehend der zwar paraphierte, aber mangels vollständiger Ratifizierung noch nicht in Kraft getretene Vertrag von Lissabon. Daneben wird nicht zuletzt im Hinblick auf dessen etwaige Rechtsverbindlichkeit pro futuro die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit eines Beitritts der EU zur EMRK von Interesse sein (zu alledem Teil 3). In einem letzten Teil soll schließlich das in beachtlichem Maße prätorisch geprägte EG-Rechtsschutzsystem im Teilgebiet des Systems direkten 15 s. dazu grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 (Costa/ENEL); BVerfGE 31, 145, 174; ausführlicher Hirsch, NJW 2000, 1817 ff. 16 Fortan regelmäßig abgekürzt mit GrCh.

B. Gang der Untersuchung

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und indirekten Individualrechtsschutzes gegen normative Rechtsakte der Gemeinschaft am Maßstab der Rechtsschutzgarantie überprüft und im Falle der Feststellung eines Schutzdefizits Modifizierungsvorschlägen zugeführt werden (dazu Teil 4). Angesichts der herausragenden Bedeutung der Rechtsprechung des EuGH für die Entwicklung des Unionsrechts im Allgemeinen und für das System der Grundrechte und des prozessualen Individualschutzes im Speziellen wird diese immer wiederkehrender Dreh- und Angelpunkt der gesamten Bearbeitung sein.

Teil 1

Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie Einige der als rechtliche Grundlage der Rechtsschutzgarantie in Betracht kommenden Rechtsquellen können, wie etwa Art. 6 Abs. 2 EUV schon seinem Wortlaut nach, ohne weiteres dem Regime des Grundrechtsschutzes zugeordnet werden, während andere in erster Linie allgemeine Grundsätze oder aber, wie etwa Art. 6 Abs. 1 EUV, beiderlei betreffen. In einem ersten Schritt der vorliegenden Untersuchung ist folglich der Frage nachzugehen, ob die Rechtsschutzgarantie ihrerseits ein veritables Grundrecht oder ein von den Grundrechten zu trennendes objektives Rechtsgebot ist, von welchem gegebenenfalls subjektiv schützende Rechtswirkungen oder auch nur individualschützende Rechtsreflexe ausgehen könnten. Das Klärungsbedürfnis der damit aufgeworfenen Frage speist sich vor allem aus der uneinheitlichen begrifflichen Behandlung und Einordnung der Rechtsschutzgarantie und ihrer einzelnen Schutzelemente in der europäischen Rechtsprechung und Literatur. Die Problematik verlöre indes erheblich an Brisanz, wenn sämtliche Grundrechte der Union ihrer Rechtsnatur nach nur objektiv-rechtliche Elemente des Gemeinschaftsrechts sind, wofür insbesondere die vom EuGH geprägte und hier näher zu behandelnde Grundrechtsformel sprechen könnte. Da in diesem Falle zumindest in rechtsnatürlicher Hinsicht eine Differenz zwischen den einzelnen in Betracht kommenden Rechtsgrundlagen nicht festzustellen wäre und die Rechtsquellenanalyse sodann anhand weiterer Kriterien zu erfolgen hätte, muss die Erörterung der zuletzt aufgeworfenen Frage zur Rechtsnatur der Unionsgrundrechte notwendig der Bestimmung der rechtlichen Natur der Rechtsschutzgarantie vorausgehen.

A. Die Unionsgrundrechte und ihre Rechtsnatur Der Grundrechtsschutz war kein schon bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaften im Zentrum der Überlegungen stehender Rechtsbereich17. Vor der Klärung der Rechtsnatur der Grundrechte ist daher ein 17 Ausnahmen bilden indessen die bereits im Vertrag zur Gründung der EGKS vom 18. April 1951 enthaltenen Diskriminierungsverbote (vgl. Art. 4) sowie die schon im Vertrag zur Gründung der EWG vom 25. März 1957 enthaltenen Grundfreiheiten, sofern man diesen grundrechtlichen Charakter zusprechen möchte: mit

A. Die Unionsgrundrechte und ihre Rechtsnatur

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kurzer Überblick zur Entstehung und Entwicklung des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes zu gewinnen.

I. Kleine Geschichte des Grundrechtsschutzes im Rechtssystem der EU Lässt sich im Gesamtkontext zum europäischen Integrationsprozess auf der einen Seite die anfängliche Abwesenheit grundrechtlicher Gewährleistungen mit Blick auf die ursprünglichen Gründungszwecke der Gemeinschaften erklären, so bildete andererseits gerade die stetig vorangeschrittene und weiterhin voranschreitende Integration von Märkten und Rechtsräumen innerhalb der Europäischen Union den wesentlichen Hintergrund für die Geschichte der Gemeinschaftsgrundrechte. 1. Anfangs fehlender gemeinschaftsrechtlicher Grundrechtsschutz Zu Beginn des Zusammenschlusses der europäischen Völker zu einer „europäischen Völkerfamilie“18 stand die Idee der dauerhaften Friedenssicherung durch eine immer engere Verzahnung der nationalen Industrien und damit die Schaffung einer gegenseitigen Abhängigkeit unter diesen. Aufgrund des auf Jean Monnet und Robert Schuman zurückzuführenden Plans der stufenweisen Zusammenlegung und gemeinsamen Kontrolle der nationalen Schlüsselindustrien im Rahmen einer von den einzelnen Staaten unabhängigen supranationalen Organisation gelang es in einem ersten Schritt mit der Gründung der EGKS19, nationalökonomische Gründe und Hinweis auf ihren Charakter als Diskriminierungs- und Beschränkungsverbote bejahend etwa Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 7, Rn. 15 sowie § 13, Rn. 12; ähnlich schon Szczekalla, Grundrechte, in: Rengeling, Umweltrecht, § 12, Rn. 5.; vorwiegend kritisch unter besonderer Hervorhebung der einzelnen Unterschiede etwa Nicolaysen, EuR 2003, 719, 737 f.; in diesem Sinne auch schon Beutler, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. F EUV, Rn. 107 ff.; vgl. zu der entsprechenden Diskussion bereits Bleckmann, Freiheiten als Grundrechte, in: GS Sasse, S. 665 ff.; vgl. im Übrigen die ausführlichen Thematisierungen bei Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, insb. S. 74 ff., sowie bei Szczekalla, Wirtschaftliche Grundrechte und EG-Grundfreiheiten, in: Bruha/Petzold/Nowak, Grundrechtsschutz im Binnenmarkt, S. 79 ff. 18 So schon angeregt von Winston Churchill in seiner Rede an die akademische Jugend an der Universität Zürich vom 19. September 1946, Auszug abgedruckt bei Brunn, Die Europäische Einigung von 1945 bis heute, S. 315 ff. 19 Der Pariser Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl wurde am 18. April 1951 von den Gründerstaaten Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande unterzeichnet und trat am 23. Juli 1952 in Kraft. Der Vertrag ist zum 23. Juli 2002 ausgelaufen (vgl. Art. 97

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

vor allem Streitigkeiten um den wertvollen Rohstoff Karbon als Kriegsmotiv weitgehend auszuschalten20. Nachdem im Anschluss daran der 1952 unternommene und für die damalige Zeit zweifelsohne mutige Versuch zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft 2 Jahre später am Widerstand der französischen Nationalversammlung sowie fast zeitgleich auch der erste Versuch politischer Zusammenarbeit innerhalb einer „Europäischen Politischen Gemeinschaft“21 scheiterte, besann man sich darauf, zunächst einmal die begonnene wirtschaftliche Integration voranzutreiben und im Wege des so genannten „Spill-over-Effekts“ als notwendige, ja quasi „automatische“ Konsequenz eine fortschreitende politische Integration folgen zu lassen22. Auf dieser Basis schritt insbesondere mit der Gründung der EWG23 zunächst die wirtschaftliche Verbindung unaufhaltsam voran, während die gleichfalls anvisierte politische Integration, die vor allem durch die Fortentwicklung der existenten Strukturen zu einer neuen Einheit erreicht werden sollte24, nicht so recht in Bewegung kam. Hier stellte erst die im Rahmen der Einheitlichen Europäischen Akte25 vereinbarte politische Kooperation im Bereich der Außenpolitik in dieser Entwicklung die wohl maßgebliche Zäsur im Integrationsprozess dar26. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund hielt sich der EuGH bei der Entwicklung und Anwendung von materiellen Grundrechten anfangs deutlich zurück27, waren die europäiEGKS); die Politikbereiche Kohle und Stahl unterfallen künftig dem Anwendungsbereich des EG-Vertrags; auch das Vermögen der EGKS ging mit Beendigung der Montanunion auf die EGV über. 20 Vgl. nur die Präambel des Vertrages zur Gründung der EGKS, in welcher vor dem Hintergrund der „jahrhundertealten Rivalitäten“ und der „blutigen Auseinandersetzungen“ ausdrücklich das Ziel der Sicherung des „Weltfriedens“ durch die „Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung“ und durch die „Hebung des Lebensstandards“ genannt wird. 21 Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass der Plan für die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) vom 9. März 1953, der auf Initiative der damaligen Außenminister verfasst und veröffentlicht wurde, erhebliche Parallelen zur heutigen EU aufwies, soweit er auf eine gemeinschaftliche Koordinierung der Außen-, Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten gerichtet war (s. dazu auch die rechtsvergleichenden Betrachtungen von Berthold, Die EPG 1953 und die EU 2001, insb. S. 59 ff.). 22 Vgl. hierzu nur Streinz, Europarecht, Rn. 20. 23 Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ist am 1. Januar 1958 in Kraft getreten. 24 Vgl. dazu im Einzelnen Schweitzer/Hummer, Europarecht, § 1, B II. 25 Die EEA vom 18. Februar 1986 (ABl. EG L 169 vom 29. Juni 1987) ist am 1. Juli 1987 in Kraft getreten und hatte in erster Linie die essentielle Funktion der Einführung des Binnenmarktes zum Gegenstand. 26 So auch Fischer, Der Vertrag von Nizza, S. 16. 27 Vgl. insofern insbesondere die Entscheidung EuGH, Rs. 36/59, Slg. 1960, 885, 920 f. (Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft), in welcher der Gerichtshof dogmatisch

A. Die Unionsgrundrechte und ihre Rechtsnatur

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schen Gemeinschaften bei ihrer Gründung doch primär ökonomisch-integrativ ausgerichtet und hatten als Ziel also keine Grundrechtsgemeinschaft vor Augen28. Es erstaunt demnach nicht, dass einige Stimmen im Schrifttum noch in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts gar keine oder nur die geringe Gefahr einer klassischen Grundrechtsverletzung durch EG-Maßnahmen sahen29. 2. Entwicklung eines eigenen Grundrechtsregimes Allerdings darf nicht übersehen werden, dass schon das geschriebene Primärrecht nicht ganz zur Frage nach der Gewährung „subjektiver Rechtspositionen“ schwieg30. Vielmehr fanden und finden individuellrechtliche und darunter auch grundrechtliche Elemente jedenfalls vereinzelt, wenn teilweise auch nur fragmentarisch, Erwähnung in den Gemeinschaftsverträgen. Zu nennen sind etwa – ausgehend von den aktuellen Vertragsfassungen – das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art 12 EGV als Ausdruck eines allgemeinen Gleichheitssatzes sowie die speziellen Unterfälle desselben31, der in Art. 30 und 295 EGV erwähnte Eigentumsschutz, die Vereinigungsfreiheit nach Art. 140 EGV, das Geschäfts- und Berufsgeheimnis nach Art. 287 EGV und Art. 194 EAGV, der Datenschutz gemäß Art. 286 EGV sowie schließlich das Petitionsrecht gemäß den Art. 21 und 194 EGV. Auch der EuGH erkannte recht früh, dass die mit der kontinuierlichen europäischen Integration Hand in Hand gehende, stetige Zunahme hoheitlicher Aufgaben der supranationalen32 Europäischen Gemeinschaften den zutreffend die Zugrundelegung nationaler Grundrechte unter Verweisung auf den Vertragstext und die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts ablehnte, zugleich aber betonte, bislang „weder einen geschriebenen noch einen ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsatz“ zur Begründung eines Eigentumsrechts im Gemeinschaftsrechts herleiten zu können; ähnlich EuGH, Rs. 40/64, Slg. 1965, 295, 312 (Sgarlata). 28 Vgl. dazu Zimmerling, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Anhang zu Art. 6 EUV, Rn. 14. 29 So etwa Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 721; ähnlich Bernhardt, Bull. EG Beil. 5/76, 19, 28; Kutscher, Der Schutz von Grundrechten im Recht der Europäischen Gemeinschaften, in: Kutscher/Rogge/Matscher, Grundrechtsschutz, S. 35, 45; Mosler/Bernhardt, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 205, 216. 30 Insofern etwas pauschal v. Bogdandy, JZ 2001, 157, soweit er ausführt, Grundrechte fänden in den ursprünglichen Verträgen keine Erwähnung. 31 s. hierzu insbesondere die Art. 23, 25, 28, 34 Abs. 2, 39, 43, 56, 72, 81, 82, 90, 141, 294 EGV sowie die Art. 52 und 93 EAGV. 32 Vgl. zur „Supranationalität“ der Europäischen Gemeinschaften als mit einer eigenständigen Rechtsordnung ausgestattete Staatenverbindung eigener Art sowie zu weiteren unterschiedlichen Ansichten zur rechtlichen Charakterisierung derselben

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie33 nur dann hinreichend Rechnung tragen kann, wenn auch auf europäischer Ebene Grundrechte als Rechtmäßigkeitsmaßstab hoheitlichen Handelns Geltung beanspruchen34. Trotz dieser Erkenntnis und der Postulation des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber mitgliedstaatlichem Recht35 weigerte sich der EuGH – insoweit rechtsdogmatisch zutreffend –, nationale Grundrechte als Kontrollmaßstab für auf dem Gebiet des Europarechts ergangene Rechtsakte heranzuziehen36. Im Jahre 1969 leitete der Gerichtshof sodann in der Rechtssache Stauder37 die fällige Wende ein. In dieser Angelegenheit wandte sich der Kläger unter Berufung auf seine Grundrechte, darunter vor allem das allgemeine Persönlichkeitsrecht, gegen eine auf einer gemeinschaftsrechtlichen Entscheidung basierende nationale Regelung, nach welcher jeder Empfänger der Kriegsopferfürsorge zum Erhalt eines Gutscheins für Butter den eigenen Namen angeben musste38. Zur Beantwortung der ihm durch das mitgliedstaatliche Instanzgericht vorgelegten Frage ließ sich der EuGH im Wesentlichen von den in den Schlussanträgen des Generalanwalts Römer enthaltenen Erwägungen zum Grundrechtsschutz inspirieren und bejahte unter Berufung auf seine Funktion als Hüter des Rechts im Sinne des Art. 220 EGV erstmals die Existenz der „in den allgemeinen Grundsätzen der Gemeinschaftsrechtsordnung (. . .) enthaltenen Grundrechte“39, die als ungeschriebener Bestandteil des Gemeinschaftsrechts aus den gemeinsamen Wertvorstellungen des nationalen Verfassungsgebers, insbesondere der nationalen die Übersicht bei Bleckmann, Europarecht, Rn. 735 und bei Schweitzer/Hummer, Rn. 83 sowie in der Rechtsprechung insbesondere EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 f. (Costa/ENEL) und BVerfGE 22, 293, 296 (EWG-Verordnungen); BVerfGE 31, 145, 173 (Milchpulver); BVerfGE 89, 155 (Maastricht). 33 Vgl. zu diesen ausführlicher – auch im Lichte des Verfassungsentwurfs – Calliess, in: FS Ress, S. 399, 400 ff. 34 So deutlich schon EuGH, Rs. 36/59, Slg. 1960, 885, 920 f. (Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft). 35 Vgl. hierzu grundlegend EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (Van Gend & Loos) und EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (Costa/ENEL); dazu ausführlicher Everling, DVBl. 1985, 1201 m. w. N., vgl. ferner Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 285. 36 So implizit bereits die Entscheidung EuGH, Rs. 1/58, Slg. 1958–59, 42, 64 (Stork/Hohe Behörde); sodann deutlich EuGH, verb. Rsn. 36–38 und 40/59, Slg. 1960, 887, 920 f. (Präsident Ruhrkohlen-Verkaufsgesellschaft u. a.). 37 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 (Stauder/Stadt Ulm). 38 Unter anderem die deutsche Fassung der Entscheidung wich dabei sprachlich von den anderen Fassungen ab, soweit in Letzteren nur eine „Individualisierung“ des Anspruchsstellers vorgesehen war. 39 EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419, 427 f. (Stauder); ähnlich wenig später EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft).

A. Die Unionsgrundrechte und ihre Rechtsnatur

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Grundrechte durch wertende Rechtsvergleichung zu ermitteln seien40. Mit seiner Entscheidung hat der Gerichtshof folglich den Anwendungsbereich der ausweislich des Art. 38 Abs. 1 lit. c) des IGH-Statuts auch im Völkerrecht existenten Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze, die in den unionsrechtlichen Sphären in Art. 215 Abs. 2 EGV a. F. (Art. 288 Abs. 2 EGV n. F.) und Art. 188 Abs. 2 EAGV explizit nur für die außervertragliche Haftung der Gemeinschaften vorgesehen war, auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes fruchtbar gemacht und insoweit bestätigt, dass diese eine vom geschriebenen Recht losgelöste allgemeine Rechtsquelle des Gemeinschaftsrechts bildet41. Indem der EuGH in einem Atemzug die gemeinsamen nationalen Wertvorstellungen zur grundrechtlichen Inspirationsquelle auserkor, gab er zugleich zu verstehen, den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz wesentlich mit den mitgliedstaatlichen Grundrechtsregimes rückkoppeln zu wollen. Die erstmalige Anerkennung der Grundrechtsgeltung in der Gemeinschaft als besonders integrativer Internationaler Organisation mit Durchgriffswirkung im innerstaatlichen Rechtsraum42 begründet demnach die Geburtsstunde des Grundrechtsschutzes im gemeinschaftsrechtlichen Rechtssystem43. Nicht zuletzt in Reaktion auf die Anmahnung eines äquivalenten gemeinschaftsrechtlichen Schutzniveaus insbesondere durch das deutsche Bundesverfassungsgericht44 sowie die italienische Giurisprudenza Costitutionale45 gewann der Grundrechtsschutz in der nachfolgenden Rechtsprechung des EuGH zunehmend an Bedeutung46. Im Zuge der Fortführung der neuen 40 Der Gerichtshof beantwortete die Vorabentscheidungsfrage dahingehend, dass die betroffene Entscheidung einer einheitlichen Auslegung bedürfe und hierbei der weniger belastenden Interpretation der Vorzug zu geben sei, sofern auch diese der Erreichung des Entscheidungszieles genüge. 41 Bereits zuvor und – soweit ersichtlich – erstmals hat der EuGH die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Grundlage des Rechtsstaatsprinzips, der Legalität sowie des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit fruchtbar gemacht, vgl. EuGH, verb. Rs. 7/56, 3/57 bis 7/57, Slg. 1957, 83 ff. (Algera u. a.). 42 Dazu Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 86. 43 So etwa auch Dauses, JöR 1982, 1, 4. 44 Vgl. BVerfGE 37, 271, 285 (Solange I). 45 Vgl. Giur. Cost., EuR 1974, 253 (Frontini ed altri/Admministrazione Finanze Stato), in englischer Übersetzung abgedruckt in CMLR 1974, 383 ff., in französischer Übersetzung abgedruckt in RTDE 1974, 148 ff. s. für entsprechende Bekundungen in der früheren Rechtsprechung des spanischen Tribunal Constitucional Castillo de la Torre, CMLR 2005, 1169, 1171, Fn. 7 und 8, sowie 1197, Fn. 79. 46 Vgl. exemplarisch für die anfängliche Entwicklung insbesondere die folgenden Urteile: EuGH, Rs. 25/70, Slg. 1970, 1161 (Köster u. a.); EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (Nold): in dieser Rechtssache zog der EuGH erstmals auch die internationalen Verträge zum Schutze der Menschrechte als „Hinweis“ für die Geltung der

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Rechtsprechung hat der EuGH die Geltung unterschiedlichster Grundrechte anerkannt, deren Bandbreite von der Würde des Menschen47 und der damit verbundenen körperlichen Unversehrtheit der Person48, über die Berufsfreiheit49 und die Eigentumsfreiheit50 bis hin zur allgemeinen Handlungsfreiheit reicht51.52 Flankiert wurde diese Entwicklung durch die gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. April 197753, in welcher sich jene drei Gemeinschaftsorgane feierGrundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze heran; vgl. ferner EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219, Rn. 32 (Rutili): in dieser Rechtssache berief sich der EuGH im Bereich der Grundfreiheiten, in concreto der Freizügigkeit, zur Herleitung allgemeiner Rechtsgrundsätze erstmals ausdrücklich auf die EMRK und das vierte ihrer Zusatzprotokolle. Die Einbeziehung der EMRK in die Grundrechtshermeneutik folgte damit zeitnah auf den Beitritt Frankreichs zur EMRK am 3. Mai 1974 als letztem EG-Mitgliedstaat. Vgl. zur weiteren Entwicklung exemplarisch EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, 1589 (Prais); EuGH, verb. Rsn. 117/76 u. 16/77, Slg. 1977, 1753 (Ruckdeschel u. a.); EuGH, 124/76, Slg. 1977, 1795 (Moulins Pont-à-Mousson); EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (Hauer), EuGH, 136/79, Slg. 1980, 2033 (National Panasonic), EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 (Hoechst/Kommission). Vgl. zu Bedeutung der Entscheidung in der Rechtssache Nold für die Anerkennung eines gleichwertigen Grundrechtsschutzes BVerfGE 73, 339, 379 (Solange II). 47 Dazu etwa EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 70 ff. (Biopatentrichtlinie); EuGH, Rs. 36/03, Slg. 2004, I-6909, Rn. 34 (Omega). 48 Hierzu EuGH, Rs. 377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 70 und 78 ff. (Biopatentrichtlinie). 49 Zu dieser bereits EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, 507, Rn. 14 (Nold). 50 Dazu schon EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 17 (Hauer); vgl. auch jüngst wieder EuGH, verb. Rsn. C-154/04 u. C-155/04, Slg. 2005, I-6451, Rn. 125 (Alliance for natural health u. a.). 51 Vgl. hierzu die ausdrückliche Erwähnung bei EuGH, verb. Rsn. 133/85, 134/85 u. 136/85, Slg. 1987, 2289, Rn. 15 (Rau u. a./BALM). 52 Die Aufzählung ist nur beispielhaft. Weiterhin anerkannt sind insbesondere auch die Meinungs- und Versammlungsfreiheit [vgl. etwa EuGH, Rs. 260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 44 (ERT) oder auch EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, 4619, Rn. 137 (Montecatini/Kommission)], die Unverletzlichkeit des Privatlebens [vgl. etwa EuGH, Rs. C-404/92 P, Slg. 1994, I-4737, Rn. 17 (X/Kommission)], die Religionsfreiheit [vgl. EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, 1589, Rn. 10 ff. (Prais)], die Vereinigungsfreiheit [vgl. erstmals EuGH, Rs. 175/73, Slg. 1974, 917, Rn. 9 ff. (Europäischer Gewerkschaftsbund) sowie deutlicher etwa jüngst wieder EuGH, Rs. C-499/04, Slg. 2006, I-2397, Rn. 33 (Werhof)] und nicht zuletzt der Gleichheitsgrundsatz [vgl. zu diesem in seiner allgemeinen Form EuGH, Rs. C-122/95, Slg. 1998, I-973, Rn. 62 (Deutschland/Rat); EuGH, Rs. C-368/96, Slg. 1998, I-7967, Rn. 61 (Generics u. a.)]. s. auch die umfassende Behandlung der bis dahin einschlägigen Rechtsprechung bei Sudre/Quellien/Rambion/Salviejo, Droit communautaire des droits fondamentaux, Brüssel 1999. 53 ABl. EG 1977 C 103; abgedruckt in EuGRZ 1977, 157 mit Anmerkung Hilf, EuGRZ 1977, 158 ff. Die Erklärung geht im Wesentlichen auf die Anregung von Bernhardt, Bull. EG, Beil. 5/76, 1976, 19 ff. zurück.

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lich und insoweit zwar nicht rechtsverbindlich, wohl aber in der Form von „soft law“54 in rechtspolitischer und somit rechtlich nicht ganz unerheblicher Weise55 dazu verpflichteten, die Grundrechte zu achten, „wie sie insbesondere aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten hervorgehen“56. Eine besondere mitgliedstaatliche Bestätigung erhielt der peu à peu entwickelte Grundrechtsstandard zudem durch die entsprechende Bezugnahme der Präambel der EEA sowie durch die ebenfalls zumindest in rechtspolitischer Hinsicht relevante Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. April 198957. Die Entwicklung ging weiter über die Aufnahme des Grundrechtsschutzes in den dritten Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrags sowie die Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV und mündete in die feierliche Proklamierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union58 und deren Einbeziehung in den EU-Reformprozess. 3. Anerkennung des primärrechtlichen Rangs und der unmittelbaren Geltung der Grundrechte Dass der EuGH im Laufe seiner Grundrechtsrechtsprechung zum einen die Grundrechte als unmittelbaren Rechtmäßigkeitsmaßstab für sekundär54 Ausführlicher zur Rechtsfigur des „soft law“ im Gemeinschaftsrecht Bothe, in: FS Schlochauer, S. 761 ff. 55 Interessanterweise sah das BVerfG in dieser Erklärung wohl einen Fall gemeinsamer Übung i. S. d. Art. 31 III lit. b WVK [vgl. BVerfGE 73, 339, 383 f. (Solange II)]. s. für eine Bezugnahme auf die gemeinsame Erklärung in der Rechtsprechung EuGH, Rs. 4/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 (Hauer). Auch in der Literatur hat sie viel Beachtung gefunden (s. etwa ihre Behandlung bei Bahlmann, EuR 1982, 1, 9 f.; Bleckmann, NVwZ 1993, 824, 826, Fn. 25; Borchardt, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 164, Rn. 29; Hilf, EuGRZ 1977, 158, 160; Kutscher, Der Schutz von Grundrechten im Recht der Europäischen Gemeinschaften, in: ders./Rogge/Matscher, Grundrechtsschutz, S. 35, 43; Schweitzer, JA 1982, 174, 178, Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 183). 56 Die Formulierung ähnelt offenkundig jener des Art. 6 Abs. 2 EUV, ist mit ihr jedoch nicht identisch. 57 Abgedruckt in ABl. EG 1989 C 120 sowie in EuGRZ 1989, 205 ff. Hinzuweisen ist ferner auf die Erklärung des Europäischen Rates vom 8. April 1978 (Bull. EG Nr. 3 – 1978, 5), die Entschließung des Europäischen Parlaments vom 27. April 1979 (EuGRZ 1979, 257), die Erklärung der Kommission vom 4. Juli 1979 (Bull. EG Beil 2/79) zum EMRK-Beitritt sowie die Erklärung der Kommission vom 26. Juli 1975 (Bull. EG Beil. 5/75) zur Schaffung eines Grundrechtskatalogs. 58 Die Verkündung erfolgte im Rahmen des Europäischen Rates von Nizza vom 7. bis 11. Dezember 2000. Zur rechtlichen Verbindlichkeit und Bedeutung der GrCh im System der aktuellen Grundrechtsquellen ausführlich unten in Teil 2 unter B. III. 3. a).

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rechtliche Gemeinschaftsrechtsakte herangezogen hat59 und er zum anderen auch Bestimmungen der Gründungsverträge, in casu Art. 66 in Verbindung mit Art. 56 EGV a. F.60, in einen rechtlichen Prüfungskontext zu den Grundrechten der Gemeinschaft stellte61 sowie dass er in späteren Fällen Konflikte zwischen einer Grundfreiheit und den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten mittels einer die Konkordanz zwischen diesen suchenden Interessenabwägung auflöste62, lässt in maßgeblichem Zusammenhang mit der ausdrücklichen Klassifizierung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze deutlich seine Tendenz erkennen, jenen Rechten in der Normenhierarchie einen primärrechtlichen Rang beizumessen, was zugleich der ganz herrschenden Meinung des Schrifttums entspricht63. Indem der EuGH darüber hinaus mitgliedstaatliche Maßnahmen in grundfreiheitsrelevanten Bereichen auch dem Erfordernis der Grundrechtskonformität unterwarf64, begründete er zugleich die auch in der Jurisprudenz allgemein anerkannte65 59 s. etwa zum Fall der Aufhebung einer negativen Einstellungsentscheidung der Kommission wegen Verletzung des Rechts auf Achtung des Privatlebens EuGH, Rs. C-404/92 P, Slg. 1994, I-4737, Rn. 17 ff. (X/Kommission). 60 Heute Art. 55 und Art. 46 EGV n. F. 61 Vgl. EuGH, Rs. 260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); der Gerichtshof nahm hier jedoch keine Auslegung und Anwendung des Primärrechts im Lichte der Grundrechte vor, sondern zog diese als weiteren Rechtmäßigkeitsmaßstab für die im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Rechtfertigungen für grundfreiheitliche Beschränkungen heran. Vgl. in diesem Zusammenhang ferner EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 (Familiapress). 62 Zur Kollision zwischen der Warenverkehrsfreiheit und der Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 77 ff. (Schmidberger); zur hinter dem Schutz der Menschenwürde zurücktretenden Dienstleistungsfreiheit EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 ff. (Omega); s. ferner EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 ff. (Karner). 63 Vgl. zu dieser bereits Beutler, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. F EUV, Rn. 73; Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 11; ebenso BVerfGE 73, 339, 383 f. (Solange II); vgl. zur a. A. Simon, in: Constantinesco/Kovar/Simon, TUE, Art. F EUV, Rn. 8. Einem auch gegenüber dem weiteren Primärrecht geltenden Vorranganspruch das Wort sprechend etwa Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, § 3, Rn. 255; ähnlich bereits die Schlussanträge von GÄin Stix-Hackl zu EuGH, Rs. C-36/02, Rn. 50 (Omega). 64 Vgl. EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); EuGH, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31 (Society for the protection of unborn children Ireland); EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 (Familiapress); EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 40 (Carpenter); zustimmend und die Gemeinschaftsgrundrechte insofern als „Schranken-Schranken“ zur Rechtfertigung grundfreiheitlicher Einschränkungen begreifend die wohl die h. M. im Schrifttum: vgl. dazu statt vieler Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 141 ff.; Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 60 ff.; Jürgen/Schlünder, AöR 1996, 200, 213 ff. 65 Vgl. nur Hilson, ELR 2004, 636, 640 f.

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unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsgrundrechte in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen66 sowie ihre Teilnahme am Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts67.

II. Die Rechtsnatur der Grundrechte im Unionsrecht Auf der Basis dieser Vorgeschichte gilt es im Folgenden zu klären, welche Rechtsnatur den Grundrechten der EU wesenseigen ist. Die korrelierende Frage mag in den meisten der mitgliedstaatlichen Rechtssystemen aufgrund einer gefestigten Grundrechtstradition und einer weithin ausgereiften Grundrechtsrechtsprechung und rechtswissenschaftlichen Erörterung der Grundrechtsdogmatik keine grundlegenden Probleme mehr zu bereiten68, im Unionsrecht ist ihre Bestimmung hingegen mit Schwierigkeiten verbunden, da es zum einen an einer legalen Definition des komplexen Grundrechtsbegriffs fehlt69 und zum anderen das dogmatische Verständnis vom Grundrechtsschutz nicht nur von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat differiert, sondern gerade auf der europäischen Ebene keine einheitliche Linie aufweist70. 66 Damit ist den Grundrechten selbst jenes europarechtliche Charakteristikum inhärent, auf dessen prätorische Entwicklung sie in der europäischen Rechtsordnung unter anderem eine Antwort geben sollten, namentlich der unmittelbaren Geltung von vorrangig anwendbaren Hoheitsakten der Gemeinschaften eine rechtsstaatlichen Ansprüchen geschuldete Machtbegrenzung gegenüberzustellen (vgl. dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 24 m. w. N.). 67 s. dazu Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 11; zum Grundsatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 (Costa/ENEL); zum Verständnis in Richtung eines Anwendungsvorrangs EuGH, verb. Rsn. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307, Rn. 21 (IN.CO.GE.’90 u. a.); EuGH, Rs. C-198/01, Slg. 2003, I-8055, Rn. 48 (CIF). 68 Vgl. exemplarisch für das deutsche Rechtssystem BVerfGE 6, 386, 387 (Haushaltsbesteuerung), wonach sich der Einzelne nach Art. 1 Abs. 3 GG gegenüber der öffentlichen Gewalt auf die insofern subjektiv-rechtlich wirkenden Grundrechte berufen kann. Vgl. ferner zur Charakterisierung der Grundrechte des Grundgesetzes als „Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat“ BVerfGE 7, 198, 204 (Lüth). Indes gehen mit dem Hinzutreten weiterer Grundrechtsfunktionen auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen regelmäßig neue Diskussionen einher. So wurde etwa die Deutung der Grundrechte des GG als Elemente einer objektiven Werteordnung durch das BVerfG [dazu statt vieler BVerfGE 73, 261, 269 (Sozialplan)] von Seiten der Literatur teils vehement kritisiert (so etwa seitens Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, S. 130 ff.). 69 So Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 13, Rn. 2; in diesem Sinne auch Hummer, Der Schutz der Grund- und Menschenrechte in der Europäischen Union, S. 71, 76 ff. Indes fehlt auch in den nationalen Rechtsordnungen eine entsprechende Legaldefinition. Die Problematik fußt daher eher auf der jüngeren Grundrechtstradition der EG. 70 In diesem Sinne auch Bleckmann, EuGRZ 1981, 257 ff., ders., in: FS Börner, S. 29, 32.

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1. Begriff der grundrechtlichen Rechtsnatur im Kontext der Systementscheidung für oder gegen eine subjektiv-rechtliche Rechtskonzeption Da eine Rechtsordnung als solche zunächst objektives Recht bildet71, ist im Interesse einer begrifflichen Klarstellung vor der Behandlung der vorliegenden Problemstellung vorauszuschicken, dass der Terminus der „Rechtsnatur“ hier der Charakterisierung der Grundrechtskonzeption mittels einer graduell antonymen Differenzierung zwischen objektiven und subjektiven Rechten dienen soll. Maßgebende Bedeutung wird in diesem Begriffssinne der Frage zukommen, ob die einzelnen näher zu beleuchtenden Rechtselemente ihrem Wesen nach nur gegenüber der Europäischen Hoheitsgewalt objektiv-verpflichtend wirken oder zugleich respektive gar in erster Linie dem Individuum als rechtlichem Subjekt eine wahrnehmbare Berechtigung einräumen. Dringliche Vorfrage ist jedoch zunächst, an welchen Kriterien sich eine solche Wesensbestimmung auszurichten hat. a) Blick auf ausgewählte mitgliedstaatliche Systementscheidungen Mögliche Anknüpfungspunkte für die Beantwortung dieser Inzidentfrage könnten sowohl die Justitiabilität als auch der Geltungsgrund und die damit zusammenhängenden Funktionen des zu beurteilenden Rechtselements sein. Ein beispielhafter Blick auf die Ausgestaltung einiger mitgliedstaatlicher Konzeptionen soll die jeweilige Nützlichkeit dieser Kriterien erhellen und so Hinweise für die Systementscheidung des Gemeinschaftsrechts liefern. aa) Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Rechtsschutzsystemen Dabei kann die betreffende Zuordnung zunächst anhand der gängigen Differenzierung zwischen dem objektiven Kontrollrechtssystem („contentieux objectif“) und dem System individuellen Rechtsschutzes („contentieux subjectif“) vorgenommen werden72. So geht es im deutschen Prozessrecht vorrangig um die Durchsetzbarkeit des Schutzes der den Menschen und Bürgern zugeordneten Rechtspositionen73, mithin um subjektiven RechtsVgl. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 387 ff. Diese Unterscheidung geht maßgeblich zurück auf Duguit, Traité de droit constitutionnel, S. 324 ff.; ausführlich zu dem Thema Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, S. 10 ff. 73 Vgl. dazu nur Baumgartner, Klagebefugnis, S. 27 ff. Jedoch existieren insoweit auch Ausnahmen mit objektiv-rechtlichem Rechtsschutzformcharakter. Unbeschadet des Art. 42 Abs. 2 Hs. 1 VwGO nimmt dabei vor allem das Normenkontrollverfah71 72

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schutz im Sinne des „contentieux subjectif“, während etwa im Zentrum des französischen Systems nicht das Rechtsschutzinteresse des Einzelnen, sondern die objektiv-rechtliche Kontrolle der Verwaltung steht74, dieses also den Systemschwerpunkt beim „contentieux objectif“ setzt. Ein näherer Blick zeigt aber, dass einerseits die bloß tatsächliche Möglichkeit oder auch eine spiegelbildliche Erforderlichkeit der gerichtlichen Geltendmachung eines bestimmten Rechts oder Interesses zur Erlangung einer gerichtlichen Sachentscheidung allein noch keinen genügenden Hinweis darüber geben kann, ob eine Rechtskonzeption wirklich auch subjektiv-öffentliche Rechtselemente bereithält. Vielmehr können, wie es die französische Konzeption vor allem im Bereich des so genannten „recours pour excès de pouvoir“75 bezeugt76, aus eigenen Rechtspositionen77 auch bloß prozessuale Initiativberechtigungen erwachsen, die zwar den Zugang zu einem Gericht eröffnen, in der Sache aber nur eine vorwiegend objektiv-rechtliche Rechtmäßigkeitsprüfung einleiten und der Einzelne damit vorwiegend als Anwalt oder Prozessstandschafter des Gemeinwohls78 den Legalitätsgrundsatz durchsetzt79. Im Übrigen lässt das französische System, welches trotz seiner älteren Grundrechtstradition den Terminus des subjektiv-öffentlichen Rechts nicht kennt, auch die gerichtliche Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen nur sehr eingeschränkt zu. Insbesondere kennt es weder eine nachträgliche Gesetzeskontrolle im Wege einer Verfassungsbeschwerde oder ren nach Art. 47 VwGO eine Zwischenstellung ein, da es zwar in der Sachstation ein objektives Beanstandungsverfahren darstellt, für die Zulässigkeit des Verfahrensantrags des Einzelnen gemäß Art. 47 Abs. 2 VwGO aber die Möglichkeit einer subjektiven Rechtsverletzung voraussetzt. 74 Vgl. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 57; Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der EG, S. 113 – jeweils m. w. N.; ferner Epiney, VVDStRL 2002, 362, 370 ff. 75 Dieses Verfahren ist der praktisch relevanteste Unterfall des „contentieux en annulation“, also jener Verfahrensart, die auf Aufhebung rechtswidrigen Verwaltungshandelns gerichtet ist und die mit der Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO vergleichbar ist; vgl. dazu Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb. zu § 42 Abs. 2 (Stand: Januar 2002), Rn. 21. 76 Ausführlicher zu den Besonderheiten der betreffenden Zulässigkeitsvoraussetzung Baumgartner, Klagebefugnis, S. 41 ff., insb. 44 ff. 77 s. zu Klagen aus dem Eigentumsrecht etwa C.E. vom 30. Juni 1999, Nr. 190250 (Fondation Asturion); C.E. vom 15. April 1983, Nr. 28555, p. 154 (Commune de Menet); C.E. vom 5. Juli 1995, Nr. 138496 (Le Hazif); vgl. zu Klagen aus nachbarrechtlichen Rechten (ob als Eigentümer oder Mieter): C.E. vom 11. Dezember 1991, Nr. 103309, (T. Gaudin). 78 Ähnlich Schwarze, DVBl. 1999, 261, 265, der den individuellen Kläger im Hinblick auf seine Funktion insoweit treffend als Überwacher der Verwaltung bezeichnet. 79 Vgl. etwa C.E. vom 17. Februar 1950, rec. p. 11. (Ministre de l’agriculture/ dame Lamotte).

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einer konkreten Normenkontrolle, noch räumt es dem Bürger ein Antragsrecht auf Einleitung der in Art. 61 der französischen Verfassung von 1958 geregelten vorbeugenden Normenkontrolle ein80. Wie das Beispiel des französischen Systems verdeutlicht, vermag folglich nicht schon die Tatsache der Klagbarkeit, sondern erst der Modus der Justitiabilität eines Rechts etwas über seine Rechtsnatur auszusagen. bb) Objektiv- und subjektiv-schützender Geltungsgrund Andererseits erscheint ebenfalls unzureichend, die Rechtsnatur eines Rechtselements und damit die Konzeption des Rechtssystems allein über den rechtlichen Geltungsgrund zu erfassen, wie abermals ein Blick auf das französische Grundrechtsregime veranschaulichen kann. Zwar sind dort die Grundrechte nach dem traditionellen, aus dem Geiste der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ vom 26. August 1789 fließenden Verständnis dem individuellen Menschen und Bürger zugesprochene Rechte81, derer dieser sich zur freien Verwirklichung in privaten, sozialen und wirtschaftlichen Sphären bedienen kann, wie etwa Art. 1 S. 1, nach dem die Menschen „naissent et demeurent libres et égaux en droits“, und Art. 4 Hs. 1, nach dem die Freiheit „consiste à pouvoir faire tout ce qui ne nuit pas à autrui (. . .)“, eindrucksvoll belegen. Gleichwohl steht diesen Verbürgungen, wie soeben festgestellt, gerade kein subjektiv-rechtliches Komplement im Rechtsschutzsystem gegenüber, was übrigens angesichts der in der Präambel genannten Ziele, die neben weiteren objektiven Orientierungsund Kontrollzwecken die Geltendmachung der Rechte als einfache und unbestreitbare Prinzipien final mit der Aufrechterhaltung der Verfassung und dem Glück der Allgemeinheit verknüpft82, kaum überraschen kann. cc) Fehlende Übertragbarkeit der deutschen Schutznormtheorie Sind demnach die Kriterien der Klagbarkeit und des Rechtsgeltungsgrundes in isolierter Anwendung keine eindeutigen Kriterien, soll und kann anVgl. dazu ausführlicher Goose, AöR 1974, 347 ff. Das zwischenzeitliche Unterfangen, eine nachträgliche, auch durch den Einzelnen einzuleitende Normenkontrolle zu ermöglichen, ist am Widerstand des Senats, der zweiten Kammer des französischen Parlaments, gescheitert, vgl. dazu Granrut, RDP 1990, 309 ff. 81 Die Präambel der Déclaration von 1789 bezeichnet sie als „droits naturels, inaliénables et sacrés de l’homme“. 82 Die insoweit interessierende Passage der Déclaration von 1789 lautet: „(. . .) afin que les réclamations des citoyens, fondées désormais sur des principes simples et incontestables, tournent toujours au maintien de la Constitution et au bonheur de tous.“ 80

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dererseits aber auch der vor allem im deutschen Rechtssystem vieldiskutierte und gesamtinhaltlich nur schwer greifbare Begriff des „subjektiven Rechts“83 nicht in voller Deckungsgleiche in die das gemeinschaftsrechtliche System betreffenden Betrachtungen übernommen werden. Die im unmittelbaren Zusammenhang mit diesem Begriff zu nennende, im deutschen Recht insoweit vorherrschende Schutznormtheorie, nach der eine Norm des öffentlichen Rechts ein subjektives Recht gewährt und somit – auch – subjekt-rechtlicher Natur ist, wenn sie die Exekutive zu einem bestimmten Verhalten verpflichtet und die Norm dabei zumindest auch dem Schutz von Individualinteressen zu dienen bestimmt ist84, mag zwar möglicherweise ebenso im Gemeinschaftsrecht zur Auffindung individualrechtlich schützender Normen führen können85. Neben den dahingehenden Zweifeln, ob die spezifischen Systemvorstellungen dieser Theorie überhaupt in das Gemeinschaftsrecht exportiert werden können86, bedingt ihre Anwendung aber zunächst den Nachweis der Entscheidung des Rechtssystems gerade für eine zumindest auch subjektiv-rechtliche Ausprägung einzelner Rechte oder Rechtsbereiche. Die Feststellung dieser Systementscheidung ist hierfür eine essentielle Vorfrage. dd) Abwesenheit streng objektiver oder subjektiver Systeme Wie ein weiterer beispielhafter Blick in die englische Rechtsordnung zeigt, muss ein System sich zudem auch nicht in voller Konsequenz für eine der anfangs beschriebenen Konzeptionen entscheiden, sondern kann ebenso eine zwischen diesen liegende Form wählen87. So zeugt das im englischen Recht aufgestellte Sachentscheidungserfordernis des „sufficient interest“ im Rahmen der „application for leave“, einem Vorverfahren, das dem eigentlichen Sachverfahren, der objektiv-rechtlich ausgestalteten „applicaVgl. dazu eingehend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 159 ff. Die Schutznormtheorie geht zurück auf Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, S. 21, und ist in der deutschen Rechtslehre im Allgemeinen weitestgehend anerkannt, s. nur Happ, in: Eyermann, VwGO, § 42, Rn. 86 f.; Kopp/Schenke, VwGO, § 42, Rn. 83 – jeweils m. w. N. 85 Da die subjektiv-rechtliche Natur der Grundrechte des deutschen Grundgesetzes weithin unstreitig ist, ist ihr Abgleich mit der Schutznormtheorie unnötig; vgl. in diesem Sinne schon Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte und ihr Schutz in der deutschen Verwaltungsrechtsprechung, S. 21 u. 43. 86 Zu einschlägigen Überlegungen s. Schoch, NVwZ 1999, 457, 463. 87 Vgl. zur entsprechenden Charakterisierung des englischen Systems etwa Epiney, DVBl. 2001, 1816, 1817. Das englische Klagesystem, das früher Klagen des Einzelnen allein vor den ordentlichen Gerichten kannte, ist jedoch seit jüngerer Zeit in starker Bewegung, so dass seine Beurteilung derzeit besondere Probleme bereitet. 83 84

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tion for judicial“, vorausgeht, zwar von einem grundsätzlichen subjektivrechtlichen Einschlag des verwaltungsgerichtlichen Klagesystems, die Voraussetzung wird jedoch zunehmend pragmatisch und extensiv gehandhabt88. Genau genommen geht das englische Verwaltungsprozessrecht also einen Mittelweg zwischen den sich gegenüberstehenden Konzeptionsmöglichkeiten, obgleich es den Schwerpunkt praktisch wohl bei der „contentieux objectif“ ansiedelt. Eines Hinweises bedarf ferner, dass auch das französische Verwaltungsprozessrecht, welches nicht selten als ein System charakterisiert wird, dass der Idealform des „contentieux objectif“ am nächsten kommt89, keine pure objektiv-rechtlich Ausgestaltung gefunden hat. Auch hier soll der Kläger eben keine Popularklage erheben können90, vielmehr muss er für die Zulässigkeit einer auf Aufhebung des Verwaltungshandelns gerichteten Klage auch einen „intérêt pour agir“ nachweisen. Da diese Zulässigkeitsvoraussetzung vom Conseil d’État91 allerdings recht weit ausgelegt wird92, sieht sich die französische „Anfechtungsklage“ dennoch in der Tat im Einzelfall in die Nähe einer Popularklage gerückt93. Gleichwohl finden seit einiger Zeit vermehrt auch subjektiv-rechtliche Tendenzen Eingang in das französische System. Insbesondere in die Frage des gerichtlichen Grundrechtsschutzes ist in jüngerer Zeit durch die systeminnovierende Einführung einer „procédure du référé-liberté fondamentale“94, die ein Eilverfahren vor den 88 Vgl. dazu näher De Smith/Woolf/Jowell, Judicial Review of Administrative Action, S. 106 ff. 89 So Baumgartner, Klagebefugnis, S. 43. 90 Vgl. Koch, Verwaltungsrechtsschutz in Frankreich, S. 141. 91 Zu Deutsch etwa „Staatsrat“; dieser ist in fünf Abteilungen unterteilt und entspricht, soweit es seine originär gerichtliche Aufgaben wahrnehmende fünfte Abteilung („section contentieuse“) anbelangt, in der deutschen Gerichtsordnung dem BVerwG; seine weiteren vier Abteilungen fungieren gemäß seiner traditionellen Funktion hingegen vorwiegend als Berater der Regierung in gesetzgeberischen Angelegenheiten, und sind daher eher der Exekutive zuzuordnen; vgl. zum Statut des Conseil d’État schon Drago, AJDA 1963, 524 ff. 92 Schon ein „intérêt moral“ oder ein zukünftiges Anfechtungsinteresse kann genügen [vgl. etwa C.E. vom 11. Dezember 1903, G.A. Nr. 13 (Lot et Molinier)]. 93 Etwas anders zu beurteilen ist hingegen der Fall des „recours de pleine juridiction“ (oder auch „recours de plein contentieux“), welcher insbesondere darauf abzielt, die Veränderung eines Verwaltungshandelns oder aber Amtshaftungsansprüche im weiteren Sinne durchzusetzen. Da dieses Verfahren nicht so sehr der Einhaltung des Legalitätsgrundsatzes sondern vielmehr dem Schutz des Einzelnen gewidmet ist, muss dieser für die Klagezulässigkeit grundsätzlich die Beeinträchtigung eines eigenen Rechts geltend machen können; in der Praxis genügt der Rechtsprechung aber auch hier bereits ein „intérêt légitime“ (vgl. dazu näher Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 64 f.). 94 Eingeführt in den „code de justice administrative“ (CJA) durch Gesetz Nr. 2000-597 vom 30. Juni 2000 (J.O. 1er/7/2000), vgl. Art. L. 521-2 CJA.

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Verwaltungsgerichten zur Abwehr von Eingriffen der Exekutive in die Grundrechte bildet95, Bewegung gekommen. ee) Zwischenergebnis In der Gesamtschau zeigt der exemplarische Blick auf die ausgewählten mitgliedstaatlichen Systementscheidungen, dass die entsprechende Ausprägung eines Prozessrechts in der Praxis nie insgesamt einem der beiden Modellkonzeptionen entspricht, sondern zumeist eine auf der Bandbreite zwischen den theoretischen Grenzen angesiedelte Systemkombination mit mehr oder weniger deutlicher Präponderanz zugunsten der einen oder anderen Konzeption widerspiegelt. Vor diesem Hintergrund kann nicht allein über die Bestimmung des Schwerpunkts einer Systementscheidung auf die Rechtsnatur einzelner Rechtselemente einer Rechtsordnung geschlossen werden, gleichwohl sich daraus durchaus gewichtige Indizien ergeben. b) Gemeinschaftsrechtsspezifik der Kriterienanwendung Die vorstehenden Ausführungen zeigen, dass weder die bloße Tatsache der Justitiabilität noch die Hintergründe der Existenz des in Frage stehenden Rechts und auch keine pauschale Bestimmung der Systementscheidung in jeweils isolierter Betrachtung genügen können, um die Feststellung für oder wider die subjektiv-rechtliche Qualifizierung von bestimmten Systemelementen einer Rechtsordnung zu stützen. Ohne ernsthafte Bedenken erscheint indessen die Annahme zulässig, dass die Lehre von der Rechtsnatur der Grundrechte des Gemeinschaftsrechts als eigenständiger und neuer völkerrechtlicher Rechtsordnung96 einer eigenen Dogmatik folgen muss, die 95 Das Verfahren kann seit dem 1. Januar 2001 eingeleitet werden und ermöglicht nach Art. L. 521-2 CJA die Beantragung einer innerhalb von 48 Stunden ergehenden verwaltungsgerichtlichen Anordnung zum einstweiligen Schutze der „libertés fondamentales“ (gemeint sind Freiheiten und Rechte von grundsätzlicher Bedeutung) im Falle eines schweren und offensichtlich rechtswidrigen Eingriffs in diese durch die Verwaltung [vgl. dazu näher Favoreu, Recueil Dalloz 2001, 1739 ff.; vgl. etwa zum Fall einer erfolgreichen, auf die „liberté du commerce et de l’industrie“ gestützten Eilbeschwerde C.E. vom 16. August 2004, Nr. 271148 (ministre de l’intérieur); vgl. i.Ü. etwa zum Eigentumsrecht C.E. vom 2. Juli 2003, Nr. 254536 (société Outremer Finance Limited), zur Freizügigkeit C.E. vom 8. Dezember 2000, Nr. 208583 (R.), zum Recht auf effektive rechtliche Verteidigung C.E. vom 3. April 2002, Nr. 244686 (ministre de l’intérieur/M. K.), zur Religionsfreiheit C.E. vom 7. April 2004, Nr. 266085 (M. et Mme K.)]. 96 Vgl. dazu erstmals EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 25 (Van Gend & Los) sowie auch Rs. 6/64, Slg. 1964, 1141, 1269 (Costa/ENEL), in welcher der Gerichtshof von einer „eigenen Rechtsordnung“ spricht; vgl. ferner die entsprechenden For-

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zwar jener einzelner Mitgliedstaaten oder ihrer Mehrheit ähneln oder sogar gleichen, nicht aber allein und einseitig aus diesen heraus bestimmt werden kann, sondern unter besonderer Berücksichtigung systemeigener Merkmale zu entwickeln ist97. Ob die gemeinschaftsrechtliche Systementscheidung zugunsten oder gegen eine Ausstattung der Rechtsordnung mit subjektiv-rechtlichen Elementen gefallen ist, darf demnach weder anhand einer bestimmten mitgliedstaatlichen Terminologie noch ausschließlich anhand eines einzigen, den mitgliedstaatlichen Lehren entstammenden Kriteriums bestimmt werden. Vielmehr bietet es sich im Gemeinschaftsrecht an, die Systementscheidung auf der Grundlage eines möglichst aussagekräftigen Kriterienbündels zu ermitteln, in welchem zwar der Grund der Rechtsgeltung einhergehend mit den darauf aufbauenden Funktionen sowie die Art und Weise einer etwaigen rechtlichen Durchsetzbarkeit der jeweiligen Gemeinschaftsrechtselemente eine dezisive Rolle spielen können98, das im Übrigen aber keineswegs die prägenden Besonderheiten des Rechtssystems im Ganzen wie auch des Regimes des speziell betroffenen Rechtselements ausblenden darf. Soweit im Folgenden also der Versuch der Charakterisierung der Gemeinschaftsgrundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte unternommen wird, ist dieser Begriff stets in einer demgemäß systemspezifischen Bedeutung zu sehen. 2. Wertender Blick auf die Positionen im Schrifttum So umstritten die Fragen zu der Rechtsnatur und den Funktionen der Grundrechte in einigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen behandelt wurden und partiell noch immer werden99, so stiefmütterlich wird dieses Thema teilweise in der europäischen Jurisprudenz, insbesondere in Bezug auf ersteren Fragenkomplex, behandelt. mulierungen des BVerfG, insbesondere bei BVerfGE 22, 293, 296 (EWG-Verordnungen) und BVerfGE 31, 145, 173 (Milchpulver). 97 In diesem Sinne wohl auch Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 88, der das Grundrechtsregime der EG als grundlegend unterschiedlich zu jenem der Mitgliedstaaten und dem der EMRK bezeichnet. Ähnlich im Zuge der Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 194. 98 Vgl. mit dieser Tendenz auch Alexy, a. a. O., 164 ff., der das deutsche Rechtssystem als dreistufiges Modell der subjektiv-öffentlichen Rechte charakterisiert, indem er diese auf einer weiteren Ebene als rechtliche Positionen und Relationen beschreibt (Alexy, a. a. O., S. 163 ff.). 99 s. zur allgemeinen Dogmatik der deutschen Grundrechte schon Böckenförde, NJW 1974, 1529 ff.; zur Dimension der Grundrechte als objektive Werteordnung s. nur BVerfGE 73, 261, 269 (Sozialplan).

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Unter den zur Natur der Grundrechte mehr oder minder direkt Stellung nehmenden Stimmen der Literatur sind zunächst nicht wenige zu finden, die sich darin erschöpfen, den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV und/oder die Formel der Rechtsprechung des Gerichtshofs wiederzugeben, um auf diesem Weg die Grundrechtsgeltung im Unionsrecht zu begründen und sodann die einzelnen Grundrechte zu kategorisieren und teils auch funktional zu analysieren, ohne zuvor die rechtliche Natur der Grundrechte selbst genauer zu diskutieren100. Insbesondere angesichts der unterschiedlichen Deutungsmöglichkeiten und der polyvalenten Indizien in der Rechtsprechung kann aber ein bloßer Verweis auf die allgemeine Grundrechtsformel des EuGH nur schwerlich hinreichen. Zu konzis gerät auch der Hinweis, der die Grundrechtsgeltung betreffende Rechtsgrundsatz sei nur in dem objektiven Gebot der Wahrung der Grundrechte zu erblicken101, da sich diese Aussage bereits in Art. 6 Abs. 1 EUV wieder findet und nicht genügend die nochmalige und dezidierte Behandlung der Grundrechte der EU in Art. 6 Abs. 2 EUV berücksichtigt, zumal die in Abs. 1 befindliche Passage von der Achtung „der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ erst mit dem Vertrag von Amsterdam Einzug in den EUV gefunden hat, während Abs. 2 der Regelung schon in Form des Art. F Abs. 2 EUV in der Fassung des Vertrags von Maastricht existierte. Die Problematik auf der Grundlage einer Differenzierung zwischen Grundrechten und grundrechtsähnlichen, aus Rechtsstaatsprinzipien entwickelten Rechten zu beschreiben und sodann mit der Begründung offen zu lassen, dass es im Unionsrecht zwar beide Seiten gebe, die Unterscheidung aber materiell-rechtlich nicht von Belang sei, da die Rechtsschutzfunktionen der allgemeinen Rechtsgrundsätze von ihrer Qualifikation als Grundrechte unabhängig seien102, lässt die eigentliche Frage nach der Rechtsnatur der Grundrechte offen. Der Ansatz begegnet zudem aus verschiedenen Gründen grundsätzlichen Bedenken. Zum einen nämlich bildet die Gewährung der Grundrechte selbst eines der essentiellen Elemente des Rechtsstaatsprinzips103. Schon die differenzierende Ausgangsthese jenes Standpunkts be100 Vgl. etwa Stumpf, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 17 ff.; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 8 ff.; Zimmerling, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Anhang zu Art. 6 EUV, Rn. 1 ff.; vgl. fernerhin Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 185 ff. Dass im Rahmen letzterer Bearbeitung die Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte nicht eingehend diskutiert wird, erstaunt in Anbetracht der sodann vorgenommenen Herleitung grundrechtlicher Schutzpflichten um so mehr. 101 Dahingehend Geiger, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 33. 102 In diesem Sinne Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 23. 103 Vgl. dazu nur Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 19 ff.

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schreibt daher die Zugehörigkeitsrelation unvollständig. Der Ansatz übergeht dabei auch, dass der EuGH gerade die Grundrechte qualitativ ausdrücklich und unmissverständlich den allgemeinen Rechtsgrundsätzen zuordnet und nicht umgekehrt einzelne allgemeine Rechtsgrundsätze als Grundrechte qualifiziert. Ferner können die Funktionen der einzelnen allgemeinen Rechtsgrundsätze nur bereichsspezifisch bestimmt werden und lassen sich insofern nur schwerlich losgelöst von ihrer etwaigen grundrechtlichen Zusatzqualifikation betrachten. Demzufolge hat die Beantwortung der Frage nach dem unionsrechtlichen Grundrechtsverständnis und damit inzident auch nach der Rechtsnatur der Grundrechte rechtliche wie praktische Relevanz, dies nicht nur für die einzelnen in Betracht kommenden Rechtsquellen der Grundrechte, sondern auch für die Modalitäten der Justitiabilität des in Frage stehenden Rechts. Entsprechend dem auch im deutschen Recht vorherrschenden Grundrechtsverständnis werden die Gemeinschaftsgrundrechte des Weiteren als Rechte des Individuums gegen Hoheitsträger aufgefasst, die kraft des internationalen Rechts gelten oder auf der höchsten innerstaatlichen Normstufe garantiert werden, dem Einzelnen eine grundlegende Rechtsposition gegenüber Hoheitsträgern einräumen und diesen für jede Schutzgehaltsbeschränkung eine Rechtfertigung abverlangen104. Als rechtsstaatliche Ausprägung dienen die Grundrechte nach diesem Verständnis der Machtbegrenzung und verschaffen dem Einzelnen einen grundsätzlich unbegrenzten Freiheitsraum, dem die prinzipiell begrenzte hoheitliche Befugnis zu rechtssphärischen Eingriffen gegenübersteht. Auf dieser Grundlage ist der funktionale Schwerpunkt ihrer Geltung auf die Seite des geschützten Grundrechtsträgers und mithin des individuellen Rechtssubjekts zu verorten, was den Schluss erlaubt, dass Grundrechte ihrer Rechtsnatur nach in erster Linie subjektive Rechte darstellen. So sehr dieser Ansatz auf den ersten Blick auch zu verfangen scheint, muss er sich allerdings in rechtsdogmatischer Hinsicht den Vorwurf gefallen lassen, im Vorfeld ebenso wenig auf das mögliche Spannungsverhältnis einzugehen, das sich aus der gemeinschaftsgerichtlichen Qualifizierung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze ergeben kann. Schilling hingegen trägt dieser Rechtsquellenverknüpfung insoweit Rechnung, als er die Frage aufwirft, ob die „bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze“, zu denen eben auch die Grundrechte zählen, dem Einzelnen im Sinne der deutschen Tradition ein subjektiv-öffentliches, einklagbares Recht verleihen oder im Sinne der französischen Konzeption nur ein Klagerecht auf Beachtung objektiv-rechtlicher Grundsätze gewähren105. 104 Vgl. in diesem Sinne etwa Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 13, Rn. 2; ähnlich Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 24.

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Nach kurzer Darstellung der Unterschiede beider Konzeptionen weist er sodann zwar die Existenz der Terminologie des subjektiven Rechts im Gemeinschaftsrecht nach106, jedoch kommt er letztlich unter Hinweis auf die in der Rechtsprechung des EuGH fehlende ausdrückliche Erwähnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als Quelle subjektiver Rechte und nach Betrachtung des primären und sekundären Individualrechtsschutzsystems zu dem Ergebnis, dass insgesamt die besseren Gründe für einen objektiv-rechtlichen Charakter der allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Grundrechte sprechen107. In diese Linie lässt sich auch die weiterhin zu findende Beschreibung der Gemeinschaftsgrundrechte als „Individualgarantien“108 einfügen. Unerwähnt darf indessen nicht bleiben, dass auf der anderen Seite schon früh gerade Stimmen der französischen Literatur, die den Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts in der eigenen Rechtsordnung vergeblich suchen, Tendenzen des Gerichtshofs festgestellt haben wollen, die Grundrechte substanziell wie öffentlich-subjektive Rechte zu behandeln109. Hingewiesen sei auch auf jene Formulierungen, die zwar eine Bezeichnung der Grundrechte als subjektiv-öffentliche Rechte vermeiden, indem sie diese etwa als „right of the individual“110 oder als individuelle Rechte111 bezeichnen, den Grundrechten aber zugleich eine durchsetzbare, den Grundfreiheiten vergleichbare Rechtsposition zuschreiben112. Vor dem Hintergrund der bereits in der obigen Darstellung der Rechtsprechung des EuGH skizzierten Schwierigkeiten hinsichtlich der rechtsnatürlichen Zuordnung der Grundrechte sind auch vorsichtigere Formulierungsversuche zu finden, die mit Blick auf den Umstand, dass sich der Einzelne auf die Gemeinschaftsgrundrechte berufen kann, zumindest einer Ähnlichkeit derselben mit den subjektiven Rechten das Wort sprechen113. Vgl. Schilling, EuGRZ 2000, 3, 24. Vgl. Schilling, a. a. O., 25 ff. 107 Schilling, a. a. O., 27. 108 Pernice, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 164 EGV (Mai 1995), Rn. 42. 109 Vgl. dazu schon Fromont, RTDE 1966, 47, 63. 110 Due/Gulmann, in: FS Mancini, S. 404, 407. 111 So etwa Schmidt-Aßmann, in: ders./Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 9, 24 f. 112 Vgl. Due/Gulmann, a. a. O., S. 408. 113 In diesem Sinne Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 92. Auch dessen Formulierung ist jedoch etwas unscharf, soweit er einerseits von den Grundrechten als „Ausprägungen der allgemeinen Rechtsgrundsätze“ (Ress, a. a. O., 88) und andererseits von der „Unsicherheit bzgl. der Einordnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze als subjektive Grundrechte“ (Ress, a. a. O., 92) spricht. Denn genau genommen geht es insofern nur um die Auflösung der aus der Verbindung der Grundrechte mit der Rechtsfigur der allgemeinen 105 106

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Zuletzt versteht ein weiterer, von Alexy speziell im Bereich des deutschen Verfassungsrechts entwickelter und partiell auf den Ideen von Ronald Dworkin114 fußender Ansatz die Grundrechte unter begrifflicher Differenzierung zwischen Grundrecht und Grundrechtsnorm115 als ein zu den Rechtsregeln in einem Exklusivverhältnis116 stehendes Bündel grundrechtlicher Prinzipien117. Seinem Grundrechtsverständnis legt Alexy dabei einen weiten, auch individuelle Rechte umfassenden Prinzipienbegriff zugrunde118. Prinzipien definiert er nämlich im Sinne eines inhaltlichen Optimierungsgebots als prima-facie-Normen119, die im Unterschied zu den diesen gegenüber zu stellenden Rechtsregeln, die Ge- oder Verbote beinhalten und eine definitive Anwendung verlangen, nur gebieten, dass sie in Relation zu den rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten in einem möglichst hohen Maß realisiert werden120. Kollisionen innerhalb des grundrechtlichen Prinzipienbündels oder zwischen diesem und anderen Prinzipien sind nach Alexy durch die Anwendung eines Abwägungsgesetzes zu lösen, nach welchem das zulässige Maß der Nichterfüllung oder der Beeinträchtigung des einen Prinzips unmittelbar von der Wichtigkeit der Erfüllung des kollidierenden Prinzips abhängt121. Jene Alexysche Theorie der Grundrechte ist unterdessen nicht ohne Kritik geblieben. Liegt der wesentliche Angriffspunkt hierbei in der stringenten Differenzierung zwischen rechtlichen Regeln und Prinzipien, so richtet sich die Kritik letztlich doch gegen alle drei Unterscheidungsebenen, auf denen die Theorie fußt122. Rechtsgrundsätze folgenden Definitionsprobleme und nicht um die Klassifizierung aller Rechtsgrundsätze als subjektive Rechtselemente. 114 s. dazu Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 54 ff. 115 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 39 f. 116 Vgl. Alexy, a. a. O., S. 77; dieser Aspekt der Alexyschen Theorie wird auch als „starke Trennungsthese“ bezeichnet (Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 53). 117 Vgl. Alexy, a. a. O., S. 508 ff. und hier insbesondere S. 516–520. Eine ähnliche Beschreibung der Grundrechte als Prinzipien findet sich schon bei Böckenförde, NJW 1976, 2089, 2091, der eine solche Charakterisierung indes wohl nicht im Sinne eines Exklusivitätsverhältnisses verstanden wissen wollte. 118 Vgl. Alexy, a. a. O., S. 98 f. 119 Vgl. Alexy, a. a. O., S. 87 ff. 120 Vgl. Alexy, a. a. O., S. 75 ff. 121 Vgl. Alexy, a. a. O., S. 145 ff. Dieses Abwägungsgesetz betreffend dürfte sich der Ansatz von Alexy zumindest im Ergebnis nicht erheblich von der Methodik der praktischen Konkordanz, die nach einem möglichst schonenden Ausgleich zwischen den kollidierenden Grundrechten sucht, unterscheiden (vgl. zu Letzterem im Rechtsvergleich zum amerikanischen System Klein, in: FS Benda, S. 135, 140 f.). 122 Kritisch insbesondere Sieckmann, a. a. O., S. 52 ff.; ähnlich Lerche in: FS Stern, S. 197, 205 ff.; ferner Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, S. 80 ff.; ausführlicher zum Ganzen auch Würtenberger, VVDStRL 1999, 139 ff. Die Be-

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3. Wertender Blick auf die gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung Zunächst aber liegt es auf der Hand, dass, möchte man die Rechtsnatur des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsregimes zutreffend erfassen, die auf den Einzelfall bezogene Behandlung der Grundrechte in der Rechtsprechung des EuGH angesichts ihrer initiierenden Rolle der primäre Anknüpfungspunkt der weiteren Betrachtungen sein muss123. a) Die allgemeine Grundrechtsformel des EuGH Von Beginn der Anerkennung der Geltung gemeinschaftsrechtlicher Grundrechte an haben der EuGH und ihm folgend das EuG die Grundrechte als Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts klassifiziert124. Dabei weist die Rechtsprechungspraxis mit ihrer geläufigsten Formulierung, „dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu wahren hat“125, zwar eine insoweit konsequente Linie auf. In Bezug auf ihre dogmatische Aussage erscheint sie jedoch keineswegs eindeutig. handlung der Frage, ob und inwieweit die Theorie auf die Ebene der EG übertragbar ist, soll in die spätere Stellungnahme zur Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte einfließen. 123 Zur Bedeutung der Rechtsprechung des EuGH als Ausgangspunkt für sämtliche grundrechtsrelevanten Überlegungen Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269. 124 St. Rspr., vgl. in den Anfängen der Grundrechtsrechtsprechung EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419, 427 f. (Stauder); EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft), Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13 (Nold) und EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 (Hauer); vgl. zu späteren bis hin zu jüngsten Entscheidungen etwa EuGH, verb. Rsn. C-97 bis 99/87, Slg. 1989, 3165, Rn. 14 (Dow Chemical Ibérica u. a.); EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41 (ERT); EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 14 (Kremzow); EuGH, Rs. C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Rn. 12 (Annibaldi); EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 23 (Roquette Frères); verb. Rsn. C-20/00 u. C-64/00, Slg. 2003, I-07411, Rn. 65 (Booker u. Hydro Seafood); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 (Schmidberger); EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 (Karner); vgl. aus der Rechtsprechung des Gerichts erster Instanz etwa EuG, Rs. T-10/93, Rn. 49, Slg. ÖD 1994, II-386, 403 (A./Kommission) sowie EuG, verb. Rsn. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering Corp. u. a.); vgl. exemplarisch zu dem Ausnahmefall, in welchem der EuGH die allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht erwähnt EuGH, Rs. C-353/89, Slg. 1991, I-4069, Rn. 30 (Kommission/Niederlande). 125 So etwa EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff., 507 f., Rn. 13 (Nold), EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 ff., Rn. 15 (Hauer) u. v. m.

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So könnte sie zunächst dahingehend zu verstehen sein, dass die Grundrechte einen uneigenständigen Teil allgemeiner Rechtsgrundsätze bilden und sie, sofern allgemeine Rechtsgrundsätze allein als objektive Rechtsprinzipien zu verstehen sind, möglicherweise selbst korrelierende objektivrechtliche Prinzipien verkörpern, deren subjektiv-rechtlicher Gehalt, soweit ein solcher rechtlich feststellbar wäre, sodann nur zweitrangige Bedeutung hätte. Sie lässt des Weiteren die Interpretation zu, dass die Grundrechte eine eigenständige Fallgruppe innerhalb der allgemeinen Rechtsgrundsätze bilden, dessen rechtliche Natur, mag diese rein objektiv-rechtlich oder je nach dem in Frage stehenden Grundsatz objektiv-rechtlich und/oder subjektiv-rechtlich sein, möglicherweise nicht notwendig und stringent an jene der Obergruppe gekoppelt sein muss, sondern in ebenso zulässiger Weise im Rahmen einer spezifischen Betrachtung und damit anhand der Besonderheiten des Regimes der Untergruppe „Grundrechte“ zu bestimmen sein könnte. Fernerhin könnte die Formel auch allein das objektive Gebot der Grundrechtswahrung ansprechen und dieses als allgemeinen Rechtsgrundsatz ausweisen126, ohne sich über die Natur der im Einzelnen zu wahrenden Grundrechte zu verhalten. Die sich demnach in den unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten manifestierende Unschärfe der Grundrechtsformel ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu sehen, dass der EuGH selbst Adressat der Grundrechte ist127 und er jene Formel vorwiegend aus der eigenen Perspektive und insbesondere im Bewusstsein seiner Rolle als Hüter des Rechts aus Art. 220 EGV heraus entwickelt hat128. Zu der anderen Seite des Spektrums, namentlich der rechtlichen Stellung der Grundrechtsträger in der unionalen Grundrechtskonzeption, hat er sich hierdurch indessen wohl noch nicht positioniert. Der erste Schein, die Unionsgrundrechte seien nach der Grundrechtsformel des EuGH bloß objektive Rechtsgrundsätze, ist damit erschütterbar. b) Begriff des subjektiven Rechts und Existenz individualschützender Rechte im Unionsrecht Besonderer Betonung bedarf außerdem, dass auch der EuGH den Begriff des subjektiven Rechts zwar kennt, er aber, soweit ersichtlich, bis heute dessen Verwendung nie in einen materiellen Kontext zu den Gemeinschafts126 Mit dieser Tendenz Geiger, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 33. Anhaltspunkte hierfür finden sich teilweise auch in der Rechtsprechung, so etwa bei EuGH, Rs. C-41/00 P, Slg. 2003, I-2125, Rn. 39 (Interproc/Kommission). 127 Zu den Grundrechtsadressaten näher in Teil 2 unter B. II. 4. b). 128 Ersichtlich wird dies insbesondere aus dem Nebensatz „die der Gerichtshof zu wahren hat“; vgl. nur EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff., 507 f., Rn. 13 (Nold) und EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 ff., Rn. 15 (Hauer).

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grundrechten gestellt hat. Vielmehr verknüpft er die Existenz subjektiver Rechte bislang mit einer den Adressaten begünstigenden, rechtskonstitutiven Entscheidung129, dies vornehmlich wenn die Begünstigung im Kontext zu einem Beamtenrechtsverhältnis steht130. Im Übrigen vermeidet der EuGH aber eine Ausweitung jener Terminologie auf andere Rechtsbereiche und macht sich insbesondere entsprechende Bezeichnungen der Verfahrensbeteiligten oder eines nach Art. 234 EGV vorlegenden nationalen Gerichts ganz regelmäßig gerade nicht zu eigen131. Das EuG erweist sich insoweit als weniger konsequent und wendet den betreffenden Begriff bisweilen auch im Bereich der deliktischen Haftung der Gemeinschaft an132. Indes zeigen zahlreiche Entscheidungen des EuGH, dass dieser auch außerhalb der Rechtsstreitigkeiten zivilrechtlichen Ursprungs133 zumindest neben dem engen Begriff des „droit subjectif“ auch andere den Schutz des Individuums bezweckende Rechtsnormen des primären und sekundären Ge129 Vgl. etwa EuGH, Rs. 14/61, Slg. 1962, 485, 549 (Hoogovens). In den rechtlichen Ausführungen des Gerichts erster Instanz wird insoweit der etwaig von den Verfahrensbeteiligten eingeworfene Begriff des „subjektiven Rechts“ nicht selten in ein „wohlerworbenes Recht“ umformuliert, so etwa bei EuG, verb. Rsn. T-194/97 und T-83/98, Slg. 2000, II-69, Rn. 92 (Branco/Kommission). 130 Vgl. erstmals EuGH, verb. Rs. 7/56, 3/57–7/57, Slg. 1957, 83 ff. (Algera u. a.); zur entsprechenden Bezeichnung durch das EuG vgl. etwa, EuG, T-93/96, Slg. 1996, FP-IA-369, II-1093, Rn. 72 (Presle/Cedefop); vgl. i.Ü. die zahlreichen weiteren Nachweise bei Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 26, Fn. 366. 131 Vgl. etwa jüngst EuGH, Rs. C-379/04, Slg. 2005, I-8723, Rn. 12 f. (Richard Dahms); vgl. auch schon EuGH, Rs. 13/68, Slg. 1968, 680, 693 (Salgoil): „Dagegen ist es Sache der staatlichen Rechtsordnung, zu bestimmen, (. . .) wie die so geschützte individuelle Rechtsstellung rechtlich zu qualifizieren ist.“ 132 Vgl. etwa EuG, Rs. T-196/99, Slg. 2001, II-3597, Rn. 152 ff. (Area Cova u. a./Rat und Kommission); das Gericht entschied in diesem Rechtsstreit, der die im Bereich des NAFO-Übereinkommens festgelegten und durch den Rat unter den Mitgliedstaaten aufgeteilten Fangquoten für Schwarzen Heilbutt im Nordwestatlantik betraf, dass sowohl der in Art. 8 Abs. 4 der Verordnung (EWG) Nr. 3760/92 enthaltene Grundsatz der relativen Stabilität als auch etwaige traditionelle Fischereirechte allein Rechte der Mitgliedstaaten erfassten und dem Einzelnen keine „subjektiven Rechte“ verliehen, deren Verletzung einen Entschädigungsanspruch nach Art. 288 Abs. 2 EGV begründen könne. Dass diese Entscheidung kein „Ausreißer“ ist, zeigt auch die Entscheidung EuG, Rs. T-415/03, Slg. 2005, II-4355, Rn. 55, 88 u. 96 (Cofradía de pescadores de „San Pedro“ de Bermeo u. a./Rat). 133 Die dem Gerichtshof insoweit unterbreiteten Rechtsfragen betreffen vorwiegend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivilund Handelssachen (ABl. EG 1972 L 299; konsolidierte Fassung in ABl. EG 1998 C 27) respektive die EuGVVO [Verordnung (EG) Nr. 44/2001 vom 22.12.2000 – „Brüssel I-VO“]: vgl. etwa EuGH, Rs. C-292/93, Slg. 1994, I-2535, Rn. 10, 13 u. 20 (Lieber), EuGH, Rs. C-8/98, Slg. 2000, I-393, Rn. 23 (Dansommer/Götz); EuGH, Rs. C-518/99, Slg. 2001, I-2771, Rn. 16 ff. (Gaillard).

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meinschaftsrechts anerkennen möchte. Den subjektiv-rechtlichen Charakter einer solchen Rechtsnorm drückt der Gerichtshof vor allem durch die Bezeichnung des von ihr vermittelten Rechts als „Rechtsposition des Einzelnen“134, „wohlerworbenes Recht“135, „individuelles Recht“136 oder „persönliches Recht“137 aus138. Besonders deutlich tritt die beschriebene Charakterisierung im Bereich des sekundären Rechtsschutzes zutage, in welchem der EuGH sowohl für die aus dem Geiste des EGV entwickelte Haftung der Mitgliedstaaten139 als auch für die in den Art. 235 i. V. m. 288 Abs. 2 EGV niedergelegte außervertragliche Haftung der Gemeinschaft140 für Schäden, die dem Einzelnen durch einen der jeweiligen Hoheitsgewalt zurechenbaren Gemeinschaftsrechtsverstoß entstehen, als erste wesentliche Voraussetzung der erfolgreichen Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs verlangt, dass die verletzte Gemeinschaftsrechtsnorm bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen141. Dieses ausdrückliche Postulat bedingt denklogisch die Anerkennung der Existenz solcher Normen, die zumindest auch dem Schutz des Einzelnen dienen, mithin solcher Normen, die gleichsam subjektiv-rechtliche Schutzwirkungen haben. Dass der betreffenden Rechtsnorm So EuGH, Rs. C-268/99, Slg. 2001, I-8615, Rn. 28 (Jany u. a.). Vgl. etwa EuGH, Rs. 280/93, Slg. 1994, I-4973, Rn. 7 (Deutschland/Rat). 136 So jüngst EuGH, Rs. C-230/03, Slg. 2006, I-157, Rn. 33 (Sedef/Freie Hansestadt Hamburg); ähnlich bereits EuGH, Rs. 179/84, Slg. 1985, 2301, Rn. 17 (Bozzetti/Invernizzi). 137 So jüngst EuGH, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 27 (Intermodal Transports); vgl. insofern auch die Schlussanträge des GA Geelhoed zu EuGH, Rs. C-301/04 P, Slg. 2006, I-5915, Rn. 63 (Kommission/SGL Carbon AG). 138 Vgl. ferner die zahlreichen Hinweise bei Schilling, a. a. O., 26 f. 139 Dazu grundlegend EuGH, verb. Rsn. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich u. a.); vgl. ferner EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du pêcheur und Factortame); EuGH, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631 (British Telecommunications); EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553 (Hedley Lomas); verb. Rsn. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Slg. 1996, I-4845 (Dillenkofer u. a.); EuGH, Rs. C-127/95, Slg. 1998, I-1531 (Norbrook Laboratories); EuGH, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123 (Haim); vgl. auch aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. 222/02, Slg. 2004, I-9425, Rn. 49 (Paul u. a.). 140 Vgl. insbesondere im Bereich der Haftung für legislatives Unrecht schon EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975, Rn. 11 (Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat); vgl. i.Ü. aus jüngerer Zeit etwa EuGH, Rs. C-472/00 P, Slg. 2003, I-7541, Rn. 25 (Kommission/Fresh Marine Company); EuGH, Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803, Rn. 49 (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts) sowie EuGH, Rs. C-198/03, Slg. 2005, I-6357, Rn. 61 ff. (CEVA Santé animale u. a.); vgl. näher zum europäischen Haftungsrecht Detterbeck, AöR 2000, 202 ff. 141 Obgleich eine gewisse Nähe zwischen der betreffenden Formulierung des EuGH und der deutschen Schutznormtheorie kaum zu übersehen ist, darf sie nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen hinsichtlich einer Übertragbarkeit Letzterer verleiten. 134 135

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zugleich eine allgemeine Geltung zukommt, muss der Annahme eines individualschützenden Charakter nicht entgegen stehen142. Peripher sei zudem darauf hingewiesen, dass der EuGH in seinen rechtlichen Erwägungen auch in jenem Bereich den bisweilen von den Verfahrensbeteiligten eingebrachten Begriff des subjektiven Rechts nicht in seine eigenen Ausführungen aufnimmt143, sondern insoweit konsequent bei seiner Formel vom Schutzzeck der Gemeinschaftsnorm bleibt144. Die damit vereinzelt auftretenden terminologischen Abweichungen sind freilich solange ohne Belang, wie es in der Sache um den gleichen Kern geht, namentlich die Verknüpfung von einzelnen Rechten mit der Eigenschaft des Einzelnen als rechtliches Subjekt145. c) Hinweise auf ein subjektives Grundrechtsverständnis des EuGH Indessen sei daran erinnert, dass der EuGH nie ausdrücklich von den Grundrechten als subjektiven oder individualschützenden Rechten gesprochen hat. Dabei sah er sich sehr wohl schon mit der entsprechenden Frage konfrontiert, ob das entscheidungsgegenständliche vorinstanzliche Urteil des EuG146 „das subjektive Grundrechtsinteresse des Einzelnen an der Achtung seiner individuellen Grundrechtspositionen vernachlässigt habe“147, was ihm durchaus Gelegenheit gegeben hätte, sich präziser zur Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte zu positionieren. In casu konnte er jenen klägerischen Vortrag jedoch bereits mangels ausreichender Substantiierung und damit unter Hinweis auf die Anforderungen der Art. 51 Abs. 1 EuGH-Satzung 142 Vgl. schon EuGH, verb. Rsn. 5, 7, 13 bis 24/66, Slg. 1967, 332, 354 (Kampffmeyer u. a.). 143 Vgl. jüngst EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 90 (Köbler). 144 s. dazu nur EuGH, a. a. O., Rn. 101–103 (Köbler). In den Rn. 45 ff. der Entscheidung verwendet der Gerichtshof aber den Begriff der „individuellen, aus der Gemeinschaftsrechtsordnung hergeleiteten Rechte“ mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Staatshaftung (s. Rn. 47). 145 Dass der Einzelne ebenfalls zu den Rechtssubjekten des Gemeinschaftsrechts gehört, so insbesondere in Bezug auf die Grundfreiheiten, hat der EuGH frühzeitig und ausdrücklich festgestellt, s. nur EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3, 25 (Van Gend & Loos): „(. . .) eine Rechtsordnung, deren Rechtsubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“. Partiell spricht der EuGH mit dem Begriff des Rechtssubjekts auch nur natürliche oder juristische Personen an, so bei EuGH, verb. Rsn. 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, Slg. 1988, 2181, Rn. 13 f. (Asteris u. a./Kommission). 146 EuG, Rs. T-390/94, Slg. 1997, II-501 (Schröder u. a./Kommission). 147 Vgl. die Wiedergabe des entsprechenden Rechtsmittelgrundes durch den Gerichtshof bei EuGH, Rs. C-221/97-P, Slg. 1998, I-8255, Rn. 32 (Schröder u. a./ Kommission).

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und Art. 112 § 1 lit. c) EuGH-VerfO als unzulässig abweisen und so eine Stellungnahme zu der wohl auch aus seiner Sicht nicht ohne weiteres zu beantwortenden Frage vermeiden148. Gleichwohl erschöpfen sich die Hinweise des Gerichtshofs zur rechtsnatürlichen Stellung der Grundrechte keineswegs schon in der oben zitierten Grundrechtsformel. Wenn in diesem Zusammenhang die regelmäßige Fortsetzung der Formel, „dass in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die unvereinbar sind mit den (. . .) Grundrechten“149, auf den ersten Blick ein eher objektiv-rechtliches Grundrechtsverständnis nahe legen kann, darf nicht verkannt werden, dass es insoweit nur um die auch in subjektiv-rechtlich konzipierten Grundrechtssystemen übliche Rolle der Grundrechte als objektiver Rechtmäßigkeitsmaßstab für Rechtsakte geht, was die Frage nach einer möglicherweise überwiegenden subjektiv-rechtlichen Grundrechtsnatur weder zu beantworten noch entscheidend zu tangieren vermag. Hingegen lassen sich der gemeinschaftsgerichtlichen Behandlung der Grundrechte im konkreten Fall durchaus weitere Indizien für eine gewisse rechtsdogmatische Standpunktbeziehung entnehmen. In materiell-rechtlicher Hinsicht gerät hier zunächst ins Blickfeld, dass der Gerichtshof regelmäßig nach der Feststellung der unionsrechtlichen Geltung eines Grundrechts und nach einer gegebenenfalls kurzen Konkretisierung seines allgemeinen Inhalts150 nicht nur der Sache nach die Rechtfertigung der Grundrechtsbeeinträchtigung prüft151, sondern die Prüfung bisweilen auch eindeutig als solche bezeichnet152. Die in diesem Zusammenhang zumeist verwendete Formulierung, die Grundrechte „können (. . .) Beschränkungen unterworfen werden, Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 35 f. (Schröder u. a./Kommission). St. Rspr., vgl. nur EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13 (Nold) und EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 (Hauer). 150 Letzteres bildet wohl die Ausnahme, weshalb der EuGH sich der Kritik ausgesetzt sieht, einen teils zu undurchsichtigen Entscheidungsstil zu pflegen. Kritisch etwa Ipsen, Die Bundesrepublik Deutschland in den Europäischen Gemeinschaften, in: Isensee/Kirchhof, HdBStR VII, § 181: „lakonisch-apodiktischer Entscheidungsstil“; ganz ähnlich Hengstschläger, JBl. 2000, 409, 414; analog zum Grundrechtsschutzgehalt Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 64: „insgesamt rudimentäre inhaltliche Aussagen zu den einzelnen Grundrechten“. 151 Die Nähe der Prüfungssystematik zur deutschen Grundrechtsdogmatik, nach welcher grundsätzlich zwischen der Schutzbereichs-, der Eingriffs- und der Rechtfertigungsebene zu trennen ist, lässt sich insoweit kaum negieren (vgl. dazu ausführlicher Pauly, EuR 1998, 242, 253 ff.). 152 Vgl. insbesondere aus jüngerer Zeit EuGH, verb. Rsn. C-465/00, C-138/01 u. C-139/01, Slg. 2003, I-4989, Rn. 76 (Österreichischer Rundfunk u. a.); EuGH, verb. Rsn. C-87/03 und C-100/03, Slg. 2006, I-2915, Rn. 48 (Spanien/Rat); EuGH, Rs. C-441/02, Slg. 2006, I-3449, Rn. 108 (Kommission/Deutschland). 148 149

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sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet“153, kann von einem zumindest auch individualschützenden Grundrechtsverständnis des EuGH zeugen, soweit er die Grundrechte hier nicht nur als objektiv zu achtenden Wertemaßstab, sondern gerade auch als dem Einzelnen garantierte Rechte behandelt, deren hoheitliche Verkürzung dem Urheber des Eingriffs eine besondere, vor allem den Anforderungen an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügende Begründung abverlangt. Muss ein grundrechtlicher Eingriff demnach auf einer gesonderten Ebene gerechtfertigt werden, so spricht dies für den Umstand, dass der Gerichtshof die grundrechtliche Schutzwirkung als der Ausübung öffentlicher Gewalt vorauseilend versteht. Untermauert wird dieses Verständnis im Übrigen durch die im Vorfeld grundrechtlicher Bindungsregelungen übliche Feststellung, dass die jeweiligen Hoheitsgewalten die fundamentalen Rechte des Einzelnen „achten“, Letztere also nicht erst durch die Ausübung von Hoheitsgewalt geschaffen und gewährt werden154. Sähe der Gerichtshof die Grundrechte dagegen als bloß objektiv-rechtliche Prinzipien an, läge eine gestufte Dogmatik eher fern, da nach hergebrachter rechtlicher Terminologie in ein objektives Rechtsgebot nicht eingegriffen wird, sondern eher von einem bloßen Verstoß gegen dieses die Rede wäre, wobei das Vorliegen des Prinzipienverstoßes davon abhinge, ob das hoheitliche Verhalten in Konkordanz zu dem betreffenden objektiven Grundsatz steht, was methodisch auf einer einzigen Abwägungsebene zu beurteilen wäre. Letztere Vorgehensweise entspricht, wie gezeigt, aber nicht der Praxis des EuGH, was durchaus als Indiz zugunsten eines subjektivrechtlichen Grundrechtsverständnisses fruchtbar gemacht werden kann. Zudem bringt der Gerichtshof regelmäßig zum Ausdruck, dass er einzelne Grundrechte und darunter in erster Linie die Berufsfreiheit als solche 153 EuGH, Rs. C-295/03-P, Slg. 2005, I-5637, Rn. 86 (Alessandrini u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-200/96, Slg. 1998, I-1953, Rn. 21 (Metronome Musik); ebenso schon EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 32 (Hauer); EuGH, Rs. 265/87, Slg. 1989, 2237, Rn. 15 (Schräder); EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 17 und 18 (Wachauf); ähnlich für das Recht auf Achtung des Privatlebens etwa EuGH, verb. Rsn. C-465/00, C-138/01 und C-139/01, Slg. 2003, I-4989, Rn. 74 (Österreichischer Rundfunk u. a.). 154 Vgl. schon die Formulierung bei EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft). Bezeichnend sind ebenso die Fassungen des später eingehender zu behandelnden Art. 6 Abs. 2 EUV sowie des Art. 1 EMRK [gegenüber der deutschen Fassung hier besonders deutlich die französische Fassung: „Les Hautes Parties contractantes reconnaissent (. . .)“ (Hervorhebung durch den Verfasser)] und ferner des Art. 1 Abs. 1 GG in Bezug auf die Achtung der unantastbaren Menschenwürde.

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Rechtspositionen versteht, die in tatsächlicher Hinsicht zu einer grundsätzlich freien Ausübung durch den Einzelnen berechtigen155. Auch diese Bekundung kann als tendenzielle Positionierung zur Wirkungsweise der Grundrechte und folglich als gewichtiger Hinweis auf einen freiheitsrechtlichen, individualschützenden Charakter derselben gewertet werden. Ein entsprechendes Verständnis findet auch in der Rechtsprechung des EuG Ausdruck, wenn dieses Eingriffe in „die von den Klägern in Anspruch genommenen Grundrechte“156 einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterzieht. Korrelierende Hinweise lassen sich überdies den Entscheidungen des EuGH zu einzelnen Diskriminierungsverboten entnehmen. So kann speziell der Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau, der nach der Auffassung des Gerichtshof zu den Grundrechten des Gemeinschaftsrechts zählt157, für die interessierten Privatpersonen Rechte begründen, die von den Gerichten zu schützen sind158. Mit Blick auf die prozessuale Seite der Grundrechte können die betreffenden Verlautbarungen darüber hinaus dahingehend verstanden werden, dass die gerichtliche Geltendmachung eines Rechts durch den Einzelnen gerade in seiner Eigenschaft als Träger des in Frage stehenden Rechts und nicht nur in Form einer Prozessstandschaft als Vertreter der Interessen der Allgemeinheit erfolgt. Bereits in seinem überaus bedeutsamen Urteil in der Rechtssache Van Gend en Loos hat der Gerichtshof deutlich zu verstehen gegeben, dass die Möglichkeit der Anrufung der Gemeinschaftsgerichte durch den Einzelnen sowohl die im Dienste der Allgemeinheit stehende Wahrung der Rechtsordnung als auch die in seinem eigenen Interesse liegende Durchsetzung gerichtlichen Schutzes der individuellen Rechte bezweckt159. Vor diesem Hintergrund kann die Möglichkeit der Subsumtion 155 Vgl. etwa EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 87 (ABNA u. a.): „Nach ständiger Rechtsprechung gehört das Eigentumsrecht wie auch das Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit zu den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrecht. (. . .) Folglich können die Ausübung des Eigentumsrechts wie auch das Recht auf freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit Beschränkungen unterworfen werden“; ebenso EuGH, verb. Rsn. C-154/04 und C-155/04, Slg. 2005, I-6451, Rn. 126 (Alliance for natural health u. a.); allgemeiner EuGH, verb. Rsn. C-226/04 u. C-228/04, Slg. 2006, I-1347, Rn. 38 (La Cascina und Zilch): „(. . .) Ausübung und Wahrung der Grundrechte (. . .)“. 156 EuG, Rs. T-390/94, Slg. 1997, II-501, Rn. 125 (Schröder u. a./Kommission). 157 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-270/97 und C-271/97, Slg. 2000, I-929, Rn. 56 (Sievers und Schrage); EuGH, Rs. C-285/98, Slg. 2000, I-4217, Rn. 23 (Kreil); EuGH, Rs. C-256/01, Slg. 2004, I-873, Rn. 65 (Allonby); ähnlich EuGH, Rs. C-177/05, Slg. 2005, 10887, Rn. 26 (Guerrero Pecino). 158 Vgl. EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455, Rn. 21 ff. (Defrenne I). 159 Vgl. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3, 26 (Van Gend & Loos); zur Funktionalisierung des Einzelnen im Interesse der effektiven Geltung des Gemeinschaftsrechts

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grundrechtstypischer Rechtspositionen unter das im Falle des Angriffs normativer EG-Rechtsakte äußerst restriktiv gehandhabte Tatbestandsmerkmal der individuellen Betroffenheit160 nach Art. 230 Abs. 4 EGV für eine subjektiv-rechtliche Behandlung der Grundrechte sprechen. Insoweit dürfte sich die Individualklagebefugnis im Sinne der Norm161 entgegen einer früheren Äußerung des EuG162 auch über eine grundrechtliche Betroffenheit begründen lassen, wie die Zusammenschau verschiedener Entscheidungen des EuGH vermuten lässt. Hält man sich nämlich vor Augen, dass das Recht auf „freie Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit“ nach ständiger Rechtsprechung zu den Grundrechten gehört163, wurde die Individualklagebefugnis wohl bereits in der Rechtssache Extramet164 – genau betrachtet – über eine Grundrechtsposition begründet, soweit dort die besonders schwere Beauch Masing, Zur Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, S. 47 ff.; ferner Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der EG, S. 220 ff. 160 Vgl. dazu ausführlicher Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EURechtsschutz, § 7, Rn. 64. 161 Die Wahl dieses im deutschen Verwaltungsprozessrecht geläufigen Begriffs erscheint zwar angesichts der Eigenheiten des Verfahrenssystems des EG-Rechts nicht vollends glücklich, könnte die Anlehnung doch den trügerischen Eindruck vermitteln, dass entsprechend enge Systemparallelen zwischen den unterschiedlichen Rechtssystemen, insbesondere in Bezug auf die überwiegende Ausprägung der Rechtsbehelfe im deutschen System als „Verletztenrechtsbehelfe“, bestehen. Der Begriff des Klagerechts (oder auch der Klageberechtigung) wäre insoweit wohl neutraler, da er hinreichend offen erscheint, um die verschiedenen Facetten der hier interessierenden Zulässigkeitsvoraussetzungen unbefangen zu betrachten. Indes verwendet auch der EuGH in den deutschen Fassungen der im Anwendungsbereich des Art. 230 Abs. 4 EGV ergehenden Entscheidungen den Begriff der „Klagebefugnis“ (im Französischen zumeist: „qualité d’agir“ oder auch „droit d’agir“; im Englischen: „right of action“), so etwa schon in EuGH, Rs. 169/84, Slg. 1986, 391, Rn. 21 (Cofaz u. a./Kommission) und ebenso jüngst wieder in EuGH, Rs. C-367/04 P, Slg. 2006, I-26, Rn. 46 und 60 (Deutsche Post und DHL Express), so dass insoweit von der Existenz einer gemeinschaftsrechtseigenen Terminologie auszugehen ist. Vgl. i.Ü. für das Gericht erster Instanz EuG, Rs. T-88/01, Slg. 2005, II-1165, Rn. 53 (Sniace/Kommission) und exemplarisch für die Generalanwälte GA Léger, Schlussanträge zu EuGH, verb. Rsn. C-182/03 u. C-217/03, Rn. 176, 181 u. 197 (Belgien/ Kommission). 162 Vgl. EuG, Rs. T-13/94, Slg. 1994, II-431, Rn. 15 (Century Oils Hellas/Kommission): „Für die Beurteilung der Zulässigkeit der Klage ist es ohne Belang, daß die Klägerin geltend macht, es liege ein Verstoß gegen ihr Eigentumsrecht vor, wie es durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und durch Art. F des Vertrages über die Europäische Union geschützt sei.“ Soweit ersichtlich, hat das EuG diese Ansicht nicht in der gleichen Art und Weise wiederholt. 163 Vgl. nur EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 86 f. (ABNA u. a.). 164 EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501 (Extramet Industrie/Rat).

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einträchtigung der wirtschaftlichen Tätigkeiten der Klägerin als größter Importeur des vom Klagegegenstand erfassten Erzeugnisses165 für die individuelle Betroffenheit genügte166. Fernerhin kann die logische Verknüpfung der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Codorniu167, in welcher die Inhaberschaft eines Markenzeichens zur Stützung der Klagebefugnis akzeptiert wurde168, mit der Entscheidung in der Rechtssache SMW Winzersekt169, in der die Verletzung eines Markenzeichens als Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit gewertet wurde170, für die Zulässigkeit sprechen, Grundrechte unter den Tatbestand des Art. 230 Abs. 4 EGV zu subsumieren171. Diese aus einzelnen Entscheidungskombinationen folgenden Hinweise auf ein subjektiv-rechtliches Grundrechtsverständnis des EuGH verdichten sich schließlich nochmals im Zuge eines Blickes auf seine Rechtsprechung zur Gewähr primären Rechtsschutzes durch die Mitgliedstaaten und zum sekundären Rechtsschutz auf der Gemeinschaftsebene. So fordert der Gerichtshof in Bezug auf Erstere die Anfechtbarkeit innerstaatlicher Entscheidungen, wenn diese „ein vom Vertrag verliehenes Grundrecht“172 verletzen. Es liegt nahe, dass der EuGH hier nicht die Allgemeinheit, sondern den 165 In dem Fall wehrte sich die Klägerin – im Ergebnis erfolgreich – gegen die Verordnung (EWG) Nr. 2808/89, durch welche die Einfuhr von Calcium-Metall aus der Volksrepublik China und der ehemaligen Sowjetunion endgültig mit Antidumpingzöllen belegt werden sollte. 166 EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 17 (Extramet Industrie/Rat): „Die Klägerin hat aber das Vorliegen einer Reihe von Umständen nachgewiesen, die eine derartige besondere, sie im Hinblick auf die fragliche Maßnahme aus dem Kreis aller übrigen Wirtschaftsteilnehmer heraushebende Situation begründen. Sie ist nämlich der größte Importeur des Erzeugnisses, das Gegenstand der Antidumpingmaßnahme ist, und zugleich Endverbraucher dieses Erzeugnisses. Außerdem hängen ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten sehr weitgehend von diesen Einfuhren ab und sind von der streitigen Verordnung schwer getroffen, da nur wenige Produzenten das fragliche Erzeugnis herstellen und die Klägerin Schwierigkeiten hat, es sich bei dem einzigen Hersteller der Gemeinschaft zu beschaffen, der zudem noch ihr Hauptmitbewerber für das Verarbeitungserzeugnis ist.“ 167 EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (Codorniu/Rat). 168 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 21 f. (Codorniu/Rat). 169 EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 (SMW Winzersekt/Rheinland-Pfalz). 170 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 22 ff. (SMW Winzersekt/Rheinland-Pfalz). 171 So auch Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EUV, Rn. 55, unter Hinweis auf die entsprechende Interpretation des Urteils Codorniu durch Nowak, EuZW 2000, 453, 470 ff.; ebenso wohl Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 93; Toth, CMLR. 1997, 491, 517 ff.; ähnlich schon Arnull, CMLR 1995, 7, 39; Nettesheim, Article 173 EC-Treaty and Regulations, S. 225, 237; ders., JZ 2002, 928, 930; a. A. etwa: Götz, DVBl. 2002, 1350 ff.; Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1313. 172 EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577, Rn. 64 (Dounias).

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Einzelnen als Schutzadressat der verliehenen Grundrechte anspricht. Im Lichte der bereits erwähnten Formel des EuGH zu den Voraussetzungen einer deliktischen Haftung der EG impliziert im Übrigen auch die Behandlung der Gemeinschaftsgrundrechte im Anwendungsbereich der Art. 288 Abs. 2 i. V. m. 235 EGV173 ihre Zugehörigkeit zu jenen Rechtsnormen, die dem Schutz des Einzelnen zu dienen bestimmt sind174. d) Zwischenbewertung Fehlt es nach alledem an einer ausdrücklichen Stellungnahme des Gerichtshofs zur Rechtsnatur der Grundrechte, lassen sich in der Grundrechtsrechtsprechung unter Zugrundelegung eines systemeigenen Begriffsverständnisses durchaus zumindest auch subjektiv-rechtliche Aspekte feststellen. In der Gesamtschau streitet insbesondere im Bereich des Grundrechtsregimes mehr für die Annahme, dass der Gerichtshof in den von ihm anerkannten Rechtspositionen trotz ihrer Qualifizierung als allgemeine Rechtsgrundsätze nicht allein objektive Wertemaßstäbe sieht, sondern ihnen auch eine veritable individualrechtliche Schutzkomponente zusprechen möchte. 4. Eigene Bestimmung der Rechtsnatur der Unionsgrundrechte Bei genauerer Hinsicht oszilliert die Problematik der rechtsnatürlichen Einordnung der Grundrechte letztlich um zwei Kernfragen, namentlich welche rechtsdogmatischen Folgerungen erstens aus der in der Rechtsprechung des EuGH und in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgenommenen hermeneutischen Verknüpfung der Grundrechte mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowie zweitens aus den Modalitäten ihrer Einbettung in das prozessuale System des EGV zu ziehen sind. Die entscheidenden Fragen lauten mithin, was hermeneutisch unter der Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze 173 Vgl. insoweit exemplarisch zum Eigentumsrecht EuGH, Rs. 281/84, Slg. 1987, 49, Rn. 25 ff. (Zuckerfabrik Bedburg u. a.); die Klage wurde indes schon mangels Grundrechtseingriffs abgewiesen. In den Rn. 32 ff. der Entscheidung prüft der EuGH im Übrigen einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitsgrundsatz. 174 In diesem Sinne auch schon Everling, DRiZ 1993, 5, 9. Bemerkenswert ist hierbei, dass ein Haftungsanspruch des Einzelnen gegen die Gemeinschaft oder einen Mitgliedstaat dem Grunde nach nur selten und, soweit ersichtlich, auch erst in jüngerer Zeit auf der Grundlage einer Grundrechtsverletzung zugesprochen wird [vgl. dazu etwa jüngst die Entscheidung EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 239 ff. (Sison/Rat), im Rahmen derer die haftungsbegründenden Voraussetzungen zwar bejaht wurden, dem Kläger aber keine finanzielle Entschädigung zugesprochen wurde; vgl. auch die Entscheidung EuG, Rs. T-176/01, Slg. 2004, II-3931, Rn. 165 ff. (Ferriere Nord/Kommission), in welcher das Gericht eine Stellungnahme zur Grundrechtsverletzung vermied].

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des Gemeinschaftsrechts zu verstehen ist, ob deren generelle Rechtsnatur gleichsam jene der Grundrechte vorgibt, welche spezifischen Funktionen die Gemeinschaftsgrundrechte dabei im Gemeinschaftsrecht übernehmen und, damit zusammenhängend, ob und in welcher Stellung der Einzelne sie im EG-Rechtssystem einklagen kann. a) Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze: Grammatikalische Annäherung Während die Existenz der Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze175, die erstmals in Art. 38 § 3 des StIG-Statuts Eingang in eine geschriebene Völkerrechtsquelle gefunden hat, weithin anerkannt ist176, fielen und fallen die einschlägigen Definitionsansätze um so uneinheitlicher aus177. Auch wurde früher bisweilen ihre Rechtsquellenqualität in Frage gestellt, soweit sie in erster Linie als norminspirative Prinzipien und nicht als rechtsverbindliche Regeln verstanden werden konnten178. Die Überzeugung von ihrer rechtsverbindlichen Natur setzte sich jedoch insbesondere im Völkerrecht rasch durch179 und fand durch die Erwähnung in Art. 38 IGH-Statut, nach welchem der Internationale Gerichtshof die ihm unterbreiteten Streitigkeiten „nach dem Völkerrecht“180 zu entscheiden habe, eine rechtspositive Bestätigung. Nähert man sich dem Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze auf einer begriffsanalytischen Ebene, so sind mit diesem „Grundsätze“ gemeint, die einen inhaltlichen Zusammenhang zum „Recht“ besitzen. Grundsätze lassen sich vor allem dadurch charakterisieren, dass sie klar formulierbare und 175 Englisch: „general priciples of law“; Französisch: „Principes généraux du droit“. 176 Sie wird nicht nur in Art. 38 § 1 lit. c) des IGH-Statuts genannt, sondern tritt auch in den meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, so etwa in Deutschland, Frankreich und Italien auf (vgl. dazu schon Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 64, Fn. 22). 177 Vgl. dazu bereits den Überblick bei Berber, Lehrbuch des Völkerrechts I, S. 66 f. Vgl. speziell für den Bereich des Gemeinschaftsrechts die Darstellung bei Rüber, Der Gerichtshof der europäischen Gemeinschaften und die Konkretisierung allgemeiner Rechtsgrundsätze, S. 25 ff. 178 Dahingehende Ausführungen bei Spiropoulos, Die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Völkerrecht, in: Sammelband für Völkerrecht, Bd. 8, S. 26; in Diskrepanz hierzu aber sodann ders., a. a. O., S. 63 f., wonach die allgemeinen Rechtsgrundsätze eine von jeher für die Staaten verbindliche Rechtsquelle bilden. 179 Vgl. dazu bereits Cheng, General principles of law: as applied by international courts and tribunals, S. 24; ferner Tunkin, in: Kaplan/Katzenbach/Tunkin, Modernes Völkerrecht, S. 211, 307. 180 Englisch: „in accordance with international law“.

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konsistente Erkenntnisse oder Regeln ausdrücken, die regelmäßig keiner weiteren Reduktion zugänglich sind und als Grundlage für nachfolgende Überlegungen, Aussagen oder Tätigkeiten fungieren181. Ihrer Charakterisierung als beständige Grundlagen steht nicht entgegen, dass das Attribut „grundsätzlich“ in der Umgangs- wie auch in der Rechtssprache gerade die Möglichkeit von Ausnahmen ausdrückt, da auch ein Prinzip nicht ausnahmslos gelten kann, sondern im Falle einer konkreten Prinzipienkollision einem präponderierenden Prinzip weichen muss182. Ein ähnlicher terminologischer Gehalt des Begriffs der Grundsätze ergibt sich auch im Zuge eines Abgleichs mit jenem der Grundwerte, unter dem namentlich jene menschlichen Einstellungen verstanden werden können, von deren Festigkeit und Richtigkeit der Einzelne besonders überzeugt ist183. Die inhaltliche Verbindung mit dem Begriff des Rechts impliziert des Weiteren, dass die Wirkungen von Grundsätzen auf ein einzelnes oder auch auf mehrere Rechtssysteme gerichtet sind und dort aufgrund deren systematischer Basisstellung in den Grenzen des jeweiligen Aussagegehalts normativ-leitende Bedeutung haben. Rechtsgrundsätze sind folglich rechtliche Prinzipien, die elementare Vorstellungen der Gerechtigkeit und damit grundlegende Rechtsgedanken ausdrücken, auf welche die Rechtsordnung nicht verzichten kann und welche die Gesamtheit dieser Rechtsordnung durchdringen184. Sie stehen in einem hierarchisch übergeordneten Kontext zu den auf den Einzelfall anzuwendenden Rechtsregeln185. Die Aktivierung ihres normativen Leitgehalts186 erfolgt quasi-akzessorisch zur konkreten Rechtsanwendung187. Da sich Rechtsgrund181 In Anbetracht ihrer leitenden Grundlagenfunktion werden Grundsätze auch als Prinzipien bezeichnet. Auch der EuGH macht wohl keinen Unterschied zwischen den beiden Begriffen [s. insoweit etwa EuGH, verb. Rsn. 117/76 u. 16/77, Slg. 1977, 1753, Rn. 7 (Ruckdeschel u. a.)]. Die Verwendung der Begriffe soll auch hier weitgehend synonym erfolgen. 182 Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 77 ff. 183 Vgl. Di Fabio, JZ 2004, 1, 3. 184 Dazu ausführlicher Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 41 und S. 46 f. m. w. N.; vgl. aus jüngerer Zeit ders., ZEuS 2003, 337, 339. 185 Zur Unterscheidung zwischen Regeln und Prinzipien im Kontext zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen näher Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 45 f.; zum Bereich der Grundrechte ausführlich Alexy, a. a. O., S. 71 ff., der im Übrigen auch die Einwände gegen die Verwendung des herkömmlichen Prinzipienbegriffs diskutiert (s. Alexy, a. a. O., 93 ff.). 186 Ähnlich Di Fabio, JZ 2004, 1, 3. 187 Dahingehend auch Alexy, der Prinzipien als Optimierungsgebote versteht (Alexy, a. a. O., S. 75 ff.), die bei Fallrelevanz das Regelsystem ausdifferenzieren (Alexy, a. a. O., S. 92).

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sätze schon aufgrund ihres Charakters ganz regelmäßig in allgemein gehaltenen Aussagen erschöpfen, erweist sich ihre semantische Verknüpfung mit dem Attribut der Allgemeinheit im Übrigen als pleonastische Beschreibung. b) Die Rechtsnatur der allgemeinen Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht Überträgt man jene Beschreibung auf den Bereich des Unionsrechts und hält man sich zugleich die grundlegende rechtliche Bedeutung der allgemeinen Rechtsgrundsätze vor Augen, so liegt ihre generelle, von einer primärrechtlichen Nennung unabhängige Existenz188 wie auch ihre Rechtsquellenqualität gleichermaßen im unionalen Rechtssystem auf der Hand189. Weniger klar kann hier aber die Frage zu beantworten sein, ob es sich bei gegenständlichen Wertaussagen überhaupt um veritable Rechtsgrundsätze oder bloß um rechtlich unverbindliche, da rein programmatische Grundsätze handelt, wie sie vereinzelt auch in der Charta der Grundrechte enthalten sind190. Überdies gilt zu beachten, dass im Felde des Europarechts terminologisch zwischen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, die sich direkt aus dem Geist und den Systembesonderheiten des EG-Vertrags ergeben191, und jenen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die im Wege wertender Rechtsvergleichung vor allem aus Gemeinsamkeiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen hergeleitet werden192, differenziert werden kann193. Zu letzterer Gruppe gehören auch die im Rahmen dieser Bearbeitung im Vordergrund stehenden Grundrechte, da diese in der Praxis des EuGH, wie bereits erwähnt, eine nicht unerhebliche Rückkopplung an die mitliedstaatlichen Grundrechtsregimes erfahren haben. 188 Zur erstmaligen Anerkennung allgemeiner Rechtsgrundsätze außerhalb des Art. 288 Abs. 2 EGV durch den EuGH s. o. in Fn. 43. 189 s. dazu auch Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 86, nach welchem auch die Gemeinschaft – wie alle internationalen Organisationen – über die interne Rechtsquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze verfügt. 190 Vgl. dazu insbesondere die Art. 26, 36, 37, 38, 51 Abs. 1 S. 2, 52 Abs. 5 GrCh. 191 Beispielhaft genannt sei hier die Eigenständigkeit, die unmittelbare Anwendbarkeit und der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts sowie das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung. 192 Zu diesen Grundsätzen sind wohl der Grundsatz der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, das Rückwirkungsverbot, der Grundsatz von Treu und Glauben und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu zählen. 193 Vgl. nur Krück, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 164 EGV, Rn. 22; Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 15 f.; ebenso bereits Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 50 und S. 55 ff.

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Unter der Prämisse, dass die Gesamtheit einer Rechtsordnung als solche, sprich die Summe aller Normen zunächst objektives Recht darstellt194, und unter Berücksichtigung der in Rechtsgrundsätzen regelmäßig enthaltenen allgemeinen Leitaussage sind diese auf den ersten Blick wohl ebenso als objektive Rechtsprinzipien anzusehen195, soweit sie sich an die Inhaber der Hoheitsgewalt196 richten und auf den unterschiedlichsten Rechtsebenen die Ausübung der hoheitlichen Befugnisse steuern. Dies gilt weitestgehend sowohl für jene gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze, die originär dem Gemeinschaftsrecht eigen sind, als auch für solche allgemeinen Rechtsgrundsätze, die vom EuGH derivativ auf der Grundlage der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen entwickelt wurden. Ein Paradebeispiel für einen solchen objektiv-rechtlichen Rechtsgrundsatz bildet etwa der Grundsatz der Gesetzmäßigkeit hoheitlichen Handelns197. Zugleich jedoch können allgemeine Rechtsgrundsätze im Gemeinschaftsrecht und dabei insbesondere die aus dem Rechtsstaatsprinzip fließenden Grundsätze auch mehr oder weniger deutliche individualschützende Ausprägungen aufweisen. So wird vor allem dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz198 auch eine subjektiv-rechtliche Schutzfunktion zugesprochen199. Gleiches dürfte unter teleologischer Betrachtung für die Grundsätze der Rechtssicherheit200 und des Vertrauensschutzes201 sowie für deren spezielle Ausprägung s. dazu Röhl, Allgemeine Lehren, S. 387 ff. Mit dieser Tendenz auch Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 87 f. 196 Gemeint sind nicht nur die EU/EG, sondern auch die Mitgliedstaaten, soweit Letztere Europarecht „durchführen“ [ausführlicher zum Begriff der Durchführung des Gemeinschaftsrechts unten Teil 2 B. III. 4. b) bb)]. 197 Vgl. zu diesem schon EuGH, verb. Rsn. 42 u. 49/59, Slg. 1961, 111, 172 (SNUPAT); vgl. aus jüngerer Zeit auch EuGH, Rs. C-500/99 P, Slg. 2002, I-867, Rn. 93 (Conserve Italia/Kommission). 198 Vgl. zu diesem schon EuGH, Rs. 122/78, Slg. 1979, 677, Rn. 16/18 (Buitoni). 199 Vgl. Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 6; i. Erg. ebenso bereits v. Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 5 EGV (Mai 1995), Rn. 47. Zweifelhaft erscheint dies nur, soweit die Annahme zutrifft, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch „zugunsten“ der Mitgliedstaaten gilt (in letzterem Sinne etwa Lienbacher, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 5 EUV, Rn. 36). 200 Vgl. hierzu schon EuGH, verb. Rsn. 42 u. 49/59, Slg. 1961, 111, 172 (SNUPAT); vgl. ferner insbesondere EuGH, Rs. 1/73, Slg. 1973, 723, Rn. 6 ff. (Westzucker) sowie EuGH, Rs. 265/78, Slg. 1980, 617, Rn. 15 (Ferwerda); ausführlicher EuG, verb. Rsn. T-22/02 u. T-23/02, Slg. 2005, II-4065, Rn. 80 ff. (Sumitomo Chemical/Kommission). 201 Vgl. speziell zu diesem etwa EuGH, Rs. C-186/96, Slg. 1998, I-8529, Rn. 43 (Demand/Hauptzollamt Trier); EuGH, verb. Rsn. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rn. 15 (Mulder u. a./Rat und Kommission); EuGH, Rs. C-5/89, Slg. 1990, 194 195

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des Rückwirkungsverbots202 gelten, wofür auch die gängige Formulierung, der Gerichtshof „gewährleiste“ die Beachtung solcher Grundsätze203, streitet. Das jeweilige Ausmaß des subjektiv-rechtlichen Charakters differiert freilich von Rechtsgrundsatz zu Rechtsgrundsatz teils beträchtlich204. c) Überlegungen zu einer rechtsnatürlichen Schicksalsgemeinschaft der allgemeinen Rechtsgrundsätze und der Grundrechte Sind allgemeine Rechtsgrundsätze also a priori objektives Recht, so knüpft sich hier die Frage an, ob mit dieser Einschätzung auch über das rechtsnatürliche Schicksal der Grundrechte entschieden ist. So erscheint einerseits die Argumentation möglich, die Klassifizierung der Grundrechte „als allgemeine Rechtsgrundsätze“ bedinge geradezu eine gleichmäßige Rechtsnatur. Auch ist den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und den Grundrechten offenkundig der Charakterzug gemein, dass beide ausweislich des übereinstimmenden Morphems „Grund“ ein regelmäßig überragend wichtiges, auf der höchsten Hierarchieebene eines Rechtssystems stehendes, bereichsübergreifendes Rechtselement beinhalten. Andererseits darf nicht aus dem Blickfeld geraten, dass einige der nichtgrundrechtlichen allgemeinen Rechtsgrundsätze ihrerseits weitreichende subjektiv-rechtliche Züge aufweisen können. Qualität und Umfang jener individualschützenden Ausläufer unterscheiden sich dabei von Fall zu Fall erheblich und können aus einem theoretischen Blickwinkel auch derart in den Vordergrund treten, dass eine rein objektiv-rechtliche Charakterisierung des jeweiligen Rechtsgrundsatzes nicht mehr seiner Funktions- und Wirkungsweise gerecht würde. Gegebenenfalls kann es sich daher anbieten, die rechtsnatürliche Einordnung in erster Linie an dem individuellen Funktionsgepräge des jeweiligen Grundsatzes auszurichten. Die Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze nähme bei einer solchen Betrachtungsweise gleichsam die Rolle eines Rechtsquellengerüsts ein, an welchem sich essentielle ungeschriebene Rechtsprinzipien und Grundwerte der Rechtsordnung aufhängen könnten, ohne zugleich ihre rechtsnatürlichen Eigenheiten preiszugeben. I-3437, Rn. 13 (Kommission/Deutschland) sowie schon früher EuGH, verb. Rsn. 205/82 bis 215/82, Slg. 1983, 2633, Rn. 30 (Deutsche Milchkontor). 202 Vgl. dazu grundlegend EuGH, Rs. 98/78, Slg. 1979, 69, Rn. 20 (Racke/ Hauptzollamt Mainz); EuGH, Rs. 99/78, Slg. 1979, 101, Rn. 8 (Decker); EuGH, Rs. C-368/89, Slg. 1991, I-3695, Rn. 17 (Crispoltoni). 203 So etwa in EuGH, C-97/95, Slg. 1997, I-4209, Rn. 26 (Pascoal & Filhos). 204 Ausführlicher zu den weiteren allgemeinen Rechtsgrundsätzen Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 17 ff., der jedoch in Abweichung zur hiesigen Auffassung auch das Recht auf effektiven Rechtsschutz zu den „sonstigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen“ zählt.

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Zu vergegenwärtigen ist in diesem Zusammenhang auch, dass der EuGH nicht viel mehr Möglichkeiten hatte, als die völkerrechtlich bereits weithin anerkannte Rechtsquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze zu bemühen, um schnell genug auf das bei Gründung der Gemeinschaften nicht mitbedachte, sodann aber um so rascher gewachsene und auch seitens der Mitgliedstaaten deutlich artikulierte Bedürfnis nach einer Begründung gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes zu reagieren205. Denn regionales Gewohnheitsrecht konnte er hier mangels hinreichender consuetudo und darauf gerichteter opinio juris nicht in zulässiger Weise feststellen. Auch konnte der aufgrund der Gefahr für die einheitliche Geltung des Gemeinschaftsrechts unter Zugzwang geratene EuGH damals kaum auf das ohnehin schwerfällige und zu jenem Zeitpunkt im Ausgang besonders ungewisse Agieren der Vertragsstaaten hoffen. Der Rückgriff auf die Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze darf vor diesem Hintergrund nicht vorschnell zur Annahme eines rein objektiv-rechtlichen Grundrechtsbekenntnisses verleiten. Vielmehr legen die bereits aufgezeigten individualschützenden Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH ein gegenteiliges Zeugnis ab. Dass selbst der EuGH eine terminologisch-dogmatische Trennung zwischen objektiv-rechtlichen Grundgeboten und subjektiv-rechtlichen Grundpositionen nicht ganz strikt einhält, zeigt neben den partiellen Ungenauigkeiten in der rechtsnatürlichen Zuordnung einzelner Grundrechte206 mitunter auch seine Judikatur zu einzelnen Grundfreiheiten, soweit er diese gelegentlich als freiheitliche „Grundsätze“ bezeichnet207. Ähnlich verhält es sich im Bereich der allgemeinen und speziellen Diskriminierungsverbote des Gemeinschaftsrechts, deren Rechtnatur in der Rechtsprechung gleichfalls keine einheitliche Behandlung widerfährt208. In Abwesenheit eines 205 Vgl. dazu nochmals insbesondere BVerfGE 37, 271, 285 (Solange I) und Giur. Cost., EuR 1974, 253 (Frontini ed altri/Admministrazione Finanze Stato). 206 Vgl. etwa für den Fall der Zuordnung des Eigentumsrechts und der Berufsfreiheit zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ohne den Zusatz der Grundrechtsqualität EuGH, Rs. 265/87, Slg. 1089, 2237, Rn. 15 (Schräder/Hauptzollamt Gronau). 207 Vgl. nur EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 5/7, 18/19 u. 21/23 (Van Duyn) zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. 208 s. zum einen mit Blick auf das allgemeine Willkürverbot im Sinne eines objektiven Grundsatzes EuGH, Rs. 368/96, Slg. 1998, I-7967, Rn. 61 (Generics u. a.); ähnlich EuGH, C-13/94 P, Slg. 1996, I-2143, Rn. 18 (P/S und Cornwall County Council) und EuGH, verb. Rsn. 117/76 u. 16/77, Slg. 1977, 1753, Rn. 7 (Ruckdeschel u. a.) sowie EuGH, Rs. 122/95, Slg. 1998, I-973, Rn. 62 (Deutschland/Rat); s. zum anderen speziell zum geschlechtlichen Diskriminierungsverbot EuGH, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365, Rn. 26 f. (Defrenne II); ähnlich EuGH, Rs. 13/94, Slg. 1996, I-2143, Rn. 19 (P/S) sowie EuGH, verb. Rsn. 75/82 u. 117/82, Slg. 1984, 1509, Rn. 16 (Razzouk und Beydoun/Kommission); EuGH, Rs. C-185/97, Slg. 1998, I-5199, Rn. 23 (Groote/Granada Hospitality) und EuGH, verb. Rsn. C-270/97 und C-271/97, Slg. 2000, I-929, Rn. 56 (Sievers und Schrage).

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entsprechenden Feingefühls des EuGH für dogmatisch trennscharfe Formulierungen räumen daher selbst die Befürworter des rein objektiven Charakters der allgemeinen Rechtsgrundsätze einschließlich der Grundrechte ein, dass sich die Frage zur grundrechtlichen Rechtsnatur nicht vollends und jedenfalls nicht allein anhand der Rechtsprechung des EuGH klären lässt209. Nach alledem ist mit der Einordnung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze noch nicht die Frage beantwortet, ob diese vorwiegend oder gar allein objektiv-rechtliche Rechtmäßigkeitsmaßstäbe darstellen. Die Eigenständigkeit der unionalen Rechtsordnung verlangt hier nach einer ebenso autonomen rechtsdogmatischen Betrachtung. Eine demgemäß von den Besonderheiten des Rechtsregimes der Grundrechte zeugende Behandlung ist im Übrigen schon in den Regelungen des Art. 6 EUV angelegt, soweit diese Vorschrift in ihrem ersten Absatz eine Reihe von Grundsätzen und dazu gehörend insbesondere auch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und das Gebot der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zu den Eckpfeilern der Union erklärt und zusätzlich im ihrem zweiten Absatz das Postulat der Grundrechtsachtung spezifiziert. Unbeschadet der rechtlichen Bedeutung dieser Bestimmung und ihres genaueren Inhalts210 lässt sich bereits aus der grammatischen Doppeldifferenzierung herauslesen, dass die Grundrechte kein unselbständiger Wesensbestandteil des Gebots der Rechtsstaatlichkeit als Basiselement der Europäischen Union darstellen211. Soweit in allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie etwa der rechtsstaatlichen Verpflichtung der Hoheitsgewalt zur Grundrechtsachtung zunächst objektive Gebote zu sehen sind, die erst in zweiter Hinsicht auch subjektiv-rechtliche Aspekte aufzeigen, bilden jedenfalls die Grundrechte ein eigenständiges Rechtsregime in der Gemeinschaftsrechtsordnung und insoweit nicht zwingend eine rechtsnatürliche Schicksalsgemeinschaft mit den übrigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Vielmehr können sie schon nach dem bisher Gesagten und ungeachtet ihrer rechtsgrundsätzlichen Gestalt weitaus mehr sein, als rein objektiv-rechtliche Rechtselemente eines autonomen Rechtssystems.

209 s. Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 27. Auf diesen Aspekt stützt sich auch Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 88. 210 Zur rechtlichen Bedeutung und zum quellenhermeneutischen Inhalt des Art. 6 Abs. 2 EUV ausführlich in Teil 3 unter B. 211 In diesem Sinne auch Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 23, soweit er zwischen Grundrechten und anderweitigen rechtsstaatlichen Rechtsgrundsätzen unterscheidet.

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d) Funktionale und prozessuale Betrachtung der Gemeinschaftsgrundrechte Ob ein bestimmtes Element einer autonomen Rechtsordnung objektives Gebot oder subjektiv-rechtlich geprägtes Recht ist, sollte nicht pauschal unter alleiniger Zugrundlegung der Terminologie, sondern auch mit Blick auf Gehalt und Wirkung des Rechtselements entschieden werden. Der einem Recht inhärente subjektiv-rechtliche oder objektiv-rechtliche Charakter ist somit zunächst anhand der primären Funktionen des in Frage stehenden Rechts zu bestimmen. Im Falle eines mehrdimensionalen Rechts erscheint es sachgerecht, das maßgebliche Kriterium zur Rechtsnaturbestimmung der Funktion zu entnehmen, die den teleologischen Schwerpunkt bildet. Dass die Gemeinschaftsrechtsordnung im Allgemeinen auch individualschützende Funktionen erfüllt, wurde bereits in der obigen Darstellung der Rechtsprechung des Gerichtshofs angedeutet. Nach dem bislang Gesagten müssen die Kriterien zur Beantwortung der Frage, wann ein Recht individuelle Schutzwirkungen hat, spezifisch aus der Gemeinschaftsrechtsordnung entwickelt werden. Möchte man in diesem Kontext den Begriff des subjektiven Rechts verwenden, ist also auch dieser gemeinschaftsspezifisch zu verstehen und auszukleiden. Dabei ist im primären Rechtsschutzbereich Grundvoraussetzung für die subjektiv-rechtliche Wirkung einer Gemeinschaftsrechtsnorm, dass diese unmittelbar anwendbar212 ist213, was nach der Rechtsprechung auf die Gemeinschaftsgrundrechte zutrifft214. Im sekundären Rechtsschutzbereich kann es auf eine unmittelbare Anwendbarkeit indes insoweit nicht stringent ankommen, als hierdurch die Staatshaftung im Bereich unterlassener oder unzulänglicher Richtlinienumsetzung ausgeklammert würde215. Daneben ist weiterhin relevant, ob respektive wann die betreffende Regelung auch den Schutz des Einzelnen bezweckt. Allein ihre unmittelbare Anwendbarkeit kann hier nicht genügen216, da dies auf einen allgemeinen 212 Zur unmittelbaren Geltung und Anwendung des EG-Rechts ausführlich Klein, in: Ress/Will, Nr. 119; dazu ferner Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 ff.; zur unionsrechtlichen Pflicht der Mitgliedstaaten, ihr nationales Recht auch unionsrechtskonform auszulegen EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 42 (Pupino) und dazu mit Blick auf Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV zu Recht kritisch Hillgruber, JZ 2005, 841 ff. 213 Vgl. dazu Kokott, Die Verwaltung 1998, 335, 353; Schoch, NVwZ 1999, 457, 463. 214 s. dazu bereits oben unter A. I. 3. 215 Vgl. Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 506. 216 Dahingehend etwa noch v. Danwitz, DÖV 1996, 481, 489; ähnliche Ausführungen finden sich bei Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der EG, S. 224 und 341.

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Normvollziehungsanspruch des Einzelnen hinausliefe, der selbst unter dem Blickwinkel der effektiven und einheitlichen Rechtsgeltung auch im Gemeinschaftsrecht nicht gewollt sein kann. Die Norm muss aus diesem Grund zumindest den nach objektiven Kriterien ermittelbaren Zweck in sich tragen, Interessenkollisionen in multipolaren Rechtsverhältnissen normativ auszugleichen217. Vom subjektiv-rechtlichen Charakter einer Regelung im betreffenden Sinne ist folglich dann auszugehen, wenn diese zumindest auch dazu dient, personenbezogene, mithin typisch individuelle Rechte und Rechtsgüter zu gewähren respektive zu schützen218.219 Kann sich der Einzelne demgemäß gegenüber den Trägern der hoheitlichen Gewalt auf die aus einer solchen Norm resultierende Rechtsposition berufen, so wird es sich hierbei um ein subjektives Recht handeln, da Zuordnungssubjekt just die einzelne Person ist und der materielle Regelungsgehalt insoweit im Schutz dieses Rechtssubjekts begründet liegt220. Die Möglichkeit der Geltendmachung und Einklagbarkeit durch Privatpersonen ist hierbei ein gewichtiges Indiz für den subjektiv-rechtlichen Charakter eines Rechts221, wobei der obige Blick auf die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Verfahrenssysteme gezeigt hat, dass es für die genaue Konzeptionsbeschreibung auch auf die Modalitäten der gerichtlichen Geltendmachung eines Rechts ankommt, namentlich ob das System seine Durchsetzung dem Einzelnen gerade als Rechtsträger gewährt oder seine Geltendmachung nur als prozessökonomische Hürde auf dem Weg zu einer Objektskontrolle in Bezug auf die streitgegenständliche hoheitliche Maßnahme aufstellt. Für die weitere rechtsnatürliche Analyse der Gemeinschaftsgrundrechte ist daher Dazu ausführlicher Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 492 ff. m. w. N. Ähnlich Schoch, NVwZ 1999, 457, 464; ebenso im Kontext zu subjektivschützenden Richtlinienregelungen etwa Fischer, EuZW 1992, 41, 43; Hailbronner, JZ 1992, 284, 288; Jarras, NJW 1991, 2665, 2667. 219 In Bezug auf die Rechtsnatur eines Rechts erscheint eine entsprechende, rein formulatorische Anlehnung an die gängige Formel der im deutschen Recht entwickelten Schutznormtheorie durchaus zulässig. Dass sich die Letztere nicht zugleich in das primäre Individualrechtsschutzsystem des EGV übertragen lässt, steht dem nicht entgegen, da der Begriff des subjektiven Rechts rechtssystemautonom verwendet wird. 220 Gemeinschaftsrechtliche Rechtssubjekte können insofern sowohl natürliche als auch juristische Personen des Privatrechts sein. Ausnahmsweise wird auch juristischen Personen des öffentlichen Rechts eine entsprechende Rechtssubjektivität zugesprochen, so namentlich im Bereich einiger Verfahrensrechte, vgl. nur EuGH, verb. Rsn. 48/90 u. 66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 40 ff. (Niederlande u. a./Kommission); dazu ausführlicher Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen, S. 144 ff.; s. dazu ferner Blanke, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 47 GrCh, Rn. 5. 221 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 7, Rn. 1; vgl. dazu auch Röhl, Allgemeine Rechtslehre, S. 356 ff., der jenes Kriterium für das „einzig unverwechselbare Kennzeichen“ des subjektiven Rechts hält (Röhl, a. a. O., S. 357). 217 218

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neben dem funktionalen insbesondere dem prozessualen Geltungsmoment nachzugehen. aa) Funktionalität der Gemeinschaftsgrundrechte Der erste signifikante Aspekt für eine rechtsnatürliche Deskription der Grundrechte ist demnach deren funktionale Sphäre in der europäischen Rechtsordnung. (1) Allgemeine Funktionalität der Grundrechtsgewährung Allgemein kann diese wohl mit der Notwendigkeit umschrieben werden, unter dem Eindruck der Drohgebärden der nationalen Verfassungsgerichte eine rechtsstaatliche Begleitantwort auf die Entwicklung der Grundsätze des Anwendungsvorrangs und der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts zu geben und so gleichsam auf die Kritik zum bis dato fehlenden Grundrechtsschutz zu reagieren. Von Anfang an stand folglich der Schutz der Rechte des Einzelnen vor einer wachsenden europäischen Hoheitsgewalt im Vordergrund der Grundrechtsgewährung222. In Umkehrung der Perspektive sind die Gemeinschaftsgrundrechte damit von der wesentlichen Funktionalität geprägt, die Ausübung der gemeinschaftlichen Hoheitsgewalt zu legitimieren. (2) Einzelne Grundrechtsfunktionen An diese allgemeine Funktionalität knüpft sich nunmehr die Frage an, welche Dimensionen die Grundrechte in der Gemeinschaftsrechtsordnung im Einzelnen zu erfüllen haben. Dies wiederum richtet sich nach den rechtlichen, auf das jeweilige Schutzgut bezogenen Wirkungen der Grundrechte im Verhältnis zwischen den Privatpersonen und der Hoheitsgewalt223. Nach dem klassischem Verständnis sind Grundrechte die wehrhaften Rechte des Einzelnen, denen als Ausfluss der unveräußerlichen Menschenrechte eine essentielle Bedeutung in der sie garantierenden Rechtsordnung zukommt, da sie die zentrale Funktion erfüllen, übermäßige Machtausübung der Hoheitsträger zu unterbinden. Sofern in diesem Zusammenhang über222 So zutreffend Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626, 630; ähnlich Strasser, Grundrechtsschutz in Europa, S. 46 f. m. w. N. 223 So auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 44; Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, § 6, Rn. 397; Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar Kap. 6, Rn. 1.

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haupt eine terminologische Differenzierung angezeigt ist, können Menschenrechte ihrerseits als die genuinen, also vorstaatlichen Rechte des Individuums verstanden werden, die unabhängig von dem Umstand existieren, ob ihre Gewährung im Rahmen einer Verfassungsgebung als ordnungsspezifische Grundrechte oder überhaupt in einem oder mehreren Staaten ausdrücklich und schriftlich festgehalten ist224. Maßgebender Anknüpfungspunkt eines solchen Rechts, ob als Menschenrecht oder Grundrecht bezeichnet, ist folglich sein Träger, namentlich ein von den Hoheitsgewalt ausübenden Stellen zu unterscheidendes privates Rechtssubjekt. Vor diesem Hintergrund sind auch die Gemeinschaftsgrundrechte vorwiegend als Abwehr- und Freiheitsrechte im Sinne eines status negativus konzipiert225. Auf der Grundlage eines weiten, grundsätzlich jede Form menschlichen Verhaltens schützenden Grundrechtsregimes226 liegt dabei auch im Unionsrecht die Rechtfertigungslast bei den rechtsbeschränkenden Hoheitsgewalten und nicht etwa umgekehrt bei dem freiheitspraktizierenden Grundrechtsträger227. Insbesondere im Bereich binnenmarktrechtlicher Hoheitsmaßnahmen sind die Grundrechte zudem wesentlich von einer ökonomischen Dimension228 geprägt, soweit sie entweder als Rechtfertigungsgrund für eine grundfreiheitliche Einschränkung dienen229 oder umgekehrt in flankierender Unterstützung einer Grundfreiheit zu einer zusätzlichen Rechtfertigungslast führen können230. Allerdings erschöpfen sich die grundrechtlichen Funktionen nicht in jener negativen Dimension. Denn je nach in Bezug genommenem Grundrecht lassen sich fernerhin positive, soziale sowie objektive Dimensionen begründen231, aus denen partiell auch grundrechtliche Schutzpflichten erwachsen können232. 224 Vgl. Alexy, Die Institutionalisierung der Menschenrechte im demokratischen Verfassungsstaat, in: Gosepath/Lohmann, Philosophie der Menschenrechte, S. 244, 249. 225 Vgl. nur Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 13, Rn. 18; Jarass, EUGrundrechte, § 5, Rn. 9; s. auch zur Situation unter einer rechtsverbindlichen Grundrechte-Charta Pernice/Kanitz, WHI-Paper 7/04, S. 7 ff. 226 Zum Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit ausdrücklich EuGH, verb. Rsn. 133/85, 134/85 u. 136/85, Slg. 1987, 2289, Rn. 15 (Rau u. a./BALM). 227 Ebenso in Bezug auf die Grundrechte-Charta Schmitz, JZ 2001, 833, 837. 228 Der Begriff der Grundrechtsdimensionen wird hier zu jenem der Grundrechtsfunktionen synonym verwendet. 229 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 ff. (Karner); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74 (Schmidberger); ähnlich EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 70 ff. (Biopatentrichtlinie); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 ff. (Omega). 230 s. dazu die Nachweise in Fn. 64. 231 Ausführlicher zum Ganzen Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar Kap. 6, Rn. 1 ff.; ferner Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 44 ff.; a. A. insoweit noch

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Die funktionelle Struktur der Grundrechte in der EU konzentriert sich damit jedenfalls nicht auf die bloße Bildung einer objektiven Werteordnung im Sinne eines generalisierten Kontrollmaßstabs für Akte der Hoheitsgewalt, sondern ist vorwiegend durch die Gewährung individueller und wehrhafter Rechtspositionen zum Schutze vor übermäßiger Machtausübung hoheitlicher Stellen geprägt233. Nur diese Funktionsgewichtung kann dem rechtsstaatlichen Bedürfnis Genüge tun, der Hoheitsgewalt Rechte und Werte entgegenhalten zu können, die jedem Einzelnen anhaften und kein bloß vergeistigtes, nur objektiv-rechtliches Wertebündel darstellen. Auch im Unionsrecht steht nach den bisherigen Feststellungen der Schutz des Einzelnen im funktionalen Mittelpunkt einer jeden Grundrechtsgewährleistung. bb) Modus der Justitiabilität von Rechten im Verfahrenssystem des EGV Zu klären bleibt aber, ob sich diese gemeinschaftsspezifische subjektivrechtliche Charakterisierung auch mit der Ausgestaltung des prozessualen Systems des EG-Vertrags234 vereinbaren lässt. (1) Wesensvielfalt des EG-Rechtsschutzsystems Wie exemplarisch schon die funktionale Ausgestaltung der Nichtigkeitsklage indiziert, dürfte eine eindeutige Klassifizierung des gemeinschaftlichen Verfahrenssystems in Anbetracht der unterschiedlichen Regelungen und Funktionen der einzelnen Verfahrensarten ausscheiden. So erfüllt schon jene in Art. 230 EGV geregelte Gestaltungsklage235 in Parallelität zur multifunktionalen Stellung des Gerichtshofs inter alia als Verfassungs- und Verwaltungsgericht236 mehrere verfahrensrechtliche Dimensionen, da sie je Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626, 630, aus deren Sicht die EG-Grundrechte nur als klassische Abwehrrechte fungieren. 232 Hierzu ausführlich Szczekalla, DVBl. 1998, 219 ff.; Suerbaum, EuR 2003, 390, 400; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 194 ff. Ansätze einer grundrechtlichen Schutzpflichtdimension finden sich in der Rechtsprechung etwa bei EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74 ff. (Schmidberger). 233 Vgl. statt vieler etwa Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV (August 2002), Rn. 33. 234 Ausführlich zum System des Individualrechtsschutzes nach dem EG-Vertrag in Teil 4 unter A. II. 235 s. Art. 231 EGV. 236 Everling, DRiZ 1993, 5. Im Übrigen fungiert der EuGH auch als Zivilgericht (namentlich im Bereich des Schadensersatzrechts und der Auslegung der Konventionen über die Anerkennung und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen), als Arbeits- respektive Sozialgericht (etwa im Bereich

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nach dem Verfahrensgegenstand und den Beteiligten mal einer verwaltungsgerichtlichen Aufhebungsklage und mal einem verfassungsrechtlichen Kontrollverfahren entsprechen kann. Geht es in einem gegebenen Verfahren um die Aufhebung von sekundärrechtlichen Rechtsakten mit Normcharakter, stehen zumeist auch verfassungsrechtliche237 Fragen im Mittelpunkt. Mit Blick auf die unterschiedlichen Kläger enthält Art. 230 EGV eine gestufte Klagezugangssystematik. So sind nach Art. 230 Abs. 2 EGV die Mitgliedstaaten sowie Kommission und Rat im Interesse der Öffentlichkeit an der Rechtmäßigkeit von gemeinschaftlichen Rechtsakten zur Klageerhebung privilegiert berechtigt, ohne eine eigene Betroffenheit respektive ein anderweitiges Rechtsschutzinteresse geltend machen zu müssen238. Hingegen müssen das Europäische Parlament, der Rechnungshof und die Europäische Zentralbank eine Aufhebungsklage nach der Maßgabe des Art. 230 Abs. 3 EGV auf das Interesse an der Wahrung eigener organschaftlicher Rechte stützen239. Das Verfahren kombiniert hier die objektive Rechtmäßigkeitskontrolle mit Elementen eines subjektiv-rechtlich veranlassten Organstreitverfahrens240. Zuletzt haben natürliche und juristische Personen nach Art. 230 Abs. 4 EGV eine besonders qualifizierte Klagebefugnis nachzuweisen, deren Voraussetzungen, wie noch zu zeigen sein wird, erheblich über die zuvor genannten Anforderungen hinausgehen. Im Übrigen bilden nach Art. 230 Abs. 1 EGV grundsätzlich alle Handlungen der Gemeinschaftsorgane, die dazu bestimmt sind, Rechtswirkungen zu erzeugen und mithin alle Rechtsakte im Sinne des Art. 249 Abs. 2 bis 4 des gleichen Entgelts und gleicher Sozialleistungen), als Straf- und Disziplinargericht (etwa im Bereich der Kontrolle der Bußgeldentscheidungen der Kommission), als Finanzgericht (im Bereich es europäischen Steuerrechts) sowie mitunter als Schiedsgericht (vgl. Art. 238, 239 EGV); zu den Funktionen des EuGH auch schon Schwarze, in: ders., Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, S. 11, 15 ff. 237 Zur Beschreibung der Gründungsverträge als Verfassungsrecht s. EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21; ebenso schon EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament); ausführlich zur Rechtsprechung des EuGH zum Verfassungscharakter des europäischen Primärrechts bereits Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, S. 68 ff. s. zum Begriff der „Verfassung“ im europarechtlichen Kontext auch unten in Teil 3 unter A. IV. 1. c) aa). 238 Vgl. schon zu Art. 37 EGKS EuGH, verb. Rsn. 2/60 u. 3/60, Slg. 1961, 281, 310 (Niederrheinische Bergwerks-AG; vgl. noch zu Art. 173 EWGV etwa EuGH, Rs. 45/86, Slg. 1987, 1493, Rn. 3 (Kommission/Rat) sowie EuGH, Rs. 131/86, Slg. 1988, 905, Rn. 6 (Vereinigtes Königreich/Rat). 239 Die im Zuge des Vertrags von Maastricht in Art. 230 EGV eingefügte Regelung setzt die inhaltlich entsprechende Entscheidung des EuGH zur Klagebefugnis des Europäischen Parlaments [EuGH, Rs. C-70/88, Slg. 1990, I-2041, Rn. 27 (Parlament/Rat)] in geschriebenes Primärrecht um. 240 Vgl. dazu Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 277.

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EGV sowie auch atypische Rechtsakte mit Wirkung gegenüber Dritten, einen tauglichen Klagegegenstand241. Individualkläger können dabei gemäß Art. 230 Abs. 4 EGV grundsätzlich die sie betreffenden Entscheidungen anfechten, während echte Verordnungen nur ausnahmsweise einem Individualangriff zugänglich sind242. Schon dieser erste Eindruck zu Art. 230 EGV lässt erkennen, dass sich der Charakter des EG-Rechtsschutzsystems nicht ohne weiteres und jedenfalls nicht verallgemeinernd erfassen lässt. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Facetten der einzelnen Rechtsschutzmöglichkeiten verbietet sich eine allzu pauschale Beschreibung des Systems als objektives Verfahrenssystem. Die Suche nach systemprägenden Elementen muss sich insoweit auf die subjektiv-rechtlichen Aspekte jedes einzelnen Rechtsbehelfs konzentrieren. (2) Wesenszüge der Individualnichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV Aussagekräftige Hinweise zum Modus der justitiellen Gewähr von Rechten im primären Rechtsschutzbereich kann dabei vor allem die Aufhebungsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV liefern, deren Wesen hier demnach näher zu hinterleuchten ist. (a) Systemapproximation zur französischen Konzeption Ausweislich des Wortlauts der Regelung ist die Adressatenstellung respektive die individuelle und unmittelbare Betroffenheit des Klägers ein wesentlicher Bestandteil der Sachentscheidungsvoraussetzungen der Individualnichtigkeitsklage. Jedoch kongruiert diese Zulässigkeitsvoraussetzung in Abweichung zur Anfechtungsklage im deutschen Verwaltungsprozessrecht, welche gemäß § 42 Abs. 2 VwGO für ihre Zulässigkeit die Möglichkeit einer Rechtsverletzung243 und für die Begründetheit gemäß Art. 113 Abs. 1 S. 1 VwGO eine materielle und kausale Verletzung subjektiver Rechte des Klägers verlangt, nicht mit einem die Betroffenheit des Klägers Zu den möglichen Gegenständen der Aufhebungsklage näher Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 7 ff. u. 29 ff., ferner Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 29 ff. 242 Die Eigenheiten und insbesondere die Schwachstellen der Individualnichtigkeitsklage werden in Teil 4 der vorliegenden Bearbeitung eingehend behandelt. Hier soll auf das mit dieser Vorschrift verbundene Problemspektrum nur insoweit eingegangen werden, als es für die Frage der Verfahrenssystemkonzeption und die Rechtsnatur der Grundrechte von Relevanz ist. 243 Sog. „Möglichkeitstheorie“, s. aus der zugehörigen st. Rspr. des BVerwG nur BVerwGE 44, 1, 3; 60, 157, 160 sowie 108, 182, 184. 241

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auf der Sachentscheidungsebene wieder aufgreifenden Prüfungspunkt244. Sofern also die kausale Verletzung subjektiver Rechte oder Interessen245 in der Sache keine Erfolgsvoraussetzung der Klage ist, scheint das Kontrollsystem für die Akte der Gemeinschaftsorgane in der Tat tendenziell an die französische Konzeption angelehnt zu sein246, was zugleich für einen objektiv-rechtlichen Charakter des Systems und spiegelbildlich gegen die Existenz subjektiv-rechtlicher Positionen in der Gemeinschaftsrechtsordnung sprechen könnte. Indes darf nicht außer Acht gelassen werden, dass auch der französischen Systemkonstruktion247 individualrechtliche Elemente partiell bekannt sind248 und in Reaktion auf die Entwicklungen des Grundrechtsschutzsystems durch den EuGH249 gerade in letzter Zeit weitere das Rechtsschutzsystem subjektivierende Tendenzen zu beobachten waren. Neben der Intensivierung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte in grundrechtssensiblen Bereichen250 rüttelt dabei insbesondere die im Januar 2001 vollzogene Einführung der „procédure du référé-liberté fondamentale“251 an den GrundfesVgl. näher zur Begründetheit der Anfechtungsklage Daig, Nichtigkeitsklage, S. 118 f., sowie Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermenn, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 91 ff. 245 Die Frage, ob die Individualnichtigkeitsklage eher dem Modell der Verletztenoder Interessentenklage entspricht, bedarf hier keiner abschließenden Klärung (zu dieser Frage Calliess, NJW 2002, 3577, 3582; allgemein zur Differenzierung zwischen den entsprechenden Klagekonzeptionen Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß, 1979). Ihre Beantwortung erscheint für die Bestimmung der Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte nicht determinierend, da Letztere evident keine bloßen Interessenpositionen sind, zumal die Grenzen zwischen beiden Klagekonzeptionen in Anbetracht des Umstands, dass auch die deutsche Schutznormtheorie danach fragt, ob der Zweck der Norm auch den Schutz der Interessen des Einzelnen enthält, verschwimmen. 246 Insofern deutlich Classen, NJW 1995, 2457, 2461; ähnlich bereits Everling, NvWZ 1987, 1, 9; ferner Rengeling, VVDStRL 1993, 202, 215. 247 Vgl. zu dieser bereits oben A. II. 1. a). 248 Auch wenn etwa der „recours pour excès de pouvoir“ als vordergründig objektiv-rechtlich geprägter Rechtsbehelf aufgefasst wird (vgl. Braibant/Stirn, Le droit administratif français, S. 527 ff.; Chapus, Droit administratif général I, Rn. 999; Debbasch/Ricci, Contentieux administratif, Rn. 792), dürfte er doch in zweiter Linie, insbesondere im Bereich der Abwehr willkürlichen Verhaltens der Exekutive, auch den Schutz des Individuums bezwecken (so auch Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der EG, S. 113 ff.; s. zu den Voraussetzungen der Qualité d’agir näher Laubadère/Venezia/Gaudemet, Manuel de droit administratif, S. 117 f.). 249 Vgl. dazu Classen, a. a. O., 2462. 250 Vgl. dazu Epiney, DVBl. 2001, 1816, 1817. Weitergehend Sommermann, der eine allgemeine Annäherung der verwaltungsgerichtlichen Kontrollintensität an jene der ordentlichen Gerichtsbarkeit konstatiert; s. Sommermann, DÖV 2002, 133, 140 f.; in diesem Sinne wohl auch Winter, NvWZ 1999, 467, 471. 251 Dazu bereits oben Fn. 94 und 95. 244

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ten der ursprünglich konsequent objektiv-rechtlichen Konzeption des französischen Grundrechtsschutzsystems. Selbst unter der Prämisse, das System des EG-Vertrags sei vorwiegend der französischen Konzeption nachempfunden, könnten diese neueren, die Grundrechte auch in Frankreich aus dem Schatten des objektiven Rechts geleitenden Entwicklungen gleichsam auf die Erörterungen zur gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzkonzeption zurückwirken. Hierfür spräche auch der Umstand der grundsätzlichen Rückkopplung des Grundrechtssystems an die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, soweit sich jene Verbindung des europäischen Regimes auf gegenwärtige wie künftige Gegebenheiten der nationalen Systeme erstreckte. (b) Subjektiv-rechtliche Elemente Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob allein auf der Grundlage des Begründetheitsmaßstabs der Nichtigkeitsklage zu folgern ist, dass die Verfahrensart respektive das Rechtsschutzsystem des EG-Vertrags in toto als rein objektives Beanstandungsverfahrensrecht im Sinne des oben beschriebenen „contentieux objectif“ ausgestaltet ist252. Vorbehaltlos trifft dies zwar für die Organklage nach Art. 230 Abs. 2 EGV zu253, da es hier nicht einmal ansatzweise um die Geltendmachung einer eigenen Betroffenheit des jeweiligen Klägers, sondern allein um die Einhaltung des Legalitätsgrundsatzes geht. Anders liegt dies ausweislich des Wortlauts der Norm schon in Bezug auf das Verfahren nach Art. 230 Abs. 3 EGV. Insbesondere aber im Bereich des dem Einzelnen zur Verfügung gestellten Rechtsbehelfs nach Art. 230 Abs. 4 EGV manifestieren sich einige subjektiv-rechtliche Wesenszüge. (aa) Subjektive Elemente in der Zulässigkeitsprüfung Im Unterschied zum französischen System primären Rechtsschutzes, das für die Berechtigung des Einzelnen zur Erhebung einer Aufhebungsklage nur einen „intérêt pour agir“ voraussetzt, dessen Vorliegen in großzügiger Manier angenommen wird254, verlangt die Zulässigkeit nach Art. 230 Abs. 4 EGV dem Einzelnen ungleich höhere Anforderungen ab, wenn der Individualkläger entweder seine direkte Adressatenstellung gegenüber der angegriffenen Maßnahme nachweisen oder aber das Fehlen derselben ausDahingehend und damit wohl über eine bloße Anlehnung an das französische System hinausgehend Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 27; ähnlich Baumgartner, Klagebefugnis, S. 49 ff. 253 Vgl. dazu nur Erichsen/Weiß, Jura 1990, 528, 531; vgl. aus der Rechtsprechung bereits EuGH, Rs. 166/78, Slg. 1979, 2575, Rn. 6 (Italien/Rat). 254 s. o. Fn. 92. 252

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gleichen muss, indem er unter besonderer Substantiierungslast seine unmittelbare und individuelle Betroffenheit darzutun hat. Mit Blick auf das Kriterium der individuellen Betroffenheit liegt eine adressatenähnliche Position des Einzelnen nach der seit der Entscheidung in der Rechtssache Plaumann ständigen Rechtsprechung des EuGH allein dann vor, „wenn die Maßnahme ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten“255. Sofern man also in vertretbarer Weise der Meinung sein kann, das Rechtsschutzsystem des EG-Vertrags stehe mit Blick auf die beiden grundsätzlichen Konzeptionsmöglichkeiten dem französischen System am nächsten256, was in Anbetracht der Eigenheiten der europäischen Rechtsordnung nicht ohne weiteres angenommen werden und jedenfalls nicht zur Befürwortung einer strikten Konzeptionsleihe führen kann, so sollte daraus jedenfalls nicht vorschnell auf einen exklusiven objektiv-rechtlichen Charakter des Rechtsschutzsystems und darauf aufbauend auf die objektiv-rechtliche Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte geschlossen werden. Rückt man die in der zumeist restriktiv gehandhabten Voraussetzung der Klagebefugnis nach Art. 230 Abs. 4 EGV liegende Hürde für den Zugang zu den Gemeinschaftsgerichten in das Zentrum der Überlegungen, so zeigt sich im Gegenteil, dass eine Prüfung der Beeinträchtigung von eigenen Rechten oder Interessen des Einzelnen bereits eingehend auf der Ebene der Sachentscheidungsvoraussetzungen erfolgt. Obgleich der EuGH die individuelle Betroffenheit des Klägers bislang nicht ausdrücklich auf der Grundlage der Geltung der materiellen Grundrechte festgestellt hat, dürften auch diese ein möglicher Betroffenheitsgegenstand im Sinne der Norm sein, wie wohl insbesondere die Zusammenschau der Entscheidungen Codorniu257 und Winzersekt258 zeigt259. Des Weiteren erkennt der EuGH eine individuelle Betroffenheit im Sinne seiner Plaumann-Formel an, wenn der Einzelne im Vorfeld des Rechtsaktserlasses seine schützenswerten Interessen bereits in das Verfahren eingebracht hat260, wobei jedoch nicht jede 255 EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 213, 238 (Plaumann/Kommission); seitdem st. Rspr.: vgl. nur beispielhaft EuGH, verb. Rsn. 67/85, 68/85 u. 70/85, Slg. 1988, 219, Rn. 14 (Van der Kooy u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6719, Rn. 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 256 In diesem Sinne etwa Classen, NJW 1995, 2457, 2461. 257 EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (Codorniu/Rat). 258 EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 (SMW Winzersekt/Rheinland-Pfalz). 259 Vgl. nochmals Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 55. 260 Ausführlicher zur Klagebefugnis wegen Beteiligung am vorangegangenen Verfahren Nehl, in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 135 ff.

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aktive Verfahrensbeteiligung und die dadurch etwaig erreichte Beeinflussung des Entscheidungsprozesses hinreichen261, sondern in dem Verfahren oder in dessen Vorfeld darüber hinaus eigene aushandlungsfähige Interessen auf dem Spiel standen262, der Kläger also gerade in seiner Eigenschaft als Verhandlungspartner betroffen ist263. Ferner lässt der Gerichtshof die Beeinträchtigung von schützenswerten Markt- oder Wettbewerbspositionen des Individualklägers als ausreichende Klagebefugnis gelten, sofern sie eine gewisse Erheblichkeitsschwelle überschreitet264. Schließlich kann eine Person durch eine Entscheidung über die Einführung einer Schutzmaßnahme individuell betroffen sein, soweit die Kommission bei deren Vornahme die möglichen Negativauswirkungen für betroffene Unternehmen ermitteln musste265. Obgleich man der Rechtsprechung des EuGH in der Gesamtschau erhebliche Unzulänglichkeiten in der klaren Kasuistikbildung vorhalten kann266, so lässt sich ihr, zumindest in jüngerer Zeit, doch die Tendenz entnehmen, dass der Einzelne sich zur Begründung seiner individuellen Betroffenheit auf rechtlich greifbare und schützenswerte Rechts- oder Interessenpositionen formeller oder materieller Art stützen muss267 und die Gemeinschaftsgerichte vor diesem Hintergrund das Bestehen und die Beeinträchtigung jener Positionen in tatsächlicher Hinsicht bereits eingehend auf der Prozessentscheidungsebene prüfen268. Einen plastischen Beleg für diese Überlage261 Vgl. dazu jüngst EuGH, Rs. C-78/03 P, Slg. 2005, I-10737, Rn. 56 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum). 262 In diesem Sinne EuGH, a. a. O., Rn. 57 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum) unter Hinweis auf seine Entscheidungen in den verb. Rsn. 67/85, 68/85 und 70/85, Slg. 1988, 219, Rn. 19 bis 25 (Van der Kooy u. a./Kommission) sowie in der Rs. C-313/90, Slg. 1993, I-1125, Rn. 29 f. (CIRFS u. a./Kommission). 263 Vgl. EuGH, Rs. C-106/98 P, Slg. 2000, I-3659, Rn. 42 (Comité d’entreprise de la Société française de production/Kommission). 264 Vgl. hierzu EuGH, a. a. O., Rn. 40 f. (Comité d’entreprise de la Société française de production/Kommission) sowie aus jüngerer Zeit wieder EuGH, Rs. C-78/03 P, Slg. 2005, I-10737, Rn. 37 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum); s. im Übrigen den umfassenden Überblick über die Rechtsprechung bei Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 53. 265 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-390/95 P, Slg. 1999, I-769, Rn. 25 (Antillean Rice Mills u. a.). 266 Kritisch etwa Nettesheim, JZ 2002, 928, 930; Schönberger, EuR 2003, 600, 607; Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1302. 267 Dazu ausführlicher in Teil 4 unter A. II. 1. b) bb) (2) und cc) (1) (b). 268 Hierin liegt folglich auch ein wesentlicher Unterschied zu der bereits genannten Möglichkeitstheorie des deutschen Verwaltungsprozessrechts, welche für die Klage- bzw. Verfahrensbefugnis auf der Zulässigkeitsseite eben nur fordert, dass eine (Grund-)Rechtsverletzung nicht von vornherein ausgeschlossen ist.

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rung der Zulässigkeitsprüfung mit einzelnen Sachfragen bietet die Entscheidung des EuG in der Rechtssache Michailidis/Kommission269, da das Gericht hier die individuelle Betroffenheit und mithin die Zulässigkeit der Klage mit der Begründung abgelehnt hat, dass der EuGH die Rechtmäßigkeit der klagegegenständlichen Verordnung bereits anlässlich einer anderen Rechtssache festgestellt habe und daher eine Verletzung der Rechte der Kläger ausscheide270. Zwar erscheint der Schluss von der fehlenden Rechtsverletzung auf die fehlende Betroffenheit fragwürdig, da Letztere nicht zwangsweise auch das Verdikt der Rechtswidrigkeit des Rechtseingriffs voraussetzt. Die Entscheidung verdeutlicht aber, dass es in der Zulässigkeitsprüfung des Art. 230 Abs. 4 EGV um eine nicht nur potentielle, sondern eben eine tatsächliche und hinreichend schwere Beeinträchtigung der Rechtspositionen des Klägers geht. Für die darauf bezogene Feststellung kommt das Gericht nicht umhin, bereits weitgehende materiell-rechtliche Überlegungen anzustellen. (bb) Implikation materieller Rechts- oder Interessenverletzungen in der Klagebegründetheit Auf dieser Grundlage erscheint fernerhin die These erlaubt, im Falle einer auch in der Sache erfolgreichen Klage werde ganz regelmäßig ebenso die Verletzung dieser rechtlich schützenswerten Positionen des Klägers feststehen. Ist der Individualkläger selbst Adressat des angegriffenen Einzelakts und braucht er demgemäß nur seine Adressatenstellung nachzuweisen, liegt im Falle der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der individuell belastenden Maßnahme eine kausale Rechtsverletzung auf der Hand271. Gleiches gilt für den Fall der Drittanfechtung, da die hierbei nachzuweisende unmittelbare und individuelle Betroffenheit gerade die fehlende direkte Adressatenstellung des Individualklägers substituiert. Soweit in einem gegebenen Fall die Rechtmäßigkeit eines Rechtsakts zentral am Maßstab der GrundEuG, Rs. T-100/94, Slg. 1998, II-3115 (Michailidis u. a./Kommission). Vgl. EuG, a. a. O., Rn. 67 (Michailidis u. a./Kommission). 271 Entsprechendes gilt im deutschen Verwaltungsprozessrecht unter Maßgabe der sog. „Adressatentheorie“ für die Anfechtungsklage nach §§ 42 Abs. 2, 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Auch hier ist seitens des Adressaten eines belastenden Verwaltungsakts die Klagebefugnis ganz regelmäßig zu bejahen, da zumindest eine Verletzung der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG nicht von vornherein auszuschließen ist (vgl. dazu etwa BVerwGE 79, 110, 114; Kopp/Schenke, VwGO, § 42, Rn. 69). Kommt die Sachprüfung in einem solchen Fall zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, steht in aller Regel auch die kausale Verletzung eines subjektiven Rechts des Klägers und in Abwesenheit eines spezielleren Rechts der subsidiären allgemeinen Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG fest. 269 270

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rechte zu überprüfen ist272, impliziert überdies das Vorliegen der Klagebefugnis auf der Seite der Zulässigkeit und der Rechtswidrigkeit des Prüfungsgegenstands auf der Seite der Begründetheit eine materielle Verletzung der grundrechtlich geschützten Positionen des Klägers273. In all diesen Fällen und selbst, wenn sich die Rechtswidrigkeit eines normativen Rechtsakts und damit der Klageerfolg im Einzelfall aus anderen Rechtsgründen ergeben kann, muss der Individualkläger eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit seiner Rechte oder Interessen in der Prozessstation derart substantiiert darlegen, dass die Kausalität zwischen der etwaig rechtswidrigen Maßnahme und der behaupteten Rechts- oder Interessenbeschwer des Klägers schon vor der Sachprüfung tragende Bedeutung für den Erfolg seiner Klage hat. Mit Feststellung der Rechtswidrigkeit wird folglich ganz regelmäßig auch die materielle Rechts- oder Interessenverletzung des Klägers feststehen. Eine gesonderte Prüfung in der Begründetheit wäre insoweit unnötige Förmelei. Gerade in jüngerer Zeit ist eine gerichtliche Tendenz der Subjektivierung der Sachprüfungsebene zu beobachten, die sich dadurch auszeichnet, dass der Klagegegenstand auf eine gegebenenfalls erfolgreiche Nichtigkeitsklage hin nur insoweit annulliert wird, als er den Kläger betrifft274. Das dogmatische Kriterium für die Frage, ob ein System subjektive Rechte kennt oder nicht, allein am sachlichen Prüfungsumfang festzumachen, erscheint vor diesem Hintergrund zu starr, da dies nicht die Berücksichtigung der unterschiedlichen Gestaltungsmöglichkeiten eines eigenständigen Rechtssystems erlaubt.

272 So insbesondere in jüngeren Entscheidungen des Gerichts erster Instanz der Fall, s. etwa EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139 (Ayadi/Rat) und EuG, Rs. T-49/04, Slg. 2006, II-52 (Hassan/Rat) – zu diesen ausführlicher in Teil 2 unter B. II. 4. b) cc) (1). 273 Deutlich etwa jüngst EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 89 ff., insb. 173 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat): „Das Gericht kommt zu dem Schluss, dass der angefochtene Beschluss nicht begründet ist und im Rahmen eines Verfahrens erlassen wurde, in dessen Verlauf die Verteidigungsrechte der Klägerin nicht gewahrt wurden.“; ebenso jüngst EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 226 (Sison/Rat). 274 Vgl. dazu etwa jüngst EuG, Rs. T-327/03, Slg. 2007, II-79, Rn. 66 (Al-Aqsa/ Rat): „The foregoing considerations cannot but lead to the annulment of the contested decision, in so far as it concerns the applicant (. . .)“; ferner EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 226 (Sison/Rat). Dies entspricht der Praxis der deutschen Verwaltungsgerichte zur sog. Drittanfachtungsklage, die ebenfalls nur zu einer Aufhebung des Verwaltungsakts führen kann, „soweit“ dieser subjektive Rechte des Klägers verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).

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(3) Wesenszüge der Individualuntätigkeitsklage Weitere subjektiv-rechtliche Merkmale des Rechtsschutzsystem lassen sich außerdem im Bereich der in Art. 232 Abs. 3 EGV275 geregelten Individualuntätigkeitsklage nachweisen. Diese ist zwar eine selbständig neben den anderen stehende Rechtsschutzmöglichkeit276, da sie vertragssystematisch der Tenorierungsregelung zur Nichtigkeitsklage nachgelagert ist277 und bei Klageerfolg nach Art. 232 Abs. 1 EGV keine gerichtliche Rechtsgestaltung, sondern nur die Feststellung einer Vertragsverletzung zulässt278. Aufgrund ihrer inhaltlich partiell gleichgerichteten Zulässigkeitsvoraussetzungen, so vor allem in Bezug auf die Klagebefugnis des Individualklägers279, steht sie jedoch in engster Verbindung zur Individualnichtigkeitsklage. Ihr subjektivrechtlicher Charakter wird zudem in der Sachprüfung durch den Umstand verstärkt, dass die gerichtlich festzustellende Vertragsverletzung gerade in der pflichtwidrigen Nichtadressierung einer Rechtshandlung an den Kläger liegen muss. Die in Art. 232 Abs. 1 EGV genannte Vertragsverletzung setzt zwar in Bezug auf den Sachprüfungsumfang ebenfalls nur das objektiv rechtswidrige280 Unterlassen des Beklagten trotz rechtlicher Handlungspflicht voraus281, das Gebot zur Vornahme der betreffenden Maßnahme, das sich auch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen ergeben kann282, steht wie275 Eine entsprechende Rechtsschutzmöglichkeit für den Bereich der Euratom sieht Art. 148 EAGV vor. 276 So u. a. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 8, Rn. 3 m. w. N.; a. A. wohl EuGH, Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065, Rn. 59 (T. Port); EuG, Rs. T-17/96, Slg. 1999, II-1757, Rn. 27 (TF1); Schwarze, in: ders., EUV/ EGV, Art. 232 EGV, Rn. 1. 277 Das systematische Argument sieht sich jedoch durch die in Art. 233 EGV für Nichtigkeits- wie Untätigkeitsklagen gemeinsam geregelten Konsequenzen der Gerichtsentscheidung nicht unerheblich relativiert. 278 Vgl. Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 1. Eine Leistungsklage auf Vornahme einer bestimmten hoheitlichen Handlung, wie in der deutschen Verwaltungsprozessrechtsordnung existent, kennt das Gemeinschaftsrecht – zumindest im Bereich des primären Rechtsschutzes – nicht. 279 Aus der Formulierung des Art. 232 Abs. 3 EGV [„einen (. . .) Akt (. . .) an sie zu richten“] folgt, dass der Einzelne entweder potentieller Adressat der begehrten Maßnahme oder aber i. S. d. Art. 230 Abs. 4 EGV durch diese hypothetisch unmittelbar und individuell betroffen werden muss; vgl. dazu etwa EuGH, Rs. 134/73, Slg. 1974, 1, Rn. 5 (Holtz & Willemsen/Rat); dazu ausführlicher Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 8, Rn. 26 ff. u. 34 ff. 280 Dazu Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 670; ferner Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 15. 281 Vgl. Burgi, in: Rengeling/Midekke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 8, Rn. 50. 282 Borchardt/Dauses/Stotz, in: Dauses, EG-Wirtschaftsrechts, P I (Stand: März 2002), Rn. 218.

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derum in einer unmittelbaren Verbindung zur Klagebefugnis, die eben nur vorliegt, wenn die Person nachweist, dass sie sich genau in der Rechtsstellung eines potentiellen Adressaten desjenigen Rechtsaktes befindet, den das Organ ihr gegenüber zu erlassen verpflichtet gewesen wäre283. Für den Erfolg der Klage muss demnach zumindest de facto284 ein individueller Anspruch gerade auf die unterlassene Handlung des verklagten Organs bestehen285. Hierin liegt ein weiterer subjektiv-rechtlicher Charakterzug des Verfahrens nach Art. 232 Abs. 3 EGV begründet. (4) Wesenszüge des Vorabentscheidungsverfahrens Subjektiv-rechtliche Merkmale des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystems sind darüber hinaus selbst dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV nicht fremd. Als ein das mitgliedstaatliche Gerichtsverfahren suspendierendes Zwischenverfahren286 ist es zwar nicht kontradiktorisch ausgestaltet, sondern seiner Natur nach ein vom nationalen Gericht anzustrengendes objektives Feststellungsverfahren vor dem EuGH287, dessen Zulässigkeit demgemäß keinen subjektiv-rechtlichen Anforderungen unterliegt288. Ein Blick auf die Funktionen jenes Verfahrens, das in der Praxis des Gerichtshofs eine herausragende Rolle spielt289, offenbart jedoch, dass 283 Vgl. EuGH, Rs. 246/81, Slg. 1982, 2277, Rn. 16 (Lord Bethell/Kommission); EuGH, Rs. C-371/89, Slg. 1990, I-1555, Rn. 5 u. 6 (Emrich/Kommission); EuGH, Rs. C-72/90, Slg. 1990, I-2181, Rn. 10 ff. (Asia Motor France/Kommission). 284 De iure handelt es sich hierbei um die Prüfung der objektiven Rechtswidrigkeit des Organverhaltens. 285 Ähnlich Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 8, Rn. 26, der von einer individuellen Komponente des unterlassenen Rechtsakts spricht. 286 Zu dieser Beschreibung Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 6; dazu auch schon Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 39 f.; vgl. aus der Rechtsprechung etwa EuGH, Rs. C-472/99, Slg. 2001, I-9687, Rn. 29 (Clean Car Autoservice). In Bezug auf das zitierte Urteil ist darüber hinaus bemerkenswert, dass der Gerichtshof hier Art. 104 § 5 EuGH-VerfO betreffend die Kosten für die Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens dahingehend ausgelegt hat, dass sich Kostenfestsetzung sowie Erstattungsfähigkeit – in den Grenzen des Gleichwertigkeits- und Effektivitätsgrundsatzes – nach dem jeweiligen nationalen Recht richten [vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 28 ff. (Car Clean Autoservice)]. Im Einzelfall kann dies in Ermangelung von Regelungen, die eine hinreichende Kostenerstattung vorsehen, zu einer faktischen Unterdrückung der in einem mitgliedstaatlichen Gerichtsverfahren aufkommenden gemeinschaftsrechtlichen Fragen führen (so auch Hess, RabelsZ 2002, 470, 476). 287 Vgl. Middeke, in: Rengeling/Midekke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 12. 288 Vgl. dazu ausführlicher in Teil 4 unter A. II. 4. a) aa). 289 Schon seit 1994 überwiegt ganz regelmäßig die Zahl der beim EuGH neu eingehenden Vorabentscheidungsverfahren gegenüber den anderen Eingaben und damit

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es neben dem zentralen Punkt der Wahrung der einheitlichen Wirkung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten290 und der in seinem Rahmen ebenfalls möglichen prätorischen Weiterentwicklung des Rechtssystems291 nicht zuletzt auch den Individualrechtsschutz zum Ziel hat292. Das Vorabentscheidungsverfahren bildet in dem konsoziativ-föderalen Gebilde der EU293 insoweit den zum Schutze der vom Gemeinschaftsrecht verliehenen Rechte notwendigen prozeduralen Link zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem Gerichtshof294. Just in diesem Lichte ist auch die in Art. 234 Abs. 3 EGV geregelte Vorlagepflicht für letztinstanzinsbesondere auch gegenüber jener der Direktklagen inklusive der erstatteten Gutachten. Allein das Jahr 2003 bildete insoweit eine Ausnahme (dort standen 210 Vorabentscheidungsverfahren 278 Direktklagen von insgesamt 556 Eingaben gegenüber). Im Jahre 2004 gingen 249 Vorabentscheidungsverfahren sowie 220 Direktklagen von insgesamt 527 Eingaben ein (vgl. EuGH, Jahresbericht 2004, Luxemburg 2005, S. 191). Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung dürfte die Zahl der Vorabentscheidungsverfahren in den nächsten Jahren noch ganz erheblich zunehmen. 290 Vgl. etwa EuGH, Rs. 166/73, Slg. 1974, 33, Rn. 2 (Rheinmühlen Düsseldorf/ Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel); EuGH, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5 (Hoffmann-La Roche). Zu dieser Funktion gehört ebenso die im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens mögliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane [dazu grundlegend EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 16 (Foto-Frost)]. s. zum Thema auch Hummert, Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, S. 17 ff. 291 Vgl. Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 17 f.; vgl. aus neuerer Zeit auch Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 758. 292 In diesem Sinne schon EuGH, Bericht des Gerichtshofes über bestimmte Aspekte der Anwendung des Vertrages über die Europäische Union, 22. Mai 1995, Punkt 15 (Bericht veröffentlicht in: Tätigkeit des Gerichtshofs Nr. 15/1995, S. 12 ff.; ferner in EuGRZ 1995, 316 ff.); vgl. ferner die Ausführungen des Präsidenten des EuGH Vassilios Skouris in seinem Festvortrag „Rechtskulturen im Dialog – Über Verständnisse und Unverständnisse, Risiken und Chancen einer internationalen Rechtsordnung und Rechtsprechung“ auf dem Kongress „Globalisierung und Recht – Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert“ anlässlich des „Deutschland in Japan“-Jahres 2005/2006 [im Internet abzurufen unter www.tokyo-jura-kongress2005.de/_documents/skouris_ de.pdf, S. 6 (letzter Besuch: 28. Januar 2007)]. Vgl. zu dem Thema im Übrigen aus der Literatur Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 8; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 757; zu der funktionalen Entwicklung des Vorabentscheidungsverfahrens auch Basedow, RabelsZ 2002, 203, 208 ff. 293 Zur Beschreibung der EU als konsoziative Föderation etwa Nettesheim, ZEuS 2002, 507, insb. 533 ff.; Schneider, integration 2000, 171, 172 ff.; zum föderalen Aufbau auch bereits Everling, DRiZ, 1993, 5, 12. 294 Grundlegend EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3, 24 (Van Gend & Loos); vgl. überdies EuGH, Rs. 228/92, Slg. 1994, I-1445, Rn. 27 (Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern).

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liche Gerichte zu sehen, die nicht zuletzt verhindern soll, dass gemeinschaftsrechtliche Rechte des Einzelnen durch die Rechtskraft einer staatlichen Gerichtsentscheidung endgültig verletzt werden295. Die Bereitstellung dieses Hilfsmittels für Erstere296 weist also zumindest aus einem funktionsbezogenen Blickwinkel auch individualschützende Züge auf, mögen die Stellung der Parteien und ihre Möglichkeiten der Durchsetzung der Verfahrenseinleitung aufgrund der prozeduralen Konzeption des Inzidentverfahrens auch recht schwach sein297. Dieses partiell subjektiv-rechtliche Verständnis des Vorlageverfahrens schlägt sich im Übrigen auch auf nationaler Ebene nieder, namentlich durch die Anerkennung des EuGH als gesetzlichem Richter, auf den der Einzelne einen streitbaren Anspruch hat298. (5) Konzeption des sekundären Rechtsschutzes Schließlich ist ergänzend für den Bereich des sekundären Rechtsschutzes zu beachten, dass der Kläger hier, wie bereits angemerkt, die Verletzung einer solchen Norm nachzuweisen hat, die gerade auch seinen Schutz bezweckt, um die Gemeinschaft299 oder einen Mitgliedstaat300 erfolgreich auf der Grundlage der deliktischen Haftung in Anspruch zu nehmen. Das prozessuale System des sekundären Rechtsschutzes geht folglich wie selbstverständlich von der Existenz von Gemeinschaftsnormen aus, die auf den Schutz der Interessen des Einzelnen als Rechtsträger zugeschnitten sind s. EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 34 f. (Köbler). Vgl. zu dieser Funktion EuGH, Rs. C-348/89, Slg. 1991, I-3277, Rn. 43 (Mecanarte-Metalurgica da Lagao); ausführlicher zum Ganzen Hakenberg, DRiZ 2000, 345 ff. 297 Ebenso schon Everling, DRiZ 1993, 5, 11, der sich jedoch unter Hinweis auf eine Verlängerung der Verfahrensdauer gegen die kontradiktorische Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens ausspricht. 298 Vgl. insoweit insbesondere die st. Rspr. des BVerfG zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, erstmals BVerfGE 73, 339, 366 ff. (Solange II); vgl. weiterhin exemplarisch für Österreich VerfGH Wien, EuGRZ 1996, 529. 299 Dazu etwa EuGH, Rs. C-472/00 P, Slg. 2003, I-7541, Rn. 25 (Kommission/ Fresh Marine Company); ferner aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803, Rn. 49 (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts) sowie EuGH, Rs. C-198/03, Slg. 2005, I-6357, Rn. 61 ff. (CEVA Santé animale u. a.). Näher zum europäischen Haftungsrecht auch Detterbeck, AöR 2000, 202 ff. 300 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich u. a.); EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du pêcheur und Factortame); EuGH, Rs. C-392/93, Slg. 1996, I-1631 (British Telecommunications); EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553 (Hedley Lomas); verb. Rsn. C-178/94, C-179/94, C-188/94, C-189/94 und C-190/94, Slg. 1996, I-4845 (Dillenkofer u. a.); EuGH, Rs. C-127/95, Slg. 1998, I-1531 (Norbrook Laboratories); EuGH, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123 (Haim). 295 296

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oder diesen zumindest mit sich bringen301. Es liegt nahe, solche Normen als im gemeinschaftsrechtlichen Sinne individualschützend oder eben subjektiv-rechtlich zu charakterisieren. Vor diesem Hintergrund vermag es nicht zu überraschen, dass sich auch das EuG im Anwendungsbereich des Art. 288 Abs. 2 EGV entgegen der Praxis des EuGH sogar zur Verwendung des Begriffs des subjektiven Rechts hat verleiten lassen302. Im Übrigen spricht auch die bereits dargelegte Einbeziehung grundrechtlicher Rechtspositionen in die Prüfung des haftungsbegründenden Tatbestandes des außervertraglichen Schadensersatzanspruchs303 deren subjektiv-rechtlichem Charakter das Wort. Darüber hinaus kann jene Charakterisierung des sekundären Rechtsschutzsystems geeignet sein, gleichsam auf das Wesen des primären Rechtsschutzsystems zurückzuwirken. Zwar stellt die Schadensersatzklage gerade im Bereich der Haftung der Gemeinschaft einen selbständigen Rechtsbehelf mit eigenen Zulässigkeitsvoraussetzungen und eigenen Funktionen dar304, wie schon in Art. 233 Abs. 2 EGV zum Ausdruck kommt. Gleichwohl lassen sich primärer und sekundärer Rechtsschutz durchaus in einem – eingeschränkten – Komplementärverhältnis betrachten, da das Amtshaftungsverfahren vorrangig der Kompensation der durch Organverhalten erlittenen Nachteile dient305 und es gegebenenfalls auch das Fehlen von primärem Rechtsschutz ausgleichen soll306. Einen solchen Zusammenhang307 erkennen 301 Vgl. insoweit schon EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3, 26 (Van Gend & Loos): „Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten Einzelnen (. . .)“ (Hervorhebung durch den Bearbeiter); ähnlich bei EuGH, verb. Rsn. 6/90 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 33 (Francovich): „(. . .) wenn der Einzelne nicht die Möglichkeit hätte, für den Fall eine Entschädigung zu verlangen, daß seine Rechte durch einen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht verletzt werden“ (Hervorhebung durch den Verfasser). 302 So jüngst bei EuG, Rs. T-415/03, Slg. 2005, II-4355, Rn. 96 (Cofradía de pescadores de „San Pedro“ de Bermeo u. a./Rat). 303 Vgl. zum Eigentumsrecht nochmals EuGH, Rs. 281/84, Slg. 1987, 49, Rn. 25 ff. (Zuckerfabrik Bedburg u. a.). 304 Vgl. dazu etwa EuGH, Rs. C-87/89, Slg. 1990, I-1981, Rn. 14 (Sonito u. a./ Kommission); EuGH, Rs. C-257/93, Slg. 1993, I-3335, Rn. 14 (Van Parijs u. a./Rat und Kommission). 305 So bereits EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975, Rn. 3 (Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat); vgl. auch EuGH, verb. Rsn. C-46/93 u. 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 20 ff. (Brasserie du pêcheur und Factortame). 306 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, S. 238, Rn. 67. 307 Zur Subsidiarität und der damit einhergehenden Verflechtung der Zulässigkeit des sekundären mit dem primären Rechtsschutz EuG, verb. Rsn. T-189/95, T-39/96 u. T-123/96, Slg. 1999, II-3587, Rn. 72 [Services pour le groupement d’acquisitions (SGA)/Kommission]: „Nach ständiger Rechtsprechung sind Schadensersatzanträge zurückzuweisen, soweit sie in einem engen Zusammenhang mit Nichtigkeitsanträgen

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zwar auch die Befürworter des objektiv-rechtlichen Charakters der allgemeinen Rechtsgrundsätze an, bewerten diesen jedoch bisweilen weitaus schwächer308. Dass im Bereich der Ersatzpflicht der Mitgliedstaaten neben den subjektiv-rechtlichen Schutzzweck auch andere Gründe der Haftung treten können, so namentlich die praktische Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts309 und die Sanktionierung eines seine gemeinschaftsrechtlichen Pflichten missachtenden Mitgliedstaats310, sollte nicht überbewertet werden311. Insgesamt lässt sich die Konzeption des sekundären Rechtsschutzes nur auf der Basis eines subjektiv-rechtlichen Systemverständnisses beschreiben. (6) Zwischenergebnis Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass das gemeinschaftsrechtliche Verfahrenssystem zahlreiche eigene individualschützende Charakteristika aufweist, die es zum einen deutlich von der deutschen Konzeption abheben, da der strikt gemeinschaftsrechtsspezifisch zu verstehende Begriff des subjektiven Rechts weiter reicht als jener des deutschen Rechtssystems312. Zum anderen entziehen die beschriebenen Eigenheiten das System aber auch dem Einfluss der französischen Konzeption und bedingen eine unabhängige Systembeschreibung. Insbesondere die Aufhebungsklage des Einzelnen gemäß Art. 230 Abs. 4 EGV ist in ihrer durch die Rechtsprechung gewonnenen Gestalt von besonderen Merkmalen subjektiv- wie objektiv-rechtlichen Charakters geprägt313. Aus der Nähe betrachtet handelt es sich bei ihr um ein subjektives Beanstandungsverfahren mit objektiviertem stehen, die ihrerseits zurückgewiesen wurden“; Entscheidung bestätigt durch EuGH, C-39/00 P, Slg. 2000, I-11201, Rn. 73 (SGA/Kommission). 308 So insbesondere Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 27, der den argumentativen Schwerpunkt hierbei auf das Effizienzgebot legt und aus der Schadensersatzpflicht zu ziehende „weitreichende Schlüsse auf die Rechtsnatur der allgemeinen Rechtsgrundsätze“ ablehnt. 309 Vgl. nur EuGH, verb. Rsn. 6/90 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 33 (Francovich). 310 Dazu auch Bröhmer, JuS 1997, 117, 124; zum Sanktionsgedanken insbesondere im Kontext zur unmittelbaren Geltung von Richtlinien auch schon EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629, Rn. 22 (Ratti); dazu näher Ress, JuS 1992, 985, 986. 311 Ähnlich v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 215 EGV (Oktober 1997), Rn. 11 und 16; differenzierend Schoch, in: Schmidt-Aßmann/Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, S. 279, 296 f. 312 So etwa auch v. Danwitz, DVBl. 1996, 481; Reich, EuZW 1996, 709. 313 Vgl. auch Classen, NJW 1995, 2457, 2464, der dem EuGH attestiert, einen pragmatischen Mittelweg zwischen den verschiedenen Modellen gewählt zu haben. Eine eigene, von der französischen Konzeption losgelöste Dynamik in der Rechtsprechungsentwicklung betont auch Drewes, Entstehen und Entwicklung des Rechtsschutzes, S. 116.

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Sachprüfungsmaßstab. Allein von dem Umstand, dass das Rechtssystems die subjektive Rechtsverletzung hier nicht als gesonderten Gegenstand der Begründetheitsprüfung ausformt, auf die Rechtsnatur der Grundrechte als rein objektive Prinzipien zu schließen, überginge diese Systemeigenheiten, denen in der Gesamtschau ein subjektiv-rechtlicher Einschlag nicht abgesprochen werden kann. Selbst wenn man im Übrigen mit ergänzendem Blick auf den sekundären Rechtsschutz auch die Folgerung für zulässig erachten kann, das Rechtsschutzsystem des EG-Vertrags sei dahingehend ausdifferenziert, dass der primäre Rechtsschutz in der Sachstation vorwiegend Elemente eines objektiven Beanstandungsverfahren enthält, während der selbständig314 neben diesem stehende sekundäre Rechtsschutz den Ausformungen eines Individualrechtsschutzsystems entspricht315, kann dies kaum zu der Annahme führen, die jeweils vor Gericht geltend zu machenden Rechte seien ihrer Rechtsnatur nach mal objektive Rechtsgrundsätze und mal subjektive Rechtspositionen. Gewiss muss eine individualschützende Norm als Bestandteil des objektiven Rechts, der Rechtsordnung im Ganzen, nicht immer auch ihren subjektiv-rechtlichen Schutz aktivieren. Dies lässt sie jedoch nicht zu einer Norm mit von Fall zu Fall wechselnder Rechtsnatur werden. Letztere bleibt vielmehr konstant und charakterisiert eine Norm abstrakt. Der Überblick zum Wesen der einzelnen Verfahrensarten hat die Implementierung subjektiver Rechtselemente in die Gemeinschaftsrechtsordnung hinreichend deutlich aufgezeigt. Von dieser einmal gefundenen Systementscheidung zugunsten der Existenz subjektiver Rechte im gemeinschaftsrechtsspezifischen Sinne kann nicht schon wegen der überwiegend objektiv-rechtlichen Prägung des Rechtssystems wieder abgerückt werden. e) Folgerungen für die Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte Schon in Anbetracht der Anerkennung gemeinschaftsrechtlich verliehener subjektiver, individueller und persönlicher Rechte des Einzelnen gegenüber der Hoheitsgewalt kann es nur schwerlich angehen, die den Personen als Individuen schlechthin zuzuordnenden Grundrechte aus diesem individualrechtlichen Rechtsnaturbereich auszuschließen. Letzteres würde das Verhältnis zwischen Sinn und Zweck des Grundrechtsschutzes und den einzelnen teleologisch folgenden Grundrechtsfunktionen auf den Kopf stellen. Erstere 314 Vgl. nochmals EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975, Rn. 3 (Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat); ferner EuGH, Rs. C-87/89, Slg. 1990, I-1981, Rn. 14 (Sonito u. a./ Kommission); EuGH, Rs. C-257/93, Slg. 1993, I-3335, Rn. 14 (Van Parijs u. a./Rat und Kommission). 315 Dahingehend die Ausführungen von Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 27.

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liegen im Schutz des einzelnen Rechtssubjekts, nicht in der Wahrung einer bestimmten Menge von Werteobjekten. Die weiteren individualschützenden Grundrechtsfunktionen lassen sich als zum Erfordernis der Wahrung subjektiver Rechtspositionen hinzutretende und dieses zugleich flankierende Grundrechtswirkungen begreifen. Die Dimension der Grundrechte als Ausdruck einer objektiven Werteordnung basiert hingegen auf einer funktionellen Abstraktion und ist die rechtsstaatliche Konsequenz der Bindung aller Hoheitsgewalt an Recht und Gesetz. Während, wie gesehen, einige rechtsgrundsätzliche Elemente in erster Linie Beachtungsgebote und mithin allgemeine Prinzipien darstellen, welche die Träger hoheitlicher Gewalt bei der Ausübung ihrer Befugnisse zu berücksichtigen haben und die bisweilen auch individualschützende Ausprägungen aufweisen können, liegt die Kernfunktion der Grundrechte nach wie vor umgekehrt in der freiheitlichen und freiheitskonkordanten Entfaltung des Einzelnen. Es wäre vor diesem Hintergrund kaum nachvollziehbar, gerade die Grundrechte in einer Rechtsordnung wie der gemeinschaftsrechtlichen, die sich nicht nur an die Träger der Hoheitsgewalt, sondern zugleich an die Angehörigen des Rechtsverkehrs richtet und auch Letzteren in dieser Stellung Rechte verleiht316, nicht den individualschützenden Rechten hinzuzurechnen, bilden die Grundrechte doch gerade in einem sie gewährenden Rechtssystem gleichsam den Hintergrund für die überwiegende Zahl der weiteren einfachgesetzlichen Rechte des Einzelnen. Während das Gebot, die Grundrechte zu wahren, sich allein an die Hoheitsgewalt richtet und mangels unmittelbarer Drittwirkung per se ein objektives Rechtsprinzip bildet317, geht es nach alledem in einem konkreten Fall nicht nur um die Einhaltung dieses Gebots, sondern spezifisch um den Schutz der sodann auf dem Spiel stehenden grundlegenden Rechte des betroffenen Grundrechtsträgers. Die Grundrechte bilden demzufolge ihrem Wesen nach ein gesondert zu beurteilendes Regime individueller Positionen und Werte mit bisweilen auch objektiv-rechtlicher Ausprägung318 und nicht umgekehrt nur objektivrechtliche Grundsätze mit subjektiv-rechtlichem Schutzgehalt. Ihre vom EuGH initiierte quellenrechtliche Zuordnung zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen kann dem nicht entgegenstehen, zumal sich auch die anderen, rein rechtsstaatlichen Rechtsgrundsätze nicht durchgehend in rein objektiven Rechtsprinzipien erschöpfen, sondern partiell ebenfalls subjektiv-schützende Funktionen in sich tragen. 316

1, 3.

In diesem Sinne auch schon der erste Präsident des EuGH Donner, AöR 1981,

317 Vgl. dazu etwa EuGH, Rs. 49/88, Slg. 1991, I-3187, Rn. 15 (Al-Jubail Fertilizer Company u. a./Rat). 318 Ähnlich in Bezug auf die Charta der Grundrechte unter Hinweis auf die deutsche Grundrechtslehre Pernice, ColJEL 2004, 5, 7.

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f) Überlegungen zur Übertragbarkeit der Theorie der Grundrechte von Alexy in den gemeinschaftsrechtlichen Bereich Mit der so konzipierten Rechtsnatur der Grundrechte lassen sich in Teilen auch die beschriebenen Thesen der von Alexy entwickelten Theorie der Grundrechte verknüpfen. Die Aussagen jenes Ansatzes sind zunächst insoweit übertragbar, als die Auflösung einer Kollision eines Gemeinschaftsgrundrechts mit einem anderen hierarchisch gleichwertigen Recht oder Rechtsgut nicht über den Weg des die Ungültigkeit eines der Positionen begründenden Geltungsvorrangs geschieht. Vielmehr muss auch im Gemeinschaftsrecht die Lösung im Zuge einer den Besonderheiten des Einzelfalls Rechnung tragenden Abwägung319 gesucht werden. Auch weisen die Grundrechte des Gemeinschaftsrechts in Entsprechung zur Theorie von Alexy320 ein ebenso vielseitiges Bündel an Funktionen auf, die eine vereinheitlichende Definition des Grundrechtsbegriffs kaum zu erfassen vermag. Ob die Gemeinschaftsgrundrechte im Sinne der Alexyschen Theorie darüber hinaus in Abgrenzung zu definitiven Rechtsregeln ein Bündel von Prinzipien321 darstellen, erscheint zwar im Hinblick auf die Qualifizierung der Grundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts denkbar. Dieser Aspekt der Theorie ist aber schon in der deutschen Literatur mit gewichtigen Argumenten bezweifelt worden. Die betreffenden Einwände sind dabei im Wesentlichen begrifflicher, politischer und normtheoretischer Natur. Mit Blick auf die von Alexy gewählten Terminologien gibt etwa Sieckmann zu bedenken, dass Prinzipien keine Optimierungsgebote, sondern Letztere stets Regeln seien322. Darüber hinaus wird der Theorie die Inhärenz eines Übermaßes an idealistischen Vorstellungen vorgeworfen323. Würtenberger macht zudem normtheoretisch geltend, der Wert eines Prinzips könne nur schwerlich aus der Rechtsordnung hergeleitet werden, die es selbst enthalte324. Enderlein kritisiert derweil, es fehle an einem ausreichenden Kriterium zur Abgrenzung zwischen Regeln und Prinzipien als Optimierungsgeboten, da im Grunde beide graduell realisierbar seien325. Derselbe sieht in den Relativierungselementen der Theorie von Alexy außerdem einen Zirkelschluss, soweit danach die Geltung eines Prinzips von der 319 Zum betreffenden Abwägungsgesetz ausführlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 78 u. 145 ff. 320 Vgl. dazu Alexy, a. a. O., S. 508 ff., insb. S. 516–520. 321 So Alexy, a. a. O., S. 397 ff. u. 516. 322 Sieckmann, Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 63 ff. 323 So etwa Lerche, in: FS Stern, S. 205 f. 324 Vgl. Würtenberger, VVDStRL 1999, 139, 156. 325 Enderlein, Abwägung in Recht und Moral, S. 88.

A. Die Unionsgrundrechte und ihre Rechtsnatur

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Abwesenheit gegenläufiger Regeln und Prinzipien abhängig sei und die Unterscheidung zwischen Regel und Prinzip damit voraussetze326. Ohne auf jene vorliegend nur im Groben dargestellte Kritik im Einzelnen eingehen zu müssen, sei hier ergänzend darauf aufmerksam gemacht, dass einer Grundrechtsgarantie nur schwerlich die bloße Rechtsnatur eines Rechtsprinzips zugesprochen werden kann, wenn sie vor allem ihren Trägern die Möglichkeit der Grundrechtsverwirklichung in tatsächlicher wie in rechtlicher Hinsicht garantieren soll und in Abwesenheit speziellerer Rechte auch selbst unmittelbar anwendbar und einklagbar ist327. In erster Linie verkörpern die Grundrechte also individuelle Rechtsgüter oder Rechte, die der jeweilige Grundrechtsträger negativ, aktiv oder passiv handhaben und im Falle einer Verletzung geltend machen und gerichtlich durchsetzen kann. Jene besonderen Primäreigenschaften eines Grundrechts kongruieren jedoch nicht vollends mit dem Alexyschen Schema der Prinzipienmerkmale. Denn die rigide Differenzierung zwischen unbedingten Regeln und relativen Prinzipien passt nicht recht auf das Grundrechtsregime, zumal die Berufung des Rechtsschutzsuchenden auf bloße Prinzipien mit Blick auf die Rechtsschutzgarantie den Zugang zu den Gerichten kaum hinreichend effektiv ebnen könnte. Dass von den Grundrechten gleichsam objektiv-funktionelle Wirkungen ausgehen, steht dem nicht entgegen, solange man die Rechtsnatur eines Rechts aus seinen wichtigsten Funktionen entnimmt und weitere, nicht unmittelbar zu der so bestimmten Rechtsnatur passende Dimensionen als rechtliche Derivate oder Annexfunktionen betrachtet, welche die originäre Natur des Rechts unberührt lassen. Da die Theorie der Grundrechte von Alexy aber nicht für das Gemeinschaftsrecht entwickelt wurde, bedürfen die hier berührten Fragen keiner abschließenden Klärung. In der gemeinschaftsrechtlichen Sphäre gelten einige Besonderheiten, die auf der Verzahnung und Überschneidung der Geltungsräume a priori eigenständiger Rechtsordnungen beruhen und insbesondere mit Blick auf den Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts andere Kollisionsregeln bedingen328, die nicht so recht in das Alexysche Enderlein, a. a. O., S. 87 ff. (insb. S. 87 u. 89). So die ganz h. M., vgl. nur Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 28 m. w. N. 328 Zur Unanwendbarkeit einer nationalen Vorschrift wegen Verstoßes gegen in einer Richtlinie geregelte wesentliche Verfahrenspflichten etwa EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, 2201, Rn. 46 ff. (CIA Security International/Signalson und Securitel); allgemein zum Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts Ehlers, Kollisionsrecht, in: Schulze/Zuleeg, Europarecht, § 11, Rn. 33 ff.; s. zur einschlägigen Rechtsprechung des Gerichtshofs EuGH, verb. Rsn. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307, Rn. 21 (IN.CO.GE.’90 u. a.) sowie EuGH, Rs. C-198/01, Slg. 2003, I-8055, Rn. 48 (CIF). 326 327

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

Schema von Regelkonflikten und Prinzipienkollisionen329 passen. Soweit schließlich einige der Denkansätze von Alexy auch in der gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsdogmatik greifen können, vermögen diese unter Heranziehung eines weiten Prinzipienbegriffs die hier interessierende individualrechtliche Rechtsnatur der Gemeinschaftsgrundrechte nicht grundsätzlich in Frage zu stellen.

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie Sind die Gemeinschaftsgrundrechte rechtsordnungsspezifisch zu betrachtende fundamentale Individualrechte, so stellt sich nunmehr die Folgefrage, ob das Recht auf effektiven Rechtsschutz ebenfalls an diesem Grundrechtsregime teilnimmt oder ob es nur einen die praktische Wirksamkeit der materiellen Grundrechte absichernden objektiven Grundsatz bildet.

I. Gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung zur Gewähr und zum Inhalt effektiven Individualrechtsschutzes Auch insoweit ist das Hauptaugenmerk auf die gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung zu lenken. Der EuGH hat bereits vielfach und unter verschiedenen Fragestellungen sowohl zur Geltung als auch zum Inhalt des Rechts auf effektiven Rechtsschutz im Unionsrecht Stellung bezogen330. 1. Maßgebende Rechtsprechungsschritte auf dem Weg zur Anerkennung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz Wenn weithin angenommen wird, im Bereich des durch die mitgliedstaatlichen Gerichte zu gewährenden Rechtsschutzes sei eine erste ausdrückliche Anerkennung des Gerichtshofs in dem Urteil in der Rechtssache Johnston331 aus dem Jahre 1986 erfolgt332, so trifft dies genau genommen nur zu, soweit Dazu Alexy, a. a. O., S. 77 ff. Die folgende Darstellung wird sowohl auf die Rechtsprechung zu justitiellen Rechten als auch auf jene zu den weiteren, partiell auch vor Behörden geltenden Verfahrensrechten eingehen. Die entsprechende, in der Literatur geläufige Differenzierung (so etwa bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 192 ff.) wird hier angesichts der teils parallelen Geltung der betreffenden Rechte vor Behörden und Gerichten sowie wegen der weitgehend gleichgerichteten Funktionen nur insoweit aufgenommen, wie es gerade auf die punktuellen Unterschiede ankommt. 331 EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 (Johnston). 329 330

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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damit die Anerkennung des rechtsgrundsätzlichen Charakters dieses Rechts angesprochen ist. Bereits zuvor war nämlich in der Rechtsprechung des EuGH von einer Garantie des prozessualen Schutzes333 respektive der Gewährung des Rechts auf Rechtsschutz die Rede334. Indes leitete der EuGH diese im jeweiligen Fall nicht als allgemeinen Rechtsgrundsatz, sondern unter alleiniger Heranziehung der fallrelevanten sekundärrechtlichen Quelle335 her, obgleich das in der Rechtssache Pecastaing vorlegende Gericht seine Vorlagefragen ausdrücklich auch auf Art. 6 EMRK bezogen hatte336. Auch wenn der Gerichtshof das sekundärrechtliche Recht auf Rechtsschutz hier noch nicht explizit mit dem Zusatz ausstattete, dass dessen Gewährleistung effektiv zu sein habe, klang das entsprechende Erfordernis in letzterer Entscheidung bereits an337. In der Tat hob der Gerichtshof die Rechtsschutzgarantie erstmals in der Rechtssache Johnston338 in den Rang der allgemeinen Rechtsgrundsätze. Auch hier war der hermeneutische Ausgangspunkt zunächst ein Sekundärrechtsakt, namentlich Art. 6 der den Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen regelnden Richtlinie 76/207/EWG339. Der EuGH sah sich aber veranlasst, die Richtlinienregelung – wohl angesichts der besonderen Bedeutung jenes Rechts – als „Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes“ zu bewerten, „der den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zugrunde liegt“ und der „auch in den Artikeln 6 und 13 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 verankert“340 ist. Im Zuge der Befreiung der GelVgl. etwa Pernice/Mayer, in Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV (August 2002), Rn. 269. 333 Vgl. EuGH, Rs. 48/75, Slg. 1976, 497, Rn. 53 ff. (Royer). 334 Vgl. EuGH, Rs. 98/79, Slg. 1980, 1691, Rn. 13 (Pecastaing/Belgien). 335 In beiden Fällen ging es um die Art. 8 und 9 der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 (ABl. EG 1964 L 56), die bestimmte, insbesondere aus dem Diskriminierungsverbots folgende Mindestanforderungen an den Rechtsschutz gegen mitgliedstaatliche Einzelmaßnahmen im Bereich der Einreise, des Aufenthalts oder der Entfernung eines Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats stellen. 336 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 6 (Pecastaing/Belgien). Die Vorlagefragen des belgischen Tribunal de Première Instance umfassten zwar ausdrücklich auch allgemeine Schutzaspekte des in Art. 6 EMRK enthaltenen Rechts auf einen fairen Prozess, jedoch unterließ der EuGH unter Hinweis auf die hinreichende Gewährung dieses Rechts durch die Richtlinie eine Einbeziehung der Konventionsregelung [s. EuGH, a. a. O., Rn. 22 (Pecastaing/Belgien)]. 337 Dies zeigen insbesondere die Überlegungen des Gerichtshofs zur Wirksamkeit des nach der Richtlinie zu gewährenden Rechtsschutzes: EuGH, a. a. O., Rn. 14 ff. (Pecastaing/Belgien). 338 s. nochmals EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 (Johnston). 339 Vom 9. Februar 1976 (ABl. EG 1976 L 39). 340 EuGH, a. a. O., Rn. 18 (Johnston). 332

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tung des Rechtsschutzgebots aus der sekundärrechtlichen Abhängigkeit sprach der EuGH dabei zum ersten Mal von einem jedem zustehenden „Anspruch auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes durch ein zuständiges Gericht“341. Die nicht viel später judizierte Rechtssache Unectef/ Heylens342 gab ihm anschließend die Gelegenheit, eine enge Verbindung der Verleihung von Grundrechten mit dem allgemeinen Rechtsgrundsatz der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes herzustellen343. Im Laufe seiner Rechtsprechung drückte der EuGH diese Konnexität auch noch klarer aus344. Unbeschadet dessen sind die Urteile Johnston und Unectef/Heylens angesichts ihrer grundlegenden Bedeutung auch heute noch die zentralen Bezugsentscheidungen in Fragen des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes345. Das Rechtsschutzgebot ist aber nicht nur in Bezug auf mitgliedstaatliches Handeln, sondern auch im Wirkungsbereich der Maßnahmen der Unionsorgane anzuerkennen, wie der EuGH zunächst eher beiläufig346 und das EuG mit etwas mehr Begründungsaufwand347 zweifelsfrei festgestellt haben. Zur Stützung der Geltung des allgemeinen, auf den Verfassungstraditionen348 fußenden Grundsatzes verwies das EuG auf seine eigene Entscheidung in der Rechtssache Guérin automobiles/Kommission349, in der es bereits auf die Ausführungen des EuGH in den allein mitgliedstaatliches Verhalten betreffenden Rechtssachen Johnston350 und Kommission/Belgien351 Bezug genommen hatte352. In der zu jener Rechtssache ergangenen RechtsEuGH, a. a. O., Rn. 19 (Johnston). EuGH, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097 (Unectef/Heylens). 343 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 14 (Unectef/Heylens); Anknüpfungspunkt war hier das Grundrecht auf freien Zugang zur Beschäftigung. 344 s. etwa EuGH, Rs. C-104/91, Slg. 1992, I-3003, Rn. 10 (Aguirre Borell u. a.); EuGH, Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357, Rn. 22 (Vlassopoulou); EuGH, Rs. C-19/92, Slg. 1993, I-1663, Rn. 40 (Kraus/Land Baden-Württemberg); EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577, Rn. 64 (Dounias). 345 Vgl. etwa zwischendurch EuGH, Rs. C-97/91, Slg. 1992, I-6313, Rn. 14 (Oleificio Borelli/Kommission), aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-467/01, Slg. 2003, I-6471, Rn. 61 (Eribrand), EuGH, verb. Rsn. C-482/01 und C-493/01, Slg. 2004, I-5257, Rn. 110 (Orfanopoulos und Oliveri); EuGH Rs. C-136/03, Slg. 2005, I-4759, Rn. 47 (Dörr und Ünal); sowie EuGH, verb. Rsn. C-23/04 bis 25/04, Slg. 2006, I-1265, Rn. 28 (Sfakianakis AEVE). 346 Vgl. EuGH, Rs. 228/92, Slg. 1994, I-1445, Rn. 27 (Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern). 347 EuG, Rs. T-348/94, Slg. 1998, II-1875, Rn. 60 (Enso Española/Kommission). 348 Auf Art. 6 und 13 EMRK rekurrierte das EuG interessanterweise nicht. 349 EuG, Rs. T-186/94, Slg. 1995, II-1753 (Guérin automobiles/Kommission). 350 EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 (Johnston). 351 EuGH, Rs. C-249/88, Slg. 1991, I-1275, Rn. 25 (Kommission/Belgien). 341 342

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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mittelentscheidung musste der Gerichtshof zwar nicht darauf eingehen, ob er diesen einheitlichen Herleitungsansatz ebenso teilt. Im Rahmen seiner Entscheidung hat er aber zumindest stillschweigend die betreffende Ausweitung des Rechtsschutzgebots bestätigt, indem er auf die Rüge der Rechtsmittelführerin hin die Frage prüfte, ob das angefochtene Urteil des EuG und mithin der Akt eines EU-Organs einen Verstoß gegen den – quellenhermeneutisch nicht näher gestützten – Grundsatz des Anspruchs auf gerichtlichen Rechtsschutz darstellte353. Die beschriebene Herleitung des EuG hat der EuGH im Übrigen später eindeutig bestätigt, indem er den die Unionsorgane betreffenden Grundsatz gleichermaßen unter Berufung auf seine zentrale Bezugsrechtsprechung angewandt hat354. In der Gesamtentwicklung der Rechtsprechung sieht sich das Recht auf Rechtsschutz gegen belastende Maßnahmen eines Mitgliedstaates und gegen solche der Union folglich auf dieselbe quellendogmatische Grundlage gestellt und wird damit insgesamt als einheitlicher Grundsatz anerkannt355. 2. Gängige und abweichende Quellensystematik des EuGH Wie sich teilweise schon in den bereits behandelten Entscheidungen offenbart hat, berührt die Herleitungssystematik des EuGH mehrere Quellenebenen. Zumeist hat der Gerichtshof dabei die mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen, die EMRK und bisweilen ebenso den IPbürgR356 allein357 352

sion).

EuG, Rs. T-186/94, Slg. 1995, II-1753, Rn. 23 (Guérin automobiles/Kommis-

353 EuGH, Rs. C-282/95, Slg. 1997, I-1503, Rn. 33 ff. (Guérin automobiles/Kommission). Das Rechtsmittel gegen die EuG-Entscheidung in der Rechtssache Enso Española/Kommission gab dem EuGH hingegen keinen Anlass, auf den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes einzugehen, vgl. EuGH, Rs. C-282/98 P, Slg. 2000, I-9817 (Enso Española/Kommission). 354 s. dazu etwa EuGH, Rs. C-424/99, Slg. 2001, I-9285, Rn. 45 (Kommission/ Österreich). Der Gerichtshof beschreibt den Grundsatz hier, wie schon zuvor, als das „allgemeine Erfordernis der gerichtlichen Überprüfbarkeit“, indes ohne eine Beschränkung auf nationale Maßnahmen, wie sie sich etwa noch bei EuGH, Rs. C-1/99, Slg. 2001, I-207, Rn. 46 (Kofisa Italia) und in EuGH, Rs. C-226/99, Slg. 2001, I-277, Rn. 17 (Siples) befindet. 355 Dies darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der EuGH daneben und insoweit wohl unabhängig auch andere Verfahrensrechte, insbesondere jenes auf rechtliches Gehör oder auf ein faires Verfahren anerkannt hat (dazu sogleich unter B. I. 3.). 356 BGBl. 1976 II 1068; Sartorius II Nr. 20. 357 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 72 (Steffensen); EuG, Rs. T-348/94, Slg. 1998, II-1875, Rn. 60 (Enso Española/Kommission); ebenso jüngst wieder EuGH, verb. Rsn. C-23/04 bis 25/04, Slg. 2006, I-1265, Rn. 28 (Sfakianakis AEVE).

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

oder auch in unabhängiger Anwendung nacheinander358 zur genaueren Inhaltsermittlung des fallrelevanten Rechtsgehalts herangezogen. Für den üblichen Herleitungsansatz der Rechtsprechung lässt sich exemplarisch insbesondere die auch im Weiteren bedeutsame Rechtssache Unión de Pequeños Agricultores/Rat359 anführen. In dieser hat der Gerichtshof nach einem Hinweis auf den rechtsgemeinschaftlichen Charakter des Rechtssystems360 zunächst ausgeführt, dass dem Einzelnen ein Anspruch auf einen effektiven gerichtlichen Schutz seiner gemeinschaftsrechtlichen Rechte zusteht, um anschließend auf den allgemeinen Rechtsgrundsatz zu verweisen, wie er sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergibt und auch in den Art. 6 und 13 EMRK verankert ist361. Wie bereits partiell angedeutet, hat der EuGH in mehr oder minder ostensiver Abweichung zu dieser Systematik das Erfordernis der Rechtsschutzgewährung oder jedenfalls einzelne Schutzaspekte der Rechtsschutzgarantie bisweilen auch in einen rechtlichen Quellenkontext zu den Grundfreiheiten362 und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit363 oder auch zum allgemeinen Diskriminierungsverbot364 und dem Grundsatz der mitgliedstaatlichen Mitwirkungspflicht365 gesetzt. 358 Vgl. etwa zum nemo-tenetur-Grundsatz EuGH, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 ff. (Orkem/Kommission). 359 EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6719 (Unión de Pequeños Agricultores/ Rat). 360 So schon EuGH, Rs. 284/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament). 361 EuGH, a. a. O., Rn. 38 f. (Unión de Pequeños Agricultores/Rat) mit zusätzlicher Verweisung auf EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 (Johnston) und EuGH, Rs. C-424/99, Slg. 2001, I-9285, Rn. 45 (Kommission/Österreich); ebenso EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 29 (Kommission/Jégo-Quéré); ferner jüngst wieder EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439, Rn. 109 (PKK und KNK/ Rat). 362 Vgl. zum freien Warenverkehr schon EuGH, Rs. 13/68, Slg. 1968, 680, 693 (Salgoil); deutlich auch EuGH, Rs. C-18/88, Slg. 1991, I-5941, Rn. 34 (GB-InnoBM); vgl. zur Arbeitnehmerfreizügigkeit und dem Recht auf eine andere Verfahrenssprache EuGH, Rs. 137/84, Slg. 1985, 2681, Rn. 16 ff. (Mutsch); vgl. auch zur Niederlassungsfreiheit und der Pflicht zur Anerkennung der Rechts- und Parteifähigkeit einer nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft EuGH, C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Rn. 92 ff. (Überseering). 363 Vgl. EuGH, Rs. 178/84, Slg. 1987, 1227, Rn. 45 f. (Kommission/Deutschland). 364 Vgl. zu Art. 6 EGV a. F. (Art. 12 EGV n. F.) und der Durchführung des Strafverfahrens in der Sprache des Betroffenen EuGH, C-274/96, Slg. 1998, I-7637, Rn. 26 (Bickel und Franz); vgl. zum Gleichbehandlungsgrundsatz und der Vorableistung einer Prozesskostensicherheit des Klägers EuGH, Rs. C-43/95, Slg. 1996, I-4661, Rn. 22 (Data Delecta Aktiebolag und Forsberg); EuGH, Rs. C-323/95, Slg. 1997, I-1711, Rn. 25 (Hayes/Kronenberger); EuGH, Rs. C-122/96, Slg. 1997, I-5325, Rn. 30 (Saldanha und MTS Securities Corporation/Hiross).

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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Hervorzuheben ist ferner, dass der EuGH mitunter auch eine gekreuzte Quellensystematik angewandt hat, wofür die Rechtssache Dounias366 ein exzellentes Beispiel bietet. Während der primärrechtliche Aufhänger dieses Falles bei verschiedenen Fragen zur Vereinbarkeit steuer- und zollrechtlicher Vorschriften Griechenlands zur Anpassung seines Rechts an die Vorgaben der Art. 30 und Art. 95 EGV a. F. (jetzt Art. 28 und 90 EGV n. F.) lag, hat der EuGH im Rahmen der Prüfung der Konformität der einschlägigen nationalen Verfahrensvorschriften den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes zunächst unter Verweisung auf seine ständige Rechtsprechung, namentlich insbesondere jene in der Rechtssache Unectef/Heylens, und mithin inzident auf seine übliche Herleitungssystematik, als das Erfordernis prozessualen Grundrechtsschutzes konkretisiert, um im unmittelbaren Anschluss daran Überlegungen zur Warenverkehrsfreiheit, dem darin enthaltenen grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbot und dem Gebot praktischer Wirksamkeit anzustellen367. Einer besonderen Erwähnung bedarf schließlich, dass der EuGH in vereinzelten Judikaten in Bezug auf partielle Aspekte der Art und Weise der Rechtsschutzgewähr auch ausdrücklich positiv über ihre grundrechtliche Rechtsnatur entschieden hat. Die geläufige Grundrechtsformel hat er dabei teilweise, so etwa im Zusammenhang mit dem Recht auf rechtliches Gehör, vorab und damit quellensystematisch separat aufgeführt368 und teilweise, so für den Bereich der Verteidigungsrechte, auch in einen unmittelbaren Kontext zur Geltung des jeweiligen Verfahrensrechts gestellt369. Das „Recht auf effektiven Rechtsschutz“ wurde vom EuGH370, soweit ersichtlich, bislang jedoch nur zweimal begrifflich dem Grundrechtsregime zugeordnet und 365 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-312/93/, Slg. 1995, I-4599, Rn. 12 (Peterbroeck); EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19 (Factortame); ebenso schon EuGH, Rs. 811/79, Slg. 1980, 2545, Rn. 12 (Ariete); EuGH, Rs. 826/79, Slg. 1980, 2559, Rn. 13 (Mireco). 366 EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577 (Dounias). 367 Vgl. EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577, insb. Rn. 64 ff. (Dounias). I. Erg. verneinte der Gerichtshof einen Gemeinschaftsrechtsverstoß, da das nationale Verfahrensrecht hinreichende, nicht diskriminierende Möglichkeiten gerichtlicher Anfechtung der die Wareneinfuhr erschwerenden Maßnahmen vorsah. 368 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-665, Rn. 8 und 18 (Emesa Sugar NV). 369 Vgl. etwa EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 64 (Aalborg Portland u. a./ Kommission); ferner schon EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 26 (Krombach). 370 Anders indes das EuG, welches das Recht auf Rechtsschutz, namentlich insbesondere das Recht auf Zugang zu einem Gericht zugleich als Grundrecht und allgemeines Prinzip charakterisiert hat, s. EuG, Rs. T-111/96, Slg. 1998, II-2937, Rn. 60 (ITT Promedia/Kommission).

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

dies indessen nicht im Tenor oder den diesen tragenden Entscheidungsgründen, sondern im ersten Fall noch vor dem Rubrum in der Aufzählung der das Urteil charakterisierenden Schlüsselwörter371 und im zweiten Fall in einer die Entscheidungsgründe ordnenden Gliederungsüberschrift372. Im Übrigen vermeidet der Gerichtshof hier unbeschadet eines entsprechenden Parteivortrags den Terminus der Grundrechte373. 3. Einzelne Anforderungen an die Rechtsschutzgewähr Wie die vorangegangenen Ausführungen bereits erahnen lassen, ist die Zahl der im Kontext zur Garantie effektiven Rechtsschutzes ergangenen Entscheidungen kaum überschaubar. Im Laufe der Zeit hatte der Gerichtshof hinreichend Gelegenheit, verschiedene Facetten der Anforderungen an den Umstand wie die Art und Weise des gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzes zu behandeln, von denen im Folgenden die wichtigsten dargestellt werden. In diesem Zusammenhang ist schon hier vorwegzuschicken, dass der vom EuGH jeweils anerkannte Schutzgehalt nicht unerheblich über das nach Art. 6 § 1 EMRK garantierte Mindestniveau hinausgeht, soweit Letzterer grammatikalisch auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen und strafrechtliche Anklagen betreffende Gerichtsverfahren beschränkt ist374, während der gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutz seine Bedeutung überwiegend in verwaltungsrechtlichen Streitigkeiten zeitigt.

371 Vgl. EuGH, Rs. C-186/04, Slg. 2005, I-3299 (Housieaux). Zur Aussagekraft näher unter 4. e). 372 s. EuGH, Rs. C-131/03 P, Slg. 2006, I-7795, vor Rn. 74 (Reynolds Tobacco u. a.). Auch hierzu näher unter 4. e). 373 Vgl. etwa jüngst wieder EuGH, Rs. C-432/04, Slg. 2006, I-6387 (Kommission/Cresson), wo im Rahmen des Parteivortrags die Rüge einer „Grundrechtsverletzung“ wiedergegeben wird (Rn. 86), während der EuGH in seiner Würdigung nur vom Recht auf effektiven Rechtsschutz spricht (Rn. 112 ff.). 374 Zu beachten ist aber, dass der EGMR den Begriff der „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ unter Betonung von Sinn und Zweck des Vertrags weit versteht und dabei primär darauf abstellt, ob das jeweilige Verfahrensresultat ungeachtet der formellen Verfahrensnatur entscheidende Bedeutung für private Rechte oder Pflichten hat [vgl. etwa EGMR, Urt. v. 28.06.1978 (Große Kammer), Beschw. Nr. 6232/73, §§ 91–95 (König/Deutschland); dazu ausführlicher Miehsler, in: Karl, EMRK, Art. 6 EMRK, S. 9 ff. (September 1986); s. zudem bereits Partsch, EMRK, S. 142 ff.; s. ferner schon Pieck, Der Anspruch auf ein rechtsstaatliches Gerichtsverfahren, S. 23 ff.; s. darüber hinaus im Kontext zum deutschen Verwaltungsrecht Frowein/Ulsamer, EMRK und nationaler Rechtsschutz, S. 13 ff.].

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a) Effektiver Zugang Der primär zu nennende und in den bereits erwähnten Entscheidungen deutlich zum Ausdruck gekommene Gehalt des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes liegt in dem Recht auf Zugang zu einem zuständigen Gericht, wobei je nach Fallkonstellation die mitgliedstaatlichen wie die gemeinschaftlichen Gerichte oder auch beide Gerichtszweige gemeint sein können. Zumeist verleiht der EuGH jenem Recht durch die Betonung des umfassenden Charakters des vom EG-Vertrag geschaffenen Rechtsschutzsystems Ausdruck. Nach ständiger Rechtsprechung soll dieses nämlich gewährleisten, dass Handlungen der Mitgliedstaaten oder der Gemeinschaftsorgane nicht der gerichtlichen Kontrolle entzogen sind375. Zugleich verlangt ein angemessener Schutz der vom Gemeinschaftsrecht vermittelten Rechte des Einzelnen aber auch eine dem gerichtlichen Verfahren vorgelagerte Möglichkeit ihrer Geltendmachung in einem leicht zugänglichen Verwaltungsverfahren, so etwa im Bereich der Warenverkehrsfreiheit die Beantragung einer auf das betreffende Produkt bezogenen Zulassung376. Das Fehlen eines Rechtsmittels gegen erstinstanzliche Entscheidungen des EuGH, insbesondere in sanktionsrechtlichen Angelegenheiten, begründet hingegen keine Beeinträchtigung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz377. In Anbetracht der überwiegenden Durchführung des Gemeinschaftsrechts durch die mitgliedstaatlichen Stellen spielt der Zugang zu diesen in praktischer Hinsicht die ungleich größere Rolle. Demgemäß sind nach Auffas375 Vgl. u. a. EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament); EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 16 (Foto-Frost); EuGH, Rs. C-314/91, Slg. 1993, I-1093, Rn. 8 (Weber/Parlament); ferner EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21. 376 Vgl. dazu schon EuGH, Rs. 178/84, Slg. 1987, 1227, Rn. 46 (Kommission/ Deutschland). 377 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-432/04, Slg. 2006, I-6387, Rn. 112 ff. (Kommission/Cresson). In dieser Rechtssache beantragte die Kommission festzustellen, dass sich Frau Cresson als Kommissionsmitglied der Günstlingswirtschaft oder zumindest einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht und dadurch ihre Pflichten nach Art. 213 Abs. 2 EGV verletzt hat, weshalb ihr Ruhegehaltsansprüche oder andere an deren Stelle gewährte Vergünstigungen ganz oder teilweise aberkannt werden sollten. Der Gerichtshof ließ ausdrücklich offen, ob auf das in Art. 213 Abs. 2 EGV genannte Sanktionierungsverfahren die Regelungen des siebten Zusatzprotokolls zur EMRK, welches in Art. 2 ein Recht auf Berufung gegen eine strafgerichtliche Verurteilung garantiert, Anwendung finden, da er selbst als oberstes Gericht jedenfalls unter den Ausnahmetatbestand des Art. 2 § 2 des Zusatzprotokolls falle. Im Übrigen stellte der EuGH – wohl erstmals – eine Verletzung der aus Art. 213 Abs. 2 EGV folgenden Pflichten fest, sah in dieser Tenorierung aber – unter Verzicht auf weitere Maßnahmen – bereits eine angemessene Sanktion für das Fehlverhalten.

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sung des Gerichtshofs vor allem die Mitgliedstaaten für einen wirksamen und lückenlosen Rechtsschutz verantwortlich378. In Abwesenheit gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften haben sie innerhalb ihrer Rechtsordnung die prozessualen Mittel zum Schutz der durch das Gemeinschaftsrecht verliehenen Individualrechte auszugestalten379. Im Vordergrund steht dabei im Sinne des Vorrangs des primären Rechtsschutzes die Möglichkeit der gerichtlichen Anfechtung belastender Entscheidungen der ausführenden Gewalt380. Flankierend soll zudem die in Art. 234 Abs. 3 EGV geregelte Vorlagepflicht letztinstanzlicher Gerichte den Einzelnen davor schützen, dass gemeinschaftsrechtliche Individualrechte durch die Rechtskraft einer Gerichtsentscheidung endgültig verletzt werden381. In zweiter Linie umfasst der Anspruch auf Rechtsschutz außerdem die Gewährung einer Entschädigung für Verletzungen im Gemeinschaftsrecht wurzelnder Rechte des Einzelnen382. Die sich aus dem Grundsatz effektiven Rechtsschutzes ergebende Verantwortung der Mitgliedstaaten kann überdies zivilprozessuale Bereiche berühren und so etwa die Verpflichtung begründen, den gerichtlichen Rechtsschutz der Arbeitnehmerrechte auch gegen rechtlich oder tatsächlich klagehinderliches Arbeitgeberverhalten abzusichern383. Wenn insoweit jeder einzelne Mitgliedstaat grundsätzliche Autonomie in Bezug auf die Ausgestaltung der für die Rechtsschutzgewährung notwendigen Zuständigkeits-, Verfahrens- und Fristenregelungen hat, ist diese Prärogative indes auch systeminhärenten Grenzen unterworfen384, die zum einen im Äquivalenzgrundsatz, nach welchem die einzelnen Modalitäten nicht ungünstiger sein dürfen als für entsprechende innerstaatliche Verfahren385, soVgl. etwa EuGH, Rs. 179/84, Slg. 1985, 2301, Rn. 17 (Bozzetti/Invernizzi). Dazu jüngst wieder EuGH, Rs. C-443/03, Slg. 2005, I-9611, Rn. 49 (Leffler). 380 Vgl. EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577, Rn. 64 (Dounias); dies umfasst auch die Möglichkeit der Geltendmachung, dass ein Zulassungsantrag zu Unrecht abschlägig beschieden wurde [dazu EuGH, Rs. 178/84, Slg. 1987, 1227, Rn. 46 (Kommission/Deutschland)]. 381 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 34 f. (Köbler). 382 Vgl. nur EuGH, verb. Rsn. C-46/93 u. 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 20 ff., 52 u. 67 (Brasserie du pêcheur und Factortame). 383 Vgl. etwa für den Fall der gerichtlichen Durchsetzung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Mann und Frau und der als Reaktion auf eine Klageerhebung verweigerten Arbeitszeugnisausstellung EuGH, Rs. C-185/97, Slg. 1998, I-5199, Rn. 24 u. 28 (Groote/Granada Hospitality). 384 Ausführlich zum Einfluss des Gemeinschaftsrechts auf die Sachentscheidungsvoraussetzungen öffentlich-rechtlicher Gerichtsverfahren nach der VwGO Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 218 ff. 385 Der Äquivalenzgrundsatz wird in der Rechtsprechung synonym auch als Diskriminierungsverbot oder Gleichwertigkeitsgrundsatz bezeichnet [vgl. etwa EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 21 (Roquette Frères)]. Erstere der beiden Alternativbezeichnungen verfehlt jedoch den Kern der Sache, soweit es nicht um die Ver378 379

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wie zum anderen im Effektivitätsgrundsatz, nach welchem die Ausübung der gemeinschaftsrechtlichen Rechte nicht praktisch unmöglich oder übermäßig erschwert werden darf386, liegen387. Prozessuale Zugangsvoraussetzungen wie die Klagebefugnis oder das Rechtsschutzinteresse müssen vor diesem Hintergrund rechtsschutzfreundlich ausgelegt und appliziert werden388. Angemessene Ausschlussfristen sind im Interesse des auch dem Gemeinschaftsrecht bekannten Grundsatzes der Rechtssicherheit aber grundsätzlich zulässig389, sofern diese für Klagen aus dem Gemeinschaftsrecht nicht kürzer sind390 und nicht der hinreichenden Berücksichtigung des Gemeinschaftsrechts ex officio entgegenstehen391. Auch ist der Mitgliedstaat im Lichte des Äquivalenzgrundsatzes nur zur Anwendung gleich günstiger, nicht aber der im Einzelfall günstigsten seiner Regelungen verpflichtet392. Im Bereich des Schadensersatzrechts bedingt der Effektivitätsgrundsatz etwa, dass die nationalen Vorschriften dem Geschädigten nicht nur einen Anspruch auf Ersatz des reinen Vermögensschaden (damnum emergens), sondern darüber hinaus einen Anspruch auf entgangenen Gewinn (lucrum meidung von Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit geht, sondern um die Gleichbehandlung zwischen Klagen mit Gemeinschaftsrechtsbezug und solchen, die nur innerstaatliche Rechtsfragen berühren, worauf auch Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 18, Rn. 38, zu Recht hinweist. 386 St. Rspr., vgl. etwa aus jüngerer Zeit wieder EuGH, Rs. C-443/03, Slg. 2005, I-9611, Rn. 50 (Leffler); EuGH, C-30/02, Slg. 2004, I-6051, Rn. 17 (Recheio – Cash & Carry); vgl. ferner EuGH, Rs. C-343/96, Slg. 1999, I-579, Rn. 25 (Dilexport); EuGH, verb. Rsn. C-279/96, C-280/96 u. C-281/96, Slg. 1998, I-5025, Rn. 27 (Ansaldo Energia u. a.); EuGH, Rs. C-231/96, Slg. 1998, I-4951, Rn. 34 (Edis); EuGH, Rs. C-260/96, Slg. 1998, I-4997, Rn. 18 (Spac). 387 Diese beiden Grundsätze stellen zwar eigenständige, mithin parallel zum allgemeinen Rechtsschutzgebot existierende Prinzipien dar, sie sind jedoch funktional und materiell aufs Engste mit diesem verwoben (s. dazu insbesondere Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 41; zu einer Zusammenfassung der Grundsätze unter einem Gesamtprinzip s. Röben, Einwirkung der Rechtsprechung des EuGH, S. 381 ff.). 388 Vgl. EuGH, Rs. C-174/02, Slg. 2005, I-85, Rn. 18 (Streekgewest); ebenso schon EuGH, verb. Rsn C-87/90 bis C-89/90, Slg. 1991, I-3757, Rn. 24 (Verholen u. a.); EuGH, Rs. C-13/01, Slg. 2003, I-8679, Rn. 50 (Safalero). 389 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-343/96, Slg. 1999, I-579, Rn. 26 (Dilexport); EuGH, Rs. C-231/96, Slg. 1998, I-4951, Rn. 20 (Edis); vgl. auch schon EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, Rn. 5 (Rewe), EuGH, Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, Rn. 17 f. (Comet); EuGH, Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 23 (Denkavit italiana). 390 EuGH, Rs. 240/87, Slg. 1988, 3513, Rn. 12 ff. (Deville). 391 Vgl. EuGH, Rs. C-312/93/, Slf. 1995, I-4599, Rn. 12 (Peterbroeck); s. aber auch zur möglicherweise entgegenstehenden Rechtskraft eines endgültigen Schiedsspruchs EuGH, Rs. C-126/97, Slg. 1999, I-3055, Rn. 43 ff. (Eco Swiss). 392 Vgl. EuGH, Rs. C-343/96, Slg. 1999, I-579, Rn. 26 (Dilexport); EuGH, verb. Rsn. C-279/96, C-280/96 u. C-281/96, Slg. 1998, I-5025, Rn. 29 (Ansaldo Energia u. a.); EuGH, Rs. C-231/96, Slg. 1998, I-4951, Rn. 36 (Edis).

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cessans) und Zinsen einräumen393. Wie der Gerichtshof ferner betont hat, muss das zuständige Gericht insbesondere von der vollziehenden Gewalt unabhängig sein394. Neben dem Rechtsschutz in der Hauptsache ist, sofern notwendig, daneben schließlich auch vorläufiger Rechtsschutz durch den EuGH395 oder das mitgliedstaatliche Gericht396 zu gewähren. Dabei erlaubt der Grundsatz effektiven Rechtsschutzes dem nationalen Gericht unter bestimmten Voraussetzungen397, die Vollziehung eines Gemeinschaftsrechtsakts oder eines auf einem solchen basierenden mitgliedstaatlichen Akts bei gleichzeitiger Vorlage an den EuGH vorläufig auszusetzen oder entgegengesetzte einstweilige Anordnungen zu treffen398. b) Recht auf rechtliches Gehör und Anspruch auf ein faires Verfahren sowie hiermit zusammenhängende Schutzaspekte Neben dem zentralen Anspruch auf effektiven Zugang zu einem Gericht hat der EuGH weitere essentielle Anforderungen an die Gewähr effektiven Rechtsschutzes entwickelt. Hierbei handelt es sich um den Grundsatz des Fair Trial und das Recht auf rechtliches Gehör sowie einige mit diesen in unmittelbarer Verbindung stehende Schutzkomponenten wie etwa der An393 So jüngst EuGH, Rs. C-295/04, Slg. 2006, I-6619, Rn. 95 und 100 (Manfredi). 394 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal). 395 Dazu etwa EuGH, Rs. C-329/99 P(R), Slg. 1999, I-8343, Rn. 90 (Pfizer Animal Health/Rat). 396 Vgl. jüngst EuGH, Rs. C-208/03 P-R, Slg. 2003, I-6051, Rn. 81 (Le Pen/Parlament); vgl. ferner EuGH, Rs. 393/96 P, Slg. 1997, I-441, Rn. 36 (Antonissen); EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, Rn. 20 ff. (Factortame); EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, Rn. 21 ff. (Simmenthal). 397 Zu diesen gehören erhebliche Zweifel des Gerichts an der Gültigkeit des Gemeinschaftsakts, die Dringlichkeit in der Sache, mithin die Notwendigkeit der Verhinderung schwerer und irreversibler Schäden, die gerichtliche Berücksichtigung der gemeinschaftsrechtlichen Interessen und die Aufrechterhaltung der praktischen Wirksamkeit sowie die Beachtung der zu dem gleichen Rechtsakt oder zu vergleichbaren einstweiligen Anordnungen ergangenen Entscheidungen des Gerichtshofs [vgl. nur EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 32 ff. (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft)]. 398 Zur Aussetzung insbesondere EuGH, verb. Rsn. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 16 ff. (Zuckerfabrik Süderdithmarschen u. a.); zur einstweiligen Anordnung EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 19 ff. (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft); vgl. ferner Hauser, VBl.BW 2001, 377 ff.; ausführlicher zum Ganzen auch Wiehe, Effektiver vorläufiger Rechtsschutz beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 105 ff.

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spruch auf Entscheidung in angemessener Frist. Darüber hinaus kann dem Grundsatz des Verbots der Doppelbestrafung im Gemeinschaftsrecht Bedeutung zukommen. aa) Grundsatz des Fair Trial und Anspruch auf rechtliches Gehör Ein zentraler, die Art und Weise des zu gewährenden Rechtsschutzes betreffender Pfeiler ist in dem „in der Rechtsordnung der Gemeinschaft anerkannten Grundsatz, dass jedermann Anspruch auf einen fairen Prozess hat“399, zu erblicken, der in unmittelbarem Zusammenhang mit Zweck und Inhalt des ebenfalls zu den fundamentalen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen zählenden Anspruchs auf rechtliches Gehör steht400. (1) Vereinheitlichte Rechtsherleitung Aus der Rechtsprechung geht jedoch nicht ganz eindeutig hervor, ob es sich bei Letzterem um einen eigenständigen Grundsatz oder, zumindest soweit es die Rechte in einem gerichtlichen Verfahren anbelangt, um einen Teilbereich des fair-trial-Grundsatzes handelt. Für erstere Annahme kann unter anderem401 die teils unterschiedliche Herleitungsweise sprechen. So sah der Gerichtshof bei der Herleitung des Anspruchs auf rechtliches Gehör eine geraume Zeit davon ab, über die Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze hinaus auch auf anderweitige Quellen wie die EMRK oder die mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen zurückzugreifen402. Die Erklärung hierfür liegt wohl vor allem in dem Umstand, dass der Grundsatz des fairen Verfahrens auch zugunsten der Mitgliedstaaten Anwendung finden EuGH, Rs. 257/85, Slg. 1987, 1561, Rn. 10 (Dufay/Parlament). Vgl. schon EuGH, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461, Rn. 9 (Hoffmann-La Roche/ Kommission); EuGH, Rs. 209/78 bis 215/78 u. 218/78, Slg. 1980, 3125, Rn. 68 (Van Landewyck u. a./Kommission); EuGH, verb. Rsn. 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, 1825, Rn. 10 (Musique Diffusion Francaise/Kommission); EuGH, Rs. 49/84, Slg. 1985, 1779, Rn. 10 (Debäcker u. Plouvier); ferner jüngst wieder EuGH, Rs. C-240/03 P, Slg. 2006, I-731, Rn. 129 (Comunità montana della Valnerina/Kommission) sowie EuGH, Rs. C-3/05, Slg. 2006, I-1579, Rn. 26 (Verdoliva). 401 Vgl. auch EuGH, verb. Rsn. C-234/96 u. C-235/96, Slg. 2000, I-799, Rn. 28 (Vick u. Conze): „(. . .) des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren (. . .)“; ebenso etwa EuGH, verb. Rsn. C-270/97 und C-271/97, Slg. 2000, I-929, Rn. 30 (Sievers und Schrage). 402 In diesem Bereich hat der Gerichtshof zunächst nur für den Unterfall des Rechts auf Anhörung vor Erlass einer belastenden Entscheidung auf einen „im Verwaltungsrecht der Mitgliedstaaten (. . .) allgemein anerkannten Rechtssatz“ verwiesen [EuGH, Rs. 32/62, Slg. 1963, 109, 123 (Alvis/Rat)]. 399 400

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kann403, während Grundrechte ganz regelmäßig nur den Privatrechtssubjekten zustehen. Den Anspruch auf ein faires Verfahren hat der Gerichtshof hingegen seit frühester Zeit unter ausdrücklichem Hinweis auf seine Verbriefung in der EMRK herangezogen404. Neuerdings stützt sich der EuGH aber auch bei der Behandlung des Rechts auf rechtliches Gehör auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie auf die EMRK405 und zeigt damit zumindest in jüngerer Zeit deutliche Tendenzen406, die Herleitung der einzelnen Verfahrensrechte zu vereinheitlichen. (2) Schutzaspekte Das Recht auf rechtliches Gehör wird angesichts der in der französischen Sprache üblichen Bezeichnung als „droits de la défense“ bisweilen synonym durch den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte beschrieben407 und gilt im Gerichts-408 wie auch im Verwaltungsverfahren409 einheitlich410. Im Wesentlichen setzen sich die Verteidigungsrechte, die einen 403 s. insoweit EuGH, verb. Rsn. 234/84 u. 40/85, Slg. 1986, 2263, Rn. 27 (Belgien/Kommission); EuGH, Rs. 259/85, Slg. 1987, 4393, Rn. 12 (Frankreich/Kommission); verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 44. (Niederlande u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-377/99, Slg. 2002, I-7421, Rn. 75 (Deutschland/ Kommission). 404 Vgl. EuGH, Rs. 257/85, Slg. 1987, 1561, Rn. 10 (Dufay/Parlament). 405 Vgl. nur EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 64 (Aalborg Portland u. a./ Kommission). 406 Vgl. auch jüngst EuGH, verb. Rsn. C-189/02 P, C-202/02 P, C-205/02 P bis C-208/02 P u. C-213/02 P, Slg. 2005, I-5425, Rn. 82 (Dansk Rørindustri u. a./Kommission): „(. . .) sowie das Recht auf ein faires Verfahren, nämlich den Schutz der Verteidigungsrechte.“ Zur näheren Bewertung dieser Tendenzen s. sogleich unter 4. 407 So etwa bei EuGH, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 32 (Orkem/Kommission); EuGH, Rs. 49/88, Slg. 1991, I-3187, Rn. 15 (Al-Jubail Fertilizer Company u. a./Rat); EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 44 (Niederlande u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-177/00, Slg. 2003, I-233, Rn. 25 (Italien/ Kommission); EuGH, Rs. C-111/02 P, Slg. 2004, I-5475, Rn. 61 (Parlament/Reynolds); in leichter Abweichung hierzu aber jüngst EuGH, Rs. C-283/05, Slg. 2006, I-12041, Rn. 27 (ASML), wonach die Verteidigungsrechte wohl auf dem Anspruch auf einen fairen Prozess beruhen. 408 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-221/97 P, Slg. 1998, I-8255, Rn. 24 (Schröder u. a./ Kommission) sowie EuGH, Rs. C-260/02 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 25 (Becker). 409 Vgl. EuGH, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461, Rn. 9 (Hoffmann-La Roche/Kommission); EuGH, Rs. 322/81, Slg. 1983, 3461, Rn. 7 (Michelin/Kommission). Zum allgemeinen Rechtsgrundsatz des Rechts auf Anhörung bei belastenden Entscheidungen bereits EuGH, Rs. 17/74, Slg. 1974, 1063, Rn. 15 (Transocean Marine Paint/Kommission) sowie EuGH, Rs. 121/76, Slg. 1977, 1971, Rn. 19/21 (Moli/Kommission).

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konkreten und wirksamen Schutz der Beteiligtenrechte erfordern411, aus dem Recht auf Information, auf Stellungnahme und auf Berücksichtigung Letzterer zusammen. Schon ausweislich des Art. 21 Abs. 3 EGV hat der Einzelne das Recht auf eine Kommunikation mit den EG-Organen und dem Bürgerbeauftragten in der eigenen Sprache412. In unmittelbarem Zusammenhang hierzu steht auch das in Art. 255 EGV fixierte, unter der Maßgabe der Verordnung Nr. 1049/2001413 stehende Recht auf Zugang zu den beim Parlament, Rat und der Kommission befindlichen Dokumenten414. Darüber hinaus ist auch die in den Art. 101 Abs. 2, 253 EGV normierte Begründungspflicht bei Erlass eines verbindlichen Rechtsakts in diesen Kontext zu verorten, da sie nicht zuletzt der gerichtlichen Kontrolle zugunsten des Einzelnen dient415. Im Bereich des Gerichtsverfahrens spricht der EuGH nicht selten auch von dem Gebot, die Parteien angemessen prozessual zu beteiligen416. Das Recht auf ein faires Verfahren betrifft dabei im Besonderen beweisrechtliche Problemstellungen. Obwohl letzterer Schutzaspekt mit Blick auf Art. 6 EMRK vor allem in gerichtlichen Verfahren Anwendung findet, durchdringt er die Frage der Zulässigkeit eines Beweismittels auch dann, wenn die Erhebung schon im Verwaltungsverfahren erfolgte und seine Verwertbarkeit sodann vor Gericht relevant wird417. Auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, das den Zweck hat, zur Vermeidung einer Lücke im unionsrechtlich zu gewährenden Rechtsschutz die volle Wirksamkeit der künftigen endgültigen Gerichtsentscheidung zu gewährleisten418 und damit Insoweit eindeutig EuGH, Rs. C.32/95 P, Slg. 1996, I-5373, Rn. 21 (Kommission/Lesrestal u. a.); EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 42 (Krombach); EuGH, Rs. C-462/98 P, Slg. 2000, I-7183, Rn. 36 (Mediocurso/Kommission); EuGH, Rs. C-315/99, Slg. 2001, I-5281, Rn. 28 (Ismeri Europa/Rechnungshof); EuGH, Rs. C-287/02, Slg. 2005, I-5093, Rn. 37 (Spanien/Kommission) sowie jüngst EuGH, Rs. C-240/03 P, Slg. 2006, I-731, Rn. 129 (Comunità montana della Valnerina/Kommission). 411 So EuGH, Rs. C-283/05, Slg. 2006, I-12041, Rn. 27 (ASML), unter Berufung auf die einschlägige Rechtsprechung des EGMR. 412 Dazu EuG, Rs. T-120/99, Slg. 2001, II-2235, Rn. 64 (Kik/OHMI). 413 VO (EG) Nr. 1049/2001 vom 30. Mai 2001 (ABl. EG 2001, C 177/70). 414 Vgl. zum Zusammenhang zwischen dem Recht auf Zugang zu Dokumenten und den Verteidigungsrechten jüngst EuG, Rs. T-327/03, Slg. 2007, II-79, Rn. 62 ff., insb. 65 (Al-Aqsa/Rat). 415 Zu dieser Funktion schon EuGH, Rs. 106/81, Slg. 1982, 2885, Rn. 14 (Kind/ EWG); ebenso jüngst wieder EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 89 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat) m. w. N. 416 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 76 (Steffensen). 417 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 73 f. (Steffensen). 418 Vgl. EuGH, Rs. C-399/95 R, Slg. 1996, I-2441, Rn. 46 (Deutschland/Kommission); EuGH, Rs. C-329/99 P(R), Slg. 1999, I-8343, Rn. 90 (Pfizer Animal 410

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seinerseits eine Ausprägung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz darstellt, beeinflusst der Grundsatz des Rechts auf ein faires Verfahren die Beweislastregeln419. Ein Recht zur Aussageverweigerung im Sinne des nemotenetur-Grundsatzes hat der EuGH zwar natürlichen, nicht aber juristischen Personen eingeräumt420. Im Übrigen hat der Gerichtshof für den Bereich des Strafverfahrens auch das Recht auf einen Verteidiger ausdrücklich als Ausprägung des fair-trial-Prinzips anerkannt421. Das Recht auf Information umfasst den Anspruch des Betroffenen auf Kenntnisnahme vom Inhalt und Stand des Verfahrens422. Die Gemeinschaftsorgane müssen – freilich unter hinreichender Wahrung der Geschäftsgeheimnisse – ihre Informationspflicht mit der Sorgfalt erfüllen, die dem Einzelnen eine sachgerechte Wahrnehmung seiner Interessen erlaubt423. Zugleich kann sich hieraus ein Recht auf Akteneinsicht zur Prüfung aller für die Verteidigung etwaig relevanten Schriftstücke einer Ermittlungsakte ergeben424. Den Zugang zu den begehrten Verfahrensunterlagen muss aber nicht zwingend das auch mit der Streitsache befasste Gericht gewähren können425. Auf das Informationsrecht folgt ein mit ihm aufs Engste verknüpfte Recht auf Stellungnahme, das die Möglichkeit garantiert, sich zu allen interessierenden Fragen tatsächlicher wie rechtlicher Art426 und ebenso zu den Beweismitteln427 zu äußern. So muss etwa gegen den Vorwurf wettbewerbsHealth/Rat); EuGH, Rs. C-7/04 P(R), Slg. 2004, I-8739, Rn. 36 (Kommission/Akzo und Akcros). 419 Dazu EuGH, C-471/02 P, Slg. 2003, I-3207, Rn. 43 ff. (Gómez-Reino/Commission). 420 Vgl. insbesondere EuGH, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 ff. (Orkem/ Kommission). 421 EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 38 ff. (Krombach). 422 Dazu schon EuGH, verb. Rsn. 42/59 u 49/59, Slg. 1961, 111, 169 (SNUPAT/ Hohe Behörde); vgl. ferner EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 45 (Niederlande u. a./Kommission). 423 Hierzu EuGH, Rs. 49/88, Slg. 1991, I-3187, Rn. 17 f. (Al-Jubail Fertilizer Company u. a./Rat). 424 EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 68 (Aalborg Portland u. a./Kommission); vgl. ferner EuG, Rs. T-30/91, Slg. 1995, II-1775, Rn. 81; EuGH, Rs. C-199/99 P, Slg. 2003, I-11177, Rn. 125 ff. (Corus UK/Kommission). 425 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal). 426 Dazu etwa EuGH, Rs. 17/74, Slg. 1974, 1063, Rn. 15 (Transocean Marine Paint/Kommission); EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 46 (Niederlande u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14 (Technische Universität München); vgl. auch bereits EuGH, Rs. 32/62, Slg. 1963, 109, 123 (Alvis/Rat).

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widrigen Verhaltens die Möglichkeit bestehen, alles zur Verteidigung Zweckdienliche vorzutragen428, wenn auch eine mündliche Anhörung nicht notwendig durchzuführen ist429. Ein Recht auf Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts hat der EuGH hingegen ausdrücklich abgelehnt430. Sinn und Zweck des Anspruchs auf rechtliches Gehör und auf ein faires Verfahren können es unterdessen gebieten, gemäß Artikel 61 EuGH-VerfO von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auf Antrag der Parteien die mündliche Verhandlung wegen unzureichender Unterrichtung des Gerichts oder Fehlens parteilicher Erörterung einer entscheidungserheblichen Frage wieder zu eröffnen431. Auf der dritten Stufe führt die Verschaffung rechtlichen Gehörs zu der Verpflichtung des betreffenden Organs, den Beteiligtenvortrag angemessen in die entscheidungslenkenden Erwägungen einzubeziehen. So muss die zuständige Stelle im Verwaltungsverfahren alle im Einzelfall relevanten Aspekte sorgfältig und unparteiisch berücksichtigen432. Im Hinblick auf die Prozessökonomie muss das entscheidende Gericht aber nicht auf jeden einzelnen vorgebrachten Aspekt eingehen, solange es nur nach erfolgter Anhörung den Vortrag und die Beweismittel der Beteiligten würdigt und über den Antrag unter hinreichender Begründung entscheidet433. Das Recht auf rechtliches Gehör umfasst mithin auch den Anspruch auf eine angemessen begründete Entscheidung434. Auch das in Art. 253 EGV niedergelegte Erfordernis, einen verbindlichen Rechtsakt mit einer ordnungsgemäßen Begründung zu versehen, dient demzufolge seiner Verwirklichung. Wurde das Recht auf Information und damit zugleich das Recht, zu bestimmten Tatsachen oder Beweismitteln Stellung zu beziehen, nicht ausreichend beachtet, kann dies der Verwertbarkeit der betroffenen Tatsachen So EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 77 (Steffensen). Vgl. EuGH, Rs. 209/78 bis 215/78 u. 218/78, Slg. 1980, 3125, Rn. 24 (Van Landewyck u. a./Kommission). 429 EuGH, a. a. O., Rn. 18 u. 24 (Van Landewyck u. a./Kommission). 430 So etwa EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-665, Rn. 14 ff. (Emesa Sugar NV); zu der Frage, ob insofern Rechtsprechungsdivergenzen zwischen EuGH und EGMR zu verzeichnen sind, näher in Teil 2 unter B. III. 2. a) bb) (3). 431 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-270/97 und C-271/97, Slg. 2000, I-929, Rn. 30 (Sievers und Schrage); EuGH, verb. Rsn. C-234/96 u. C-235/96, Slg. 2000, I-799, Rn. 28 (Vick u. Conze); sowie schon EuGH, a. a. O., Rn. 18 (Emesa Sugar NV). 432 Vgl. EuGH, Rs. C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14 (Technische Universität München). 433 EuGH, Rs. C-221/97 P, Slg. 1998, I-8255, Rn. 24 (Schröder u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-260/02 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 25 (Becker). 434 EuGH, Rs. C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14 (Technische Universität München). 427 428

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

oder Beweismittel entgegenstehen435. Die Rechtsfolge des Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör ist allerdings nicht ohne weiteres die begehrte Nichtigerklärung der angegriffenen Maßnahme. Hierfür bedarf es vielmehr darüber hinaus des Nachweises, dass das Verfahrensergebnis gerade ohne die Verletzung der Verfahrensgarantie anders hätte ausfallen können436. Anders kann die Sache jedoch liegen, wenn die Rechtswidrigkeit zugleich die Begründungspflicht, die Verteidigungsrechte und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf tangiert und das Gericht in Ermangelung einer ergiebigen Aktenlage nicht selbst auch die sachliche Legalität des angegriffenen Akts überprüfen kann437. Darüber hinaus enthält der Anspruch auf ein faires Verfahren auch das Recht auf einen unabhängigen438 gesetzlichen439 Richter. Das Gebot der Waffengleichheit bedingt zudem den gegenüber den Verteidigungsrechten wohl selbständigen Grundsatz des kontradiktorischen Verfahrens440, welcher allerdings nur vor Gericht gilt441. Zuletzt sei angemerkt, dass dem Gemeinschaftsrecht die prozessrechtliche Figur der Verfahrensbeiladung trotz der Anerkennung des Rechts auf rechtliches Gehör und in Abweichung zu einigen mitgliedstaatlichen Verwaltungsprozessordnungen442 fremd ist443. 435

PAT).

Vgl. dazu schon EuGH, verb. Rsn. 42 u. 49/59, Slg. 1961, 111, 169 (SNU-

436 So EuGH, Rs. C-301/87, Slg. 1990, I-307, Rn. 31 (Frankreich/Kommission); EuGH, Rs. C-288/96, Slg. 2000, I-8237, Rn. 191 (Deutschland/Kommission); EuG, Rs. T-86/95, Slg. 2002, II-1011, Rn. 470 (Compagnie générale maritime u. a./Kommission); in diesem Sinne auch schon EuGH, Rs. 209/78 bis 215/78 u. 218/78, Slg. 1980, 3125, Rn. 47 (Van Landewyck u. a./Kommission). Gleiches gilt im Rahmen des Eilrechtsschutzes, vgl. EuGH, Rs. 404/04 P-R, Slg. 2005, I-3539, Rn. 50 (Technische Glaswerke Illmenau/Kommission). 437 Vgl. dazu jüngst EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 161 ff., insb. 225 ff. (Sison/Rat). 438 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal). 439 Zur Frage der Besetzung der Kammern des Gerichtshofs EuGH, Rs. C-7/94, Slg. 1995, I-1031, Rn. 10 ff. (Landesamt für Ausbildungsförderung Nordrhein-Westfalen/Gaal). 440 Vgl. EuGH, Rs. C-177/00, Slg. 2003, I-233, Rn. 25 (Italien/Kommission). 441 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 70 (Aalborg Portland u. a./Kommission) unter Berufung auf die einschlägige Rechtsprechung des EGMR. 442 Vgl. insoweit für das deutsche Recht § 65 VwGO. 443 Dazu ausdrücklich EuGH, Rs. 12/69, Slg. 1969, 577, Rn. 8 (Wonnerth/Kommission). Vgl. ferner EuG, Rs. T-1/90, Slg. 1991, II-143, Rn. 43 (Casariego/Kommission), wonach die Möglichkeit der Durchführung des Streithilfeverfahrens (Art. 40 EuGH-Satzung, Art. 93 EuGH-VerfO, Art. 115 ff. und 133 EuG-VerfO) und der Drittwiderspruchsklage (Art. 42 EuGH-Satzung, Art. 97 EuGH-VerfO, Art. 123 EuG-VerfO) eine hinreichende Rechtsgewährleistung bieten. Kritisch inso-

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bb) Entscheidung in angemessener Frist Ein weiteres, besonders bedeutsames Rechtsschutzelement betrifft die zeitliche Dimension des Gerichtsverfahrens444, die der EuGH erstmals in der Entscheidung Baustahlgewebe GmbH/Kommission445 in den Mittelpunkt seiner Überlegungen zu rücken hatte. Die Rechtsmittelführerin rügte hier unter anderem die Dauer des Verfahrens vor dem Gericht erster Instanz mit dem Ziel, auf der Grundlage eines daraus erwachsenden Prozesshindernisses die Einstellung des gegen sie gerichteten wettbewerbsrechtlichen Bußgeldverfahrens oder hilfsweise die Anerkennung mildernder Umstände zu erreichen. Die Rüge stützte sich im Wesentlichen auf folgenden Verfahrensablauf: Nach Erhebung der Nichtigkeitsklage gegen die betreffende Entscheidung der Kommission verwies der EuGH diese sowie zehn weitere den gleichen Gegenstand betreffende Rechtssachen knapp einen Monat später an das EuG, welches daraufhin die einzelnen schriftlichen Verfahren durchführte und drei Jahre nach der Verweisung eine Verbindung der Rechtssachen zur gemeinsamen mündlichen Verhandlung beschloss. Aufgrund Letzterer, die im Juni 1993 stattfand, erließ das EuG schließlich im April 1995 sein Urteil, so dass zwischen Klageerhebung und Entscheidungsverkündung insgesamt fast fünfeinhalb Jahre lagen. In der betreffenden Rechtsmittelentscheidung hat der EuGH nach Wiedergabe des wesentlichen Inhalts des Art. 6 § 1 EMRK erstmals den im gemeinschaftlichen Grundsatz des fairen Verfahrens enthaltenen Anspruch auf einen Prozess innerhalb einer angemessenen Frist anerkannt446. In Bezug auf den Prüfungsmaßstab für die Angemessenheit hat der EuGH in enger Anlehnung an die Rechtsprechung des EGMR die Umstände des Einzelfalls weit Nissen, Die Intervention Dritter in Verfahren vor dem EuGH, S. 192 f. und 200 f., der aus dem Recht auf rechtliches Gehör zumindest eine Benachrichtigungspflicht gegenüber den durch die bevorstehende Entscheidung Betroffenen herleiten möchte. 444 Der Grundsatz der angemessenen Verfahrensfrist gilt auch im Verwaltungsverfahren, so etwa im Kontext eines verwaltungsrechtlichen Zulassungsverfahrens [vgl. EuGH, Rs. 178/84, Slg. 1987, 1227, Rn. 45 (Kommission/Deutschland)], im Verfahren zur Anwendung von Wettbewerbsregeln [vgl. EuG, Rs. T-228/97, Slg. 1999, II2969, Rn. 276 (Irish Sugar/Kommission)] oder im Rahmen von Disziplinarverfahren gegen Gemeinschaftsbeamte [vgl. EuG, Rs. T-197/00, Slg. ÖD 2002, I-A-69 und II-325, Rn. 91 (Onidi/Kommission); EuG, Rs. T-259/97, Slg. ÖD, IA-169 und II-773, Rn. 123 (Teixeira Neves/Gerichtshof)]. Allgemein zu dem Thema auch EuG, Rs. T-196/01, Slg. 2003, II-3987, Rn. 229 (Aristoteleio Panepistimio Thessalonikis/Kommission). 445 EuGH, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417 (Baustahlgewebe/Kommission). 446 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 20 f. (Baustahlgewebe/Kommission).

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

für maßgebend erklärt und zu diesen insbesondere die in dem Rechtsstreit für den Betroffenen auf dem Spiel stehenden Interessen, die Komplexität des Falles sowie das Verhalten des Klägers und der zuständigen Behörden gezählt447. Zugleich hat der Gerichtshof aber verdeutlicht, dass eine überlange Verfahrensdauer allein ohne weitere Anhaltspunkte für kausale Auswirkungen auf den Ausgang des Rechtsstreits die Aufhebung der Gerichtsentscheidung nicht rechtfertigen kann448. Im Ergebnis449 stellte der EuGH daher eine Verletzung des angeführten Grundsatzes fest und hob mangels Kausalität zwischen der Verfahrenslänge und dem Sachergebnis zwar nicht die gesamte Gerichtsentscheidung, angesichts der Grundsätze der Prozessökonomie und der Gewähr effektiven Rechtsschutzes aber zumindest die Bußgeldfestsetzung des EuG auf450. Wegen ihrer grundlegenden Bedeutung und ihrer Ausführlichkeit bildet die Entscheidung Baustahlgewebe/Kommission noch heute den zentralen Orientierungspunkt in Sachen rechtzeitigen Rechtsschutzes, dies sowohl in Bezug auf die Angemessenheit der Länge eines Gerichtsverfahrens als auch hinsichtlich der Dauer eines Verwaltungsverfahrens451. Ob der Einzelne sich auf diesen Grundsatz auch stützen kann, um die sich aus der Addition von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren einschließlich des Rechtsmittelverfahrens ergebende Gesamtverfahrenslänge zu rügen, hat der Gerichtshof bislang jedoch ausdrücklich offen gelassen452. Die hierbei zum Ausdruck EuGH, a. a. O., Rn. 29 (Baustahlgewebe/Kommission). Was das erste Kriterium angeht, stellte der Gerichtshof sodann im Dienste der Rechtssicherheit und des unverfälschten Wettbewerbs auch auf die erheblichen Interessen der zahlreichen weiteren Betroffenen ab [vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 30 (Baustahlgewebe/Kommission)], worin aufgrund des damit einhergehenden Popularcharakters durchaus ein Systembruch liegen könnte. 448 EuGH, a. a. O., Rn. 49 (Baustahlgewebe/Kommission). 449 Der Gerichtshof bejahte im Laufe der Prüfung das Vorliegen tatsächlicher Interessen der Rechtsmittelführerin, begründete die Komplexität der Tatsachen- und Rechtsfragen mit der Anzahl der Verfahrensbeteiligten sowie dem Aktenumfang und stellte klar, dass insbesondere aufgrund der verschiedenen Verfahrenssprachen dem Verfahren vor dem EuG zwar eine gewisse Zeitintensität immanent gewesen sei, jedoch die im Fall aufgetretenen Phasen, in denen keine prozessleitenden oder -begleitenden Maßnahmen des Gerichts erfolgt seien, mangels außergewöhnlicher Umstände das Maß des Angemessenen überschritten hätten [vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 30 ff. (Baustahlgewebe/Kommission)]. 450 EuGH, a. a. O., Rn. 48 f. (Baustahlgewebe/Kommission). 451 Vgl. etwa EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P u. C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 179 ff., 207 ff. (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.). 452 s. EuGH, a. a. O., Rn. 229 ff. (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.): der Gerichtshof verneinte hier mit hohem Begründungsaufwand das Fehlen eines Rechtsverstoßes und vermied so die Stellungnahme. 447

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kommende Scheu davor, auch insoweit der Rechtsprechung des EGMR zu folgen453, ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund zu sehen, dass die Verfahren vor dem EuGH zuweilen ebenfalls beträchtliche zeitliche Ausmaße annehmen, wie bezeichnenderweise auch das Rechtsmittelverfahren in der behandelten Rechtssache Baustahlgewebe/Kommission belegt454. c) Der Verfahrensgrundsatz „ne bis in idem“ Neben den bereits genannten Verfahrensrechten soll auch ein weiterer den Einzelnen schützender Verfahrensgrundsatz des Gemeinschaftsrechts nicht unerwähnt bleiben, nämlich der Grundsatz „ne bis in idem“, dem vor allem im Wettbewerbsrecht eine große Bedeutung zukommt455. Dieser auch in Art. 4 des Zusatzprotokolls Nr. 7 zur EMRK erwähnte fundamentale Grundsatz des Gemeinschaftsrechts steht jeder doppelten Sanktionierung oder Verfolgung einer Person wegen desselben rechtswidrigen Verhaltens entgegen456, wobei der Grundsatz nur bei kumulativer Identität des Sachverhalts, der Person und des durch die Verbotsnorm geschützten Rechtsguts Anwendung findet457. Der Grundsatz verbietet die erneute Sachprüfung nebst Sanktionierung eines bereits sachlich beurteilten Verhaltens, er unter453 Der EGMR hat die Frage, ob einer auf Art. 6 § 1 EMRK gestützten Rüge die Gesamtverfahrensdauer zugrunde gelegt werden kann, bereits mehrfach ausdrücklich bejaht, vgl. etwa EGMR, Urt. v. 25. März 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 25444/94, §§ 67 u. 71–75 (Pélissier und Sassi/Frankreich); EGMR, Urt. v. 26.10.2000 (Große Kammer), Beschw. Nr. 30210/96, §§ 124–131 (Kudla/Polen [GK]); EGMR, Urt. v. 31.5.2001, Beschw. Nr. 37591/97, §§ 36–44 (Metzger/ Deutschland) sowie jüngst wieder EGMR, Urt. v. 20. Januar 2005, Beschw. Nr. 64387/01, § 35 (Uhl/Deutschland). 454 Zwischen dem Eingang der Rechtsmittelschrift und dem Urteil des EuGH vergingen etwas mehr als dreieinhalb Jahre. Auf diese Diskrepanz zu den inhaltlichen Ausführungen des EuGH und dem daraus resultierenden Verlust an Überzeugungskraft der Entscheidung weist zu Recht hin Schlette, EuGRZ 1999, 369, 371. 455 Der Grundsatz ist ferner in Bezug auf die PJZS (Art. 29 ff. EUV) in Art. 54 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 (BGBl. 1993 II 1010) verankert. Zu dessen Auslegung, für die der Gerichtshof nach Maßgabe des Art. 35 EUV befugt ist, jüngst wieder EuGH, Rs. C-467/04, Slg. 2006, I-9199, Rn. 21 ff. (Gasparini u. a.). 456 Vgl. schon EuGH, verb. Rsn. 18/65 und 35/65, Slg. 1966, 154, 178 (Gutmann/Kommission der EAG); ferner aus jüngerer Zeit EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 59 (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.). 457 Dazu ausdrücklich EuG, Rs. T-322/01, Slg. 2006, II-3137, Rn. 278 (Roquettes Frères/Kommission) unter Berufung auf EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 338 (Aalborg Portland u. a./Kommission).

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sagt dagegen nicht die Wiederaufnahme von Verfolgungsmaßnahmen, wenn diese zwar in Bezug auf das gleiche wettbewerbswidrige Verhalten bereits zu einer Bestrafung geführt haben, Letztere jedoch anschließend aus rein formalen Gründen für nichtig erklärt wurde458. Zudem können im Bereich des Kartellrechts mehrfache gemeinschaftsrechtliche und innerstaatliche Sanktionierung erlaubt sein, wenn diese verschiedene Ziele verfolgen und eine Folge der besonderen Kompetenzverteilung zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten sind, wobei die Kommission aus Gründen der Billigkeit die aus den mitgliedstaatlichen Sanktionen folgenden Belastungen bei der Bemessung der Geldbußenhöhe berücksichtigen muss459. Von besonderem Interesse ist des Weiteren, dass der Grundsatz des Verbots der Doppelbestrafung angesichts der Eigenheiten des gemeinschaftlichen Kartellrechts zum Schutze der Wettbewerbsfreiheit des Gemeinsamen Marktes nicht für solche Sachverhalte mit Sanktionsrelevanz gilt, die von drittstaatlichen Wettbewerbsbehörden in deren jeweiliger Rechtsordnung geprägt wurden460. 4. Bewertung der Rechtsprechung hinsichtlich einer Positionierung des EuGH pro oder contra grundrechtliche Rechtsnatur der Rechtsschutzgarantie Beleuchtet man die Rechtsprechung im Hinblick auf greifbare Anhaltspunkte für oder wider die gerichtliche Allokation des Rechts auf effektiven Rechtsschutz zu den Grundrechten, so lassen sich Tendenzen in beide Richtungen nachweisen. a) Prima-facie-Positionierung Eine erste Lektüre der einschlägigen Entscheidungen offenbart, dass der EuGH in Abweichung zum deutschen BVerfG461 und trotz der zeitlich vorangegangenen Anerkennung der Gemeinschaftsgrundrechte eine klare Zuordnung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz in das System der Gemein458 Dazu EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 61 f. (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.). 459 Vgl. EuG, Rs. T-322/01, Slg. 2006, II-3137, Rn. 279 (Roquettes Frères/Kommission) m. w. N. 460 So jüngst EuGH, Rs. C-308/04, Slg. 2006, I-5977, Rn. 31 f. (SGL Carbon/ Kommission); ebenso in der Vorinstanz schon EuG, verb. Rsn. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Slg. 2004, II-1181, Rn. 134 (Tokai Carbon u. a./Kommission). 461 Vgl. zur st. Rspr. des BVerfG etwa BVerfGE 67, 43, 59; ferner BVerfGE 96, 27, 39.

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schaftsgrundrechte bislang unterlässt, sondern jenes ganz regelmäßig allein in das Regime der allgemeinen Rechtsgrundsätze verortet. Da der Gerichtshof bisweilen durchaus einen dogmatischen Unterschied macht, ob eine rechtliche Gewährleistung der Ordnung der Grundrechte oder nur der Oberordnung der allgemeinen Rechtsgrundsätze angehört462, und sich auch im Kontext zum Recht auf effektiven Rechtsschutz dahingehende terminologische Differenzierungen finden lassen463, charakterisiert er die Rechtsschutzgarantie auf den ersten Blick nur als allgemeinen Rechtsgrundsatz. b) Unschärfen in der Terminologieanwendung Allerdings lassen sich auch Entscheidungen des EuGH aufzeigen, die geeignet sind, diese vordergründige Einschätzung zu erschüttern. Denn angesichts des gelegentlich inkonsequenten Umgangs der Gemeinschaftsrichter mit den einschlägigen Terminologien kann bezweifelt werden, ob allein die gerichtliche Bezeichnung eines Rechtselements für die Bestimmung seiner Rechtsnatur ausschlaggebend ist. Dass bei der rechtsnatürlichen Zuordnung von Rechten dogmatische Unschärfen auftreten, lässt sich exemplarisch an der Rechtsprechung zum allgemeinen Diskriminierungsverbot nachweisen. Ordnet der EuGH dieses mitunter allein den elementaren Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts zu464, so weist er es insbesondere in der speziellen Ausprägung als Verbot von Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts nicht selten und sodann unmissverständlich auch als Gemeinschaftsgrundrecht aus465, was im Hinblick auf Sinn und Zweck jenes Rechts auch zus. in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung zur Gewährleistung der Achtung der Menschenwürde, insbesondere EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 70 ff. (Biopatentrichtlinie) sowie EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 ff., insb. 34 (Omega). 463 Vgl. nur EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 38 f. (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 464 Zum Diskriminierungsverbot etwa EuGH, Rs. C-186/96, Slg. 1998, I-8529, Rn. 26 (Demand/Haupzollamt Trier); zum Willkürverbot EuGH, Rs. 368/96, Slg. 1998, I-7967, Rn. 61 (Generics u. a.): „Nach ständiger Rechtsprechung verlangt der allgemeine Gleichheitsgrundsatz, der zu den wesentlichen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts gehört, (. . .)“; vgl. auch EuGH, C-13/94 P, Slg. 1996, I-2143, Rn. 18 (P/S und Cornwall County Council): „(. . .) des Gleichheitsgrundsatzes, der eines der Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts darstellt (. . .)“; ähnlich bereits EuGH, verb. Rsn. 117/76 u. 16/77, Slg. 1977, 1753, Rn. 7 (Ruckdeschel u. a.) sowie EuGH, Rs. 122/95, Slg. 1998, I-973, Rn. 62 (Deutschland/Rat). 465 Vgl. hierzu insbesondere EuGH, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365, Rn. 26 f. (Defrenne II): „(. . .) Es lässt sich nicht bezweifeln, dass die Beseitigung der auf dem Geschlecht beruhenden Diskriminierungen zu diesen Grundrechten gehört.“; vgl. ferner EuGH, Rs. 13/94, Slg. 1996, I-2143, Rn. 19 (P/S): „Wie der Gerichtshof außerdem bereits wiederholt festgestellt hat, stellt das Recht, nicht aufgrund des Ge462

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treffend erscheint466. Festzuhalten ist jedenfalls, dass der Gerichtshof in Bezug auf den Gleichbehandlungsgrundsatz eine kohärente rechtliche Behandlung vermissen lässt467. Weitere Ungenauigkeiten bei der Rechtsnaturbezeichnung sind zudem im Bereich der grundfreiheitlichen Diskriminierungsverbote als speziellen Ausprägungen des allgemeinen Diskriminierungsverbots sowie auch umgekehrt im Bereich bereits ausdrücklich als Grundrecht anerkannter Rechtspositionen zu konstatieren468. Da der EuGH es mit der dogmatischen Unterscheidung zwischen Grundrechten, Rechtsgrundsätzen und Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts demgemäß nicht immer ernst zu nehmen scheint469, ist es kaum möglich, allein auf der Grundlage seiner terminologischen Gepflogenheiten eine Position zur Rechtsnatur des hier interessierenden Rechts auszumachen. c) Grundrechtliche Qualifizierung einzelner Verfahrensrechte Darüber hinaus existieren auch einige Entscheidungen des Gerichtshofs, die gewichtige Argumente gerade für einen grundrechtlichen Charakter des Rechts auf effektiven Rechtsschutz liefern können. So hat der EuGH vor schlechts diskriminiert zu werden, eines der Grundrechte des Menschen dar, deren Einhaltung er zu sichern hat (. . .)“; ähnlich EuGH, verb. Rsn. 75/82 u. 117/82, Slg. 1984, 1509, Rn. 16 (Razzouk und Beydoun/Kommission) wie auch EuGH, Rs. C-185/97, Slg. 1998, I-5199, Rn. 23 (Groote/Granada Hospitality) und EuGH, verb. Rsn. C-270/97 und C-271/97, Slg. 2000, I-929, Rn. 56 (Sievers und Schrage); vgl. aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-256/01, Slg. 2004, I-873, Rn. 65 (Allonby): „(. . .) des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen (. . .), der zu den in der Rechtsordnung der Gemeinschaft geschützten Grundrechten gehört (. . .)“; ferner EuGH, Rs. C-177/05, Slg. 2005, I-10887, Rn. 26 (Guerrero Pecino). 466 Zu Recht wird der grundrechtliche Charakter des Grundsatzes der Gleichbehandlung weithin bejaht, so etwa jüngst wieder bei GA Jacobs, Schlussanträge zu Rs. C-227/04 P, Rn. 42 (Lindorfer/Rat). Allgemeiner von einem „Grundrecht wie dem auf Gleichbehandlung“ sprechend auch EuGH, Rs. C-285/98, Slg. 2000, I-4217, Rn. 23 (Kreil). 467 Zum Verbot der Diskriminierung aufgrund des Alters als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts in jüngerer Zeit etwa EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 74 f. (Mangold). 468 Zum Recht auf Eigentum und zur Berufsfreiheit etwa EuGH, Rs. 285/87, Slg. 1989, 2237, Rn. 15 (Schräder/Hauptzollamt Gronau). 469 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Entscheidung EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577, Rn. 64 (Dounias), in welcher der Gerichtshof die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes als die Möglichkeit der Anfechtung grundrechtswidriger Maßnahmen beschreibt und sich dabei im Rahmen des Verweises auf seine ständige Rechtsprechung auch auf die Entscheidung EuGH, Rs. C-18/88, Slg. 1991, I-5941, Rn. 34 (GB-Inno-BM) bezieht, obwohl es dort gar nicht um ein Grundrecht, sondern vielmehr und allein um die den Warenverkehr betreffende Grundfreiheit nach Art. 30 EWG-Vertrag ging.

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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allem für die Verteidigungsrechte und das nach neueren Tendenzen gleichsam zu jenen zählende Recht auf rechtliches Gehör eine Grundrechtsnatur ausdrücklich bejaht470. Selbst wenn es nicht ausgeschlossen ist, dass der Gerichtshof mit dieser nur punktuellen Grundrechtsadelung zu verstehen geben wollte, es handle sich bei jenen Rechten um gegenüber der Gewähr effektiven Rechtsschutzes selbständige und in ihrer Rechtsnatur anders konzipierte Rechtspositionen, was indes nicht zwingend der Fall sein muss, hat er doch zumindest anerkannt, dass prozessuale Rechtspositionen nicht notwendig und allein in Form von objektiven Rechtsgrundsätzen gewährt werden. Spiegelbildlich zu dieser Anerkennung ist auch das Regime der Gemeinschaftsgrundrechte nicht auf den Bereich materieller Rechtspositionen beschränkt, da diese auch verfahrensrechtliche Dimensionen aufweisen können. Überdies zeugt auch die Art und Weise der Herleitung einzelner Rechtsschutzelemente in der Rechtsprechung von einer grundrechtlichen Rechtsnatur der Verfahrensrechte. So hat der Gerichtshof etwa die vorinstanzliche Herleitung des Grundsatzes der angemessenen Verfahrensdauer über eine unmittelbar vorhergehende Rechtsprechung des EuG zur Geltung und Konzeption der Gemeinschaftsgrundrechte471 ohne methodische Beanstandungen bestätigt472. Die damit durch das EuG geknüpfte Verbindung der Geltung eines verfahrensrechtlichen Anspruchs mit der hergebrachten Grundrechtsquellensystematik lässt vermuten, dass der Grundsatz des Anspruchs auf angemessene Verfahrensdauer nicht sinnvoll von dem Grundrechtsregime getrennt werden kann, sondern selbst an diesem teilnimmt. Ebenso lag es in der Rechtssache Baustahlgewebe, in welcher der Gerichtshof den Rechtsgrundsatz unter direkter Verweisung auf die in der Rechtssache Kremzow getätigten Ausführungen zur gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsgeltung473 hergeleitet474 und auf diese Weise seinerseits schon zuvor einen unmittelbaren Quellenkontext zu den Grundrechten hergestellt hat.

470 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-665, Rn. 8 und 18 (Emesa Sugar NV); EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 64 (Aalborg Portland u. a./Kommission). 471 Namentlich jene zu EuG, verb. Rsn. T-213/95 u. T-18/96, Slg. 1997, II-1739, Rn. 53 ff. (SCK u. FNK/Kommission). 472 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 167 ff. u. 229 ff. (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.). 473 EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 14 (Kremzow). 474 Vgl. EuGH, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 21 (Baustahlgewebe/ Kommission).

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

d) Quellenrechtliche Rechtsnaturrückkopplung Zudem lässt sich dem Umstand, dass der Gerichtshof die fundamentalen verfahrensrechtlichen Rechte ganz regelmäßig und insoweit einheitlich aus den einschlägigen Regelungen der EMRK herleitet475, eine gewisse Indizwirkung zugunsten einer gleichsam einheitlichen grundrechtlichen Rechtsnatur der Verfahrensrechte entnehmen. Ungeachtet der Frage, welche genaue Rolle und Bedeutung die EMRK dabei im Gefüge der unionsrechtlichen Grundrechtsquellensystematik einnimmt476, verbriefen ihre Gewährleistungen schon ausweislich der Bezeichnung als Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten477 keine bloßen Rechtsgrundsätze, sondern subjektive Rechte der Individuen. Im Zuge der Verweisung auf die Konvention spricht demnach auch der EuGH zuweilen von den „Grundrechten der EMRK“478. Generalanwalt Léger tritt in diesem Zusammenhang zwar für eine gemeinschaftsrechtliche Differenzierung auch zwischen solchen Grundrechten und Grundsätzen ein, die jeweils gleichermaßen auf die EMRK gestützt werden, indem er den Bereich der echten Gemeinschaftsgrundrechte auf die menschenrechtlichen, mithin dem Einzelnen als Person inhärenten Rechte beschränkt479. Ob dieser Ansatz vollends zutrifft, kann jedoch bezweifelt werden. Denn auf der einen Seite weist auch die prozessuale Schutzrichtung der Verfahrensrechte einen mal mehr und mal weniger starken Individualbezug auf, während auf der anderen Seite auch solche Rechte als Grundrechte anerkannt sind, die – wie etwa die Eigentums- oder die Berufsfreiheit und insbesondere die sich mit Letzterer überschneidende Freiheit unternehmerischer Betätigung480 – eines höchstpersönlichen Rechtscharakters entbehren.

475 Vgl. zum Recht auf effektiven Rechtsschutz insbesondere EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); zum Recht auf einen fairen Prozess EuGH, Rs. 257/85, Slg. 1987, 1561, Rn. 10 (Dufay/Parlament). 476 Dazu ausführlich in Teil 2 unter B. III. 2. a). 477 Insoweit freilich nicht zu verwechseln mit den „Grundfreiheiten“ der EG. 478 So etwa EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal). 479 GA Léger, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Fn. 20 (Baustahlgewebe/Kommission). 480 Vgl. zu dieser EuGH, verb. Rsn. C-184/02 u. C-223/02, Slg. 2004, I-7789, Rn. 51 (Spanien u. Finnland/Parlament u. Rat); EuGH, Rs. C-317/00, Slg. 2000, I-9541, Rn. 57 ff. („Invest“ Import und Export et Invest Commerce/Kommission); ferner bereits EuGH, verb. Rsn. C-143/88 u. C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 72 ff. (Zuckerfrabrik Süderdithmarschen u. a.).

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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e) Neuere Tendenzen einer Vergrundrechtlichung der Rechtsschutzgarantie Einen letzten Indizbaustein für die Positionierung des EuGH pro grundrechtliche Rechtsnatur des Rechts auf effektiven Gerichtsschutz bilden schließlich eher beiläufige und doch unmissverständliche Verlautbarungen des Gerichtshofs in zwei jüngeren Judikaten. Primo handelt es sich hier um die Entscheidung in der Rechtssache Housieaux481, in der, soweit ersichtlich, erstmals die Formulierung vom „Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz“ in die gerichtseigene Wortwahl Eingang gefunden hat. Verortet ist die Formulierung hierbei in die schlagwortartige Beschreibung des Urteilsinhalts, welche seit einiger Zeit von der jeweils zuständigen Spruchkammer nach Verfassung der Entscheidungsgründe eingefügt wird und die unter Aufzählung der die Entscheidung charakterisierenden Schlüsselwörter vornehmlich zur bibliographischen Systematisierung der Urteile dient. Beachtet man, dass diese Kurzbeschreibung in Abwesenheit einer Erwähnung in den Art. 36 bis 38 EuGH-Satzung und Art. 63 EuGHVerfO keinen notwendigen Bestandteil der Gerichtsentscheidung darstellt und in Ermangelung einer Relevanz für den Tenor und die diesen tragenden Entscheidungsgründe482 mit keinerlei rechtlicher Bindungswirkung versehen ist, so kann die Aussagekraft der an jener Stelle des Urteils vorzufindenden Erklärungen freilich nicht allzu hoch bewertet werden. Gleichwohl ist der Aussagegehalt jener Überschrift nicht völlig unbedeutend, stellt diese doch schon aufgrund ihrer formalen Positionierung in der schriftlichen Entscheidungsausfertigung483 einen echten, wenn auch fakultativen Bestandteil der Gerichtsentscheidung dar und gibt insofern auch eine Wertung des entscheidenden Spruchkörpers wieder. Auch der hier interessierenden Bekundung des EuGH zur Rechtsnatur des Rechts auf Gerichtsschutz ist folglich ein relevanter Aussagegehalt nicht zur Gänze abzusprechen, sofern man nicht von einem irrtümlichen terminologischen Fehlgriff ausgehen möchte. Dass Letzteres jedoch nicht der Fall ist, ergibt sich aus der zweiten, jüngst in der Rechtssache Reynolds Tobacco484 ergangenen Entscheidung, der sich EuGH, Rs. C-186/04, Slg. 2005, I-3299 (Housieaux). Zur absoluten Verbindlichkeit des Tenors und der tragenden Entscheidungsgründe eines Nichtigkeitsurteils EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 54 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.); ausführlicher zu Rechtskraft und Bindungswirkung der Entscheidungen des EuGH Hackspiel, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 27, Rn. 21 ff. 483 Die besagte Überschreibung wird ganz regelmäßig unterhalb der Worte „Urteil des Gerichtshofs“ und oberhalb der Worte „In der Rechtssache“ verortet. 484 EuGH, Rs. C-131/03 P, Slg. 2006, I-7795 (Reynolds Tobacco u. a.). 481 482

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

gleichsam deutliche Tendenzen des EuGH zugunsten eines grundrechtlichen Rechtsnaturverständnisses bezüglich des Rechts auf effektiven Rechtsschutz entnehmen lassen. Auch hier spricht der Gerichtshof ausdrücklich von einer zu prüfenden „Verletzung des Grundrechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz“ und dies, soweit ersichtlich, erstmals eingebettet in seine eigenen, die Entscheidung begründenden Ausführungen485. Zwar befindet sich die betreffende Formulierung nicht unmittelbar in den rechtlichen Würdigungen des Gerichtshofs, sondern allein in einer den Rechtsmittelgrund einleitenden Zwischenüberschrift486, die in erster Linie der Entscheidungsstrukturierung und damit der Übersichtlichkeit und Verständlichkeit des Urteils dient, ohne zugleich an der Rechtskraft desselben teilzunehmen. Dennoch entstammt die getroffene Wortwahl auch hier allein der Sphäre des gerichtlichen Spruchkörpers487 und nicht etwa den Reihen der Parteien des Rechtsstreits. Der Bezeichnung kann daher bei der Bestimmung der Auffassung des EuGH von der Rechtsnatur der Rechtsschutzgarantie ein gewisses Gewicht zukommen – und dies angesichts der bedeutenderen Position im Urteilsaufbau mehr noch als im vorab erwähnten Fall. Zumindest in jüngerer Zeit zeigt der Gerichtshof also deutliche Tendenzen, die Rechtsschutzgarantie gleichsam zu vergrundrechtlichen. f) Zwischenergebnis In der Gesamtschau ist die Positionierung des EuGH zur Rechtsnatur der Verfahrensrechte weder einheitlich noch hinreichend klar bestimmbar. Bisweilen lässt sie sich nur durch eine Urteilslektüre inter lineas erahnen, nicht selten ergeben sich Anhaltspunkte und genauere Konturen erst aus einer Zusammenschau verschiedener Entscheidungen. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang aber schließlich, dass für die gerichtliche Praxis eine punktgenaue Rechtsnaturdogmatik nicht den gleichen Stellenwert hat wie die Rechtmäßigkeit und Gerechtigkeit des Entscheidungsergebnisses im Einzelfall. Jedenfalls stehen die Anzahl wie auch die Natur und die Qualität der in der Rechtsprechung verstreuten Hinweise auf eine den Grundrechten entsprechende oder diesen zumindest nächstverwandte Rechtsnatur des Rechts auf effektiven Rechtsschutz der Annahme entgegen, der Gerichtshof EuGH, a. a. O., vor Rn. 74 (Reynolds Tobacco u. a.). In den rechtlichen Ausführungen nimmt der Gerichtshof wieder die Formulierung vom Grundsatz eines wirksamen gerichtlichen Rechtsschutzes auf, s. EuGH, a. a. O., Rn. 81 (Reynolds Tobacco u. a.). 487 Der Gerichtshof hat dabei seine Begründungen eng an die Ausführungen der GÄin Sharpston, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-131/03 P, Slg. 2006, I-7795, Rn. 68 ff. (Reynolds Tobacco u. a.) angelehnt und sich deren Formulierungen insoweit zu eigen gemacht. 485 486

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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stufe die Rechtsschutzgewähr als rein objektiven Rechtsgrundsatz ein. Insbesondere die neuere gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung zeigt im Gegenteil greifbare grundrechtsbejahende Tendenzen488.

II. Schrifttum zur Rechtsnatur der Rechtsschutzgarantie Wird die unionsrechtliche Geltung der Garantie effektiven Individualrechtsschutzes im Kern auch vom Schrifttum gemeinhin und einhellig anerkannt489, so besteht indessen kein derartiger Konsens über die Rechtsnatur dieses Rechts. Auf der einen Seite wird sein grundrechtlicher Charakter mehr oder minder eindeutig zum Ausdruck gebracht. Während dies bei einigen, unter diesen etwa Bleckmann490, Nowak491 oder auch einige Generalanwälte des EuGH492, explizit geschieht493 und hierbei neuerdings auch Art. 47 GrCh bemüht wird494, beschränken sich andere bisweilen darauf, der grundrechtlichen Tendenz des Rechts ohne eine differenzierende Begriffswahl das 488 Vgl. auch die Schlussanträge des GA Mengozzi zu EuGH, Rsn. C-354/04 P und C-355/04 P, Slg. 2007, I-1579 und I-1657, Rn. 80 f., 101, 105 und 166 (Gestoras Pro Amnistía u. a./Rat), in welchen der Generalanwalt im Kontext zur Frage der Zuständigkeit der Gemeinschaftsgerichte nach Art. 46 und 35 EUV zunächst die Rechtsprechung des EuGH zitiert und weitere völkerrechtliche Quellen des Rechts auf einen wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz nennt (Rn. 80), um im Folgenden das „Grundrecht“ (Rn. 81) auf effektiven Rechtsschutz in direkte Geltungsbeziehung zu Art. 6 Abs. 2 EUV zu stellen. 489 Die Existenz des Rechts auf effektiven Rechtsschutz in der Unionsrechtsordnung ist weithin anerkannt. Allein bei Hoffmann, Ein Grundrechtskatalog für die EG?, S. 72, klingen entsprechende Zweifel an. 490 Bleckmann, in: FS Menger, S. 871, 884 f. 491 Nowak, Konkurrentenschutz in der EG, S. 494 ff. m. w. N.; ders., in: Nowak/ Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47, 48. 492 So inter alia GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, verb. Rsn. C-261/01 und. C-262/01, Rn. 53 (Van Calster und Cleeren); ders., in: FS Schockweiler, S. 197; ebenso jüngst wieder GA Mengozzi, Schlussanträge zu EuGH, Rsn. C-354/04 P und C-355/04 P, Slg. 2007, I-1579 und I-1657, Rn. 177 (Gestoras Pro Amnistia u. a./ Rat); ferner GÄin Kokott, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-186/04, Slg. 2005, I-3299, Rn. 31 ff. (Housieaux); dies., Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-441/05, Slg. 2007, I-1993, Rn. 30 und 33 (Roquette Frères). 493 Insofern deutlich auch Dittert, EuR 2002, 708; Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 45 f.; Nicolaysen, in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 17, 18; Schohe, EWS 2002, 424, 427; Sedemund/Heinemann, DB 1995, 1161; vgl. auch Borchardt, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 164, Rn. 50; Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 18; Kokott, AöR 1996, 599, 616 ff. 494 So etwa Eser, in: Meyer, GrCh, Vorb. zu Art. 47, Rn. 3: „Menschenrechte“; Hector, in: FS Ress, S. 180, 201: „klassische Verfahrensgrundrechte“.

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

Wort zu sprechen495. Im Übrigen nehmen nicht wenige kommentierende Stimmen das Recht auf Rechtsschutz zumeist unter Darstellung der einschlägigen Rechtsschutzkomponenten in die Einzelaufzählung der vom EuGH anerkannten Grundrechte auf496, ohne jedoch zugleich auf jene Fragen einzugehen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass in der Rechtsprechung eine einheitliche grundrechtliche Adelung sämtlicher mit der Gewähr effektiven Rechtsschutzes zusammenhängenden Rechte bislang ausgeblieben ist. Soweit daneben Sack in dem Recht auf Rechtsschutz zwar kein eigenständiges prozessuales Grundrecht sieht, dürfte aber auch er aufgrund der von ihm befürworteten direkten Ableitung prozessualen Schutzes aus den materiellen Grundrechten497 letztlich von einer rechtsnatürlichen Kopplung an das Grundrechtsregime ausgehen498. Auch Cirkel differenziert überdies zunächst deutlich zwischen Gemeinschaftsgrundrechten einerseits und Verfahrensgrundsätzen andererseits, ordnet beide jedoch unter Hinweis auf die enge Verbindung der einschlägigen Rechtsprechung dem Begriff der Gemeinschaftsgrundrechte im weiteren Sinne zu499. Auf der anderen Seite subsumiert derweil insbesondere Schilling die Rechtsweggarantie und den Grundsatz effektiven Rechtsschutzes explizit und exklusiv unter die nach seiner Auffassung von den Grundrechten strikt zu trennenden sonstigen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zu welchen er des Weiteren vor allem den Grundsatz der Rechtssicherheit, des Verbots der Doppelbestrafung, des Vertrauensschutzes, des Rückwirkungsverbots sowie der Verhältnismäßigkeit zählt und die nach seiner Auffassung selbst, je nach Grundsatz, mehr oder weniger ausgeprägte bürgerschützende Funktionen aufweisen500. Ähnlich dürfte es wohl Nettesheim sehen, wenn er das Gebot effektiven Rechtsschutzes zwar im Grunde vollkommen zu Recht und doch ohne weitere Problematisierung der Rechtsnatur als ein Kernelement rechtsstaatlicher Herrschaftseinbindung charakterisiert501. Klein bezeichnet die Gewähr effektiven Gerichtsschutzes insoweit als ein den 495 Vgl. etwa Rodríguez Iglesias, EuR 1992, 225, 237 unter Bezugnahme auf Art. 6 und 13 EMRK. 496 Vgl. etwa Geiger, EUV/EGV, Art. 6, Rn. 40; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 197 ff.; Zimmerling, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Anhang zu Art. 6 EUV, Rn. 85 f. 497 Zu diesem Ansatz ausführlicher in Teil 2 unter A. 498 Dahingehend zumindest Sack, EuR 1985, 319, 326; insoweit ähnlich Nowak, Drittschutz im EG-Beihilfenkontrollverfahren, in: DVBl. 2000, 20, 24, der hier von einem „Annexgrundrecht“ spricht. 499 s. Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 50, unter besonderem Hinweis auf Jürgensen/Schlünder, AöR 1996, 200, 215 ff. 500 Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 17 ff. 501 Nettesheim, JZ 2002, 928.

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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Grundrechten zugrunde liegendes Rechtsprinzip502 und legt den hermeneutischen Ausgangspunkt der rechtlichen Verknüpfung damit bei Ersterem an.

III. Eigene Bewertung Um die Rechtsnatur der Verfahrensrechte genauer zu erfassen, bedarf es zunächst der Feststellung, ob es sich bei den einzelnen Rechtsschutzaspekten um jeweils selbständige Rechte oder aber um Teile eines einheitlichen Rechts handelt, um hierauf die zur Rechtsnatur der Grundrechte herausgearbeiteten Kriterien anzuwenden. 1. Die Rechtsschutzgarantie als rechtliche Einheit Die im Einzelnen in der Rechtsprechung aufgetretenen Rechtsschutzaspekte können aus hiesiger Sicht als mehr oder weniger differente Aspekte eines insgesamt einheitlichen Rechtskonglomerats auf effektiven Rechtsschutz verstanden werden503. Mögen die zur Inhaltsbestimmung heranzuziehenden Quellen partiell auch variieren, so sind doch der tatsächliche Zugang zu einem gesetzlich errichteten und zuständigen Gericht, die Fairness des grundsätzlich öffentlich und mündlich durchzuführenden Verfahrens unter Gewährung hinreichenden rechtlichen Gehörs und unter Gewährleistung der Waffengleichheit – insbesondere mit Blick auf die Zugänglichkeit gerichtlicher Informationen und die Zulassung von Beweismitteln – ebenso wie die Angemessenheit der Verfahrensdauer allesamt Teilaspekte einer rechtlichen Garantie, namentlich der Gewähr einer effektiven Absicherung der materiellen Rechte des Einzelnen, für die sich eine rechtsstaatlich fundierte Rechtsgemeinschaft zu verbürgen hat. Gewiss sind in einem konkreten Fall ganz regelmäßig nur eine einzelne oder einige weniger dieser Ausprägungen und nur selten die Gesamtheit der verschiedenen Schutzelemente berührt. Auch können diese unter Umständen sogar in einem internen Spannungsverhältnis stehen, wie etwa das Recht auf rechtliches Gehör zu dem Interesse an einer möglichst zeitnahen Gerichtsentscheidung. Insgesamt aber überschneiden und verzahnen sich allesamt derart zu einer teleologischen Rechtseinheit, dass eine stringente Differenzierung nach Schutzrichtung oder Funktionsschwerpunkt weder angezeigt noch durchgehend möglich erscheint504. Dem So Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 4. s. in diesem Kontext auch die einheitliche Regelung in Art 47 GrCh und diesbezüglich Heringa/Verhey, MJ 2001, 11, 17; ebenso Jarass, EU-Grundrechte, § 40, Rn. 2. 504 In diese Richtung auch EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 89 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat), wonach die Verteidigungsrechte, 502 503

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

Recht auf Rechtsschutz kommt als so verstandene Ressource unterschiedlicher Rechtsschutzaspekte der Charakter eines bündelnden Rahmenrechts zu, das als solches stets dann verletzt ist, wenn in einem gegebenen Fall eines seiner Teilgehalte ungerechtfertigt beeinträchtigt wird, und dessen Rechtsnatur in diesem Lichte eine kohärente Beurteilung erfahren sollte. Dieser Ansatz einer einheitlichen Betrachtung der Rechtsschutzgarantie sieht sich auch durch analog übergreifende völkerrechtliche Regelungen zu den Verfahrensgarantien bestätigt. So umfasst etwa der in Art. 10 AllgErklMenschenR505 niedergelegte verfahrensrechtliche Anspruch sowohl den Zugang zu einem Verfahren vor einem unparteiischen Gericht als auch dessen öffentliche und den Grundsätzen der Billigkeit entsprechende Durchführung506. In Art. 11 AllgErklMenschenR werden dazu nur spezielle strafrechtliche und strafprozessuale Rechte wie vor allem die Unschuldsvermutung und der nulla-poena-sine-lege-Grundsatz abgegrenzt. Ähnlich verhält es sich mit Art. 14 IPbürgR, der in seinem ersten Absatz507 einen umfassenden Anspruch – insbesondere – auf ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und gesetzlich eingerichtetes Gericht sowie ein billiges und öffentliches Verfahren in straf- und zivilrechtlichen Angelegenheiten verdie Begründungspflicht und das Recht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz eng miteinander verknüpft seien, insbesondere da Erstere der ordnungsgemäßen Ausübung der Rechtsschutzgarantie diene. Die Verstrebungen der Schutzaspekte werden ebenfalls deutlich bei EuGH, Rs. C-283/05, Slg. 2006, I-12041, Rn. 27 (ASML), nach welchem die auf dem Anspruch auf einen fairen Prozess beruhenden Verfahrensrechte einen konkreten und effektiven Schutz der Parteienrechte erforderten. s. in diesem Zusammenhang ferner bezüglich der Begründungspflicht, den Verteidigungsrechten und dem Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf jüngst EuG, Rs. T-327/03, Slg. 2007, II-79, Rn. 62 ff., insb. 64 (Al-Aqsa/Rat); noch deutlicher EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 137 ff. (Sison/Rat). 505 Art. 10 AllgErklMenschenR lautet: „Jeder Mensch hat in voller Gleichberechtigung Anspruch auf ein der Billigkeit entsprechendes öffentliches Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht, das über seine Rechte und Verpflichtungen oder über irgendeine gegen ihn erhobene Beschuldigung zu entscheiden hat.“ 506 Formal fehlt der AllgErklMenschenR als Resolution der Generalversammlung der UNO zwar eine rechtliche Bindungswirkung, sie kann aber möglicherweise als Indiz für die Existenz entsprechenden Völkergewohnheitsrechts gewertet werden [s. u. in Teil 2 unter B. III. 3. c)]. 507 Dieser lautet auszugsweise: „Alle Menschen sind vor Gericht gleich. Jedermann hat Anspruch darauf, dass über eine gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage oder seine zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht in billiger Weise und öffentlich verhandelt wird. (. . .) jedes Urteil in einer Straf- oder Zivilsache ist (. . .) öffentlich zu verkünden, sofern nicht die Interessen Jugendlicher dem entgegenstehen oder das Verfahren Ehestreitigkeiten oder die Vormundschaft über Kinder betrifft.“

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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brieft und in den anschließenden Absätzen einzelne Garantien für den Bereich des Straf- und Strafprozessrechts regelt508. 2. Subsumtion der Rechtsschutzgarantie unter den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsbegriff Für die Bestimmung der Rechtsnatur der so verstandenen Rechtsschutzgewähr kann zunächst nicht allein die vom Gerichtshof gepflegte Rückkopplung zu den Verfassungen der Mitgliedstaaten und der EMRK maßgeblich sein509. Was Erstere angeht, so ergibt sich zum einen wohl kein sichtbares Übergewicht zugunsten einer objektiv-rechtlichen oder subjektivrechtlichen Natur der jeweils mitgliedstaatlich gewährten Verfahrensrechte510. Wenn zum anderen die Konvention die den Rechtsschutz betreffenden Rechte als grundrechtliche Positionen aufführt, so erschiene unabhängig von der näheren unionalen Grundrechtsquellendogmatik und der Bindungswirkung der EMRK gegenüber der EU ein im Zuge des Quellentransfers eintretender Rechtsnaturwechsel eher befremdlich. Gleichviel insofern die Versuchung groß sein kann, von den Aussagen eines Rechtssystems auf ein anderes zu schließen, müssen sich indes auf der anderen Seite die rechtshermeneutischen Überlegungen vornehmlich an den Eigenheiten des rezipierenden Systems ausrichten. Dass eine zu unreflektierte Übernahme der Wertungen der EMRK rasch zu unzutreffenden Folgerungen verleiten kann, zeigt auch die unterschiedliche Behandlung der Rechtsschutzgarantie in einzelnen Mitgliedstaaten, wofür insbesondere die rechtlichen Situationen in Deutschland und Frankreich mit ihren unterschiedlichen verfahrensrechtlichen Konzeptionen ein kontrastreiches Beispiel bilden511. Ob das Recht 508 Namentlich etwa die Unschuldsvermutung (Abs. 2), der nemo-tenetur-Grundsatz (Abs. 3 lit. g), das Recht auf einen Rechtsbehelf (Abs. 5) und dem Grundsatz ne bis in idem (Abs. 7). 509 Zu dieser besonderen Rückkopplung auch v. Bogdandy, JZ 2001, 157, 168. 510 Vgl. im Einzelnen vor allem Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschlands, Art. 113 der Verfassung der italienischen Republik, Art. 17 Abs. 2 der Verfassung der Republik Finnland, Art. 20 I der Verfassung der Griechischen Republik, Art. 38 der Verfassung der Irischen Republik, Art. 20 der Verfassung der portugiesischen Republik, Kapitel 2 § 9 der Verfassung des Königreichs Schweden und Art. 17 IV der Verfassung des Königreichs Spanien. 511 Losgelöst von der Existenz des Art. 19 Abs. 4 GG lehnt das BVerfG eine Heranziehung der EMRK bei der Begründung des verfassungsrechtlich garantierten Grundrechts auf Rechtsschutz ab, weil die Konventionsvorschriften mangels eigenen Verfassungsranges (vgl. dazu BVerfGE 74, 358, 370) nicht zu den Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten i. S. d. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a. GG gehören (vgl. BVerfGE 41, 88, 105; BVerfGE 64, 135, 157), auf welche die Prüfungskompetenz des BVerfG im Bereich der Verfassungsbeschwerde beschränkt ist. In der französischen Rechtsprechung ist ein Rückgriff auf die EMRK hingegen üblich, nicht zu-

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

auf Rechtsschutz auch an der gemeinschaftseigenen Ordnung der Grundrechte teilnimmt, richtet sich folglich nach seiner Eignung, unter diesen systemautonomen Begriff subsumiert zu werden. Sofern dabei auch eine einheitliche Begriffsdefinition fehlt, sind für die Grundrechtseigenschaft doch zumindest zwei Merkmale konstitutiv: zum einen muss es sich um ein von der Rechtsordnung geschütztes und gerade dem Einzelnen zuzuordnendes, ergo subjektives Recht handeln; zum anderen muss es aufgrund seiner außergewöhnlichen Bedeutung für die und in der sie gewährenden Rechtsordnung als fundamental zu qualifizieren sein. Ob ein Rechtselement rein objektives oder subjektives Recht darstellt, ist in erster Linie nach seiner Rechtsfunktion, d.h. nach dem Sinn und Zweck seiner Geltung in dem spezifischen Rechtssystem und den Charakteristika seiner Einklagbarkeit zu beurteilen. Der Blick auf die Rechtsprechung des EuGH hat deutlich gezeigt, dass in dem allgemeinen Rechtsgrundsatz des Rechtsschutzgebots nicht nur ein die Hoheitsträger bindendes Recht, sondern gerade auch ein individuelles Recht begründet liegt. Soweit die vom Gerichtshof bevorzugten Formulierungen, effektiver Rechtsschutz sei zu gewähren512 respektive es bestehe ein „Recht auf“513 Rechtsschutz und ein „Anspruch auf“514 seine Gewährung einerseits nicht gänzlich und allein aussagekräftig erscheinen, da auch objektive Grundsätze im Rahmen ihrer bürgerschützenden Funktion „Begünstigte“ haben und insoweit Gewährungen und gar Ansprüche vermitteln können515, zeugen die Terminologien andererseits durchaus von einem überwiegend subjektiv-rechtlichen Einschlag der Rechtsschutzgarantie, der durch die Zurechnung des betreffenden Rechts zum jeweiligen Individualkläger noch letzt weil es hier weitgehend an einer verfassungsrechtlichen Gesetzeskontrolle fehlt und die EMRK ihrerseits übergesetzlichen Rang hat und damit ein tauglicher Gesetzeskontrollmaßstab ist [s. insofern etwa jüngst CE, Entsch. v. 8. Februar 2007, Nr. 279522 (M. X)]. Das betreffende Konventionsrecht wird hierbei regelmäßig im Rahmen der Begründung eines „principe fondamental“ oder „principe général du droit“ aktiviert. s. zum Rang der EMRK in den einzelnen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in Teil 2 unter B. III. 2. b) aa) (1) (b). 512 Vgl. EuGH, Rs. C-186/04, Slg. 2005, I-3299, Rn. 35 f. (Housieaux). 513 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-406/01, Slg. 2002, I-4561, Rn. 20 (Deutschland/Parlament u. Rat); vgl. auch jüngst wieder EuGH, Rs. C-174/02, Slg. 2005, I-85, Rn. 18 (Streekgewest) sowie EuGH, verb. Rsn. C-23/04 bis 25/04, Slg. 2006, I-1265, Rn. 27 (Sfakianakis AEVE). 514 Vgl. schon EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 19 (Johnston); ferner EuGH, Rs. C-185/97, Slg. 1998, I-5199, Rn. 22 (Coote/Granada Hospitality); EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39 (Unión de Pequeños Agricultores/ Rat) sowie jüngst EuGH, verb. Rsn. C-23/04 bis 25/04, Slg. 2006, I-1265, Rn. 28 (Sfakianakis AEVE). 515 So auch in Bezug auf die Grundrechte-Charta Jarass, EU-Grundrechte, § 7, Rn. 22 ff.

B. Rechtsnatürliche Zuordnung der Rechtsschutzgarantie

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signifikant verstärkt wird516. Soweit nämlich der Einzelne zum unmittelbaren Bezugspunkt und also zum Inhaber des betreffenden Rechtselements ausersehen ist, spricht dies für eine grundrechtstypische Rechtsträgerstellung517 und somit für den subjektiv-rechtlichen Charakter des von ihm getragenen Rechts. Rückt man daneben den Geltungsgrund des Rechts auf Rechtsschutz ins Zentrum der Betrachtungen, so zeigt sich des Weiteren, dass der in der verfahrensrechtlichen Absicherung anderweitig gewährter Rechte liegende Sinn und Zweck jener Garantie ersichtlich darauf zugeschnitten ist, gerade dem Schutz der Position des Einzelnen in der Rechtsordnung Genüge zu tun. Auch die funktionale Natur des Rechts auf effektiven Rechtsschutz streitet damit zugunsten einer subjektiv-rechtlichen Qualifizierung518. Prozessual erschöpft sich die Rolle des Rechts auf Rechtsschutz zudem nicht in der Sicherung der praktischen Bedeutung materieller Rechte. Auch wenn jenes für seine eigene Geltendmachung durch den Einzelnen die Existenz eines einklagbaren, sprich eines subjektiven Rechts voraussetzt, kann es doch ebenso selbst im Falle seiner Verletzung eine das Gemeinschaftsrecht betreffende hoheitliche Maßnahme zu Fall bringen und ist infolgedessen ein seinerseits eigenständig einklagbares Recht519, wofür auch die Gemeinschaftsrechtsprechung seit frühester Zeit seiner Anerkennung Zeugnis ablegt520. Wenn dabei die Möglichkeit der klägerischen Geltendmachung der Rechtsschutzgarantie an sich noch keinen hinreichenden Aufschluss über die Art und Weise der Einklagbarkeit jenes Rechts zu geben vermag, dürfte dies bereits anders zu beurteilen sein, wenn der Individualkläger die Verletzung „seines Anspruchs“521 auf effektiven Rechtsschutz durchsetzt. Analog zu dem bereits oben zur Konzeption des gemeinschaftsrechtlichen Rechts516 Vgl. etwa besonders deutlich jüngst EuGH, Rs. C-547/03, Slg. 2006, I-845, Rn. 50 (AIT/Kommission): „Folglich kann sich der Kläger nicht auf eine Verletzung seines Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz berufen“ (Hervorhebung durch den Bearbeiter). Die Formulierung geht in ihrer Subjektivierung sogar noch über analoge Erklärungen des BVerfG hinaus: vgl. etwa BVerfGE 35, 263, 264: „Der Bürger hat einen substantiellen Anspruch auf eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle“. 517 Vgl. zur betreffenden Differenzierung zwischen dem Träger eines subjektiven Rechts und dem Begünstigten eines Rechtsgrundsatzes Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 21. 518 Ähnlich Classen, NJW 1995, 2457, 2461 f. Entsprechend deutlich auch zum individualschützenden Zweck der Verteidigungsrechte jüngst EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 239 (Sison/Rat). 519 Vgl. entsprechend zu Art. 47 GrCh Jarass, EU-Grundrechte, § 40, Rn. 3 und § 7, Rn. 22 ff. 520 Vgl. nur EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 19 ff. (Johnston). 521 EuGH, Rs. C-547/03, Slg. 2006, I-845, Rn. 50 (AIT/Kommission).

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Teil 1: Die Grundrechtsqualität der Rechtsschutzgarantie

schutzsystems Gesagten weist die rechtliche Justitiabilität auch hier unbestreitbar subjektiv-rechtliche Elemente auf. Die einheitliche Rechtsschutzgarantie samt all ihrer Ausprägungen ist nach dem bisher Gesagten nicht nur ein Bündel von objektiven Verfahrensgrundsätzen, sondern ein vornehmlich die Interessen des Einzelnen schützendes, somit diesem zuzuordnendes Recht, das prozessual durchsetzbare Ansprüche auf positive wie negative Handlungen gegen die mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Unionsstellen vermitteln kann. Damit trägt sie alle charakteristischen Eigenschaften eines subjektiven Rechts. Dass die Rechtsschutzgarantie darüber hinaus für die Rechtsordnung von elementarer Bedeutung ist, kann keinem ernsthaften Zweifel unterliegen. Schon durch ihre gemeinschaftsgerichtliche Einbettung in die primärrechtlichen Rechtsgrundsätze tritt dies deutlich zutage und auch der bisweilen zu findende Hinweis des EuGH „auf die grundlegende Bedeutung des Anspruchs auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz“522 bringt ihren fundamentalen Charakter klar zum Ausdruck. Das Recht auf Rechtsschutz ist folglich nicht nur ein subjektives Recht, sondern in der Tat ein die Rechtsordnung tragendes und leitendes dazu. Dann aber spricht nichts dagegen, es in die Riege der essentiellen Rechtspositionen des Einzelnen, mithin der Grundrechte, aufzunehmen. Dass seine quellenformelle Zuordnung zu den Rechtsgrundsätzen durch den EuGH prima facie einen anderen Eindruck vermitteln kann, sollte angesichts der Besonderheiten der prätorischen Entwicklung der Grundrechte nicht ausschlaggebend sein. Die in diesem Kontext weiterhin erwägenswerte Möglichkeit, die Rechtsschutzgarantie als grundrechtsgleiches Prinzip zu qualifizieren, führte über die Schaffung einer neuen Rechtsfigur letztlich zu einem unnötigen Etikettenwechsel, ohne etwas in der Sache zu ändern. Auch der Ansatz von Schilling zu den bürgerschützenden Rechtsgrundsätzen scheint insoweit auf halbem Wege stehen zu bleiben, denn was soll eine wertverkörpernde und primär individualschützende Garantie anderes sein als ein Grundrecht?

C. Ergebnis zu Teil 1 Die bis hier vorgenommenen Untersuchungen haben gezeigt, dass die vor geraumer Zeit prätorisch ins Leben gerufene und seitdem beachtlich gereifte Grundrechtsordnung des Gemeinschaftsrechts ein dem ursprünglichen gemeinschaftlichen Finalitätsrahmen nicht unmittelbar zugehöriges, sondern diesem gegenüberstehendes Regime von Individualrechten zur Eindämmung 522

EuGH, Rs. C-185/97, Slg. 1998, I-5199, Rn. 27 (Coote/Granada Hospitality).

C. Ergebnis zu Teil 1

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unverhältnismäßiger Machtausübung durch die Europäische Union bildet. In einem systemspezifischen Sinne können die Grundrechte der EU dabei in Abgrenzung zu anderen Rechtsprinzipien als veritable subjektive Rechte im Gewand allgemeiner Rechtsgrundsätze beschrieben werden. Gleichermaßen verkörpert die vorliegend besonders interessierende Rechtsschutzgarantie nicht allein ein an den Staat gerichtetes Rechtsgebot mit subjektiven Schutzreflexen. Vielmehr ist sie aufgrund ihrer rechtlichen Charakteristika sowie angesichts ihrer essentiellen Bedeutung für die europäische Rechtsgemeinschaft523 selbst als eigenständiges Grundrecht zu klassifizieren.

523 Vgl. dazu schon EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament); ebenso jüngst wieder EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439, Rn. 109 (PKK und KNK/Rat). Dazu auch Zuleeg, NJW 1994, 545, 549. Zu den Merkmalen des Begriffs im Kontext zur europäischen Integration ausführlich Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 429, insb. 475 ff. Nicht unbedenklich erscheint insoweit die Anmerkung von Everling, Rechtsschutz im europäischen Wirtschaftsrecht auf der Grundlage der Konventsregelungen, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 363, 380, wenn er allgemein die auch mit Argumenten der Rechtsstaatlichkeit geführte Diskussion um die individuelle Klagebefugnis für eine überdimensionierte Problematisierung der Rechtsstaatlichkeit der EU hält.

Teil 2

Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie Die in Teil 1 gewonnenen Erkenntnisse führen nunmehr zu dem weiteren Fragenkomplex, welche Rechtsquellen die Existenz der grundrechtlichen Rechtsschutzgarantie im Rechtssystem der EU tragen. In Anbetracht ihres Sinngehalts in einer jeden prozessualen Rechtsschutz gewährenden Rechtsordnung drängt sich zunächst der Gedanke auf, eine Rechtsgeltungsgemeinschaft zwischen materiellen Grundrechten und dem Recht auf Rechtsschutz dergestalt anzunehmen, dass Erstere als rechtliche Quellen für Letzteres fungieren. Wie zu zeigen sein wird, greift ein solcher Ansatz jedoch zu kurz. Die Antworten werden daher in erster Linie über eine eingehende und anhand der Methodik der Norminterpretation vorzunehmenden Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV zu suchen sein.

A. Verfahrensrechte als rechtsstaatliche Konsequenz zur Anerkennung materieller Grundrechte Die im Zuge der behandelten Aspekte zur Geltung und Rechtsnatur der materiellen Grundrechte und der Garantie effektiven Rechtsschutzes getätigte Feststellung, dass die EU materielle und prozessuale Grundrechte zu gewähren hat, die einem eigenen Rechtsregime zugehören, führt zu der im Hinblick auf die quellenhermeneutische Analyse jener prozessualen Garantie besonders interessierenden Frage nach einer rechtsquellenrelevanten Geltungsbeziehung zwischen den beiden Grundrechtszweigen. So erscheint es denkbar, von der Anerkennung materieller Grundrechte dergestalt auf das Bedürfnis nach der Gewähr prozessualer Garantien zu schließen, dass Erstere rechtsdogmatisch als die rechtlichen Quellen Letzterer qualifiziert werden könnten. Eine argumentative Flankierung kann dieser im Folgenden darzustellende Ansatz auch durch die Prinzipien vom Vorrang und der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts erhalten.

A. Verfahrensrechte zur Anerkennung materieller Grundrechte

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I. Herleitung der Rechtsschutzgarantie aus den materiellen Grundrechten Das Argumentationsmuster jenes Ansatzes beruht also primär auf mit der Anerkennung von materiellen Grundrechten verbundenen Erwägungen, die partiell auch in einzelnen Judikaten des EuGH eine Stütze finden können. 1. Wesentliche Argumentationsfigur Dem Standpunkt, das Gebot effektiven Rechtsschutzes lasse sich im Unionsrecht bereits als notwendige Konsequenz aus der Existenz der materiellen Grundrechte herleiten524, liegt im Wesentlichen die Überlegung zugrunde, dass sich der Gehalt der materiellen Grundrechte erst anlässlich ihrer Aktivierung, mithin vor allem durch ihre praktische Ausübung und Geltendmachung manifestieren kann, da der praktische Wert einer Grundrechtsgewährung unweigerlich davon abhängen muss, ob und inwieweit das Rechtssystem ihre justitielle Durchsetzbarkeit im Falle einer Rechtsverletzung tatsächlich zulässt525. Eine grundrechtliche Gewähr erwiese sich als sinnentleert, wenn dem Grundrechtsträger nicht zugleich die prozessuale Möglichkeit eingeräumt würde, die Behauptung der Grundrechtsverletzung vor ein Gericht zu bringen, welches hierüber in einem geregelten Verfahren unabhängig zu befinden und durch seine Entscheidung rechtmäßige und insofern rechtliche sowie zugleich in den Grenzen des rechtlich Möglichen gerechte Zustände herzustellen hätte526. Da der grundrechtliche Schutzgehalt im Falle einer Gewährleistungsdiskrepanz zwischen materiellen und prozessualen Rechten weitgehend theoretischer, da nicht oder nur beschränkt justitiabler Natur wäre, sähe sich die Geltungsberechtigung der materiellen Grundrechte in Abwesenheit eines Rechts auf prozessuale Durchsetzung gleichsam zur Gänze in Frage gestellt. Damit die materiellen Grundrechte der EU nicht zu bloßen Scheinrechten verkümmern527, bedarf 524 So schon Sack, EuR 1985 319, 326; ähnlich Huthmacher, Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts bei indirekten Kollisionen, S. 115 f. 525 Ähnlich für den Bereich der materiellen Grundrechte der EMRK Möller, Verfahrensdimensionen materieller Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 231 ff. 526 Vgl. in diesem Sinne zur Aufgabe des deutschen Verfahrensrechts BVerfGE 42, 64, 73 sowie BVerfGE 52, 131, 153. 527 In diesem Sinne im Kontext zu den Rechten des Parlaments auch Giegerich, ZaöRV 1990, 812, 829, der dabei von „widerruflichen Toleranzen“ spricht. Vgl. zu analogen Formulierungen in der deutschen Rechtsprechung insbesondere BVerfGE 10, 264, 267 sowie unter Bezugnahme auf diese Entscheidung BVerfGE 35, 263, 274 und BVerfGE 51, 268, 284.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

es somit spiegelbildlich zu ihnen auch der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes. Diese funktionale Verknüpfung als Wesenselement des Rechts auf effektiven Rechtsschutz lässt sich im Übrigen auch umgekehrt vornehmen, soweit dessen Geltung in einer Rechtsordnung ohne materielle Rechtspositionen keinen rechtlichen wie praktischen Nutzen hätte. In Anbetracht einer so beschriebenen Dependenz liegt der Schritt zur Charakterisierung der Garantie effektiven Rechtsschutzes als Annexgrundrecht nicht fern528. Wohl vor diesem Hintergrund lehnt Sack auch den eigenständigen Grundrechtscharakter des Rechts auf Rechtsschutz mit der Begründung ab, die Herleitung einer so weit ausgeformten Anspruchsgrundlage im ungeschriebenen Gemeinschaftsrecht sei schwierig, zumal dem das Enumerationsprinzip des Klagesystems des Primärrechts, die Abwesenheit eines gemeinsamen Verfassungsbestandes in den Mitgliedstaaten und die Rechtsprechung des EuGH entgegenstehe529. Der dem Ansatz zugrunde liegende Gedanke scheint zudem auch jenen rechtsstaatlichen Grundsätzen geschuldet, auf denen nach Art. 6 Abs. 1 EUV die Union beruht und deren tragender Pfeiler unter anderem die praktische Geltung hoheitliche Machtausübung zügelnder Grundrechte darstellen530. Insoweit könnte es sich gar anbieten, das in Art. 6 Abs. 1 EUV genannte Unionsprinzip der Rechtsstaatlichkeit in die Rechtsquellenhermeneutik der Garantie effektiven Rechtsschutzes einzubeziehen. Analoge Ansätze sind etwa auch dem deutschen Rechtssystem nicht fremd. So stützt etwa das deutsche BVerfG das Rechtsschutzgebot bisweilen auf Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem verfassungsrechtlich verankerten Rechtsstaatsprinzip531.

Zu dieser Bezeichnung Nowak, DVBl. 2000, 20, 24. Sack, EuR 1985, 319, 326. 530 Vgl. nochmals Calliess, in ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 24. 531 Vgl. etwa BVerfGE 107, 395, 406 f.; BVerfG, NJW 2005, 2005, 1999, 2001; ebenso u. a. BGHZ 140, 208, 217; BGH, NJW 2006, 1290, 1291). Die differierende Herleitung aus Art. 19 Abs. 4 GG und den soeben genannten Quellen fußt dabei vor allem auf dem Umstand, dass Art. 19 Abs. 4 GG nach der Rechtsprechung des BVerfG in erster Linie effektiven Rechtsschutz gegen das Verhalten der Exekutive garantiert (vgl. etwa BVerfGE 24, 33, 49 ff.; BVerfGE 45, 297, 334) und nur insoweit gegenüber dem allgemeinen Rechtsstaatsgebot spezieller ist (vgl. BVerfGE 83, 182, 194). Zu den weiteren aus Art. 19 Abs. 4, 101 Abs. 1 und 103 Abs. 1 GG folgenden sowie weiteren rechtsstaatlichen Anforderungen an den Rechtsschutz BVerfGE 57, 250, 274 f. m. w. N. Zur Herleitung von Verfahrensrechten aus den materiellen Grundrechtsverbürgungen auch Möller, Verfahrensdimensionen materieller Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention, S. 23 ff. 528 529

A. Verfahrensrechte zur Anerkennung materieller Grundrechte

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2. Bestätigende Tendenzen in der Rechtsprechung des EuGH Der Ansatz kann im Übrigen eine Bestätigung in der anfänglichen Rechtsprechung des EuGH zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes finden. Ein teleologischer Zusammenhang zwischen der Gewähr subjektiv-rechtlicher Rechtspositionen und der Notwendigkeit effektiver Rechtsschutzgewähr zeigte sich nämlich bereits in der Rechtssache Johnston, soweit der EuGH hier das in der fallrelevanten Richtlinie532 verbürgte materielle Recht auf Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Hinblick auf den Zugang zur Beschäftigung und den Arbeitsbedingungen über den allgemeinen Rechtsgrundsatz des Rechts auf effektiven Rechtsschutzes abzusichern suchte533. Insbesondere stellte der Gerichtshof die Rechtsschutzgarantie zuweilen auch in einen unmittelbaren Quellenkontext zu einer klägerseits geltend gemachten Grundrechtsverletzung534. Aus derart engen Verknüpfungen zwischen der Anerkennung eines Grundrechts und der Gewähr seines effektiven Schutzes könnte daher zu schließen sein, dass auch der Gerichtshof die Rechtsschutzgarantie als notwendiges Korrelat zu den Grundrechten sieht535 und mithin Letztere als Rechtsquelle der Verfahrensrechte wertet.

II. Argumentationsflankierung durch die Grundsätze des Anwendungsvorrangs und der praktischen Wirksamkeit Hieran anknüpfend und diese Überlegungen unterstützend werden zur Begründung der Existenz des Rechts auf effektiven Rechtsschutz teilweise der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts536 und das Prinzip der RL 76/207/EWG vom 9. Februar 1976 (ABl. EG 1976 L 39). EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 19 (Johnston). 534 Vgl. EuGH, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097, Rn. 14 (Unectef/Heylens) sowie EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577, Rn. 64 (Dounias). 535 In diesem Sinne bezogen auf die vom EG-Vertrag gewährten Rechte Schilling, EuGRZ 2000, 4, 18. 536 St. Rspr. seit EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 (Costa/ENEL); vgl. auch EuGH, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, 15 (Wilhelm); EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, 1135 (Internationale Handelsgesellschaft); EuGH, Rs. 34/73, Slg. 1973, 981, 991 (Variola); EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, 643 f. (Simmenthal); EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, 3728 (Hauer); EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, 2473 (Factortame). Nach anfänglichen Divergenzen im Schrifttum und in der mitgliedstaatlichen Rechtsprechung ist der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts heute weitgehend anerkannt: vgl. für Deutschland u. a. BVerfGE 22, 293, 296; E 31, 145, 173 f.; E 37, 271, 280; E 73, 339, 375; E 75, 223, 244 f.; E 85, 191, 204; BFHE 93, 102; BVerwGE 45,72; vgl. aus der Lit. nur Everling, DVBl. 1985, 1201, 1202; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 280 ff. 532 533

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

praktischen Wirksamkeit537 herangezogen538. Die dem zugrunde liegende Kernargumentation, die Gewährung materieller Grundrechte gebiete deren effektive Absicherung auf der prozessualen Ebene, scheint auch eine partielle Untermauerung durch die Rechtsprechung des EuGH zu den schon anfangs in Art. 5 EWG-Vertrag verankerten Mitwirkungspflichten der Mitgliedstaaten539 sowie insbesondere durch die EuGH-Rechtsprechung zur Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten und den in den Grundsätzen der Äquivalenz und Effektivität liegenden Gestaltungsgrenzen zu erfahren. Denn nach jener ist zwar die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Regelung der Verfahrensmodalitäten für Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, in Abwesenheit einer einschlägigen Gemeinschaftsregelung Aufgabe des jeweiligen mitgliedstaatlichen Rechts, jedoch müssen die nationalen Regelungen dabei ebenso günstig ausgestaltet sein, wie für entsprechende innerstaatliche Klagen, und dürfen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte weder praktisch unmöglich machen noch übermäßig erschweren540. In Bezug auf die Bindung der Mitgliedstaaten können jene beide Prinzipien derzeit vor allem auf Art. 10 EGV, der die Vertragsstaaten zu gemeinschaftstreuem Verhalten im Sinne eines Tun wie auch eines Unterlassen verpflichtet541, zurückgeführt werden. Der Grundsatz des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts, der nach richtiger Ansicht nur die vorrangige Anwendbarkeit, nicht aber einen GeltungsvorVgl. hierzu vor allem EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, 645 (Simmenthal). In diesem Sinne u. a. Arndt/Haas, RIW 1989, 710, 716; Bleckmann, DVBl. 1976, 483, 486; Curtin, CMLR 1990, 709, 733; Schwarze, NJW 1992, 1065, 1071; Steindorff, Jura 1992, 561, 563; ähnlich Allkemper, in EWS 1994, 253, 258; später aber mit ablehnender Tendenz wieder ders., Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 55 f.; vgl. auch Tonne, Rechtsschutz, S. 279 ff., der dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs insofern eine bloß „dienende“ Rolle beimisst. 539 Vgl. EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, 2473 (Factortame); EuGH, Rs. 33/76, Slg. 1976, 1989, 1998 (Rewe); EuGH, Rs. 45/76, Slg. 1976, 2043, 2053 (Comet); EuGH, Rs. 265/78, Slg. 1980, 617, 629 (Ferwerda); EuGH, Rs. 68/79, Slg. 1980, 501, 522 f. (Just); EuGH, Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, 1226 (Amministrazione delle finanze); EuGH, Rs. 811/79, Slg. 1980, 2545, Rn. 12 (Ariete); EuGH, Rs. 826/79, Slg. 1980, 2559, 2574 (Mireco). 540 St. Rspr., vgl. EuGH, Rs. C-453/99, Slg. 2001, I-6297, Rn. 29 (Courage und Crehan); EuGH, Rs. C-255/00, Slg. 2002, I-8003, Rn. 33 (Grundig Italiana) sowie EuGH, Rs. C-276/01 Slg. 2003, I-3735, Rn. 60 (Steffensen). 541 Vgl. bereits (indes ohne Verweisung auf Art. 10 EG) EuGH, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1, Rn. 6 (Walt Wilhelm/Bundeskartellamt); grundlegend sodann EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433, 2473 (Factortame). Genau genommen leiten sich aus Art. 10 Abs. 1 EGV zunächst drei Handlungspflichten der Mitgliedstaaten ab, während Abs. 2 der Vorschrift eine an selbige gerichtete Unterlassungspflicht begründet (dazu näher Hatje, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 10 EGV, Rn. 1 ff.). 537 538

A. Verfahrensrechte zur Anerkennung materieller Grundrechte

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rang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht postuliert542, greift überdies grundsätzlich auch im Falle der Grundrechte, wenn und soweit diese als Teil des gemeinschaftlichen Primärrechts543 in mitgliedstaatlichen Gerichtsverfahren mit gemeinschaftsrechtlichem Bezug entscheidungserheblich werden544. In solchen Fällen kann dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs in Verbindung mit dem Gebot der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts in der Tat entnommen werden, dass im Geltungsbereich der materiellen Gemeinschaftsgrundrechte, gegen welche ein nationaler Rechtsakt im Einzelfall möglicherweise verstößt, entgegenstehendes – vorhergehendes wie auch später erlassenes – nationales Recht nicht zur Anwendung kommt. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob es sich um entgegenstehendes materielles Recht handelt, etwa die Rechtsgrundlage für den nationalen Rechtsakt, oder um Verfahrensrecht, welches die effektive Geltendmachung der materiellen Grundrechte unterbindet. Das Gebot der vorrangigen Beachtung der im konkreten Fall gegenständlichen materiellen Grundrechte kann demnach die Überwindung auch prozessrechtlicher Hindernisse erfordern, so dass zu der eigentlichen materiellen Dimension der einschlägigen Grundrechte ein prozessrechtlicher Aspekt hinzukommt. Auf der Grundlage dieser Überlegungen kann zudem die Annahme nahe liegen, gerade die Pflicht zur praktisch wirksamen Durchführung des Gemeinschaftsrechts samt materiellen Grundrechtsregimes zwinge die Mitgliedstaaten, eine effektive Rechtsschutzmöglichkeit gegen nationale Rechtsakte mit Gemeinschaftsrechtsbezug zu eröffnen545.

III. Einwände Der so verstandene Ansatz, die rechtliche Grundlage für die Gewähr effektiven Rechtsschutzes in der Geltung der materiellen Grundrechte unter Zuhilfenahme des Prinzips des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts und des effet utile zu erblicken, hat angesichts der an die Union gestellten rechtsstaatlichen Anforderungen prima facie durchaus etwas für sich. Gleichwohl ist er bei näherer Betrachtung mit beachtlichen Schwächen behaftet. Sein Grundgedanke, namentlich dass den auf primärrechtlicher Ebene veranker542 Auch der Gerichtshof hat mittlerweile eindeutig zu verstehen gegeben, dass es sich bei dem Grundsatz vom Vorrang des Gemeinschaftsrechts um das bloße Postulat eines Anwendungsvorrangs handelt, vgl. EuGH, verb. Rsn. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307, Rn. 21 (IN.CO.GE.’90 u. a.); ferner unmissverständlich EuGH, Rs. C-198/01, Slg. 2003, I-8055, Rn. 48 (CIF). 543 Vgl. dazu Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 11. 544 s. im Einzelnen zur Bindung der Mitgliedstaaten an die unionalen Grundrechte unter B. II. 4. b) bb). 545 Dahingehend etwa Arndt/Haas, RIW 1989, 710, 716.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

ten materiellen Grundrechten eine adäquate verfahrensrechtliche Absicherung gegenüberstehen muss, um ihnen nicht die praktische Wirkung abzusprechen und sie damit zu einem bloßen Ausdruck sozialer Werte verkümmern zu lassen, ist offenkundig. Die Verfahrensrechte dienen insoweit nicht zuletzt auch der Definition abstrakter materieller Werte als echte einklagbare Rechte und Rechtsgüter. Da sich die Gewährung prozessualer Rechte ohne die über diese abzusichernden materiellen Rechte zudem ihres Sinns und Zwecks entledigt sähe, kann gewiss der Geltungsgrund für Erstere getreu der Maxime „ubi remedium ibi ius“546 in der Existenz Letzterer gesehen werden. Vor diesem Hintergrund ist mit den Worten von Jellinek der Anspruch auf Rechtsschutz in der Tat der „bedeutsamste gleichsam aus dem Zentrum des positiven Status entspringende Anspruch“547. Indes kommen aus einem näheren Blickwinkel doch Bedenken gegen eine allzu einseitige Akzessorietät des Rechts auf effektiven Rechtsschutz zum materiellen Grundrechtsschutz auf. Der hier erörterte Ansatz basiert nämlich auf der eher trivialen und einem simplen Rechtsgefühl entspringenden Logik, von der Existenz materieller Rechte auf die Geltung prozessualer Rechte zu schließen548, ohne hinreichende Erwägungen zur rechtlichen Eigenständigkeit Letzterer anzustellen, und sich danach zu fragen, ob und inwieweit Letzteren in der Rechtsordnung eine eigene, nicht allein in den materiellen Rechten liegende Rechtsgrundlage zugeordnet werden kann. Hiermit gehen zugleich die wesentlichen Schwachpunkte des Ansatzes einher. 1. Fehlende Prägung des Unionsrechtssystems durch common law Zu beachten gilt zunächst, dass die oben beschriebene Maxime traditionell in von common law geprägten Rechtssystemen eine größere Rolle spielt als in solchen Rechtsordnungen, die sowohl materielle als auch prozessuale Rechte schriftlich fixiert haben. Auch wenn dem Unionsrecht bislang ein eigener geschriebener und vollends rechtsverbindlicher Grundrechtskatalog fehlt, der die prätorisch gewachsene Konzeption der Grundrechtshermeneutik der EU im Einzelnen surrogieren könnte549, und der unionale Grundrechtsschutz daher im Wesentlichen noch immer im Bereich des Richterrechts angesiedelt ist, so überwiegen im europäischen Rechtssystem quantitativ mit allgemeinem Blick auf die gesamte PrimärrechtsordZu Deutsch etwa: „Wo ein Rechtsbehelf ist, ist auch ein Recht“. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 124. 548 Ähnlich Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 54. 549 Ausführlicher zur Charta der Grundrechte in Teil 3 unter A. Solange die Union keinen (verbindlichen) Grundrechtskatalog aufweist, ist eine partielle Nähe zu common law-Systemen aber nicht zu leugnen. 546 547

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nung und speziellem auf das EG-Verfahrensrecht doch die geschriebenen Rechtsquellen. Diese Präponderanz zugunsten geschriebener Rechtsregeln steht einem pauschalen, die Systembesonderheiten übergehenden Vergleich zu solchen Rechtsordnungen entgegen, die insbesondere verfassungsrechtlich in erster Linie von common law geprägt sind. 2. Generalklauselcharakter des Art. 10 EGV Auch der in Zusammenhang mit den materiellen Grundrechten nicht selten vorgebrachte Hinweis auf Art. 10 EGV vermag keinen überzeugenden Argumentationsstrang zu bilden550, dies nicht nur wegen der unsoliden normativen Basis einer solchen, zumeist Auffangfunktionen erfüllenden Generalklausel, sondern fernerhin weil sich der betreffende Begründungsansatz zu einseitig auf die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber der EG bezieht und damit keine genügende Erklärung für die allgemeine unionsrechtliche, mithin auch die Gemeinschaftsorgane bindende Geltung der justitiellen Rechte hergibt551. 3. Spezifische Einwände gegen die Argumentation Sacks wider die Eigenständigkeit der Rechtsschutzgarantie Darüber hinaus können der vornehmlich von Sack gegen die Stellung der Rechtsschutzgarantie als eigenständigem Grundrecht vorgebrachten Argumentation Einwände entgegen gehalten werden. Zunächst steht schon der Ansatz, das Gemeinschaftsrecht gebe für das Recht auf effektiven Rechtsschutz keine hinreichend ausgeformte prozessuale Anspruchsgrundlage her, auf einer tönernen Argumentationsbasis, da lange Zeit auch für die Herleitung der materiellen Grundrechte durch den EuGH keine derart ausdrückliche Grundlage zur Verfügung stand und zunächst auf prätorischer Rechtsfindung fußte. Möchte man die rechtliche Grundlage der betreffenden Rechtsherleitung ernsthaft in Frage stellen, müsste dies also rückblickend für das gesamte Grundrechtsregime geschehen, was offensichtlich nicht die Intention Sacks gewesen ist. Ebenfalls nicht überzeugen kann das Argument, der Anerkennung prozessualer Grundrechte auf Rechtsschutz stehe die abschließende Aufzäh550 In diesem Sinne ebenfalls kritisch Schermers/Pearson, in: FS Steindorff, S. 1359, 1360. 551 Zur entsprechenden Bindung der Gemeinschaftsgewalt etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 173. Zu dem Thema ausführlicher unter B. II. 4. b) aa).

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lung der Klagearten entgegen. Es liegt auf der Hand, dass die Rechtsschutzgarantie ihrerseits zunächst auf eine praktische Umsetzung durch die Hoheitsgewalt angewiesen ist und daher in ihrer leistungsrechtlichen Dimension die Schaffung eines angemessenen Rechtsschutzsystems unter formaler Ausgestaltung der Verfahrensrechte verlangt552. Auf einer zweiten Ebene beeinflusst sie sodann ihrerseits das bestehende System in Anwendung wie Auslegung553. Hingegen vermag die Garantie nicht aus sich heraus prozessuale Rechtsschutzmittel zu konstituieren, sondern nur deren Schaffung durch die zuständigen Hoheitsträger zu bedingen sowie das existente Verfahrensrecht zu beeinflussen. Ein Verstoß gegen das Enumerationsprinzip ist demgemäß schon nicht ersichtlich, zumal es keinen Unterschied machen kann, ob die Anwendung und Auslegung des Rechtsschutzsystems durch ein eigenständiges prozessuales Grundrecht oder durch eine uneigenständige prozessuale Schutzkomponente der materiellen Grundrechte überlagert wird. Auch diese Argumentation erweist sich folglich als nicht tragend. Ferner kann auch der Verweis auf bloße Zweifel an einem in seiner Reichweite dem Art. 19 Abs. 4 GG entsprechenden gemeinsamen Prozessgrundrechtsbestand in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nicht hinreichen. Sack übersieht hier, dass der Gerichtshof neben die Quelle der Verfassungstraditionen zugleich die einschlägigen Bestimmungen der EMRK gestellt hat, so dass der alleinige Bezug auf das Recht der Mitgliedstaaten zu kurz greifen muss. Überdies rekurriert der Gerichtshof bei der Herleitung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nur allgemein auf die Verfassungstraditionen und mit keinem Wort auf Art. 19 Abs. 4 GG. Angesichts der Eigenständigkeit der allgemeinen Rechtsgrundsätze braucht er dies auch nicht, da sich Inhalt und Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Verfah552 Dahingehende Ausführungen etwa bei EGMR zu Art. 6 § 1 EMRK: EGMR, Urt. v. 8. Juli 1986 (Große Kammer), Beschw.Nrn. 9006/80, 9262/81, 9263/81, 9265/81, 9266/81, 9313/81 u. 9405/81, § 194 (Lithgow u. a./Vereinigtes Königreich); ebenso EGMR, Urteil v. 20. Februar 2003, Beschw. Nr. 47316/99, § 59 (Forrer-Niedenthal/Deutschland); ähnlich das BVerfG, nach welchem die Prozessordnungen der Sicherung der garantierten Effektivität des Rechtsschutzes dienen, s. BVerfGE 96, 27, 39 und BVerfGE 94, 166, 213; in diesem Sinne auch Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 87, Fn. 26; vgl. im Übrigen zur leistungsrechtlichen Dimension des Rechts auf Rechtsschutz schon EGMR, Urt. v. 9. Oktober 1979 (Kammer), Beschw. Nr. 6289/73, § 26 (Airey/Irland); ausführlicher dazu Jarass, EU-Grundrechte, § 40, Rn. 14; vgl. zu den Verfahrensgrundrechten als Rechte auf Schutz auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 446 u. 410 ff. 553 Zu der objektiven Funktion der Grundrechte schon oben in Teil 1 unter A. II. 4. d) aa) (2); s. im Speziellen zur Wechselwirkung des Rechts auf Rechtsschutz und dem Prozessrecht unten in Teil 4 unter B. I.

A. Verfahrensrechte zur Anerkennung materieller Grundrechte

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rensrechte nicht penibel nach den Vorgaben einer einzigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung zu richten haben554 und nicht richten können. Schließlich geht auch der Hinweis auf die vermeintlich einschlägige Rechtsprechung des EuGH fehl. Sack scheint hier von einer grundrechtlichen Natur der Rechtsschutzgarantie auf die Grenzenlosigkeit ihrer Gewähr schließen zu wollen. Dass die Rechtsschutzgewähr, wie von ihm angeführt, nicht allumfassend sein kann, ergibt sich aber aus den notwendigen Schranken, die einem jedem Grundrecht anhaften, mögen diese ausdrücklich vorbehalten oder verfassungsimmanent sein. Auf die tatsächlich die Fragen der Rechtsnatur der Rechtsschutzgarantie betreffende Rechtsprechung des EuGH geht diese Argumentation indessen nicht ein. Die Reihe der von Sack gegen eine eigenständige Grundrechtsqualität des Rechts auf Rechtsschutz vorgebrachten Argumente ist damit nicht nur nicht ausreichend gewichtig, um überzeugen zu können, sondern außerdem von erheblichen Stichhaltigkeitsdefiziten geprägt, so dass sie insgesamt nicht zu verfangen vermag. 4. Relative und reziproke Abhängigkeit zwischen materiellen und prozessualen Grundrechten Darüber hinaus lässt sich auch die These zur strengen Abhängigkeit zwischen materiellen und prozessualen Grundrechten nicht vollumfänglich verifizieren, da die einen nicht zwingend zu den anderen führen und beide Seiten nicht immer in reziproker Dependenz stehen müssen. So ist in den unterschiedlichsten Rechtsregimes nationaler, völkerrechtlicher oder unionsrechtlicher Natur mitunter festzustellen, dass einer materiellen Rechtsgewähr kein seiner Durchsetzbarkeit dienendes Prozesswerkzeug zur Seite steht, materielle Rechtsgeltung und prozessualer Rechtsschutz also auseinander fallen können. Bezeichnend ist insoweit abermals die Diskrepanz zwischen der materiellen Grundrechtsgewährung und ihrer erheblich eingeschränkten gerichtlichen Durchsetzbarkeit in der französischen Rechtsordnung555. Soweit das allgemeine oder regionale Völkerrecht auf unterschiedlichster Rechtsquellenebene subjektive Menschenrechte einräumt, ist der Einzelne hier – unter besonderer Ausnahme der EMRK und des IPbürgR 554 Im Lichte der Solange-Rechtsprechung des BVerfG ist dabei aus Sicht der deutschen Rechtsordnung aber ein mit dem innerstaatlichen Schutz im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz auf der gemeinschaftsrechtlichen Ebene zu gewährleisten; vgl. nur BVerfGE 73, 339, 377 ff. (Solange II); anders noch bei BVerfGE 37, 271, 285 (Solange I), wo das BVerfG ein dem Grundrechtskatalog des GG adäquates Grundrechtsregime verlangte. 555 Dazu bereits in Teil 1 unter A. II. 1. a).

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mit ihren jeweiligen Individualbeschwerdemöglichkeiten – nicht selten auf die effektive Überwachung der Einhaltung der einzelnen Menschenrechtsverbürgungen durch speziell eingerichtete Gremien556 oder auf eine Rechtsdurchsetzung durch den eigenen Staat über diplomatischen oder konsularischen Schutz557 angewiesen. In unionsspezifischer Hinsicht sei hier außerdem auf die aus den Art. 35 und 46 EUV folgenden Einschränkungen der gerichtlichen Grundrechtskontrollkompetenzen in den intergouvernementalen Bereichen des Unionsrechts hingewiesen558. Gegen ein entsprechend enges Abhängigkeitsband zwischen materiellen und prozessualen Grundrechten spricht zudem der Umstand, dass auch in jenen Fällen ein Bedürfnis für die Gewährung hinreichenden Rechtsschutzes besteht, in denen nicht der Schutz grundrechtlicher Werte, sondern anderweitiger subjektiver Rechte primärrechtlichen oder sekundärrechtlichen Rangs im Raum steht559. Das gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzsystem muss auch dort in Anspruch genommen werden können und einen Anspruch auf effektiven Rechtsschutz vermitteln, um sämtliche subjektiven Rechte effektiv zu gewährleisten und nicht praktisch leer laufen zu lassen560. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz darf sich demnach nicht in effektivem Grundrechtsschutz erschöpfen. Es kann einerseits zwar nicht aus dem Zusammenhang mit der Geltendmachung einer subjektiven Rechtsposition gelöst werden, da es einer prozessualen Rechtsdurchsetzung nur bedarf, wo materielle Rechte bestehen, so dass in Relation zu dem zu schützenden Recht durchaus von einem akzessorischen Charaktermerkmal und mithin von einer steten Relativität des hier in Frage stehenden Rechts gesprochen werden kann561. Vor dem Hintergrund der Notwendigkeit einer praktischen Wirksamkeit materieller Rechte erscheint aber neben der Maxime „Ubi remedium ibi 556 Erwähnt seien hier folgende UN-Vertragsorgane: der UN-Menschenrechtsausschuss, der UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, der UN-Ausschuss für die Beseitigung von Rassendiskriminierung, der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau, der UN-Ausschuss für die Rechte der Kinder und der UN-Ausschuss gegen Folter. 557 Zum diplomatischen und konsularischen Schutz der Unionsbürger durch die EU-Mitgliedstaaten s. Art. 20 EGV und Beschl. Nr. 95/553/EG vom 19. Dezember 1995 (ABl. EG L 314/73 vom 28. Dezember 1995). 558 s. zu diesem Thema näher Pechstein, EuR 1999, 1 ff. 559 Eine Übersicht über die primärrechtlichen subjektiv-öffentlichen Rechte des Einzelnen geben Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263 ff.; s. dazu im Übrigen Schilling, EuGRZ, 2000, 3 ff. 560 Dass dies auch der EuGH so sieht, ergibt sich schon aus der Rechtssache EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 19 (Johnston), in der es im Ausgangspunkt um ein sekundärrechtlich verbrieftes Recht ging. 561 So etwa auch Beutler, in Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 180.

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ius“ auch die ihrer syntaktischen Umkehrung entsprechende Regel „ubi ius ibi remedium“ zutreffend562, zählt die Gewähr effektiven Gerichtsschutzes doch gleichsam zu den Rechtsprinzipien, die ihrerseits den Grundrechten zugrunde liegen563. Das akzessorische Moment des Rechts auf effektiven Rechtsschutz beschreibt folglich nur eine Seite des reziproken Geltungs-/ Wirkungsverhältnisses von materiellen und prozessualen Rechten. Weder besteht eine streng einseitige Abhängigkeit des Rechts auf effektiven Rechtsschutz von den materiellen Grundrechten, sondern insoweit vielmehr ein wechselseitiges Verhältnis, noch ist nach dem bereits Gesagten die Funktion der prozessualen Rechte in Anbetracht der Existenz auch anderer schutzwürdiger subjektiver, nicht im Range von Grundrechten stehender Rechte ausschließlich auf jene zurückzuführen. All dies spricht wesentlich gegen den dogmatischen Ansatz, die Quelle des Rechts auf effektiven Rechtsschutz in den materiellen Grundrechten festzumachen. 5. Differenzierung der Rechtsquellen nach dem Schutzobjekt oder einheitliche Quellenhermeneutik der Rechtsschutzgarantie? In Konsequenz hierzu erscheint es aber weiterhin erwägenswert, die Herleitung mit dem in casu in Frage stehenden materiellen Recht in unmittelbaren Zusammenhang zu setzen und die Rechtsquellen des Rechts auf effektiven Rechtsschutz so in zwei Sphären zu teilen. Dient das prozessuale Recht danach im konkreten Fall dem Schutz der effektiven Durchsetzung von Grundrechten, könnte auch seine Geltung aus diesen herzuleiten sein. Hätte seine Heranziehung dementgegen den prozessualen Schutz eines einfachen subjektiven Rechts vor Augen, so wäre es hermeneutisch allein an dieses zu knüpfen. Unter besonderer Betonung der Abhängigkeit der prozessualen Rechte zu den jeweils durchzusetzenden materiellen Rechten erscheint eine solch differenzierende Betrachtung der Quellenhermeneutik des Rechts auf effektiven Rechtsschutz auf den ersten Blick durchaus denkbar. In stringenter Konsequenz dieses Ansatzes müsste es aber sodann auch den Rang des jeweiligen Rechts teilen, an das seine Geltung in einem gegebenen Fall anknüpft. Unter dieser Prämisse nähme die Rechtsschutzgarantie den Rang eines prozessualen Grundrechts jedoch nur dann ein, wenn sie in einem gegebenen Fall gerade dem Schutz materieller Grundrechte diente. In allen anderen Fällen wäre sie in der Folge hingegen bloß mit dem Rang eines einfachen subjektiven Rechts ausgestattet. Die daraus resultierende Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Garantien mit unterschiedlichem Rang und mit zugleich variierender Bedeutung würde indessen den 562 563

Zu dieser Grundsatzformulierung Prieß, EuZW 1995, 793 f. Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 4.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

Umstand übergehen, dass es im Grundsatz stets um den gleichgerichteten Sinn und Zweck jener Rechtsgewähr geht, namentlich in tatsächlicher Hinsicht eine wirksame Möglichkeit der Rechtsdurchsetzung zu gewährleisten. Das Recht auf Rechtsschutz ist im Hinblick auf seine überragende Bedeutung und gleichgerichtete Grundfunktion in einer rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Rechtsordnung564 aber als einheitliches Recht im Range der Grundrechte zu behandeln und sollte weder hinsichtlich seiner Quellen noch in Bezug auf die Tragweite des vermittelten Schutzes in unterschiedliche Sphären unterteilt werden. Zutreffend hat demzufolge auch der EuGH das Rechtsschutzgebot durchgehend als eigenständiges und einheitliches Element der allgemeinen Rechtsgrundsätze angesehen, ohne insofern zu differenzieren, ob das zu schützende materielle Recht zu den Grundrechten gehört oder aus anderen Regelungen des Primär- oder Sekundärrechts folgt565. 6. Notwendigkeit der Zuordnung einer eigenständigen Rechtsgrundlage Selbst wenn man nun zuletzt die Herleitung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz einerseits allein auf die Existenz materieller Grundrechte stützen und zugleich seinen Anwendungsbereich auch auf einfache subjektive Rechte erstrecken würde, sähe sich jenes Recht in seiner Bedeutung auch und gerade gegenüber jener der materiellen Grundrechte ohne hinreichenden Grund merklich untergeordnet, wenn ihm eine bloß dienende Funktion zugesprochen würde. Da sich in einem rechtsstaatlich geprägten Rechtssystem beide Seiten bedingen, würde eine solche Sichtweise seiner essentiellen tatsächlichen Signifikanz im unionalen Rechtssystem nicht gerecht. Demnach darf für die Frage nach der oder den Rechtsgrundlagen nicht der Blick auf das zu schützende Recht maßgeblich sein. Ebenso wie die materiellen 564 Welche subjektive Bedeutung die Unionsbürger dem Recht auf effektiven Rechtsschutz beimessen, manifestiert sich eindrucksvoll anhand des Eurobarometers, welches im Jahre 1997 feststellte, dass die weit überwiegende Mehrzahl, nämlich 80% der Individualrechtsträger, den prozessualen Rechten eine höhere Bedeutung einräumten als beispielsweise dem allgemeinen Wahlrecht; vgl. dazu Eurobarometer OP Nr. 47 (1997), S. 1; dazu auch Harlow, Access to Justice, S. 187. 565 s. einerseits EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 (Johnston) im Zusammenhang mit dem auf der Grundlage der RL 76/207/EWG geltend gemachten Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau; s. andererseits EuGH, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097, Rn. 14 (Unectef/Heylens) im Zusammenhang mit dem Grundrecht auf freien Zugang zur Beschäftigung; zur Herleitung von Rechtsschutzanforderungen, namentlich dem Bedürfnis der Bejahung der Parteifähigkeit eines Unternehmens aus der Niederlassungsfreiheit EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Rn. 82 u. 92 ff. (Überseering).

A. Verfahrensrechte zur Anerkennung materieller Grundrechte

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Grundrechte bildet die Rechtsschutzgarantie einen Eckpfeiler der in Art. 6 Abs. 1 EUV ausdrücklich postulierten Rechtsstaatlichkeit der Union566 und verdient demgemäß eine eigene und ebenso solide rechtliche Basis.

IV. Zwischenergebnis Der Anspruch einer eigenständigen Rechtsordnung an sich selbst, eine effektive Grundrechtsgewähr parat zu halten, erfordert nicht nur die Anerkennung materieller Individualrechte, sondern zugleich deren praktische Absicherung in dem Rechtssystem. Die Simultaneität der Geltung von materiellen Grundrechten und Verfahrensgrundrechten bildet folglich ein rechtsstaatliches Junktim, wobei Erstere denklogisch vorgeschaltet ist und insoweit die Erklärung für die Notwendigkeit der Gewährung prozessualer Geschwister bietet. Die materiellen Grundrechte sind aber in Anbetracht der Existenz weiterer schutzwürdiger subjektiver Rechte in der Rechtsordnung nicht allein der Grund der Anerkennung paralleler Verfahrensrechte, zumal es auch dogmatisch weder zwingend noch sinnvoll erscheint, den Geltungsgrund eines Rechts wie dem auf effektiven Rechtsschutz mit seiner rechtlichen Quelle gleichzusetzen. Vielmehr speist sich Ersterer aus dem Sinn und Zweck der Gewährung eines Rechts und ist daher in der Regel der Antrieb für den jeweils zuständigen Normschöpfer, die theoretische Idee der Anerkennung eines Wertes oder der Gewährung eines Rechts in die Form einer rechtlich verbindlichen Norm zu gießen. Erst diese kann die eigentliche Rechtsgeltung in dem System verwirklichen und infolgedessen die veritable Rechtsquelle des betreffenden Rechts oder Wertes bilden. In diesem Sinne besteht auch hinsichtlich des Rechts auf effektiven Rechtsschutz kein erkennbares Bedürfnis, seinen Geltungsgrund zu einer echten Rechtsquelle zu befördern, dies um so weniger, wenn das Unionsrecht selbst eine direkte Herleitung seiner Anerkennung erlaubt. In Konsequenz zu der oben gewonnenen Auffassung, dass auch die Rechtsschutzgarantie zu den Grundrechten zählt und nicht allein objektives Rechtsgebot ist, gerät derzeit – in Abwesenheit einer formalen Verbindlichkeit der Grundrechte-Charta567 – die Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EUV in das zentrale Blickfeld der Untersuchungen, welche im Folgenden einer näheren Betrachtung bedarf.

566 Vgl. Calliess, NJW 2002, 3577; in diesem Sinne auch Nicolaysen, in: Nowak/ Cremer, Individualrechtsschutz, S. 17. 567 Hierzu ausführlicher unter B. III. 3. a).

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

B. Art. 6 Abs. 2 EUV: Grundlage der unionsrechtlichen Grundrechtsbindung und der Grundrechtsquellensystematik Seit der Gründung der Europäischen Union durch den am 1. November 1993 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht568 enthielt das geschriebene Primärrecht erstmals569 selbst mit Art. F Abs. 2 EUV570 eine ausdrückliche Regelung zur Grundrechtsgeltung in der EU. Nach der durch den Vertrag von Amsterdam konsolidierten Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV „achtet“ die Union die Grundrechte, „wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus dem gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“. Auf der Grundlage dieser Regelung könnte eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Gewährung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz zum einen direkt auf Art. 6 Abs. 2 EUV und zum anderen mittelbar oder auch unmittelbar auf die in der Norm genannten Quellen, namentlich die EMRK sowie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten gestützt werden. Die Bestimmung der zutreffenden unter den in Betracht kommenden Quellen erfordert indes zunächst eine genaue Analyse der Hermeneutik571 des Art. 6 Abs. 2 EUV dahingehend, ob der primärrechtlichen Vorschrift überhaupt eine rechtsverbindliche Wirkung zukommt und welchen materiellen Regelungsgehalt sie gegebenenfalls hat. Angesichts seiner Rechtsnatur 568 Vertrag über die Europäische Union (ABl. EG C 191 vom 29. Juli 1992). Die Bevollmächtigten der Mitgliedstaaten haben den Vertrag zur Gründung der EU bereits am 7. Februar 1992 unterzeichnet, jedoch zog sich seine Ratifizierung aufgrund des zunächst gescheiterten (ersten) Referendums in Dänemark sowie wegen der Erhebung zweier – letztlich verworfenen – Bundesverfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz in Deutschland (vgl. BVerfGE 89, 155 ff. – Maastricht-Urteil) bis zum Herbst des Jahres 1993 hin. 569 Außer Betracht bleibt hier das Bekenntnis zum Grundrechtsschutz in der Präambel der EEA (zu dieser etwa Wetter, Die Grundrechtscharta des EuGH, S. 5). 570 Mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam (ABl. EG C 340 vom 10. November 1997) am 1. Mai 1999 geändert in Art. 6 Abs. 2 EUV. 571 s. zum Begriff der Hermeneutik in juristischer Anwendung Kriele, Juristische Hermeneutik am Beispiel der „Mephisto“-Entscheidung, in: Fuhrmann/Jauß/Pannenberg, S. 149, 151 f., der darauf hinweist, dass es sich hierbei um eine applikative Hermeneutik handele, die nicht nur auf das „Verstehen des Gesetzes“ gerichtet sei, sondern gerade auch auf ein verantwortliches Mit- und Weiterdenken des Rechts. s. auch zu einer „hermeneutischen Aufklärung“ der Hermeneutik die Überlegungen von Marquard, Frage nach der Frage, auf die die Hermeneutik eine Antwort ist, in: Fuhrmann/Jauß/Pannenberg, S. 581 ff.

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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ist die Herleitung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz an der Beantwortung dieser Fragen maßgeblich auszurichten. Die bewusst an die vorangegangene Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit zum Grundrechtsschutz angelehnte Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV wirft hinsichtlich ihrer Qualität als rechtlicher Grundlage der Grundrechte jedoch nicht ungewichtige Probleme auf. Nicht einheitlich werden vor allem die Fragen nach der rechtlichen Bedeutung der unionsrechtlichen Norm für die Grundrechtsbindung im Allgemeinen sowie für die Quellensystematik der einzelnen Grundrechtsverpflichtungen im Besonderen beantwortet572. Diesen Fragen soll daher nach einer kurzen Darstellung der zu ihrer Beantwortung einzusetzenden Rechtsmethodik der Norminterpretation vertieft nachgegangen werden.

I. Die Grundsätze der Normauslegung im primären Unionsrecht Die Analyse einer Norm erfolgt im Wege der abstrakten Ermittlung von Bedeutung und Inhalt der Regelung und mithin durch Normauslegung573. Gerade im Unionsrecht war und ist die Rechtsinterpretationsmethodik des EuGH für die Entwicklung des gesamten Rechtssystems und insbesondere des Grundrechtsregimes von ganz herausragender Bedeutung. Die zu beachtenden Besonderheiten betreffen Fragen zur Konzeption der Auslegungskompetenzen wie auch zu den Auslegungsgrundsätzen im Allgemeinen und den einzelnen Auslegungsmethoden im Speziellen574. 1. Allgemeines zur unionalen Norminterpretatorik Der EuGH kann für sich im Bereich des Unionsrechts ausweislich des Art. 292 EGV i. V. m. den Art. 220 ff. EGV ein Auslegungsmonopol in Anspruch nehmen575. Zugleich legen auch die mitgliedstaatlichen Gerichte das im Einzelfall einschlägige Primär- oder Sekundärrecht vor einer Anwendung aus. Der Exklusivanspruch des EuGH enthält demnach nur eine Letztverbindlichkeit seiner Auslegungsergebnisse für die mitgliedstaatlichen sowie für die unionsrechtlichen Einrichtungen. Wenn die unionsrechtliche Mes. zu Letzterem im Einzelnen unter III. 1. Vgl. nur Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 220, Rn. 21. 574 Den Gegenstand der folgenden Darstellung bilden in erster Linie die Besonderheiten der Auslegung des europäischen Primärrechts. 575 s. EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079, Rn. 38 (EWR I); s. aus der Lit. etwa Schroeder, JuS 2004, 180, 181; ferner Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 27 ff. 572 573

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

thodik der Auslegung dabei grundsätzlich den in allen mitgliedstaatlichen Rechtssystemen bekannten Auslegungskanon der grammatikalischen, systematischen und teleologischen Auslegung umfasst576, gehört zu ihr darüber hinaus auch das Werkzeug der so genannten wertenden Rechtsvergleichung, welches als selbständiges Instrument577 nicht nur der Findung existierenden Rechts, sondern auch der prätorischen Rechtsschöpfung dient578 und im Sinne der deutschen Methodenlehre579 vorwiegend in den Bereich richterlicher Rechtsfortbildung zu verorten ist580. Indem der EuGH jene rechtsschöpferische Tätigkeit als Auslegung des EU-Rechts auffasst581, lehnt er sich insoweit wohl an die französische Methodenlehre an582, in welcher die Grenzen zwischen der Füllung planwidriger Unvollständigkeiten des Rechts, der Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe und der richterlichen Rechtsschöpfung als fließend und allesamt zu dem Begriff der „interprétation“ gehörend verstanden werden583.

576 Vgl. schon EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 27 (Van Gend & Loos); ferner EuGH, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215, Rn. 22 (Continental Can); s. im Einzelnen auch Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 12 ff. 577 A. A. Schroeder, JuS 2004, 180, 184, der hierin nur ein „Hilfsmittel“ sieht. 578 Vgl. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 305 ff.; fernerhin Bleckmann, in FS Börner, S. 29 ff.; Beutler, in Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. F EUV, Rn. 66. 579 Dazu näher Bydlinski, Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 472 ff. 580 Dazu auch Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 38 ff.; s. ferner Streinz, Europarecht, Rn. 567, der die Differenzierung insofern als „fragwürdig“ bezeichnet. Schroeder, JuS 2004, 180, 184, hält die Unterscheidung zwischen der Findung vorhandenen und Erfindung neuen Rechts gar für willkürlich; a. A. insoweit wohl Mittmann, Rechtsfortbildung durch den EUGH durch den EuGH, S. 238, der stringent an der begrifflichen Unterscheidung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung festhält; ebenfalls strikt differenzierend Borchardt, Auslegung und Rechtsfortbildung, in: Schulze/Zuleeg, Europarecht, § 15, Rn. 2 ff. 581 Beispiele hierfür bilden vor allem die Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien [vgl. EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629, Rn. 18 (Ratti)], zur verschuldensunabhängigen Staatshaftung [vgl. EuGH, verb. Rsn. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich u. a.)] und zum Klagerecht gegen Handlungen des Europäischen Parlaments entgegen dem Wortlaut des damaligen Art. 173 EWG-Vertrag [vgl. EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 25 (Les Verts/ Parlament)]. Vgl. dazu auch Everling, JZ 2000, 217, 218; kritisch zu dieser methodischen Verschmelzung etwa Grundmann/Riesenhuber, JuS 2001, 529, 535. 582 So etwa Schweitzer/Hummer, Europarecht, Rn. 451. 583 Vgl. dazu Constantinesco, Das Recht der EG I, Rn. 718; s. auch zur begrenzten Auslegungsmöglichkeit von gemeinschaftsrechtlichen Befugnisnormen aufgrund des Prinzips der beschränkten Einzelermächtigung BVerfGE 89, 155, 210 (Maastricht).

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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2. Zur Anwendbarkeit der Wiener Vertragsrechtskonvention Da einerseits der EG- wie auch der EU-Vertrag völkerrechtliche Verträge bilden584 und andererseits vornehmlich Ersterer zugleich die Besonderheit aufweist, eine eigenständige und völlig „neue Rechtsordnung des Völkerrechts“585, mit anderen Worten ein autonomes Rechtsquellensystem begründet zu haben586, erscheint klärungsbedürftig, ob aus jener völkerrechtlichen Qualität auch die Anwendbarkeit der Regelungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge587 betreffend die Auslegung von völkerrechtlichen Verträgen folgt588 oder ob dem vielmehr die Eigenständigkeit der europäischen Rechtsordnung entgegensteht589. a) Betrachtungen aus der Perspektive der WVK Aus der Sicht der WVK bereitet die Anwendung ihrer Interpretationsregeln zunächst keine wesentlichen Probleme. Denn gemäß Art. 5 WVK finden diese auf jeden völkerrechtlichen Vertrag Anwendung, der die Gründung einer Internationalen Organisation zum Gegenstand hat oder im Rahmen einer solchen angenommen wurde, mithin ratione materiae auch auf den EGV590. Zwar entfaltet die WVK ausweislich ihres Art. 4 keine Rückwirkung auf vor ihrem Inkrafttreten geschlossene Verträge, so dass eine unmittelbare Anwendung auf den EGV ratione tempore ausscheidet. Zahlreiche Regelungen der WVK und so insbesondere die Auslegungsregeln derselben gelten jedoch nach ganz herrschender Meinung als kodifiziertes 584 Dazu näher Klein, Die Internationalen und supranationalen Organisationen, in: Vitzthum, Völkerrecht, S. 245, 262, Rn. 34 ff., hinsichtlich des EGV so auch ausdrücklich EuGH, Gutachten 1/91, EWR I, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21. 585 EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 25 (Van Gend & Loos); ähnlich EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 (Costa/ENEL), in welcher der Gerichtshof von einer „eigenen Rechtsordnung“ spricht; s. dazu auch die entsprechenden Formulierungen des BVerfG, insbesondere BVerfGE 22, 293, 296 und BVerfGE 31, 145, 173. 586 s. dazu auch die bezeichnenden Worte von Monnet, Erinnerungen eines Europäers, S. 661: „Was wir durch das Handeln der Gemeinschaft vorbereiten, hat vermutlich keinen Vorgänger.“ 587 „WVK“ vom 23. Mai 1969, deutsche Fundstelle: BGBl. 1985 II 926, Sartorius II Nr. 320. Die WVK ist am 27. Januar 1980 in Kraft getreten, für die Bundesrepublik jedoch erst am 20. August 1987 (Bek. v. 26. November 1987, BGBl. II 757). 588 So Ipsen, Völkerrecht, S. 137 u. 503; ähnlich, aber die Berücksichtigung der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts hervorhebend Klein, Die Internationalen und supranationalen Organisationen, in: Vitzthum, Völkerrecht, S. 245, 263, Rn. 39. 589 So etwa Schroeder, JuS 2004, 180, 181. 590 Zum Wesen der EG als inter- und supranationale Organisation BVerfG, NJW 1993, 3047 (Leitsatz 7).

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Völkergewohnheitsrecht auch für vor dem Inkrafttreten dieses Abkommens abgeschlossene völkerrechtliche Verträge591. Das Völkergewohnheitsrecht ist seinerseits nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ebenfalls Bestandteil des Gemeinschaftsrechts592. Auf den EUV können hingegen die Regelungen der Art. 31 ff. WVK gemäß Art. 1 WVK ratione materiae sowie ratione tempore grundsätzlich direkte Anwendung finden. b) Betrachtungen aus der Perspektive des Unionsrechts Aus dem Blickwinkel des Unionsrechts bedarf es indes einer differenzierteren Betrachtung. Grundsätzlich bestehen gegen die Anwendung der völkerrechtlichen Vertragsauslegungsregeln auf EUV und EGV keine durchgreifenden Bedenken. Der sich im Wesentlichen nach Wortlaut, Systematik, Historie und Teleologie inklusive Effizienzgebot sowie Treu und Glauben richtende Auslegungskanon der Art. 31 bis 33 WVK korreliert weitgehend mit der auf von Savigny zurückgehenden klassischen Auslegungsmethodik593 und folglich auch mit jenen des nationalen Rechts594, so dass die relative Nähe des Gemeinschaftsrechts zum mitgliedstaatlichen und dabei vor allem zum Verfassungsrecht einer Anwendung der Regeln der WVK nicht im Wege steht. Vielmehr erscheinen die Auslegungsregeln des Völkervertragsrechts damit im Grunde auch im Bereich der Interpretation des Europarechts nicht nur brauchbar595, sondern nützlich. Mag dies auch aus dem unionalen Blickwinkel zunächst für eine uneingeschränkte Anwendbarkeit der WVK auf das geschriebene europäische Primärrecht sprechen, so gilt gleichermaßen zu bedenken, dass die Auslegungskriterien schon im Interesse der einheitlichen Anwendung der Rechtsordnung nicht stringent den – teils auch differierenden596 – Aus591 Vgl. BVerfGE 4, 157, 168; E 40, 141 167; E 46, 342, 361 f.; vgl. aus der Lit. Ipsen, Völkerrecht, S. 115 u. 147; ferner Ress, Die Bedeutung der nachfolgenden Praxis für die Vertragsinterpretation nach der Wiener Vertragsrechtskonvention, in: Bieber/Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S. 49, 51. 592 Vgl. EuGH, Rs. C-286/90, Slg. 1992, 6019, Rn. 9 f. (Poulsen) sowie EuGH, Rs. C-162/96, Slg. 1998, 3655, Rn. 45 f. (Racke). Zur Einbeziehung eines völkerrechtlichen Grundsatzes in die rechtlichen Erwägungen s. bereits EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 21/23 (Van Duyn); ausführlicher zum Ganzen Epiney, EuZW 1999, 5 ff. Zur völkerrechtskonformen Auslegung des primären Gemeinschaftsrechts näher Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 120 f. 593 s. v. Savigny, System des heutigen Römischen Rechts I, § 33. 594 Vgl. dazu Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtlehre, S. 474; im Einzelnen zu den Auslegungsregeln im Völkervertragsrecht Köck, ZÖR 1998, 217 ff.; zur Frage der Anwendung der WVK auf die EMRK in der Rechtsprechung des EGMR Villiger, in: FS Ress, S. 317 ff., insb. S. 324 ff. 595 So Bernhardt, in: FS Kutscher, S. 19, 21.

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legungsmethoden der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen unterworfen sein können. Um darüber hinaus auch der Autonomie der wesentliche Unterschiede zu anderen Internationalen Organisationen aufweisenden europäischen Rechtsordnung hinreichend Rechnung zu tragen597, bedarf es aus der Sicht des Unionsrechts einer rechtsystemspezifischen Ausprägung der Norminterpretationsmethoden der WVK. Dies muss vor allem für die Regelung des Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK gelten, nach welcher eine spätere einheitliche Praxis der Vertragsparteien bei der Auslegung des völkerrechtlichen Abkommens zu berücksichtigen ist598. Voranzuschicken ist in diesem Zusammenhang, dass die Regelung der WVK dem Norminterpreten die Einbeziehung einer späteren Übung in den Auslegungsprozess nicht anheim stellt, sondern diese gebietet599. Da das europäische Primärrecht nach Art. 10 EGV die Mitgliedstaaten in rechtlich durchsetzbarer Weise600 an die EG-Rechtsordnung bindet, erschiene es wenig einleuchtend, andererseits der Gesamtheit der Mitgliedstaaten unter Umgehung des im wesentlichen in Art. 48 EUV geregelten Vertragsänderungsverfahren und vor allem entgegen dem in Art. 220 EGV ausdrücklich niedergelegten Auslegungsmonopol des EuGH die Möglichkeit zuzusprechen, durch eine gemeinsame Übung eine verbindliche Auslegung des Primärrechts zu begründen601. Dies gilt umso mehr, als durch eine auf späterer mitgliedstaatlicher Übung beruhende Änderung des Vertragsinhalts bereits übertragene und somit der Disposition der Mitgliedstaaten entzogene Kompetenzen der Union tangiert werden könnten. Aus dem Fehlen eines ausdrücklich widersprechenden Verhaltens der betroffenen Or596 s. insoweit die vorstehenden Ausführungen zur Terminologie der Auslegung in Abgrenzung zur Rechtsschöpfung in Deutschland und Frankreich unter B. I. 1. 597 Zu nennen ist hier etwa das in Art. 6 Abs. 1 EUV fixierte Charakteristikum der Rechtsstaatlichkeit der EU (s. zu diesem Thema etwa näher Basedow, RabelsZ 2002, 203 ff.; Götz, in: FS Ress, S. 485 ff.; Pernice, EuR 1996, 27 ff.). 598 Hierzu schon Sir Waldock, Third Report to the ILC, YBILC 1964 II, S. 9 ff., § 24. 599 s. nur den Wortlaut im Französischen („il sera tenu compte“) und im Englischen („shall be taken into account“). Vgl. dazu auch schon Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 126; so auch Ress, Die Bedeutung der nachfolgenden Praxis für die Vertragsinterpretation nach der Winder Vertragsrechtskonvention, in: Bieber/Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S. 49, 54; ebenso und diese Wertung auf die spätere Praxis einer Internationalen Organisation ausweitend Klein, Vertragsauslegung und „spätere Praxis“ Internationaler Organisationen, in: Bieber/Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S. 101, 106 f. 600 Der Durchsetzung dienen insofern insbesondere das Vertragsverletzungsverfahren nach den Art. 226, 227 EGV, die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV, die Untätigkeitsklage nach Art. 232 EGV sowie das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV. 601 Hierauf zu Recht hinweisend Schroeder, JuS 2004, 180, 181.

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gane auf ihre konkludente Akquieszens602 und hierüber auf die Existenz eines rechtserheblichen Organwillens zu schließen, erscheint schon im Hinblick darauf, dass eine spätere Übung zumeist nicht plötzlich, sondern oft nur schrittweise erkennbar wird und die nach Art. 48 EUV am Vertragsänderungsverfahren beteiligten Organe nicht mit einer Änderung „durch die Hintertür“ rechnen müssen, mehr als zweifelhaft603. Maßgeblich muss zudem Berücksichtigung finden, dass die Mitgliedstaaten bewusst und freiwillig über die Möglichkeit einer Einflussnahme auf die Rechtsauslegung disponierten, als sie mit den Art. 220 ff. EGV einen zur Sicherung der Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung des Vertrages allein berufenen Gerichtshof geschaffen haben604. Soweit ersichtlich hat demgemäß auch der EuGH zu keiner Zeit im Zuge eines Auslegungsvorgangs auf eine spätere Übung der Mitgliedstaaten im Sinne des Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK abgestellt. Vielmehr hat er eine mitgliedstaatliche Praxis allenfalls als relevantes Indiz auf der Suche nach einem gemeinsamen Willen der Normschöpfer im Rahmen der genetischen Auslegung herangezogen605, was zugleich bezeugt, dass der Gerichtshof die Praxis nicht als eigenständiges Auslegungskriterium gelten lässt, zumal man die Wirkung einer solchen auch schwerlich auf die bloße Feststellung des historischen Willens der Vertragsparteien beschränken könnte606. So hat der EuGH auch nur selten nach der teleologischen und systematischen Auslegung und dabei allenfalls „im Übrigen“ auf die Prägung einer weitgehend gängigen Praxis hingewiesen607. Ebenso hat der Gerichtshof klargestellt, dass sich gerade die Auslegung eines dynamischen, auf die jeweils aktuelle gesellschaftliche Entwicklung anzuwendenden Rechtsbegriffs einer unmittelbar geltenden Gemeinschaftsbestimmung nicht an der Lage eines einzigen Mitgliedstaats, sondern nur an der Situation in der gesamten Gemeinschaft orientieren kann608. Ähnlich und angelehnt an diese Ausführungen liegt es konsequenterweise auch hinsichtlich der Vorgaben des Art. 31 Abs. 3 lit. a) WVK, nach welchem jede spätere Übereinkunft der Gesamtheit der Vertragsstaaten über die Auslegung oder Anwendung einer Vertragsbestimmung zu berücksichtigen ist. Denn auch hiermit wäre eine Umgehung der VoraussetZum Begriff näher Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 276 ff. Insofern ebenfalls kritisch Klein, Vertragsauslegung und „spätere Praxis“ Internationaler Organisationen, in: Bieber/Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S. 101, 107. 604 Vgl. Bernhardt, in: FS Kutscher, S. 19, 21. 605 Vgl. etwa EuGH, Rs. 6/69, Slg. 1960, 1165, 1194 f. (Humblet). 606 In diesem Sinne auch Klein, Vertragsauslegung und „spätere Praxis“ Internationaler Organisationen, in: Bieber/Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S. 101, 103. 607 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-418/02, Slg. 2005, I-5873, Rn. 38 (Praktiker Bauund Heimwerkermärkte AG). 608 Vgl. EuGH, Rs. 59/85, Slg. 1986, 1283, Rn. 13 (Reed). 602 603

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zungen des Vertragsänderungsverfahrens und eine Verletzung der nicht zur Disposition stehenden Rechte der nach Art. 48 EUV zu beteiligenden Organe verbunden609. Auf den ersten Blick nicht vollends vergleichbar erscheint derweil die Frage, ob die Begründung einer auslegungsrelevanten Praxis auch den Organen der Union verwehrt bleiben muss. Aufgrund der rechtlichen Verselbständigung der Gemeinschaft gegenüber ihren Gründungsstaaten liegt es zunächst nahe, eher jenen als den Mitgliedstaaten einen solch weit reichenden Einfluss zuzusprechen, wenn und soweit allein sie dazu berufen sind, das Unionsrecht anzuwenden und dabei nötigenfalls die fallrelevanten Bestimmungen auszulegen610. Spiegelbildlich hierzu gerät sogleich ins Blickfeld, dass die EG-Organe nach den Art. 5 EUV, Art. 5 Abs. 1, 7 Abs. 1, 249 Abs. 1 EGV ihrerseits strikt an das europäische Rechtssystem gebunden sind. Die vertragliche Konformität der Handlungen der Unionsorgane hat nach Art. 220 EGV allein der EuGH zu überprüfen. Wenn es demzufolge ihm obliegt, auch die Rechtskonformität einer bestimmten Organpraxis zu prüfen611, so kann er nicht zugleich an diese Praxis gebunden sein. Seine Funktion, als rechtlich unabhängiges Organ gemäß Art. 220 EGV die Vertragswahrung zu sichern, sähe sich anderenfalls ad absurdum geführt. Insbesondere mit der Letztentscheidungskompetenz des 609 Eine andere Frage ist, ob ein unter Verstoß gegen Art. 48 EUV geschlossener völkerrechtlicher Vertrag trotz seiner Unionsrechtswidrigkeit die jeweiligen Vertragsparteien völkerrechtlich bindet und demnach zu paradoxen Rechtsverbindlichkeiten führen kann, was im Ergebnis wohl zu bejahen sein dürfte [dazu Klein, in: HKEUV/EGV, Art. N EUV (April 1995), Rn. 4]. 610 Dahingehend für den Bereich von internationalen Gründungsverträgen Klein, Vertragsauslegung und „spätere Praxis“ Internationaler Organisationen, in: Bieber/ Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S. 101, 107. Die gängige Auffassung, die Auslegungsrelevanz einer Organisationspraxis setze ihre Zurechenbarkeit zu den Vertragsstaaten voraus und mithin, dass keines derselben ausdrücklich oder stillschweigend opponiere (in diesem Sinne für die Fälle außerhalb des Bereichs von Gründungsverträgen Klein, a. a. O., S. 105), kann nicht schon auf der Grundlage der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache 230/81 (Luxemburg/Parlament) auf das Unionsrecht übertragen werden (so aber tendenziell, indes ohne Bezugnahme auf Art. 31 WVK Stein, Die Rolle der späteren Praxis als Auslegungselement in der Rechtsprechung des Internationalen Gerichtshofes, des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, in: Bieber/Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S 113, 129), da der vom Gerichtshof entschiedene Fall keine Auslegungsfragen betraf und damit schon nicht im materiellen Anwendungsbereich des Art. 31 WVK angesiedelt war [vgl. EuGH, Rs. 230/81, Slg. 1983, 255, Rn. 44 ff. (Luxemburg/Parlament)]. 611 Entsprechende Fragen können sich im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV, einer Untätigkeitsklage nach Art. 232 EGV, eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV, einer Inzidentrüge nach Art. 241 EGV oder auch einer Schadensersatzklage nach Art. 288 Abs. 2 EGV stellen.

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EuGH in Vertragsauslegungsfragen612 erscheint es unvereinbar, im Unionsrecht die Rechtsfigur einer im Sinne des Art. 31 Abs. 3 lit. b) WVK von der Unionsgerichtsbarkeit obligatorisch zu berücksichtigenden Organpraxis zuzulassen. Der EuGH legt die interpretationsbedürftigen Bestimmungen des Unionsrechts in den Grenzen der gemeinschaftsrechtlichen Auslegungskriterien vielmehr selbständig aus und gibt so die Richtung vor, an der sich die spätere Praxis der Organe zu orientieren hat613, mögen diese als Partei des Verfahrens unmittelbar oder auch nur aufgrund der Präzedenzwirkung der Entscheidung von der Autorität des Richterspruchs betroffen sein. Gleichwohl kann es dem Gerichtshof nicht verwehrt sein, im Rahmen des Auslegungsprozesses auch auf die Existenz einer ständigen Organpraxis hinzuweisen, sei es zur argumentativen Unterstützung seiner eigenen Wertungen durch die Autorität der jeweiligen Organe oder um secta inversa die Konformität der Praxis mit seiner eigenen Rechtsauffassung zu bekunden614. Eine rechtliche Bindung an die Organpraxis wird durch ein solches Vorgehen des EuGH freilich weder konstituiert noch auch nur deklariert. c) Zwischenergebnis Nach alledem bleibt festzuhalten, dass die Mitgliedstaaten wie auch die EU-Organe unionsrechtlich zur Beachtung der Vertragsänderungsregelung 612 Vgl. dazu nochmals EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079, Rn. 38 (EWR I). 613 Anders kann es mit der Auslegungskompetenz des EuGH aber ganz ausnahmsweise bei solchen Bestimmungen liegen, die den Organen einen originären und gerichtlich nur bedingt justitiablen Entscheidungsspielraum zuweisen. Hier darf eine gerichtliche Kontrolle das institutionelle Kompetenzgefüge nicht durch eigene Auslegungsvorgaben durchbrechen und ist daher darauf zu beschränken, ob die zuständige Stelle den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat, von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Bewertungsmaßstäbe nicht beachtet oder sachwidrige Erwägungen angestellt hat [vgl. analog zur Lehre vom Beurteilungsspielraum im deutschen Verwaltungsrecht etwa BVerwG, NVwZ-RR 1994, 583; zur dogmatischen Begründung s. etwa BVerfGE 61, 82, 111; in der Rechtsprechung des Gerichtshofs findet der Begriff des Beurteilungsspielraums jedoch oftmals im Sinne eines überprüfbaren Entscheidungsspielraums Verwendung, vgl. etwa EuGH, Rs. 162/82, Slg. 1983, 1101, Rn. 17 (Cousin u. a.); EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 22 (Parlament/Rat); EuG, Rs. T-313/04, Slg. 2006, II-77, Rn. 60 (Hewlett-Packard/ Kommission); deutlich im Sinne eines eingeschränkt überprüfbaren Beurteilungsspielraums hingegen EuGH, verb. Rsn. C-68/94 und C-30/95, Slg. 1998, I1375, Rn. 223 u. 224 (Frankreich u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-12/03 P, Slg. 2005, I-987, Rn. 38 (Kommission/Tetra Laval); EuG, Rs. T-177/04, Slg. 2006, II-1931, Rn. 128 (easyjet/Kommission)]. 614 Vgl. dazu etwa EuGH, Rs. 25/70, Slg. 1970, 1161 Rn. 4–6 (Köster).

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des Art. 48 EUV und vor allem der Letztauslegungskompetenz des EuGH verpflichtet sind. Die speziellen Bestimmungen des europäischen Primärrechts615 derogieren folglich teilweise die allgemeinen völkerrechtlichen Bestimmungen616 und damit nicht zuletzt auch im oben dargestellten Umfang die hier interessierenden Art. 31 ff. WVK. Im Übrigen aber sind grundsätzliche Einwände gegen eine Anwendung der WVK-Regeln auf EGV und EUV nicht ersichtlich. Die Anwendung der in der WVK niedergelegten Auslegungsregeln erscheint im Gegenteil insbesondere dort sinnvoll und geboten, wo die gängigen Interpretationskriterien an ihre Grenzen stoßen respektive zu keinen, zu unerwünschten oder aber zu unsinnigen Ergebnissen führen617. Da das Auslegungskonzept der WVK weitgehend abstrakt und offen gehalten ist618, lässt sie bei ihrer Anwendung innerhalb des EU-Rechts im Ergebnis auch den nötigen Raum für eine rechtsystemadäquate Akzentuierung zugunsten der einen oder anderen Norminterpretationsmethode sowie für partielle Überlagerungen bzw. Ausnahmen, die sich aus der Struktur und den besonderen Ausprägungen und Anforderungen der unionalen Rechtsordnung ergeben. 3. Unionale Besonderheiten der Auslegungsmethoden im Einzelnen Obgleich die einzelnen Auslegungsprinzipien im Grundsatz mit den Anwendungen in den mitgliedstaatlichen Methodenlehren korrelieren, weist jede einzelne Auslegungsmethode ihre eigenen Besonderheiten und eigenständigen Nuancen auf, die in wesentlichem Maße auch auf die Hierarchie der Methoden untereinander Einfluss nehmen. Die sich an der ursprünglichen Idee und dem subjektiven Willen des jeweiligen Normgebers ausrichtende entstehungsgeschichtliche, historische 615 Das Primärrecht sieht neben und mit punktuellen Abweichungen zu dem a priori einheitlich geregelten Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 EUV in einigen Bereichen vereinfachte, sog. halbautonome Änderungsverfahren (vgl. Art. 17 Abs. 1, Art. 42 EUV und Art. 22, Art. 67 Abs. 2, Art. 190 Abs. 4 EGV) sowie autonome, den EU-Organen zugeordnete Änderungsverfahren (vgl. Art. 133 Abs. 5 EGV, Art. 187 EGV, Art. 312 Abs. 1 EGV, Art. 221 Abs. 4 EGV, Art. 222 Abs. 3 EGV, Art. 225 Abs. 2 EGV und Art. 245 Abs. 2 EGV) vor. 616 So schon Schwarze, EuR 1983, 1, 15. 617 So insbesondere denkbar im Falle eines Vertragssprachenkonflikts; s. dazu sogleich unter 3. 618 Aufgrund der Anzahl der Auslegungskriterien in den Art. 31 WVK kann es auch nicht leicht fallen, eine „klare“ Auslegungskonzeption der WVK festzustellen (so zu Recht Ress, Die Bedeutung der nachfolgenden Praxis für die Vertragsinterpretation nach der Winder Vertragsrechtskonvention, in: Bieber/Ress, Die Dynamik des EG-Rechts, S. 49, 54).

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und genetische Auslegung619 sieht sich im unionalen Pimärrechtssystem an den Rand gedrängt620, da schriftliche Überlieferungen über den genauen Inhalt der Vertragsverhandlungen und damit die Entstehung der Rechtnorm zumeist fehlen621 und bei der Normentstehung teils diametrale Motive der Beteiligten vorherrschen622. Hinzu kommt, dass eine allzu starre Orientierung am Willen der Normschöpfer der auch in der Präambel des EG-Vertrages geforderten623 Dynamik des Rechtssystems nicht gerecht werden kann624. Im Hinblick auf das „Principe de compétence d’attribution“625 und die vom EuGH zu wahrenden Grenzen zulässiger Analogiebildung und Rechtsschöpfung kommt der semantischen Auslegung für die Ermittlung des Bedeutungsinhalts unter Zugrundelegung des „gewöhnlichen Sprachgebrauchs“626 zwar auch im Unionsrecht627 erhöhte Bedeutung zu628. Kann 619 Die Terminologie der entstehungsgeschichtlichen Auslegung findet hier als Oberbegriff der genetischen und historischen Auslegung Verwendung, da ihr Begriffsbereich sowohl die bei der Normentstehung vorherrschenden Motive als auch den Vergleich der Norm mit einer etwaigen Vorgängerregelung erfassen kann. Auch der EuGH unterscheidet insoweit methodisch zwischen der genetischen und der historischen Auslegung, vgl. etwa EuGH, Rs. 292/99, Slg. 2002, I-4097, Rn. 42 f. (Kommission/Frankreich). 620 Klein, Die Internationalen und supranationalen Organisationen, in: Vitzthum, Völkerrecht, S. 245, 264, Rn. 40. 621 Die historische Auslegung kann aber möglicherweise mit Inkrafttreten der Europäischen Verfassung eine gewisse Aufwertung erfahren, da hier entsprechende Arbeitsmaterialien und Erläuterungen des Konvents, seiner Arbeitsgruppen und des Präsidiums sowie entsprechende Dokumente des Chartakonvents sowie der einschlägigen Regierungskonferenzen vorliegen. Angesichts des Art. II-112 Abs. 7 EV dürfte dies insbesondere für die Erläuterungen zur Grundrechte-Charta gelten. Zur rechtlichen Bedeutung entsprechender Erläuterungen ausführlicher Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 564; Weber, DVBl. 2003, 220, 223. 622 Vgl. Bieber/Epiney/Haag, S. 221, Rn. 15. 623 Zur rechtlichen Erheblichkeit der Präambeln schon EuGH, verb. Rsn. 56 u. 58/64, Slg. 1966, 321, 388 (Consten und Grundig). 624 Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 28. 625 Dazu ausführlich Kraußer, Das Prinzip begrenzter Ermächtigung im Gemeinschaftsrecht des EWG-Vertrages, 1991, S. 16 ff.; s. zum anfangs weiten Verständnis des Gerichtshofs EuGH, Rs. C-84/94, Slg. 1996, I-5755 (Vereinigtes Königreich/ Rat) und hierzu Calliess, EuZW 1996, 757 ff.; s. zur sodann restriktiveren Linie etwa EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-2247, Rn. 83, 106 ff. (Deutschland/Parlament und Rat). 626 s. dazu schon Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 320 ff. 627 Zur gemeinschaftsautonomen Begriffsbestimmung etwa EuGH, Rs. 50/71, Slg. 1972, 53, Rn. 6 (Wünsche); EuGH, Rs. 69/79, Slg. 1980, 75, Rn. 6 (JordensVosters); EuGH, Rs. 64/81, Slg. 1982, 13, Rn. 8 (Corman); EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121, Rn. 16 f. (Lawrie-Blum); EuGH, Rs. C-296/95, Slg. 1998, I-1605, Rn. 30 (The Queen/EMU Tabac); ausführlicher zum Ganzen Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 39 ff.

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jedoch ein Wort oder Wortgefüge schon in einer einzigen Sprache Polyvalenzen aufweisen, so gilt dies im Unionsrecht angesichts der nach Art. 314 EGV/Art. 53 EUV derzeit 23 authentischen Sprachfassungen des Primärrechts629 um so mehr. In Abwesenheit einer unionsrechtlichen Lösung sind inhaltserhebliche Unterschiede in den Sprachfassungen über einen Rückgriff auf die Auslegungsregeln des Völkerrechts, mithin vornehmlich auf die Art. 33 Abs. 3 und 4 WVK630, zu behandeln. Die Bedeutung der daneben stehenden systematischen Auslegung631 wird in der Literatur nicht ganz einheitlich beurteilt632. Jedenfalls erfolgt ihre Anwendung in der gemeinschaftsgerichtlichen Rechtsprechung ganz regelmäßig nur in Verbindung mit der grammatikalischen und teleologischen Interpretation633. Zur 628 Dazu etwa EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139, Rn. 30 (Angonese), ähnlich schon zuvor in EuGH, Rs. 135/83, Slg. 1985, 469, Rn. 11 f. (Abels); EuGH, Rs. C-338/90, Slg. 1992, I-2333, Rn. 10 f. (Hamlin); EuGH, Rs. C-177/95, Slg. 1997, I-1111 (Ebony Maritime SA); EuGH, Rs. C-149, 97, Slg. 1998, I-7053, Rn. 14 ff. (Institute of the Motor Industry). Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 168 ff. weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die Bedeutung der grammatikalischen Auslegung gegenüber jener in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnung geringer ist. Müller/Christensen, Juristische Methodik II, S. 31 ff., halten ihre Bedeutung hingegen für unterschätzt. 629 Vgl. dazu auch schon EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419, Rn. 3 (Stauder). Zu den in Art. 314 EGV/Art. 53 EUV aufgezählten zwölf Sprachen sind nach der ersten Phase der EU-Osterweiterung gem. Art. 61 Abs. 2 der Akte über die Bedingungen des Beitritts vom 16. April 2003 (in Kraft getreten am 1. Mai 2004) zunächst neun Sprachfassungen, nämlich Estnisch, Lettisch, Litauisch, Maltesisch, Polnisch, Slowakisch, Slowenisch, Tschechisch und Ungarisch hinzugekommen. Mit dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien am 01. Januar 2007 sind auch die Sprachen Bulgarisch und Rumänisch in die Riege der Amtssprachen aufgenommen worden. Auch unter der Verfassung verbleibt es nach Art. IV-448 Abs. 1 EV bei der gleichwertigen Authentizität der Vertragssprachen. Im Sekundärrecht geltend hingegen 23 Amtssprachen, namentlich besagte zwölf (seit dem 1. Januar 2007 einschließlich Irisch) plus den neuen elf Sprachen [vgl. Art. 26, 41 EUV i. V. m. Art. 290 EGV i. V. m. Art. 1 der Verordnung (EG) Nr. 920/2005 des Rates vom 13. Juni 2005 zur Änderung der Verordnung Nr. 1 vom 15. April 1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und der Verordnung Nr. 1 des Rates vom 15. April 1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Atomgemeinschaft (ABl. EG Nr. L 156/3 vom 18. Juni 2005)]. 630 Dazu ausführlicher Dahm/Delbrück/Wolfrum, Völkerrecht I/3, S. 653; eingehender zur Auslegung im Falle von Sprachunterschieden auch Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, insb. S. 20 ff. und 101 ff. 631 Zu dieser etwa Buck, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 179. 632 Während ihr etwa Schroeder „keinen entscheidenden Stellewert“ einräumt (Schroeder, JuS 2004, 180, 183), misst ihr Schwarze eine wenigstens „nennenswerte Rolle“ bei (Schwarze, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 28). 633 Vgl. u. a. EuGH, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365, Rn. 15–23 (Defrenne II) zur Anwendbarkeit des früheren Art. 119 EWG auf sonstige Arbeitsbedingungen; EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, 1663, Rn. 17–20 (Johnston) zur Auslegung des

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bedeutsamsten Auslegungsmethode hat sich im EU-Recht aber die teleologische Interpretation entwickelt634, die in Abwesenheit eines Selbstzwecks der einzelnen Vertragsbestimmungen635 vorrangig am Geist der Verträge auszurichten ist636. Neben diese klassischen Auslegungsmethoden tritt schließlich die vom EuGH mal kumulativ, mal alternativ angewendete wertende Rechtsvergleichung, die insbesondere im Bereich der allgemeinen Rechtsgrundsätze, folglich auch der Gemeinschaftsgrundrechte, eine maßgebliche Rolle spielt und deren Anwendung auch in die Findung respektive Schöpfung neuen Rechts münden kann637. Der EuGH bedient sich dieser Methodik insbesondere, um planwidrige Unvollständigkeiten im EU-Recht zu schließen, indem er Rechtssätze der mitgliedstaatlichen Rechtordnungen im Interesse des Dialogs der mitgliedstaatlichen Rechtskulturen638 einer vergleichenden Art. 6 der Richtlinie 76/207 des Rates vom 9. Februar 1976 im Kontext und Lichte der allgemeinen Rechtsgrundsätze; EuGH, Rs. 91/92, Slg. 1994, I-3325, Rn. 22–25 (Faccini Dori) zur fehlenden Vereinbarkeit der horizontalen Drittwirkung von Richtlinien mit Art. 249 EGV [im Widerspruch zur dortigen Auslegung des Art. 249 EGV bzw. 189 EGV a. F. aber EuGH, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rn. 21–25 (Becker)]. 634 Vgl. dazu auch Kutscher, EuR 1981, 392, 400 f. Ausführlich auch schon Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 328 ff., insb. 333 ff. 635 Vgl. EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079, Rn. 18 (EWR I). 636 Vgl. nur EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 (Costa/E.N.E.L.); EuGH, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215, Rn. 22 (Continental Can) [hier nennt der EuGH in Rn. 22 zwar alle Auslegungsmethoden, wendet letztlich aber vor allem die teleologische an]; vgl. auch zur unmittelbaren Wirkung des EWG-Vertrages aufgrund des Zieles der Schaffung eines Gemeinsamen Marktes EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 20 (CILFIT) sowie zuvor schon EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 24 (Van Gend & Loos). 637 Dazu näher Bleckmann, in FS Börner, S. 29 ff.; ferner Everling, 1986, 193 ff.; ders., JZ 2000, 217, 225 ff. Existenz und Grenzen jener Rechtsschöpfungskompetenz sind freilich nicht unumstritten. Allgemein für eine solche Befugnis etwa: BVerfGE 75, 223, 241 (Kloppenburg) und aus der Literatur Daig, in: FS Zweigert, S. 395, 402; Everling, in: FS Kutscher, S. 155, 183; schon im Grundsatz kritischer dagegen etwa v. Danwitz, DVBl. 1998, 421, 428 mit Blick auf die durch die Francovich-Rechtsprechung des EuGH geschaffene verschuldensunabhängige Haftung der Mitgliedstaaten; partiell kritisch auch Dänzer-Vanotti, in: FS Everling, S. 205 ff. Bezüglich der Erweiterung des Art. 173 II EGV a. F. auf das Europäische Parlament noch besonders kritisch Mittmann, Rechtsfortbildung durch den EUGH, S. 186 f. u. 235 ff., dessen Ausführungen jedoch nicht ganz konsequent erscheinen, soweit er die Rechtsfortbildungskompetenz des EuGH mangels entsprechender Rechtsgrundlage grundsätzlich ablehnt, für einige Ausnahmebereiche eine solche Befugnis aber bejaht (so etwa auf S. 252 f.). 638 Vgl. hierzu Vassilios Skouris, Rechtskulturen im Dialog – Über Verständnisse und Unverständnisse, Risiken und Chancen einer internationalen Rechtsordnung und Rechtsprechung, Festvortrag auf dem Kongress „Globalisierung und Recht – Bei-

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Analyse unterzieht und letztlich eine der Struktur und den Zielen des Primärrechts entsprechende Lösung herausarbeitet639. Das wertende Element der Methodik verhindert dabei sowohl eine unbesehene Transportierung einzelner nationaler Rechte und Prinzipien in das Gemeinschaftsrecht640 als auch eine starre Bilanzierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen641 im Sinne der Suche eines kleinsten gemeinsamen Nenners642 und gewährleistet demnach die Findung einer den Besonderheiten und Bedürfnissen des europäischen Rechtssystems angemessenen Lösung643.

II. Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV für die allgemeine Grundrechtsbindung Jener vorgezeichnete Auslegungskanon ist nunmehr für die Inhaltsermittlung des Art. 6 Abs. 2 EUV fruchtbar zu machen. Mit Blick auf den richterrechtlichen Ursprung der Grundrechtsgeltung in der Union könnte der Regelung sowohl eine konstitutive als auch eine nur deklaratorische Bedeutung zugesprochen werden. Möglich erscheint überdies eine differenzieträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert“ anlässlich des „Deutschland in Japan“ – Jahres 2005/2006 (im Internet abrufbar unter www.tokyo-jura-kongress2005.de/_documents/skouris_de.pdf, S. 3 ff. – letzter Besuch: 28. Januar 2007). 639 Vgl. dazu schon Zweigert, RabelsZ 1964, 601, 610 f.; für den Bereich der Grundrechte so auch Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 8. 640 So aber der im speziellen Bezug zum Grundrechtsregime noch von einigen Generalanwälten verfolgte Ansatz des sog. Maximalstandards, nach dem jedes mitgliedstaatlich garantierte Grundrecht auch in der Gemeinschaft anzuerkennen sei, vgl. dazu etwa GA Mayras, Schlussanträge zu EuGH, Rs. 1/78, Slg. 1978, 1489, 1509 (Kenny); ähnlich GA Warner, Schlussanträge zu EuGH, Rs. 7/76, Slg. 1976, 1213, 1238 (IRCA). Zu Recht gegen einen solchen Maximalstandard die ganz h. M. vgl. nur v. Bogdandy, JZ 2001, 157, 163 f. 641 Besonders exemplarisch zeigt dies schon die Rechtsprechung des EuGH zur verschuldensunabhängigen Haftung der Mitgliedstaaten für gemeinschaftsrechtliche Verstöße [vgl. dazu grundlegend EuGH, verb. Rsn. C-6/90 u. C-9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich u. a.) sowie EuGH, verb. Rsn. C-46/93 u. 48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du pêcheur und Factortame)], die vor allem mit Blick auf die so statuierte Haftung für legislatives Unrecht zahlreichen nationalen Rechtsordnungen fremd ist. 642 Hierzu Anweiler, Auslegungsmethoden des EuGH, S. 335; Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, S. 113; Szczekalla, DVBl. 1998, 219, Rn. 24 f. 643 Vgl. Wegener, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 220 EGV, Rn. 33; Schroeder, JuS 2004, 180, 184. Überraschen kann in diesem Kontext der in der Entscheidung des EuGH zur Rechtssache Hoechst erfolgte Hinweis auf „nicht unerhebliche Unterschiede“ zwischen den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen [EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 17 (Hoechst/Kommission)], kommt es doch auf eine vollständige Übereinstimmung gerade nicht an.

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rende Sichtweise, die zwischen der Grundrechtsverpflichtung im Allgemeinen und der Geltung einzelner Grundrechte im Speziellen unterscheidet. Bevor die Norm hierauf genauer untersucht werden soll, sollen zunächst die betreffenden Positionen in Literatur und Rechtsprechung dargestellt werden. 1. Überblick zu den unterschiedlichen Ansätzen und erste Stellungnahme Ein Überblick zu den in Literatur und Rechtsprechung vorzufindenden Ansichten offenbart bereits in diesem Belang beträchtliche Unterschiede. a) Schrifttum Dabei divergieren die Meinungen zur allgemeinen Bedeutung der Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV schon innerhalb des Schrifttums deutlich. Während etwa Allkemper hauptsächlich die vorhergehende Regelung des Art. F Abs. 2 EUV als bloßes Bekenntnis der Union zur Grundrechtsverantwortlichkeit im Sinne einer politischen Programmatik qualifiziert und die Grundrechtsherleitung demgemäß auf die vom EuGH entwickelten Maximen beschränkt hat644, entnehmen andere der Vorschrift zumindest eine echte materielle Grundrechtsbindung „im Allgemeinen“645. Teils wird Art. 6 Abs. 2 EUV aber auch als die „Rechtsquelle für die Grundrechte“646 bezeichnet und damit ein Rückgriff auf die Figur der dort genannten allgemeinen Rechtsgrundsätze als unnötig angesehen. Nach einer neueren, von Wolf vertretenen Ansicht bildet die unionsrechtliche Regelung trotz der „lediglich“ beabsichtigten Kodifizierung der Recht644 s. Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 51; ähnlich und zugleich differenzierender Wölker, EuR-Beiheft 1/1999, 99, 101, der die Vorschrift für „weitgehend deklaratorisch“ hält. 645 So etwa Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24; ähnlich Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 2, der insofern von der „Anordnung“ zur Grundrechtsachtung spricht; in diesem Sinne auch Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV (August 2002), Rn. 4; vgl. weiterhin Pauly, EuR 1998, 242, 250 f., der Art. F Abs. 2 EUV (a. F.) aufgrund der vertragspositivistischen Klassifikation der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze eine konstitutive Bedeutung beimisst. 646 So Calliess, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 32; auch wenn Kingreens Auffassung auf einer Differenzierung zwischen der Qualität der Norm als „Rechtsquelle“ und der in Art. 6 Abs. 2 in Bezug genommenen Quellen als „Rechtserkenntnisquellen“ beruht, sind seine Ausführungen im Hinblick auf die der Norm weiterhin beigemessene „allenfalls begrenzte normative Bedeutung“ (Rn. 17 a. E. und Rn. 18) nicht vollends konsequent; im Sinne Kingreens indes wohl auch Zimmerling, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Anhang zu Art. 6 EUV, Rn. 23; a. A. hingegen etwa Wolf, in: FS Ress, S. 893, 898.

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sprechung des EuGH647 die verbindliche Rechtsgrundlage für ein eigenständiges Grundrechtsermittlungs- und Anwendungsprogramm, in welchem zwei systemexterne Rechtsgrundlagen originär gebündelt und über eine dreistufige Programmatik im Unionsrecht zur Anwendung kommen648. Andere Stimmen charakterisieren Art. 6 Abs. 2 EUV in vorwiegend allgemein gehaltenen Formulierungen als die Überführung der Rechtsprechung des EuGH zum Grundrechtsschutz in den Vertrags- und Verfassungsrang649, als legislative Positivierung der Rechtsprechung650, als positiv-rechtliche Basis der Grundrechte in allgemeiner Form651, als Sichtbarmachung der umfassenden und uneingeschränkten Bindung der auf europäischer Ebene konstituierten Hoheitsgewalt652 oder auch als Bekräftigung des richterrechtlich begründeten Grundrechtsschutzes und Bestätigung des primärrechtlichen Rangs der Grundrechte653. Auch wenn in solche Äußerungen zumeist der Standpunkt hineingelesen werden kann, dass Art. 6 Abs. 2 EUV eine konstitutive Grundrechtsbindungswirkung zukommt, fällt auf, dass im Rahmen der Thematisierung des unionalen Grundrechtsschutzes eine tiefgreifende rechtswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der hier zunächst zu behandelnden Frage nach der Rechtsnatur und Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV regelmäßig unterbleibt654. b) Rechtsprechung Der EuGH und das EuG haben sich nach Inkrafttreten des EU-Vertrags im Laufe ihrer Judikatur zur Begründung des gemeinschaftsrechtlichen Wolf, in: FS Ress, S. 893, 899. Vgl. Wolf, a. a. O., S. 893, 899 ff. 649 So Alber, EuGRZ 2001, 349; Beutler, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 39; ähnlich Lenaerts/de Smijter, CMLR 2001, 273, 276. 650 Bernsdorff, NdsVBl. 2001, 177. 651 So Gündisch/Wienhues, Rechtsschutz in der EU, S. 34. 652 So Pernice/Mayer, in Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV (August 2002), Rn. 31. 653 So Suerbaum, EuR 2003, 390, 400; in diesem Sinne wohl auch Nicolaysen, EuR 2003, 719, 734; ähnlich Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 8 ff., der indes zwischen der gemeinschafts- und der unionsrechtlichen Seite differenziert und der Norm insbesondere in letzterem Bereich einen eigenständigen Rechtsgehalt zubilligt. 654 So z. B. bei Gaitanides, in Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 220 EGV, der Art 6 Abs. 2 EUV zum einen als bloße Billigung der Legitimation des EuGH zur Grundrechtsgewährleistung (Rn. 24) und ohne nähere Präzisierung als Übernahme der Grundrechtsrechtsprechung bezeichnet (Rn. 34), zum anderen aber im Rahmen einer konkretisierenden Wirkung der Charta der Grundrechte von der Anwendbarkeit und damit der konstitutiven Wirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV auszugehen scheint. 647 648

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Grundrechtsschutzes zwar ebenfalls und schon frühzeitig auf Art. 6 Abs. 2 EUV (bzw. zuvor Art. F Abs. 2 EUV a. F.) gestützt655, indes wurde die Vorschrift dabei insbesondere durch den EuGH zumeist nur als erneute Bekräftigung oder Bestätigung der ständigen Rechtsprechung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit zum Grundrechtsschutz gewürdigt656, ohne die unions- bzw. gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsverpflichtung konstitutiv auf sie zu stützen. Außerdem wurden daneben zum Teil auch die Präambel der EEA657 und später die Charta der Grundrechte658 in einem Atemzug mit Art. 6 Abs. 2 EUV als die ständige Rechtsprechung bekräftigende Quellen genannt659. In einigen Fällen hat die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit Art. 6 Abs. 2 EUV im Zuge der Begründung des Grundrechtsschutzes sogar gänzlich außen vor gelassen und das in casu behandelte Recht allein den allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnommen660. Andererseits findet sich in der neueren Rechtsprechung des EuGH vereinzelt auch die Formulierung, die eigens herausgearbeiteten Grundsätze zum Grundrechtsschutz seien „nunmehr in Art. 6 Abs. 2 EUV aufgenommen worden“661, was zwar nicht zwingend, aber durchaus in zulässiger Weise als Anerkennung einer konstitutiven Wirkung der Vorschrift aufgefasst werden kann. Einige jüngere Ent655 Soweit ersichtlich, findet sich erstmals ein zusätzlicher Verweis auf Art. F Abs. 2 EUV a. F. bei EuG, Rs. T-10/93, Rn. 49, Slg. ÖD 1994, II-386, 403 (A./ Kommission). 656 Vgl. zur betreffenden Formulierung EuGH, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn. 149 (Hüls/Kommission); EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, 4619, Rn. 137 (Montecatini/Kommission); EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 79 (Bosman); EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 27 (Krombach); vgl. aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-06279, Rn. 41 (Carpenter); EuG verb. Rsn. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering Corp. u. a.). Generalanwältin Stix-Hackl kehrt dieses Verhältnis ohne nähere Erläuterung um, wenn sie ausführt, Art. 6 Abs. 2 EUV werde durch die Rechtsprechung des EuGH bestätigt (vgl. insofern GÄin Stix-Hackl, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-441/02, Slg. 2006, I-3449, Rn. 132 (Kommission/Deutschland). 657 So z. B. in EuGH, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, 4383 f., Rn. 149 (Hüls/ Kommission); EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, 4619, Rn. 137 (Montecatini/Komission); EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995-I, 5065, Rn. 79 (Bosman). 658 So jedenfalls das Gericht in EuG, verb. Rsn. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering Corp. u. a./Kommission). Zu weiteren Zitierungen der Charta durch einzelne gemeinschaftsrechtliche Organe und Stellen s. unter III. 3. a) bb) (2). 659 s. auch die jüngst ergangene Entscheidung EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 35 f. (Parlament/Rat), in welcher der Gerichtshof die Grundrechte als integralen Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsatz bezeichnet und erst in der folgenden Randnummer „im Übrigen“ auf Art. 6 Abs. 2 EUV hinweist. 660 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-295/03 P, Slg. 2005, I-5637, Rn. 86 (Alessandrini). 661 EuGH, verb. Rsn. C-20/00 u. C-64/00, Slg. 2003, I-07411, Rn. 66 (Booker u. Hydro Seafood).

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scheidungen des Gerichtshofs können an einer solchen Bewertung jedoch wieder Zweifel aufkommen lassen, wenn dort die fallrelevanten Grundrechte im Anschluss an einen nur kurzen Hinweis auf die Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV, die der EuGH zuweilen wörtlich wiedergibt, maßgeblich als in ständiger Rechtsprechung bestätigter Teil der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts bezeichnet werden662. Gleichsam ambivalent drückt sich der EuGH zudem in jüngeren Judikaten aus, wenn er die Grundrechte dort zunächst als integralen Bestandteil der allgemeinen Rechtsgrundsätze tituliert und erst danach auf Art. 6 Abs. 2 EUV verweist, um im unmittelbaren Anschluss daran klarzustellen, dass das Vorbringen der Parteien „in diesem Rahmen“, mithin auch nach Maßgabe des Art. 6 Abs. 2 EUV, zu prüfen ist663. Dagegen ist das EuG mittlerweile zu der Formulierung übergegangen, der Schutz der Grundrechte ergebe sich „aus Art. 6 Abs. 2 EUV und einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs“664. Ob hierin eine neue Rechtsprechungstendenz zu sehen ist, die sich auch der EuGH zu eigen machen wird, lässt sich angesichts der fehlenden Einheitlichkeit in dessen Spruchpraxis nicht abschätzen und ist vor dem Hintergrund der mehrjährigen Existenz der unionalen Vorschrift eher nicht zu erwarten665. Die Gesamtschau der Rechtsprechung erweist sich damit als eingeschränkt aussagekräftig. Zumindest die neueren Judikate sprechen unterdessen eher für die Annahme, dass der EuGH dem Art. 6 Abs. 2 EUV keine bloß deklaratorisch bestätigende, sondern durchaus auch eine konstitutive Rechtsbedeutung beimisst666, obgleich er mit Stetigkeit dem richterrechtlichen Ursprung der Begründung der Grundrechtsverpflichtung im Allgemeinen und der Quellenausgestaltung im Speziellen Ausdruck verleiht. c) Zusammenfassende Bewertung Die dargestellten Ansätze zur Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV für die unionale Grundrechtsbindung im Allgemeinen weisen in rechtswissenschaftlicher Hinsicht nahezu durchgehend Untiefen auf. So erscheint es zwar in Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-154/04 u. C-155/04, Slg. 2005, I-6451, Rn. 122 u. 126 (Alliance for natural health u. a.). 663 So jüngst EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439, Rn. 76 ff. (PKK und KNK/ Rat). 664 EuG, verb. Rsn. T-22/02 u. T-23/02, Slg. 2005, II-4065, Rn. 104 (Sumitomo Chemical/Kommission). 665 So hat auch das Gericht die Betonung jüngst wieder auf die prätorische Anerkennung der Grundrechtsgeltung gelegt und Art. 6 Abs. 2 EUV nur daneben angeführt, so etwa in EuG, Rs. T-43/02, Slg. 2006, II-3435, Rn. 74 (Jungbunzlauer/ Kommission). 666 A. A. Wolf, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 54 f. 662

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Anbetracht des prätorischen Ursprungs der Grundrechtsschutzentwicklung im Gemeinschaftsrecht zunächst durchaus konsequent, die Rechtsprechung des EuGH zum Ausgangspunkt aller grundrechtsrelevanten Überlegungen zu machen667. Dies gilt umso mehr, als Art. 6 Abs. 2 EUV den konkreten Schutzgehalt der Grundrechte mangels hinreichender Präzisierung unstreitig nicht unmittelbar bestimmt, sondern vielmehr auf weitere normexterne Quellen verweist, deren Anwendung oder Berücksichtigung668 zur inhaltlichen Grundrechtsausgestaltung der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit obliegen. Bei näherer Betrachtung der einschlägigen Beiträge im Schrifttum zu Art. 6 Abs. 2 EUV stellen aber nicht wenige zu einseitig auf die gemeinschaftsgerichtliche Rechtsprechung ab, ohne in ausreichendem Maße eine konstitutive Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV in die Erwägungen zur Herleitung der Grundrechtsgeltung einzubeziehen. Auch die Praxis der Rechtsprechung, die in Art. 6 Abs. 2 EUV grundsätzlich nur die Bekräftigung ihres eigenen prätorischen Ansatzes sieht und die Vorschrift zumindest semantisch mal mit der Präambel der EEA und der Charta der Grundrechte auf eine Ebene stellt, mal im Rahmen der Begründung einer Grundrechtsverpflichtung gar nicht erwähnt, lässt eine rechtsdogmatische Auseinandersetzung mit der rechtlichen Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV vermissen. 2. Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV Im Folgenden soll daher die rechtliche Bedeutung des Art. 6 Abs. 2 EUV zunächst für die allgemeine Grundrechtsverpflichtung der EU unter Anwendung der oben beschriebenen Methodik der Normauslegung einer genaueren Untersuchung zugeführt werden. a) Überlegungen zu Historie, Wortlaut und interner Systematik Mangels einschlägiger Überlieferungen ist im Wege der historischen Auslegung nicht ausreichend zu ermitteln, ob Art. 6 Abs. 2 EUV die Grundrechtsverpflichtung der EU nur deklaratorisch bekräftigen oder eine solche selbst – und zwar erweitert auf die EU – im materiellen Sinne begründen soll. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass auch schon die Präambel des EU-Vertrages expressis verbis im dritten Erwägungspunkt unter anderem das Bekenntnis zu den Grundsätzen der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit sowie in der vierten Erwägung die Bestätigung der Dazu Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269 ff. Die rechtliche Qualität dieses Verweises sowie der Quellen der EMRK und der mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen wird im Anschluss unter III. behandelt. 667 668

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Bedeutung der sozialen Grundrechte enthält, steht aber zu vermuten, dass die an der Fassung des Artikels Beteiligten eine normativ konstitutive Wirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV vor Augen hatten. Denn die bloße Absichtserklärung, die Grundrechte zu achten, war bereits Gegenstand anderer – rein politischer – Erklärungen669, so dass eine weitere Deklaration hierzu redundant wäre und ebenso gut hätte unterbleiben können. Schon danach enthält Art. 6 Abs. 2 EUV wohl kein politisches Lippenbekenntnis, sondern bestätigt die Grundrechtsbindung der Union mit konstitutiver Wirkung. Weiterhin fällt im Rahmen eines Vergleichs des jeweiligen Wortlauts des Hauptsatzes des Art. 6 Abs. 2 EUV in den unterschiedlichen gleichberechtigten Sprachfassungen auf, dass die Übersetzungen entweder eine aktive670 oder eine hilfszeitwörtliche671 Form aufweisen. Ungeachtet der historischen Hintergründe der verschiedenen Fassungen könnten beide Formulierungsarten zwar auf den ersten Blick eine unmittelbar verpflichtende Wirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV begründen. Bei näherer Analyse der jeweils verwendeten Begriffe drängt sich jedoch zunächst nur für die aktive Präsensform des Verbs „achten“ eine konstituierende Wirkung der Regelung auf. Ähnlich der Formulierung des in Art. 1 Abs. 1 GG wurzelnden Gebots zur Achtung der Menschenwürde kommt nämlich jedenfalls durch die aktive Konjugationsform deutlich zum Ausdruck, dass die Adressaten schon gegenwärtig die materielle Bindungswirkung der Grundrechte zu beachten haben. Mit dieser Formulierung ist folglich ein klarer imperativer Charakter verbunden. Der Blick auf das englische Hilfsverb „shall“ bzw. das schwedische „skall“ erlaubt diesen Schluss hingegen nicht ohne weiteres, da diese sowohl „sollen“ als auch das in die Zukunft gerichtete „werden“ bedeuten können. Die so formulierte Aufforderung zur Grundrechtsachtung kann zwar durchaus imperativ verstanden werden, insgesamt erscheint sie aber gegenüber der Verwendung der aktiven Konjugationsform des Verbs „achten“ ungleich schwächer, da sie nicht notwenig einen gegenwärtigen Zustand beschreibt. Im Hinblick auf die englische Sprachfassung kann indes zumindest im übers. nur die gemeinsame Erklärung des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission vom 5. April 1977, ABl. EG 1977 C 103; abgedruckt in EuGRZ 1977, 157. 670 Vgl. insofern die Fassungen in Deutsch: „Die Union achtet die Grundrechte, (. . .)“; Französisch: „L’Union respecte (. . .)“; Spanisch: „La Unión respetará (. . .)“; Italienisch: „L’Unione rispetta (. . .)“; Dänisch: „Unionen respekterer (. . .)“; Niederländisch: „De Unie eerbiedigt (. . .)“; Finnisch: „Unioni pitää arvossa yhteisön oikeuden yleisinä periaatteina perusoikeuksia, (. . .)“ Portugiesisch: „A União respeitará (. . .)“ (Hervorhebungen durch den Verfasser). 671 Vgl. die jeweilige Fassung in Englisch: „The Union shall respect (. . .)“ und Schwedisch: „Unionen skall som allmänna principer för gemenskapsrätten respektera (. . .)“ (Hervorhebungen durch den Verfasser). 669

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greifenden Kontext konstatiert werden, dass die Verwendung des Verbs „shall“ in völkerrechtlichen Verträgen regelmäßig mit einer präsenten Rechtsregel oder Rechtsverpflichtung des Normadressaten einhergeht und kein nur in die Zukunft gerichtetes Ziel deklariert672. Gemessen am Wortlaut des Hauptsatzes des Art. 6 Abs. 2 EUV lässt sich der Norm damit zwar kein völlig eindeutiges Ergebnis entnehmen. Ein Vergleich der unterschiedlichen Sprachfassungen indiziert aber angesichts des mehr oder minder stark ausgeprägten, letztlich in sämtlichen Formulierungen enthaltenen imperativen Charakters eine selbständige Bindungswirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV. Die zusätzliche Betrachtung des Wortlauts des Nebensatzes, nach welchem die Grundrechte zu achten sind, „wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben“673 zeigt darüber hinaus, dass die Norm mangels hinreichender Bestimmtheit des Inhalts, also des Schutzbereichs und der Grenzen der jeweils zu achtenden Grundrechte, selbst voraussetzt, dass die nähere Ausgestaltung der Grundrechtsbindung über einen Rückgriff auf weitere Quellen zu erfolgen hat. Schon semantisch ist der Konzeption des Art. 6 Abs. 2 EUV demnach die Herleitung und Konkretisierung eines konkreten Grundrechts durch den Rückgriff auf die schon zuvor vom EuGH herangezogenen Quellen inhärent. Ob Art. 6 Abs. 2 EUV den Schutzgehalt dadurch von äußeren, also außerhalb der Norm und sogar außerhalb der Unionsrechtsordnung liegenden Grundrechtsrechtsquellen abhängig macht oder diese sich normativ einverleibt und somit selbst als alleinige Rechtsquelle der Grundrechte bezeichnet werden kann674, lässt sich allein anhand des Wortlauts der Regelung und ihrer inneren Systematik nicht abschließend beurteilen. Unbeschadet der rechtlichen Qualität der einzelnen in Bezug genommenen Quellen lässt sich der Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EUV als vorläufiges Ergebnis der grammatikalischen Interpretation aber durchaus eine allgemeine – bindende – Grundrechtsverpflichtung der EU entnehmen. Vgl. etwa Art. 3, Art. 9 Abs. 2, Art. 18 lit. a), Art. 20 Abs. 5, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2, Art. 30 Abs. 1, 31 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 u. Abs. 4, Art. 33 Abs. 1, Abs. 2 u. Abs. 4, Art. 36 Abs. 1 u. Abs. 2, Art. 40 Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3 u. Abs. 5, Art. 41 Abs. 2, Art. 43, Art. 45 lit. a) WVK u. v. m. 673 So zumindest die deutsche Fassung, die jedoch durch eine abweichende Interpunktion am Satzende von den anderen Sprachfassungen abweicht, was unter III. 2. a) noch näher zu behandeln sein wird. 674 So wohl noch Kingreen, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 33; ähnlich Zimmerling, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Anhang zu Art. 6 EUV, Rn. 23. 672

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b) Externe Systematik Unter Bedachtnahme des näheren Normgefüges, in das sich Art. 6 Abs. 2 EUV bettet, ist die Vorschrift trotz der entstehungsgeschichtlichen Reihenfolge als Konkretisierung des Art. 6 Abs. 1 EUV zu verstehen, nach welchem die Union unter anderem auf den Grundätzen der Achtung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit „beruht“675. Mit Art. 6 Abs. 1 EUV geht die rechtliche Qualifizierung der allgemeinen Grundrechtsbindung als einen allen Mitgliedstaaten gemeinsamen und auch in der EU geltenden Grundsatz einher. Schon die nähere Gesetzessystematik spricht damit gegen die Einordnung der Vorschrift als bloße politische Programmatik. Dieses Ergebnis wird überdies durch einen historisch-systematisch-grammatikalischen Vergleich zum Wortlaut der weniger scharfen Formulierung der vorhergehenden Regelung des Art. K.2 Abs. 1 EUV gestützt676, die von einer Behandlung der damals in Art. K.1 EUV geregelten Angelegenheiten der Justiz- und Innenpolitik „unter Beachtung“ der Europäischen Menschenrechtskonvention und des Genfer Flüchtlingsabkommens sprach. Zudem ist Art. 6 Abs. 2 EUV auch im weiteren normativen Zusammenhang zu Art. 46 EUV zu sehen, der erstmals abschließend und verbindlich die Zuständigkeit des EuGH im Rahmen des EU-Vertrags regelt677. Die in Art. 46 lit. d) EU begründete und zugleich beschränkte Zuständigkeit des EuGH, die Handlungen der Organe im Sinne des Art. 5 EUV im Rahmen des bereits existenten Rechtsschutzsystems anhand der Grundrechte zu überprüfen678, spricht nicht nur für deren relativierte Justitiabilität, sondern aufgrund des direkten normativen Verweises auf Art. 6 Abs. 2 EUV zugleich auch für die Verbindlichkeit dieser Regelung hinsichtlich der Grundrechtsbindung der EU. c) Teleologische Überlegungen Zuletzt gilt in teleologischer Hinsicht unter Hinzuziehung des Gebots des effet utile zu beachten, dass Art. 6 Abs. 2 EUV einer rechtspraktischen Wir675 Hinsichtlich der Fassung des Art. 6 Abs. 1 EUV ergeben sich im Unterschied zu Abs. 2 keine erheblichen Übersetzungsabweichungen in den einzelnen Sprachfassungen, vgl. nur im Englischen: „(. . .) is founded (. . .)“, im Französischen: „(. . .) est fondée (. . .)“ sowie im Spanischen: „(. . .) se basa (. . .)“. Indessen wurde die Formulierung durch den Vertrag von Nizza insofern erweitert, als der alte Art. F Abs. 1 EUV nur von einer Verpflichtung der Mitgliedstaaten sprach. 676 Ebenso Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24. 677 s. allgemein zu Art. 46 EUV und den Zuständigkeit des EuGH insbesondere Pechstein, EuR 1999, 1 ff. 678 Dazu näher Herrnfeld, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 46 EUV, Rn. 13 ff.

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kung und damit jedweden normativen Sinns und Zwecks beraubt wäre, wenn der Vorschrift keine eigenständige Bedeutung für die Begründung der Grundrechtsbindung der EU zukäme und in ihr folglich nur eine politische Willensbekundung bzw. eine rein deklaratorische „Bekräftigung“ der Grundrechtsrechtsprechung zu sehen wäre. Zwar ist die Grundrechtsbindung der Union per se nicht in den Katalogen der „eigentlichen“ allgemeinen Vertragsziele gemäß Art. 2 EUV und Art. 2 und 3 EGV genannt. Auch kann die Bildung einer Grundrechtsgemeinschaft derzeit nicht als echtes Integrationsziel angesehen werden679. Jedoch ist zu berücksichtigen, dass jene allgemeinen Vertragsziele a priori und bis zu ihrer vollständigen Verwirklichung ein in die Zukunft gerichtetes Element besitzen, während den Grundrechten im EU-Rechtsystem vor allem und insofern wohl unstreitig bereits gegenwärtig eine die Machtausübung durch die EU-Organe beschränkende Funktion im Sinne negativer Kompetenznormen zukommen soll680, so dass ihre Beachtung gerade kein in der Zukunft liegendes Ziel darstellt, sondern ihre Geltung – wie es der Aufbau des Art. 6 EUV und sein systematischer Zusammenhang zu Art. 2 EUV nahe legt – vielmehr ein systemimmanenter, rechtsstaatlichen Anforderungen geschuldeter Grundsatz ist, der neben den Vertragszielen zum Geiste des Primärrechts zu zählen ist und der neben den weiteren in Art. 6 Abs. 1 EUV genannten Grundsätzen zu der Grundlage gehört, von der die unionsrechtlichen Ziele aus verwirklicht werden sollen681. Sinn und Zweck der Aufnahme des grundrechtlichen Achtungsgebots in den EU-Vertrag stellt daher in erster Linie die Hervorhebung und Verdeutlichung der allgemeinen Grundrechtsbindung der EU im Wege der Überleitung der ursprünglich prätorisch begründeten ungeschriebenen Grundrechtsgeltung in das geschriebene Primärrecht dar. Insofern muss Art. 6 Abs. 2 EUV also zugesprochen werden, ein rechtlich verbindliches und in den Grenzen der Art. 35 und 46 EUV justitiables Bekenntnis der Union zur Grundrechtsachtung zu verbriefen und die allgemeine Grundrechtsbindung demzufolge normativ zu konstituieren. Mit der schriftlichen Verankerung der Grundrechtsachtungsverpflichtung der Union geht für den Unionsbürger, 679 Dazu ausführlich v. Bogdandy, JZ 2001, 157 ff. Auch der EuGH ist im Rahmen seines Gutachtens zur Möglichkeit eines Beitritts zur EMRK wohl davon ausgegangen, dass die Grundrechte nicht zu den „Zielen der Gemeinschaft“ i. S. d. Art. 308 EGV zählen, vgl. EuGH, Gutachten, 2/94, Slg. 1996, I-1759 (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten). 680 So schon Hilf, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. F EUV (Oktober 1996), Rn. 20 ff. Ähnlich Pernice, ColJEL 2004, 5, 7, der im Kontext zur GrundrechteCharta von Werten, Rechten und Prinzipien spricht, „which complement the objectives and the principles of the Treaties“. 681 In letzterem Sinne auch Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 1.

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dem seine Stellung als Grundrechtsträger hierdurch schwarz auf weiß sichtbar gemacht wird, ein relativer Gewinn an Transparenz und Vertrauen in das Unionsrechtssystem einher682. Diese rechtsbegründende Wirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV muss nach ihrem Sinn und Zweck die gesamte Europäische Union, d.h. sämtliche ihrer Säulen683, erfassen684. Die Rechtsquelle und Geltungsgrundlage der Grundrechte im Bereich des Gemeinschaftsrechts unter Verweisung auf Art. 46 lit. d) EUV weiterhin in Art. 220 EGV und der damit einhergehenden Zuständigkeit des EuGH zur Wahrung des Rechts zu sehen und folglich zwischen der gemeinschaftsrechtlichen Ebene einerseits sowie der unionsrechtlich-völkerrechtlichen Ebene andererseits zu differenzieren685, hieße, die Grundrechtsgeltung für den Grundrechtsträger nur in den intergouvernemental ausgestalteten, einer unmittelbaren Rechtsgeltung entbehrenden und für den Einzelnen wegen der Regelungen der Art. 35 und 46 EUV prozessual weitestgehend unzugänglichen Teilen des Unionsrechts durchsichtiger zu gestalten, was für den Einzelnen ersichtlich nicht die gleiche Bedeutung hat, wie die Erhöhung der Rechtsklarheit und -sicherheit im Bereich des ihn oft direkt belastenden Gemeinschaftsrechts. Durch eine gegenteilige Sichtweise sähe sich der teleologische Hintergrund des Art. 6 Abs. 2 EUV demnach deutlich untergraben. Dass Art. 6 Abs. 2 EUV darüber hinaus gar die alleinige, umfassende „Rechtsquelle für die Grundrechte“686 ist, mag dagegen bezweifelt werden687. Wäre dies der Fall, hätte es zum einen schon der Nennung der „allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ nicht mehr bedurft, da doch die geschriebene Regelung sodann auch diese in ihrer potentiellen 682 Der Transparenzgewinn bleibt freilich beschränkt, solange im Unionsrecht kein rechtsverbindlicher Grundrechtskatalog existiert. 683 Die EU umfasst aufgrund der rechtlichen Selbständigkeit der einzelnen Gemeinschaften derzeit und bis zum möglichen Inkrafttreten des Vertrages über eine Verfassung für Europa vier Säulen (bzw. umfasste sie bis zum Auslaufen des EGKS-Vertrages zum 23. Juli 2002, Art. 97 EGKS, noch fünf Säulen) [so etwa Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 36 und 41], nach a. A. hingegen drei Säulen (so etwa Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, Art. 1 EUV, Rn. 4). 684 Zu den einzelnen Adressaten der Unionsgrundrechte ausführlicher unter 4. b). 685 So wohl Wolf, in: FS Ress, S. 893, 897, der indes zuvor selbst auf die in der Literatur weithin anerkannte Unterscheidung zwischen der materiellrechtlichen Grundrechtsgeltung und der formell-unionsrechtlichen Rechtsprechungskompetenz des EuGH hinweist. 686 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, 2. Aufl., Rn. 33 (ähnlich, jedoch weniger deutlich ders. in der Folgeauflage, Rn. 32); ebenso Zimmerling, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Anhang zu Art. 6 EUV, Rn. 23. 687 Insoweit ebenfalls kritisch Wolf, in: FS Ress, S. 893, 898.

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Funktion als Rechtsquelle der Grundrechte abgelöst hätte. Die Verweisung auf die bereits prätorisch hinreichend bemühten Quellen zielt vielmehr ersichtlich darauf ab, dem bisherigen grundrechtlichen Besitzstand und der künftigen Entwicklung eine einheitliche rechtliche Basis zu belassen. Dass im Zuge der Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV detaillierte primärrechtliche Regelungen zu den im Einzelnen zu beachtenden Grundrechten unterblieben sind, zeugt auch von einer entwicklungsoffenen, nicht zuletzt der Dynamik des Unionsrechts Rechnung tragenden Grundrechtskonzeption der Vorschrift, die damit in erster Linie im Zeichen der Transparenz und des Rechtsvertrauens zu sehen ist. Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 EUV erfordern es aber nicht, der Norm auch das Rechtsquellenmonopol zuzusprechen. Wenn Art. 6 Abs. 2 EUV den Rückgriff auf weitere, a priori systemexterne Quellen als wesentliches Element des Grundrechtssystems voraussetzt respektive gar ein entsprechendes Grundrechtsermittlungsprogramm vorgibt und dadurch die in Bezug genommenen Quellen, ungeachtet ihrer genauen Stellung und Bedeutung in dem so vorgegebenen internen Quellensystem, zu systemeigenen Rechtselementen werden, bedeutet dies nicht notwendig, dass die Regelung sich zugleich zu der einzigen Rechtsquelle der Grundrechte aufschwingt, sondern zunächst nur, dass sie im Rahmen einer offenen, vor allem dem Postulat der Systemadäquanz unterliegenden Grundrechtskonzeption systemexterne Rechtsquellen als für das eigene System geeigneten Rechtsnährboden anerkennt. Dass die Norm dabei aufgrund ihrer konstitutiven Wirkung möglicherweise auch eine präzise Grundrechtsquellenkonzeption vorgibt, macht sie somit nicht schon zur alleinigen Rechtsquelle der Grundrechte. d) Vergleichender Blick auf die Grundrechtsbindungskonzeptionen der Mitgliedstaaten und der EMRK Die daraus folgende Differenzierung zwischen der allgemeinen Grundrechtsbindung einerseits und der Herleitung sowie materiellen Ausgestaltung der Grundrechte andererseits ist ein ebenso in einigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen nachweisbarer Bestandteil hergebrachter Grundrechtskonzeptionen. Sie ist insbesondere auch mit jener des deutschen Verfassungsrechts vergleichbar, in welcher die Grundrechtsbindung der drei Staatsgewalten als Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips ebenfalls zunächst in allgemeiner Form in Art. 1 Abs. 3 GG niedergelegt wird688, während die im Einzelnen geltenden Grundrechte in den darauf folgenden Art. 2 bis 19 GG näher geregelt werden. Auch hier unterscheidet ein Rechtssystem also 688 Art. 1 Abs. 3 GG lautet: „Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.“

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zwischen der Grundrechtsbindung der Hoheitsgewalt im Allgemeinen und den besonderen Rechtsgrundlagen der einzelnen Grundrechte. Ähnlich stellt sich insoweit die französische Konstruktion der Grundrechtsgeltung mit der in der rechtsverbindlichen Präambel689 der französischen Verfassung vom 4. Oktober 1958 enthaltenen allgemeinen Erklärung der Bindung an die Menschenrechte und der darauf folgenden Rezeptionsklausel mit ausdrücklichem Verweis auf den in der „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ vom 26. August 1789 verfassten Grundrechtskatalog samt Komplettierung durch die Präambel der französischen Verfassung von 1946 dar. Wie der EuGH greifen im Übrigen auch der Conseil d’État690 und der Conseil Constitutionnel691 nicht selten auf die „principes généraux du droit“, mithin auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, als verbindliche Rechtsquelle der im Einzelnen entscheidungsrelevanten Grundrechte zurück692. Darüber hinaus differenziert beispielsweise auch die italienische Verfassung vom 27. Dezember 1947 zwischen der Anerkennung und Gewährleistung der unverletzlichen Rechte des Menschen als Grundprinzip der Republik auf der einen693 sowie der Nennung und inhaltlichen Ausgestaltung einzelner Grundrechte auf der anderen694 Seite695. Fernerhin zeigt ein Blick 689 Zur Verbindlichkeit der Präambel im Range des Verfassungsrechts C.E. vom 12. Februar 1960, Recueil Dalloz 1960, jurisprudence 264 (Société Eky). 690 Zu diesem bereits oben in Fn. 91. 691 Zu Deutsch etwa „Verfassungsrat“, geregelt in den Art. 56–63 der französischen Verfassung von 1958. Dieser entspricht, unbeschadet erheblicher, dem französischen Verständnis vom Primat des Parlaments geschuldeter Kompetenzabweichungen in der deutschen Gerichtsbarkeit dem BVerfG. 692 Zur französischen Grundrechtsdogmatik etwa Ferstenbert, RDP 1991, 339 ff. Ausführlicher zum Grundrechtsschutz in Frankreich auch Favoreu u. a., Droit constitutionnel, Rn. 1213 ff. Zur Verbindlichkeit und zum Verfassungsrang der „Principes généraux du droit“ C.C., Entsch. v. 30. Juli 1982, Grandes décisions, Nr. 35, RDP 1986, 395; ebenso bereits C.E., Entsch. v. 26. Juni 1959, Grands Arrêts Nr. 100 (Syndicat des ingénieurs-conseils). 693 Vgl. Art. 2 der italienischen Verfassung vom 27. Dezember 1947. 694 Vgl. Art. 13–28 der italienischen Verfassung. 695 Anders hingegen stellt sich die vorwiegend richterrechtlich geprägte englische Konzeption dar, auch wenn sie neben dem „common law“ auch sog. „statutory law“, also geschriebene Rechtsquellen, und hierbei insbesondere die „Habeas-Corpus-Akte“ von 1679 und die Bill of Rights von 1689 aufweist. Ähnlichkeiten zur unionalen Grundrechtskonzeption weist indes auch die auf der spanischen Verfassung vom 29. Dezember 1978 beruhende Konzeption auf, die zwar keine dem Art. 1 Abs. 3 GG entsprechende Regelung enthält, die aber in Art. 10 der Verfassung zunächst allgemeine Bestimmungen zur Menschenwürde als Grundlage der politischen Ordnung und Grundrechtsauslegung bereit hält und folglich ebenfalls eine allgemeine Bindungswirkung der Grundrechte zum Ausdruck bringt, bevor in den Art. 11 ff. der Verfassung sodann die einzelnen Grundrechte geregelt werden.

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auf die EMRK, dass auch in diesem Grundrechtssystem die in Art. 1 EMRK enthaltene allgemeine Verpflichtung der Adressaten zur Zusicherung der Konventionsrechte den einzelnen Gewährleistungen vorangestellt ist. Die aufgeführten Beispiele vergegenwärtigen somit, dass die hier aufgefundene Konzeption der normativen Trennung zwischen der Grundrechtsbindung der Union im Allgemeinen und der Geltung der einzelnen Grundrechte weder den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten noch dem System der EMK fremd ist. Vor dem Hintergrund der wesentlichen Rückkopplung der unionalen Grundrechte an die Grundrechtsregimes der Mitgliedstaaten und der EMRK liegt es nahe, dass eine solche allgemeine Grundrechtsbindungskonzeption auch in die grundrechtliche Quellendogmatik des Unionsrecht Eingang gefunden hat. 3. Zwischenergebnis Als Ergebnis der Inhaltsermittlung des Art. 6 Abs. 2 EUV im Hinblick auf seine allgemeine Bedeutung für den unionalen Grundrechtsschutz ist damit zunächst festzustellen, dass in der Regelung keineswegs nur ein politisches Bekenntnis zur Grundrechtsverantwortlichkeit im Sinne einer politischen Programmatik gesehen werden kann696. Etwas zu vage erscheint auch die Umschreibung des Art. 6 Abs. 2 EUV als Überführung der Rechtsprechung in den Vertrags- und Verfassungsrang697 oder als die Bestätigung des richterrechtlichen Grundrechtsschutzes698, da hierdurch keine zufriedenstellende Aussage zur rechtlichen Natur und Wirkung der Norm selbst getroffen und insoweit auch nicht zwischen der allgemeinen Grundrechtsverpflichtung der Union einerseits und der speziellen Herleitung sowie der inhaltlichen Konkretisierung der einzelnen Grundrechte andererseits differenziert wird. Die Norm allein als Überführung der Rechtsprechung zu bewerten, wirft überdies auch bislang kaum behandelte Folgeprobleme auf699, die daraus re696 Mit dieser Tendenz aber Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EG-Vertrag, S. 51; differenzierend Wölker, EuR-Beiheft 1/1999, 99, 101. 697 Vgl. Alber in EuGRZ 2001, 349; Beutler, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 39; Lenaerts/de Smijter, CMLR 2001, 273, 276. 698 So aber etwa EuGH, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn. 149 (Hüls/Kommission); EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, 4619, Rn. 137 (Montecatini/ Komission); EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 79 (Bosman); EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 41 (Carpenter); EuG verb. Rsn. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering Corp. u. a./ Kommission); aus der Literatur etwa Suerbaum, EuR 2003, 390, 400; in diesem Sinne wohl auch Nicolaysen, EuR 2003, 719, 734. 699 Das Problem ebenfalls erkennend, ohne sich um eine Problemlösung zu bemühen etwa Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1, Rn. 27 und Fn. 64.

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sultieren, dass der Gerichtshof nicht nur die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen, sondern auch andere internationale grundrechtsrelevante Verträge als Quellen der Gemeinschaftsgrundrechte respektive der allgemeinen Rechtsgrundsätze bemüht hat700. Art. 6 Abs. 2 EUV überträgt diese also jedenfalls nicht eins zu eins und bleibt somit in diesem Belang möglicherweise hinter der Rechtsprechung des EuGH zurück oder weicht von dieser ab701. Vor dem Hintergrund, dass der Vorschrift der Schutzgehalt einzelner Grundrechte mangels hinreichender Bestimmtheit offensichtlich nicht unmittelbar zu entnehmen ist, kann die Vorschrift zumindest nicht als alleinige „Grundrechtsquelle“, sondern zunächst einmal nur als Rechtsgrundlage der allgemeinen Grundrechtsbindung der Union qualifiziert werden702. Nach der hier vertretenen Auffassung konstituiert Art. 6 Abs. 2 EUV somit jedenfalls und unbeschadet der Frage der Justitiabilität703 die allgemeine grundrechtliche Achtungsverpflichtung der EU in materieller Hinsicht, um die Grundrechtsgeltung, die bis dahin rein prätorisch begründet war und im Hinblick auf ihre Herleitung einer gewissen Neuralgie unterlag, durch eine normative Grundlage im Range des Primärrechts abzusichern704, ohne zugleich die im Einzelnen zu gewährenden Grundrechte geschweige denn den jeweiligen Schutzgehalt dezidiert zu regeln. Art. 6 Abs. 2 EUV übernimmt insoweit die Funktion der ursprünglich prätorischen Rechtsquelle des Grundrechtsachtungsgebots und bildet demgemäß die zentrale Rechtsquelle der unionsinternen Grundrechtsbindung. Soweit auch das Völkergewohnheitsrecht705 und insbesondere das völkerrechtliche ius cogens706 Bestandteile des Gemeinschaftsrechts sind respektive auf das Unionsrecht einwirken und dazu auch der universelle Schutz der Menschenrechte gehöVgl. nur EuGH, 4/73, Slg. 1974, 491 (Nold). Dazu näher unter B. III. 2. b) bb) (1). 702 In diesem Sinne auch Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24; Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 2, ähnlich Pernice/Mayer, in Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV (August 2002), Rn. 4. 703 Vgl. dazu Art. 46 lit. d) und Art. 35 EUV. Ausführlicher zu diesem Thema Dörr/Mager, AöR 2000, 387 ff. 704 Ähnlich bereits Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 7. 705 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-286/90, Slg. 1992, 6019, Rn. 9 f. (Poulsen) sowie EuGH, Rs. C-162/96, Slg. 1998, 3655, Rn. 45 f. (Racke). Vgl. zur Einbeziehung eines völkerrechtlichen Grundsatzes in die rechtlichen Erwägungen schon EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 21/23 (Van Duyn); ausführlicher zum Ganzen Epiney, EuZW 1999, 5 ff. 706 Dazu jüngst EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 277 ff. (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649, Rn. 226 ff. (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139, Rn. 101 ff. (Ayadi/Rat). 700 701

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ren kann707, bleibt es daneben freilich bei einer Bindung an diese im Rahmen ihres Geltungsbereichs. 4. Grundrechtsträger und Adressaten des allgemeinen Grundrechtsachtungsgebots Ist Art. 6 Abs. 2 EUV die zentrale rechtliche Grundlage der allgemeinen Grundrechtsbindung, so stellt sich im unmittelbaren Anschluss hieran die Frage, wer Träger der zu beachtenden Grundrechte und wer in welchem Handlungsbereich Adressat des normativen Grundrechtsachtungsgebots ist. a) Grundrechtsberechtigte Träger der Grundrechte sind zunächst sämtliche Unionsbürger im Sinne des Art. 17 EGV, folglich die natürlichen Inhaber der Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats, während sich Angehörige von Drittstaaten oder Staatenlose auf jene nur berufen können708, soweit sie sich der unionsrechtlichen Hoheitsgewalt ausgesetzt sehen und es sich bei dem geschützten Recht nicht um ein den Unionsbürgern vorbehaltenes Recht handelt709. Wie der EuGH bereits frühzeitig anerkannt hat, können sich des Weiteren, wenn auch nicht im gleichen Umfang wie natürliche Personen, auch juristische Personen des Privatrechts auf die Grundrechte berufen710. Dies gilt ebenso für juristische Personen mit Sitz außerhalb der Gemeinschaft711. Die Einbeziehung von Unternehmen in den persönlichen Schutzbereich einzelner Grundrechte hat der Gerichtshof überdies zumeist ohne nähere BeSo etwa Fischer, in: Ipsen, Völkerrecht, S. 193. Ausführlicher zu dieser Frage unter III. 3. c). 708 Zur Anerkennung der Grundrechtsträgerschaft von Drittstaatsangehörigen EuGH, Rs. 49/88, Slg. 1991, I-3187, Rn. 15 ff. (Al-Jubail Fertilizer Company u. a./ Rat), indes ohne Prüfung spezifischer Anforderungen. 709 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 51 f.; ferner Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 22 ff. 710 Allgemein und ohne nähere Begründung bereits EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 ff. (Internationale Handelsgesellschaft). Ausführlicher zu diesem Thema unter gleichzeitiger Betrachtung der Situation unter der EMRK Crones, Grundrechtlicher Schutz von juristischen Personen, S. 93 ff. 711 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-547/03, Slg. 2006, I-845, Rn. 47 ff. (AIT/Kommission): ohne nähere Problematisierung der Rechtsträgerschaft lehnte der EuGH hier jedoch die vom Kläger (einer wissenschaftlichen Einrichtung mit Sitz in Thailand) behauptete Verletzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz mit Verweisung auf die wahrgenommene Möglichkeit, vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zu klagen, ab. 707

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gründung vorgenommen712. Allein in den Fällen der Verneinung der spezifischen Grundrechtsgeltung für juristische Personen finden sich genauere Dokumentationen der die Entscheidung leitenden Überlegungen713. Präzise und damit für den Rechtsschutzsuchenden wägbare Voraussetzungen, unter denen das in casu geltend gemachte Recht auch auf rechtsfähige oder andere Personenvereinigungen anwendbar ist, hat der EuGH jedoch bislang nicht aufgestellt. Dabei böte es sich etwa an, die Anwendung eines Grundrechts unter die negative Prämisse zu stellen, dass einer Geltendmachung kein höchstpersönlicher Charakter der im Einzelfall interessierenden grundrechtlichen Verbürgung entgegensteht714. Wie die Rechtssache National Panasonic zeigt, lässt der EuGH greifbare Gelegenheiten bislang ungenutzt. So lehnte er in jenem Fall eine Grundrechtsverletzung nicht schon mangels Eröffnung des persönlichen Schutzbereichs des geltend gemachten Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens ab, was im Hinblick auf den höchstpersönlichen Charakter dieses Rechts nahe gelegen hätte, sondern stützte sich allein auf das Fehlen einer hinreichenden Rechtsgefährdung des klagenden Unternehmens715. Eine andere Frage ist, ob auch juristische Personen des öffentlichen Rechts Träger von Gemeinschaftsgrundrechten sein können. Sie soll hier jedoch keiner eingehenden Behandlung unterzogen werden. Angesichts der Konfusion von Rechtsträger und -adressat bestehen auf den ersten Blick signifikante Bedenken gegen eine solche Grundrechtsberechtigung, indes wird die Beantwortung der Frage wohl nur im Wege einer punktgenau differenzierenden und vornehmlich funktionelle Grundrechtskriterien einbeziehenden Betrachtung möglich sein. Jedenfalls im Bereich der Verfahrensrechte ist eine Berechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts 712 s. etwa zu den Verfahrensgrundrechten EuGH, Rs. 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 21 (National Panasonic), EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 50 f. (Niederlande u. a./Kommission) sowie EuGH, Rs. 60/62, Slg. 1993, I-5683, Rn. 12 (Otto BV/Postbank); s. zum Eigentumsrecht EuGH, verb. Rsn. 154/78, 205/78, 206/78, 226/78, 227/78, 228/78, 263/78, 264/78, 39/79, 31/79, 83/79 u. 85/79, Slg. 1980, 907, Rn. 88–90 (Valsabbia/Kommission); s. zu Letzterem sowie zum Recht auf freie Berufsausübung auch EuGH, Rs. 265/87, Slg. 1089, 2237, Rn. 15 ff. (Schräder/Hauptzollamt Gronau). 713 s. insoweit zur Unverletzlichkeit der Wohnung EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 17 (Hoechst/Kommission) sowie EuGH, verb. Rsn. 97/87, 98/87 u. 99/87, Slg. 1989, 3165, Rn. 14 (Dow Chemical Ibérica u. a./Kommission); zum Recht auf Aussageverweigerung bei Zuwiderhandlungen wirtschaftlicher Art EuGH, Rs. 60/62, Slg. 1993, I-5683, Rn. 11 (Otto BV/Postbank). Die Ablehnung der Grundrechtsgeltung für juristische Personen basierte in den genannten Entscheidungen jedoch auf den sachlichen Schutzbereich betreffenden Gründen. 714 In diesem Sinne auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 53. 715 Vgl. EuGH, Rs. 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 19 f. (National Panasonic).

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aber nicht von vornherein auszuschließen, soweit es gegenständlich um die Durchsetzung eigener wehrfähiger Rechtspositionen der öffentlichen Stelle geht716. b) Grundrechtsverpflichtete Als Adressaten der Grundrechte kommen Organe und Einrichtungen der EU sowie die Mitgliedstaaten in Betracht. In Anbetracht der Existenz getrennter Regelungen in Art. 6 Abs. 2 EUV und des Art. 46 EUV liegt es nahe, dass dabei in Teilbereichen Diskrepanzen zwischen der materiellen Bindung und der prozessualen Durchsetzbarkeit der Grundrechte vorherrschen können717. Sind gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen originär völkerrechtlich veranlasst, so kann es zudem aus pflichtenhierarchischen Gründen zu weiteren Einschränkungen in der gerichtlichen Grundrechtskontrolle kommen. Nicht von vornherein ausgeschlossen ist schließlich eine horizontale Bindungswirkung der Grundrechte oder zumindest einzelner unter ihnen zwischen Privaten. aa) Europäische Gemeinschaft und Europäische Union Vor dem Hintergrund des allgemeinen Sinns und Zwecks der Grundrechtsgeltung, der Ausübung hoheitlicher Kompetenzen hinreichende rechtliche Grenzen zu setzen, drängt es sich auf, auch im Bereich der EU alle mit Hoheitsgewalt ausgestatteten Einrichtungen zu den nach Art. 6 Abs. 2 EUV Grundrechtsverpflichteten zu zählen. Es wurde daher von einigen Teilen des Schrifttums zu Recht von Anfang an vertreten, dass bereits der damalige Art. F Abs. 2 EUV auch für die Gemeinschaftsverträge und mithin für die Gemeinschaftsorgane gelte718. Die sich nach ihrem Wortlaut ebenVgl. EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 44 ff. (Niederlande u. a./Kommission); dazu auch Wunderlich, Das Grundrecht der Berufsfreiheit im Europäischen Gemeinschaftsrecht, S. 121 ff. 717 s. zur eingeschränkten Grundrechtskontrolle durch den EuGH Calliess, EuZW 2001, 261, 262; besonders kritisch auch Pache, EuR 2001, 475, 488 ff. Die Kritik ist auch keineswegs aus der Luft gegriffen, soweit der EuGH dem Gemeinschaftsgesetzgeber in Bereichen, in denen dieser politische, wirtschaftliche oder soziale Entscheidungen zu treffen und komplexe Beurteilungen vorzunehmen hat, ein weites Ermessen zuerkennt und auf dieser Grundlage den gerichtlichen Kontrollmaßstab, insbesondere was den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz anbelangt, in der Tat auf die Frage beschränkt, ob die zu überprüfende Maßnahme zur Erreichung des „verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet ist“ [so zur Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit aus Gründen des Gesundheitsschutzes jüngst EuGH, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573, Rn. 145 (Deutschland/Parlament und Rat) m. w. N. – Hervorhebung durch den Verfasser]. 716

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falls ausdrücklich allein an die „Union“ richtende aktuelle Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EUV bindet demnach unmittelbar auch die Organe der Europäischen Gemeinschaften, d.h. das Europäische Parlament, den Rat, die Kommission, den Gerichtshof und den Rechnungshof. Eine rechtliche Stütze findet diese Bewertung nicht zuletzt in dem aus den Art. 3 Abs. 1 und Art. 5 EUV zu entnehmenden Gebot kohärenten Handelns in einem einheitlichen institutionellen Rahmen. Justitiabel ist die in Art. 6 Abs. 2 EUV enthaltene grundrechtliche Achtungsverpflichtung der Unionsorgane aufgrund der kompetentiellen Einschränkungen nach Art. 46 lit. d) EUV aber nur im Zusammenhang mit der anderweitigen Zuständigkeit des EuGH im Rahmen der Verträge, so dass in den intergouvernemental ausgeprägten Bereichen der PJZS und der GASP der materiellen Grundrechtsbindung derzeit keine umfassende und insbesondere nicht seitens des Einzelnen zu erreichende Kontrolle durch den EuGH gegenübersteht719. Diese Diskrepanz zwischen der materiellen Bindungswirkung und der unionsrechtlichen Einklagbarkeit der Grundrechte spiegelt zugleich eine Besonderheit der Unionsrechtsordnung wider720. Soweit das EuG demgegenüber von einer Abhängigkeit der materiellen Grundrechtsgeltung von der vertraglich vorgesehen Jurisdiktionskompetenz des Gerichtshofs ausgeht721, verkennt diese Position das normative Verhältnis zwischen der allgemein für die gesamte Union geltenden materiellrechtlichen Vorschrift des Art. 6 Abs. 2 EUV und der speziell die Zuständigkeiten des EuGH betreffenden und diese relativierenden formellrechtlichen Regelungen des Art. 46 EUV. Das EuG übersieht hier folglich das im unionalen Vertragssystem angelegte aliud-Verhältnis zwischen materieller Rechtsbindung und prozessualer Durchsetzbarkeit und die damit einhergehende rechtliche Abstraktion zwischen diesen beiden. Der vereinheitlichende Ansatz geht somit fehl.

718 So u. a. schon Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 8; Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1281; Vedder, EuR 1996, 309, 316; a. A. und insoweit unzutreffend etwa Strasser, Grundrechtsschutz in Europa, S. 75 ff. 719 Eine andere Frage ist, ob und inwieweit der EGMR eine Überprüfung unionsrechtlicher Maßnahmen anhand der EMRK vornimmt; dazu ausführlicher unter B. III. 2. a) bb) (3) (a) (bb). 720 s. zu dieser in der Literatur anerkannten Differenzierung etwa Wolf, in: FS Ress, S. 893, 897; vgl. zu den insofern eingeschränkten Kompetenzen des EuGH ausfürhlicher Dörr/Mager, AöR 2000, 387 ff. 721 So bei EuG, T-338/02, Slg. 2004, II-1647, Rn. 37 (Segi u. a./Rat), wenn das Gericht hier ausführt, die Garantie der Achtung der Grundrechte sei in dem zu entscheidenden Fall nicht einschlägig, soweit nach Art. 46 lit. d) EUV keine Zuständigkeit des EuGH bestehe.

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bb) Mitgliedstaaten Weitaus problembehafteter ist die Frage, ob auch die Mitgliedstaaten über Art. 6 Abs. 2 EUV grundsätzlich und allgemein an die Grundrechte der EU gebunden sind. Die Schwierigkeit, dies ohne weiteres anzunehmen, liegt schon im Wortlaut der Norm begründet, der von der Grundrechtsachtung der Union spricht, ohne die Mitgliedstaaten zu erwähnen. Problematisch ist in diesem Kontext ebenfalls, dass Art. 46 lit. d) EUV dem EuGH eine Grundrechtskontrollkompetenz nur gegenüber den „Handlungen der Organe“ einräumt. Indes ist hier abermals zu beachten, dass die materielle Grundrechtsbindung über Art. 6 Abs. 2 EUV losgelöst vom Umfang der Rechtsprechungskompetenzen des Gerichtshofs gilt. Im Bereich des EGV kann die Kontrollbefugnis des EuGH gegenüber mitgliedstaatlichem Handeln insofern bereits dem Art. 220 EGV entnommen werden, während sich die materielle Bindung der Union und auch ihrer Mitgliedstaaten als den wesentlichen Vollziehungsstellen im Gefüge des institutionellen Rechtsvollzugssystems aus Art. 6 Abs. 2 EUV ergibt722. Nur diese Beurteilung dürfte dem Charakter der Union als Mehrebenensystem gerecht werden, in welchem der Rechtsvollzug im Regelfall in den Händen der Mitgliedstaaten liegt723. Der Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts in Verbindung mit den rechtsstaatlichen Verbürgungen der Union bedingt folglich, dass im Falle mitgliedstaatlichen Handelns mit gemeinschaftsrechtlichem Bezug gerade auch die Grundrechte dieser Rechtsordnung den zu gewährenden Schutz vor übermäßigem Gebrauch der Hoheitsgewalt vermitteln. Konsequenterweise hat auch der Gerichtshof die unionsgrundrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten frühzeitig anerkannt, wobei er dies jedoch zumeist an die recht vage formulierte und nicht näher konkretisierte Voraussetzung geknüpft hat, dass die relevante nationale Maßnahme „im Rahmen des Gemeinschaftsrechts“724, „auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts“725 respektive im „Geltungs-“726 oder „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“727 ergangen ist. In jüngerer Zeit spricht der Gerichtshof zuweilen 722 A. A. insoweit Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 144 ff., der die Bindungswirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV auf den intergouvernementalen Unionsbereich und die Gemeinschaften beschränkt. 723 Dazu ausführlicher Winter, EuR 2005, 255 ff.; zur betreffenden Charakterisierung als Mehrebenensystem etwa Pernice, EuR 1996, 27, 29 ff.; ebenso Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, S. 40. 724 EuGH, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719, Rn. 28 (Demirel). 725 EuGH, verb. Rsn. 60/84 u. 61/84, Slg. 1985, 2605, Rn. 26 (Cinéthèque). 726 EuGH, Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909, Rn. 12 f. (Procédure pénale contre Maurin). 727 EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 42 (ERT); EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 15 (Kremzow).

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auch von der Bindung der Mitgliedstaaten bei der „Durchführung von Gemeinschaftsregelungen“728. Gemeint können damit folgende verschiedene Bereiche mitgliedstaatlichen Verhaltens sein. (1) Grundfreiheitliche Einschränkungen Zum einen hat der EuGH hierzu die Fälle der mitgliedstaatlichen Beschränkungen der Grundfreiheiten gezählt729, was unterdessen auf vehemente Kritik in der Literatur gestoßen ist, die im Wesentlichen darin besteht, dass grundfreiheitliche Beschränkungen durch einen Mitgliedstaat nicht ohne weiteres dazu geeignet seien, die Gewährleistung des Vorrangs und der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts in Frage zu stellen, sondern aufgrund des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung sowie des Subsidiaritätsprinzips gerade dem nationalen Recht zuzuordnen seien und in Konsequenz grundsätzlich keine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte in diesen Fällen bestehe730. Trotz dieser im Ansatz durchaus berechtigten Bedenken kann dem Bereich mitgliedstaatlicher Beschränkungen der EG-Grundfreiheiten nicht vollends der Bezug zu den Gemeinschaftsgrundrechten abgesprochen werden. Denn genau genommen sind hier nationale und gemeinschaftsrechtliche Elemente miteinander verwoben und mithin beide Ebenen betroffen. Dies resultiert vor allem aus dem Umstand, dass die betreffende Maßnahme zum einen zwar allein mitgliedstaatlich initiiert ist731, zum anderen aber die der Rechtswidrigkeit einer grundfreiheitlichen Einschränkung entgegenstehenden Rechtfertigungsgründe, namentlich die in den Art. 30, 39 Abs. 3, 728

u. a.).

EuGH, verb. Rsn. C-80/99 bis C-82/99, Slg. 2001, 7211, Rn. 59 (Flemmer

729 Vgl. EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 (Familiapress); EuGH, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31 (Society for the protection of unborn children Ireland); EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 40 (Carpenter); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74 (Schmidberger). Zustimmend und die Gemeinschaftsgrundrechte insofern als „Schranken-Schranken“ der Grundfreiheiten begreifend die h. M. im Schrifttum: vgl. etwa Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 141 ff.; Jürgensen/ Schlünder, AöR 1996, 200, 213 ff.; Kühling, EuGRZ 1997, 296, 299 f.; Rengeling, in: FS Rauschning, S. 225, 240; vgl. weiter Szczekalla, Grundrechte, in: Rengeling, Umweltrecht, § 12, Rn. 31; ausführlicher auch Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 60 ff. 730 Dazu Kingreen, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 62; s. auch die kritischen Bemerkungen bei Kingreen/Störmer, EuR 1998, 263, 281 ff.; Coppel/O’Neill, CMLR 1992, 669, 672; Ritgen, ZRP 2000, 371, 373; ebenfalls schon im Ansatz kritisch und zur Vorsicht auffordernd Ruffert, EuGRZ 1995, 518, 528 f. 731 So zutreffend Mager, JZ 2003, 204, 205.

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46, 55, 57 und 58 EGV genannten732 und die durch die Rechtsprechung des EuGH eingeführten und konkretisierten zwingenden Erfordernisse733 im Interesse der einheitlichen Geltung der Grundfreiheiten in den Mitgliedstaaten allein auf gemeinschaftsrechtlich definierten Kriterien fußen. In diesem Zusammenhang ist fernerhin von Bedeutung, dass der EuGH die Gemeinschaftsgrundrechte seit jüngerer Zeit gerade auch zu jenen Interessen zählt, die eine grundfreiheitliche Beschränkung rechtfertigen können734. Vor diesem Hintergrund erschiene es nur schwerlich einleuchtend, wenn die Grundrechte nicht auch umgekehrt als unionsrechtlicher Begrenzungsmaßstab für die mitgliedstaatlichen Einschränkungen fungieren würden. Darüber hinaus richtet sich ebenso die auf eine nationale Maßnahme bezogene Verhältnismäßigkeitsprüfung nach den Vorgaben des gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes735. Da es zwingend geboten erscheint, die an das mitgliedstaatliche Verhalten zu stellenden Rechtmäßigkeitsanforderungen unionsweit einheitlich zu determinieren, sind in die betreffende Inte732 Diese handhabt der EuGH einheitlich, abschließend und regelmäßig restriktiv, billigt aber den Mitgliedstaaten zugleich einen gewissen Entscheidungsspielraum zu; vgl. dazu beispielhaft EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219, Rn. 26/28 (Rutili); EuGH, Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881, Rn. 12 u. 19 (Kommission/Belgien) sowie Rs. 95/81, Slg. 1982, 2187, Rn. 27 (Kommission/Italien). 733 Nach der st. Rspr. [seit EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1976, 649, Rn. 8 (Cassis de Dijon)] zählen dazu die wirksame steuerliche Kontrolle, die öffentliche Gesundheit und die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucherschutz. Darüber hinaus hat der EuGH anerkannt: den Gläubiger-, Minderheitsgesellschafter- und Arbeitnehmerschutz [vgl. EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919, Rn. 92 (Überseering); ebenso EuGH, Rs. C-411/03, Slg. 2005, I-10805, Rn. 28 (SEVIC Systems)], den Umweltschutz [vgl. EuGH, Rs. 302/86, Slg. 1988, 4607, Rn. 8 f. (Kommission/Dänemark)], die Verkehrssicherheit [vgl. EuGH, Rs. C-314/98, Slg. 2000, I-8633, Rn. 55 (Snellers Auto’s BV)] und die Medienvielfalt [vgl. EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 18 (Familiapress)]. Unbehandelt soll insofern die Frage bleiben, ob die auf solchen zwingenden Erfordernissen beruhenden Gründe negative tatbestandsimmanente Schranken der Grundfreiheiten oder aber neben den Art. 30, 39 Abs. 3, 46, 55, 57 und 58 EGV stehende echte Rechtfertigungsgründe bilden. Jedenfalls können auch die Gemeinschaftsgrundrechte eine hinreichende Berechtigung für eine grundfreiheitliche Einschränkung im Sinne der Cassis-Rechtsprechung liefern [vgl. dazu die Schlussanträge des Generalanwalts Jacobs zu EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 101 f. (Schmidberger) sowie die Nachweise in der folgenden Fn.]. 734 Zur Meinungsäußerungsfreiheit EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 ff. (Karner); zu selbiger und der Versammlungsfreiheit EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74 (Schmidberger); zur Menschenwürde EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079, Rn. 70 ff. (Biopatentrichtlinie); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 ff. (Omega). 735 Vgl. zu diesem schon EuGH, verb. Rsn. 41, 121 und 796/79, Slg. 1980, 1979, Rn. 21 (Testa/Bundesanstalt für Arbeit); ausführlicher zu dem Thema EmmerichFritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EGRechtsetzung, S. 136 ff.

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ressen- und Güterabwägung folglich auch die Gemeinschaftsgrundrechte einzubinden. Die Mitgliedstaaten führen in diesen Bereichen demnach zwar nicht im engsten Sinne Unionsrecht durch, doch haben sie es über die Art. 30, 39 Abs. 3, 46, 55, 57 und 58 EGV sowie die Rechtsprechung des EuGH zu beachten und sind dabei in vollem Umfang für die Unionsrechtskonformität ihrer Handlungen verantwortlich736. (2) Richtlinienumsetzung Zu der weiteren Frage, ob und inwieweit die Gemeinschaftsgrundrechte auch bei der Umsetzung von EG-Richtlinien zu beachten sind, erscheinen differenzierende Betrachtungen angebracht. Auszugehen ist hierbei von dem Grundsatz, dass eine Unterwerfung nationaler Rechtsakte unter die Gemeinschaftsgrundrechte nur in solchen Fällen angezeigt ist, in denen die jeweilige Maßnahme materiell auch dem Unionsrecht zuzurechnen ist und aufgrund des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts daher regelmäßig nicht an nationalen Grundrechten gemessen werden kann. In diesem Kontext ist zunächst eine Unterscheidung zwischen mitgliedstaatlich umzusetzenden und ausnahmsweise direkt anwendbaren Richtlinienbestimmungen angezeigt. Entfaltet eine Richtlinie ausnahmsweise unmittelbare Wirkungen737, so stellt sich der gebundene Vollzugsakt der mitgliedstaatlichen Exekutive nur als ein mit fester Hand geführtes Werkzeug der Gemeinschaft dar und ist schon aus diesem Grund allein an den Grundrechten der EU zu messen. Soweit eine Richtlinie, wie in der Regel der Fall, nicht unmittelbar anwendbar ist, erscheint sogleich eine weitere Differenzierung angebracht, die sich maßgeblich nach den jeweiligen Verantwortungssphären zu richten hat, aus denen der zu überprüfende Akt herrührt. Da der EuGH sich nach eigenem Bekunden die Befugnis abspricht, nationale Regelungen in solchen Bereichen, die in das Ermessen des nationalen Gesetzgebers fallen, an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen738, richtet sich die Grundrechtskonformität des Umsetzungsakts, soweit er keiner konkreten 736 So auch Klein, AfP 1994, 9, 12; ferner ders., in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 11. 737 Zu den einzelnen Voraussetzungen grundlegend EuGH, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825, Rn. 5 (Grad) – hier zunächst bezogen auf die unmittelbare Wirkung einer Entscheidung gem. Art. 249 Abs. 4 EG. Vgl. i.Ü. etwa EuGH, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rn. 21 (Becker) sowie zur objektiven unmittelbaren Wirkung EuGH, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 (Großkrotzenburg); ausführlicher im speziellen Bezug auf Richtlinien auch bereits Klein, in: FS Everling, S. 641 ff.; vgl. ferner zu dem Thema Epiney, DVBl. 1996, 409 ff.; Götz, in: FS Ress, S. 485 ff. 738 Vgl. dazu EuGH, verb. Rsn. 60/84 u. 61/84, Slg. 1985, 2605, Rn. 26 (Cinéthèque).

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Vorbestimmung der Richtlinie unterworfen ist und sich in dem durch die Richtlinie eingeräumten Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers bewegt, allein nach dem innerstaatlichen Rechtsmaßstab739. Dies gilt erst recht, wenn nur anlässlich der Richtlinienumsetzung autonome nationale, inhaltlich den gleichen Rechtsbereich betreffende und zugleich über die Richtlinienvorgaben hinausgehende Regelungen ergehen. Lässt eine Richtlinie hingegen nur einen partiellen oder gar keinen Gestaltungsspielraum bei der Umsetzung740, so fungiert der nationale Umsetzungsakt in dem betreffenden Umfang in Wahrheit als ein starres Transportmittel der Richtlinienbestimmungen auf dem Weg zur Anwendung des Gemeinschaftsrechts in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, dessen Richtung nicht von den Mitgliedstaaten bestimmt wird, sondern vielmehr von den zuständigen Gemeinschaftsorganen vorgegeben ist. In jenem prädeterminierten Bereich entspringt die etwaige Grundrechtsrelevanz der direkten Verantwortungssphäre der EU, in welcher folgerichtig grundsätzlich allein die Wertmaßstäbe dieses Rechtssystems zur Anwendung kommen741. In Anlehnung an die das Vgl. Klein, VVDStRL 1991, 56, 83 f. Zwar erscheint es nicht ausgeschlossen, dass eine Maßnahme in Gestalt einer Richtlinie in Wahrheit eine „verschleierte Entscheidung“ gegenüber dem Mitgliedstaat darstellt [eine entsprechende Formulierung findet sich bei EuGH, Rs. C-10/95 P, Slg. 1995, I-4149, Rn. 32 (Asocarne/Rat)], grundsätzlich aber behält eine Richtlinie ihre Rechtsnatur auch im Falle einer besonders hohen Regelungsdichte bei [st. Rspr., vgl. etwa EuGH, Rs. C-298/89, Slg. 1993, I-3605, Rn. 17 (Gibraltar/Rat); EuGH, Rs. C-10/95 P, Slg. 1995, I-4149, Rn. 30 (Asocarne/Rat)], zumal einzelne in einer Richtlinie enthaltene Beschränkungen oder Ausnahmen, mögen diese auch nur vorübergehender oder räumlicher Art sein, als Bestandteil der gesamten Vorschrift grundsätzlich die Rechtsnatur derselben teilen [vgl. dazu EuGH, Rs. C-298/89, Slg. 1993, I-3605, Rn. 18 (Gibraltar/Rat)]. Das Umschlagen einer Richtlinie in eine Verordnung bildet hingegen die Ausnahme, da jene nur für den oder die mitgliedstaatlichen Adressaten verbindlich ist und auch trotz hoher Regelungsdichte grundsätzlich einer Umsetzung bedarf, um in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zur Geltung zu kommen. Wenn überdies eine Richtlinie ausnahmsweise zugunsten Einzelner unmittelbar anwendbar ist, geschieht dies nicht auf der Grundlage eines Wechsels der Rechtsnatur der Maßnahme, sondern aus dem Bedürfnis nach einer effektiven und einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts heraus sowie zugleich zur Sanktionierung des säumigen Mitgliedstaats. Eine den Verordnungen typische unmittelbare Verpflichtungswirkung für den Einzelnen vermag von Richtlinienbestimmungen aber gerade nicht auszugehen [vgl. EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24 (Faccini Dori); EuGH, Rs. C-192/94, Slg. 1996, I-1281, Rn. 17 (El Corte Inglés); EuGH, Rs. C-97/96, Slg. 1997, I-6843, Rn. 24 (Verband deutscher Daihatsu-Händler/Daihatsu)]. 741 Vgl. aber hinsichtlich der Reservekompetenz des BVerfG zur Verwerfung eines Rechtsakts der Union im Falle des generellen und offenkundigen Unterschreitens des vom deutschen Gesetzgeber geforderten Maßes an Grundrechtsschutz auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts insbesondere die Solange II-Entscheidung des BVerfG in BVerfGE 73, 339, insb. 387, bestätigt in BVerfGE 89, 155, 174 f. (Maastricht) sowie ausdrücklicher in BVerfGE 102, 147, 162 f. (Bananenmarktordnung); 739 740

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französische Rechtssystem prägende Theorie von der „loi-écran“ entfaltet die Richtlinie im Umfang und in den Grenzen ihrer Vorgaben gleichsam eine grundsätzliche Sperrwirkung gegenüber den nationalen Grundrechtsregimes742. Hieraus folgt aber nicht auch die Überprüfbarkeit des nationalen Umsetzungsakts am Maßstab der Gemeinschaftsgrundrechte, da es nach dem Gesagten zunächst nur auf die Grundrechtskonformität der Richtlinienbestimmungen ankommt, während die auf die Vorgaben einer Richtlinie rückführbaren Teile des Umsetzungsakts insoweit weder einer nationalen noch einer unionalen Grundrechtskontrolle bedürfen. Erklärt der für die Verwerfung eines Unionsrechtsakts allein zuständige EuGH die fraglichen Richtlinienbestimmungen für nichtig und entfällt also der Link des Umsetzungsakts zum Gemeinschaftsrecht, so ist Letzterer wieder und sodann ausschließlich der Prüfung anhand der nationalen Grundrechte zugänglich. Solange aber die Regelungen der Richtlinie mangels erfolgreicher Nichtigerklärung fortbestehen, mithin die „Nabelschnur“ des nationalen Umsetzungsakts zur Richtlinie intakt ist743, verantworten sie im Rahmen des Prinzips des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts auch die Gültigkeit der auf sie zurückgehenden nationalen Umsetzungsvorschriften744. Der daraus resultierende, differenzierte Anwendungsbereich der Gemeinschafsgrundrechte bei der Richtlinienumsetzung kann zwar insbesondere bei Vorliegen eines großen oder variierenden Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten zu nicht unerheblichen Abgrenzungsproblemen hinsichtlich des heranzuziehenden Grundrechtsstandards führen. Äquivalente Probleme können sich ebenso ergeben, wenn bereits der Richtlinie genügende, aber zugleich weitere, inhaltlich verwandte mitgliedstaatliche Rechtsbestimmungen existieren, da auch hier die Übergänge von unionsrechtlich veranlasstem naauf diese Rechtsprechung wieder Bezug nehmend BVerwG, DVBl. 2005, 1383, 1386. Ähnlich geäußert haben sich etwa das dänische Højesteret in der Rechtssache Hanne Norup Carlsen/Statsminister Poul Nyrup Rasmussen (UfR 1999 H 800) sowie die italienische Corte Constituzionale in der Rechtssache Fragd SpA/Amministrazione delle Finanze (Entscheidung 232 vom 21. April 1989, 72 RDI). 742 Die Theorie von der „loi-écran“ geht dabei freilich einen anderen Weg, soweit sie zur Sperrung der gerichtlichen Kontrolle eines Rechtsakts wegen der Immunität der Parlamentsgesetze führt. Hinzuweisen ist zudem auf die Aufgabe der Theorie im Bereich des Gemeinschaftsrechts [vgl. C.E. vom 20. Oktober 1989, Rec., S. 190 ff. (Nicolo); C.E. vom 24. September 1990, Rec., S. 251 ff. (Boisdet) und C.E. vom 28. Februar 1992, Rec., S. 78 ff. (SA Rothmanns u. a.)]. 743 s. dazu die Formulierung bei Klein, in: FS Everling, S. 641, 650. 744 In diesem Sinne nunmehr auch jüngst das BVerfG in Erweiterung seiner Solange-Rspr. auf Richtlinien: BVerfG, 1 BvF 1/05 v. 13.3.2007, Absatz-Nr. 66 ff., www.bverfg.de (Entscheidung abgedruckt in DVBl. 2007, 821; NVwZ 2007, 937; WM 2007, 1478; EuGRZ 2007, 340).

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tionalen Recht und solchem rein mitgliedstaatlichen Ursprungs nicht selten fließend und für die vollziehende staatliche Stelle nur schwerlich auszumachen sind745. Zur Lösung der Abgrenzungsprobleme kann wohl die genaue Eingrenzung der Rechtsgestaltungssphären ein hinreichendes Differenzierungsmittel liefern, wofür freilich die genaue Kenntnis von Inhalt und Umfang der jeweiligen Richtlinienvorgaben notwendig ist. (3) Umsetzungsakte in den Bereichen der GASP und der PJZS Die im Rahmen der Umsetzung von Gemeinschaftsrichtlinien angestellten Überlegungen können grundsätzlich auch im Bereich der mitgliedstaatlichen Umsetzung von unionsrechtlichen Maßnahmen des Europäischen Rats der Staats- und Regierungschefs greifen, da jene Handlungen den Mitgliedstaaten ebenfalls regelmäßig einen gewissen Umsetzungsspielraum belassen und folglich auch hier zwei Sphären, die unionale und die nationale, unterschieden werden können. Zugleich müssen aber zum Fall der EGRichtlinienumsetzung auch wesentliche Abweichungen konstatiert werden. Zum einen entstehen unionale Maßnahmen im Rahmen der Säulen der GASP und der PJZS intergouvernemental und damit wegen des grundsätzlichen Erfordernisses einstimmiger Beschlussfassung746 regelmäßig unter maßgeblicher Mitwirkung eines jeden Mitgliedstaats, so dass sie nicht aus der Hand eines oder mehrerer eigenständiger Organe stammen, auf welche die Mitgliedstaaten nur mittelbaren Einfluss haben. Zum anderen herrscht hier die bereits angesprochene Konstellation vor, dass der EuGH trotz einer materiellen Grundrechtsbindung der gesamten Union auch in den Bereichen der GASP und PJZS aufgrund der Regelung des Art. 46 EUV keine vollumfängliche (Grundrechts-)Kontrollkompetenz besitzt. Insbesondere haben bislang nicht alle Mitgliedstaaten die im Bereich der PJZS gemäß Art. 35 i. V. m. 46 lit. b) EUV vorgesehene Fakultativkompetenz eingeräumt747. 745 In diesem Sinne auch Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 29, Rn. 26; insofern ebenfalls kritisch Stein, in: FS Steinberger, S. 1425, 1435 ff. 746 Vgl. insbesondere Art. 23 Abs. 1 S. 1 und Art. 34 Abs. 2 EUV. 747 Eine Anerkennungserklärung gemäß der Fakultativklausel des Art. 35 Abs. 2 EUV haben bislang neben Deutschland die Mitgliedstaaten Belgien, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, die Tschechische Republik und Ungarn abgegeben, wobei indes die Modalitäten der Unterwerfung teils erheblich differieren. So sehen Finnland, Griechenland, Portugal und Schweden für keine Instanz der nationalen Gerichtsbarkeit eine Vorlagepflicht vor. In Spanien haben allein die letztinstanzlich entscheidenden Gerichte die Möglichkeit und zugleich die Pflicht zu einer entsprechenden Vorlage zum EuGH. Allein in den übrigen Mitgliedstaaten ist das Vorlagesystem an jenes des Art. 234 EGV angelehnt, so dass hier sämtliche nationalen Gerichte vor-

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Vor diesem Hintergrund erscheint es umso wichtiger, zumindest eine effektive Kontrolle des nationalen Umsetzungsaktes durch die nationalen Verfassungsgerichte anhand der nationalen Grundrechte zu gewährleisten. Diese Position hat auch das BVerfG in seiner Entscheidung zum Europäischen Haftbefehl eingenommen, in welcher es mit dem für diesen Bereich nötigen Fingerspitzengefühl den Europäischen Akt ungeprüft ließ748, das staatliche Umsetzungsgesetz demgegenüber auf der Grundlage einer festgestellten Missachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der in Art. 19 IV GG verbürgten Rechtsweggarantie für nichtig erklärte749. Dass durch die Aufhebung eines gegen die nationalen Grundrechte verstoßenden Umsetzungsaktes der Grundsatz loyaler Zusammenarbeit verletzt wird, der nach der Auffassung des EuGH unter maßgeblicher Verweisung auf Art. 1 Abs. 2 und 3 EUV auch für den Bereich der GASP bedeutet, dass die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen nach dem Recht der EU zu treffen haben750, ist insofern nicht ernsthaft zu befürchten, da der Unionsakt ganz regelmäßig einen entsprechend grundrechtskonformen Neuerlass des Umsetzungsgesetzes zulässt751. cc) Partikuläre Beschränkungen der Gerichtskontrolle im Bereich völkerrechtlich bedingter Handlungen? Die Reichweite der judikativen Grundrechtskontrolle in Bezug auf Handlungen der Organe der EU, der EG und auch der Mitgliedstaaten kann indessen eine sensible Einschränkung erfahren, wenn das hoheitliche Unionshandeln aus einer zwingenden völkerrechtlichen Verpflichtung erwächst, wie es aktuell vor allem im Bereich gemeinsamer Aktionen gegen den inlegen können und die konkret-funktional letztinstanzlich entscheidenden Gerichte vorlegen müssen. 748 s. zu einer abweichenden Beurteilung v. Unger, NVwZ 2005, 1266 ff. 749 Vgl. BVerfGE 113, 273 (Europäischer Haftbefehl); dazu ausführlicher Jekewitz, GA 2005, 625 ff.; Kretschmer, Jura 2005, 780 ff.; ferner Mitsch, JA 2006, 448 ff.; besonders kritisch zu der Entscheidung Vogel, JZ 2005, 801 ff. 750 Vgl. EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 41 ff. (Pupino); dazu kritisch Hillgruber, JZ 2005, 841 ff. Auch das EuG wendet den Grundsatz beiderseitiger loyaler Zusammenarbeit im unionalen Bereich an, vgl. etwa jüngst EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 123 ff. (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 751 So auch im Fall BVerfGE 113, 273 zum europäischen Haftbefehl, da nach Art. 34 Abs. 2 lit. b EUV der europäische Rahmenbeschluss und so eben auch jener über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (ABl. EG Nr. L 190/1 vom 18. Juli 2002) grundsätzlich nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich ist und folglich gewisse Umsetzungsspielräume belässt.

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ternationalen Terrorismus der Fall ist. Haben solche Maßnahmen ihren Ausgangspunkt in einer nach den Art. 24 Abs. 1 und 41 der Charta der Vereinten Nationen752 vom UN-Sicherheitsrat erlassenen Resolution und werden sie durch die EU umgesetzt, so verzahnen sich auf komplexe Weise völkerrechtliche, europarechtliche und innerstaatliche Rechtssphären753. Denn nach Art. 25 UN-Charta sind die UN-Mitglieder verpflichtet, die Beschlüsse des Sicherheitsrats im Einklang mit der UN-Charta anzunehmen und durchzuführen, wobei dies nach Art. 48 Abs. 2 UN-Charta unmittelbar durch die UN-Mitglieder und ebenso durch Maßnahmen in den geeigneten internationalen Einrichtungen zu geschehen hat und nach Art. 103 UN-Charta Kollisionen zwischen Verpflichtungen aus der UNCharta und aus anderen internationalen Übereinkünften stets zulasten Letzterer aufzulösen sind. Wie die folgende Darstellung jüngerer Entscheidungen des EuG und des EuGH zeigen wird, kann dieser Vorrang im Felde antiterroristischer Bemühungen der UN auch bedeutende Auswirkungen auf die Dichte des justitiellen Grundrechtsschutzes haben. Die Judikate bewegen sich dabei in zwei verschiedenen Teilbereichen desselben UN-Aktionsfeldes, nämlich zum einen im Bereich restriktiver Maßnahmen gegen Osama bin Laden und mit ihm zusammenhängende Personen und Einrichtungen und zum anderen im Bereich der allgemeinen internationalen Terrorismusbekämpfung.

752 UN-Charta vom 26. Juni 1945, in Kraft getreten am 24. Oktober 1945, für die BRD am 18. September 1973; deutsche Quelle: BGBl. 1973 II 431; 1974 II 770 (Änderung des Art. 61); in der Fassung der Bekanntmachung vom 28. August 1980, BGBl. 1980 II 1252; internationale Quelle: UNCIO Bd. 15, S. 335. Art. 24 der UN-Charta lautet: „Um ein schnelles und wirksames Handeln der Vereinten Nationen zu gewährleisten, übertragen [die] Mitglieder [der Organisation der Vereinten Nationen (UNO)] dem Sicherheitsrat die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit und erkennen an, dass der Sicherheitsrat bei der Wahrnehmung der sich aus dieser Verantwortung ergebenden Pflichten in ihrem Namen handelt.“; Art. 41 der UN-Charta lautet: „Der Sicherheitsrat kann beschließen, welche Maßnahmen – unter Ausschluss von Waffengewalt – zu ergreifen sind, um seinen Beschlüssen Wirksamkeit zu verleihen; er kann die Mitglieder der Vereinten Nationen auffordern, diese Maßnahmen durchzuführen. Sie können die vollständige oder teilweise Unterbrechung der Wirtschaftsbeziehungen, des Eisenbahn-, See- und Luftverkehrs, der Post-, Telegrafen- und Funkverbindungen sowie sonstiger Verkehrsmöglichkeiten und den Abbruch der diplomatischen Beziehungen einschließen.“ 753 Dazu ausführlicher v. Bubnoff, NJW 2002, 2672 ff.

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(1) Die Entscheidungen des EuG und des EuGH in den Rechtssachen Yusuf, Kadi und Ayadi Die erste Gruppe der Gerichtsentscheidungen bilden die Rechtssachen Yusuf754, Kadi755 und Ayadi756, die allesamt im Umfeld der vom UN-Sicherheitsrat in Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 verabschiedeten und gezielt gegen die Taliban, Osama bin Laden, das Al-Qaida-Netzwerk sowie die mit ihnen zusammenhängenden Personen und Einrichtungen gerichteten UN-Resolutionen757 angesiedelt sind758. (a) Tatsächliche und rechtliche Hintergründe Die betreffenden UN-Resolutionen ergingen insbesondere zur Einfrierung und Sicherstellung der finanziellen Ressourcen der genannten Personen und Einrichtungen durch die UN-Mitglieder. Die Bestimmung der als mit Osama Bin Laden verbunden zu betrachtenden Personen und Einrichtungen oblag und obliegt dem im Zuge der Antiterrorbemühungen eingerichteten UN-Sanktionsausschuss759, der hierüber als Hilfsorgan des UN-Sicherheitsrats auf der Grundlage der von den Staaten und regionalen Organisationen gelieferten Informationen zu entscheiden hat. Eine Befreiung von den sanktionären Maßnahmen ist nur aus humanitären Gründen und nur mit Zustimmung des Sanktionsausschusses vorgesehen. Jeder Betroffene kann aber unter bestimmten Umständen und nach einem bestimmten Verfahren durch den UN-Mitgliedstaat, in dem er wohnt bzw. ansässig ist oder dessen Staatsangehörigkeit oder -zugehörigkeit er besitzt, beim Sicherheitsausschuss einen Antrag auf Entfernung des Namens von der Liste stellen lassen760. Im Rahmen der Resolutionsbestimmungen werden alle Staaten und EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission). 755 EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). 756 EuG, verb. Rsn. T-253/02 und T-49/04, Slg. 2006, II-2139 (Ayadi/Rat). 757 Es handelt es sich im Wesentlichen um die Resolution 1267 (1999) vom 15. Oktober 1999, Resolution 1333 (2000) vom 19. Dezember 2000, Resolution 1390 (2002) vom 16. Januar 2002, Resolution 1452 (2002) vom 20. Dezember 2002, Resolution 1455 (2003) vom 17. Januar 2003, Resolution 1526 (2004) vom 30. Januar 2004 und Resolution 1617 (2005) vom 29. Juli 2005. 758 Vor dem EuG sind aktuell etwa weiterhin die Verfahren in der Rs. T-135/06 (Al-Faqih/Rat), Rs. T-136/06 (Sanabel Relief Agency/Rat), Rs. T-137/06 (Abdrabbah/Rat) und Rs. T-138/06 (Nasuf/Rat) anhängig. 759 Zu diesem näher Bartelt/Zeitler, EuZW 2003, 712, 713. 760 Dieses mittelbare Überprüfungsverfahren wurde auch in den hier dargestellten Rechtssachen durch einige Personen erfolgreich genutzt, so dass deren finanzielle 754

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internationalen wie regionalen Organisationen ausdrücklich dazu aufgefordert, die beschlossenen Maßnahmen ungeachtet ihrer Rechte oder Pflichten aus anderen internationalen Übereinkünften zu ergreifen. Zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen hat sich die EU der Umsetzung der UN-Resolutionen angenommen und eine Reihe von Gemeinsamen Standpunkten761 erlassen, die ihrerseits durch jeweilige EG-Verordnungen762 Eingang in das Gemeinschaftsrechts gefunden haben. Im Anhang Letzterer sind in steter Übereinstimmung mit den Vorgaben des UN-Sanktionsausschusses auch die von den Maßnahmen betroffenen Personen, Institutionen und Einrichtungen aufgelistet. Nach einer entsprechendern Listenaktualisierung haben betroffene Personen gegen die einschlägigen Verordnungsbestimmungen sowie hilfsweise gegen die Aufnahme in den Verordnungsanhang Nichtigkeitsklage erhoben. (b) Wesentliche Rechtsausführungen des EuG Zunächst gelangte das EuG in den beiden Rechtssachen Yusuf und Kadi nach ausführlicher Prüfung der möglichen Rechtsgrundlagen der angegriffenen Verordnung zu der Auffassung, dass der Rat allein durch eine kombinierte Anwendung der Art. 60 und 301 EGV763 i. V. m. Art. 308 EGV die Kompetenz zur Verhängung wirtschaftlicher und finanzieller Sanktionen gegenüber Privatpersonen im Rahmen des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus besitzt764. Anschließend leitete das Gericht aus dem aus völMittel letztlich wieder freigegeben wurden und sie ihre Klagen vor dem Gericht erster Instanz zurücknehmen konnten. 761 Gemeinsamer Standpunkt 1999/727/GASP vom 15. November 1999 über restriktive Maßnahmen gegen die Taliban (ABl. EG L 294/1); Gemeinsamer Standpunkt 2001/154/GASP vom 26. Februar 2001 über weitere restriktive Maßnahmen gegen die Taliban und zur Änderung des Gemeinsamen Standpunkts 96/746/GASP (ABl. EG L 57/1); Gemeinsamer Standpunkt 2002/402/GASP vom 27. Mai 2002 betreffend restriktive Maßnahmen gegen Osama bin Laden, Mitglieder der AlQaida-Organisation und die Taliban sowie andere mit ihnen verbündete Personen, Gruppen, Unternehmen und Einrichtungen und zur Aufhebung der Gemeinsamen Standpunkte 96/746, 1999/727, 2001/154 und 2001/771/GASP (ABl. EG L 139/4); Gemeinsamer Standpunkt 2003/140/GASP vom 27. Februar 2003 betreffend Ausnahmen zu den restriktiven Maßnahmen aufgrund des Gemeinsamen Standpunkts 2002/402 (ABl. EG L 53/62). 762 Aktuell Verordnung (EG) Nr. 881/2002 des Rates vom 27. Mai 2002 über die Anwendung bestimmter spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen, die mit Osama bin Laden, dem Al-Qaida-Netzwerk und den Taliban in Verbindung stehen (ABl. EG L 139/9). 763 Diese erlauben dem Rat, wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen gegen Drittländer zu verhängen, wenn ein im Rahmen der GASP angenommener Gemeinsamer Standpunkt des EU-Rats dies vorsieht.

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kerrechtlicher Perspektive bestehenden Vorrang der UN-rechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten gegenüber anderen völkerrechtlichen Verpflichtungen, so auch gegenüber jenen aus der EMRK und dem EG-Vertrag, sowie aus der gemeinschaftsvertraglich angelegten Einbeziehung der EG in die Verbindlichkeiten gegenüber der Charta die Verpflichtung ab, die EGMitgliedstaaten bei der Erfüllung der UN-Pflichten nicht zu behindern, sondern innerhalb der eigenen Kompetenzen mit den erforderlichen Handlungen zu unterstützen765. Sodann stellte das EuG klar, dass die angegriffene Verordnung die UNrechtlichen Vorgaben auf der Basis einer gebundenen Befugnis und mithin ohne jedwede Ermessensbetätigung umsetze, so dass sich die gerichtliche Prüfung zur Vermeidung einer den Gemeinschaftsgerichten versagten Inzidentkontrolle der UN-Resolution anhand des Gemeinschaftsrechts auf den Maßstab des völkerrechtlichen ius cogens im Sinne des internationalen „ordre public“ beschränken müsse766. Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs, den das EuG auf den universellen Schutz der zum ius cogens gehörenden Menschenrechte eingrenzte, vermochte es eine Verletzung der Eigentumsfreiheit oder des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit durch das Einfrieren finanzieller Mittel nicht festzustellen767. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör lehnte das EuG mit der Begründung ab, dass zum einen die Gemeinschaftsorgane angesichts der gebundenen Handlungslinie keinerlei Untersuchungsbefugnisse und Kontrollmöglichkeiten innegehabt hätten und daher das gemeinschaftsrechtliche Prinzip des Anspruchs auf rechtliches Gehör keine Anwendung finde und zum anderen die betreffenden UN-Resolutionen selbst gerade keinen Anspruch auf eine persönliche vorher764 EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 107 ff., insb. 169 f. (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649, Rn. 87 ff., insb. 133–135 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission); hierauf bestätigend Bezug nehmend jüngst EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 98 ff. (Sison/Rat). 765 EuG, a. a. O., Rn. 231 ff., insb. 254 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, a. a. O., Rn. 181 ff., insb. 204 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). Kritisch zur dogmatischen Basis der in diesem Kontext postulierten Verpflichtung der Gemeinschaft gegenüber dem UN-Recht Nettesheim, WHI-Paper 1/2007, S. 17 ff. 766 EuG, a. a. O., Rn. 264 ff., ins. 272 und 277 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, a. a. O., Rn. 213 ff., insb. 221 und 226 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). 767 Das EuG ließ dabei die Frage, ob und inwieweit jene Garantien wirklich Bestandteil des zwingenden Völkerrechts sind, ausdrücklich offen; EuG, a. a. O., Rn. 293 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, a. a. O., Rn. 242 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). Dies übersieht etwa Nettesheim, WHI-Paper 01/07, S. 26, wenn er die Frage aufwirft, welche Kompetenz dem EuG die Bestimmung völkerrechtlichen ius cogens erlaube.

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gehende oder nachträgliche Anhörung der jeweils Betroffenen vorsähen und dies im Lichte des ius cogens auch nicht müssten768. Zuletzt verneinte das EuG auch eine Verletzung des Rechts auf eine effektive gerichtliche Kontrolle und wies insoweit darauf hin, dass schließlich vor den Gemeinschaftsgerichten die Möglichkeit der Erhebung einer – wenn auch im Prüfungsumfang eingeschränkten – Nichtigkeitsklage bestanden habe und im Übrigen das Fehlen die vollumfängliche Gerichtskontrolle ermöglichender Rechtsbehelfe im Bereich des UN-Rechts keinen Verstoß gegen völkerrechtliches ius cogens begründe, da das Recht auf Gerichtszugang nicht schrankenlos sei, es seine Begrenztheit in der Sphäre der UN vielmehr wegen der immunitären Behandlung der UN-Resolutionen als Wesensmerkmal in sich trage und zudem mit der Möglichkeit, sich jederzeit mittelbar über die mitgliedstaatlichen Regierungen an den Sanktionsausschuss zu wenden, ein sachgerechtes und angemessenes Mittel zum Schutze der Grundrechte existiere769. In der Rechtssache Ayadi führte das EuG in Ergänzung zu diesen Erkenntnissen und unter Heranziehung des gleichen Prüfungsmaßstabs aus, dass das Einfrieren der finanziellen Ressourcen für die Betroffenen zwar eine besonders drastische Maßnahme darstelle, diese aber nicht per se eine zufriedenstellende Lebensführung verhindere und insbesondere auch nicht die Berufsausübungsfreiheit verletze770. Im Hinblick auf die in den neueren resolutionsbegleitenden Leitlinien des Sanktionsausschusses und ebenso in der betreffenden EG-Verordnung vorgesehene Möglichkeit, über die zuständige nationale Regierung ein Verfahren zur Überprüfung des eigenen Falles beim Sanktionsausschuss einzuleiten, hob das Gericht unter Hinweisung auf die deutlichen UN-Auslegungsvorgaben und die Abhängigkeit der Betroffenen von diplomatischem Schutz hervor, dass jener mittelbare Rechtsbehelf mit einem gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten Individualrecht korreliere, weshalb die Mitgliedstaaten bei der Bearbeitung eines entsprechenden Einzelantrags auch die Grundrechte der EU zu beachten hätten771. Das EuG konkretisierte diese Verpflichtung dahingehend, dass der Betroffene seinen Standpunkt zweckdienlich gegenüber den zuständigen nationalen Stellen vortragen können müsse, eine Antragsablehnung angesichts des Kenntnismangels des Betroffenen nicht allein mit der Ungenauigkeit oder der feh768 EuG, a. a. O., Rn. 304 ff. (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/ Rat und Kommission); EuG, a. a. O., Rn. 253 ff. (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). 769 EuG, a. a. O., Rn. 264 ff., ins. 272 und 277 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, a. a. O., Rn. 213 ff., insb. 221 und 226 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). 770 EuG, verb. Rsn. T-253/02 und T-49/04, Slg. 2006, II-2139, Rn. 121 ff. (Ayadi/Rat). 771 EuG, a. a. O., Rn. 139 ff., insb. 145 (Ayadi/Rat).

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lenden Erheblichkeit der von ihm beigebrachten Informationen begründet werden dürfe und die Mitgliedstaaten die Angelegenheit im Falle eines objektiv gerechtfertigten Antrags unverzüglich auf loyale und unparteiische Weise dem Sanktionsausschuss zur Überprüfung zu unterbreiten hätten772. Schließlich wies das EuG auf die Möglichkeit der Betroffenen hin, vor den innerstaatlichen Gerichten gegen eine missbräuchliche Weigerung der zuständigen nationalen Behörde vorzugehen, sowie damit zusammenhängend auf die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, in Abwesenheit gemeinschaftsrechtlicher Regelungen für die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Sorge zu tragen und daher selbst die zum Schutze der gemeinschaftsrechtlich gewährten Individualrechte erforderlichen Verfahrensmittel unter Beachtung des Effektivitätsprinzips und des Äquivalenzgrundsatzes auszugestalten sowie der praktischen Wirksamkeit entgegenstehendes nationales Recht, wie etwa solches, das den Anspruch auf diplomatischen Schutz aus der gerichtlichen Kontrolle ausnimmt, unangewendet zu lassen773. (c) Wesentliche Rechtsausführungen des EuGH In seiner mit Spannung erwarteten Entscheidung über die Rechtsmittel des Herrn Kadi und der Al Barakaat International Foundation774 befasste sich auch der EuGH aufgrund der abweichenden Stellungnahmen der EUKommission und des Generalanwalts Maduro775 zunächst ungewöhnlich ausführlich mit dem Rechtsmittelgrund der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundlage für die sog. „targeted sanctions“776. Er bestätigte das EuG – indes nur im Ergebnis – in der Ansicht, dass die Art. 60 und 301 EGV ohne die weitere Stützung der „gezielten Sanktionen“ auf Art. 308 EGV nicht hinreichten. Mit der Verordnung, die i.S. von Art. 308 EG mit dem Gemeinsamen Markt in Verbindung stehe, habe wohl auch ein Ziel der Gemeinschaft verwirklicht werden sollen777. Ferner hob der EuGH – weniger von objektiven Kriterien als von dem Bedürfnis nach einer demokratischeren Legitimation geleitet – hervor, dass die ergänzende Heranziehung des Art. 308 EGV als Rechtsgrundlage den Vorteil biete, dass hier das EuropäiEuG, a. a. O., Rn. 147 ff. (Ayadi/Rat). EuG, a. a. O., Rn. 150 ff. (Ayadi/Rat). 774 EuGH, verb. Rsn. C-402/05 und C-415/05, Slg. 2008, I-6351 (Kadi u. a./Rat). Über das Rechtsmittel in der Rechtssache Ayadi hat der EuGH noch nicht entschieden [s. EuGH, Rs. C-403/06 P (Ayadi/Rat)]. 775 s. Schlussanträge von GA Maduro zu EuGH, Rs. C-415/05 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 11 ff. (Al Barakaat International Foundation). 776 Auch „smart sanctions“ oder „intelligente Sanktionen“ genannt. 777 EuGH, a. a. O., Rn. 235 (Kadi u. a./Rat). 772 773

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sche Parlament im Gegensatz zu einer bloßen Anwendung der Art. 60 und 301 EGV in den Entscheidungsprozess einbezogen werde. Außerdem stellte er klar, dass die angegriffene Verordnung keine unter Verstoß gegen Art. 249 EGV ergangene Einzelentscheidung darstellt, da die Adressaten des Rechtsakts allgemein und abstrakt bestimmt seien778. Im Hinblick auf die Frage nach der Kompetenz des Gerichtshofs, eine auf eine UN-Resolution zurückgehende EG-Verordnung an den Grund- und Menschenrechten zu überprüfen, widersprach der EuGH dem Gericht erster Instanz jedoch deutlich: Da die Achtung der Menschenrechte eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für die Handlungen der Gemeinschaft sei, könne keine Maßnahme in der Gemeinschaft als rechtens anerkannt werden, die mit der Achtung dieser Rechte unvereinbar sei. Die Verpflichtungen aus internationalen Übereinkünften seien nicht geeignet, die vertragliche Zuständigkeitsordnung und damit die Autonomie des Rechtssystems der Gemeinschaft und damit die Verfassungsgrundsätze des EG-Vertrags zu beeinträchtigen, zu denen die Achtung der Menschenrechte zähle, deren Einhaltung der Gerichtshof im Rahmen des umfassenden Systems der vertraglich vorgesehenen Rechtsbehelfe überprüfen müsse.779 Zum Gegenstand dieser Prüfung stellte der EuGH klar, dass sich die Rechtmäßigkeitskontrolle ausschließlich auf den die internationalen Verpflichtungen umsetzenden Gemeinschaftsrechtsakt beziehe und nicht auf den internationalen Akt selbst. Der Gemeinschaftsrichter sei nach Art. 220 EGV nicht befugt, auch die Rechtmäßigkeit der UN-Resolution zu prüfen und dies selbst dann nicht, wenn die Prüfung auf die Frage beschränkt würde, ob die betreffende Resolution mit dem ius cogens vereinbar sei.780 Ferner konstatierte der EuGH, dass die Pflicht zur gebührenden Berücksichtigung des Wortlauts und der Ziele der betreffenden Resolution sowie der maßgeblichen Verpflichtungen aus der UN-Charta nicht ausschließe, dass den Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen Umsetzungsspielräume verblieben. Die UN-Charta schreibe kein bestimmtes Umsetzungsmodell vor, sondern überlasse die Modalitäten der jeweiligen nationalen Rechtsordnung. Die Grundsätze der durch die Vereinten Nationen entstandenen Völkerrechtsordnung impliziere nicht schon deshalb den Ausschluss einer gerichtlichen Kontrolle des Umsetzungsakts im Hinblick auf die Grundrechte, weil mit ihm eine Resolution des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UNCharta umgesetzt werden solle.781 Auch der „vermeintlich absolute“ Vorrang der UN-Charta-Verpflichtungen und deren Rang in der Normenhierar778 779 780 781

EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,

a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O.,

Rn. Rn. Rn. Rn.

242 (Kadi u. a./Rat). 282–285 (Kadi u. a./Rat). 286 f. (Kadi u. a./Rat). 296–299 (Kadi u. a./Rat).

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chie der Gemeinschaftsrechtsordnung verbiete nicht die Kontrolle der Verordnung anhand der EG-Grundrechte782 und auch Art. 307 Abs. 7 EGV bedinge allein den Vorrang der UN-Charta vor abgeleitetem Gemeinschaftsrecht und nicht auch vor dem Primärrecht, zu welchem nicht zuletzt die Grundrechte gehörten.783 Denn die streitige Verordnung sei als Rechtsakt nicht unmittelbar der UNO zuzurechnen und die Kontrolltätigkeit des Gerichtshofs über Rechtsakte der EG sie die Konsequenz der Verfassungsgarantie einer autonomen EG-Rechtsgemeinschaft, die durch ein völkerrechtliches Abkommen nicht beeinträchtigt werden könne.784 Weiter stellte der EuGH klar, dass „der Umstand, dass es im Rahmen des betreffenden Systems der Vereinten Nationen das Verfahren der Überprüfung vor dem Sanktionsausschuss gibt, auch unter Berücksichtigung der kürzlich an ihm vorgenommenen Änderungen nicht zu einer generellen Nichtjustiziabilität im Rahmen der internen Rechtsordnung der Gemeinschaft führen“785 könne. Da das Kontrollsystem auf UN-Ebene offenkundig nicht die Garantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes biete, erscheine eine Nichtjustiziabilität nicht gerechtfertigt786. Die Gemeinschaftsgerichte hätten daher eine grundsätzlich umfassende EG-Grundrechtskontrolle zu gewährleisten, und dies „auch in Bezug auf diejenigen Handlungen der Gemeinschaft, die wie die streitige Verordnung der Umsetzung von Resolutionen des Sicherheitsrats nach Kapitel VII der UN-Charta dienen sollen“787. Im Ergebnis bejahte der EuGH eine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör und effektiven Rechtsschutz. Soweit zwingende Gründe der Sicherheit oder der Gestaltung der internationalen Beziehungen der Gemeinschaft und ihrer Mitgliedstaaten der Mitteilung bestimmter Umstände an die Beteiligten und deren Anhörung entgegenstehen könnten788, schließe dies eine gerichtliche Kontrolle nicht aus; der Gemeinschaftsrichter müsse hier einen Ausgleich zwischen den legitimen Sicherheitsinteressen einerseits und den Verfahrensgarantien des Einzelnen andererseits herzustellen789. Aufgrund der Versäumnisse des Rats seien die Rechtsmittelführer nicht in der Lage gewesen, ihren Standpunkt vorzutragen. Die Verteidigungsrechte der Rechtsmittelführer seien daher nicht gewahrt worden.790 Ebenso hätten sie ihre 782 783 784 785 786 787 788 789 790

EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,

a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O., a. a. O.,

Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn. Rn.

305 (Kadi u. a./Rat). 307 f. (Kadi u. a./Rat). 314–317 (Kadi u. a./Rat). 321 (Kadi u. a./Rat). 322 (Kadi u. a./Rat). 236 (Kadi u. a./Rat). 342 (Kadi u. a.Rat). 344 (Kadi u. a./Rat). 348 (Kadi u. a./Rat).

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

Rechte vor dem Gemeinschaftsrichter nicht zufriedenstellend verteidigen können, so dass auch das Recht auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz verletzt sei791. Darüber hinaus sah der EuGH auch das Eigentumsrecht verletzt. Denn auch wenn das Einfrieren von Geldern, Finanzvermögen und anderen wirtschaftlichen Ressourcen im Kampf gegen den internationalen Terrorismus als grundlegendes Ziel der Völkergemeinschaft nicht per se ein unangemessenes oder unverhältnismäßiges Mittel darstelle792, habe der Beschwerdeführer trotz der erheblichen Beschränkung seiner Eigentumsrechte keine Möglichkeit gehabt, den zuständigen Stellen seinen Standpunkt vorzutragen793. In der Folge erklärte der EuGH die Verordnung, soweit sie die Rechtsmittelführer betraf, zwar formal für nichtig, suchte aber auf der Grundlage des Art. 231 EGV die praktische Lösung in dem Kompromiss, ihre Wirkungen für einen Zeitraum von drei Monaten aufrechtzuerhalten, damit der Rat die Verfahrensfehler heilen könne, ohne dass die Rechtsmittelführer ihre Gelder zwischenzeitlich einer erneuten Einfrierung entziehen könnten794. (2) Die Entscheidung des EuG in der Rechtssache Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran Wesentlich anders lagen die Umstände in der Rechtssache T-228/02795, in welcher die oppositionellen iranischen Volksmudschaheddin, eine 1965 gegründete Organisation, die das Ziel hat, im Iran ein demokratisches Regime zu etablieren, und dies nach eigenen Angaben unter Verzicht auf Waffengewalt oder andere militärische Aktivitäten erreichen möchte, gegen einen EG-Beschluss klagten796. (a) Tatsächliche und rechtliche Hintergründe Hintergrund dieser Klage war die am 28. September 2001 verabschiedete Resolution 1373 (2001), des UN-Sicherheitsrats, durch welche die UN-MitEuGH, a. a. O., Rn. 349 (Kadi u. a./Rat). EuGH, a. a. O., Rn. 363 (Kadi u. a./Rat). 793 EuGH, a. a. O., Rn. 369 (Kadi u. a./Rat). 794 EuGH, a. a. O., Rn. 373–376 (Kadi u. a./Rat). 795 EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 796 Weiterhin vor dem EuG anhängig ist das Verfahren in der Rs. T-253/04 (Aydar u. a./Rat). Ebenfalls in diesen Bereich zu verorten ist die Rechtssache Sison/Rat [s. EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73 (Sison/Rat)]. 791 792

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glieder zur Ergreifung aller Mittel zur Bekämpfung des Terrorismus und seiner Finanzierung verpflichtet werden. Anders als in den zuvor dargestellten Fällen weist die betreffende Resolution jedoch keine eigene Liste der visierten Personen und Organisationen auf, sondern richtet sich ganz allgemein gegen solche mit terroristischer Verbindung. Vielmehr enthält der hierauf nach den Art. 15 und Art. 34 EUV nebst anderem797 ergangene Gemeinsame Standpunkt des EU-Rates 2001/931/GASP798 seinerseits im Anhang eine entsprechende Namensliste, die gemäß den Vorgaben des Gemeinsamen Standpunkts auf der Grundlage genauer Informationen oder einschlägiger Akten zu erstellen und regelmäßig, mindestens halbjährlich, zu überprüfen ist. Den Gemeinsamen Standpunkt hat sodann die Verordnung 2580/2001799 in das Gemeinschaftsrecht umgesetzt. In Verbindung mit dem die Namensliste überführenden Beschluss 2001/927/EG800 ordnet sie unter anderem das Einfrieren der Gelder aller im Gemeinsamen Standpunkt genannten Personen und Organisationen an. Durch den darauf folgenden Gemeinsamen Standpunkt 2002/340/GASP801 wurde auch der Name der genannten Klägerin in das aktualisierte Verzeichnis aufgenommen, was den Rat dazu veranlasste, durch einen neuen Beschluss802 die dem Anwendungsbereich der Verordnung unterliegende Liste entsprechend anzupassen. Da der Name auch im Zuge der in der Folgezeit vorgenommenen Aktualisierungen in dem Verzeichnis vermerkt blieb, erhob die Klägerin gegen den Gemeinsamen Stanpunkt und den sie betreffenden EG-Beschluss Nichtigkeitsklage vor dem EuG.

797 Neben diesem erließ der Rat zeitgleich den Gemeinsamen Standpunkt 2001/930/GASP vom 27. Dezember 2001 über die Bekämpfung des Terrorismus (ABl. EG L 344/90). 798 Gemeinsamer Standpunkt 2001/931/GASP des Rates vom 27. Dezember 2001 über die Anwendung besonderer Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. EG L 344/93). 799 VO (EG) Nr. 2580/2001 des Rates vom 27. Dezember 2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus (ABl. EG L 344/70). 800 Beschl. 2001/927/EG vom 27. Dezember 2001 zur Aufstellung der Liste nach Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 (ABl. EG L 344/83). 801 Gemeinsamen Standpunkt 2002/340/GASP des EU-Rates vom 2. Mai 2002 betreffend die Aktualisierung des Gemeinsamen Standpunkts 2001/931 (ABl. EG L 116/75). 802 Beschl. 2002/334/EG vom 2. Mai 2002 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2001/927 (ABl. EG L 116/33).

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(b) Wesentliche Rechtsausführungen des EuG Das EuG stellte in seiner Entscheidung zunächst fest, dass die gegen den Gemeinsamen Standpunkt gerichtete Klage803 teils offensichtlich unzulässig sei, da es sich hierbei nicht um einen Rechtsakt handele, für den der EUVertrag justitielle Zuständigkeiten vorsehe, und teils offensichtlich unbegründet, da eine Verkennung gemeinschaftsrechtlicher Kompetenzen durch den Rat der EU nicht vorliege und dies der einzige die Zuständigkeit der Gemeinschaftsgerichte eröffnende Klagegrund habe darstellen können804. Die insofern auf den ultra-vires-Aspekt begrenzte Sachprüfung des EU-Akts nahm das EuG dabei unter Hinweis auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH805 und unbeschadet der gemäß den Art. 35 und 46 EUV verkürzten Kontrollzuständigkeiten vor. In Bezug auf den gemeinschaftsrechtlichen Beschluss widmete sich das EuG vor der Gegenstandskontrolle zunächst ausführlicher der Frage, ob und inwieweit die von der Klägerin ins Feld geführten Rechte und Garantien, namentlich die Verteidigungsrechte, die Begründungspflicht und der Anspruch auf einen effektiven Rechtsschutz, in dem gegebenen Fall durch die Gemeinschaftsgerichte zu gewährleisten sind. In Abweichung von den zuvor dargestellten Rechtssachen, in denen sich Rat und Kommission strikt nach den durch den UN-Sicherheitsrat und den Sanktionsausschuss vorgegebenen Betroffenenlisten zu richten hatten, nahm das EuG hier aus der Erwägung heraus, dass die Bestimmung der von den Maßnahmen zu erfassenden Personen und Organisationen im Ermessen der UN-Mitglieder lag und damit vorliegend in Ausübung eigener Befugnisse der beteiligten Unionsorgane erfolgte, die Pflicht der handelnden Organe zur grundsätzlich vollständigen Wahrung der Grundrechte an806. Im Kontext zum Recht auf effektiven Rechtsschutz stellte das EuG überdies klar, dass der Fall unbeschadet der aus den Art. 25 und 103 UN-Charta folgenden Vorrangwirkung 803 Die im Laufe des Verfahrens klägerseits erklärte Klageerweiterung auf alle anderen etwaigen Rechtsakte, die zum Zeitpunkt des Erlasses des zu erwartenden Urteils in Kraft sind, denselben Regelungsgegenstand haben und gegenüber der Klägerin dieselbe Betroffenheit entfalten, ließ das EuG angesichts der insoweit zu unbestimmten Klagegegenstände nicht zu [s. EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 33 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat)]. 804 EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 46 ff. (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 805 s. EuGH, Rs. C-170/96, Slg. 1998, I-2763, Rn. 16 ff. (Kommission/Rat); wiederholt in EuGH, Rs. C-176/03, Slg. 2005, I-7879, Rn. 39 (Kommission/Rat); EuG, T-338/02, Slg. 2004, II-1647, Rn. 41 (Segi u. a./Rat). 806 EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 91 ff., insb. 107 und 109 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). Ebenso anschließend EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 138 ff. (Sison/Rat).

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der einschlägigen UN-Resolutionen allein anhand einer gemeinschaftsrechtlichen Überprüfung entschieden werden könne807. Im Anschluss daran arbeitete das EuG den relevanten Schutzumfang der einzelnen Rechte und Garantien heraus und stellte im Ergebnis fest, dass der Einzelne grundsätzlich in Bezug auf die Listenerstaufnahme ein Recht auf zumindest nachträgliche Mitteilung der Belastungspunkte sowie in Bezug auf die Folgebeschlüsse zudem ein auf Antrag zu gewährendes Recht auf vorherige Anhörung habe und diese Rechte in casu verletzt worden seien808. Ebenfalls sei gegen die grundsätzlich durch eine spezifische und konkrete Bezugnahme auf die entscheidungsleitenden Informationen und Akten zu erfüllende Begründungspflicht verstoßen worden809. Den Anspruch auf effektiven Gerichtsschutz betreffend wies das EuG ausdrücklich darauf hin, dass die gerichtliche Kontrollweite aufgrund des Ermessensspielraums des Rats im Wesentlichen auf die Verfahrensvorschriften, die Begründungspflicht sowie eine zutreffende Sachverhaltsermittlung und im Übrigen auf das Vorliegen evidenter Beurteilungsfehler begrenzt sei810. (3) Bewertung Die ersten Urteile des EuG und EuGH im Bereich der Bemühungen gegen den Internationalen Terrorismus mit UN-rechtlicher Provenienz unterteilen sich im Wesentlichen in zwei Felder mit ganz erheblich variierenden Prüfungsinhalten und -intensitäten. Das für die jeweilige Kontrolldichte maßgebende Differenzierungskriterium liegt dabei nach Ansicht des EuG in der Frage, ob die durch „smart sanctions“811 Betroffenen schon auf der UNEbene individualisiert werden, wie in der ersten Entscheidungsgruppe der Fall, oder ob, wie in der zuletzt dargestellten Entscheidungsgruppe, erst die im Bereich der EU angesiedelten Umsetzungshandlungen die Personen und Einrichtungen bestimmen, die von den restriktiven Maßnahmen erfasst sein sollen, und inwieweit den für die Entscheidung zuständigen Stellen hierbei ein eigener Einschätzungsspielraum verbleibt. EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 112 f. (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat); ganz ähnlich auch jüngst EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 160 ff. (Sison/Rat). 808 EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 114 ff., insb. 137 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 809 EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 138 ff., insb. 151 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 810 EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 152–159 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 811 Zu dem Thema näher Bartelt/Zeitler, EuZW 2003, 712, 713. Zur Problematik ihrer Angreifbarkeit auf UN-Ebene Nettesheim, WHI-Paper 1/2007, S. 2 f. m. w. N. 807

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Vor allem im ersten Entscheidungsfeld treten jene Friktionen zwischen dem Bedürfnis nach einer wirksamen Umsetzung der Beschlüsse des UNSicherheitsrats und dem rechtsstaatlich geschuldeten Grundrechtsschutz auf, die eine spürbare Einschränkung der gemeinschaftsgerichtlichen Kontrolle zur Folge haben können812. Das EuG versuchte hier, den Dämpfer, den der prozessuale Grundrechtsschutz dabei erfährt, mit Blick auf die verfahrensersetzende Bedeutung diplomatischen Schutzes zumindest partiell über die Statuierung eines gemeinschaftsrechtlich gewährleisteten subjektiven Rechts auf Überprüfung der Angelegenheit durch den jeweils zuständigen Mitgliedstaat und gegebenenfalls auf Weiterleitung des Falls an den UN-Sanktionsausschuss auszugleichen813. Das EuG ebenso wie der EuGH haben ihre Prüfung hierbei zu Recht ausschließlich auf den EG-Rechtsakt bezogen. Während das EuG seine Kontrolltätigkeit aber unter Hinweis auf den Vorrang der UN-rechtlichen Regelungen signifikant zurücknahm814, hat sich der EuGH von dem Vorranganspruch der UN-Charta nicht beeindrucken lassen, sondern im Gegenteil mit aller Deutlichkeit klargestellt, dass die Rechtsschutzgewähr der autonomen EG-Rechtsgemeinschaft nicht vor völkerrechtlichen Verpflichtungen geschuldeten Rechtsakten halt macht. Indem der EuGH den Prüfungsmaßstab uneingeschränkt aus dem primären Gemeinschaftsrecht schöpft, erteilt er nicht nur dem auf Kosten der Wirksamkeit des Individualrechtsschutzes gehenden Kompromisslösung des EuG, sondern ausdrücklich auch dem Vorrang des UN-Rechts vor EG-Primärrecht eine Absage. Das Urteil des EuGH hat dabei weit über den Bereich der „targeted sanctions“ hinaus höchste Bedeutung für die Gemeinschaftsrechtsordnung. Es enthält grundlegende Aussagen zum ihrem Verhältnis zum Völkerrecht und das klare Bekenntnis der Gemeinschaft zur Rechtsschutzgarantie815. In der zweiten Fallgruppe setzt das EuG aufgrund der dortigen Kumulation von unionalem und gemeinschaftsrechtlichem Klagegegenstand einen jeweils objektspezifischen Prüfungsmaßstab an, der in Bezug auf den Gemeinsamen Standpunkt aus unionsrechtlicher Sicht Einschränkungen unter812 Vgl. Schmalenbach, JZ 2006, 349, 352 f.; Steinbarth, ZEuS 2006, 269, 278; vgl. ferner Kotzur, EuGRZ 2006, 19, 24 f., der für eine Ausrichtung des Prüfungsmaßstabs am europäischen „ordre public“ plädiert. 813 In diesem Zusammenhang sei auch auf die Art. 75 Abs. 3 und Art. 215 Abs. 3 EUV in der Fassung des Vertrags von Lissabon (entsprechend Art. III-322 Abs. 3 EV) hingewiesen, die vorsehen, dass ein wirtschaftliche oder finanzielle Sanktionen regelnder Rechtsakt auch die erforderlichen Bestimmungen über den Rechtsschutz enthalten muss. 814 Kritisch zur mittelbaren Hinterfragung des UN-Beschlusses im Lichte des völkerrechtlichen ius cogens Nettesheim, WHI-Paper 1/2007, S. 26 f. mit weitergehendem Hinweis auf Möller, EuR 2006, 426, 428. 815 Ausführlicher zu dem Urteil des EuGH Ohler, EuZW 2008, 630 ff.

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liegt und im Übrigen weitgehend unbeschnitten bleibt816. Zur Rechtfertigung der auf den ultra-vires-Aspekt begrenzten Sachprüfung des EU-Akts kann das EuG auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH rekurrieren817. Eine Verletzung des Kompetenzgefüges dürfte hierin unbeschadet der Art. 35 und 46 EUV nicht liegen818, soweit die Mitgliedstaaten dem Gerichtshof im Zuge der Übertragung der eigenen Hoheitsgewalt auf die Gemeinschaftsebene und der Einrichtung eines systemeigenen Judikativorgans, das ausweislich der Art. 220 ff. EGV den Inhalt wie auch die Reichweite der einzelnen Normen des EG-Rechtssystems zu bestimmen und auf dieser Basis die Wahrung der Rechtsordnung bei der Ausübung hoheitlicher Gewalt zu überwachen hat, die Kompetenz eingeräumt haben, auch die Reichweite seiner eigenen Zuständigkeiten einzugrenzen819 und dabei ebenso zu entscheiden, ob und bejahendenfalls wie weit er mit seiner Kontrolltätigkeit zur Auffindung von ultra-vires-Akten in den unionalen Systembereich eindringen darf. Bemerkenswert ist überdies, dass EuG und EuGH in den dargestellten Entscheidungen mit keinem Wort problematisiert haben, dass die angefochtenen Bestimmungen des EG-Rechtsakts die gemeinschaftsrechtliche Umsetzung einer ihrerseits grundsätzlich injustitiablen GASP-Maßnahme bilden und die gerichtliche Kontrolle daher einer weiteren Einschränkung unterliegen könnte820. Soweit das Ermessen zur Individualisierung der Betroffenen hier schon auf der intergouvernementalen Ebene betätigt wird, erweist sich die EG-Handlung, die im Einklang mit den Vorgaben des Gemeinsamen Standpunkts zu erstellen und zu halten ist, nämlich als bloßes Abbild des Unionsakts, so dass die Betroffenheit der in der Liste aufgeführten Personen oder Organisationen in Wahrheit bereits in der nur nach Maßgabe der Art. 35 und 46 EUV gerichtlich überprüfbaren HandVgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen bei EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 138 ff. (Sison/Rat), nach denen insbesondere die Verteidigungsrechte und die Begründungspflicht auf den angegriffenen EG-Akt, in casu die ebenfalls im Bereich der UN-Resolution 1373 (2001) ergangene Entscheidung 2006/379, grundsätzlich vollumfängliche Anwendung finden. 817 s. zu dieser nochmals EuGH, Rs. C-170/96, Slg. 1998, I-2763, Rn. 16 ff. (Kommission/Rat); ferner EuGH, Rs. C-176/03, Slg. 2005, I-7879, Rn. 39 (Kommission/Rat); EuG, T-338/02, Slg. 2004, II-1647, Rn. 41 (Segi u. a./Rat). 818 Besonders kritisch und die betreffende Rechtsprechung ihrerseits als ultra-vires-Akt bewertend aber Pechstein, JZ 1998, 1007 ff., der die beschränkte Kontrolle vielmehr in das Vertragsverletzungsverfahren verlagert sehen möchte (vgl. ders., EuR 1999, 1, 8; ähnlich bereits Böse, EuR 1998, 678, 681). 819 s. in diesem Zusammenhang auch Isaac, CDE 1987, 444, der zu Recht ausdrücklich auf die Bedeutung aufmerksam gemacht hat, die jener Festlegung der eigenen Kompetenzen durch den EuGH zukommt. 820 Ähnlich in Bezug auf die Entscheidungen Yusuf und Kadi Steinbarth, ZEuS 2006, 269, 279. 816

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lung angelegt ist. In Parallelität zur Situation richtlinienumsetzender Gesetze, die im Umfang der Stringenz der Richtlinienvorgaben keiner vollständigen materiellen Prüfung am Maßstab der nationalen Rechtsordnung unterliegen821, betrifft die Problematik nicht die Frage nach einer unmittelbaren – etwa auch nur inzidenten – Kontrolle des aus der unionalen Sphäre stammenden Aktes am Maßstab des Gemeinschaftsrechts, sondern genau genommen die Frage, ob die Einschränkungen der unionalen Gerichtskompetenzen im Falle einer inhaltsgleichen Übersetzung des Gemeinsamen Standpunkts in den vergemeinschafteten Rechtsraum zu einer Sperrwirkung für die Justitiabilität des EG-Rechtsakts führen822. Aufgrund der materiellen Kongruenz der beiden Akte läuft eine vollständige gerichtliche Überprüfung letztendlich auf die indirekte Infragestellung des Inhalts des unionalen Aktes am Maßstab des Gemeinschaftsrechts hinaus. Käme es gleichwohl zu einer gerichtlichen Aufhebung des EG-Akts ohne Änderung oder Beseitigung der intergouvernementalen Handlung, befänden sich die betroffenen EG-Organe in einer delikaten Pflichtenfalle. Damit einher ginge zugleich ein erheblicher rechtspolitischer Druck auf den ausweislich des Art. 6 Abs. 2 EUV seinerseits den Grundrechten verpflichteten EU-Rat, obgleich eine solche Wirkung für gemeinschaftsgerichtliche Judikate im unionalen Primärrecht nicht angelegt ist. All diese Aspekte können auf den ersten Blick für eine entsprechende Beschränkung der Kontrolle durch die Gemeinschaftsgerichte sprechen. Bei näherer Betrachtung jener möglichen Pflichtenkollision gilt indes weiterhin zu bedenken, dass eine Einschränkung der gerichtlichen Kontrollmöglichkeiten gleichzeitig zu der bizarren Situation führen könnte, dass die EG-Organe kraft injustitiablen Unionsrechts zu einer Handlung verpflichtet wären, zu deren Vornahme sie in originär gemeinschaftsrechtlichen Fällen nicht befugt wären. Besonders bedenklich erscheint hierbei, dass der etwaig gemeinschaftsrechtswidrige EGUmsetzungsakt gegebenenfalls mit den scharfen Klingen des Vorrangs und der unmittelbaren Geltung des Gemeinschaftsrechts versehen wäre, ohne von dem rechtsstaatlichen Versprechen der EG, gegen belastende Hoheitsakte justitielle Rechtsschutzmöglichkeiten zu gewähren, erfasst zu werden. Eine Durchgriffswirkung der Kontrollbegrenzung nach den Art. 35 und 46 EUV auf das Gemeinschaftsrecht würde den unionalen Akten gleichsam mittelbar die supranationale Dimension des EG-Rechts zuteil werden lassen, und so die Grenzen zwischen beiden Tätigkeits- und Wirkungsbereichen ohne Ausgleich der Rechtsschutzschwächen in den intergouvernementalen Säulen bis zur Unkenntlichkeit verwischen. Vor allem aber erschüttern die Autonomie des Gemeinschaftsrechts und die Abwesenheit eines Vorrangprinzips zugunsten der intergouvernementalen EU-Bereiche die ein821 822

s. dazu bereits oben unter bb) (2). Insoweit zu ungenau Steinbarth, a. a. O., 279 f.

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gangs aufgezeichnete Parallelität zur Situation der EG-Richtlinienumsetzung und sprechen eher dafür, den EG-Akt unter Außerachtlassung seines unionalen Links vollumfänglich am Gemeinschaftsrecht abzugleichen823. Augenscheinlich sehen dies auch das EuG und der EuGH so. Dies zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass sich das Gericht zu dem beschriebenen Problemfeld selbst in der zweiten Entscheidungsgruppe nicht ausdrücklich äußerte, sondern seine – uneingeschränkte – Zuständigkeit mit dem lapidaren Hinweis auf die gemeinschaftsrechtliche Natur des Kontrollgegenstands und das Fehlen einer Unzuständigkeitsrüge seitens der Verfahrensbeteiligten begründete, obgleich es sich klagegegenständlich auch mit dem Gemeinsamen Standpunkt konfrontiert sah824. Einer Bemerkung bedarf schließlich, dass die Rechtsprechungslinie der zweiten Entscheidungsgruppe des EuG eine zumindest implizite Bestätigung durch den EuGH erfahren hat, soweit dieser in der Rechtssache PKK und KNK825 dem Rechtsmittel ersterer Organisation stattgegeben und die Sache an das EuG zur uneingeschränkten Prüfung der Begründetheit zurückverwiesen hat, ohne sich näher mit Fragen der Zuständigkeit, des tauglichen Klagegegenstands oder des anwendbaren Prüfungsmaßstabs auseinanderzusetzen826. Vielmehr begnügte sich der Gerichtshof hier mit der Feststellung, dass zumindest der Klägervertreter der PKK entgegen den Ausführungen des Gerichts erster Instanz eine zulässige Nichtigkeitsklage anstrengen könne, da der Gemeinschaftsgesetzgeber durch die Aufnahme der Organisation in die Beschlussliste selbst von dem auch für eine Klageerhebung hinreichenden Fortbestand derselben ausgegangen sei. Sein im Übrigen vollständiges Schweigen zu der bereits zuvor durch das EuG abgesteckten Marschroute kann durchaus als konkludente Konsensbekundung oder zumindest als stillschweigende Billigung jener Linie gedeutet werden. 823 Eine volle Überprüfbarkeit ebenfalls bejahend etwa Krück, in: Groeben/ Schwarze, EUV/EGV, Art. 46 EUV, Rn. 27; a. A. hingegen etwa Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 46 EUV, Rn. 22. 824 Vgl. insoweit nochmals EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 112 f. (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 825 EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439 (PKK und KNK/Rat). Die Klage richtete sich gegen die Beschlüsse 2002/334/EG des Rates vom 2. Mai 2002 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung (EG) Nr. 2580/2001 über spezifische, gegen bestimmte Personen und Organisationen gerichtete restriktive Maßnahmen zur Bekämpfung des Terrorismus und zur Aufhebung des Beschlusses 2001/927/EG (ABl. EG L 116/33) sowie 2002/460/EG des Rates vom 17. Juni 2002 zur Durchführung von Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2580/2001 und zur Aufhebung des Beschlusses 2002/334/EG (ABl. EG L 160/26), in welchen die PKK, nicht aber der KNK namentlich als von den restriktiven Maßnahmen visierte Organisation aufgelistet wird. 826 EuGH, a. a. O., Rn. 109 ff. und 123 (PKK und KNK/Rat).

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dd) Grundrechtsbindung natürlicher und juristischer Personen des Privatrechts Was schließlich die Frage nach der unmittelbaren Bindung privater Rechtssubjekte an das Grundrechtsachtungsgebot und damit nach einer unmittelbaren Drittwirkung der Grundrechte angeht, so wird eine solche Wirkung nicht nur in der weit überwiegenden Anzahl der mitgliedstaatlichen Rechtssysteme abgelehnt827, auch im Unionsrecht erschiene sie im Hinblick auf den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV und die Funktionen der Grundrechte befremdlich828, da ein Grundrechtsberechtigter in Umkehrung des die Grundrechtsfähigkeit hoheitlicher Stellen betreffenden Konfusionsarguments nur schwerlich zugleich Verpflichteter des Grundrechtsachtungsgebots sein kann. Etwas anderes gilt freilich, soweit eine Privatperson, etwa auf der Grundlage einer Beleihung, hoheitliche Befugnisse innehat und ausübt829. Ferner hatte der EuGH, soweit ersichtlich, aber bislang keinen Anlass, in allgemeiner Form zur Frage der unmittelbaren Drittwirkung von Grundrechten Stellung zu nehmen. Soweit er im Bereich spezieller, insbesondere grundfreiheitlicher Diskriminierungsverbote eine partielle unmittelbare Drittwirkung bejaht hat830, sind seine betreffenden Ausführungen nicht dazu geeignet, im Wege einer Verallgemeinerung auf weitere Bereiche ausgedehnt und demgemäß für eine generelle unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte fruchtbar gemacht zu werden831. Unbeschadet der Möglichkeit einer mittelbaren Drittwirkung der Grundrechte in ihrer Funktion als objektiver Werteordnung können im Falle eines inhaltlichen Zusammenhangs zwischen privatem Handeln des Einen und der Beeinträchtigung der Grundrechtspositionen des Anderen jedenfalls die schutzrechtlichen Grundrechtsdimensionen zu angemessenen Ergebnisse führen832. 827 Vgl. im Hinblick auf die überwiegende Ansicht im deutschen Rechtssystem und entgegen der früheren Ansicht des BAG (vgl. BAGE 1, 185, 193 f., anders aber mittlerweile etwa BAGE. 48, 122, 138 f.) statt vieler Guckelberger, JuS 2003, 1151 ff. m. w. N. Ein deutsches Grundrecht mit ausnahmsweise unmittelbarer Drittwirkung bildet indes die sog. Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG, die nicht durch Privatabreden eingeschränkt werden kann (vgl. Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG). Vgl. für die Situation in Österreich Novak, EuGRZ 1984, 133 ff. 828 Vgl. auch Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 13, Rn. 32. 829 Vgl. dazu Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 18. 830 Zu Art. 119 EGV a. F. (Art. 141 EGV n. F.) etwa EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455, Rn. 38/39 (Defrenne I); zu Art. 48 EGV a. F. (Art. 39 EGV n. F.) EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139, Rn. 35 f. (Angonese); s. dazu auch Michaelis, NJW 2001, 1841 f.; ferner Streinz/Leible, EuZW 2000, 459 ff. 831 In diesem Sinne auch Hilson, ELR 2004, 636, 643. 832 Vgl. dazu auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 63.

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III. Grundrechtsquellensystematik des Art. 6 Abs. 2 EUV Ausgehend von der normativ bindenden, konstitutiven Wirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV ist des Weiteren zu klären, welche rechtliche Bedeutung dem im Nebensatz der Norm enthaltenen Quellenverweis auf die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, die EMRK und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zukommt. Problematisch ist diesbezüglich insbesondere, ob die respektive welche der in Bezug genommenen Quellen echte, d.h. rechtlich unmittelbar bindende Rechtsquellen der Grundrechte sind. Hand in Hand geht damit die Frage, ob die Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV eine Bindung der EU an die EMRK und an die Rechtsprechung des EGMR bewirkt, in welchem Verhältnis die zitierten Quellen zueinander stehen und ob die Aufzählung der genannten Quellen abschließend ist. 1. Überblick zu den unterschiedlichen Ansätzen Während zu den aufgeworfenen Fragen in der Literatur bisweilen direkte Stellungnahmen zu finden sind, enthält die Rechtsprechung hierzu nur punktuelle und zugleich weniger explizite Aussagen. a) Ansichten im Schrifttum Die im Schrifttum zu der nach Art. 6 Abs. 2 EUV vorgegebenen Grundrechtsquellensystematik aufzufindenden Meinungen decken ein weites Spektrum der theoretisch denkbaren Positionen ab. Die wohl überwiegende Ansicht qualifiziert die erwähnten Quellen als so genannte „Rechtserkenntnisquellen“833, die in den Grenzen einer Orientierungsfunktion zwar den Inhalt der Grundrechte auch in normativem Sinne lenken und insoweit die Grundlagen zur Gewinnung grundrechtlicher Werte bilden, die jedoch keine unmittelbare Bindungswirkung gegenüber der EU entfalten834. 833 So etwa Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 1 u. 17 ff.; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 33; Kokott, AöR 1996, 599, 602 f.; Krüger/ Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 94; so i. Erg. auch Stumpf, in: Schwarze, EUV/ EGV, Art. 6 EUV, Rn. 19; Ress, in: FS Winkler, S. 897, 914 ff.; ders., in: Herzog/ Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 87; ähnlich Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1280; Strasser, Grundrechtsschutz in Europa, S. 69. 834 s. zum Begriff der Rechtserkenntnisquellen Kühling, Grundrechte, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 589; Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 1.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

Nicht zuletzt wegen des normativen Verweises auf die EMRK sowie vor dem Hintergrund der neueren Rechtsprechung des EGMR835 sprechen andere derweil zumindest dieser Quelle eine unmittelbare Bindungswirkung gegenüber der Union zu836. Soweit einige Autoren diese Wirkung direkt aus Art. 6 Abs. 2 EUV entnehmen, qualifizieren sie die EMRK wohl als echte Rechtsquelle der Grundrechte837. Andere räumen der EMRK hingegen eine zumindest faktische Bindungswirkung gegenüber der EU ein838. Unter Zugrundelegung des deutschen Wortlauts des Art. 6 Abs. 2 EUV stützen sich weitere schließlich argumentativ auf die redaktionelle Trennung zwischen der aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen herzuleitenden allgemeinen Rechtsgrundsätzen und der EMRK839. Darüber hinaus wird hinsichtlich des Verhältnisses der beiden Quellen untereinander sowohl eine kumulative840 als auch eine alternative841 Anwendung erwogen. Im Rahmen der letztgenannten Auffassung sprechen sich zudem einige insbesondere unter Verweisung auf Art. 57 EMRK für 835 Zur Kontrolle der aus der Sphäre der Gemeinschaft stammenden Rechtsakte durch den EGMR am Maßstab der EMRK sogleich unter 2. a) bb) (3) (a) (bb). 836 Eine unmittelbare Bindung an die EMRK wird dabei dogmatisch über verschiedene Begründungswege bejaht. Kraft Rechtsnachfolge der Gemeinschaften etwa noch Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193 ff., 1197 f.; Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die EMRK, S. 91; Kugelmann, Grundrechte in Europa, S. 51; kraft Substitution etwa Schermers, CMLR 1990, 249, 251; kraft einseitigen Inkorporationsakts Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 8; ähnlich Wolf, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 58; in dieser Richtung auch Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 11, der von einer einseitigen völkerrechtlich verbindlichen Selbstverpflichtung der EU zur Achtung der EMRK spricht; eine materielle Bindung an die EMRK nur einschränkend bejahend etwa Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24 f. u. 43. 837 Dahingehend zumindest Wolf, in: FS Ress, S. 893, 899, der den in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtsgrundlagen in ihrer Bündelungswirkung eine unmittelbar konstitutive Wirkung zuspricht. 838 So Kühling, EuGRZ 1997, 296, 297; Winkler, EuGRZ 2001, 18, 23 ff. 839 So etwa noch Hilf, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. F EUV (Oktober 1996), Rn. 27 ff.; ferner Jürgensen/Schlünder, 1996, 200, 220 f.; Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 8; Wolf, in Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 19 f.; ähnlich und zugleich weitergehend ders., in: FS Ress, S. 893, 896 f. u. 899 ff. 840 So etwa Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1206; i. Erg. wohl ebenso Wolf, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 20; ähnlich Ress, JuS 1992, 985, 990; vgl. dazu auch Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24; der jedoch insofern von einem abweichenden Begriffsverständnis ausgeht, soweit er zwar eine strenge Schnittmengentheorie ablehnt, aber gleichwohl eine kumulative Verknüpfung der Rechtsquellen bejaht. 841 In diesem Sinne Kingreen, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 40; ähnlich Beutler, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 57.

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einen Anwendungsvorrang der EMRK aus842, während andere mit Blick auf die enge Rückkopplung an den mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen in den Vordergrund gestellt wissen wollen843 und eine dritte Ansicht die gleichrangige Anwendung der Quellen befürwortet844. Schließlich divergieren die Auffassungen auch im Hinblick darauf, ob dem Quellenverweis in Art. 6 Abs. 2 EUV ein abschließender Charakter innewohnt845 und der Rückgriff auf weitere Quellen, vor allem andere völkerrechtliche Menschenrechtsabkommen versperrt ist oder ob die Möglichkeit eines solchen Rückgriffs von der Norm unberührt bleibt846. Eine neuere von Wolf vertretene Ansicht lehnt im Übrigen schon das Konzept einer strengen Differenzierung zwischen einer rechtsbegründenden Rechtsquelle der Grundrechte und den die Auslegung leitenden Rechtserkenntnisquellen ab, da Erstere tatbestandlich selbst die Voraussetzungen für die Rechtserkenntnis enthalten müsse, um nicht in den Bereich der wissenschaftlichen wie praktischen Irrelevanz abzugleiten und keine bloße Alibi-Funktion einzunehmen847. Die Verweisungswirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV auf die EMRK einerseits und die Verfassungsüberlieferungen als allgemeine Rechtsgrundsätze andererseits bündele originär zwei unterschiedliche externe Rechtsgrundlagen, denen im Rahmen des Bündelungseffekts unmittelbar konstitutive Wirkung zukomme und die dabei gleichermaßen und gleichrangig verbindlich seien. Auf dieser Grundlage schließt Wolf zudem auf eine teils unmittelbare, teils mittelbare Bindung des EuGH an die zu den Gewährleistungen der EMRK gewonnenen Auslegungsergebnisse des EGMR848. Insgesamt folge aus dem Verweisungssystem des Art. 6 Abs. 2 EUV ein eigenständiges Grundrechtsermittlungsprogramm, das auf einer ersten Stufe die gestaffelte Rechtsvergleichung der unionsexternen Grundrechtselemente, auf einer zweiten Stufe die Transformation der in der 842 So Grabenwarter, VVDStRL 2001, 290, 326 ff.; ders. in: EMRK, S. 30 f.; Hengstschläger, JBl. 2000, 409, 415 ff. 843 So Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626, 629. 844 So Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 288; Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499, 501; Rengeling, in: FS Rauschning, S. 225, 232; Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 40. 845 So etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 40; ebenso wohl Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24. 846 So Hilf, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. F EUV (Oktober 1996), Rn. 34 f.; ferner und mit besonderem Hinweis auf den vierten Erwägungspunkt der Präambel des EU-Vertrags Wölker, EuR-Beiheft 1/1999, 99, 100, 109 f.; i. Erg. ebenso Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 18, Rn. 3; Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1280. 847 So Wolf, in: FS Ress, S. 893, 898. 848 Wolf, a. a. O., S. 899.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

ersten Stufe gewonnenen Erkenntnisse in das Unionsrecht und auf der dritten Stufe die kohärente grundrechtsspezifische Einbindung in das unionale Rechtssystem umfasse849. b) Rechtsprechung des EuGH Korrelierend zur oben gewonnenen Erkenntnis, dass der EuGH in grundrechtsrelevanten Fällen Art. 6 Abs. 2 EUV nicht immer zu zitieren pflegt und diesen vorwiegend als bloße Bestätigung seiner Grundrechtsrechtsprechung ansieht850, sind seinen Entscheidungen auch für den nunmehr interessierenden Fragenkomplex nur bedingt aufschlussreiche Aussagen zu entnehmen. Einige seiner Standpunkte lassen sich jedoch zumindest aus einer Zusammenschau mehrerer Entscheidungen bzw. aus der Abwesenheit ausdrücklicher Stellungnahmen schlussfolgern. In genereller Hinsicht hat der EuGH schon früh betont, dass sich die Gewährleistung der Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze stets an der Struktur und den Zielen der Gemeinschaft auszurichten habe851. Demzufolge geht er zum einen seit jeher von der fehlenden unmittelbaren Bindung der EG/EU an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen aus. Die EMRK betreffend hat er zum anderen zwar wiederholt die besondere Bedeutung dieses internationalen Abkommens im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze hervorgehoben852 und insoweit das Gebot der Berücksichtigung zumindest der leitenden Grundsätze der EMRK im Gemein849 Wolf, a. a. O., S. 900 ff.; der Begriff des „Programms“ wird dabei in einer den zielgerichteten Charakter der Norm widerspiegelnden Bedeutung verwendet (vgl. Wolf, a. a. O., S. 900). 850 Vgl. nochmals EuG, Rs. T-10/93, Rn. 49, Slg. ÖD 1994, II-386, 403 (A./ Kommission); EuGH, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287 Rn. 149 (Hüls/Kommission); EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, Rn. 137 (Montecatini/Komission); EuGH, RR C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 79 (Bosman); vgl. aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 41 (Carpenter); EuG verb. Rsn. T-67/ 00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering Corp. u. a./Kommission). 851 EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft). 852 EuGH verb. Rsn. 97–99/87, Slg. 1989, 3165, Rn. 14 (Dow Chemical Ibérica u. a.); EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41 (ERT); EuGH, Gutachten, 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 33 (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten); EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 14 (Kremzow); EuGH, Rs. C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Rn. 12 (Annibaldi); EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 23 (Roquette Frères); EuGH, verb. Rsn. C-20/00 u. C-64/00, Slg. 2003, I-07411, Rn. 65 (Booker u. Hydro Seafood); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 (Schmidberger); EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 (Karner).

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schaftsrecht formuliert853. Trotz der vor allem in jüngerer Zeit vermehrt vorzufindenden direkten Rückgriffe auf einzelne Bestimmungen der Konvention854 und bisweilen auch auf die Rechtsprechung des EGMR855 hat der Gerichtshof aber in seinem nach Art. 288 Abs. 6 EGV a. F. (Art. 300 Abs. 6 EGV n. F.) erstellten Gutachten 2/94856 eine materielle Bindungswirkung an diesen internationalen Vertrag ausdrücklich857 und damit konkludent wohl auch an die Rechtsprechung des EGMR verneint. Indem er anlässlich des genannten Gutachtens die mit einem Beitritt einhergehende Bindung an die gesamten Konventionsrechte als wesentliche Änderung des Gemeinschaftsrechtssystems bewertet und die rechtliche Möglichkeit des Hierzu u. a. EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 (Johnston). Betreffend das Eigentumsrecht aus Art. 1 des Zusatzprotokolls vom 20. März 1952 zur EMRK etwa schon EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 17 (Hauer) und jüngst wieder EuGH, verb. Rsn. C-154/04 u. C-155/04, Slg. 2005, I-6451, Rn. 125 (Alliance for natural health u. a.); betreffend die in Art. 10 der EMRK garantierte Meinungsfreiheit EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, 2964, Rn. 44 (ERT); EuGH, Rs. 219/91, Slg. 1992, I-5485, Rn. 35 (Ter Voort) sowie EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 25 f. (Familiapress); bezüglich des in Art. 7 EMRK geschützten Gebots „nulla poena sine lege certa“ EuGH, verb. Rsn. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609, Rn. 25 (X); hinsichtlich des in Art. 8 EMRK geschützten Privat- und Familienlebens: EuGH, verb. Rsn. C-122/99 P u. 125/99 P, Slg. 2001, I-4319, Rn. 60 (D); vgl. auch die zahlreichen Hinweise auf Art. 6 EMRK u. a. bei EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 (Johnston); EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal); EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 72 (Steffensen); EuGH, Rs. C-424/99, Slg. 2001, I-9285, Rn. 45 (Kommission/Österreich) und jüngst wieder bei EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 855 Auf die Rspr. des EGMR zu Art. 10 der EMRK verweisend etwa EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 25 f. (Familiapress); auf jene zu Art. 7 EMRK verweisend EuGH, verb. Rsn. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609, Rn. 25 (X); auf jene zu Art. 6 EMRK Bezug nehmend EuGH, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 29 (Baustahlgewebe/Kommission); verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal); EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75–77 (Steffensen); auf jene zu Art. 41 EMRK verweisend EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 49 (Köbler). Bemerkenswert ist überdies der Rückgriff des EuGH auf die Interpretationsergebnisse des EGMR zum Begriff des „Transsexuellen“ bei der Auslegung des Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 76/207 bei EuGH, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143, Rn. 16 (P/S). 856 EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759 (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten). 857 s. insoweit auch EuG, Rs. T-112/98, Slg. 2001, II-729, Rn. 75 (MannesmannRöhrenwerke AG): „Zu dem Vorbringen, dass Art. 6 Absätze 1 und 2 EMRK dem Adressaten eines Auskunftsverlangens das Recht einräume, auch Fragen nach rein tatsächlichen Gegebenheiten nicht zu beantworten und sich zu weigern, der Kommission Unterlagen zu übermitteln, ist darauf hinzuweisen, dass sich die Klägerin vor dem Gemeinschaftsrichter nicht unmittelbar auf die EMRK berufen kann.“ [ganz ähnlich EuG, T T-347/94, Slg. 1998, II-1751, Rn. 311 f. (Mayr-Melnhof Kartongesellschaft mbH)]. 853 854

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

Beitritts zur EMRK daher unter anderem an eine Vertragsänderung geknüpft hat858, gab er darüber hinaus zu verstehen, dass Art. 6 Abs. 2 EUV nach seiner Ansicht weder zu einer Übertragung aller noch zu einer detailgetreuen Übernahme einzelner Konventionsgewährleistungen führen sollte. Soweit der EuGH ein bestimmtes Grundrecht vereinzelt im unmittelbaren Kontext zu einer Bestimmung der EMRK als zu den „von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechten“859 zugehörig bezeichnet hat und die betreffenden Entscheidungsgründe hier partiell mit der gängigen Grundrechtsformulierung brechen, vermögen jene Entscheidungen schon aufgrund ihres Ausnahmecharakters keine Abkehr von dieser Position zu begründen. Hinsichtlich der Frage nach der Rechtsnatur und dem Rangverhältnis der im Einzelnen herangezogenen Grundrechtsquellen zeigt sich die Rechtsprechung des EuGH uneinheitlich. Im Zuge einer genaueren Betrachtung der einschlägigen Judikatur fällt auf, dass der Gerichtshof mit Blick auf den Wortlaut des Art. 215 Abs. 2 EGV a. F.860 zunächst nur die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zur Begründung der Geltung eines Grundrechts direkt herangezogen und die EMRK sowie weitere internationale Verträge betreffend die Menschenrechte dagegen nur als weiteren „Hinweis“ auf die Grundrechtsexistenz angeführt hat861. Die anfängliche 858 EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, 1789 (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten). 859 So etwa EuGH, Rs. C-353/89, Slg. 1991, I-4069, Rn. 30 (Kommission/Niederlande). 860 Art. 288 Abs. 2 EGV n. F.; dieser verweist für den Bereich der außervertraglichen Haftung der EG auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, „die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“. 861 Vgl. schon EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft); s. auch den Wortlaut bei EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13 (Nold) und EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 (Hauer): „(. . .) dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die der Gerichtshof zu wahren hat. Bei der Gewährleistung dieser Rechte hat der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen, so dass in der Gemeinschaft keine Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die unvereinbar sind mit den von den Verfassungen dieser Staaten geschützten Grundrechten. Auch die internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.“ Ebenso EuGH, Rs. 63/83, Slg. 1984, 2689, Rn. 22 (Kirk) und aus jüngerer Zeit etwa EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-04921, Rn. 79 (Bosman) sowie EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6719, Rn. 38 f. (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). Die Feststellungen des EuGH in der Rechtssache Rutili stehen der vorliegenden Würdigung nicht entgegen, da in dieser Rechtssache die Berufung auf die EMRK nicht zur Herleitung eines Grundrechts, sondern im Zuge der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes als allgemeinem Grundsatz des Gemeinschafts-

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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Präferenz des EuGH zugunsten einer Rückbindung der Grundrechtsordnung an die mitgliedstaatlichen Grundrechtsregimes war nicht zuletzt die Folge der zwar eigenständigen, zugleich aber wesentlich auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zurückgehenden und insbesondere dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit verpflichteten Gesamtkonzeption des Gemeinschaftsrechts, das seine Wirkungen erst durch den jeweiligen nationalen Rechtsgeltungsbefehl entfalten kann. Der vorrangige Rückgriff auf die gemeinsamen Verfassungswerte ist insoweit auch der Äquivalenz zwischen gemeinschaftsrechtlichem und mitgliedstaatlichem Grundrechtsschutzniveau geschuldet862, wie sie vornehmlich das BVerfG in seiner Solange-Rechtsprechung als maßgebliche Voraussetzung für die Nichtausübung einer reservierten Kontrollkompetenz verlangt hat863. Während die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten in der anfänglichen Grundrechtsrechsprechung des EuGH demnach als einzige Rechtserkenntnisquelle für das Auffinden allgemeiner Rechtsgrundsätze fungierten, dienten die EMRK samt Zusatzprotokollen und andere internationale Menschenrechtsverträge zunächst nur als nachrangige „Hilfserkenntnisquellen“ zur weiteren Stützung und näheren Konturierung eines Gemeinschaftsgrundrechts. Der Herleitungsweg lief vor diesem Hintergrund in den Anfängen des prätorisch gewachsenen Grundrechtsregimes über drei Ebenen, namentlich primo die allgemeinen Rechtsgrundsätze als Rechtsbasis der Grundrechtsbindung, secundo die Rechtserkenntnisquelle der gemeinsamen Verfassungstraditionen zur konkreten Herleitung eines Grundrechts und tertio die anderen Hilfserkenntnisquellen völkerrechtlichen Ursprungs zur Gewinnung weiterer Hinweise für die Konkretisierung des Schutzgehalts des in Frage stehenden Grundrechts864. Später hat sich der EuGH im Zuge der Findung oder Anwendung allgemeiner Rechtsgrundsätze mitunter auch direkt auf die die Mitgliedstaaten bindenden internationalen Verträge865 und rechts erfolgt ist [vgl. EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219 ff., Rn. 32 (Rutili)]. Auch in der Rechtssache Prais ist der EuGH entgegen dem Parteivortrag von der hier beschriebenen Systematik nicht abgewichen [vgl. EuGH, Rs. 130/75, Slg. 1976, 1589 (Prais)]. 862 Ähnlich bereits Pescatore, EuGRZ 1978, 441, 445. 863 Vgl. BVerfGE 37, 271, 280 u. 285 (Solange-I), BVerfGE 73, 339, 387 (Solange II) sowie BVerfGE 102, 147, 162 ff. (Bananenmarktordnung). Auch ein etwaiges Inkrafttreten der Charta der Grundrechte wird das BVerfG wohl nicht dazu bewegen, diese Reservekompetenz aufzugeben (vgl. dazu Hilf, Die Grundrechtscharta im Rechtsgefüge der Union – Nizza und die Zukunftsperspektive, in: Duschanek/ Griller, Grundrechte für Europa, S. 15, 16 f). 864 Besonders anschaulich erweist sich insofern die Entscheidung EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 ff. (Hauer). 865 Vgl. nur EuGH, Rs. C-249/96, Slg. 1998, I-621, Rn. 44 (Grant); dazu ausführlicher unter 3. c).

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

dabei vor allem auf die EMRK berufen866 und damit vor allem Letztere als gleichberechtigte Rechtserkenntnisquelle867 neben die gemeinsamen Verfassungstraditionen gestellt. Indem er im Laufe seiner späteren Rechtsprechung teils nur die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen868, teils daneben oder allein die EMRK sowie bisweilen auch weitere Quellen zur Herleitung der Grundrechte herangezogen hat869 und dies auch nach der Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV zu tun pflegt870, bedient er sich der Erkenntnisquellen au866 Vgl. dazu den von der vorgehenden Rechtsprechung abweichenden Wortlaut bei EuGH, 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 18 (National Panasonic): „(. . .) dass die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen gehören, die er gemäß den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und den internationalen Verträgen, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, zu wahren hat.“ Ganz ähnlich EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 13 (Hoechst/Kommission); ferner EuGH, verb. Rsn. C-297/88 u. C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Rn. 68 (Dzodzi). Anders aber wiederum die Formulierung bei EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 (Karner): „Dabei lässt sich der Gerichtshof von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind.“ Letztere Formulierung entspricht auch dem Wortlaut bei EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 25 (Krombach) sowie bei EuGH Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41 (ERT); in diesem Sinne weiterhin EuGH, Rs. 219/91, Slg. 1992, I-5485, Rn. 34 (Ter Voort); EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 23 (Roquette Frères); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 (Schmidberger); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 (Omega); vgl. auch jüngst wieder EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439, Rn. 76 (PKK und KNK/Rat). 867 Indes hat der EuGH die EMRK quellenhierarchisch dabei nicht neben die allgemeinen Rechtsgrundsätze gestellt, sondern nur als besonders bedeutsame Rechtserkenntnisquelle herangezogen. Dies verkennt Wolf, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 9, 19, wenn er zur Unterstützung seiner gegenläufigen Ansicht auf die Entscheidung in der Rechtssache Familiapress verweist. Auch in dieser stellt der EuGH nämlich zunächst ausdrücklich auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze ab, um erst im Anschluss für die nähere Schutzgehaltsermittlung auf Art. 10 EMRK und die zugehörige Rechtsprechung des EGMR zu rekurrieren [vgl. EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (Familiapress), Rn. 24 f.]. 868 Vgl. auch jüngst wieder EuGH, verb. Rsn. C-23/04 bis 25/04, Slg. 2006, I-1265, Rn. 28 (Sfakianakis AEVE). 869 s. etwa zur schrittweisen und separaten Prüfung der Verfassungstraditionen, der EMRK und des IPbürgR EuGH, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 ff. (Orkem/Kommission). 870 s. zum materiellen Gehalt des Anspruchs auf einen fairen Prozess den Rückgriff des Gerichtshofs einerseits auf Art. 6 EMRK und andererseits auf die gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen bei EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal). s. fernerhin die Entscheidung EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 35 ff. (Parlament/Rat), in welcher der Gerichtshof Art. 6 Abs. 2 EUV erst nach Wiedergabe seiner prätorischen Grundrechtsformel erwähnt und im Folgenden insbesondere auf die EMRK, das internatio-

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genscheinlich in einem Alternativverhältnis, wobei er sich jedoch grundsätzlich bemüht zeigt, dem jeweiligen Grundrecht durch die Kumulation mehrerer Quellen eine möglichst breite und mithin solide rechtliche Stütze zu verleihen. Zuletzt indizieren die in der Rechtsprechung nachweisbaren, über den normativen Quellenverweis hinausgehenden Bezugnahmen, so insbesondere auf den IPbürgR und die UN-Kinderrechtskonvention871, aber auch auf die Präambel der EEA872 und die Grundrechte-Charta873, die ablehnende Haltung des EuGH gegenüber einem abschließenden Charakter der Norm. 2. Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV Die soeben dargestellten, teilweise diametralen Ansichten zu Bedeutung und Inhalt des in der normativen Grundlage der allgemeinen Grundrechtsgeltung enthaltenen Quellenverweises machen deutlich, dass die Bestimmung der unionsrechtlichen Grundrechtshermeneutik und vor allem der Grundrechtsquellenkonzeption eine komplexe Problemstellung birgt, deren Lösung einer eingehenden Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV bedarf. Die aufgeworfenen Fragen müssen auch hier mittels Heranziehung der Grundsätze der unionalen Norminterpretation einer Lösung zugeführt werden. Getreu dem Grundsatz, das Allgemeine vor dem Speziellen zu behandeln, muss die Normanalyse insofern bei der Frage nach der aus dem Quellenverweis folgenden allgemeinen Grundrechtsquellensystematik beginnen, um sich anschließend der Bestimmung des norminternen und -externen Verhältnisses der Systembestandteile zu widmen. a) Zur allgemeinen Grundrechtsquellensystematik In Bezug auf die allgemeine Quellensystematik stellt sich in erster Linie die Frage nach der Bedeutung und Reichweite des Verweises auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, die gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen und die EMRK. nale Übereinkommen über die Rechte des Kindes (s. zu diesem in der folgenden Fn.) und die Charta der Grundrechte eingeht. 871 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, in Kraft getreten am 2. September 1990, deutsche Fundstelle: BGBl. 1992 II 122. s. insoweit nochmals EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 37 und 57 (Parlament/Rat). 872 So z. B. in EuGH, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn. 149 (Hüls/Kommission); EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, Rn. 137 (Montecatini/Komission). 873 So zumindest das Gericht erster Instanz in EuG verb. Rsn. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering Corp. u. a./ Kommission).

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aa) Semantische und systematische Erwägungen Am Ausgangspunkt der Analyse muss ein Vergleich der verschiedenen Sprachfassungen der Norm stehen, der auf den Wortlaut des den Verweis enthaltenden Nebensatzes sowie auf die komplette Satzsemantik abzustellen hat. (1) Die deutsche Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV Mit Blick auf die deutsche Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV differenziert der Normtext aufgrund seiner Syntax und der generativen Satzsemantik zwischen der EMRK auf der einen und den allgemeinen Verfassungsüberlieferungen als allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts auf der anderen Seite. Ausgehend von diesem Textverständnis ist in einem ersten Gedankenschritt auf eine hierarchische Gleichstellung der EMRK mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und auf die Charakterisierung der mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen als Erkenntnisquelle für Letztere zu schließen. Bejaht man die echte Rechtsquellenqualität der allgemeinen Rechtsgrundsätze für die Herleitung der einzelnen Grundrechte, was vor dem Hintergrund der grundrechtlichen Rechtsprechung des EuGH sowie angesichts des in Art. 6 Abs. 2 EUV enthaltenen Relativadverbs „wie“, das jeweils selbständig vor beiden Quellen verwendet wird, nahe liegt, so müsste dies in einem zweiten Gedankenschritt auch für die EMRK gelten, womit letztlich – ungeachtet der näheren rechtsdogmatischen Begründung874 – auch ihre direkte Rechtsverbindlichkeit im EU-Recht einherginge. (2) Die weiteren Sprachfassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV Der soeben geknüpften Folgerungskette stehen unterdessen abweichende Sprachfassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV entgegen, soweit diese im Satzbau und in der Syntax partielle Unterschiede zum deutschen Wortlaut der Norm aufweisen. Zwar ähnelt zumindest die spanische Fassung der deutschen noch insoweit, als auch hier vor dem Attribut „als allgemeine Grundsätze“ kein Komma zu finden ist875. Jedoch kann dies auch auf die besonderen Syntaxregeln der spanischen Sprache zurückgeführt werden und lässt inters. insoweit den Überblick in Fn. 814. „La Unión respetará los derechos fundamentales tal y como se garantizan en el Convenio Europeo para la Protección de los Derechos Humanos y de las Libertades Fundamentales firmado en Roma el 4 de noviembre de 1950, y tal y como resultan de las tradiciones constitucionales comunes a los Estados miembros como principios generales del Derecho comunitario.“ 874 875

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pretatorisch im Gegensatz zur deutschen Fassung jedenfalls keinen eindeutigen Schluss zu. In den meisten Fassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV876 steht indessen einer inhaltlichen Verknüpfung der Worte „Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“ und „als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ die abweichende Verortung des Verbs „ergeben“ sowie das sich anschließende – in der deutschen Fassung fehlende – Komma entgegen. Die abweichende Satzkonstruktion der Mehrzahl der Mitgliedstaaten stellt den semantisch-systematischen Bezug damit nur zwischen der Grundrechtsachtung der Union und den allgemeinen Rechtsgrundsätzen sowie zwischen Letzteren und den beiden genannten Quellen, also sowohl der EMRK als auch den Verfassungsüberlieferungen, her. Besonders deutlich zeigt sich dieser Sinngehalt etwa in der schwedischen Fassung877, in welcher das Attribut „als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ bereits zwischen dem Verb „achtet“ und dem Akkusativobjekt „die Grundrechte“ eingebettet ist. Schon die Wortstellung setzt hier allein die Rechtsgrundsätze in unmittelbaren Bezug mit dem allgemeinen Grundrechtsachtungsgebot. Aus alledem folgt, dass die Grundrechte nach Art. 6 Abs. 2 EUV unter Zugrundelegung einiger Sprachfassungen gerade in der Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen Geltung beanspruchen können und somit zunächst nur Letztere von der Norm als echte Rechtsquelle anerkannt werden. Eine Gleichstellung der EMRK mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen lässt sich diesen Sprachfassungen hingegen nicht entnehmen. Vielmehr fungiert die Konvention danach zusammen mit den Verfassungstraditionen auf einer nachrangigen Erkenntnisquellenebene. (3) Kriterien zur Auflösung des Vertragssprachenkonflikts Der Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV divergiert folglich in den verschiedenen Vertragstexten inhaltserheblich. Aufgrund der in Art. 314 EGV und Art. 53 EUV niedergelegten Gleichrangigkeit der Vertragssprachen878 darf 876 s. etwa den französischen Wortlaut, der in der jeweiligen Übersetzung mit der englischen, dänischen, griechischen, italienischen, portugiesischen und holländischen Fassung übereinstimmt: „L’Union respecte les droits fondamentaux, tels qu’ils sont garantis par la convention européenne de sauvegarde des droits de l’homme et des libertés fondamentales, signée à Rome le 4 novembre 1950, et tels qu’ils résultent des traditions constitutionnelles communes aux États membres, en tant que principes généraux du droit communautaire.“ 877 „Unionen skall som allmänna principer för gemenskapsrätten respektera de grundläggande rättigheterna, såsom de garanteras i Europakonventionen om skydd för de mänskliga rättigheterna och de grundläggande friheterna, undertecknad i Rom den 4 november 1950, och såsom de följer av medlemsstaternas gemensamma konstitutionella traditioner.“ (Hervorhebung durch den Verfasser) 878 Vgl. dazu bereits EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419, Rn. 3 (Stauder).

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nicht bereits und allein aus dem Umstand, dass die gegenüber der deutschen und eventuell auch der spanischen Fassung abweichenden Vertragstexte in der Mehrzahl sind, auf ein Zurücktreten Ersterer geschlossen werden. Da weder das geschriebene Primärrecht879 noch die oben näher dargestellten Besonderheiten der Auslegungsregeln des EU-Rechts hinreichende Kriterien bereithalten, wenn die authentischen Vertragstexte, wie hier, punktuell unvereinbar voneinander abweichen, ist zur Lösung des vorliegenden Vertragsprachenkonflikts ein Rückgriff auf die Auslegungsregeln des Art. 33 WVK erforderlich und geboten. Hierbei ist zunächst festzustellen, dass die Vermutung des Art. 33 Abs. 3 WVK, nach welcher die unterschiedlichen Fassungen eines völkerrechtlichen Vertrages in jedem authentischen Text grundsätzlich dieselbe Bedeutung haben sollen, vorliegend nicht weiterhelfen kann. Die verschiedenen Sprachfassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV unterscheiden sich nämlich nicht nur hinsichtlich eines interpretationsfähigen Ausdrucks, sondern in Bezug auf die gesamte Syntax des Normtextes. Wie im Rahmen der obigen Ausführungen festgestellt, weichen die Textbedeutungen dabei in signifikanter Weise voneinander ab, soweit die deutsche Fassung die EMRK und die allgemeinen Rechtsgrundsätze nebeneinander stellt und allein diese an die Verfassungsüberlieferungen koppelt, während die anderen Sprachfassungen eine unmittelbare Verbindung syntaktisch nur zwischen den Rechtsgrundsätzen und dem Grundrechtachtungsgebot begründet. Diese Wortlautdiskrepanz lässt sich auch nicht über die Vermutungsregelung des Art. 33 Abs. 3 WVK durch eine Bedeutungsangleichung überwinden. Die Überwindung der Bedeutungsunterschiede der jeweiligen Normfassungen hat demnach über Art. 33 Abs. 4 WVK zu erfolgen. Nach dieser Kollisionsregel ist, sofern eine Anwendung der allgemeinen Auslegungsregeln der Art. 31 und 32 WVK den Bedeutungsunterschied nicht ausräumen kann, der Bestimmung eines völkerrechtlichen Vertrages diejenige Bedeutung zugrunde zu legen, die unter Berücksichtigung von Ziel und Zweck die Wortlaute am besten miteinander in Einklang bringt880. Da die Auflösung der aufgezeigten Bedeutungsdiskrepanz der unterschiedlichen Sprachfassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV an den Grenzen der grammatikalischen Auslegung scheitert und daher nicht über eine Anwendung der Art. 31 und 32 WVK vorgenommen werden kann, müssen dies die weiteren teleologischen Erwägungen der hiesigen Norminterpretation leisten.

879 Eine Vorrangregelung i. S. d. Art. 33 Abs. 1 Hs. 2 WVK kennt das Gemeinschaftsrecht nicht. 880 Dazu schon Hilf, Die Auslegung mehrsprachiger Verträge, S. 20 ff. und 101 ff.

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bb) Teleologische Erwägungen Im Zuge der somit maßgeblichen Bestimmung von Sinn und Zweck der Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV ist im Wesentlichen zu klären, mit welcher unionsrechtlichen Rechtsquellennatur die Vorschrift die einzelnen aufgezählten Quellen ausstattet. Maßgebliche Relevanz kommt hierbei auch der Frage nach der normativ veranlassten Bindung an die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR zu. (1) Allgemeine Überlegungen zu Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 EUV im Hinblick auf die Grundrechtsquellendogmatik Ausgehend von dem hier vertretenen Verständnis, dass Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 EUV im Allgemeinen in der Überführung der prätorisch begründeten Grundrechtsbindung der Gemeinschaft in das geschriebene Primärrecht liegen, ist prima facie nicht anzunehmen, dass der EU-Vertrag dem hermeneutischen Ansatz des EuGH zur Grundrechtsherleitung ein Ende bereiten oder die richterrechtliche Herleitungsmethodik in einer die Grenzen des Unwesentlichen überschreitenden Weise modifizieren sollte. Wäre Letzteres der Fall, so hätten die Vertragsparteien im unmittelbaren Zusammenhang mit dem allgemeinen Grundrechtsachtungsgebot unter entsprechender Manifestation ihres Willens weitere Regelungen mit hinreichend bestimmten Aussagen zu Herleitung, Inhalt und Reichweite des Grundrechtsschutzes im Einzelnen schaffen müssen. Dies ist aber nicht geschehen. Die Mitgliedstaaten wollten vielmehr die Bestimmung der Grundrechtsgeltung und -wirkung im Interesse der Flexibilität und künftigen Entwicklungsoffenheit der unionalen Grundrechtskonzeption zur nachhaltigen Ermöglichung grundrechtsgemäßer Judikate weiterhin in die Hände des EuGH gelegt wissen. Somit spricht auf den ersten Blick einiges dafür, die Grenzen der weiteren Bestimmung von Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 EUV hinsichtlich der Grundrechtsquellensystematik dort anzusiedeln, wo es zu einem merklichen Bruch mit der Dogmatik der Rechtsprechung käme. (2) Betrachtungen zur unmittelbaren Bindung der EU an die EMRK Von zentraler Bedeutung ist daher, ob die Norm gleichwohl in wesentlicher Diskrepanz zu den Vorgaben der Rechtsprechung des EuGH eine unmittelbare Bindung der EU an die EMRK und damit möglicherweise auch an die Rechtsprechung des EGMR konstituieren soll. Es ist hierbei vorauszuschicken, dass eine formelle Bindung solange ausscheidet, wie die Union

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kein Konventionsmitglied ist881. Mangels Völkerrechtspersönlichkeit der EU882, hinreichender Ermächtigungsgrundlage seitens der Gemeinschaft883 und einschlägiger Regelungen in der Konvention884 ist ein Beitritt de lege lata auch nicht möglich885. Eine materielle Bindung der Union an die EMRK lässt sich unterdessen a priori über mehrere Wege andenken886, so inter alia auch über Art. 6 Abs. 2 EUV.

881 Vgl. dazu nur EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94, § 32 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich). Vgl. aus der Literatur etwa Villiger, EMRK, Rn. 22; Winkler, EuGRZ 2001, 18, 23; Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 109; vgl. ausführlicher zur Diskussion um einen förmlichen Beitritt Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1, Rn. 28 ff.; zum Nutzen eines Beitritts ausführlicher in Teil 3 unter B. II. 882 So auch die ganz h. M., vgl. nur Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 1 EUV, Rn. 15 ff.; Ress, EuR-Beiheft 2/1995, 27 ff. 883 Auf die Auffangkompetenz der Gemeinschaft nach Art. 308 EGV kann ein förmlicher Beitritt nicht gestützt werden. Hierfür bedürfte es vielmehr einer entsprechenden Vertragsänderung nach Art. 48 EUV; dazu EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996. I-1759, 1787, Rn. 36 (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten): „En effet, si le respect des droits de l’homme constitue une condition de la légalité des actes communautaires, l’adhésion de la Communauté à la convention européenne des droits de l’homme entraînerait un changement substantiel du régime actuel de la protection des droits de l’homme, en ce qu’elle comporterait l’insertion de la Communauté dans un système institutionnel international distinct ainsi que l’intégration de l’ensemble des dispositions de la convention dans l’ordre juridique communautaire. Une telle modification du régime de la protection des droits de l’homme dans la Communauté, dont les implications institutionnelles seraient également fondamentales tant pour la Communauté que pour les États membres, revêtirait une envergure constitutionnelle et dépasserait donc par sa nature les limites de l’article 235. Elle ne saurait être réalisée que par la voie d’une modification du traité.“ 884 Zwar wird durch Art. 17 des Zusatzprotokolls Nr. 14 zur EMRK über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention u. a. Art. 59 EMRK um einen Abs. 2 ergänzt, der ausdrücklich regeln wird, dass auch die EU der EMRK beitreten kann. Zum einen sind jedoch im Falle eines Beitritts weitere Änderungen am Konventionstext nötig [dazu ausführlicher in Teil 3 unter B. I. 4.], zum anderen tritt das Protokoll erst nach seiner Ratifizierung durch sämtliche Konventionsstaaten in Kraft, welche in der russischen Duma am 20. Dezember 2006 mit 138 gegen 27 Stimmen vorläufig gescheitert ist. 885 Der Entwurf des Vertrags über eine Europäische Verfassung legt in Art. I-9 Abs. 2 S. 1 ausdrücklich nieder, dass die ab Inkrafttreten der Verfassung mit Völkerrechtspersönlichkeit ausgestattete EU (vgl. Art. I-6 EV) den Beitritt zur EMRK vornehmen wird (dazu näher in Teil 3 unter B. I. 1.). 886 Ob ein Beitritt zur EMRK sinnvoll oder gar geboten ist, da er möglicherweise eine Option zur Effektuierung des Individualrechtsschutzes darstellt, ist an dieser Stelle noch nicht von Relevanz (dazu in Teil 3 unter B. II.).

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(a) Gewohnheitsrechtliche Bindung Ist davon auszugehen, dass die Staaten einige Menschenrechte auch ohne eine vertragliche Bindung zu beachten haben887 und würden die EMRK oder einzelne Regelungen derselben in diesem Lichte – möglicherweise auch nur regionales888 – Völkergewohnheitsrecht darstellen, dürften sich auch Internationale Organisationen, so auch die europäischen Gemeinschaften, ihrer Geltung nicht entziehen889. In Bezug auf die EMRK fehlt es indes insofern insbesondere aufgrund der zahlreichen Vorbehaltserklärungen der Mitgliedstaaten nach Art. 57 EMRK wohl schon an einer allgemeinen Anwendungsübung i. S. d. Art. 38 Abs. 1 lit. b) des IGH-Statuts und folglich an der neben der opinio juris für die Begründung einer gewohnheitsrechtlichen Bindung vorauszusetzenden consuetudo890. Dies steht freilich nicht der Möglichkeit entgegen, bestimmte Menschenrechte ungeachtet und unbeschadet ihrer Verbriefung in der EMRK als Teil des Völkergewohnheitsrechts zu werten891, das als selbständige Rechtsquelle des Völkerrechts eigene Bindungswirkungen entfaltet. (b) Bindung aufgrund zwingenden Völkerrechts Aus entsprechenden Erwägungen heraus kann der EMRK oder einzelnen Konventionsgarantien auch nicht der Charakter zwingender Völkerrechts887 Vgl. dazu Klein, Menschenrechte – Stille Revolution und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, S. 15. 888 Vgl. zur regionalen oder auch nur bilateralen Anwendung von Völkergewohnheitsrecht IGH, Urt. v. 20. November 1950, ICJ Reports 1950, 266, [Kolumbien/ Peru (Haya de la Torre)] sowie IGH, Urt. v. 12. April 1960 (preliminary objections), ICJ Reports 1960, 6, [Portugal/Indien (Affaire du droit du passage sur le territoire indien)]. 889 Zur Bindung Internationaler Organisationen an das Völkergewohnheitsrecht s. IGH, Gutachten vom 20. Dezember 1980, ICJ Reports 1080, 73 (Interpretation of the WHO-Egypt Agreement); zur Geltung des Völkergewohnheitsrechts im Gemeinschaftsrecht s. insbesondere EuGH, Rs. C-286/90, Slg. 1992, 6019, Rn. 9 f. (Poulsen) sowie EuGH, Rs. C-162/96, Slg. 1998, 3655, Rn. 45 f. (Racke); zu letzterem Thema im Übrigen näher unter 3. c) cc). 890 Vgl. dazu näher Frank, Verantwortlichkeit für die Verletzung der EMRK durch internationale Organisationen, S. 135; ebenfalls gegen die Einstufung der EMRK – jedenfalls im Ganzen – als regionales Gewohnheitsrecht Pernice, in: Dreier, GGKommentar, Art. 25 GG, Rn. 21. Für die Rechtsqualität der EMRK als regionales Völkerrecht hingegen wohl Bleckmann, EuGRZ 1994, 149, 152 ff., soweit er sich dort für eine formelle Sichtbarmachung des Verfassungsrangs der EMRK über Art. 2 und 25 GG ausspricht. 891 Dazu näher Klein, Bedeutung des Gewohnheitsrechts für den Menschenrechtsschutz, in: ders./Menke, Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, S. 11 ff.

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normen im Sinne von ius cogens892 zugesprochen werden. Zunächst erscheint diesbezüglich bereits in genereller Hinsicht problematisch, die Grund- und Menschenrechte unter das völkerrechtliche ius cogens zu fassen, da sich die Möglichkeit der zulässigen Einschränkbarkeit von Grundrechten nicht so recht mit dem Wesen des zwingenden Rechts als absolutem Abweichungsverbot in Einklang bringen lässt893. Unter Beachtung der Grundrechtsdogmatik erscheint es zwar auch denkbar, die Menschenrechte oder zumindest die elementarsten unter ihnen gerade samt ihrer Schrankenebene dem zwingenden Recht zuzurechnen, mit anderen Worten das Charakteristikum ihrer Relativität gleichsam als Bestandteil des ius cogens zu verstehen894. Eine abstrakte Bestimmbarkeit der Reichweite seines zwingenden Gehalts erscheint dann nur schwerlich möglich. Vor diesem Hintergrund kann von menschenrechtlichem ius cogens wohl aber in Bezug auf den universellen Schutz des unveräußerlichen Kerns der Grund- und Menschenrechte gesprochen werden895. Selbst wenn man im Übrigen die Möglichkeit der Existenz nur regional geltenden zwingenden Völkerrechts grundsätzlich bejahen möchte896, könnte es der EMRK als solcher aufgrund der mannigfaltigen Vorbehalte der Vertragsstaaten nach Art. 57 EMRK am absolut zwingenden Charakter einzelner oder gar aller Konventionsrechte fehlen897. Entscheidend ist letztlich auch hier, dass, soweit man einigen in der Konvention geregelten essentiellen898 Menschenrechten auch den Charakter von ius cogens zubil892 s. zum Begriff des ius cogens die Legaldefinition in Art. 53 S. 2 WVK: „(. . .) eine zwingende Norm des Völkerrechts (ist) eine Norm, die von der internationalen Staatengemeinschaft in ihrer Gesamtheit angenommen und anerkannt wird als eine Norm, von der nicht abgewichen werden darf und die nur durch eine spätere Norm des allgemeinen Völkerrechts derselben Rechtsnatur geändert werden kann.“ 893 Auf dieses Problem ausdrücklich hinweisend auch Klein, in: FS Ress, S. 151, 155 ff. 894 s. dazu auch Kokott, Grund- und Menschenrechte als Inhalt eines internationalen ordre public, in: Berichte der Deutschen Gesellschaft für Völkerrecht 38, S. 71, 85 ff., die insoweit zwingende, gegenüber allen geltende Menschenrechtsverpflichtungen und dispositive Menschenrechte des einfachen Völkerrechts unterscheidet. 895 Das Problem der Relativierung des Abweichungsverbots ist damit freilich nicht vollends gelöst, sondern verschiebt sich hierbei auf die Ebene des rechtlichen Wesensgehalts, dessen Bestimmung seinerseits abstrakt-absolut, konkret-absolut oder fallrelativiert vorgenommen werden kann. 896 Vgl. zu diesem völkerrechtlichen Strukturelement im speziellen Hinblick auf die EMRK de Quadros, in: FS Bernhardt, S. 555 ff. 897 So etwa Busch, Bedeutung der EMRK, S. 34; zur entgegen gesetzten Ansicht etwa Lawson, Het EVRM en de Europese Gemeenschappen, S. 167 ff. 898 Im Rahmen einer Differenzierung zu „unwichtigeren“ Menschenrechten werden zwar unterschiedliche, inhaltlich jedoch kaum abweichende Terminologien verwendet: Frowein, Jus Cogens, in: Bernhardt, EPIL, S. 65, 67, spricht etwa von „fun-

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ligen kann899, dies nicht auf ihre formelle Verankerung in der Konvention, sondern entscheidend auf ihren materiellen, unabdingbaren Schutzgehalt zurückzuführen ist. Folglich ist gegebenenfalls nur der jeweils hinter einer EMRK-Gewährleistung stehende Wert dem ius cogens zurechenbar, nicht aber die Konventionsbestimmung als solche. In diesem Sinne hat auch das EuG in den Rechtssachen Yusuf900, Kadi901 und Ayadi902, in denen es sich jeweils für zuständig erklärte, nicht nur den in casu angegriffenen EG-Beschluss, sondern mittelbar auch die durch diesen gemeinschaftsrechtlich umgesetzten Gemeinsamen Standpunkte des EU-Rats und die dahinter stehenden Resolutionen des UN-Sicherheitsrates am völkerrechtlichen ius cogens zu messen, die Prüfung der klägerseits nicht zuletzt auf die EMRK gestützten Grundrechte zu Recht mit keinem Wort in einen konventionsrechtlichen Kontext gestellt903. (c) Bindung kraft Rechtsnachfolge Eine Bindung kraft funktioneller Rechtsnachfolge, wie sie der EuGH inter alia für die GATT angenommen hat904 und wie sie in der Literatur in unterschiedlichen Ausprägungen auch für die EMRK befürwortet wird905, damental human rights“; Hobe/Tietje, AVR 1994, 130, 136, bezeichnen sie als „elementare Menschenrechte“. s. aus der deutschen Rechtsprechung auch BGH St 40, 241, 247, der den Begriff „fundamentale Menschenrechte“ benutzt. Zur Möglichkeit der Bildung einer Rangordnung der deutschen Grundrechte durch Übertragung des Grundgedankens der preferred freedoms-Doktrin auf das deutsche Verfassungsrecht Klein, in: FS Benda, S. 135, 138 ff. 899 Dazu ausführlich Karl, Menschenrechtliches ius cogens – Eine Analyse von „Barcelona Traction“ und nachfolgender Entwicklungen, in: Klein/Menke, Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, S. 102 ff. 900 EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission). 901 EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). Hierzu näher Kotzur, EuGRZ 2006, 19 ff.; Schmalenbach, JZ 2006, 349 ff.; Steinbarth, ZEuS 2006, 269 ff. 902 EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139, Rn. 101 ff. (Chafiq Ayadi/Rat). 903 EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 277 ff. (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649, Rn. 226 ff. (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139, Rn. 101 ff. (Ayadi/Rat). 904 EuGH, Rs. 21/72 bis 24/72, Slg. 1972, 1227, Rn. 14/18 (International Fruit Company u. a.); der EuGH bekräftigte diese Rechtsprechung, indem er eine Übernahmeverpflichtung der Gemeinschaft aus dem Abkommen vom 15. Dezember 1950 über das Zolltarifschema für die Einreihung der Waren in die Zolltarife und aus dem Abkommen vom selben Tag über die Gründung eines Rates für die Zusammenarbeit auf dem Gebiet des Zollwesens bejahte, vgl. EuGH, Rs. 38/75, Slg. 1975, 1439, Rn. 21/22 (Douaneagent der NV Nederlandse Sporwegen).

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

erscheint nicht nur wegen der bereits dargelegten Abwesenheit eines einheitlichen Schutzniveaus der EMRK in den Mitgliedstaaten, sondern auch vor dem Hintergrund der im Zeitpunkt der Gründung der Gemeinschaften mangels förmlichen Beitritts fehlenden Bindung Frankreichs an die EMRK dogmatisch ablehnungswürdig906. Dies wäre nur dann anders zu beurteilen, wenn die EG/EU die rechtliche Form eines Bundesstaats aufwiese907. (d) Bindung durch einseitige Inkorporation Als dogmatischer Ansatz verbleibt damit schließlich, eine Bindungswirkung der EMRK gegenüber der EU kraft einseitigen unionalen Inkorporationsakts über Art. 6 Abs. 2 EUV zu begründen908. Indem der EuGH eine Bindung der EU an die EMRK explizit verneint909, verschließt er sich diesem Standpunkt jedoch vor dem Hintergrund, dass eine derart uneingeschränkte Einverleibung der EMRK in das Unionsrecht als echte, unmittelbar verbindliche Rechtsquelle auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 2 EUV eine wesentliche Änderung seiner eigenen Grundrechtskonzeption mit sich gebracht hätte. Demgemäß beschränkt er sich bislang darauf, der EMRK im Rahmen der richterlichen Findung allgemeiner Rechtsgrundrechtsätze eine herausragende Rolle einzuräumen, Letzteres freilich zu Recht910. Betrachtet man den Ansatz der Inkorporationswirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV aus ei905 Vgl. zur sukzessionsähnlichen Substitutionswirkung insbesondere Pescatore, in: FS Wiarda, S. 441, 442, 450 f.; eine Sukzession mangels Übertragung territorialer Gewalt ablehnend, aber zugleich eine Bindung über das Prinzip „nemo plus juris transferre potest quam ipse habet“ bejahend Schermers, CMLR 1990, 249, 251; zur Qualifizierung des Handelns der Gemeinschaft als Substitution der kollektiven Ausübung der Auswärtigen Gewalt Bleckmann, Die Bindung der Europäischen Gemeinschaft an die EMRK, S. 91; vgl. zu den weiteren Stimmen zugunsten einer Bindung an die EMRK Bernhardt, in: FS Everling, S. 103 ff.; Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1197 f.; Kugelmann, Grundrechte in Europa, S. 51. 906 Vgl. dazu im Einzelnen auch Busch, Bedeutung der EMRK, S. 39 ff. 907 s. Ress, Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 196. 908 So bereits zu Art. F Abs. 2 EUV Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 8. 909 EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 35 (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten). 910 Vgl. nur Klein, AfP 1994, 9, 10. Noch deutlicher verleiht der EGMR ihrer Bedeutung Ausdruck, wenn er von der Konvention „as a constitutional instrument of European public order“ spricht [so in EGMR, Urt. v. 23. März 1995 (Große Kammer), Beschw. Nr. 15318/89, § 75 (Loizidou/Türkei)]. Zur Entwicklung der EMRK in Richtung einer European puplic order auch Ress, Aspekte der Entfaltung des europäischen Menschenrechtsschutzes, in: Jahrbuch der juristischen Gesellschaft Bremen 2003, 17, 19 ff.

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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nem hypothetischen genetisch-historischen Blickwinkel, so steht in der Tat zu bezweifeln, dass die Herren der Verträge bei der Ausarbeitung des EUV sehenden Auges die mit einer unmittelbaren materiellen Bindung an die EMRK einhergehenden rechtlichen Problemstellungen und Abgrenzungsschwierigkeiten – insbesondere hinsichtlich jurisdiktioneller Kompetenzkonkurrenzen zwischen EuGH und EGMR911 – billigend in Kauf nehmen wollten. Aus unionsrechtlicher Sicht könnte die einseitige unmittelbare Bindung an die EMRK samt der Rechtsprechung des EGMR letztlich den Wirkungen eines formellen Beitritts gleichkommen. Eine solch weitgehende Bindung hätte indes expliziter Regelungen vornehmlich zum Verhältnis der Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg zueinander bedurft912. Gegen den Willen der Vertragsparteien, eine einseitige Bindung an die EMRK kraft Inkorporation zu begründen, spricht zudem retrospektiv der Umstand, dass die Mitgliedstaaten einen Beitritt der EU zur EMRK nunmehr als konkretes Vorhaben in Art. I-9 Abs. 2 des Verfassungsvertrages niedergelegt haben. Hätten sie schon mit der Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV eine materielle Bindung an die EMRK gewollt, wäre in den Vertragserörterungen im Rahmen des Für und Wider eines solchen Beitritts auch die Frage der hierauf fußenden Entbehrlichkeit eingeflossen, was – soweit ersichtlich – aber weder in der nicht zuletzt auch für diesen Fragenkomplex zuständigen Arbeitsgruppe II913 noch im Verfassungskonvent selbst der Fall gewesen ist. Mag einerseits die entstehungsgeschichtliche Auslegung im Unionsrecht nicht von sonderlich hoher Bedeutung sein914, darf andererseits der Wille der Vertragsparteien, soweit hinreichend feststellbar, in solch systemsensiblen Fragestellungen auch nicht außer Acht gelassen werden. Darüber hinaus erscheint fraglich, ob die EMRK mit Blick auf die Besonderheiten ihrer Entstehungsgeschichte und ihre eigenen, in der Präambel ausgedrückten Ziele uneingeschränkt geeignet ist, Grundrechte des Individuums direkt gegenüber der supranationalen Rechtsgemeinschaft zu gewährleisten915. Obgleich sich die Entwicklungsdimensionen der Union heute nicht mehr in einer wirtschaftlichen und sozialen Integration der Mitgliedstaaten erschöpfen916, steht – im Gegensatz zur EMRK – der Schutz des Einzelnen gegenüber dem hoheitlichen Handeln der EU-Organe noch nicht in gleicher Weise im Vordergrund der unionalen Rechtsordnung917. Dazu sogleich unter (3). Dazu näher Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 100 ff. 913 Vgl. Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 11 ff. 914 Dazu bereits oben unter B. I. 3. 915 So etwa Nicolaysen, EuR 2003, 719, 729. 916 Vgl. Klein, AfP 1994, 9, 10, Fn. 10. 917 Dazu näher v. Bogdandy, JZ 2001, 157 ff.; zur Situation unter einer rechtsgültigen Grundrechte-Charta und einem ebensolchen Verfassungsvertrag ausführlicher 911 912

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

Während die in der EMRK fixierten Rechte hinsichtlich des jeweiligen Schutzbereichs und ihrer Schranken primär im Lichte ihrer Funktion als individualrechtlich und auf negatorischen Schutz des Menschen in seiner Zeit ausgerichtete Abwehrrechte auszulegen und anzuwenden sind918, müssen die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte demgegenüber aufgrund ihrer Einbettung in eine eigenständige Rechtsordnung stets im Zusammenhang zur gesamtsystematischen Teleologie, namentlich insbesondere jener des Gemeinsamen Marktes, betrachtet und auch behandelt werden. Das Gemeinschaftsrecht ist ein rechtliches Mittel zur aktiven politischen Gestaltung des Lebens der am Rechtsverkehr Beteiligten, die EMRK hingegen bildet einen ordnenden Mindestwerterahmen für die Lenkung des Verhältnisses zwischen den Vertragsstaaten und ihren Bürgern919 im Sinne eines paneuropäischen „ordre public“920. Eine unreflektierte und allzu starre Bindung an die Konventionsrechte im Wege einer einseitigen Übernahme in das Unionsrecht würde diesen Wesensunterschieden nicht vollends Rechnung tragen können. Erst ein offizieller Beitritt der EU zur EMRK würde den Willen der hier allein dispositionsbefugten Mitgliedstaaten, die Union unmittelbar an das Grundrechtsregime der Konvention zu binden, ausreichend manifestieren und durch die notwendigen Vorverhandlungen sowie durch Vorbehaltserklärungen nach Maßgabe des Art. 35 EMRK die Möglichkeit bieten, eine formelle Einbindung der EU in das System der EMRK und die Jurisdiktionsgewalt des EGMR systemadäquat unter Wahrung der Spezifik der unionalen Rechtsordnung zu gestalten. Diese Überlegungen erlauben zwar weiterhin den Schluss, dass Art. 6 Abs. 2 EUV die EMRK in das vertragliche Primärrecht als hervorragende Erkenntnisquelle zur Ermittlung der Existenz und des Inhalts allgemeiner Rechtsgrundsätze inkorporieren soll, so dass insoweit durchaus von einer normativen Eingliederungswirkung gesprochen werden kann. Jedoch streitet nach dem Gesagten mehr gegen eine strenge materielle Bindung der Union an die EMRK und folglich auch gegen eine Inkorporation der EMRK in das Unionsrecht als unmittelbar bindende Grundrechtsquelle.

in Teil 3 unter A.; zu den Änderungen des Rechtsschutzsystems unter dem Verfassungsvertrag näher in Teil 4 unter D. I. 918 In diesem Sinne Klein, AfP 1994, 9, 10. 919 In diesem Sinne auch Tomuschat, in: FS Ress, S. 857, 870. 920 Zu dieser Bedeutung der EMRK s. nochmals EGMR, Urt. v. 23. März 1995 (Große Kammer), Beschw. Nr. 15318/89, § 75 (Loizidou/Türkei).

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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(3) Betrachtungen zur Bindung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR Diese Folgerungen bieten allerdings noch keine hinreichende Antwort auf die weiterführende Frage nach einer möglichen mittelbaren Verantwortung der Union gegenüber der EMRK, womit zugleich das im Folgenden zu beleuchtende Problem einhergeht, ob und gegebenenfalls inwieweit der EuGH die Rechtsprechung des EGMR bei der Heranziehung der EMRK zu beachten hat. Die Behandlung dieses komplexen Problembereichs bedarf einer Betrachtung aus dem Blickwinkel beider Rechtssysteme unter maßgeblicher Einbeziehung des rechtlichen wie praktischen Verhältnisses der beteiligten Protagonisten zueinander. (a) Konventionsrechtliche Perspektive Auf der konventionsrechtlichen Seite ist zunächst die formal-rechtliche, den Regelungen der Konvention zu entnehmende Situation und sodann die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen. (aa) Blick auf die EMRK Es kann zwar keinem Zweifel unterliegen, dass die Auslegung und Anwendung der Konvention sowie ihrer Zusatzprotokolle nach Art. 32 § 1 EMRK im Interesse eines europaweit einheitlichen Mindestschutzniveaus grundsätzlich dem Gerichtshof in Straßburg obliegt. Von besonderer Relevanz ist hier aber die Reichweite der Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR, und dies in zweierlei Hinsicht. Es gilt zunächst zu berücksichtigen, dass schon die Konvention als völkerrechtlicher Vertrag den Entscheidungen des EGMR je nach Verfahren verschiedene Rechtswirkungen beimisst. Während Art. 42 EMRK i. V. m. Art. 44 EMRK vorsieht, dass die Urteile des Gerichtshofs endgültig sind und folglich in formeller Rechtskraft erwachsen können, sind sie aufgrund ihrer Ausgestaltung als Feststellungsurteile921 aber keiner Vollstreckung zu921 Der EGMR darf nach der Konzeption der EMRK eine konventionswidrige Maßnahme des verklagten Vertragstaats nicht kassieren (vgl. Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, S. 217 ff.). Vielmehr ist die Vertragspartei nach Art. 46 EMRK grundsätzlich nur zur Naturalrestitution verpflichtet (vgl. Polakiewicz, a. a. O., S. 97 ff.) respektive zur Beendigung des konventionswidrigen Verhaltens [vgl. etwa EGMR, Urt. v. 8. April 2004, Beschw. Nr. 71503/01, § 198 (Assanidze)]. Vgl. zu dem Thema auch Grabenwarter, EMRK, § 16, Rn. 3; Villiger, EMRK § 13, Rn. 233.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

gänglich922. Nach Art. 46 EMRK kommt den Judikaten gleichwohl eine begrenzte materielle Rechtskraft923 dahingehend zu, dass ein Vertragsstaat in jeder unter seiner Beteiligung abgeschlossenen Rechtssache zur Befolgung des endgültigen Urteils des Gerichtshofs verpflichtet ist und im Falle seiner Verurteilung neben der Gewähr einer möglichst weitgehenden restitutio in integrum oder kompensatorischen Schadensersatzes924 auch die Unterlassung zukünftiger Verletzungswiederholungen schuldet925. Insoweit begründet die Nichtbeachtung der aus Art. 46 § 1 EMRK folgenden Verpflichtungen ihrerseits eine Verletzung der EMRK926, die mit Inkrafttreten des 14. Zusatzprotokolls927 Gegenstand eines vom Ministerkomitee zu initiierenden Urteilsbefolgungsverfahrens sein können wird928. Die Bindungswirkung der Entscheidungen, die sich unbeschadet eines zumindest in den Präzedenzentscheidungen des EGMR enthaltenen allgemeinen Leitgehalts929 nur inter partes, nicht aber erga omnes entfaltet930, gilt ebenso für das in Art. 34 EMRK vorgesehene Individualbeschwerdeverfahren, wobei der Streitgegenstand maßgeblich die Grenzen der Bindung in personeller, sachlicher und zeitlicher Hinsicht determiniert931. Darüber hinaus kommt den Entscheidungen des EGMR wohl lediglich eine, wenn auch durchaus rechtserhebliche, Orientierungsfunktion zu932. 922 Nach Art. 41 EMRK kann der EGMR im Falle unzureichender Schadenskompensationsmöglichkeiten auf der nationalrechtlichen Ebene zwar selbst eine gerechte Entschädigung zusprechen, sofern dies notwendig erscheint. Auch dieser Ausspruch ergeht jedoch nur als feststellende Entscheidung. 923 Vgl. Cremer, Entscheidung und Entscheidungswirkung, in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar, Rn. 56 f. m. w. N. 924 Zur Relation zwischen diesen beiden nach Maßgabe des Art. 41 EMRK s. EGMR, Urt. v. 17. Februar 2004 (Große Kammer), Beschw. Nr. 39748/98, § 47 (Maestri/Italien). 925 Vgl. Ress, Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 188 f. 926 Vgl. Klein, in: FS Ryssdal, S. 705, 708. 927 Dieses sieht in Art. 16 die betreffenden Änderungen des Art. 46 EMRK vor. 928 Nicht unerwähnt sollen in diesem Zusammenhang mit speziellem Blick auf die deutsche Rechtsordnung auch die in § 359 Nr. 6 StPO (ggf. auch i. V. m. § 61 Abs. 1 BVerfGG) und ebenso in § 580 Nr. 8 ZPO (ggf. auch i. V. m. § 153 VwGO oder § 179 Abs. 1 SGG) – dort für ab dem 31. Dezember 2007 rechtskräftig abgeschlossene Verfahren – geregelten Möglichkeiten bleiben, die Entscheidung des EGMR für eine Restitutionsklage gegen das auf der durch ihn festgestellten Konventionsverletzung beruhende Urteil zum Anlass zu nehmen. 929 s. zur insoweit möglichen „allgemeinen Wirkung“ der EGMR-Entscheidungen insbesondere im deutschen Recht Papier, EuGRZ 2006, 1 f. 930 Einer Bindungswirkung erga omnes hingegen tendenziell das Wort sprechend etwa Bernhardt, in: FS Doehring, S. 28, 29. 931 Dazu näher Klein, in: FS Ryssdal, S. 705, 706 ff.

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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Zum Zweiten kann die Jurisdiktionsgewalt des EGMR gemäß Art. 32 § 1 EMRK nur Raum greifen, sofern sich die spezifischen konventionsrechtlichen Fragen innerhalb eines dem Gerichtshof durch die EMRK ausdrücklich zugewiesenen Verfahrens stellen, was nur im Rahmen der Staatenbeschwerde nach Art. 33 EMRK, der 1998 eingeführten Individualbeschwerde natürlicher Personen, nichtstaatlicher Organisationen oder Personengruppen933 sowie zuletzt des in Art. 47 EMRK vorgesehenen und nur auf Antrag des Ministerkomitees statthaften gutachterlichen Verfahrens der Fall sein kann. Außerhalb dieses Bereichs bestehen aus der Sicht der Konvention keine weitergehenden Rechtsprechungskompetenzen des EGMR934, zumal die EMRK den Fall einer auf sie gerichteten rechtssystemexternen Verweisung oder Bezugnahme auch keinen eigenen Regelungen unterwerfen kann. Vielmehr muss die Konvention solchen Rechtsquellenanleihen neutral gegenüberstehen, da die Entscheidung über Wirkung und Umfang einer etwaigen Inbezugnahme allein dem in der verweisenden Rechtsordnung zuständigen Normgeber gebührt. Daraus folgt zugleich, dass das System der Konvention unter dieser Prämisse eine rechtliche Bindung der EU/EG und damit des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR nicht aufstellen darf. Solange der Weg zu einem Beitritt rechtsfähiger internationaler Gebilde, wie sie die EG darstellt und möglicherweise künftig die Union darstellen wird935, in konventionsrechtlicher Hinsicht nicht geebnet ist, wofür es – ungeachtet der fehlenden Vorsehung einer Beitrittskompetenz im primären Unionsrecht – einer weitreichenden Reform der EMRK und der Satzung des EGMR bedarf936, kann ein solcher auch nicht durch die Hintertür einer materiell-rechtlichen Verweisung auf die Bestimmungen der Konvention erfolgen. Freilich steht dies 932 Vgl. hierzu insbesondere Ress, EuGRZ 1996, 350, nach welchem diese Dimension der EGMR-Entscheidungen nicht aus der Rechtskraftwirkung resultiert, sondern aus der Konvention selbst in ihrer durch den EGMR konkretisierten Wirkung. 933 Zu den weiteren Gegenständen der betreffenden EMRK-Reform s. den kurzen Überblick bei Bernhardt, in: FS Ress, S. 911, 914 f. 934 Diesen Punkt verkennt Wolf, soweit er mit Blick auf den deutschen Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EUV zwischen der EMRK einerseits und den Verfassungstraditionen als allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts andererseits differenziert und darauf aufbauend die Rechtsvergleichungskompetenzen hinsichtlich der Grundrechte aus der EMRK allein beim EGMR ansiedelt (vgl. Wolf, in: FS Ress, S. 893, 897 u. 899 ff). 935 Vgl. Art. I-7 EV. 936 Die durch das Protokoll Nr. 14 zur EMRK über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention erfolgende Ergänzung des Wortlauts des Art. 59 § 2 EMRK, der sodann auch einen Beitritt der EU vorsehen wird, deklariert nur die allgemeine Beitrittsmöglichkeit. Für die Vollziehung des Beitritts bedarf es jedoch weitergehender Änderungen der EMRK [dazu in Teil 3 unter B. I. 4.].

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

grundsätzlich nicht der Möglichkeit entgegen, die Konventionsrechte ganz oder zumindest im Wesentlichen in ihrer durch den EGMR ausgeprägten Gestalt in Bezug zu nehmen und die normative Verweisung in Art. 6 Abs. 2 EUV so auch auf die Rechtsprechung des EGMR zu erstrecken. Indes kann die Antwort auf die Frage nach dem Umfang einer solchen systemexternen Verweisung nicht der Konvention selbst entnommen werden. Hält man sich danach die völkerrechtliche Natur des EMRK-Systems vor Augen, welches dem Gerichtshof nicht zuletzt eine gewisse Sensibilität für die Eigenständigkeit der staatlichen Rechtsordnungen abverlangt937, so erschiene es auch befremdlich, den kompetentiell gegenüber den Mitgliedstaaten ganz anders positionierten EuGH an die Rechtsprechung des EGMR gebunden zu sehen und den Entscheidungen des Gerichtshofs in Straßburg so eine Wirkungsweise zuzugestehen, welche die Konvention ihnen unilateral nicht zu geben vermag. (bb) Blick auf die Rechtsprechungspraxis des EGMR In die vorstehenden, abstrakt aus der Konventionsperspektive getätigten Überlegungen ist nunmehr jedoch der Aspekt einzubeziehen, dass sämtliche Mitgliedstaaten der EG auch solche der EMRK sind. Auch wenn in dieser Hinsicht recht früh die Frage aufgekommen sein dürfte, ob die Konvention gegenüber der mit der Übertragung von Hoheitsrechten auf eine supranationale Ebene etwaig einhergehenden Einschränkung oder Umgehung konventionsrechtlicher Verpflichtungen ihrer Vertragsstaaten indifferent gegenüberstehen darf, vermied es die Rechtsprechung aus Straßburg längere Zeit, sich auf jenes rechtlich heikle Terrain zu begeben und auf diesem allzu unbedachte Schritte zu machen938.

Vgl. Ress, Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 189. 938 Thematisiert werden im Folgenden die Entwicklungen der Rechtsprechung zur gerichtlichen Überprüfbarkeit von Hoheitsakten, die aus der gemeinschaftsrechtlichen Sphäre stammen. Die Kontrolle der den intergouvernementalen Säulen der Union zugehörigen Akte durch den EGMR soll hier nicht gesondert vertieft werden [vgl. zu einem Fall der direkten Individualbeschwerde gegen Gemeinsame Standpunkte des EU-Rats EGMR, Entsch. v. 16. und 23. Mai 2002, Beschw.Nrn. 6422/02 und 9916/02 (Segi u. a. und Gestoras Pro-Amnistia u. a./15 Staaten der Europäischen Union), in welchem der EGMR die Beschwerden jedoch ohne näheres Eingehen auf den etwaig vorrangig zu beschreitenden Rechtsweg vor den Gemeinschaftsgerichten schon wegen der mangelnden persönlichen Opferstellung durch Prozessurteil abgelehnt hat, weil die Beschwerdeführer nicht namentlich in den betreffenden Handlungen genannt wurden]. 937

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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a) Die Rechtssache Melchers & Co. Scheiterte die Zulässigkeit von Klagen gegen Gemeinschaftsrechtsakte schon ratione personae, soweit die EU oder EG Beschwerdegegnerin war939, so lag der fehlende Erfolg im Übrigen an der Unzulässigkeit ratione materiae, soweit das Kollektiv oder einzelne der Mitgliedstaaten verklagt wurden940. Zwar lasse, so damals die Menschenrechtskommission941, die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Internationalen Organisationen der Europäischen Gemeinschaften die Verantwortlichkeit eines Staates zur Erfüllung früherer völkerrechtlicher Verträge wie der EMRK nicht entfallen, eine solche Übertragung von Hoheitsgewalt sei aber mit der EMRK vereinbar, vorausgesetzt auf der Ebene der in Frage stehenden Internationalen Organisation sei ein der EMRK äquivalenter Grundrechtsschutz gewährleistet942. Trotz dieses ausdrücklichen Postulats unterließ es die Kommission unter Verweisung auf das Rechtsschutzsystem des EGV sowie auf die gemeinschaftsrechtliche Anerkennung der Grundrechte im Allgemeinen und des Rechts auf rechtliches Gehör im Speziellen ganz bewusst, in eine präzise Sachprüfung einzutauchen. Zudem schränkte sie das eigens aufgestellte Erfordernis eines äquivalenten Grundrechtsschutzes sogleich wieder ein, indem sie konstatierte, „that it would be contrary to the very idea of transferring powers to an international organisation to hold the member States responsible for examining, in each individual case before issuing a writ of execution for a judgment of the European Court of Justice, whether Article 6 (. . .) of the Convention was respected in the underlying proceedings“943. Die anfängliche Konventionsrechtsprechung bildete wohl auch das Vorzeichen für die Solange II-Rechtsprechung des BVerfG944, das der Aktivierung seiner reservistischen Kontrollbereitschaft ebenso bereits auf der Zulässigkeitsebene hohe Hürden entgegenstellt945.

Vgl. dazu schon EKMR, Unz.Ent. vom 10. Juli 1978, Beschw. Nr. 8030/77, D.R. 13, 231, 239 f. (C.F.D.T./EGen, alternativ ihre Mitgliedstaaten). 940 Vgl. dazu insbesondere EKMR, UnzEnt. vom 09. Februar 1990, Beschw. Nr. 13258/87 (Melchers & Co./Deutschland). Die Beschwerde richtete sich gegen die Entscheidung des deutschen Bundesjustizministers zur Vollstreckung einer Geldbußenfestsetzung der EG-Kommission und folglich gegen einen nationalen Vollzugsakt. 941 Diese wurde durch das 11. Zusatzprotokoll vom 11. Mai 1994 aufgelöst und durch den EGMR ersetzt. 942 EKMR, a. a. O. (Melchers & Co./Deutschland). 943 EKMR, a. a. O. (Melchers & Co./Deutschland). 944 BVerfGE 73, 339 (Solange II), ausdrücklich bestätigt u. a. in BVerfGE 102, 147, 162 f. (Bananenmarktordnung). 945 Vgl. insofern insbesondere BVerfGE 89, 155, 174 f. (Maastricht). 939

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b) Die Rechtssache Cantoni Der darauf folgenden Rechtsprechung des Gerichtshofs in Straßburg konnten indes konkrete Anzeichen dafür entnommen werden, künftig auch im gemeinschaftsrechtlichen Bereich wurzelnde Beschwerdegegenstände einer eingehenden materiellen Prüfung zu unterziehen. Einen ersten Schritt in diese Richtung tat der Gerichtshof in seiner Entscheidung zur Rechtssache Cantoni946, die sich gegen die Unbestimmtheit eines französischen Strafgesetzes richtete, das in Umsetzung einer EG-Richtlinie ergangen war. Der EGMR hob hier hervor, dass die Tatsache, dass der Wortlaut des beschwerdegegenständlichen nationalen Umsetzungsgesetzes nahezu vollumfänglich der ihm zugrunde liegenden EG-Richtlinie entsprach, die staatlichen Regelungen keineswegs dem Anwendungsbereich des Art. 7 EMRK entziehe947. Die Entscheidung ließ insofern die Folgerung zu, dass ein Mitgliedstaat auch im Rahmen der Erfüllung seiner aus einer EG-Richtlinie resultierenden Verpflichtungen die hinreichende Klarheit der nationalen Gesetze eigenverantwortlich und ohne Rücksicht auf den Bestimmtheitsgrad der Richtlinienvorgaben zu gewährleisten hat948. Die Frage, ob diese justitiable Verantwortlichkeit nur dort fortbesteht, wo dem jeweiligen Mitgliedstaat ein greifbarer Entscheidungsspielraum verbleibt949 oder ob es dem EGMR auf einen solchen nicht ankommt950, blieb dabei jedoch unbeantwortet. g) Die Rechtssachen Matthews, Waite und Kennedy sowie Beer und Regan Etwas mehr Klarheit brachte insoweit das anschließende Urteil des EGMR in der Rechtssache Matthews951. Gegenstand dieser Beschwerde war die Entscheidung eines gibraltarischen Wahlbeamten, die Beschwerdeführerin nicht als Wählerin zur Wahl des Europäischen Parlaments zu registrieren. Grundlage dieses Ausschlusses waren ein Beschluss des Rates952 sowie insbesondere der in dessen Rahmen als völkerrechtliches Abkommen953 946 EGMR, Urt. v. 15. November 1996, Beschw. Nr. 17862/91 (Cantoni/Frankreich). 947 EGMR, a. a. O., § 30 (Cantoni/Frankreich); vgl. dazu auch die zustimmenden Ausführungen von Winkler, EuGRZ 1999, 181 ff. 948 Vgl. Grabenwarter, EMRK, S. 394, Rn. 93. 949 In diesem Sinne wohl Bröhmer, EuZW 2006, 71, 74. 950 So Breuer, EuGRZ 2005, 229, 231. 951 EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich); dazu auch Ress, ZEuS 1999, 219, 229 f. 952 Beschl. 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates vom 20. September 1976, ABl. L 278 vom 8. Oktober 1976, S. 1.

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beschlossene Akt der Europäischen Gemeinschaften zur Einführung allgemeiner unmittelbarer Wahlen der Abgeordneten des Europäischen Parlaments954, der den Mitgliedstaaten aufgrund seiner engen Vorgaben keinen Handlungsspielraum beließ. In der Entscheidung stellte der EGMR zunächst nochmals klar, dass sich die Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten nach Art. 1 EMRK auch nach der – per se zulässigen – Übertragung von Hoheitsrechten auf die EG fortsetze, wobei die Gemeinschaftsakte als solche wegen des fehlenden Beitritts der Gemeinschaften zur Konvention nicht seiner direkten Kontrolle unterlägen955. Die unter dieser Prämisse ebenso in weiteren Verfahren ratione personae und ratione materiae bejahte Zulässigkeit der einzelnen Beschwerden gegen einen Mitgliedstaat der EG oder das Kollektiv956 ermöglichte es dem Gerichtshof, in der Sache zu prüfen, ob dem jeweiligen Beschwerdeführer ein der EMRK entsprechender Rechtsschutz gewährt worden ist oder hätte gewährt werden können957. Allerdings nahm der EGMR in keiner der Entscheidungen ausdrücklich Stellung zu der Frage, ob er sich die Kompetenz zuspricht, primäres oder sekundäres Recht der EG als von den Mitgliedstaaten im Kollektiv veranlasstes Recht gegebenenfalls auch direkt an dem Grundrechtsstandard der EMRK zu messen. d) Die Rechtssachen DSR Senator Lines und Emesa Sugar NV Die vor dem Hintergrund dieser nicht unkritisiert gebliebenen Zurückhaltung des EGMR958 mit Spannung erwartete Entscheidung in der Rechtssache DSR Senator Lines959, die sich gegen eine sofort vollziehbare BußDazu näher Bröhmer, ZEuS 1999, 197, 199 f. Akt im Anhang zum Beschl. 76/787/EGKS, EWG, Euratom des Rates v. 20. September 1976, ABl. L 278 vom 8. Oktober 1976, S. 5. 955 Vgl. EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94, § 32 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich). 956 Vgl. EGMR, a. a. O., Rn. 33; hierzu kritisch Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1315. 957 Vgl. EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 26083/ 94, §§ 67 f. (Richard Waite und Terry Kennedy/Deutschland); EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 28934/95, §§ 57 f. (Beer und Regan/Deutschland); ähnlich EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94, § 32 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich). Während die beiden erstgenannten Beschwerden mangels Verletzung des Art. 6 § 1 EMRK als unbegründet abgewiesen wurden, stellte der EGMR in Letzterer eine Verletzung von Art. 3 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK (Recht auf freie Wahlen) fest. 958 Kritisch etwa Reich, ZRP 2000, 375, 376.; ferner Bröhmer, ZEuS 1999, 197 ff. 959 Vgl. EGMR, Entsch. v. 10. März 2004 (Große Kammer), Beschw. Nr. 56672/00 (DSR Senator Lines/EU-Mitgliedstaaten). 953 954

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

geldentscheidung der Europäischen Kommission sowie die zugehörigen ablehnenden Eilentscheidungen des EuG960 sowie des EuGH961 und mithin gegen originär gemeinschaftsrechtliche Handlungen richtete, brachte aufgrund der aus anderen Gründen abgelehnten Zulässigkeit der Beschwerde nicht die erhoffte Klarstellung. Zwar konnte zunächst durchaus in dem Umstand, dass die Beschwerdeschrift allen damaligen Mitgliedstaaten der EU zugestellt wurde962, ein handfestes Indiz für die Annahme einer kollektiven Verantwortlichkeit und für die entsprechende Bereitschaft des EGMR zur sachlichen Überprüfung des Gemeinschaftsrechts gesehen werden. Der Gerichtshof in Straßburg entschied sich jedoch letztlich dafür, die Beschwerde ohne weitere Ausführungen zur Zulässigkeit „ratione personae“ an der fehlenden Opferstellung der Beschwerdeführerin scheitern zu lassen963. In Anbetracht der in der Entscheidung zum Ausdruck kommenden Scheu vor einer eindeutigen, den Rechtsprechungswechsel verlautenden Aussage zur Überprüfbarkeit originärer Gemeinschaftsakte am Maßstab der EMRK scheint der Gerichtshof in Straßburg noch nicht fest vor Augen gehabt zu haben, wie weit er die eingeleitete Entwicklung fortführen möchte oder muss. In der in noch jüngerer Zeit ergangenen Entscheidung in dem Beschwerdeverfahren der Emesa Sugar NV, das sich, gestützt auf Art. 6 § 1 EMRK, gegen die Ablehnung, zu den Schlussanträgen des Generalanwalts beim EuGH Stellung zu nehmen, richtete, ließ der EGMR die Frage zur Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten „ratione personae“ abermals und hier sogar ausdrücklich offen. Vielmehr hielt er es für zweckdienlicher, das Begehren „ratione materiae“ über die offensichtlich fehlende Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 6 EMRK zurückzuweisen964, obgleich er dadurch die hergebrachte und systematisch-logische Reihenfolge der Zulässigkeitsprüfung umkehrte965. Die Vorgehensweise des Gerichtshofs in Straßburg zeugte insoweit von einer gewissen Sensibilität gegenüber dem Risiko, unter Schaffung einer paradigmatischen Rechtsprechung in materielle Divergenz zur JurisEuG, Rs. T-191/98 R, Slg. 1999, II-2531 (DSR Senator Lines GmbH). EuGH, Rs. C-364/99 P(R), Slg. 1999, I-8733 (DSR Senator Lines GmbH). 962 s. den Zustellungsbeschluss des EGMR, veröffentlicht in EuGRZ 2000, 334. 963 Die Zulässigkeit der Beschwerde scheiterte an dem Umstand, dass die Anfechtungsklage der Beschwerdeführerin gegen das durch die Europäische Kommission verhängte Bußgeld vor dem EuGH letztlich erfolgreich war und eine Vollstreckung nicht stattgefunden hatte, so dass sie keine vernünftigen, dem Art. 34 EMRK genügenden Beweise für die Behauptung der hypothetischen Verletzung des Art. 6 EMRK durch die während des Anfechtungsverfahrens vor dem EuG drohende Bußgeldvollstreckung erbringen konnte. 964 Vgl. EGMR, Entsch. v. 13. Januar 2005, Beschw. Nr. 62023/00, Punkt D. des Courts assessment (Emesa Sugar NV/Niederlande). 965 Hierzu ebenfalls kritisch Bröhmer, EuZW 2006, 71, 74. 960 961

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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diktion des EuGH zu treten, der in der gleichen Sache bereits zuvor zuungunsten des Individualklägers entschieden hatte966. In der Gesamtschau illustrieren die beiden genannten Entscheidungen damit recht deutlich, dass der EGMR eine klare Auseinandersetzung mit der Frage nach der Beschwerdetauglichkeit originärer EG-Akte, soweit möglich, vermeidet. e) Die Rechtssache Bosphorus Für den Bereich der mitgliedstaatlichen Maßnahmen mit Wurzeln im Gemeinschaftsrecht ist der Gerichtshof derweil in der jüngst entschiedenen Rechtssache Bosphorus967 einen weiteren, besonders bedeutsamen Schritt gegangen. In diesem Fall hatte die Beschwerdeführerin, die türkische Fluggesellschaft Bosphorus Airways, von der damaligen staatlichen Fluggesellschaft Jugoslawiens zwei Passagierflugzeuge geleast, von denen eines im Rahmen der gegen die ehemalige Bundesrepublik Jugoslawien verhängten Sanktionen anlässlich einer Wartung in Dublin durch die irischen Behörden beschlagnahmt wurde. Rechtliche Grundlage der Maßnahme war die die UN-Resolution 820 (1993) umsetzende EG-Verordnung 990/93968, nach welcher die Mitgliedstaaten zur Beschlagnahme solcher auf ihrem Staatsgebiet befindlichen Flugzeuge verpflichtet wurden, die zumindest majoritär im Eigentum von natürlichen oder juristischen Personen mit Sitz oder Tätigkeitsschwerpunkt in Jugoslawien standen, und die in Durchführung dieser EG-Verordnung ergangenen nationalen Regelungen. Der anlässlich der Klage gegen die Beschlagnahme durch das nationale Gericht nach Art. 234 EGV angerufene EuGH entschied hierbei zugunsten eines weiten, auch solche wie das streitgegenständliche Flugzeug betreffenden Anwendungsbereichs der EG-Verordnung969, so dass die vom irischen Supreme Court zwischenzeitlich aufgehobene Beschlagnahme wieder in Kraft gesetzt und das Flugzeug erst nach Aufhebung der EG-Verordnung herausgegeben wurde. Im Rahmen der daraufhin gegen Irland eingelegten Individualbeschwerde hatte der EGMR darüber zu befinden, ob die beschriebene Beschlagnahme in Gestalt der letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung gegen das Recht auf Achtung des Eigentums nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls der EMRK verVgl. EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-665 (Emesa Sugar NV). EGMR, Urt. v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 968 Verordnung (EWG) Nr. 990/93 vom 26. April 1993, ABl. L 102 vom 28. April 1993. 969 EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953, Rn. 27 (Bosphorus). 966 967

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stieß. Die Kernfragen des vom EGMR zu entscheidenden Falles waren hier, ob bei der Vornahme der angegriffenen Maßnahme eine Ermessensbetätigung der irischen Hoheitsträger erfolgte oder ob dem gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen des Mitgliedstaats entgegenstanden und inwieweit der EGMR folglich die Konventionsgemäßheit der nationalen Maßnahme überprüfen konnte. Der Gerichtshof sah sich dabei veranlasst, im Rahmen der Darstellung der für den Fall relevanten gemeinschaftsrechtlichen Aspekte970 in besonderer Ausführlichkeit auf die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH und die justitiellen Rechtskontrollmechanismen des Gemeinschaftsrechts einzugehen971. In seinen rechtlichen Erwägungen bejahte der Gerichtshof zunächst die Anwendbarkeit der Konvention nach Art. 1 EMRK ratione loci, ratione personae und auch ratione materiae972 sowie im Anschluss daran ebenfalls und ohne weiteres den Eingriff in die Eigentumsnutzung im Sinne des Art. 1 Abs. 2 des 1. Zusatzprotokolls973. Sodann widmete er sich der rechtlichen Basis des Eingriffs und verortete diese entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin aufgrund der allgemeinen und unmittelbaren Anwendbarkeit der EG-Verordnung nach Art. 249 EGV sowie mit Blick auf die in Konformität zu Art. 234 EGV pflichtgemäß eingeholte und bindende Vorabentscheidung des EuGH durch den irischen Supreme Court im Gemeinschaftsrecht, was eine eigenständige Ermessensausübung der nationalen Hoheitsstellen ausschloss974. In der darauf folgenden Rechtfertigungsprüfung975 betonte der EGMR ausdrücklich das beträchtliche Gewicht, das dem Interesse eines Vertragsstaats, seine gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen zu erfüllen, zukomme, und konstatierte, dass dieses Ziel im Lichte des völkerrechtlichen Grundsatzes pacta sunt servanda auch ein legitimes öffentliches Interesse im Sinne der Konvention sei. Ferner wiederholte er seine mittlerweile ständige Rechtsprechung zur Zulässigkeit der Übertragung von Hoheitsgewalt 970 Der EGMR beschränkte seine Ausführungen insoweit ersichtlich auf das Recht der EG [vgl. EGMR, a. a. O., § 72 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland)]. 971 EGMR, a. a. O., §§ 72 ff. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 972 EGMR, a. a. O., § 137 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 973 s. EGMR, a. a. O., §§ 139 ff. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 974 s. EGMR, a. a. O., § 143 ff. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 975 s. EGMR, a. a. O., §§ 149 ff. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland).

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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auf eine internationale oder supranationale Organisation, die ihrerseits mangels Beitritts nicht an die Konvention gebunden sei, und der gleichwohl fortbestehenden Konventionsverantwortlichkeit der Vertragsstaaten für ihr Handeln oder Unterlassen, sei das Verhalten nun eigenem oder auch internationalem Recht geschuldet. Auf der Suche nach der Konkordanz zwischen diesen beiden Polen stellte der Gerichtshof klar, dass zwar Sinn und Zweck der Konvention einer vollständigen Befreiung der Vertragsstaaten aus ihrer Verantwortung unter der EMRK entgegenstünden, die konventionsrechtliche Rechtfertigung des eingreifenden Verhaltens aber vermutet werden könne, solange die betreffende Organisation einen der EMRK zumindest äquivalenten Grundrechtsschutz im Sinne eines vergleichbaren materiellen Standards und eines vergleichbaren Kontrollmechanismus gewähre976 und sofern diese Vermutung im Einzelfall nicht wegen offensichtlicher Unterschreitung des Schutzniveaus der Konvention in ihrer Rolle als konstitutionelles Instrument der europäischen öffentlichen Ordnung im Felde der Menschenrechte widerlegt sei977. Zugleich machte der EGMR aber deutlich, dass es in Abwesenheit völkerrechtlicher Verpflichtungen bei der vollen Verantwortung der Vertragsstaaten gegenüber der EMRK verbleibe. In casu war angesichts der Vornahme der Beschlagnahme als Reaktion auf die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen folglich die Frage nach der Vergleichbarkeit des Grundrechtsschutzsystems der EG mit dem Standard der Konvention entscheidend978. Hierbei hat der Gerichtshof zunächst auf die Entwicklung der Grundrechtsgeltung im Gemeinschaftsrecht und die besondere Rolle der EMRK mitsamt der jeweils einschlägigen Rechtsprechung des EGMR im betreffenden Grundrechtsregime hingewiesen. In Bezug auf die Anforderungen an die justitiellen Sicherungsmechanismen hat der EGMR dem System des Gemeinschaftsrechts einerseits nach Kenntnisnahme der verfahrensrechtlichen Schwächen des direkten EG-Individualrechtsschutzes und der auch zum Vorteil des Einzelnen gereichenden Klagemöglichkeiten der Gemeinschaftsorgane und Mitgliedstaaten sowie andererseits unter Hinweisung auf die Möglichkeit der Erhebung einer Amtshaftungsklage und die wesentliche Einbindung der mitgliedstaatlichen Gerichte in die Rechtsschutzgewährung insgesamt das Prädikat der Gleichwertigkeit 976 So ausdrücklich EGMR, a. a. O., § 155 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland): „comparable“. Der EGMR betont in diesem Zusammenhang auch, dass die Forderung eines identischen Schutzniveaus dem Interesse internationaler Zusammenarbeit zuwiderliefe. 977 Der EGMR spricht hier von einer „insuffisance manifeste“ (englisch: „manifestly deficient“); s. EGMR, a. a. O., § 156 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 978 s. EGMR, a. a. O., §§ 159 ff. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland).

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verliehen979. Für eine Erschütterung der damit einhergehenden Vermutung der Rechtmäßigkeit des Eingriffs in konventionsrechtlich geschützte Rechte wegen offensichtlicher Schutzdefizite sah der Gerichtshof mit Blick auf die Natur des Eingriffs, das verfolgte öffentliche Interesse und die bindende Vorabentscheidung des EuGH schließlich keine hinreichenden Anhaltspunkte. (cc) Bewertung Während in Ermangelung eines Beitritts der EU/EG ihre unmittelbare formalrechtliche Unterwerfung unter das Regime der Konvention von vornherein ausscheidet und dem Konventionstext allein auch keine Aussagen zu einer zumindest mittelbaren materiellen Bindungswirkung gegenüber der Union entnommen werden können, ergibt die Gesamtschau der Rechtsprechung des EGMR ein differenzierteres Bild. Dieses wies zwar zunächst noch undeutliche Konturen auf, da der Gerichtshof in Straßburg in der Anfangsphase wohl selbst noch keine klare Marschroute für die Behandlung jenes sensiblen Themenbereichs vor Augen hatte. Die erwartete Fortführung der dargestellten Entwicklung der EGMR-Rechtsprechung, deren erste Ansätze schon als ein die autonome Gemeinschaftsrechtsordnung unter den Vorbehalt der Konventionskonformität stellender Meilenstein gewertet wurde980, ließ aber erwarten, dass der Gerichtshof eines Tages über die Bejahung der Verantwortlichkeit der jeweils verklagten EG-Mitgliedstaaten gemäß Art. 1 EMRK zu der eingehenden Sachprüfung übergehen wird, ob das gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutzsystem einen der EMRK entsprechenden Standard gewährleistet oder nicht981. Hat der Gerichtshof nunmehr in der Rechtssache Bosphorus reagiert und jedenfalls in diesem Belang insoweit Klarheit geschaffen, als aus seiner Sicht einerseits die EG-Mitgliedstaaten auch im Handlungsbereich des Gemeinschaftsrechts unmittelbar an die EMRK gebunden bleiben und andererseits die betreffende Konformitätskontrolle bis auf weiteres nur noch auf der Basis einer im Falle der Unterschreitung gleichwertigen Grundrechtsschutzes durch den EuGH zu aktivierenden Reservekompetenz stattfinden soll, so bestehen doch Zweifel, ob er damit den in ihn gelegten Hoffnungen Genüge getan hat. Bedenklich an der Bosphorus-Entscheidung ist bereits, dass der EGMR dem Postulat der Schutzäquivalenz sogleich wieder seine Schärfe nimmt, 979 Zu den einzelnen dem Individualrechtsschutz dienlichen Verfahrensmittel und deren Effektivität ausführlich unten in Teil 4. 980 So Winkler, EuGRZ 1999, 181, 183; fernerhin Ress, in: FS Winkler, S. 897, 922. 981 In diesem Sinne etwa schon Philippi, ZEuS 2000, 97, 106.

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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wenn er dieses Erfordernis auf den Maßstab der Vergleichbarkeit reduziert und somit a priori auch ein deutlich geringeres Grundrechtsschutzniveau zulässt982. Zwar ist dem EGMR hier insoweit zuzustimmen, als im Interesse staatlicher Kooperationen von einer supranationalen Organisation des Völkerrechts zur Wahrung ihrer funktionalen und strukturellen Eigenheiten kein völlig deckungsgleiches Grundrechtsschutzsystem einzufordern ist. Dennoch sollen aber gerade die Verpflichtungen der Vertragsstaaten nach der Konvention den grundrechtlichen Minimalstandard absichern983 und dürfen folglich nicht leichthin durch die Schaffung völkerrechtlicher Hoheitsebenen unterlaufen oder unterschritten werden. Der Kontrollmaßstab verliert überdies weiterhin spürbar an Strenge, wenn er, wie im Fall Bosphorus praktiziert, nur abstrakt an das Grundrechtsschutzsystem im Ganzen angelegt wird und eine präzise Prüfung in concreto auf den Fall des handgreiflichen Schutzdefizits reduziert bleibt984. Muss der Schutz im Einzelfall nicht nur mangelhaft sein, sondern bedarf es noch der Offenkundigkeit des Defizits, so liegt die konventionsrechtliche Messlatte für den tatsächlich zu leistenden Grundrechtsschutz der Union bedenklich niedrig. Der Hinweis des EGMR, das dem System erteilte Vergleichbarkeitsattest sei nicht definitiv und könne im Falle relevanter Veränderungen des Grundrechtsschutzes wieder in Frage gestellt werden985, könnte indes praktisch leer laufen, da eine Abnahme des abstrakten Grundrechtsschutzniveaus in der EG nicht zu erwarten ist und ohne primärrechtlich sichtbare Änderungen des Grundrechtssystems auch nur schwer feststellbar wäre. Ernsthaften Zweifeln unterliegt darüber hinaus, ob das Grundrechtsschutzsystem der EU wirklich die vom EGMR abstrakt geforderte und konkret bejahte Vergleichbarkeit zum System der EMRK aufweist986, enthält Letzteres doch mit der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK gerade die verfahrensrechtliche Möglichkeit, eine Konventionsrechtsverletzung nachträglich und einzelfallbezogen gerichtlich überprüfen zu lassen, während das System der Union den Individualrechtsschutz im Wesentlichen entweder über die mitgliedstaatlichen Gerichte – einhergehend mit dem zwiInsofern zu Recht kritisch auch Bröhmer, EuZW 2006, 71, 75. Vgl. Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 3; Klein, AfP 1994, 9, 10. 984 Kritisch insoweit auch Heer-Reißmann, NJW 2006, 192, 193; Schohe, EuZW 2006, 33, spricht in diesem Belang von einem „Gedankenbruch“ der Richtermajorität. 985 s. EGMR, a. a. O., § 155 a. E. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 986 s. insoweit auch die „joint concurring opinion“ der Richter Rozakis, Tulkens, Traja, Botoucharova, Zagrebelsky und Garlicki zu EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 3 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 982 983

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schengelagerten und den am Ausgangsstreit Beteiligten eine nur schwache Verfahrensposition einräumenden Vorabentscheidungsverfahren – oder aber über die restriktiv ausgelegten Zulässigkeitskriterien unterworfene Nichtigkeitsklage zum EuGH987 gewährt. Der Hinweis des EGMR auf den „limited access“ der Individualrechtsschutzsuchenden988 zum EuGH darf hierbei trotz Unterlassens einer eingehenderen Kontrolle des EG-Rechtsschutzsystems anhand der Anforderungen des Art. 6 EMRK durchaus als kritische Äußerung989 und womöglich gar als dezenter Fingerzeig verstanden werden, das System beizeiten zu modifizieren. Über diese Aspekte hinaus erscheint an der Bosphorus-Entscheidung auch ihre partielle Unschärfe in Bezug auf die Frage, wann der EGMR einen Mangel in der Grundrechtsgewährung für derart greifbar hält, dass er zur Feststellung der Verletzung der EMRK zurückkehren wird, kritikwürdig. Die einschlägigen Ausführungen des Richters am EGMR Ress, nach denen ein offenkundiges Schutzdefizit vor allem in den Fällen einer fehlenden Eingriffskompetenz, eines zu restriktiven Zugangs zum EuGH oder einer Fehlinterpretation der EMRK anzunehmen sei, insbesondere sofern eine ständige Rechtsprechung des EGMR übergangen werde990, könnten zwar eine Orientierungslinie bilden. Da sie jedoch keinen Eingang in die eigentlichen Urteilsbegründungen des Spruchkörpers gefunden haben, gehören entsprechende Erwartungen in den Bereich des Spekulativen. Verkomplizierend stellt sich hier zudem die Frage, ob die manifeste Schutzunterschreitung nur in Bezug auf die Behandlung des sachlichen Anwendungsbereich eines Konventionsrechts oder relativ zum im Ergebnis gewährten Schutzniveau festgestellt werden muss991. Neben diesen in den Ausführungen des EGMR wurzelnden Problempunkten bedarf des Weiteren einer Betonung, welche Unklarheiten gerade angesichts der vom Gerichtshof nicht angesprochenen Punkte bestehen bleiben. So lässt sich zunächst konstatieren, dass das Urteil keineswegs volle Dazu ausführlich in Teil 4 unter A. II. 1. b) bb) und cc). EGMR, a. a. O., § 162 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 989 s. hierzu die „concurring opinion“ des Richters am EGMR Ress zu EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 2 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 990 s. „concurring opinion“ des Richters Ress zu EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 3 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 991 Vgl. dazu Bröhmer, EuZW 2006, 71, 75; im Sinne einer Ergebnisrelation wohl Ress in seiner „concurring opinion“ zu EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 3 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 987 988

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Rechtsklarheit in Fragen der Relation zwischen Unionsrecht und Konventionsverantwortlichkeit bringt, da es unmittelbar nur den Bereich konventionsstaatlichen Handelns aufgrund gemeinschaftsrechtlicher Pflichtenerfüllung betrifft. Dass im Umkehrschluss wohl dort, wo ein Mitgliedstaat vom Unionsrecht einen gewissen Entscheidungsspielraum eingeräumt bekommt, die Kontrollrücknahme des EGMR nicht gilt, nötigt zu der Folgefrage, welches Maß an Freiheit die unionsrechtlichen Vorgaben hierfür lassen müssen. Ebenfalls nicht direkt geklärt ist nach wie vor die Frage, inwiefern jene Rechtsakte, die originär aus der Sphäre der EG-Organe stammen, von dem Kontrollrückzug des EGMR betroffen sind. Berücksichtigt man insofern, dass der Gerichtshof in Straßburg die einzelnen Aspekte des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzes im Vergleich zu seinen früheren Judikaten sachlich erstmals genauer beleuchtet und für konventionsadäquat befunden hat, dürfte der Kerngedanke der Entscheidung generalisierbar und mithin auch auf das Feld gemeinschaftsrechtlichen Organhandelns übertragbar sein. Denn die maßgebliche Aussage des Urteils liegt darin, dass fortan jegliches hoheitliches Verhalten, das aus dem Verantwortungsbereich der Gemeinschaft stammt, von der sachlichen Konventionskontrolle ausgenommen bleibt, solange nicht im Einzelfall in substantiierter Weise ein offenkundiges Schutzdefizit dargelegt werden kann. Die Ausführungen des EGMR in der Bosphorus-Entscheidung können nicht zuletzt als nachgeschobene Begründung zur Melchers & Co.-Entscheidung verstanden werden, in welcher die Menschenrechtskommission ihrerseits eine sachliche Überprüfung der Äquivalenz des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzsystems schuldig geblieben ist. Es bleibt abzuwarten, ob der Gerichtshof künftige Beschwerden von gemeinschaftsrechtlichem Belang schon unter Hinweis auf eine offenkundige Unbegründetheit in der Prozessstation ablehnen oder trotz des nunmehr erteilten Gleichwertigkeitsprädikats für jeden Einzelfall eine individuell ausgerichtete Adäquanzprüfung vornehmen wird. Der vom EGMR vorwiegend abstrakt gehaltene Systemabgleich in der Bosphorus-Entscheidung spricht in der Zusammenschau mit dem für den Fall signifikanter Änderungen des Grundrechtsschutzes erklärten Revisionsvorbehalt992 für erstere Annahme. Soweit die neue Linie sich damit als unter dem Deckmantel der Sachprüfung versteckte Neuauflage der Rechtsprechung Melchers & Co. entpuppen sollte, wäre der EGMR wieder an den Ausgangspunkt seiner mühsam erarbeiteten Rechtsprechungsentwicklung zurückgekehrt993 und hätte somit die frühere Kohärenz zur Solange-Rechtsprechung des BVerfG wiederher992 Vgl. nochmals EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, §§ 155 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 993 In diesem Sinne auch Bröhmer, EuZW 2006, 71, 74.

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gestellt994. Die Tatsache, dass der EGMR die konventionsrechtliche Adäquanz des Gemeinschaftssystems in der Sache überprüft hat, zeugt im Lichte der kollisionsträchtigen Verzahnung der unterschiedlichen rechtlichen Verantwortungsebenen aber jedenfalls von einer Positionsbeziehung des Gerichtshof in Richtung eines der Union obliegenden Mindestachtungsgebots gegenüber dem Schutzregime der Konvention. Der erklärte Kontrollvorbehalt gegenüber gemeinschaftsrechtlich bedingten Maßnahmen soll den EuGH insofern zumindest inter lineas die Obliegenheit aufzeigen, den Rechtsprechungsvorgaben des EGMR hinreichend Rechnung zu tragen995. (b) Unionsrechtliche Perspektive Fraglich bleibt damit, wie es um eine solche Verantwortung der EU gegenüber der EMRK samt zugehöriger Rechtsprechung aus unionsrechtlicher Sicht steht. (aa) Blick auf die Rechtsordnung Auf der einen Seite steht die Union den völkerrechtlichen Bindungen ihrer Mitgliedstaaten im Allgemeinen keineswegs indifferent gegenüber. Vielmehr erkennt das Primärrecht mit Art. 307 EGV und in Übereinstimmung mit den Vorgaben der Art. 26, Art. 30 Abs. 4 WVK an, dass den vorgemeinschaftlichen internationalen Verpflichtungen im Kollisionsfall zunächst einmal der Vorrang gegenüber den gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zukommt996. Angesichts der chronologischen Abfolge des Inkrafttretens der EMRK einerseits997 und der Verträge zu den Europäischen Gemein994 Die Rechtsprechungslinien sind freilich nicht kongruent, soweit das BVerfG ein generelles Absinken des Grundrechtsschutzniveaus auf EG-Ebene zur Bedingung für seine Kontrollreaktivierung macht [vgl. BVerfGE 102, 147, 164 (Bananenmarktordnung)], während der EGMR eine Einzelfall bezogene Schutzdiskrepanz möglicherweise genügen lassen wird, um in die Sachprüfung eines Falles einzutreten. 995 Dahingehend auch der Richter am EGMR Ress in seiner „concurring opinion“ zu EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 3 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland); a. A. hingegen wohl Heer-Reißmann, NJW 2006, 192, 194, die darauf verweist, dass eine entsprechende Verpflichtung des EuGH nicht direkt angesprochen wird. 996 Nach Art. 307 Abs. 2 EGV ist eine etwaige Unvereinbarkeit jedoch durch geeignete Maßnahmen und dabei notfalls auch unter Einbeziehung der anderen Mitgliedstaaten zu beheben. 997 Der Kernvertrag trat am 3. September 1953 in Kraft, Frankreich ratifizierte den Vertrag indes erst am 3. Mai 1974.

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schaften andererseits998 gilt dies großteils auch für die konventionsrechtlichen Verbürgungen der Mitgliedstaaten999. In Konsequenz zur Ablehnung einer unmittelbaren Bindung der EU an die EMRK ist jedoch auch eine unmittelbare rechtliche Bindung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR zu verneinen. Schon abstrakt betrachtet muss es ernsthaften Zweifeln unterliegen, ob die Verweisung einer Norm wie die des Art. 6 Abs. 2 EUV auf systemexterne Rechtsquellen ungeachtet dessen, ob sie statisch oder in den Grenzen des rechtlich Zulässigen dynamisch1000 ausgestaltet ist, überhaupt von einer gleichzeitigen Unterwerfung unter das institutionelle Kompetenzgefüge des in Bezug genommenen Rechtssystems begleitet werden kann. Die Methodik der normativen Verweisung, sei es auf Rechtsquellen innerhalb der gleichen oder einer fremden Rechtsordnung, dient in erster Linie der Ökonomisierung des Normgebungsprozesses. Mit der Verweisung wird der hohe Wert und die Qualität der in Bezug genommenen Rechtsquelle anerkannt und die besondere Eignung ihres Inhalts für die eigene Rechtsordnung zum Ausdruck gebracht. Das rezipierende Recht macht sich folglich zwar den materiellen Gehalt der anderen Quelle zu eigen, nicht aber auch die in der Quelle möglicherweise gleichfalls geregelten und in grammatikalischer Hinsicht etwaig ebenso erfassten institutionellen Elemente. Aus unionsrechtlicher Sicht spricht also bereits dieser allgemeine Aspekt gegen eine rechtliche Bindung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR. Im Speziellen gilt darüber hinaus zu bedenken, dass eine solche Unterordnung nicht unwesentlich die exklusive Zuständigkeit des Gerichtshofs in Luxemburg zur letztverbindlichen unionsrechtlichen Norminterpretation und Rechtsfindung1001 sowie zugleich die Autonomie der unionalen Rechtsordnung unterminieren könnte. Nicht nur aus Klarstellungsgründen hätte eine rechtliche Bindung des EuGH einer expliziten Regelung bedurft1002, wie sie beispielsweise in Art. 6 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen)1003 zu finden ist, nach welcher das EWR998 Der Vertrag zur Gründung der EGKS trat zwar schon am 3. September 1953 in Kraft, die Gründungsverträge zur EWG sowie zur EAG jedoch erst am 1. Januar 1958. 999 Dazu auch Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1274; Winkler, Der Beitritt der EGen zur EMRK, S. 138. 1000 Zu den Anforderungen an die Zulässigkeit dynamischer Verweisungen im Legislativkompetenzgefüge der deutschen Verfassungsordnung s. etwa BVerfGE 26, 338, 366 sowie BVerfGE 47, 285, 312. 1001 Dazu bereits oben unter I. 1. 1002 So auch Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 8. 1003 EWR-Abkommen vom 2. Mai 1992, in Kraft getreten am 1. Januar 1994, deutsche Quelle: Sartorius II Nr. 310.

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Abkommen im Einklang mit der zum EWG- und EG-Recht ergangenen Rechtsprechung des EuGH zu interpretieren ist1004. Von der Abwesenheit einer dem Art. 6 EWR-Abkommen entsprechenden Regelung in Art. 6 Abs. 2 EUV respektive im rechtssystematischen Umfeld dieser Norm kann für diesen Bereich e contrario auf das Fehlen einer direkten Bindung des EuGH an die Interpretationsergebnisse des EGMR geschlossen werden. Mangels institutioneller Subordination der Gerichtshöfe in die eine wie in die andere Richtung darf der EuGH die Konvention im Rahmen des unionalen Grundrechtsschutzes folglich grundsätzlich eigenständig instrumentalisieren1005. (bb) Blick auf die Rechtsprechungspraxis des EuGH Betrachtet man daneben die Praxis des EuGH zur Zitierung einzelfalleinschlägiger Urteile des EGMR, so erweist sich seine Position jedoch als janusköpfig. a) Bezugnahmen als Ausdruck kohärenter Rechtsauffassung Soweit der EuGH bei der Grundrechtsherleitung und Schutzgehaltsermittlung nicht unwesentlich auf die Rechtsprechung des EGMR zurückgreift1006, geht auf der einen Seite nicht schon damit die Aufwertung der EMRK oder der Rechtsprechung des EGMR zu einer unmittelbar bindenden Rechtsquelle des Unionsrechts einher. Vielmehr dürfte der EuGH durch seine Bezugnahmen, soweit vorgenommen, unter Anerkennung der Stellung des EGMR als für die Interpretation der EMRK besonders qualifizierter Auslegungsquelle1007 und unter bestmöglicher Vermeidung potentieller for1004 Zur einheitlichen Auslegung des EWR-Abkommens in der Rechtsprechung des EuGH insbesondere EuGH, Rs. C-286/02, Slg. 2004, I-3465, Rn. 34 (Bellio F.lli); ferner EuGH, Rs. C-452/01, Slg. 2003, I-9743, Rn. 29 (Ospelt und Schlössle Weissenberg Familienstiftung). 1005 In diesem Sinne Klein, AfP 1994, 9, 12. 1006 Auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 10 EMRK verweist etwa EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 25 f. (Familiapress); auf jene zu Art. 7 EMRK verweist EuGH, verb. Rsn. C-74/95 u. C-129/95, Slg. 1996, I-6609, Rn. 25 (X); auf jene zu Art. 6 EMRK nimmt Bezug EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 59 (Pupino); EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75–77 (Steffensen); EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal); EuGH, Rs. 185/95, Slg. 1998-I, 8417, Rn. 29 (Baustahlgewebe/ Kommission); auf jene zu Art. 41 EMRK hinweisend EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 49 (Köbler). 1007 Vgl. Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1275.

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meller oder materieller Rechtsprechungsdivergenzen1008 vor allem die Übereinstimmung seiner Rechtsauffassung mit jener des EGMR zum Ausdruck bringen. Selbst wenn im Übrigen der EuGH in seinen Entscheidungsgründen die Rechtsprechung des EGMR teilweise direkt heranzieht, ohne eigene Ausführungen hinzuzufügen1009, unterwirft er sich dadurch weder direkt noch indirekt den judikativen Vorgaben des EGMR, sondern macht sich in diesen Fällen vornehmlich dessen Auslegungsergebnisse zu eigen, um den betreffenden Rechtsprechungsleistungen die gebührende Anerkennung zu erbringen und sich zugleich den eigenen Arbeitsaufwand zu minimieren, indem er unnötige Wiederholungen der in casu übertragbaren Würdigungen des Straßburger Gerichtshofs vermeidet. Trotz dieser Verweisungstechnik, die damit voll und ganz dem Gebot der ökonomischen Arbeitsweise entspricht, leitet der EuGH als Rechtshüter die ordnungsinternen Grundrechte indes weiterhin autonom und rechtssystemspezifisch her. In diesem Sinne hat er schon frühzeitig und wiederholt betont, dass sich die Gewährleistung der Grundrechte stets „in die Struktur und die Ziele der Gemeinschaft einfügen“1010 muss. Die Bezugnahme des EuGH auf die Rechtsprechung des EGMR darf daher nicht als eine starre, die Eigenheiten des Unionsrechts außer Acht lassende verstanden werden1011. Eine weitere Stütze findet diese Annahme überdies in jenen Entscheidungen, in denen der EuGH auf die Auslegungsergebnisse des EGMR Rekurs genommen hat, obwohl es in dem zu entscheidenden Fall nicht um die Auslegung der EMRK, sondern allein des gemeinschaftsrechtlichen Sekundärrechts ging1012. Dass sich der EuGH de iure nicht unmittelbar an die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR gebunden sieht, zeigen fernerhin jene Entscheidungen, in denen er seinen 1008 Zu diesen Termini schon Stein, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 150 ff.; vgl. zum – bisher nicht aufgetretenen – Fall einer formellen Divergenz zwischen EuGH und EGMR insbesondere Philippi, ZEuS 2000, 97, 101 ff. Im Falle des Beitritts der EU zur EMRK könnten indes eben jene Fälle formeller Divergenzen aufgrund der dann ermöglichten Kontrolle der Gemeinschaftsgerichte durch den EGMR an Bedeutung gewinnen. Inwieweit diese Gefahr besteht, ist freilich von der sodann notwendigen Bestimmung und Ausgestaltung des Kompetenzverhältnisses zwischen den beiden Gerichtshöfen abhängig. 1009 So z. B. geschehen in EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735, Rn. 75 ff. (Steffensen). 1010 Vgl. dazu nochmals EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft). 1011 Auch Hilf, der einer Bindungswirkung im Wege der Rechtsnachfolge das Wort spricht, billigt dem EuGH insoweit zu, die EMRK unter Berücksichtigung von Struktur und Zielen der Gemeinschaftsverträge und mithin autonom auszulegen [vgl. Hilf, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. F EUV (Oktober 1996), Rn. 32]. 1012 Vgl. etwa EuGH, Rs. 13/94, Slg. 1996, I-2143 (P/S), Rn. 16 zum Begriff des Transsexuellen im Sinne der Richtlinie (EG) 76/207.

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rechtlichen Würdigungen trotz eines auf die EMRK und den EGMR bezogenen, a priori erheblichen Parteivortrags keine konventionsrechtlichen Motive zugrunde legt1013. b) Konvergenzbemühungen des EuGH Die gleichwohl deutlich wahrnehmbaren Bemühungen des EuGH, durch eine weitgehende Orientierung und Harmonisierung seiner Rechtsprechung1014 mit den Leitentscheidungen des EGMR materiell divergierende Judikate zu vermeiden, erklärt sich insbesondere aus der völkerrechtsfreundlichen Prägung des Primärrechts sowie aus der dargestellten konventionsgerichtlichen Rechtsprechungsentwicklung1015. Soweit in der Vergangenheit zwischen den Gerichtshöfen tatsächlich materielle Auslegungsdivergenzen in Bezug auf die EMRK aufgetreten sein sollten1016, lassen sich diese durchgehend mit der Abwesenheit einer vorhergehenden Rechtsprechung des EGMR im Zeitpunkt der jeweiligen EuGH-Entscheidung erklären1017. Bisweilen vermeidet der EuGH kontroverse Stellungnahmen auch, indem er die konventionsrechtlichen Fragen, sofern möglich, dahinstehen lässt und das klägerische Begehren im Wege einer „selbst wenn“-Prüfung unter Zugrundlegung der Maßstäbe des EGMR zurückweist1018. Das Szena1013 Vgl. insofern insbesondere EuGH, verb. Rsn. C-20/00 u. C-64/00, Slg. 2003, I-7411, Rn. 47 (Booker u. Hydro Seafood); EuGH, Rs. C-210/00, Slg. 2002, I-6453, Rn. 30 ff. (Käserei Champignon Hofmeister). 1014 s. insofern nur den groben Überblick in Fn. 854. 1015 Entsprechende Konvergenzbemühungen ebenfalls bejahend Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1277, der aber zugleich gewisse Widersprüche in der Rechtsprechung der beiden Gerichtshöfe für unvermeidbar hält; ähnlich Limbach, EuGRZ 2000, 417, insb. 420; a. A. Wolf, in: FS Ress, S. 893, 902, der eine Bereitschaft des EuGH, seine Rechtsprechung durch jene des EGMR beeinflussen zu lassen, nicht erkennen kann. 1016 Vgl. zur divergierenden Auslegung von Art. 8 EMRK einerseits EuGH, verb. Rsn. 46/87 und. 227/87, Slg. 1989, 2859, Rn. 13 ff. (Hoechst/Kommission) und andererseits EGMR, Urt. v. 16. Dezember 1992, Beschw. Nr. 13710/88, §§ 29 ff. (Niemitz/Deutschland); vgl. zum auch in Art. 6 EMRK garantierten Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ zum einen EuGH, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 ff. (Orkem/Kommission) und zum anderen EGMR, Urt. v. 25. Februar 1993, Beschw. Nr. 10828/84, §§ 41 ff. (Funke/Frankreich). In letzterem Fall hat der EuGH indes zunächst hinsichtlich Art. 6 EMRK auf das Fehlen einschlägiger Rechtsprechung des EGMR hingewiesen und anschließend vor allem auf den gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte abgestellt. Die Vergleichbarkeit der Fälle Orkem und Funke kann zudem auch deshalb angezweifelt werden, weil Ersterer im Bereich des europäischen Wettbewerbsrechts und Letzterer im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts angesiedelt war. 1017 So auch Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1, Rn. 25, dazu auch Philippi, ZEuS 2000, 97, 122.

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rio eines bewussten und gewollten sachlichen Widerspruchs zu präexistenter Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs ist aber bislang wohl nicht eingetreten1019. Diese Einschätzung lässt sich auch mit besonderem Blick auf den in jüngerer Zeit ergangenen Emesa-Sugar-Beschluss1020 aufrechterhalten. Prima facie könnte in dieser Rechtssache zwar ein materieller Widerspruch zu der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK aufgetreten sein, soweit der EuGH in der Nichtgestattung einer schriftlichen Stellungnahme zu den Schlussanträgen des Generalanwalts keine Verletzung des Anspruchs auf angemessenes rechtliches Gehör im Sinne der EMRK sah1021, obschon der EGMR bereits zuvor das Recht auf rechtliches Gehör auch auf Stellungnahmen zu den Erklärungen unabhängiger Organe der Rechtspflege, wie etwa einem Vertreter des öffentlichen Interesses, angewandt hatte1022. Es erscheint insoweit jedoch zweifelhaft, ob in diesem Zusammenhang tatsächlich eine inhaltliche Rechtsprechungsdivergenz zwischen den Gerichtshöfen vorliegt, da der Generalanwalt beim EuGH nach der gemeinschaftsrechtlichen Gerichtsverfassung zwar ein vom jeweiligen Spruchköper unabhängiger Teil des Gerichts ist, seine Schlussanträge aber auch nur gerichtsintern unterstützende und im Vorfeld beratende Funktion haben1023, ohne dass er selbst an den in die Gerichtsentscheidung mündenden Beratungen teilVgl. zu einem solchen Fall in Bezug auf Art. 6 § 1 EMRK die Entscheidung EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P u. C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 229 ff. (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.), in welcher der Gerichtshof das Vorliegen eines Rechtsverstoßes gegen das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer verneinte, ohne zu klären, ob insoweit auch auf die Gesamtdauer von Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens abgestellt werden kann. Der EGMR hat diese Frage bereits ausdrücklich bejaht [vgl. etwa EGMR, Urt. v. 25. März 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 25444/94, §§ 67 u. 71–75 (Pélissier und Sassi/Frankreich); EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000 (Große Kammer), Beschw. Nr. 30210/96, §§ 124–131 (Kudla/Polen [GK]); EGMR, Urt. v. 31. Mai 2001, Beschw. Nr. 37591/97, §§ 36–44 (Metzger/Deutschland) sowie jüngst wieder EGMR, Urt. v. 20. Januar 2005, Beschw. Nr. 64387/01, § 35 (Uhl/Deutschland)]. 1019 Ebenso Lawson, in: FS Schermers, S. 219, 246. 1020 EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-665 (Emesa Sugar NV). 1021 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 14 ff. (Emesa Sugar NV) unter Hinweis auf die Zugehörigkeit des Generalanwalts zum Rechtsprechungsorgan und seine damit zusammenhängende Rechtsprechungsfunktion. 1022 Vgl. EGMR, Urt. v. 20. Februar 1996, Beschw. Nr. 15764/89, § 32 (Lobo Machado/Portugal); EGMR, Urt. v. 20. Februar 1996, Beschw. Nr. 19075/91, §§ 33 f. (Vermeulen/Belgien); zustimmend Schilling, ZaöRV 2000, 395, 399; partiell kritischer Kokott, in: FS Ress, S. 577, 591 f., die in Konsequenz zur neueren Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK für entsprechende Änderungen der Institution des Generalanwalts plädiert (vgl. dazu Kokott, a. a. O., S. 594 ff.). 1023 Vgl. Art. 222 EGV. 1018

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nimmt1024, und er damit letztlich weder den Prozessstoff erweitert, noch unmittelbar auf die Schlussberatungen des Spruchkörpers einwirkt1025. Die Schlussanträge des Generalanwalts beim EuGH sind demnach nicht ohne weiteres mit der Tätigkeit eines gerichtsexternen Verfahrensbeteiligten vergleichbar1026, vor allem soweit ein solcher, wie etwa der Commissaire du Gouvernement du Conseil d’État1027, an den Schlussberatungen teilnimmt1028. Da jüngere Andeutungen des EGMR ebenfalls in diese Richtung gehen1029, dürfte eine veritable Rechtsprechungsdivergenz auch im Fall Emesa Sugar letztlich nicht zu konstatieren sein. Die mit Hochspannung erwartete Entscheidung des EGMR zur Beschwerde der Emesa Sugar NV gegen das betreffende Urteil des EuGH geht auf diese Aspekte auch mit keinem Wort ein, sondern lehnt die Zulässigkeit der Beschwerde schon mangels genereller Subsumierbarkeit zollrechtlicher Streitigkeiten unter das Tatbestandsmerkmal der „civil rights and obligations“ sowie mangels einer strafrechtlichen Relevanz des konkreten Falles ab1030, worin ein weiteres Indiz dafür gesehen werden kann, dass der EGMR die Feststellung oder Begründung materieller Divergenzen scheut und er vielmehr seinerseits um eine harmonische Kooperation im Dienste eines kohärenten Grundrechtsschutzes in Europa bemüht ist. Dass es dem Gerichtshof in Luxemburg auch im Übrigen mit seinen Bemühungen um Entscheidungsharmonie ernst ist, zeigen auch seine jüngst unter dem Eindruck der Bosphorus-Entscheidung des EGMR getätigten Ausführungen in der Rechtssache PKK und KNK1031. Dort nämlich verwarf er Vgl. Art. 27 EuGH-VerfO. Vgl. ausführlicher zum Generalanwalt beim EuGH und vergleichbaren Organen in den mitgliedstaatlichen Verfahrenssystemen Kokott, in: FS Ress, S. 577, 578 ff. 1026 Kritisch insofern aber Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 98. 1027 Vgl. dazu die Feststellung der Verletzung des Art. 6 EMRK wegen der Teilnahme des Commissaire an den gerichtlichen Beratungen und der damit – auch ohne Stimmrecht – gegebenen Einflussmöglichkeiten des Commissaire auf den Entscheidungsausgang EGMR, Urt. v. 5. Juli 2005, Beschw. Nr. 55929/00, § 63 (Marie Louise Loyen c/France) und ähnlich bereits EGMR, Urt. v. 7. Juni 2001 (Große Kammer), Beschw. Nr. 39594/98, §§ 82 ff. (Kress/Frankreich). Dabei sei darauf hingewiesen, dass in letzterer Entscheidung noch sieben der Richter der großen Kammer dieser Einschätzung nicht folgten, während sich selbiger in der jüngeren Entscheidung nur ein Richter nicht anschloss. 1028 Vgl. zu dieser Einschätzung bereits Ress, Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 206. 1029 s. insb. EGMR, Urt. v. 7. Juni 2001 (Große Kammer), Beschw. Nr. 39594/98, § 86 (Kress/Frankreich). 1030 Vgl. EGMR, Entsch. v. 13. Januar 2005, Beschw. Nr. 62023/00 (Emesa Sugar NV/Niederlande). 1031 EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439 (PKK und KNK/Rat). 1024 1025

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das Rechtsmittel des KNK, der neben der PKK in erster Instanz erfolglos eine Nichtigkeitsklage gegen bestimmte Antiterrormaßnahmen der EG erhoben hatte, mit maßgebendem Hinweis auf die Ausführungen des EGMR in den verbundenen Rechtssachen Segi und Gestoras1032 zur fehlenden Betroffenheit im Sinne des Art. 34 EMRK von Personen oder Organisationen durch an die Mitgliedstaaten gerichtete Akte der EU1033. Im Zuge seiner vorsichtigen Einschätzung, dass sich aus der derzeitigen Rechtsprechung des EGMR das Fehlen einer Opferstellung auch des Rechtsmittelführers im Sinne des Art. 34 EMRK zu ergeben scheine, verneinte der EuGH zudem ausdrücklich die hinreichende Darlegung eines Widerspruchs zwischen den Anforderungen des Art. 230 Abs. 4 EGV und der EMRK1034. Bestärkt und motiviert durch die Bosphorus-Entscheidung hat der EuGH damit indirekt die Niveauäquivalenz beider prozessualen Grundrechtsschutzsysteme festgestellt. Unbeschadet des Umstands, dass der EuGH die in der Konvention garantierten Rechte im Lichte der Besonderheiten des Gemeinschaftsrechts interpretieren kann, während der EGMR seinen Entscheidungen telos und logos der EMRK zugrunde legt1035, sind materielle Jurisdiktionsdivergenzen nach alledem derzeit nicht festzustellen und in Anbetracht der beiderseitigen Konvergenzbemühungen auch in Zukunft nicht ernsthaft zu befürchten1036. Im Gegenteil lässt sich aus den zahlreichen Hinweisen auf jeweils existierende respektive fehlende Auslegungsergebnisse des EGMR ablesen, dass der EuGH durchaus gewillt ist, bei Gelegenheit aufgetretene oder im Einzelfall drohende Divergenzen durch eine Anpassung seiner Grundrechtsrechtsprechung an jene des EGMR aufzulösen oder zu vereiteln1037. (4) Zwischenergebnis Nach dem bisher Gesagten besteht eine unmittelbare formelle oder materielle Bindung der Union weder an die EMRK noch an die Rechtsprechung des EGMR1038. Auch Art. 6 Abs. 2 EUV hat nicht zum Ziel, eine solch 1032 EGMR, Entsch. v. 23. Mai 2002, Beschw.Nrn. 6422/02 und 9916/02 (Segi u. a. und Gestoras Pro-Amnistia u. a./15 Staaten der Europäischen Union). 1033 s. EuGH, a. a. O., Rn. 79 f. (PKK und KNK/Rat). 1034 EuGH, a. a. O., Rn. 81 f. (PKK und KNK/Rat). 1035 Vgl. dazu auch Toth, CMLR 1997, 491, 499. 1036 In diesem Sinne auch Limbach, Grundrechtsschutz in der EU, S. 13, 19. Eine entsprechende Befürchtung klingt hingegen an bei Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 98 f. 1037 So auch Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1276 f.; ebenfalls zustimmend Kugelmann, Grundrechte in Europa, S. 49. 1038 Anders zu beurteilen wäre die Frage jedoch im Falle des formellen Beitritts der EU zur EMRK. Das sodann neu zu bestimmende Verhältnis zwischen den Ge-

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weitgehende Einbindung der EU in das System der EMRK zu begründen1039. Dann aber kann die EMRK auch nicht als neben den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts stehende unmittelbare Rechtsquelle der Grundrechte qualifiziert werden. In Anbetracht der aufgezeigten Rechtsprechungsentwicklungen und ohne Außerachtlassung der unterschiedlichen Aufgaben und Arbeitsweisen der beteiligten Protagonisten kann indes mit der notwendigen Vorsicht von einem konkludenten Konsens beider Seiten über eine begrenzte De-factoBindung des EuGH an die Rechtsprechung aus Straßburg gesprochen werden1040. Soweit feststeht, dass sich dabei auch künftig und bis zu einem etwaigen Beitritt der EU oder EG zur EMRK das Verfahren vor dem EGMR formell allein gegen die Mitgliedstaaten im Einzel oder im Kollektiv richten kann, bleibt abzuwarten, ob es künftig überhaupt noch um die sachliche Konventionsgemäßheit von Beschwerdegegenständen gehen wird, die mit dem Bereich des Gemeinschaftsrechts verlinkt und aufgrund der Voraussetzung der Subsidiarität des Verfahrens vor dem EGMR1041 bereits vom EuGH in Kooperation mit den mitgliedstaatlichen Gerichten im Rahmen eines gemeinschaftsrechtlich vorgesehenen Rechtsbehelfs überprüft worden sind. Mag die Bosphorus-Entscheidung insoweit auch einige Fragen zur Reichweite ihres Aussagegehalts und zur künftigen Kontrollbereitschaft des EGMR offen gelassen haben, so ist unter ihrem Einfluss doch zu erwarten, dass der EuGH fortan verstärkt darauf bedacht sein wird, die Mindestanforderungen der EMRK und insbesondere die im Einzelfall einschlägige Rechtsprechung des EGMR zumindest in genereller Hinsicht zu beachten, um Letzteren nicht zur Reaktivierung seiner ausdrücklich vorbehaltenen, derzeit jedoch eher theoretischen Kontrollbereitschaft zu provozieren. Ausweislich ihrer Praxis streben beide Gerichtshöfe schon heute eine weitreichende materielle Kohärenz des paneuropäischen Grundrechtsrechtsschutzes an, so dass eine „wachsende Distanz des EuGH zur EMRK“1042 und damit zugleich zur Rechtsprechung des EGMR angesichts der aufgezeigten Entwicklungen aktuell nur schwerlich zu konstatieren ist1043. Die richtshöfen könnte – in den Wirkungsgrenzen der EGMR-Entscheidungen – zu einer rechtlichen Bindung des EuGH führen (dazu in Teil 3 unter B. II.). 1039 Dahingehend deutlich die Ausführungen des EuGH im Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 34 ff. (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten). 1040 Ress zieht in diesem Zusammenhang das Bild des Damokles-Schwerts heran, das „als eine Art rechtliche Drohung“ über dem EuGH schwebe (Ress, in: FS Winkler, S. 897, 921). 1041 Vgl. Art. 35 Abs. 1, 2 lit. b) EMRK. 1042 So indessen noch Ress, in: FS Winkler, S. 897, 917.

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gegenteilige Gefahrenannahme ist daher getrost in dem Bereich des rein Abstrakten zu verorten. Im Wechselspiel gegenseitiger Vorsicht und Annäherung tragen beide Seiten vielmehr in Kooperation mit den mitgliedstaatlichen Gerichten zu einem harmonischen Grundrechtsdreiklang in der europäischen Wertegemeinschaft bei und leisten so nicht zuletzt auch der grundrechtlichen Transparenz und der hiermit zusammenhängenden Rechtssicherheit der Grundrechtsträger Vorschub, soweit dieser eine wehrhafte Rechtsposition auf eine in der Konvention verbürgte Garantie zurückführen kann. Mag es hierbei gewiss auch weiterhin Handlungsbedarf geben, erscheint es vor dem Hintergrund der aufgezeigten Entwicklungen heute zumindest nicht mehr gerechtfertigt, den europäischen Grundrechtsschutz mit dem Sinnbild des Bermuda-Dreiecks1044 zu beschreiben. cc) Folgerungen für die allgemeine Quellensystematik des Art. 6 Abs. 2 EUV Aus den gewonnenen Erkenntnissen lassen sich nunmehr die für die Bestimmung der allgemeinen Quellensystematik erforderlichen Schlussfolgerungen ziehen. (1) Auflösung des Vertragssprachenkonflikts Der bezüglich der unterschiedlichen Fassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV festgestellte Vertragssprachenkonflikt ist im Sinne des Art. 33 Abs. 4 WVK dahingehend aufzulösen, dass die abweichende deutsche Fassung insoweit nicht im Einklang mit Ziel und Zweck des übrigen Primärrechts steht, als sie in ihrem Nebensatz zwischen der EMRK einerseits und den Verfassungstraditionen als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts andererseits differenziert und auf diese Weise den Eindruck erweckt, die Konvention stehe im Grundrechtsquellensystem selbständig neben den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts und sei eine eigenständige, unmittelbar bindende Rechtsquelle im Unionsrechtssystem. Auch das EuG ist sich des redaktionellen Mangels der deutschen Fassung bewusst und hat ihn durch eine den anderen Sprachfassungen entsprechende Übersetzung seiner die Vorschrift zitierenden Entscheidungen bereinigt1045. Dies gilt umso mehr, als auch umgekehrt der EGMR sich um die Vermeidung offener Rechtsprechungsdivergenzen bemüht [dazu soeben ausführlicher unter bb) (3)]. 1044 Begriff etwa noch bei Lenz, EuZW 1999, 311, 312. 1045 Vgl. nur EuG, T-347/94, Slg. 1998, II-1751, Rn. 312 (Mayr-Melnhof Kartongesellschaft); EuG, Rs. T-348/94, Slg. 1998, II-1875, Rn. 55 (Enso Española/Kom1043

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In diesem Zusammenhang ist nicht zuletzt auch auf die textliche Korrektur in Art. I-9 Abs. 3 EV/Art. 6 Abs. 3 EUV in spe hinzuweisen, nach welchem „die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, (. . .) als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts“ sind. Diese Modifikation insbesondere des deutschen Wortlauts lässt klar darauf schließen, dass die redaktionellen Unterschiede der einzelnen Fassungen des Art. 6 Abs. 2 EUV erkannt worden sind und im obigen Sinne beseitigt werden sollen. (2) Existenz einer Rechtsquelle und zweier norminterner Erkenntnisquellen Legt man demgemäß den Wortlaut der Norm in den anderen Sprachfassungen zugrunde, so ergibt auch die semantische Auslegung, dass allein die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts die primäre Rechtsquelle der Unionsgrundrechte bilden, während die EMRK – wie die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen – innerhalb der Grundrechtskonzeption als sekundäre Quelle der Rechtserkenntnis einzustufen ist. Die fehlende unmittelbare Bindung der EU an die EMRK lässt sich zunächst durch grammatikalisch-komparative Überlegungen zu der zweiten in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Quelle stützen. Ausgangspunkt des Vergleichs ist dabei der Umstand, dass eine unmittelbare Verbindlichkeit der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten unstreitig ausscheiden muss. Denn die im Einzelnen zu gewährenden Grundrechte müssen stets den Besonderheiten des Rechtssystems und hierbei vor allem der Struktur und den integrationsorientierten Zielen der EU genügen1046. Schon die flexible und auf Fortentwicklung ausgerichtete Gestaltung des Unionssystems steht einer allzu stringenten Kopplung an die von untermission); EuG, Rs. T-83/96, Slg. 1998, II-545, Rn. 46 (Van der Wal); EuG, verb. Rsn. T-213/95 u. T-18/96, Slg. 1997, II-1739, Rn. 53 (SCK u. FNK); EuG, Rs. T-176/94, Slg. ÖD 1995, II-621, Rn. 29 (K/Kommission); EuG, Rs. T-535/93, Slg. ÖD 1995, II-163, Rn. 32 (F/Rat); EuG, Rs. T-10/93, Slg. 1994, II-179, Rn. 48 (A/Kommission); uneinheitlich hingegen der EuGH: teils die amtliche deutsche Fassung unverändert zitierend, so etwa EuGH, Rs. C-274/99, Slg. 2001, I-161, Rn. 38 (Conolly); EuGH, verb. Rsn. C-154/04 u. C-155/04, Slg. 2005, I-6451, Rn. 122 (Alliance for natural health u. a.); EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 58 (Pupino) und jüngst wieder EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 36 (Parlament/Rat); teils den redaktionellen Mangel richtig stellend, so etwa EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 27 (Krombach); zur „irreführenden“ deutschen Fassung auch Schilling, EuGRZ 2000, 3, 5, Fn. 10. 1046 Vgl. schon die entsprechenden Ausführungen des Gerichtshofs bei EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 14 (Hauer).

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schiedlichen staatlichen Systemcharakteristika geprägten Verfassungsüberlieferungen entgegen, zumal das unionale Regime insofern auch niemals allen mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen entsprechen könnte. Nicht zuletzt aufgrund der in allen Sprachfassungen mehr oder weniger deutlich zu Trage tretenden Parallelbehandlung der beiden interessierenden Quellen durch die zweimalige Verwendung des Adverbs „wie“ sowie die Konjunktion „und“ sollte dies konsequenterweise – zumindest rechtstheoretisch – auch für die EMRK gelten und dies unbeschadet ihrer besonderen Bedeutung im europäischen Rechtsraum. An dieser gleichgerichteten Behandlung des jeweiligen Quellenbezugs vermag auch die Zuordnung der inhaltlich differierenden Verben „garantieren“ und „sich ergeben“ zu den jeweiligen Quellen nichts zu ändern1047, da die Rechtswirkung der Quellenverweisung semantisch in hier maßgeblicher Hinsicht aus den Relativadverbien des Nebensatzes zu entnehmen ist. Die Verklammerung dieser beiden Aspekte, namentlich der semantischen Gleichbehandlung der Quellen und der fehlenden unmittelbaren Bindung der EU an die mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen spricht folglich für das Fehlen einer unmittelbaren Bindung der EU/EG an die EMRK. Für eine normative Differenzierung zwischen den allgemeinen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts einerseits und den beiden im Nebensatz genannten Quellen andererseits streitet weiterhin die in sämtlichen Vertragssprachen auftretende zweimalige Verwendung der komparativen Subjunktion „wie“, die ihrem gewöhnlichen Sinngehalt gemäß gerade keine exakte Gleichstellung, sondern nur eine Vergleichbarkeit zwischen grundsätzlich unabhängigen Objekten enthält1048. Satzsemantisch stellt sie demnach keine hinreichend enge Verbindung zu den genannten Quellen her, um eine veritable Deckungsgleiche des Grundrechtsschutzes zu postulieren. Vielmehr fordert Art. 6 Abs. 2 EUV insoweit nur eine weitgehende Entsprechung des Grundrechtsstandards mit diesen im Sinne eines komparablen Schutzniveaus und lässt damit bewusst den erforderlichen Raum für systemspezifische Nuancen. In das normative Postulat der Vergleichbarkeit des Schutzstandards fügt sich auch das oben aufgezeigte Bemühen des EuGH um „Entscheidungsharmonie“1049 mit dem EGMR ein, da ein korrelierender Grundrechtsstandard ohne eine weitgehend einheitliche Auslegung der EMRK-Bestimmungen 1047 s. dazu insbesondere Pauly, EuR 1998, 242, 249, Fn. 28, der unbeschadet der Annahme einer direkten Bezugnahme auf die EMRK letztlich nur eine mittelbare Bindung bejaht (Pauly, a. a. O., 253). 1048 A. A. wohl Hilf, in Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. F EUV (Oktober 1996), Rn. 26 f., der im Hinblick auf die Verwendung des Adverbs „wie“ in der deutschen Fassung zwei Interpretationen für möglich hält. 1049 So Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1210.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

kaum zu gewährleisten wäre. Zur Konstituierung einer starren Rechtsquellenbindung hätte es hingegen einer eindeutigen Formulierung bedurft. Insofern sei auch darauf hingewiesen, dass wohl nicht schon der alternative Einsatz eines Relativpronomens anstelle des Adverbs eine solche Bindung deutlich genug zu begründen vermocht hätte. Auch wenn nämlich auf der Basis einer abweichenden Fassung der Norm die Union die Grundrechte zu achten hätte, „die“ in der EMRK gewährleistet sind und „die“ sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, wäre eine unmittelbare Bindung jedenfalls nicht die zwingende Folge, wie sich nicht zuletzt aus einem Vergleich zum in der deutschen Fassung entsprechend formulierten Art. 288 Abs. 2 EGV1050 und dem gleich lautenden Art. 188 Abs. 2 EAGV ergibt1051. Denn auch im gemeinschaftsrechtlichen Bereich des Amtshaftungsrechts fehlt es aufgrund der Autonomie der EGRechtsordnung ersichtlich an einer direkten Bindung an die Rechtssysteme der Mitgliedstaaten, zumal die Gemeinsamkeiten Letzterer nicht generell, sondern nur im Falle einschlägiger Rechtslücken zum Tragen kommen und erst im Wege wertender Rechtsvergleichung zur Begründung allgemeiner Rechtsgrundsätze führen können. Im Wege eines argumentum a fortiori, namentlich a maiore ad minus, muss dies auch für die schwächere Formulierung des Art. 6 Abs. 2 EUV angenommen werden. Der divergenzbereinigte Vertragstext spricht infolgedessen insgesamt gegen eine vollständige Übernahme der EMRK als eigenständiger, aus ihrem ursprünglichen Rechtskontext losgelöster Rechtsquelle der Unionsgrundrechte. Dass die Vorschrift die Gewährung der Grundrechte dabei auf der ersten Quellenebene an die Rechtsquellenfigur der „Grundsätze des Gemeinschaftsrechts“ koppelt, überrascht zunächst, da das unionale Primärrecht hier eine rechtliche Ressource des gemeinschaftsrechtlichen Systembereichs in die säulenübergreifende Ebene hochzont. Der partielle, gegenüber der normalen Stufung von Unions- und Gemeinschaftssphäre umgekehrte Systemdurchbruch wird aber angesichts des Umstands verständlich, dass der EuGH im Zuge der prätorischen Grundrechtsbegründung mit den allgemeinen Rechtsgrundsätzen bereits früh eine Geltungsform jener Grundwerte gefunden hat, während eine solche für das Unionsrecht erst fixiert werden musste, ohne die Strukturen des vom EuGH geprägten kommunalen Grundrechtsregimes anzutasten. Die intergouvernementale Ebene Art. 215 Abs. 2 EGV a. F. Auch hier weicht der deutsche Wortlaut leicht von den meisten anderen Sprachfassungen, insbesondere der französischen, englischen, spanischen und italienischen Fassung ab (vgl. etwa die französische Fassung: „En matière de responsabilité non contractuelle, la Communauté doit réparer, conformément aux principes généraux communs aux droits des États membres, les dommages causés par ses institutions ou par ses agents dans l’exercice de leurs fonction“). 1050 1051

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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des Unionsrechts hat sich damit die bewährte Grundrechtsquelle des supranationalen Systembereichs zu eigen gemacht. (3) Einwände gegen den Wolfschen Rechtsquellenansatz Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse vermag die von Wolf vertretene Konzeption eines durch Art. 6 Abs. 2 EUV originär begründeten Grundrechtsermittlungsprogramms nicht zu überzeugen. Zwar kann der Norm durchaus eine konstitutive Bündelungswirkung zugesprochen werden, wenn und soweit ihr die Grundrechtsquellenhermeneutik abschließend zu entnehmen ist1052. Auch ist der Vorschrift mit Blick auf den in ihr angelegten Grundrechtsermittlungs- und Konkretisierungsbedarf ein gewisser programmatischer Charakter nicht abzusprechen1053, der im Übrigen partiell schon in der vorhergehenden Rechtsprechung des EuGH angelegt war1054. In Anbetracht des von Wolf nicht berücksichtigten redaktionellen Versehens in der deutschen Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV und der teleologischen Anknüpfung der Norm an den durch den EuGH entwickelten grundrechtlichen „acquis“ läuft die von ihm vorgeschlagene Konzeption jedoch auf einen wesentlichen Systemwechsel hinaus, für dessen Begründung ausreichende Anhaltspunkte nicht ersichtlich sind. Soweit dem EuGH auch zu Recht vorzuhalten ist, der Anwendung der Methodik der wertenden Rechtsvergleichung in seinen Entscheidungen nicht immer hinreichende Transparenz zu verleihen1055, entspricht diese in Bezug auf die Verfassungstraditionen doch seiner praktischen Vorgehensweise1056. Zudem dürfte ein System, in welchem sich der Gerichtshof das auf der dritten Stufe der Grundrechtsermittlung anzuwendende TransformationsproDazu sogleich unter b) bb). Auch hier wird in Entsprechung zum Ansatz von Wolf der Begriff der Programmatik allein im Sinne einer die Grundrechtsherleitung und -konkretisierung lenkenden Funktion der Vorschrift verwendet. 1054 Vgl. schon die gestufte Vorgehensweise bei EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 ff. (Hauer); s. ferner EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 13 ff. (Hoechst/Kommission). 1055 Wolf, in: FS Ress, S. 893, 903 sieht in der Bezeichnung der Methodik des EuGH als wertende Rechtsvergleichung gar die Verbreitung eines bloßen „Etiketts“. 1056 Vgl. nur jüngst das ausdrückliche Bekenntnis des Präsidenten des EuGH Vassilios Skouris zur Methodik der wertenden Rechtsvergleichung in seinem Festvortrag „Rechtskulturen im Dialog – Über Verständnisse und Unverständnisse, Risiken und Chancen einer internationalen Rechtsordnung und Rechtsprechung“, gehalten auf dem Kongress „Globalisierung und Recht – Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert“ anlässlich des „Deutschland in Japan“ – Jahres 2005/2006 (im Internet abrufbar unter www.tokyo-jura-kongress 2005.de/_documents/skouris_de.pdf, S. 4 – letzter Besuch: 28. Januar 2007). 1052 1053

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gramm für die sich in seinen Händen befindliche „Verfügungsmasse“ selbst erarbeiten müsste1057, wohl ebenfalls schon bald Anlass für entsprechende, wenn nicht sogar schärfere Vorwürfe bieten. Der im Wege der wertenden Rechtsvergleichung erfolgende Dialog der mitgliedstaatlichen Rechtskulturen erscheint demgegenüber bereits heute ein probates Mittel zur Entwicklung mitgliedstaatlich verwurzelter und doch gemeinschaftseigener Grundsätze. Vor diesem Hintergrund kommt auch die von Wolf beschriebene Konzeption nicht ohne die Einbeziehung der Methodik der Rechtsvergleichung aus, vielmehr tritt diese just auf der ersten Stufe als „gestaffelte Rechtsvergleichung“1058 in dem Grundrechtsermittlungs- und Grundrechtsanwendungsprogramm auf. Worin dabei die entscheidenden Unterschiede und Vorzüge der von Wolf skizzierten Methode zu jener der wertenden Rechtsvergleichung liegen, so insbesondere im Hinblick auf den Vorgang der Vergleichung der Verfassungstraditionen, und wie genau jene Staffelung der Rechtsvergleichungsphase beschaffen sein soll, bleibt unklar und ist mit nicht unwesentlichen Folgeproblemen behaftet. Sofern der auf die EMRK bezogene Teil des rechtsvergleichenden Vorgangs nämlich stets durch den EGMR zu realisieren wäre, was in Anbetracht der von Wolf angenommenen Bindung des EuGH an dessen Rechtsprechung nur konsequent erschiene, so müsste Letzterer, wenn es etwa an für den von ihm zu judizierenden Fall passenden Ergebnissen des Gerichtshofs in Straßburg fehlt, mangels verfahrensrechtlicher Verknüpfung die Rechtsvergleichung letztlich doch selbst vornehmen. Wesentliche Systemvorteile der Konzeption von Wolf sind gegenüber der Einordnung und Charakterisierung der Methodik der Grundrechtsgewinnung aus den Verfassungstraditionen als wertende Rechtsvergleichung folglich nicht ersichtlich. Sieht man in dem Institut der Rechtserkenntnisquellen zudem nicht nur eine Orientierungshilfe oder Auslegungsquelle zur inhaltlichen Beschreibung eines unbestimmten Rechtselements, sondern in erster Linie die Fixierung der rechtlich zulässigen Grundlagen zur Ermittlung der Existenz eines abstrakten Grundrechtswerts und seines Schutzgehalts im Einzelfall, so folgt aus einem solchen Normverständnis weiterhin, dass Art. 6 Abs. 2 EUV trotz seiner semantischen Vagheit selbst und tatbestandlich in hinreichender Bestimmtheit die für die Erkenntnis des verbindlichen Grundrechtsschutzes nötigen Voraussetzungen regelt. Die Befürchtung, die Vorschrift könne im Falle der Trennung zwischen der Rechtsquelle und den Erkenntnisquellen zu einer bloßen AlibiNorm verkümmern, erweist sich daher als unbegründet. Zugleich legt dieses Normverständnis die Betonung auf die Eigenständigkeit des unionsrechtlichen Grundrechtsregimes und gewährleistet dem für die Grundrechtsherlei1057 1058

So Wolf, a. a. O., S. 901 f. Wolf, a. a. O., S. 900.

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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tung allein zuständigen EuGH damit den nötigen Spielraum bei der Gewinnung systemeigener und systemadäquater Grundrechte. dd) Reichweite des Quellenverweises auf die EMRK Einer Klärung bedarf jedoch noch, wieweit der Verweis des Art. 6 Abs. 2 EUV auf die grundrechtlichen Garantien der Art. 1 bis 14 EMRK reicht und ob er auch die weiteren zur EMRK ergangenen Zusatzprotokolle erfasst. Darüber hinaus resultiert aus der Einstufung der EMRK als Rechtserkenntnisquelle die Frage, ob die in Bezug genommenen Bestimmungen bei der Ermittlung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts nur unter Berücksichtigung der nach Art. 57 EMRK erklärten Vorbehalte der EU-Mitgliedstaaten oder möglicherweise gar sämtlicher Vertragsstaaten der EMRK zugrunde gelegt werden können. (1) Bindungsdichte in Bezug auf die EMRK und die Verfassungstraditionen Erstere Frage fokussiert das Problem, ob die durch Art. 6 Abs. 2 EUV konstituierte Bindung der Union an die EMRK in materieller Hinsicht strenger ist, als jene an die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten. Werden diese zur Grundrechtsgewinnung über die Methodik der wertenden Rechtsvergleichung erst nach einer rechtsgrundsätzlichen Filterung aktiviert1059, muss die Konvention zu ihrer Fruchtbarmachung a priori nicht mit anderen Menschenrechtsquellen abgeglichen und mithin keiner entsprechenden Bereinigung zugeführt werden1060. Für diese Sichtweise spricht nicht zuletzt auch die verbiale Differenzierung zwischen den beiden Quellen. Denn in semantischer Hinsicht dürfte ein wesentlicher Unterschied darin bestehen, ob die Grundrechte zu beachten sind, wie sie in einer systemfremden Quelle „gewährleistet sind“, oder ob sie zu beachten sind, wie sie sich aus einer solchen Quelle „ergeben“. Während in letzterer Formulierung gerade der Auftrag zur wertenden Transformation der Verfassungstraditionen angelegt ist, erlaubt Erstere unbeschadet des Umstands, dass die Norm im oben beschriebenen Sinne aufgrund der komparativen Formulierung nur eine weitgehende Vergleichbarkeit postuliert, eine unveränderte Übernahme der fallrelevanten Konventionsgewährleistungen samt der konkretisierenden Rechtsprechung des EGMR. Hätten die Normverfas1059 Zur Beschreibung der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts als von den Grundrechten zu passierender Filter schon Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 9. 1060 In diesem Sinne wohl Pauly, EuR 1998, 242, 249.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

ser hier keine unterschiedliche Quellenbehandlung im Sinn gehabt, wäre eine einheitliche Textfassung etwa dergestalt, dass dich die Grundrechte aus beiden Quellen ergeben, ohne weiteres möglich und zur Klarstellung auch angezeigt gewesen. (2) Einbeziehung der Zusatzprotokolle Die Frage, ob die normative Verweisung auf die EMRK auch deren Zusatzprotokolle erfasst, wird jedenfalls in Bezug auf die von allen Mitgliedstaaten ratifizierten Protokolle ganz überwiegend bejaht1061. Für den Bereich der materiellen Grundrechtverbürgungen handelt es sich hier nach dem aktuellen Ratifikationsstand nur um die Zusatzprotokolle 1 und 6. Das 4.1062, 7.1063 und 13.1064 Zusatzprotokoll könnten bei einer solchen Sichtweise hingegen keine Berücksichtigung finden. Dafür mag zunächst ins Feld geführt werden können, dass ungeachtet der Frage, ob die mitgliedstaatliche Behandlung von völkerrechtlichen Abkommen monistisch oder dualistisch konzipiert ist, erst eine Ratifikation durch alle Mitgliedstaaten den Schluss auf einen grundsätzlichen Konsens über die Gewährung der verbrieften Rechte zulassen dürfte. Diese gedankliche Herangehensweise erscheint aber schon im Ansatz wenig stichhaltig. Maßgeblich für die Inhaltsermittlung und damit auch für die Reichweite der Verweisung des Art. 6 Abs. 2 EUV kann nämlich nicht die jeweils bestehende, teils den Besonderheiten der nationalen Rechtsordnung, teils auch nur den aktuellen politischen Entwicklungen geschuldete Einstellung der Mitgliedstaaten zu dem einen oder anderen Zusatzprotokoll sein. Der Umfang und die Grenze der Verweisung ist vielmehr gerade in der Norm selbst sowie in dem Rechtssystem zu suchen, in welches sie eingebettet ist. Auch in dieser Hinsicht ist folglich eine Auslegung des Art. 6 Abs. 2 EUV geboten. 1061 Vgl. etwa Grabenwarter, VVDStRL 2001, 290, 328 f.; Hilf, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. F EUV (Oktober 1996), Rn. 33; Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 8; a. A. indes Busch, Bedeutung der EMRK, S. 25; vgl. zur einschlägigen Rechtsprechung etwa EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 ff., insb. 17. (Hauer); EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1976, 1219, Rn. 32 (Rutili); EuG, Rs. T-195/00, Slg. 2003, II-1677, Rn. 138 (Travelex Global and Financial Services and Interpayment Services). 1062 Dieses hat Griechenland schon nicht unterzeichnet, während Spanien und das Vereinigte Königreich es zwar unterzeichnet, aber bis dato nicht ratifiziert haben (Stand: 29. Januar 2007). 1063 Dieses haben Belgien, Deutschland, die Niederlande sowie Spanien unterzeichnet, nicht aber ratifiziert. Das Vereinigte Königreich hat schon die Unterzeichnung unterlassen (Stand: 29. Januar 2007). 1064 Frankreich, Italien, Lettland, Polen und auch Spanien haben dieses nur unterzeichnet, im Anschluss aber nicht ratifiziert (Stand: 29. Januar 2007).

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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In semantischer Hinsicht könnte man aus der ausdrücklichen Nennung der „am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ zunächst auf eine Beschränkung der Verweisung auf den Hauptvertragstext der EMRK schließen1065. Eine weitergehende Auslegung muss dennoch keine unzulässige Überschreitung der Wortlautgrenze bedeuten, wenn man die wesentlichen systematischen und teleologischen Aspekte mit einfließen lässt. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf den Umstand, dass sich die Mitgliedstaaten auf der Konventionsebene verpflichtet haben, die Regelungen der Protokolle eben als „Zusatzartikel zur Konvention“ zu betrachten, auf welche die Vorschriften der EMRK Anwendung finden1066, so dass die EMRK und die bereits vor Schaffung des Art. 6 Abs. 2 EUV in Kraft getretenen Zusatzprotokolle sich aus Sicht der Mitgliedstaaten von Anfang an als rechtliche Einheit darstellten. Zu bedenken gilt ebenfalls, dass eine wörtlich auch auf die Zusatzprotokolle verweisende Fassung des Art. 6 Abs. 2 EUV nicht nur merklich an Klarheit und Prägnanz verloren hätte, was offenkundig ihrer praktischen Handhabung abträglich gewesen wäre, sondern eine starre Verweisung auch die Zulässigkeit der Berücksichtigung künftiger Zusatzprotokolle ausgeschlossen hätte. Der Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV wäre so ein wesentlicher Teil ihrer entwicklungsoffenen, gleichsam zukunftsgerichteten Ausprägung genommen worden, die sich eben nicht zuletzt auch in der Verweisung auf die EMRK als ihrerseits dynamisch auszulegendes „living instrument“1067 zeigt. Auch die Möglichkeit künftiger Änderungen und Ergänzungen ist ein wesentlicher Aspekt dieser Lebendigkeit. Dass die EU-Mitgliedstaaten die Zusatzprotokolle aus der Verweisung herausgenommen wissen wollten, dürfte vor diesem Hintergrund eher fern liegen, zumal eine grammatikalische Klarstellung durch die Beschränkung der Verweisung auf die EMRK „in der Fassung vom 4. November 1950“ ein Leichtes gewesen wäre. Auch die Gemeinschaftsrechtsprechung hat die Zusatzprotokolle zur EMRK demgemäß wie selbstverständlich als gleichberechtigten Teil der So etwa Busch, Bedeutung der EMRK, S. 25. Vgl. Art. 5 des 1. Zusatzprotokolls, Art. 6 des 4. Zusatzprotokolls, Art. 6 des 6. Zusatzprotokolls, Art. 7 des 7. Zusatzprotokolls und Art. 5 des 13. Zusatzprotokolls zur EMRK. 1067 Diesen Charakter betont der EGMR in ständiger Rechtsprechung, vgl. nur EGMR, Urt. v. 25. April 1978 (Kammer), Beschw. Nr. 5856/72, § 31 (Tyrer/Vereinigtes Königreich); EGMR, Urt. v. 23. März 1995 (Große Kammer), Beschw. Nr. 15318/89, § 71 (Loizidou/Türkei); EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94, § 39 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich); aus jüngerer Zeit wieder EGMR, Urt. v. 4. Februar 2005 (Große Kammer), Beschw. Nr. 46827/99 u. 46951/99, § 121 (Mamatkulov u. Askarov/Türkei). 1065 1066

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

EMRK behandelt1068. Zwar geschah dies in den einschlägigen Entscheidungen noch zur Begründung der Existenz gemeinsamer Verfassungskonzeptionen1069, jedoch griff der EuGH auch erst später ohne Umweg über diese auf die EMRK zurück1070. Im Übrigen hat der Gerichtshof in seinen Entscheidungsgründen nie problematisiert, ob das einschlägige Zusatzprotokoll überhaupt in sämtlichen Mitgliedstaaten ratifiziert wurde. Behandelt man die EMRK wie die Verfassungstraditionen als eine Rechtserkenntnisquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, erscheint es auch nur konsequent, analog zur Methodik der wertenden Rechtsvergleichung bei der Ermittlung gemeinsamer Verfassungstraditionen auch die Konventionsrechte in dem Umfang und in der Form in das Unionsrecht zu überführen, wie es die Besonderheiten dieses Rechtssystems erlauben und erfordern. Auch die über Art. 6 Abs. 2 EUV begründete Einbeziehung der aktuellen und zukünftigen Protokolle setzt daher nur voraus, dass sie zumindest von einem nicht ganz unwesentlichen Teil der Mitgliedstaaten ratifiziert worden sind und sich in die Struktur des Unionsrechts einfügen lassen. Allein eine solch weitreichende Erfassung der Zusatzprotokolle zur EMRK wird dem Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 EUV gerecht1071. Die damit einhergehende Qualifizierung der Inbezugnahme der EMRK als dynamische Verweisung führt auch nicht zu einer unzulässigen Begebung eigener Rechtsschöpfungskompetenzen der Mitgliedstaaten oder der Unionsorgane. Denn zum einen handelt es sich aufgrund der Qualifizierung der EMRK als bloße Erkenntnisquelle und wegen des Erfordernisses der 1068 Vgl. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 u. 17. (Hauer); EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1976, 1219, Rn. 32 (Rutili); zuletzt ebenso EuG, Rs. T-195/00, Slg. 2003, II-1677, Rn. 138 (Travelex Global and Financial Services und Interpayment Services/Kommission); vgl. auch die entsprechende Klarstellung in den aktualisierten Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 der Grundrechte-Charta in CONV 828/1/03 (ABl. EG 2004, C 310/456). 1069 Die insofern vom Gerichtshof nicht angesprochene Frage, ob die Zusatzprotokolle tatsächlich gemeinsame Verfassungskonzeptionen der Mitgliedstaaten widerspiegeln, erscheint schon angesichts des Rangs der EMRK in den nationalen Rechtsordnungen zweifelhaft [zu jenem alsbald unter b) aa) (1) (b)]. 1070 So erstmals und zeitlich kurz auf die Entscheidung in der Rechtssache Hauer folgend EuGH, 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 18 (National Panasonic); ebenso in der Folgezeit EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 13 u. 18 (Hoechst/Kommission); EuGH, Rs. 219/91, Slg. 1992, I-5485, Rn. 34 (Ter Voort); EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 23 (Roquette Frères); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 (Schmidberger); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 (Omega). 1071 A. A. und insoweit unzutreffend Strasser, Grundrechtsschutz in Europa, S. 81, soweit sie in Art. 6 Abs. 2 EUV nur die Festschreibung der bis dato vom EuGH anerkannten Grundrechte erblickt.

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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Überführung der einzelnen Konventionsgarantien ins Unionsrecht eben nicht um eine vorbehaltlos antizipierte Annahme künftiger Regelungen eines anderen Normschöpfers. Zum anderen sind von der Verweisung aber auch keine kompetenzrechtlichen Normen erfasst, sondern allein die fundamentalen Rechte des Einzelnen, zu deren Wahrung sich die EU bekennt, weil die Wurzeln jener Rechte als Ausfluss der Würde des Menschen in naturrechtlichen, von abgeschlossenen Rechtssystemen autonomen Grundwerten liegen. (3) Berücksichtigung mitgliedstaatlicher Vorbehalte Bezüglich der Frage, ob die Verweisung auf die EMRK eine Berücksichtigung der nach Art. 57 EMRK erklärten Vorbehalte zu einzelnen Bestimmungen der EMRK und der Zusatzprotokolle erfordert, fehlt es bislang – soweit ersichtlich – an eingehender Jurisprudenz. Dabei liegt zunächst auf der Hand, dass allenfalls solche Vorbehalte von Relevanz sein dürften, die aus dem Kreise der EU-Mitgliedstaaten stammen, da Art. 6 Abs. 2 EUV im systematischen Kontext zu Art. 6 Abs. 1 EUV auf den gemeinsamen Werten seiner eigenen Mitglieder aufbaut und der unionale Grundrechtsstandard insoweit nicht dem Einfluss der möglichen Einschränkungen anderer – unionsfremder – Konventionsvertragsstaaten unterworfen sein kann. Im Übrigen sind Art. 6 Abs. 2 EUV zumindest grammatikalisch weder für noch gegen eine Einbeziehung der mitgliedstaatlichen Vorbehalte hinreichende Anhaltspunkte zu entnehmen. Aus dem maßgeblichen Blickwinkel des Gemeinschaftsrechts spricht normsystematisch und teleologisch jedoch einiges dafür, dass der EMRK durch den auf sie erfolgenden Verweis die Funktion einer schriftlich fixierten, autonomen, d.h. vom Grundrechtsstandard und ihrer Bedeutung in den einzelnen Mitgliedstaaten unabhängigen Rechtserkenntnisquelle zukommen soll. Ebenso wie bei der Ermittlung allgemeiner Rechtsgrundsätze anhand der gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen ist im Falle der Heranziehung der EMRK, wie sich soeben auch im Rahmen der Behandlung der Zusatzprotokolle herauskristallisiert hat, nicht nur der in allen Mitgliedstaaten geltende, mithin kleinste gemeinsame Schutzgehalt einer Konventionsnorm zu suchen. Vielmehr ist hier auch eine mit der Methode der wertenden Rechtsvergleichung komparable Vorgehensweise angebracht, die es erlaubt, eine im Hinblick auf die besonderen Strukturen und Ziele der Unionsrechtsordnung systemadäquate Lösung zu erhalten1072. Einem EinÄhnlich, Ress, in: FS Winkler, S. 897, 916, nach dem der EuGH im Einzelfall zu prüfen habe, „wie das spezifische Menschenrecht in die Ziele, Aufgaben und Strukturen der EG als einer Integrationsorganisation einzufügen ist“. 1072

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

fluss der mitgliedstaatlichen Vorbehalte zur EMRK auf das Gemeinschaftsrecht steht demzufolge schon die Autonomie dieser Rechtsordnung sowie hiermit zusammenhängend die Tatsache entgegen, dass die Gemeinschaft eigenständig ihr übertragene Hoheitsgewalt ausübt. Betrachtet man das Problem zusätzlich aus der Perspektive der Konvention, so gilt überdies zu beachten, dass die Vorbehalte im Sinne des Art. 57 EMRK allein der Einschränkung der Geltung oder der Lenkung der Auslegung einzelner Regelungen in bestimmten Anwendungsbereichen dienen, um auf diese Weise Einzelfallkollisionen mit bereits bestehendem nationalen Recht auszuschließen1073. Demgemäß sind Vorbehalte ganz allgemeiner Art nach Art. 57 Abs. 1 S. 2 EMRK per se unzulässig1074. In den Grenzen des Möglichen erklärte Vorbehalte können folglich weder den Zweck noch die Wirkung haben, den Grundrechtsstandard im Allgemeinen zu beschränken. Dies gilt gleichermaßen für die jeweiligen nationalen Rechtsordnungen wie auch für die europäische Ebene. Die im Bereich der ausschließlichen Anwendung nationalen Rechts geltenden Spezialvorbehalte einiger Mitgliedstaaten nach Art. 57 EMRK müssen daher erst recht ohne Einfluss auf die allgemeine Grundrechtsgeltung im Unionsrecht bleiben. Im speziellen Hinblick auf die Herleitung des im Rahmen dieser Bearbeitung besonders interessierenden Rechts sei außerdem angemerkt, dass die einschlägigen Vorbehalte der Mitgliedstaaten zu Art. 6 und 13 EMRK das Recht auf effektiven Individualrechtsschutz in seiner Substanz unangetastet lassen, da sie die Anwendbarkeit der Konventionsbestimmungen nur bezüglich eng umgrenzter Rechtsbereiche und nur in unerheblichem Maße sowie regelmäßig nur den Öffentlichkeits- und den Mündlichkeitsgrundsatz betreffend einschränken1075. 1073 Vgl. Grabenwarter, EMRK, § 2, Rn. 5 u. 7; ferner Schabus, in: Petitti/Decaux/Lambert, CEDH, Art. 64, S. 923 ff., insb. 934 f. 1074 s. aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs (bereits zu Art. 64 EMRK a. F.) insbesondere EGMR, Urt. v. 29. April 1988, Beschw. Nr. 10328/83, § 55 und §§ 58 f. (Belilos/Schweiz); zum Erfordernis eines geltenden Gesetzes EGMR, Urt. v. 26. April 1995, Beschw. Nr. 16922/90, § 41 (Fischer/Österreich); EGMR, Urt. v. 3. Oktober 2000, Beschw. Nr. 29477/95, § 25 (Eisenstecken/Österreich). 1075 Es seien hier nur die folgenden Vorbehalte einzelner Mitgliedstaaten zu Art. 6 EMRK erwähnt: seitens Estlands aufgrund nationalrechtlicher Einschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes in bestimmten Zivilprozessen, so in besonders einfach gelagerten oder nur Rechtsfragen aufwerfenden Fällen; ähnlich seitens Finnlands bezüglich partieller Ausnahmen zum Mündlichkeitsprinzip; seitens Frankreichs im Bereich der Militärstrafen und des Militärdisziplinarrechts; seitens Österreich betreffend das in Art. 90 ÖsterVerf niedergelegte Gebot der Öffentlichkeit und Mündlichkeit; seitens Irlands in Bezug auf nationale Einschränkungen des Rechts auf eine „free legal assistance“; seitens Liechtensteins in Bezug auf innerstaatliche Beschränkungen des Öffentlichkeitsgrundsatzes sowie seitens Maltas hinsichtlich die Unschuldsvermutung einschränkender Beweislastregeln. Zu Art. 13

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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ee) Zwischenergebnis Nach alledem kommt dem Normgehalt des Art. 6 Abs. 2 EUV über die allgemeine Grundrechtsbindungswirkung hinaus die Bedeutung zu, in verbindlicher Weise die bereits bewährten allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts als Rechtsformquelle der im Einzelnen geltenden Grundrechte zu fixieren und zugleich ihre auf den Einzelfall bezogene Bestimmung und Inhaltskonkretisierung an die Erkenntnisquellen der EMRK – einschließlich deren Zusatzprotokolle und unabhängig von mitgliedstaatlichen Vorbehalten – sowie an die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen zu koppeln. Da Art. 6 Abs. 2 EUV den beiden Rechtserkenntnisquellen die Rechtsformquelle der allgemeinen Rechtsgrundsätze nicht zuletzt deshalb vorschaltet, um eine angemessene Bestimmung des materiellen Gehalts und der Grenzen eines Grundrechts im Lichte der unionalen Strukturen und Integrationsziele zu ermöglichen1076, weist der normative Verweis nicht die Qualität einer starren Rezeptionsklausel auf. Die Auskleidung der im Einzelfall anzuwendenden Grundrechte hat freilich in erster Linie der EuGH zu leisten. Hat er die Verfassungsüberlieferungen dabei im Wege der Methodik wertender Rechtsvergleichung zu aktivieren, so kann er die Garantien der EMRK unbeschadet einer fehlenden Direktbindung auch ohne grundlegende Inhaltsänderung heranziehen. Dass er sich im Bereich der Konvention zunehmend auch an die Rechtsprechung des EGMR anlehnt1077, ist nicht die Folge einer justitiellen Hierarchiestruktur zwischen den beiden judikativen Protagonisten, sondern die Konsequenz des Respekts gegenüber dem Gerichtshof in Straßburg als dem zur Konventionsinterpretation bestqualifizierten Organ. Zudem kann das angesichts der neueren EGMR-Rechtsprechung sensibel gesteigerte Konvergenzinteresse des EuGH in Richtung einer De-facto-Bindung an die konventionsgerichtlichen Vorgaben gedeutet werden.

EMRK hat indes, soweit ersichtlich, keines der Mitgliedstaaten eine Vorbehaltserklärung abgegeben. Allein Serbien und Montenegro hat die Anwendbarkeit in Bezug auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs von Serbien und Montenegro vorläufig aufgehoben. 1076 Vor dem Hintergrund der rechtsstaatlichen Wesensprägung der EU erscheinen in diesem Kontext die Ausführungen von Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, S. 859, nicht unbedenklich, wonach die Rechtsprechung des EuGH dem Vorbehalt der Integrationsziele unterliege und infolgedessen stets darauf achten müsse, dass die effektive gemeinschaftsrechtliche Verwirklichung des kollektiven Integrationsziels nicht durch die anerkannten Grundrechte beeinträchtigt werde. 1077 A. A. Wolf, in: FS Ress, S. 893, 902.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

b) Zum inneren Quellenverhältnis und einer normativen Exklusionswirkung Ist die grundsätzliche Grundrechtsquellensystematik des Art. 6 Abs. 2 EUV somit analysiert, bleibt weiterhin klärungsbedürftig, in welchem Verhältnis die beiden Erkenntnisquellen zueinander sowie zu anderen normexternen Quellen stehen. aa) Anwendungs- und Rangverhältnis der beiden Rechtserkenntnisquellen Hinsichtlich des norminternen Verhältnisses der beiden Erkenntnisquellen stellen sich insbesondere zwei Fragen, namentlich ob zum einen die Herleitung eines Grundrechts stets auf beide oder nur auf eine der Erkenntnisquellen zu stützen ist und ob zum anderen eine bestimmte hierarchische Ordnung zwischen den Quellen besteht. (1) Kumulative oder alternative Anwendung der Erkenntnisquellen Die Fragestellung zum internen Anwendungsverhältnis bedarf zunächst einer zugleich die hier verwendeten Terminologien klarstellenden Differenzierung1078. So kommt auf der einen Seite eine kumulative Quellenanwendung in Betracht, dies sowohl im Sinne der stringenten Bildung einer materiellen Schnittmenge1079 als auch im Sinne einer gestuften Quellenhäufung, im Zuge derer die wesentlichen Wertungskollisionen zwischen den anzuwendenden Konventionsregelungen und eventuell entgegenstehenden gemeinsamen Verfassungstraditionen ausgeräumt würden1080. Dem gegenüber steht auf der anderen Seite die Möglichkeit, ein fallrelevantes Grundrecht unter alternativer Heranziehung nur einer der beiden Erkenntnisquellen herzuleiten. 1078 Die Begriffe „kumulativ“ und „alternativ“ sollen hier in ihrem juristischen Wortsinn ausgehend von der jeweils aus dem Lateinischen folgenden Bedeutung [cumulare (lat.) = (auf-/an-/über-)häufen, auftürmen, (. . .); alternare (lat.) = abwechseln, schwanken] verwendet werden. Die Formulierung von der streng kumulativen Quellenanwendung meint vorliegend daher nicht nur die mögliche Anwendung mehrerer, sondern die zwingende gleichzeitige Anwendung aller normativ genannten Quellen. 1079 Dazu Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1206. 1080 In diesem Sinne Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24 f.; ähnlich Wolf, in: FS Ress, S. 893, 899 ff., der im Rahmen des von ihm angenommenen Bündelungseffekts des Art. 6 Abs. 2 EUV das Bedürfnis nach einer kohärenten Abstimmung der beiden Rechtsgrundlagen im einzelnen Fall postuliert.

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(a) Wortlaut und interne Systematik Auf den ersten Blick kann grammatikalisch die zwischen den Quellen stehende Konjunktion „und“ für jeden der Ansätze streiten. Entscheidend ist insoweit die Frage, ob sie eine die Objekte des Nebensatzes kumulierende oder aber eine zwei selbständige Satzteile nebenordnende Konjunktion darstellt. Für letztere Annahme lässt sich dabei maßgeblich die innere Satzsystematik anführen. So zeigt die Einfügung des Adverbs „wie“ vor jeder der beiden Rechtserkenntnisquellen sowie auch die Verwendung eines unterschiedlichen Verbs für beide Objekte, dass es sich nicht um einen, sondern syntaktisch genau genommen um zwei Nebensätze handelt, die voneinander unabhängig zu behandeln sind. Sprachlich kommt es damit zu einer inhaltlichen Trennung der beiden Rechtserkenntnisquellen als unabhängige Bezugsobjekte. Schon der Wortlaut und die Satzsystematik streiten folglich gegen eine zumindest streng kumulierte Anwendung der Erkenntnisquellen. Der Nebensatzbau deutet vielmehr auf eine Alternativität derselben hin. (b) Sinn und Zweck Dieses Verständnis wird letztlich auch dem Sinn und Zweck des Art. 6 Abs. 2 EUV gerecht. Denn die Forderung nach einer streng kumulativen Anwendung der Quellen wäre offensichtlich mit einer Abkehr von der Rechtsprechungspraxis des EuGH verbunden. Wie gezeigt, leitet dieser die Grundrechte mal unter exklusiver Bezugnahme auf die EMRK, mal unter alleiniger Nennung der Verfassungstraditionen und nicht selten auch unter Erwähnung beider Quellen her1081. Insbesondere aber pflegt der Gerichtshof nicht zu prüfen, ob sich ein aus der EMRK hergeleitetes Grundrecht inhaltsgleich auch in den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten wieder findet1082. Die Beschränkung der Grundrechtsgeltung auf eine Schnittmengenbildung zwischen den Quellen ist der Rechtsprechung somit fremd. Eine Begründung hierfür könnte zwar sein, dass sich bereits von der Geltung der EMRK in den Rechtsordnungen sämtlicher EU-Mitgliedstaaten auf die ExisDazu schon oben 1. b). Vgl. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 17 (Hauer); EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, 2964, Rn. 44 (ERT); EuGH, Rs. 219/91, Slg. 1992, I-5485, Rn. 35 (Ter Voort); EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 25 f. (Familiapress); EuGH, verb. Rsn. C-122/99 P u. 125/99 P, Slg. 2001, I-4319, Rn. 60 (D); EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 18 (Johnston); EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal); EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-03735, Rn. 75–77 (Steffensen); EuGH, Rs. C-424/99, Slg. 2001, I-9285, Rn. 45 (Kommission/Österreich); EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 1081 1082

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tenz einschlägiger Verfassungstraditionen schließen lässt, eine weitere Prüfung also unnötig wäre, wofür auf den ersten Blick auch die bereits genannten Entscheidungen des EuGH sprechen können, in denen er die EMRK – wie andere internationale Verträge – als bloßen „Hinweis“ auf die Existenz allgemeiner Rechtsgrundsätze angeführt hat. Die Zulässigkeit eines solchen Schlusses ist jedoch mit Zweifeln behaftet. Denn letztlich wäre unter Zugrundelegung einer solchen Quellensystematik die kumulative Erwähnung zweier Rechtserkenntnisquellen sinnentleert. Zudem müsste der Gerichtshof hier viel eher von auf der EMRK beruhenden gemeinsamen Traditionen der Mitgliedstaaten sprechen. Zu beachten gilt in diesem Zusammenhang darüber hinaus, dass die EMRK in zahlreichen Mitgliedstaaten – noch1083 – nicht den Rang von Verfassungsrecht1084, sondern zumindest formal überwiegend nur den eines einfachen Gesetzes1085 bzw. faktisch einen Platz zwischen diesen1086 einnimmt, so dass zwar uneingeschränkt von einer gemeinsamen 1083 Mit Verweis auf die Annäherung des Europarats an eine internationale Einrichtung i. S. d. Art. 24 GG plädiert etwa Everling für die Anerkennung des Vorrangs der EMRK vor dem nationalen Recht (vgl. Everling, EuR 2005, 411, 416 ff.). 1084 So indes in Österreich (sowie in der Schweiz). 1085 Gesetzesrang hat die EMRK – in formeller Hinsicht – grundsätzlich in Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Italien und Schweden (vgl. zur formalen Rechtslage in Deutschland insbesondere BVerfGE 74, 358, 370; E 82, 106, 120; zur materiellen Rechtslage sogleich in der folgenden Fußnote). 1086 So in Frankreich, Griechenland, den Niederlanden, Luxemburg, Malta, Portugal, Zypern, Spanien und Tschechien. De facto gilt dies wohl auch für das deutsche Rechtssystem, wo die EMRK am 7. August 1952 zwar formal durch ein einfaches Bundesgesetz in nationales Recht transformiert worden ist, sie aber vor dem Hintergrund der völkerrechtsfreundlichen Prägung des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des BVerfG eine verfassungsrechtliche Bedeutung erlangt hat, indem sie als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte und anderer rechtsstaatlicher Grundsätze – mittelbar – in den Prüfungsmaßstab für einfaches Recht einbezogen wurde (vgl. dazu etwa BVerfGE 74, 358, 370; E 83, 119, 128), so dass ihre Gewährleistungen im Einzelfall – zumindest faktisch – einen übergesetzlichen, wohlgemerkt aber keinen verfassungsrechtlichen Rang einnehmen können. Aus völkerrechtlicher Sicht ist dieser Praxis zuzustimmen, da sich die Vertragsstaaten mit Ratifikation der EMRK gem. Art. 1 EMRK verpflichtet haben, die Übereinstimmung ihrer gesamten innerstaatlichen Rechtsordnungen mit den Konventionsgarantien sicherzustellen [vgl. EGMR, Urt. v. 8. April 2004, Beschw. Nr. 71503/01, § 198 (Assanidze) unter Bezugnahme auf EGMR, Urt. v. 17. Februar 2004, Beschw. Nr. 39748/98, § 47 (Maestri)], mag die EMRK den Vertragsstaaten auch die Frage überlassen haben, wie sie ihren Pflichten zur Beachtung der EMRK entsprechen wollen [vgl. EGMR, Urt. v. 6. Februar 1976, Beschw. Nr. 5614/72, § 50 (Swedish Engine Drivers Union); EGMR, Urt. v. 21. Februar 1986 (Große Kammer), Beschw. Nr. 8793/79, § 84 (James u.a)]. Vgl. im Übrigen aus der instanzgerichtlichen Rechtsprechung zur EMRK als Prüfungsmaßstab für einfachgesetzliches Recht OLG Celle, StV 1990, 504; OLG Bamberg, StV 1991, 174; OLG Koblenz StV 1991, 172; OLG München, NJW 1991, 2302; OLG Schleswig NJW 1991, 2303; vgl. im Übrigen zur Verpflichtung staatlicher Organe, die EMRK trotz

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Tradition aller mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen, nicht aber von gemeinsamen Traditionen auf der Ebene des Verfassungsrechts gesprochen werden kann. Denn die Ausstattung der EMRK mit Verfassungsrang bildet in den Mitgliedstaaten wie gezeigt die große Ausnahme. Wäre das Gegenteil der Fall, so hätte die primärrechtliche Verweisung auf die EMRK neben jener auf die Verfassungstraditionen auch offenkundig bloß deklaratorische Funktion, da jedes in der Konvention verbürgte Recht sodann zugleich an den mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen teilnähme. Läse man in Art. 6 Abs. 2. EUV gleichwohl das Erfordernis einer stringent kumulativen Quellenanwendung hinein, so verbliebe es im Zuge der Schnittmengenbildung angesichts der teils sehr unterschiedlich ausgeprägten Grundrechtsgewährleistungen in der EMRK einerseits und in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen andererseits überdies nicht zwingend bei dem kleineren Kreis der Konventionsgarantien1087. Konsequenz eines solchen Ansatzes wäre nämlich, dass nunmehr die Verweisung auf die Verfassungstraditionen neben jener auf die EMRK keine eigenständige Bedeutung hätte und mithin obsolet wäre. Auch wenn die EMRK ausweislich ihres Art. 60 einen menschenrechtlichen Mindeststandard kodifiziert1088, erscheint es vor dem Hintergrund ihres Rangs in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen vielmehr ebenfalls denkbar, dass das Schutzniveau der gemeinsamen Verfassungstraditionen punktuell hinter jenem der EMRK zurückbleibt und der gemeinsame Teilbereich gegebenenfalls gerade nicht der EMRK entnommen werden könnte1089. Gegen eine streng kumulative Quellenanwendung spricht zuletzt vor allem, dass eine solche im Einzelfall die Unterschreitung des vom EuGH geihrer einfachgesetzlichen Bindungen zu beachten BVerfGE 111, 307, 323 ff. (EGMR-Entscheidungen). 1087 So aber Busch, Bedeutung der EMRK, S. 24. 1088 Vgl. Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 3; Klein, AfP 1994, 9, 10. 1089 Die dem zugrunde liegende Überlegung, dass der auf den Verfassungstraditionen beruhende Grundrechtsschutz hinsichtlich eines bestimmten Grundrechts hinter dem der EMRK zurückbleiben kann, ist nicht nur theoretischer Natur, da gerade jene Mitgliedstaaten, in denen die EMRK den Rang eines einfachen Gesetzes einnimmt, keinen vollends deckungsgleichen verfassungsrechtlichen Grundrechtskatalog aufweisen. So fehlt es beispielsweise in der belgischen wie auch in der dänischen Verfassung an einer das allgemeine Recht auf effektiven Rechtsschutz äquivalent garantierenden Verfassungsbestimmung (Art. 73 Abs. 2 der Dänischen Verfassung regelt ein solches nur für Enteignungen), weshalb z. B. die belgische Cour de Cassation zur Herleitung justitieller Rechte regelmäßig auch auf Art. 6 EMRK zurückgreift (so etwa in Cour de Cass., 2e Chambre, Urt. v. 30. Oktober 2001, No. JC01AU3 3). Auch die schwedische Verfassung regelt das Recht auf effektiven Rechtsschutz ausdrücklich nur für strafrechtliche Verfahren, so etwa im Bereich der Haftprüfung (vgl. Kap. 3 §§ 9–11 der Dänischen Verfassung).

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prägten Grundrechtsstandards zur Folge hätte. Die Bildung einer echten Teilmenge beider Erkenntnisquellen verkürzte den vom EuGH entwickelten Grundrechtstandard in nicht unbeträchtlichem Umfang. So fiele insbesondere die mangels einschlägiger Konventionsregelungen allein aus den Verfassungstraditionen hergeleitete Berufsfreiheit1090 aus der Quellenschnittmenge und damit aus dem unionalen Grundrechtsschutz heraus. Eine solche Verringerung des Grundrechtsschutzes kann jedoch mit Art. 6 Abs. 2 EUV ersichtlich nicht bezweckt worden sein. Die aufgrund der syntaktischen Quellentrennung schon im Wortlaut angelegte und auch teleologisch begründbare Eigenständigkeit beider Erkenntnisquellen spricht zugleich dagegen, die Verfassungsüberlieferungen im Wege einer gestuften Kumulation als bloßes Korrektiv für möglicherweise in Widerspruch zu diesen stehende Konventionsgarantien heranzuziehen1091. Die aus jenem Ansatz folgende Reduzierung der Rolle der Verfassungstraditionen trägt deren Bedeutung für die gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsentwicklung nicht hinreichend Rechnung. Die stringente Handhabung dieses Ansatzes stünde abermals der Herleitung eines Grundrechts, wie etwa der Berufsfreiheit, allein aus den Verfassungstraditionen entgegen. Die Befürwortungen jenes Ansatzes von Busch erscheinen im Zusammenhang mit seiner Ausführung, die Schnittmenge beider Quellen bleibe stets auf den kleineren Kreis der Konventionsgarantien reduziert, auch nicht ganz konsequent. Wäre dies der Fall, weil die in der EMRK enthaltenen Rechte als Mindeststandard quasi in den mitgliedstaatlichen Verfassungswerten aufgingen, so wäre ein inhaltlicher Widerspruch zu Letzteren schon generell kaum vorstellbar, so dass es einer Korrektur der Konventionsgarantien über die Verfassungstraditionen praktisch nicht bedürfte. Nach alledem sind die in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Erkenntnisquellen normativ autonom, d.h. in einem Alternativverhältnis aufgestellt mit der Folge, dass die Herleitung eines Grundrechts nur der Stützung auf eine der beiden Quellen bedarf. Gesteuert durch die Struktur, Aufgaben und Ziele der EU hat der EuGH somit die Entscheidung zu treffen, ob und in welchem Umfang eine einzelne Quellenregelung zur Übertragung in das Gemeinschaftsrecht geeignet ist1092, was ihn freilich nicht davon abhalten 1090 Zum Grundrecht der Berufsfreiheit insbesondere EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff., 507, Rn. 14 (Nold); EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 32 (Hauer); EuGH, Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897, Rn. 8 (Keller); EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973, Rn. 78 (Bananenmarkt) sowie EuGH, Rs. C-200/96, Slg. 1998, I-1971, Rn. 21 (Metronome Musik GmbH). 1091 So aber Busch, Bedeutung der EMRK, S. 25; dahingehend auch Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1206. 1092 Ebenso Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 86 f.

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kann und soll, die Grundrechtsgeltung durch eine freiwillige Quellenhäufung rechtlich besonders zu fundieren. (2) Interne Hierarchie der Erkenntnisquellen Bezüglich der sich daran anschließenden Frage nach der Hierarchie der beiden Erkenntnisquellen untereinander lässt sich der Verbindung der Quellen durch die hier als nebenordnend klassifizierte Konjunktion grammatikalisch zunächst nichts Eindeutiges entnehmen. Denkbar wäre zwar, aus der vorangestellten Nennung der EMRK im Satzgefüge auf eine gewisse Tendenz zu ihren Gunsten zu schließen. Ebenso gut ließe sich aber getreu dem Motto „last but not least“ das Gegenteil vertreten. In grammatikalischer Hinsicht kann die Reihenfolge der Aufzählung auch als nur zufällig und damit nicht aussagekräftig beurteilt werden. Ebenso wenig lässt sich semantisch aus der Verwendung der zwei unterschiedlichen Verben folgern, dass die Norm eine Priorität der einen gegenüber der anderen Rechtserkenntnisquelle begründet. Eine sprachwissenschaftliche Regel, dass die aktive Form eines reflexiven Verbs eine Superordination seines Bezugsobjekts gegenüber einem anderen, mit einer passiven Verbform versehenen Objekt bedeutet, existiert ebenso wenig wie die entsprechend umgekehrte Regel. In Anbetracht des differierenden Rangs der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen lässt sich ein normativ angeordneter Anwendungsvorrang der Konvention auch nicht auf Art. 57 EMRK stützen1093. Eine solche Annahme stellt allzu einseitig auf das völkerrechtliche Verhältnis der beiden Quellen zueinander ab, ohne die systematischen Besonderheiten einer autonomen, eigenen Regeln gehorchenden Gemeinschaftsrechtsordnung zu berücksichtigen. Andererseits kann jedoch auch nicht allein von den Ursprüngen der Herleitung der Gemeinschaftsgrundrechte auf einen Vorrang der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen geschlossen werden. Insbesondere erscheint es nicht zulässig, die mit einer engeren Rückkopplung an die Verfassungstraditionen einhergehende Möglichkeit der Mitgliedstaaten, durch eine Veränderung nationaler Grundrechtsbestimmungen auf die europäische Grundrechtsentwicklung Einfluss zu nehmen, für deren Höhergewichtung ins Feld zu führen1094, da hierdurch abermals die Selbständigkeit der EG-Rechtsordnung in Frage gestellt würde, zumal es den Mitgliedstaaten unbenommen ist, zur Einwirkung auf das geltende System den offiziellen Weg über das Vertragsänderungsverfahren zu beschreiten. Das Rückkopplungsargument 1093 Dahingehend aber Grabenwarter, VVDStRL 2001, 290, 326 ff.; ders., in: EMRK, S. 30 f.; Hengstschläger, JBl. 2000, 409, 415 ff. 1094 So aber Gerstner/Goebel, Jura 1993, 626, 629.

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büßt zudem an Bedeutung ein, wenn man bedenkt, dass der EuGH die mitgliedstaatlichen Grundrechtsgewährleistungen nicht eins zu eins in das Gemeinschaftsrecht überträgt, sondern über die Methode der wertenden Rechtsvergleichung unter Bedachtnahme der rechtsystemspezifischen Besonderheiten in das Gemeinschaftsrecht überleitet. Eine Präponderanz der Verfassungstraditionen ließe außerdem vollkommen unberücksichtigt, dass gerade die ausdrückliche Aufnahme der EMRK in die Riege der Erkenntnisquellen einen neuen Akzent im geschriebenen Unionsrecht gesetzt hat1095 und ihre auch mehrfach vom EuGH hervorgehobene Bedeutung im Rahmen der unionalen Grundrechtskonzeption normativ untermauert. Der Umstand, dass auch der Gerichtshof die im Einzelfall zu prüfenden Grundrechte zunehmend aus der EMRK ableitet, ist insofern nicht nur auf den pragmatischen Aspekt zurückzuführen, dass die Konvention aufgrund ihrer durch die Rechtsprechung des EGMR gewonnenen Regelungsdichte für die Konturierung der Grundrechte besonders geeignet ist1096. Vielmehr zollt der EuGH damit in erster Linie der Bedeutung der EMRK als konstitutionellem Werkzeug einer öffentlichen Grundrechtsordnung Europas1097 und trägt – in Abwesenheit eines systemeigenen Grundrechtskatalogs – zugleich ihrem Nutzen als geschriebenem Wertekanon1098 Rechnung. Da die Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV nach der hier vertretenen Auffassung die beiden wichtigsten Rechtserkenntnisquellen normativ fixieren soll und der EuGH in einem Großteil seiner Rechtsprechung beide Quellen zwar zumeist in umgekehrter Reihenfolge, aber insofern – vornehmlich in jüngerer Zeit – gleichberechtigt nebeneinander erwähnt1099, sprechen die maßgebenden teleologischen Argumente in der Gesamtschau gegen eine normative Quellenhierarchisierung in die eine wie in die andere Richtung1100. Dem EuGH steht es danach frei, welche der Quellen er einer Grundrechtsherleitung zugrunde legt. Angesichts der besonderen Stellung der EMRK als einzigem in Art. 6 Abs. 2 EUV in Bezug genommenen, für So schon Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 7. In diesem Sinne Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 3. 1097 Zu dieser Rolle der EMRK etwa EGMR, Urt. v. 23. März 1995 (Große Kammer), Beschw. Nr. 15318/89, § 75 (Loizidou/Türkei). 1098 Dazu Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1280. 1099 Vgl. EuGH, 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 18 (National Panasonic); EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 13 u. 18 (Hoechst/Kommission); EuGH, Rs. 219/91, Slg. 1992, I-5485, Rn. 34 (Ter Voort); EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 23 (Roquette Frères); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 (Schmidberger); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 (Omega). 1100 I. Erg. ebenso Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 288; Ress/Ukrow, EuZW 1990, 499, 501; Rengeling, in: FS Rauschning, S. 225, 232; Weiß, Die Verteidigungsrechte im EG-Kartellverfahren, S. 40. 1095 1096

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alle Mitgliedstaaten verbindlichen Grundrechtskatalog erscheint es dabei nicht zuletzt im Interesse der Effektivität der Rechtsprechungstätigkeit legitim, bei der Ermittlung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts den Weg über die wertende Rechtsvergleichung zu vermeiden und vorrangig die EMRK heranzuziehen1101, wobei der EuGH zur Begründung von gemeinschaftsrechtlichen Besonderheiten wie auch im Falle eines Negativattests, so beispielsweise im Bereich der Berufsfreiheit, alternativ auf die mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen zurückgreifen kann1102. bb) Offenes oder geschlossenes System der Rechtserkenntnisquellen Hinsichtlich des normexternen Grundrechtsquellenverhältnisses bleibt klärungsbedürftig, ob die durch Art. 6 Abs. 2 EUV vorgegebene Rechtslage von der praktizierten Systematik des EuGH abweicht, indem die Norm nicht sämtliche Rechtserkenntnisquellen aufzählt, die in der Rechtsprechungspraxis des EuGH herangezogen wurden und noch immer werden1103. In unmittelbarem Zusammenhang hiermit steht die Frage, ob die Vorschrift die in die Grundrechtsherleitung involvierten Quellen abschließend festlegt und insoweit einem Rückgriff auf weitere Quellen entgegensteht. (1) Offene Quellensystematik des EuGH Die Problemstellung basiert zunächst auf der Möglichkeit, dass der Wortlaut der Norm aufgrund der alleinigen Nennung zweier Erkenntnisquellen hinter der Rechtsprechung des EuGH zurückbleibt. Eine solche Inkongruenz zwischen der Rechtsprechung und Art. 6 Abs. 2 EUV wäre aber nicht zu konstatieren, falls auch der Gerichtshof in Wirklichkeit allein auf die beiden genannten Quellen als echte Rechtserkenntnisquellen rekurriert. Diese Annahme könnte eine Stütze in jenen Entscheidungen finden, in denen er zwar partiell auch andere internationale Verträge, die Präambel der EEA oder die Charta der Grundrechte bemühte1104, die Verbindung zu diesen Quellen 1101 In diesem Sinne auch Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 3; weitergehend schon Klein, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 160. 1102 In diesem Sinne wohl auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 43. 1103 Vgl. etwa zur Präambel der EEA EuGH, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn. 149 (Hüls/Kommission) und EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, Rn. 137 (Montecatini/Komission). 1104 Vgl. u. a. EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13 (Nold); EuGH, Rs. 374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 31 (Orkem/Kommission); EuGH, Rs. 27/88, Slg. 1989, 3355 (Solvay); EuGH, Rs. C-199/92 P, Slg. 1999, I-4287, Rn. 149 (Hüls/Kommission); EuGH, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4539, Rn. 137 (Montecatini/Komission); EuG,

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aber zumeist schwächer formulierte als jene zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen1105. Die in der Judikatur bisweilen zusätzlich in Bezug genommenen Quellen könnten demgemäß im Vergleich zu den beiden in Art. 6 Abs. 2 EUV genannten Rechtserkenntnisquellen nur als Hilfsquellen im Sinne hierarchisch nachgeordneter Rechtsressourcen oder gar nur als deklaratorische Flankierungen aktiviert worden sein. In diesem Fall läge eine Abweichung zwischen der Unionsrechtsprechung und der Quellenaufzählung des Art. 6 Abs. 2 EUV nicht vor. Einer solchen Annahme steht zunächst nicht zwingend die Entscheidung in der Rechtssache Grant1106 entgegen, in welcher der Gerichtshof im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung von Mann und Frau ausdrücklich erklärte, der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte1107 gehöre zu den Menschenrechtsverträgen, denen der Gerichtshof bei der Anwendung der allgemeinen Rechtsgrundsätze Rechnung trage1108. Genauer betrachtet ging es dort nämlich nicht um die rechtliche Herleitung jenes Rechts aus dem betreffenden Menschenrechtsabkommen, sondern allein um die Frage der Notwendigkeit einer konkordanten Interpretation des gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbots im Lichte des Geschlechtsbegriffsverständnisses, wie es der nach Art. 28 IPbürgR gebildete Ausschuss für Menschenrechte skizziert hat1109. Insoweit hat der Gerichtshof klar zu verstehen gegeben, dass zwar auch die Anwendung der Gemeinschaftsgrundrechte völkerrechtlichen Einflüssen unterliegen kann, dies aber nicht zu einer Erweiterung des Anwendungsbereichs des EGV über die Kompetenzen der Gemeinschaft hinaus führen könne, zumal den Bekundungen des Menschenrechtsausschusses keine Rechtsverbindlichkeit zukomme1110. Als problematisch erweist sich jedoch, dass es der Rechtsprechung des EuGH in dem hier interessierenden Punkt an einer kohärenten Praxis manverb. Rsn. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering u. a./Kommission). 1105 Vgl. etwa EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft); EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff., 507 f., Rn. 13 (Nold); EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 (Hauer); EuGH, Rs. 63/83, Slg. 1984, 2689, Rn. 22 (Kirk); EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-04921, Rn. 79 (Bosman); EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6719, Rn. 38 f. (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 1106 EuGH, Rs. C-249/96, Slg. 1998, I-621 (Grant). 1107 IPbürgR vom 19. Dezember 1966, BGBl. 1976 II 1068; Sartorius II Nr. 20. 1108 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 44 (Grant). 1109 Nach diesem umfasst der Begriff des Geschlechts auch die sexuelle Orientierung, s. Mitteilung Nr. 488/1992, Toonen/Australien, Feststellungen vom 31. März 1994, 50. Sitzung, Nr. 8.7. 1110 EuGH, a. a. O., Rn. 45 ff. (Grant).

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gelt. Insbesondere die früheren Judikate indizieren noch, dass der Gerichtshof die Qualität der völkerrechtlichen Menschenrechtsabkommen, an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind, als den Verfassungstraditionen gleichwertige Rechtserkenntnisquellen anerkannt hat1111. Wenn er in seinen jüngeren Entscheidungen den einschlägigen internationalen Verträgen überwiegend eine bloß hinweisende Rolle für die Grundrechtsherleitung beimisst1112, ist hierin keine explizite oder konkludente Negation der Erkenntnisquellenqualität zu erblicken, soweit er nach Maßgabe der Hinweis-Formel auch der EMRK nur eine, wenngleich in ihrer praktischen Bedeutung herausgehobene, Indizfunktion zuspricht. Dass er Letztere gegenüber den Verfassungstraditionen ersichtlich nicht als bloße Hilfserkenntnisquelle ansieht, ergibt sich schon aus jenen Entscheidungen, in denen die EMRK die maßgebliche Herleitungsquelle des in casu betroffenen Grundrechts darstellte. Angesichts der semantischen Gleichbehandlung der seitens der Mitgliedstaaten geschlossenen Menschenrechtsabkommen mit der EMRK liegt eine unterschiedliche Bewertung ihrer Rechtsquellenqualitäten durch den EuGH eher fern1113. Eine Bestätigung findet dies auch in der jüngst praktizierten Vorgehensweise des Gerichtshofs, noch vor dem Rekurs auf Art. 6 Abs. 2 EUV die allgemeine prätorische Grundrechtsformel zur Leitfunktion der Verfassungstraditionen sowie der Hinweisfunktion der völkerrechtlichen Menschenrechtsverträge anzuführen, um anschließend hervorzuheben, dass er Letzteren, in dem konkreten Fall dem IPbürgR und der UN-Kinderrechtskonvention, bei der Anwendung der allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts Rechnung trage1114. Eine Rechtsprechungsänderung ist hier auch in Zukunft, vor allem bis zu einem etwaigen Inkrafttreten des EU-Reformwerks1115, nicht zu erwarten, woran die jüngst vollzogene Erweiterung der Union um zunächst zehn und sodann weitere Vgl. EuGH, 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 18 (National Panasonic); EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 13 (Hoechst/Kommission); dahingehend auch EuGH, verb. Rsn. C-297/88 u. C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Rn. 68 (Dzodzi). 1112 Vgl. etwa EuGH, Rs. 71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 (Karner); verb. Rsn. C-387/02, C-391/02 u. C-403/02, Slg. 2005, I-3565, Rn. 67 (Silvio Berlusconi u. a.); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 ff. (Omega). 1113 Vgl. hierzu insbesondere die Entscheidung EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 64 (Aalborg Portland u. a./Kommission), in welcher die EMRK nur als spezielles Beispiel der entsprechenden völkerrechtlichen Verträge genannt wird. 1114 So jüngst in EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 35 ff. (Parlament/ Rat); in den konkretisierenden Ausführungen rekurriert der Gerichtshof sodann nur noch auf die EMRK, das Übereinkommen über die Rechte des Kindes und die Grundrechte-Charta, während die Verfassungstraditionen keine weitere Behandlung erfahren. 1115 Vgl. dazu ausführlich in Teil 3 unter A. IV. 1. 1111

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zwei Mitgliedstaaten aus dem osteuropäischen Raum ebensowenig zu ändern vermag, da auch die neuen Mitgliedstaaten allesamt nicht nur der EMRK, sondern auch den anderen zentralen Völkerrechtsabkommen, insbesondere dem IPbürgR1116 sowie IPwirtR1117 beigetreten sind. (2) Keine Ausschlusswirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV Da der EuGH demnach auch weiterhin internationale Verträge als Rechtserkenntnisquellen einstufen möchte, weicht Art. 6 Abs. 2 EUV in der Tat hinsichtlich seines Quellenverweises von der Rechtsprechungspraxis ab, sofern die normative Aufzählung abschließenden Charakter hat und damit selbst nicht bloß demonstrativer Natur ist. Ausgehend vom Wortlaut der Norm spricht zunächst einiges für eine taxative Enumeration der Rechtserkenntnisquellen. Die insofern in allen Sprachen übereinstimmende Formulierung enthält grammatikalisch keinen Hinweis auf eine bloß beispielhafte Erwähnung der Rechtserkenntnisquellen. Dies wäre aber bei der Redaktion der Vorschrift leicht durch den Zusatz des Wortes „insbesondere“ möglich und in Anwesenheit eines dahingehenden Regelungswillen auch zu erwarten gewesen. Die in diesem Belang einheitliche Satzsemantik und vor allem die Kombination der beiden Adverbien „wie“ mit der nebenordnenden Konjunktion „und“ deuten unter Berücksichtigung des gewöhnlichen Sprachgebrauchs prima facie also auf eine erschöpfende Quellenbezugnahme hin. Betrachtet man ferner den Sinn und Zweck der Norm, der nach hiesiger Ansicht vor allem darin zu sehen ist, dem prätorisch gewachsenen Grundrechtsschutz eine positivgesetzliche Grundlage zu verleihen und dadurch nicht zuletzt Transparenz, Vertrauen und Rechtssicherheit der Unionsbürger in die Tatsache der unionalen Grundrechtsgewährleistung zu erhöhen, ohne zugleich die Rechtsprechungspraxis wesentlich zu modifizieren, so sprechen diese hingegen klar für eine exemplarische Natur der Quellenaufzählung und demgemäß gegen eine normative Konzentrationswirkung. Im umgekehrten Falle wäre nämlich ein Rückgriff auf weitere Quellen in der Stellung von Rechtserkenntnisquellen und vornehmlich auf andere für die Mitgliedstaaten verbindliche völkerrechtliche Verträge gänzlich abgeschnitten und der Dogmatik des EuGH insoweit ein partielles Ende bereitet. Hätte man aber der gesamten Entwicklung der Grundrechtsrechtsprechung bei Abfassung des Normtextes Rechnung tragen wollen, wäre eine derartige Dieser Pakt zählt mittlerweile 153 Vertragsstaaten (Stand: 27. Februar 2007). Der Internationale Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 19. Dezember 1966 (deutsche Fundstelle: BGBl. 1973 II 1570) zählt aktuell 150 Vertragsparteien (Stand: 27. Februar 2007). 1116 1117

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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Formulierung des Art. 6 Abs. 2 EUV aufgrund der widerstreitenden Interessenlager innerhalb der Mitgliedstaaten schwerlich konsensfähig gewesen und jedenfalls in seiner Endfassung weitaus komplizierter, unverständlicher und folglich auch interpretationsbedürftiger geworden. Bedarf in diesem Zusammenhang schon die aktuelle Version des Art. 6 Abs. 2 EUV hinsichtlich ihrer Bedeutung und ihres Inhalts einer genaueren Auslegung, so hätte eine längere und komplexere Fassung in den verschiedenen sprachlichen Übersetzungen um so weniger einen einheitlichen Sinngehalt gewährleisten können und somit nicht zu Transparenz und Rechtssicherheit im Bereich des Grundrechtsschutzes beigetragen, sondern das Gegenteil bewirkt. Verbleiben trotz der normativen Verankerung der Grundrechtsgeltung Unsicherheiten, soweit Inhalt und Tragweite des Grundrechtsschutzes im Einzelnen weiterhin richterrechtlich bestimmt werden müssen, so macht die Nennung der beiden Erkenntnisquellen in Art. 6 Abs. 2 EUV den Grundrechtsschutz zumindest etwas ponderabler und trägt so zu mehr Grundrechtsbewusstsein und -verständnis bei. Dies gilt um so mehr, wenn man die Rechtsfigur der allgemeinen Rechtsgrundsätze als den neuralgischen Punkt der gerichtlichen Rechtswahrung betrachtet, deren Nutzung rasch zu einem Einfallstor politischer Wunschideen der Judikative in das geltende Rechtssystem werden kann1118. Die antizipierte Grobkonturierung der im Übrigen vom EuGH auszufüllenden Rechtsgrundsätze erscheint daher ein geeignetes und sinnvolles Mittel, um jener Gefahr entgegenzuwirken. Unter maßgeblicher Zugrundelegung des Umstands, dass in der Rechtsprechung des EuGH zu allermeist die EMRK und die gemeinsamen Verfassungstraditionen im Vordergrund der Grundrechtshermeneutik stehen und diese also eine alle anderen in Betracht kommenden Quellen weit überragende Rolle einnehmen, wird schließlich auch eine nicht abschließend verstandene Textfassung dem hier vertretenen und bereits beschriebenen telos der Vorschrift gerecht. Im Interesse einer hinreichenden Rückkopplung an die mitgliedstaatlichen Wertemaßstäbe erscheint es angesichts der Bedeutung der EMRK in den Rechtssystemen der Vertragsstaaten1119 auch angebracht, Letztere neben den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen als das wesentliche Substrat der Unionsgrundrechte zu qualifizieren, ohne die weiteren menschenrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, um die auch eine verselbständigte Rechtsgemeinschaft wie die EG nicht umhin kommt, völlig außen vor zu lassen1120. Angesichts der Schutzdichte der beiIn diesem Sinne bereits Lecheler, Der Europäische Gerichtshof und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, S. 41. 1119 Zum normativen Rang der EMRK in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen soeben unter aa) (1) (b). 1120 Zu kurz gerät insofern die Begründung von Wölker, EuR-Beiheft 1/1999, 99, 100 f., der die fehlende Nennung weiterer Quellen in Art. 6 Abs. 2 EUV schon auf1118

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den normativ fixierten Rechtserkenntnisquellen wird unterdessen für einen Rekurs auf anderweitige Grundrechtsquellen de facto vielfach kein Bedürfnis bestehen. (3) Zwischenergebnis Nach alledem sprechen die gewichtigeren Argumente gegen einen abschließenden Charakter der Rechtserkenntnisquellenaufzählung in Art. 6 Abs. 2 EUV. Die Norm bleibt damit zwar grammatikalisch hinter der Dogmatik der Rechtsprechung des EuGH zurück1121, untergräbt diese aber nicht inhaltlich, sondern positiviert gerade deren wichtigste Elemente. Vor diesem Hintergrund büßt die Regelung auch keineswegs an Bedeutung ein. Denn neben der konstitutiven Wirkung der Vorschrift zur allgemeinen Grundrechtsbindung legt sie doch in rechtlich verbindlicher Weise die beiden zentralen Erkenntnisquellen zur inhaltlichen Herleitung der einzelnen Grundrechte fest und ist demzufolge ihrerseits der normative Dreh- und Angelpunkt aller Überlegungen zur Grundrechtsherleitung im Rechtssystem der EU. 3. Überlegungen zu normexternen Grundrechtsquellen Die fehlende Exklusivität des Anspruchs der beiden aufgezählten Quellen auf den Rang der die Grundrechte speisenden Rechtserkenntnisquellen bedeutet zugleich, dass sich im Rahmen der Grundrechtshermeneutik nicht jeglicher Rückgriff auf normexterne Quellen verbietet. Vielmehr können auch internationale Verträge betreffend die Menschen- und Grundrechte, die Rechtsprechung des EGMR und auch die Grundrechte-Charta der EU eine mehr oder minder wichtige Rolle für die einzelne Grundrechtsherleitung spielen. In diesem Zusammenhang bedarf es jedoch einer genaueren Betrachtung des möglichen Geltungsmodus der jeweiligen Grundrechtsressourcen. a) Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union Besondere Bedeutung kommt zunächst der im Auftrag des Europäischen Rats von Köln1122 unter Vorsitz des ehemaligen deutschen Bundespräsidengrund der Aufführung der Europäischen Sozialcharta von 1961 im vierten Erwägungsgrund der Präambel des EUV für unschädlich hält und allein mit diesem Argument einen Rückgriff auf weitere Quellen zulassen möchte. 1121 So wohl auch Walter, in Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1, Rn. 27 und Fn. 64. 1122 Vom 3./4. Juni 1999.

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ten Roman Herzog erarbeiteten und von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission anlässlich des Europäischen Rates von Nizza am 7. Dezember 2000 feierlich proklamierten Charta der Grundrechte1123 zu1124. Diese war aber von Anfang an kontroversen Diskussionen ausgesetzt1125. aa) Zweck und Inhalt im Kurzüberblick Die Charta zielt ausweislich des vierten Erwägungsgrundes ihrer Präambel maßgeblich darauf ab, den Schutz der in der Union geltenden Grundrechte zu stärken, „indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden“. Sie enthält einen insbesondere auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten, die europäischen Sozialchartas1126, die europäische Grundrechtsrechtsprechung und die EMRK zurückzuführenden, in sechs Kapitel unterteilten Katalog von bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechten1127. Damit stellt sie den ehrgeizigen Versuch dar, die traditionellen Freiheits- und Gleichheitsrechte und „moderne“, dem gesellschaftlichen Wandel sowie dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt Rechnung tragende Rechte und Grundsätze in einem Dokument zusammenzufassen1128. Die Charta beginnt in Kapitel I bei der absoluten Garantie der Würde des Menschen (Art. 1 GrCh) und nennt anschließend die in diesem Zusammenhang stehenden Rechte auf Leben (Art. 2 Abs. 1 GrCh) sowie auf körperliche und geistige Unversehrtheit (Art. 3 Abs. 1 GrCh), die durch weitere Bestimmungen zum Verbot der Todesstrafe, Folter und Sklaverei konkreti1123 In der Fassung des Herzog-Konvents u. a. zu finden in EuGRZ 2000, 554 ff.; in der durch den Konvent unter Giscard d’Estaing konsolidierten Fassung zu finden in EuGRZ 2003, 369 ff. sowie im Sartorius II Nr. 146. Grundlage der folgenden Erwägungen soll vornehmlich die konsolidierte Fassung sein, sofern nichts anderes angegeben ist. 1124 Zu den Hintergründen und der Entstehung der Charta ausführlicher Altmaier, ZG 2001, 195 ff.; Hector, in: FS Ress, S. 180 ff.; Hilf, EuR-Beiheft 3/2002, 13 ff.; Pernice, DVBl. 2000, 847 ff.; Weber, NJW 2000, 537 ff. 1125 Dazu allgemein Mayer, RTDE 2003, 175, 181 ff.; s. ferner die Zusammenfassung bei Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 3. 1126 Genauer: die Europäische Sozialcharta von 1961 (Sartorius II Nr. 115) und die Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte von 1989 (Sartorius II Nr. 190). 1127 Einen gemeinschaftseigenen Grundrechtskatalog bereits vor dem Europäischen Parlament anregend Bahlmann, EuR 1982, 1, 16 ff. s. dazu ferner Hilf, EuR 1991, 19 ff. 1128 Vgl. zu den sog. „modernen“ Rechten den Überblick bei Tappert, DRiZ 2000, 204, 205; vgl. auch zu den betreffenden Kontroversen über ihre Aufnahme in die Charta Bernsdorff, VSSR 2001, 1, 2 ff.

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siert werden1129. Nach den darauf folgenden mannigfaltigen Freiheits- (Kapitel II der GrCh) und Gleichheitsrechten (Kapitel III der GrCh) enthält die Charta sodann spezielle, auf dem Grundsatz der Solidarität basierende Rechte (Kapitel IV der GrCh) und exklusiv den Unionsbürgerinnen und -bürgern gewidmete Bürgerrechte (Kapitel V der GrCh). Der Aufzählung justitieller Rechte in Kapitel VI der GrCh folgen schließlich in Kapitel VII die allgemeinen, horizontal für alle Chartarechte geltenden Bestimmungen zu den Grundrechtsadressaten, den Schranken und dem Verhältnis der Charta zu anderen Grundrechtsquellen1130. Indes ist in mehrfacher Hinsicht zweifelhaft, ob der Chartatext vollumfänglich geglückt ist1131. Schon die Wahl der sechs mit den Kapiteln korrelierenden Grundrechtskategorien und die systematische Einordnung einzelner Rechte in dieses Schema wirft Fragen auf1132. Möglicherweise wäre hier eine nähere Orientierung an der Systematik des IPwirtR1133 und des IPbürgR1134 sinnvoller gewesen. Ferner ist in Bezug auf den Chartainhalt kritisch zu betrachten, dass einige der positivierten Rechte in Bereiche vorstoßen, für die der EU bislang keine oder nur periphere Zuständigkeiten zustehen1135 und die folglich aktuell nicht „kompetenzakzessorisch“1136 ausgerichtet sind, sondern eine bloß reservistische1137, obgleich in Anbetracht der potentiellen Entwicklungen der EU zukünftig eventuell rechtserhebliche, Bedeutung haben1138. Die Gefahr, dass sich hier die Wirkung rasch in die Vgl. Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 17. s. zu den Charta-Rechten im Einzelnen Hector, in: FS Ress, S. 180, 193 ff. 1131 Ausführlicher zum Grundrechtsregime unter einer formalverbindlichen Charta in Teil 3 unter A. 1132 Dazu Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 12. 1133 BGBl. 1973 II 1570. 1134 BGBl. 1976 II 1068. 1135 So z. B. Art. 2 Abs. 2 GrCh (Art. II-62 Abs. 2 EV), der das ins Strafrechtsregime zu verortende Verbot der Todesstrafe enthält. Ebenso erscheint die Aufnahme des Art. 14 GrCh (Art. II-74 EV), der ein Recht auf Bildung und dabei nach Abs. 2 auch ein Recht auf unentgeltlichen Zugang zum Pflichtschulunterricht postuliert, fragwürdig. Ähnlich verhält es sich mit Art. 9 GrCh (Art. II-69 EV), der das Recht auf Eheschließung und Familiengründung nennt, dieses aber zugleich (mit Recht) den einschlägigen mitgliedstaatlichen Regeln unterwirft. Mit den Worten von Pernice ermangelt es der Charta also – zumindest derzeit – partiell an einer stringenten „Parallelität von Kompetenzen und Grundrechtsschutz“ (Pernice, DVBl. 2000, 847, 852; insoweit wiederum kritisch Altmaier, ZG 2001, 195, 202 f.; i. S. v. Pernice auch Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 24). 1136 Dazu Losch/Radau, ZRP 2000, 84, 87. 1137 Ähnlich Altmaier, ZG 2001, 195, 203, der hier von „Vorratsgrundrechten“ spricht. 1138 Im Hinblick auf den offenen Integrationsprozess erscheint diese teils abstrakt zukunftsgerichtete, teils konkret antizipatorische Ausrichtung der Charta ihre Be1129 1130

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vom ursprünglich Bezweckten entgegengesetzte Richtung verkehren kann, wenn dem Einzelnen Rechte zu seinen Gunsten visualisiert werden, die so in der Rechtsordnung (noch) nicht zu gewährleisten sind, liegt auf der Hand. Überdies enthält die Charta nicht nur echte Grundrechte, sondern trotz ihrer allgemeinen Obertitulierung in manchen Bereichen wie insbesondere denen des Umwelt- und Verbraucherschutzes auch bloße Zielbestimmungen, die keine echte subjektiv-rechtliche, sondern vornehmlich eine objektiv-rechtliche Dimension aufweisen1139. Einer besonderen Kritik bedarf zudem, dass die Charta keine Regelung zur allgemeinen Handlungsfreiheit enthält, obwohl diese auch in der Rechtsprechung des EuGH bereits ausdrücklich anerkannt worden ist1140. In diesem Zusammenhang kommt auch nicht in Betracht, das in Art. 6 GrCh verbriefte „Recht auf Freiheit“ in einem weiten Sinn auszulegen, da dem die in der Vorschrift begründete grammatikalischsystematische Verknüpfung mit dem Recht „auf Sicherheit“ und folglich die nachweislich gewollte1141 und gemäß Art. 52 Abs. 3 GrCh zu berücksichtigende Anlehnung an den Schutzgehalt des Art. 5 EMRK entgegensteht, der seinerseits nicht auf eine weit gefächerte Gewähr der Freiheit jeder Form menschlichen Handelns abzielt, sondern speziell vor grundrechtsfeindlicher Entziehung der physischen Freiheit schützen soll1142. Die Bedeutung des Art. 6 GrCh konzentriert sich damit auf den Bereich der PJZS und anderer sanktionärer Hoheitsmaßnahmen. Noch weniger kann im Übrigen die in Art. 1 GrCh festgehaltene Würde des Menschen als rechtliche Basis des subsidiären Grundrechts der allgemeinen Handlungsfreiheit herhalten1143. Insorechtigung zu haben, zumal schon heute etwa auf dem Gebiet der Strafgesetzgebung gewisse Kompetenzen der EU respektive der EG bestehen und entsprechende gesetzgeberische Aktivitäten zu konstatieren sind [so z. B. die Kompetenz der Gemeinschaft, nach Art. 280 Abs. 4 EGV zum Schutz der finanziellen Interessen der Gemeinschaft Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Betrügereien zu beschließen (vgl. dazu näher Fromm, Der strafrechtliche Schutz der Finanzinteressen der EG, S. 107 ff.), oder auch die Möglichkeit der EU, gem. Art. 29 Abs. 2, 3. SpStr., Art. 31 lit. e EUV „schrittweise Maßnahmen zur Festlegung von Mindestvorschriften über die Tatbestandsmerkmale strafbarer Handlungen und die Strafen in den Bereichen organisierte Kriminalität, Terrorismus und illegaler Drogenhandel“ vorzunehmen; zur Kritik an entsprechenden Strafgesetzgebungskompetenzen insbesondere Schünemann, GA 2002, 501, 502 ff. m.w. N.; ferner Dannecker, Strafrecht in der Europäischen Gemeinschaft, S. 34 ff.]. 1139 Vgl. dazu Calliess, EuZW 2001, 261, 265. 1140 Vgl. schon EuGH, verb. Rsn. 133/85, 134/85 u. 136/85, Slg. 1987, 2289, Rn. 15 (Rau u. a./BALM). 1141 s. hierzu auch die aktualisierten Erläuterungen des Konvent-Präsidiums zu Art 6 GrCh, CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/429. 1142 Vgl. Grabenwarter, § 21, Rn. 1 f.; ferner Meyer, in: Pettiti/Decaux/Lambert, CEDH, Art. 5 § 1, S. 189,190 f.; Renzikowski, in: Karl, EMRK, Art. 5 EMRK (Juli 2004), Rn. 15. 1143 In diesem Sinne auch Schmitz, EuR 2004, 691, 708.

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weit erfüllt die Charta nicht vollumfänglich die an ein Grundrechtsdokument gestellte Erwartung, in den Grenzen der Systemspezifik einen möglichst umfassenden Schutzgehalt aufzuweisen. Insgesamt kann mit den betreffenden strukturellen und inhaltlichen Schwächen der Charta eine sensible Einbuße ihres praktischen wie symbolischen Werts einhergehen. bb) Rechtliche Bindungswirkung der Charta Es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass die Charta ungeachtet des in einer Katalogisierung der Unionsgrundrechte zu sehenden Wertes formal zunächst keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit beanspruchen kann1144. Ohne die vorläufige Beschränkung auf eine feierliche Chartaproklamierung wäre es mit Blick auf den Auftrag des Europäischen Rates von Köln wohl auch nicht oder jedenfalls nicht in der bemerkenswert kurzen Zeitspanne zur Abfassung eines konsensfähigen Textes gekommen1145. Unbeschadet dessen sind aber unterschiedliche Begründungsansätze denkbar, um der Charta eine mehr oder weniger starke rechtliche oder faktische Bindungswirkung oder zumindest eine praktische Relevanz im geltenden Grundrechtsquellensystem beizumessen. (1) Selbstbindung einzelner EU-Organe Keine wesentlichen Bedenken bereitet insofern zunächst, der Charta über ihre politische Bedeutung hinaus im Wege einer Selbstbindung der EU-Organe eine zumindest institutionsinterne Rechtserheblichkeit zuzusprechen. So beinhalten die anlässlich ihrer Proklamation abgegebenen Erklärungen des Rats, der Kommission sowie des Europäischen Parlaments unbestritten, teils explizit1146, teils konkludent1147, die Bekundung zur Beachtung der 1144 Vgl. etwa Altmaier, ZG 2001, 195, 205; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 17; Schmitz, JZ 2001, 833, 835. Anderes gilt freilich, wenn der Vertrag von Lissabon in Kraft treten wird, durch den Art. 6 Abs. 1 EUV (n. F.) die Charta direkt in Bezug nehmen wird. 1145 In diesem Sinne auch Hilf, EuR-Beiheft 3/2002, 13, 24. Zu maßnahmespezifischen Selbstbindungen im sekundärrechtlichen Bereich sogleich unter (3) (f). 1146 s. etwa die Ausführungen von Romano Prodi, Präsident der Kommission von 1999 bis 2004, anlässlich der Verkündung der Charta am 7. Dezember 2000: „For the Commission, this proclamation constitutes an undertaking by the institutions to abide by the Charter in all the Union’s actions and policie“ (EC press release Ref.Nr. IP/00/1423). 1147 s. etwa den folgenden Auszug aus der Rede von Frau Nicole Fontaine, Präsidentin des Europäischen Parlaments von 1999 bis 2002, anlässlich der Verkündung der Charta am 7. Dezember 2000: „I can tell you that the Charter will be the law which governs the Assembly’s work, and this was the idea I was seeking to put

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Chartabestimmungen im Rahmen der jeweiligen Kompetenzausübungen. Jedenfalls die Erklärungen der Kommission und des Europäischen Parlaments konstituieren damit eine nach außen erklärte Selbstbindung1148. Indes darf nicht übersehen werden, dass diese Erklärungen eine echte Außenrechtsverbindlichkeit der Charta nicht zu begründen vermögen1149. (2) Bezugnahmen und Hinweise auf die Charta in der Praxis Dass die Charta über diese Selbstbindung hinaus für die Herleitung und die Bestimmung des Schutzgehalts der Unionsgrundrechte von Bedeutung sein kann, zeigen im Besonderen die zahlreichen praktischen Rekurse unterschiedlichster Herkunft. Besonders häufig und bereits in zeitnahem Verhältnis zur Chartaproklamation finden sich in den Schlussanträgen der Generalanwälte Verweise mannigfaltiger Qualität und Reichweite1150. Während einige Generalanwälte es dabei belassen, die Charta bloß zur Unterstreichung anderweitig hergeleiteter Grundrechte bzw. derer Bedeutung heranzuziehen1151, greifen andere auch direkt auf einzelne ihrer Bestimmungen zurück, ohne näher auf die across when signing the Charter today“ [Die Rede ist abrufbar unter www.europarl. eu.int/summits/nice-pres_en.htm (letzter Besuch: 28. Januar 2007)]. 1148 In diesem Sinne auch Hilf, EuR-Beiheft 3/2002, 13, 24; ähnlich schon ders., Die Grundrechtscharta im Rechtsgefüge der Union – Nizza und die Zukunftsperspektive, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 15, 20. Den entsprechenden Äußerungen des damaligen Präsidenten des Europäischen Rates, Jacques Chirac, ist eine Selbstbindungswirkung seitens des Rates hingegen wohl abzusprechen (dazu und allgemein näher zum Thema Alber, EuGRZ 2001, 349, 350 ff.). 1149 Zu weit dürfte in Anbetracht der grundsätzlichen Zulässigkeit organinterner Selbstbindungen jedoch gehen, die Erklärungen als „emphatische Organerklärungen“ zu charakterisieren; so aber Suerbaum, EuR 2003, 390, 401. 1150 Erstmals GA Alber, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-340/99, Slg. 2001, I-4109, Rn. 94 (TNT-Traco). 1151 s. dazu die folgenden Schlussanträge: GA Alber zu EuGH, Rs. C-340/99, Slg. 2001, I-4109, Rn. 94 (TNT-Traco), nach welchem die Charta die Bedeutung bestimmter grundlegender Werturteile des Gemeinschaftsrecht unterstreiche; GA Colomer zu EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2001, I-4109, Rn. 59 (Überseering), der in den Chartabstimmungen die Wiedergabe der rechtlichen Grundwerte der Mitgliedstaaten sieht, welche ihrerseits Basis der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätze seien; vgl. auch GA Geelhoed zu EuGH, Rs. C-224/98, Slg. 2002, I-6191, Rn. 28, Fn. 18 (D’Hoop/Office national de l’emploi) und ferner GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 39 (Unión de Pequeños Agricultores/ Rat), welcher auf die Charta nur peripher und insbesondere unter ausdrücklichem Hinweis auf die fehlende rechtliche Bindung Bezug nimmt; ebenso ders., Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-270/99 P, Slg. 2001, I-9197, Rn. 40 (Z/Europäische Parlament).

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

Frage einzugehen, ob bzw. mit welcher Begründung die Charta dadurch zu einer eigenständigen Ressource im Geflecht der unionalen Grundrechtsquellen aufgewertet werden darf1152. Besonders weit gehen hierbei die Ausführungen der Generalanwältin Kokott, welche die Charta ausdrücklich als „Rechtserkenntnisquelle“ bezeichnet und sich zur Begründung auf die Schlussanträge anderer Generalanwälte stützen möchte1153. So unterschiedlich die dargestellten Bezugnahmen der Generalanwälte sind, so uneinheitlich erweisen sich auch jene des EuG. Auch das Gericht erster Instanz hat zunächst nicht lange gezögert, die Charta in seine Rechtsprechung einzubeziehen1154. Einen klaren und einheitlichen Standpunkt s. insbesondere die Schlussanträge des Generalanwalts Tizzano zu EuGH, Rs. C-173/99, Slg. 2001, I-4881, Rn. 26 (BECTU), der zwar das Fehlen einer eigenständigen Bindungswirkung der Charta in rein formaler Hinsicht einräumt, der jedoch zugleich (in Rn. 28 der Schlussanträge) betont, dass „in proceedings concerned with the nature and the scope of a fundamental right, the relevant statements of the Charter cannot be ignored; in particular, we cannot ignore its clear purpose of serving, where its provisions so allow, as a substantive point of reference for all those involved – Member States, institutions, natural and legal persons – in the Community context.“; ähnlich GA Léger zu EuGH, Rs. C-353/99, Slg. 2001, I-9565, Rn. 74 (Rat/Hautala); s. zudem GA Alber, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-63/01, Slg. 2003, I-4447, Rn. 80–86 und 97 f. (Evans), welcher der Charta zwar eine unmittelbare Bindungswirkung abspricht, ihren Regelungsgehalt aber in der Funktion eines Vergleichsmaßstabs heranziehen möchte, soweit er allgemein anerkannte Rechtsgrundsätze anspreche; s. aus jüngerer Zeit auch GA Colomer zu EuGH, Rs. C-207/04, Slg. 2005, I-7453, Rn. 27 (Paolo Vergani/Agenzia Entrate Ufficio Arona), der zum einen die Auseinandersetzung um die Rechtsnatur der Charta als polemisch bezeichnet, dieser zum anderen aber selbst ohne eigene sachliche Argumentation größere Bedeutung und besonderen Einfluss zuspricht. s. zu weiteren Verweisen auf die Charta ohne nähere Problematisierung ihrer Rechtsnatur: zu Art. 17 GrCh bei der Bestimmung des sachlichen Schutzbereichs des Eigentumsrechts in Bezug auf „geistiges Eigentum“ GA Jacobs zu EuGH, Rs. C-347/03, Slg. 2005, I-3785, Rn. 91–106 (Regione Autonoma Friuli-Venezia Giulia und ERSA), zur Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit nach Art. II-105 EV i. V. m. der Unantastbarkeit des Wesensgehalts der Grundrechte gem. Art. II-112 EV (zitiert nach der Verfassungs-Nomenklatur) GA Geelhoed zu EuGH, Rs. C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Rn. 32 (Bidar), zu Art. 15 i. V. m. Art. 21 GrCh GA Maduro zu EuGH, Rs. C-160/03, Slg. 2005, I-2077, Rn. 49, Fn. 67 (Spanien/Eurojust). 1153 s. aus jüngerer Zeit die Schlussanträge der GÄin Kokott zu EuGH, Rs. C-113/04 P, Slg. 2006, I-8831, Rn. 98, Fn. 58 (Technische Unie/Kommission); ebenso schon dies. in ihren Schlussanträgen zu EuGH, verb. Rsn. C-387/02, C-391/02 u. C-403/02, Slg. 2005, I-3565, Rn. 109, Fn. 83 (Silvio Berlusconi u. a.); überdies ohne weiteres Art. 7 der Charta zitierend dies. in den Schlussanträgen zu EuGH, Rs. C-503/03, Slg. 2006, I-1097, Rn. 42, Fn. 20 (Kommission/Königreich Spanien); ähnlich dies. in ihren Schlussanträgen zu EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 41, 57 u. 66 (Pupino). 1154 So erstmals bei EuG, Rs. T-54/99, Slg. 2002, II-313, Rn. 48 u. 57 (max. mobil Telekommunikationsservice GmbH), wonach die Charta gemeinsame rechtsstaat1152

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zu Bedeutung und Bindungswirkung der Charta lässt es unterdessen – bislang – vermissen. Hatte es nämlich anfänglich zwar nicht allein, aber doch unmittelbar und ohne nähere dogmatische Ausführungen auf einzelne Bestimmungen der Charta zurückgegriffen1155, so zeigte das Gericht in späteren Entscheidungen deutlich, dass es sich einer fehlenden rechtlichen Bindung der Charta durchaus bewusst ist und diese – bis auf weiteres – nur im Zusammenhang mit anderen Rechtsquellen und damit wohl nur zur Flankierung der Bedeutung des in Frage stehenden Rechts aktivieren möchte1156. Trotz dieser Bekundungen zur Rechtsnatur der Charta scheut sich das Gericht in manchen seiner jüngeren Entscheidungen überraschenderweise nicht, einzelne Gewährleistungen der Charta selbst und unmittelbar als Prüfungsmaßstab für die jeweils angegriffene Maßnahme heranzuziehen1157. Auf der anderen Seite finden sich vereinzelt ebenso junge Entscheidungen, in denen das EuG das in casu interessierende Grundrecht gerade nicht aus den vom vorlegenden Gericht oder im Parteivortrag ausdrücklich angeführten Bestimmungen der Grundrechte-Charta herleitet1158. Des Weiteren finden sich auch auf Seiten des nach Art. 195 EGV beim Europäischen Parlament eingerichteten Bürgerbeauftragten mehrfache Rückliche Grundsätze (konkret das Recht auf eine gerichtliche Kontrolle) bekräftige bzw. bestätige. Kurz zuvor, jedoch bereits nach der Chartaproklamation hat das EuG eine Stellungnahme zur Bedeutung der Charta ratione temporis noch abgelehnt, da die im Fall angegriffene Maßnahme vor dem 7. Dezember 2000 ergangen war [vgl. EuG, Rs. T-112/98, Slg. 2001, II-729, Rn. 76 (Mannesmannröhren-Werke AG)]. s. auch die Entscheidung des EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365, Rn. 42 (JégoQuéré/Kommission), wonach die Charta das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf unterstreiche. 1155 So hat das EuG in der Rechtssache Jégo-Quéré das Individualrechtsschutzsystem des Gemeinschaftsvertrags auch „im Licht (. . .) des Art. 47 der Charta der Grundrechte“ beurteilt [s. EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365, Rn. 47 (JégoQuéré/Kommission)]. 1156 s. zum Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf EuG, verb. Rsn. T-377/00, T-379/00, T-380/00, T-260/01 u. T-272/01, Slg. 2003, II-1, Rn. 122 (Philip Morris International, Inc. u. a.); zur Unschuldsvermutung EuG, verb. Rsn. T-67/00, T-68/00, T-71/00 und T-78/00, Slg. 2004, II-2501, Rn. 178 (JFE Engineering Corp. u. a.); zum Grundsatz der guten Verwaltung EuG, Rs. T-242/02, Slg. 2005, II-2793, Rn. 51 (The Sunrider Corp./Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt). 1157 s. zum Grundsatz „ne bis in idem“ EuG, verb. Rsn. T-236/01, T-239/01, T-244/01 bis T-246/01, T-251/01 und T-252/01, Slg. 2004, II-1181, Rn. 137 (Tokai Carbon u. a./Kommission); zum Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens EuG, T-165/03, Slg. 2004, FP-IA-343, II-1575, Rn. 56 (Vonier/Kommission). 1158 s. etwa EuG, verb. Rsn. T-22/02 u. T-23/02, Slg. 2005, II-4065, Rn. 68 f., 103 und 104 (Sumitomo Chemical Co. Ltd. u. a.); s. insoweit auch EuG, Rs. T-2/03, Slg. 2005, II-1121, Rn. 47 u. 65 ff. (Verein für Konsumenteninformation/Kommission).

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

griffe auf die Charta1159. Wie aus Teilen der Literatur erwartet1160, haben überdies einige mitgliedstaatliche Gerichte, so etwa das deutsche BVerfG1161, das deutsche BVerwG1162, der österreichische Verfassungsgerichtshof1163 und das spanische Verfassungsgericht1164, explizit auf die Bestimmungen der Charta Bezug genommen. Von besonderem Interesse ist in diesem Kontext zudem, dass auch der EGMR inhaltsverwandte Bestimmungen der Charta bei der Anwendung und Auslegung der EMRK herangezogen hat1165. Ein solch systemexterner Einfluss der Charta der Grundrechte auf die Auslegung der Garantien der EMRK vermag mit besonderem Hinblick auf die Auslegungsregel des Art. 52 Abs. 3 der Charta zwar zunächst überraschen, da nach dieser just entgegengesetzt alle der EMRK entsprechenden Chartarechte nach Maßgabe der Konvention auszulegen sind1166. Der umgekehrte Transfer materieller Aussagen einzelner Chartas. etwa schon Ombudsmann Söderman, Decision of the European Ombudsman on complaint 995/98/OV against the European Commission, 30. Januar 2001, letzter Absatz der Schlussbemerkungen; Ombudsmann Diamandouros, Decision of the European Ombudsman on complaint 845/2002/IJH against the European Commission, 08.07.2003, Punkt 1.4; ders., Decision of the European Ombudsman on complaint 1438/2004/GG against the European Anti-Fraud Office, 7. Dezember 2004, Punkt 1.2; ders., Decision of the European Ombudsman on complaint 237/2004/JMA against the Council of the European Union, 10. März 2005, Punkt 2.3. 1160 So etwa Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 11. 1161 s. etwa zu Art. 51 GrCh die Erwähnung bei BVerfG, 2 BvB 1/01, 2 BvB 2/01, 2 BvB 3/01 vom 22. November 2001 Absatz-Nr. 19 (Aussetzungsantrag der NPD), www.bverfg.de. 1162 Vgl. etwa jüngst unter Bezugnahme auf den in Art. 17 der Charta genannten Eigentumsschutz BVerwG, DVBl. 2005, 1383, 1386. Auch in unterinstanzlichen Gerichtsurteilen finden sich Verweisungen auf die Charta, vgl. etwa VG Lüneburg NJW 2001, 767, 769; VG Frankfurt NJW 2001, 1295, 1296. 1163 Dieser verweist ebenfalls auf Art. 8 GrCh, so bei VfGH, KR 1/00 u. a., Vorlagebeschluss vom 12.12.2000 Punkt III. 2. a) und b) der Begründung; vgl. aber auch den ausdrücklichen Hinweis auf die fehlende Verbindlichkeit der Charta in VfGH, A2/01 u. a., Erkenntnis vom 12. Dezember 2003. 1164 Vgl. neben anderen internationalen Texten und noch vor der Proklamation auf Art. 8 GrCh hinweisend das Tribunal Constitucional (Plenum), Ref.Nrn. 290/2000 u. 292/2000, Urteile vom 30.11.2000 Punkt II. 8. 1165 s. zunächst zu Art. 37 der Charta das separate Votum des Richters am EGMR Costa zur Beschw. Nr. 36022/97, Urt. v. 2. Oktober 2001 (Hatton/UK); s. insbesondere zum grammatikalischen Vergleich zwischen Art. 12 der EMRK und Art. 9 der Charta EGMR, Urt. v. 11. Juli 2002 (Große Kammer), Beschw. Nr. 25680/94, § 80 a. E. (I/GB) und EGMR, Urt. v. 11. Juli 2002 (Große Kammer), Beschw. Nr. 28957/95, § 100 a. E. (Godwin/GB); s. auch in Bezug auf den Grundsatz „ne bis in idem“ den zusätzlichen Hinweis auf Art. 50 GrCh im Rahmen der Zitierung des entscheidungsrelevanten „Law“ EGMR, Entsch. v. 3. Oktober 2002, Beschw. Nr. 48154/99 (Zigarella/I). 1166 Zum Verhältnis zwischen der Charta und dem (fort)geltenden Grundrechtsregime ausführlich in Teil 3 unter A. II. 1159

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bestimmungen auf Geschwisterregelungen der EMRK erscheint aber insbesondere dann zulässig, wenn die jeweils in Frage stehende Konventionsbestimmung aufgrund einer partiellen Unbestimmtheit des Wortlauts und des allgemeinen Konventionscharakters als „living instrument“ einer dynamischen, den neuen gesellschaftlichen Bedingungen angepassten sowie am aktualisierten gewöhnlichen Sprachgebrauch ausgerichteten Auslegung bedarf1167 und die inhaltlichen Aussagen der jeweiligen Chartabestimmung mit Blick auf die Strukturen und Ziele der EMRK übertragbar erscheinen. Unbeschadet solcher Bezugnahmen sei jedoch klargestellt, dass sich der EGMR der fehlenden formellen Bindungswirkung der Charta vollends bewusst ist1168. (3) Wertende Darstellung der rechtsdogmatischen Ansätze zur Begründung einer Bindungswirkung der Charta Nicht zuletzt inspiriert von diesen vielen und inhaltlich facettenreichen Rekursen und Hinweisen werden unterschiedlichste und sich partiell auch überschneidende Ansätze zur Begründung einer mehr oder minder ausgeprägten rechtlichen Wirkung der Charta verfolgt. (a) „Rechtliche Wirksamkeit“ der zu Art. 6 Abs. 2 EUV kongruenten Teile Zunächst wird die Ansicht vertreten, es bestehe bereits eine echte rechtliche Wirksamkeit der Charta, soweit diese sich materiell mit dem nach Art. 6 Abs. 2 EUV garantieren Grundrechtsschutz decke1169. Sofern dieser Ansatz einer wahrhaften Rechtsverbindlichkeit der Charta das Wort sprechen möchte, kann ihm aber nicht gefolgt werden. Ungeachtet der praktischen Probleme bei der Bestimmung der betreffenden Schnittmenge übergeht er letztlich, dass die äußere Wirksamkeit einer geschriebenen Rechtsquelle nach dem Willen des jeweiligen Normgebers erst mit Vollziehung aller für das formelle Inkrafttreten nötigen Schritte bis hin zur förmlichen Bekanntmachung eintreten soll. Die Grundrechte-Charta ist aber zunächst 1167 In diesem Sinne für den Bereich des reproduktiven Klonens und des Rechts auf Leben nach Art. 2 EMRK im Zusammenhang mit Art. 3 GrCh das abweichende Votum des Richters am EGMR Ress zur Beschw. Nr. 53924/00, Urt. v. 8. Juli 2004, §§ 5 u. 9 (VO/F.). 1168 s. insbesondere EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 80 (Bosphorus/Ireland): „. . . not fully binding . . .“. Die Formulierung stützt aber zugleich die Vermutung, dass der EGMR von einer gewissen rechtlichen Relevanz der Charta ausgeht. 1169 So Beutler, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 104.

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ganz bewusst nur feierlich proklamiert worden, um die Klärung der Fragen zum Eintritt und zu den Modalitäten ihrer zukünftigen Formalverbindlichkeit weiteren Entwicklungsschritten vorzubehalten. Der Charta selbst oder einzelner ihrer Teile kann daher schwerlich schon vorher eine direkte „außenrechtliche Wirksamkeit“ zuteil werden. (b) Die Charta als Bestandteil des Rechts im Sinne des Art. 220 EGV Mit Bedenken ist auch die zwischenzeitlich von Generalanwalt Alber und dem Richter beim deutschen BVerwG Widmaier verlautbarte Aussage behaftet, der Gerichtshof dürfe die Grundrechte-Charta im Rahmen seines Auftrags zur Wahrung des Rechts im Sinne des Art. 220 EGV auch ohne eine vorhergehende Vertragsänderung berücksichtigen1170. Dieser Ansatz geht zu Unrecht davon aus, dass die Charta schon heute zu dem vom EuGH zu sichernden „Recht“ der Gemeinschaft gemäß Art. 220 EGV gezählt werden kann. In Betracht käme dies derzeit allenfalls, wenn die Charta am „acquis communautaire“ im Sinne des Art. 2 Abs. 1, 5. SpStr., Art. 3 Abs. 1 EUV teilnähme1171. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Begriff des gemeinschaftlichen Besitzstandes in einem weiten Sinne zu verstehen ist1172, der 1170 Dahingehend Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497, 510. Wie sich indes andernorts andeutet, meinen die Autoren hierbei nicht zwingend eine echte Rechtsverbindlichkeit der Charta, sondern wollen diese möglicherweise nur als hintergründige Orientierungshilfe bemüht wissen (so zumindest die Tendenz bei Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497, 500). 1171 In diesem Sinne wohl auch Hilf, EuR-Beiheft 3/2002, 13, 25, der seinen Ausführungen dabei ein weites Verständnis vom Begriff des gemeinschaftlichen Besitzstandes zugrunde legt. Irritierend und zweifelhaft erscheint in diesem Zusammenhang aber seine Bemerkung, die Charta werde als Teil des „acquis“ für die beitretenden Mitgliedstaaten Geltung beanspruchen. Die Geltung der Charta ist nämlich nur schwerlich von ihrem formellen Inkrafttreten loszulösen. 1172 Für ein weites Begriffsverständnis etwa Klein/Zacker, in: HK-EUV/EGV, Art C, Rn. 21; enger, nämlich unter Ausschluss der allgemeinen Rechtsgrundsätze Müller-Graff, integration, 1993, 147, 149; noch enger, namentlich nur die Grundzüge der Gemeinschaftsverfassung dazu zählend Heintzen, EuR 1994, 35, 47; besonders weitgehend und auch die Rechtsakte und Maßnahmen im Bereich des intergouvernementalen Unionsrechts einbeziehend Ress, Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 187; ähnlich weit Booß, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 49 EUV, Rn. 4. Ob der Begriff des „acquis“ derartig weit gehen kann, unterliegt zwar schon begrifflichen Zweifeln, da der Besitzstand gerade ein „gemeinschaftlicher“ und kein „unionaler“ sein soll. Andererseits findet sich der Begriff jedoch just in den Art. 2 Abs. 1, SpStr. 5 und Art. 3 Abs. 1 EUV im unionalen Primärrecht wieder und ist damit wohl nicht auf den supranationalen Rechtsbereich beschränkt.

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über das geschriebene und ungeschriebene primäre und sekundäre Gemeinschaftsrecht sowie die von den Gemeinschaften mit anderen Staaten oder Staatenbünden bzw. von den Mitgliedstaaten auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts geschlossenen Verträge und Abkommen hinausgeht und auch rechtlich unverbindliche Maßnahmen umfasst, mithin nicht nur die in Art. 249 Abs. 5 EGV genannten unverbindlichen Stellungnahmen, sondern auch die dort gerade nicht geregelten, aber allgemein anerkannten und ebenfalls grundsätzlich unverbindlichen Erklärungen und Entschließungen der Organe oder Mitgliedstaaten. Für ein solch weites Verständnis des gemeinschaftlichen „acquis“ spricht zwar neben dem undifferenzierten Wortlaut der Art. 2 Abs. 1, 5. SpStr., Art. 3 Abs. 1 EUV auch das Fehlen einer der Regelung des Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EUV1173 entsprechenden Klarstellung im systematischen Kontext der Art. 249 EGV, Art. 2 Abs. 1 SpStr. 5 und Art. 3 Abs. 1 EUV. Des Weiteren stehen jene unverbindlichen, politische Bestrebungen verbriefenden Erklärungen und Entschließungen materiell den politischen Zielsetzungen des Primärrechts nahe, die ihrerseits als wesentlicher Bestandteil des Primärrechts zum gemeinschaftlichen Besitzstand zu zählen sind. Auf der anderen Seite muss der Begriff indes auch in seinem teleologischen Kontext gesehen werden. Die in Art. 2 Abs. 1 SpStr. 5 und Art. 3 Abs. 1 EUV aufgenommene Forderung nach der Wahrung und Weiterentwicklung des acquis dient aber primär der Vorbeugung einer etwaig drohenden Unterminierung des gemeinschaftsrechtlichen Systems durch die Ausweitung der auf den Gebieten der GASP und PJZS vorgesehenen Methode der intergouvernementalen Zusammenarbeit1174. Dieses Ziel schöpft seinen Sinn folglich maßgeblich aus dem Wert des Schutzobjekts, namentlich der bisherigen Errungenschaften des Gemeinschaftsrechts. Während die gemeinschaftsrechtlichen Rechte und Pflichten der Mitgliedstaaten wie der Organe offenkundig dieses Umgehungsschutzes bedürfen, erscheinen rechtlich unverbindliche und ohne Einhaltung eines besonders geregelten Verfahrens veränderbare Maßnahmen nicht in diesem Maße bestandsschutzwürdig. Sie gleichwohl zum „acquis“ zu zählen, ist dem Sinn und Zweck der betreffenden Regelungen demnach nicht zwangsweise geschuldet. Spezielle Bedenken gegen die betreffende Einreihung der Charta beschert überdies die teilweise Aufnahme neuer Grundsätze und Grundrechte, die bis dato nicht Bestandteil der Rechtsprechung waren und hinsichtlich ihrer teils kompetenzfremden Inhalte auch keine fließende Fortentwicklung des acquis sind. 1173 Nach Art. 44 Abs. 1 UAbs. 2 EUV sollen alle im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit ergangenen Rechtsakte ausdrücklich nicht zum gemeinschaftlichen Besitzstand gehören. 1174 Dazu bereits Jacqué in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. B EUV, Rn. 6.

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Letztlich kann hier aber dahinstehen, zu welchem Ergebnis eine genaue Inhaltsbestimmung des Begriffs vom gemeinschaftlichen Besitzstand und eine nachfolgende Subsumtion der Charta unter diesen käme, da auch ein weit verstandener Begriff jedenfalls nicht völlig mit dem des Rechts nach Art. 220 EGV übereinstimmt. Ungeachtet der Frage, ob die im hier diskutierten Ansatz angesprochene „Berücksichtigung“ der Charta tatsächlich synonym für ihre rechtliche – unmittelbare oder mittelbare – Bindungswirkung stehen soll1175, ist diese nicht zwingend allein aufgrund ihrer möglichen Teilnahme am acquis auch Bestandteil des durch den Gerichtshof zu sichernden Rechts. Denn unbeschadet der Bekundungen der Präambel der Charta erscheint es nicht ohne weiteres möglich, von der Existenz eines in ihr genannten Grundrechts auf seine rechtsgrundsätzliche Herkunft und damit auf seine Zugehörigkeit zum „Recht“ zu schließen. Während die allgemeinen Rechtsgrundsätze selbst ein wesentlicher Teil des grundlegenden Besitzstands des Gemeinschaftsrechts1176 und somit auch des Rechts im Sinne des Art. 220 EGV sind, trifft dies auf die Chartabestimmungen mit maßgeblichem Blick auf ihre fehlende formale Bindungswirkung noch nicht zu. Die gegenteilige Annahme verstieße ganz offenkundig gegen den Konsens der Mitgliedstaaten über die – vorläufige – Nichtverbindlichkeit des Grundrechtskatalogs. Diese mitgliedstaatliche Übereinkunft bildet die wesentliche Geschäftsgrundlage der Schaffung der Charta und darf nicht übergangen werden. Auch der EuGH vertritt in diesem Belang eine konsequente Linie und wird sich – jedenfalls im primärrechtlichen Kontext – bis zu einer rechtserheblichen Willensbekundung der Gesamtheit der Mitgliedstaaten wohl auch weiterhin der Berücksichtigung der Charta entziehen. Die derzeitige Stagnation des Reformprozesses dürfte den Gerichtshof ebenso wenig zu einer Kehrtwende, sondern im Gegenteil zum weiteren Stillhalten veranlassen. Nach alledem erscheint es verfehlt, die Charta schon heute als Bestandteil des Rechts im Sinne des Art. 220 EGV zu verstehen. (c) Die Charta als echte Rechtserkenntnisquelle Nicht haltbar dürfte auch die bereits erwähnte und vornehmlich von Generalanwältin Kokott geäußerte Meinung sein, die Charta stelle ihrerseits eine eigene Rechtserkenntnisquelle der Gemeinschaftsgrundrechte dar1177. 1175 Unklarheiten resultieren etwa aus den nicht vollends kohärenten Erklärungen bei Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497, 500 und 510 (s. o. Fn. 1146). 1176 In diesem Sinne EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079, Rn. 41; ausführlicher zum Ganzen bereits Pescatore, RTDE 1981, 617 ff. 1177 So die Schlussanträge der GÄin Kokott zu EuGH, verb. Rsn. C-387/02, C-391/02 u. C-403/02, Slg. 2005, Slg. 2005, I-3565, Rn. 109, Fn. 83 (Silvio Berlusconi u. a.); ähnlich und ohne nähere Begründung Jarass, EU-Grundrechte, § 2,

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Angesichts der fehlenden formellen Rechtsverbindlichkeit und in Ermangelung einer – theoretisch möglichen – Aufnahme der Grundrechte-Charta in Art. 6 Abs. 2 EUV hat diese Annahme wenig Substanz1178. Der Ansatz bleibt im Übrigen eine nähere und plausible Begründung schuldig, mit der sich eine Gleichstellung der noch nicht in Kraft getretenen Charta insbesondere mit der EMRK und den Verfassungstraditionen als normativ ausgewiesene Rechtserkenntnisquellen rechtfertigen ließe. Zudem stützt sich die Ansicht in unzutreffender Weise auf Ausführungen der Generalanwälte Maduro, Mischo, Tizzano und Léger1179, denen ein Aussagegehalt von derartiger Tragweite keineswegs zu entnehmen ist1180. (d) Weiche Charta-Verbindlichkeit Denkbar erscheint derweil, der Charta auf der Grundlage der Fülle der sie betreffenden Bezugnahmen zunächst die Wirkung von „Soft Law“1181 oder mit den Worten von Calliess eine zumindest „weiche Verbindlichkeit“1182 Rn. 4, der die Charta hier als „wesentliche Rechtserkenntnisquelle für die Grundrechte“ bezeichnet. 1178 Ebenfalls kritisch etwa Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 37. 1179 s. die Schlussanträge der GÄin Kokott zu EuGH, Rs. C-113/04 P, Slg. 2006, I-8831, Rn. 98, Fn. 58 (Technische Unie/Kommission); ebenso schon dies. in den zuvor zitierten Schlussanträgen zu EuGH, verb. Rsn. C-387/02, C-391/02 u. C-403/02, Slg. 2005, I-3565, Rn. 109, Fn. 83 (Silvio Berlusconi u. a.); überdies ohne weiteres Art. 7 der Charta zitierend dies. in den Schlussanträgen zu EuGH, Rs. C-503/03, Slg. 2006, I-1097, Rn. 42, Fn. 20 (Kommission/Königreich Spanien); ähnlich dies. in ihren Schlussanträgen zu EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 41, 57 u. 66 (Pupino). 1180 s. insofern die Schlussanträge von GA Maduro zu EuGH, Rs. C-181/03 P, Slg. 2005, I-199, Rn. 51 (Narnone), der die Charta unter ausdrücklichem Hinweis auf ihre fehlenden Bindungswirkungen nicht als echte Erkenntnisquelle, sondern nur als aufschlussreiches Referenzkriterium heranzieht. s. im Übrigen die Schlussanträge von GA Mischo zu EuGH, verb. Rsn. C-20/00 und C-64/00, Slg. 2003, I-7411 Nr. 126 (Booker Aquaculture und Hydro Seafood), der die Charta unter Hervorhebung ihrer mangelnden Verbindlichkeit als Ausdruck eines politischen Konsenses über die von der Gemeinschaftsrechtsordnung geschützten Grundrechte auf höchster Ebene ansieht. s. in diesem Zusammenhang ferner die bereits in Fn. 1128 erwähnten Schlussanträge der Generalanwälte Tizzano und Léger. 1181 So Lenaerts/de Smijter, CMLR 2001, 273; ähnlich Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, S. 57, der die Charta als interinstitutionelle Vereinbarung ansieht. Zum Begriff des „soft law“ im Gemeinschaftsrecht schon Bothe, in: FS Schlochauer, S. 761 ff.; im völkerrechtlichen Kontext Hillgenberg, ZEuS 1998, 81 ff. 1182 Calliess, EuZW 2001, 261, 267. Im Ergebnis dürfte der von ihm gewählte Terminus der „weichen Verbindlichkeit“ mit jenem des „soft law“ korrespondieren (so auch. Hilf, EuR-Beiheft 3/2002, 13, 25).

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beizumessen. Der entsprechende Übergang von der bloß politischen Bedeutung der Charta zu einer mittelbaren oder weichen Rechtsverbindlichkeit könnte etwa mit der Funktion der Charta, die Existenz bereits anerkannter Grundrechte zu bekräftigen, begründet werden. Allerdings muss hier gleichermaßen Beachtung finden, dass nicht jede Bezugnahme oder Erklärung dazu geeignet ist, eine formal unverbindliche Norm in den Rang des „soft law“ zu heben. Vielmehr ist insoweit maßgeblich, welcher Stelle die Bezugnahme zuzurechnen ist und ob dieser im jeweiligen Kompetenzgefüge eine hinreichend autoritative Position zukommt. So hat der EuGH etwa interinstitutionellen Vereinbarungen eine rechtliche Bindungswirkung regelmäßig abgesprochen1183. Während die Kompetenz zur Vornahme wesentlicher Änderungen des europäischen Vertragswerks und damit zur Schaffung neuer Rechtsquellen grundsätzlich1184 bei den Herren der Verträge, den Mitgliedstaaten, liegt, adressiert das Unionsrecht den Auftrag zur Herleitung und zur materiellen Auskleidung der Grundrechte ausweislich der Art. 6 Abs. 2, 46 EUV und Art. 220 ff. EGV an den Gerichtshof. In diesem Zusammenhang darf nicht übersehen werden, dass die anfänglich geäußerte Hoffnung, auch der EuGH werde die Grundrechte-Charta alsbald in seine Rechtsprechung einbeziehen, sei es als Orientierungshilfe1185, sei es zur Bekräftigung und Konkretisierung der rechtsgrundsätzlich hergeleiteten Grundrechte1186, bislang nicht erfüllt worden ist. Im Gegenteil hat sich angesichts des beharrlichen Unterlassens rechtlich würdigender Ausführungen zur Charta und ihrer Rechtsnatur im primärrechtlichen Kontext bis dato jene vorsichtige, wenn nicht distanzierte Haltung des Gerichtshofs bestätigt, die schon in früh verlautbarten Äußerungen aus dem Kreise des EuGH eine erste Andeutung erfahren hatte1187. Denn trotz der zahlreichen Verweise auf die Charta in 1183

Rat).

Vgl. etwa EuGH, Rs. C-58/94, Slg. 1996, I-2169, Rn. 24 ff. (Niederlande/

1184 Zur Befugnis des EuGH, in gewissen Grenzen rechtsfortbildend tätig zu werden, bereits unter I. 1. und 3. 1185 So ausdrücklich die Europäische Kommission, Mitteilung zum Status der Grundrechtscharta der Europäischen Union vom 11. Oktober 2000, KOM/2000/ 0644, Rn. 9, SpStr. 5. Ähnlich Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497, 500. Vgl. ferner die Formulierung von Zuleeg, EuGRZ 2000, 511, 514, welcher der Charta – unter Hinweis auf Weber, NJW 2000, 537, 538 – die Funktion einer zulässigen Interpretationshilfe zuspricht. 1186 Dazu Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 14; ähnlich schon Zuleeg, EuGRZ 2000, 511, 514. 1187 Vgl. insofern schon die Äußerungen des ehemaligen Präsidenten des EuGH Rodríguez Iglesias, der den Einfluss der Charta auf die Grundrechtsrechtsprechung des EuGH maßgeblich an ihre Erwähnung im EU-Vertrag geknüpft sah (Rodríguez Iglesias, Die Richter passen auf die EU auf (Interview), taz v. 30. November 2000, S. 11). Die Richterin Colneric sah in diesem Zusammenhang auch für die mitgliedstaatlichen Gerichte keine Veranlassung, dem Gerichtshof Fragen über eine „recht-

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den Schlussanträgen der Generalanwälte1188 sowie selbst im Falle der ausdrücklichen Behandlung der Charta durch das vorinstanzliche EuG, ein mitgliedstaatliches Gericht oder im Rahmen des Parteivortrags hat der EuGH die Charta im Bereich des primären Gemeinschaftsrechts lange Zeit konsequent mit keiner eigenen Würdigung geadelt1189. Getreu dem Grundsatz „Qui tacit consentire non videtur“ konnte bereits diesem Schweigen ein eigenständiger Erklärungswert dahingehend entnommen werden, dass der EuGH in der Charta keine, ob nun unmittelbar oder mittelbar verbindliche Rechtsquelle sieht1190. Diese Beurteilung findet zudem ihre positive Bestätigung in einer jüngeren Entscheidung des Gerichtshofs, in der er die Charta zwar neben anderen Quellen im Kontext der Interpretation einzelner Regelungen eines auf die Charta verweisenden Sekundärrechtsakts zitiert, zugleich aber ausdrücklich betont, dass es sich bei ihr nicht um ein verbindliches Rechtsinstrument handelt1191. Der EuGH lässt die Charta folglich im Bereich des primärrechtlichen Grundrechtsschutzes ganz bewusst außen vor1192. Der zentrale Grund für jene „reservatio mentalis“ gegenüber einer prätorischen Aufwertung des Katalogs dürfte dabei nicht zuletzt in dem Respekt gegenüber dem unionalen Reformprozess liegen, dessen Entwicklungen und Ergebnisse der EuGH weder antizipieren noch konterkarieren möchte1193. lich nicht verbindliche Charta“ zur Vorabentscheidung vorzulegen [Ninon Colneric, Die Charta macht nur Bestehendes sichtbar (Interview), Handelsblatt Nr. 224 v. 20. November 2000, S. 4]. 1188 Insoweit hat sich die seitens des Generalanwalts Alber geäußerte Hoffnung, andere Generalanwälte könnten mehr Glück haben, den EuGH durch entsprechende Schlussanträge aus der Reserve zu locken (so Alber, EuGRZ 2001, 349, 352), bislang nicht erfüllt. 1189 Vgl. etwa aus jüngerer Zeit EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 27 u. 87 (ABNA u. a.) sowie EuGH, Rs. C-547/03, Slg. 2006, I-845, Rn. 26 u. 47 ff. (AIT/Kommission); vgl. ferner EuGH, Rs. C-141/02, Slg. 2005, I-1283, Rn. 16, 20, 59 und 65 ff. (Kommission/max mobil); EuGH, Rs. C-347/03, Slg. 2005, I-3785, Rn. 55, 58 u. 119 (Regione autonoma Friuli-Venezia Giulia und ERSA); die Erwähnung der Charta in Rn. 118 der letztgenannten Entscheidung stellt insoweit keine Wende dar, sondern gibt nur zusammenfassend die punktuelle Fragestellung des vorlegenden Gerichts wieder. 1190 Anders hingegen die entsprechende Aufwertung der sozialrechtlichen Verträge bei EuGH, Rs. 24/86, Slg. 1988, 379, Rn. 17 (Blaizot/Universität von Liège u. a.); vgl. dazu auch Langenfeld, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, vor Art. 117 EGV (i.d. F des Vertrages von Maastricht) (Mai 2001), Rn. 1 ff. 1191 EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 38 (Parlament/Rat). 1192 Eine die Charta ignorierende Rechtsprechung des EuGH wurde hingegen anfangs teilweise geradezu für undenkbar gehalten; so insbesondere von Mahlmann, ZEuS 2000, 419, 425; ferner in jenem Sinne wohl auch Hilf, Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, 5. 1193 Vgl. dazu Beutler, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 104; Mayer, RTDE 2003, 175, 193; Streinz, in: ders., EUV/EGV, Vorbem. GR-Charta,

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Die beschriebene Passivität des Gerichtshofs scheint in Anbetracht der fehlenden Formalverbindlichkeit der Charta sowie ihrer intentionell unterbliebenen Nennung in Art. 6 Abs. 2 EUV auch nur folgerichtig. Denn der EuGH muss – im Gegensatz zu den übrigen Unionsorganen – mit einer Selbstbindung aufgrund der damit einhergehenden, zumindest faktischen Außenbindungswirkung gegenüber den von seinen Entscheidungen betroffenen Parteien besonders sensibel umgehen1194. Auf der Grundlage letzterer Erwägung erweist sich im Übrigen auch die erwähnte Praxis des EuG als bedenklich. Der Standpunkt des insofern neben den Mitgliedstaaten allein maßgebenden EuGH steht jedenfalls der Annahme entgegen, dass der Charta auf der Grundlage von „soft law“ bereits heute eine mittelbare Verbindlichkeit zukommt1195. (e) Die Charta als mitgliedstaatlicher Wertekonsens Die ebenfalls in diesen Zusammenhang einzuordnende, zugleich wesentlich weitergehende Überlegung, die Charta könne sich auch ohne formelles Inkrafttreten als Ausdruck eines gemeinsamen Wertekonsenses mehr und mehr zu einem Teil der allgemeinen Rechtsgrundsätze entwickeln, dies vor allem, wenn sie regelmäßig in der Praxis der mitgliedstaatlichen Gerichte in Bezug genommen würde1196, erscheint nach dem bereits Gesagten ebenfalls bedenklich. Zwar sind die nationalen Gerichte nach dem Gedanken des „dédoublement fonctionnel“1197 und im Lichte des Art. 10 EGV zwar ebenfalls für die Einhaltung der Unionsrechtsordnung verantwortlich. Schon aus Gründen der Autonomie der Unionsrechtsordnung und des kommunalen Kompetenzgefüges zwischen der europäischen und der mitgliedstaatlichen Judikative vermag aber ihre Rechtsprechungspraxis eine neue Grundrechtsquelle für die im Unionsrecht geltenden Grundrechte weder zu erschließen noch zu begründen1198. Soweit der mitgliedstaatlichen Judikative in der Tat Rn. 8; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, nach Art. 6 EUV (August 2002), Rn. 25. 1194 In diesem Sinne auch Alber, EuGRZ 2001, 349, 351. 1195 Ähnlich Hilf, EuR-Beiheft 3/2002, 13, 25. 1196 Dahingehend die Ausführungen von Ress, in: Bröhmer, Grundrechtsschutz in Europa, S. 205; ähnlich und zugleich vorsichtiger ders., Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183 f.: „(. . .) so dass nicht auszuschließen ist, dass sie (scil. die Charta) über eine ‚Wertordnung‘ hinaus auch als Ansatzpunkt für die Bildung allgemeiner Rechtsgrundsätze des Europarechts herangezogen wird.“ 1197 Begriff zurückgehend auf Scelle, in: FS Wehberg, S. 324 ff.; zu der Frage, ob nationale Rechtsprechung auslegungsrelevante Praxis im Sinne der WVK bilden kann, Karl, Vertrag und spätere Praxis im Völkerrecht, S. 117 und 175 f.

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eine Rolle im europäischen Grundrechtsquellensystem zukommt, muss sich diese auf den Bereich der Rechtsprechung zu den eigenen Verfassungstraditionen konzentrieren. Im Übrigen ist auch losgelöst von einer etwaigen Zitierpraxis der mitgliedstaatlichen Gerichte fraglich, ob die Charta – uneingeschränkt – einen einheitlichen Wertekonsens der Mitgliedstaaten verbrieft. Soweit ihre Präambel einerseits den Eindruck vermitteln kann, die Charta drücke nur aus, was den europäischen Staaten bereits gemein ist, darf andererseits nicht übersehen werden, dass der Text der Charta das Ergebnis langwieriger und bisweilen äußerst kontrovers geführter Debatten ist, die in Ermangelung hinreichender Spielräume oder der Bereitschaft für Kompromisse nicht selten in die Aufnahme sprachinhaltlich differierender und doch gleichberechtigter Textfassungen mündeten1199. Schließlich aber spricht insbesondere die fehlende Einbettung der Charta in das geschriebene Primärrecht und das Fehlen eines Verweises auf diese in Art. 6 Abs. 2 EUV wesentlich gegen ihre Aufnahme in die Riege der allgemeinen Rechtsgrundsätze, zumal eine Rezeption in letzterem Sinne zunächst nur erlauben würde, die Charta an den grundrechtlichen Rechtserkenntnisquellen partizipieren zu lassen, die ihrerseits quellenhierarchisch keine allgemeinen Rechtsgrundsätze darstellen, sondern der Herleitung und inhaltlichen Konkretisierung der Gemeinschaftsgrundreche dienen. (f) Rechtserhebliche Bedeutung der Charta bei der Auslegung späteren EG-Sekundärrechts Unter Berücksichtigung der fehlenden Formalverbindlichkeit streitet eine weitere, vornehmlich von Triebel vertretene Ansicht für die rechtliche Beachtlichkeit der Charta bei der Auslegung nachträglich ergangenen Sekundärgemeinschaftsrechts1200. Eine dogmatische Erklärung für eine solche rechtserhebliche Chartawirkung lässt sich aber nur schwerlich finden. Sofern der Ansatz davon ausgeht, der Charta sei losgelöst von einer formal1198 Zur Relevanz mitgliedstaatlicher Praxis für die Auslegung des europäischen Rechts bereits oben unter B. I. 2. b). 1199 Die Gefahr abweichender Textfassungen ist dem Unionsrecht aufgrund der aktuell 23 gleichberechtigten Sprachen immanent, wie schon die semantische Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV gezeigt hat. Im Hinblick auf die Charta hat sich diese Gefahr bereits in der unterschiedlichen Formulierung des zweiten Absatzes der Chartapräambel realisiert, der in der deutschen Fassung vom „geistig-religiösen“ Erbe, in der englischen vom „spiritual heritage“ und in der französischen vom „patrimoine spirituel“ spricht. 1200 s. dazu Triebel, Jura 2003, 525; ähnlich Pache, EuR 2001, 475, 486; ferner Schmitz, JZ 2001, 833, 836.

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primärrechtlichen Wirksamkeit allein aufgrund ihrer Bedeutung ein rechtsrelevanter Einfluss auf späteres Sekundärrecht zuzubilligen, ist hierbei eine differenzierende Betrachtung dahingehend angezeigt, ob der Charta eine solche Wirkung schon abstrakt oder nur mit Blick auf den konkreten Sekundärrechtsakt zukommen kann. In ersterem Falle ließe sich die Chartawirkung allenfalls über die bereits erwähnten Beachtungsbekundungen der an der Schaffung des Sekundärrechtsakts beteiligten Organe begründen. Diese sind insoweit jedoch vorwiegend politischer Natur und lassen sich daher nicht wirksam vor den Gemeinschaftsgerichten durchsetzen, so dass von der Charta auf dieser Grundlage kaum verbindliche Auslegungsvorgaben hervorgehen können. Außerdem bliebe dabei auch völlig unklar, in welchem Rang die Charta sich mit einer solchen Wirkung in der Rechtsquellenhierarchie einfügen könnte. Jedenfalls erschiene es insofern inkonsequent, eine nach dem rechtlichen Rang des Prüfungsgegenstands differenzierte Rechtsverbindlichkeit der Charta allein über politische Organerklärungen zu konstruieren, wenn die vollständige Bindungswirkung der Charta doch offenkundig von ihrem ausstehenden formellen Inkrafttreten abhängen soll. Anders liegt die Sache indes, wenn die am Erlass eines bestimmten Sekundärrechtsakt mitwirkenden Organe in die Begründungserwägungen oder in eine Regelung der betreffenden Handlung eine ausdrückliche Bezugnahme auf die Grundrechte-Charta aufnehmen1201. In einem solchen Fall erkennt der jeweilige Gemeinschaftsgesetzgeber die Bedeutung der Charta nämlich nicht nur durch eine politische Erklärung in abstracto, sondern gerade in Ausübung legislativer Hoheitsgewalt durch einen expliziten Einzelverweis in concreto an1202 und gibt damit deutlich zu verstehen, dass er den Inhalt der rezipierten Chartabestimmungen bei der inhaltlichen Ausformung des Rechtakts mit in seinen Willen aufgenommen hat. Da die gesetzesanwendenden Stellen diesen gesetzgeberischen Wertungen bei der Be1201 So etwa die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. EG L 251/12) in ihrer zweiten Begründungserwägung: „Diese Richtlinie steht im Einklang mit den Grundrechten und berücksichtigt die Grundsätze, die insbesondere in Artikel 8 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt wurden.“ Ähnlich bereits die zweite Begründungserwägung der Verordnung (EG) Nr. 1049/2001 vom 30. Mai 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission (ABl. EG L 145/43); ähnlich ferner der 18. Erwägungsgrund des Beschlusses des Rates 2002/287/JI vom 28. Februar 2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität (ABl. EG L 63/1). 1202 So jüngst auch EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 38 (Parlament/ Rat).

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stimmung der materiellen Vorgaben des einschlägigen Rechtsakts Rechnung zu tragen haben, ist insoweit in der Tat eine rechtserhebliche, namentlich norminterpretationslenkende Wirkung der Charta in Bezug auf den entsprechenden Sekundärrechtsakt möglich. (g) Die Charta als Hilfserkenntnisquelle Nach einer weiteren, im Vordringen befindlichen und hier besonders interessierenden Ansicht soll die Charta schließlich als Ausdruck der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergänzend zur Bestimmung der im Einzelfall geltenden Grundrechte herangezogen werden können1203. So begreift Kingreen die Charta als das auf die gemeinschaftsrechtlichen Strukturen „zugeschnittene Konzentrat der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten“1204. Hilf bezeichnet sie als „Abbild der allgemeinen Verfassungstraditionen“1205. Ähnlich bringt es Altmaier zum Ausdruck, wenn er den praktischen Nutzen der Charta in einer Beweislastumkehrfunktion erblickt, die den konkreten Nachweis von grundrechtsspeisenden Verfassungsüberlieferungen entbehrlich mache1206. Eine entsprechende Tendenz lässt sich partiell auch den bereits genannten generalanwaltlichen Schlussanträgen entnehmen1207. Ebenso lässt sich die Formulierung des BVerwG deuten, wenn dieses die Charta, soweit sie an Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten anknüpft, als „Verkörperung der gemeinsamen Grundüberzeugung“1208 versteht.

1203 Hierzu Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 42; Zimmerling, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Anhang zu Art. 6 EUV, Rn. 28; in diesem Sinne auch Streinz, in: ders., EUV/EGV, Vorbem. GR-Charta, Rn. 11, der von einer influenzierenden Wirkung der Charta als Hilfsmittel zur materiellen Bestimmung der Verfassungstraditionen spricht; ähnlich Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 13, Rn. 16; weitergehend Hilf (Sonderbeilage zu NJW, EuZW, NVwZ und JuS 2000, 5), der einen Rückgriff des EuGH und des EuG bei der Ermittlung der Verfassungstraditionen auf den in der Charta niedergelegten Konsens gar als „zwangsläufig“ bezeichnet hat. Dem steht jedoch zumindest im Bereich des Primärrechts – wie gesehen – die bisherige Praxis des Gerichtshofs entgegen. 1204 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 40 b. 1205 Hilf, Die Grundrechtscharta im Rechtsgefüge der Union – Nizza und die Zukunftsperspektive, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 15, 21. 1206 Vgl. Altmaier, ZG 2001, 195, 206; ähnlich Pernice, ColJEL 2004, 5, 10 f., soweit er der Charta eine gewichtige Indikationswirkung für den Inhalt der Grundrechte zuspricht. 1207 Vgl. insoweit nochmals die Schlussanträge von GA Colomer zu EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2001, I-4109, Rn. 59 (Überseering). 1208 BVerwG, DVBl. 2005, 1383, 1387.

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(aa) Fürsprechende Überlegungen Der Ansatz verfolgt in erster Linie ersichtlich die Idee, die GrundrechteCharta als Hilfserkenntnisquelle im Dienste der Findung gemeinsamer Verfassungstraditionen zu bemühen1209 und zwar zum einen zur Begründung der Existenz und zum anderen zur Konkretisierung des einzelfallbedingten Schutzgehalts1210 eines Unionsgrundrechts. Er steht folglich der hier vertretenen Ansicht, die Charta stelle keine neben die in Art. 6 Abs. 2 EUV aufgezählten Grundrechtsressourcen tretende Rechtserkenntnisquelle dar, nicht grundsätzlich entgegen. Auch die fehlende Formalverbindlichkeit der Charta torpediert diese Ansicht nicht generell, da mit ihr nicht notwendig die Begründung einer konstitutiven Wirkung des Grundrechtskatalogs vertreten wird, sie vielmehr möglicherweise auch nur eine rein deklaratorische Hinweiswirkung indiziert. Jedenfalls brächte der Ansatz im Falle der Richtigkeit der ihm zugrunde liegenden Überlegungen den Vorteil mit sich, die einzelnen Bestimmungen der Charta als effektive Abkürzung auf dem oft mühsamen Weg der Findung gemeinsamer mitgliedstaatlicher Verfassungstraditionen zu nutzen. Hierfür sprechen im wesentlichen zwei Argumente. In erster Linie kann er eine Stütze im Wortlaut des fünften Erwägungsgrundes der Präambel finden, nach welchem die Charta die Rechte bekräftigt, „die sich vor allem aus gemeinsamen Verfassungstraditionen (. . .) ergeben“. In diesem Kontext erscheint überlegenswert, mit Blick auf die Beteiligten und insbesondere die Zusammensetzung des Konvents1211 zu folgern, dass sämtliche in der Charta enthaltenen Rechte Ausdruck eines einheitlichen, den gemeinsamen Verfassungstraditionen entsprechenden Wertekanons sind.

1209 So deutlich Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 42 f.; ähnlich die Ausführungen von Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf, EUV/ EGV, nach Art. 6 EUV (August 2002), Rn. 27, nach denen die Charta in der Funktion als Hilfsmittel zur Konkretisierung allgemeiner Rechtsgrundsätze faktische Geltung beanspruchen könne, da sie die Existenz entsprechender gemeinsamer Verfassungstraditionen indiziere. Ähnlich auch Weber, DVBl. 2003, 220, 222, und von Triebel, Jura 2003, 525 ff. 1210 Der Begriff soll hier bewusst unter Vermeidung einer Differenzierung zwischen Schutzbereichs-, Eingriffs- und Schrankenebene im Sinne der deutschen Grundrechtsdogmatik verwendet werden. 1211 Den Verfassungskonvent bildeten 30 Vertreter der Parlamente der Mitgliedstaaten, 16 Vertreter des Europäischen Parlaments, 15 Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten und ein Beauftragter des Präsidenten der Europäischen Kommission, während der EuGH, der EGMR und der Europarat Beobachter entsendeten.

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(bb) Bedenken Diese Argumentationsbasis ist jedoch nicht allen Zweifel enthoben und daher genauer zu beleuchten. Folgende Bedenken dringen hierbei in den Vordergrund: a) Unzulänglichkeiten der fünften Präambelerwägung Zunächst sei darauf hingewiesen, dass der fünfte Erwägungspunkt der Präambel partiell schon abstrakt betrachtet im Hinblick auf die Wahl der in Bezug genommenen Quellen missglückt ist. In Anbetracht des klaren Wortlauts des durch den Europäischen Rat erteilten Mandats1212 überrascht zunächst insbesondere die zusätzliche Nennung der europäischen Grundrechtsrechtsprechung in der betreffenden Präambelbestimmung, da der EuGH genau genommen nicht selbst Rechtsquelle der Grundrechte ist, sondern diese vielmehr in den jeweils nützlichen Quellen findet, sie mithin aus diesen herleitet und auf den Einzelfall bezogen konkretisiert. Überdies erstaunt auch, dass die Präambel die Rechtsprechung des EGMR semantisch auf die gleiche Stufe mit jener des EuGH stellt, obgleich allein Letzterer die Kompetenz zur Grundrechtsrechtsprechung innerhalb der Unionsrechtsordnung hat1213 und der EGMR hier nur als besonders qualifizierte Interpretationsquelle im Bereich einer der Rechtserkenntnisquellen fungiert1214. Schließlich wirft die betreffende Präambelformulierung auch insoweit Bedenken auf, als sie die Quellen nur exemplarisch aufzählt1215, dem Dieses lautete: „Nach Auffassung des Europäischen Rates soll diese Charta die Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie die Verfahrensrechte umfassen, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten enthalten sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben. Die Charta soll weiterhin die Grundrechte enthalten, die nur den Unionsbürgern zustehen. Bei der Ausarbeitung der Charta sind ferner wirtschaftliche und soziale Rechte zu berücksichtigen, wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer enthalten sind (Art. 136 EGV), soweit sie nicht nur Ziele für das Handeln der Union begründen.“ (Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Köln vom 3./4. Juni 1999, Bulletin EU 6/1999) 1213 Die Ausnahmen nach der Rechtsprechung des EGMR bleiben hier außen vor, da sie auf die – mittelbare – Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten, nicht aber auf einer unmittelbaren Bindung der EU aufbaut, zumal sie keine systeminterne Überprüfung von unionalen Rechtsakten an den Unionsgrundrechten, sondern eine systemexterne Kontrolle am alleinigen Maßstab der EMRK mit sich bringt. 1214 Vgl. Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1275. 1215 s. hierzu den Anfang des fünften Erwägungspunktes der Präambel („vor allem“). 1212

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Leser andere Quellen, aus denen die Charta ihre Bestimmungen darüber hinaus geschöpft haben soll, aber verborgen bleiben und auch nicht ohne weiteres ersichtlich sind, wenn nicht die einschlägigen Chartaerläuterungen zusätzlich zur Hand genommen werden. Eine allein auf dem fünften Erwägungspunkt fußende Argumentation zugunsten der Qualität der Grundrechte-Charta als Kodifizierung der Verfassungsüberlieferungen entbehrt somit bereits im Hinblick auf die Unzulänglichkeiten dieser Präambelbestimmung einer soliden Basis. b) Vielfalt der Chartavorbilder Die besondere Angreifbarkeit des in Frage stehenden Ansatzes liegt aber maßgeblich in der Zweifelhaftigkeit der Behauptung begründet, die Charta könne in vollem Umfang als Essenz jener Rechte und Werte verstanden werden, die den mitgliedstaatlichen Verfassungen gemeinsam seien. Hier gilt vor allem zu beachten, dass ausweislich des von seinen Befürwortern ins Feld geführten fünften Erwägungsgrunds sowie nach den zu den einzelnen Regelungen ergangenen Erläuterungen nicht allein die nationalen Verfassungstraditionen, sondern auch die gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, die EMRK und die europäischen Sozialchartas bei der Schaffung des Katalogs Pate gestanden haben1216. Der Verweis der Chartapräambel auf ein ganzes Quellenkonvolut belegt, dass die Charta offenkundig mannigfaltige Grundrechte unterschiedlichster Herkunft kanonisiert und konsolidiert1217 und eben nicht nur solche, die ihre Wurzeln allein oder ganz überwiegend in den gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen haben1218. Eine weitreichende Wertegemeinsamkeit zwischen den Verfassungstraditionen könnte also hinsichtlich einzelner Grundrechte auch fehlen1219. Die Konzeption des in Art. 6 Abs. 1 EUV zum Ausdruck kommenden Werteverbunds zwischen den Mitgliedstaaten und der Union1220 vermag daran nichts zu ändern, da der dortige Aussagegehalt zu vage ist, um von ihm auf die Gemeinsamkeit der Grundrechtsachtung im Einzelnen zu schließen, wie letztlich auch die speziellere und damit vorrangige Regelung des Art. 6 Abs. 2 EUV bezeugt.

1216 1217 1218 1219 1220

So in Bezug auf die Konvention auch Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 11. So schon Mahlmann, Die Grundrechtscharta der EU, ZEuS 2000, 419, 442. Vgl. auch Pietsch, ZRP 2003, 1, 3. Weitergehend, indes ohne nähere Begründung Streinz, Europarecht, Rn. 758. Vgl. dazu Calliess, JZ 2004, 1033, 1041 f.

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g) Kein Vorbildschwerpunkt zugunsten der Verfassungstraditionen Zudem lässt sich weder grammatikalisch noch teleologisch begründen, dass den Verfassungstraditionen insoweit ein signifikantes Quellenübergewicht innerhalb der Charta zukommt. Die am Anfang des fünften Erwägungsgrundes eingefügte Bestärkung „vor allem“ bezieht sich ungeachtet der mit ihr einhergehenden – und nicht unproblematischen – Beispielhaftigkeit der Aufzählung semantisch offenkundig nicht allein auf die erstgenannte Quelle, sondern unterstreicht a priori gleichberechtigt alle dort genannten Quellen. Dass nicht allein die Verfassungstraditionen die maßgebende Inspirationsquelle waren, erschließt sich darüber hinaus aus den Bestimmungen der Art. 52 Abs. 3 S. 1 und Art. 52 Abs. 4 GrCh1221. Während nach ersterer Regelung die der EMRK entsprechenden Chartagrundrechte „mindestens“1222 die gleiche Bedeutung und Tragweite wie ihre EMRK-Vorbilder haben, sollen nach Letzterer die sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergebenden Grundrechte im Einklang mit diesen Überlieferungen ausgelegt werden. Auch aus diesen Bestimmungen lässt sich mithin ersehen, dass die Charta weder einseitig noch in überwiegendem Maße auf die Quelle der Verfassungsüberlieferungen zurückgeht. Betrachtet man in diesem Zusammenhang jede einzelne Gewährleistung der Charta hinsichtlich ihres jeweiligen Vorbilds, so ergibt sich im Gegenteil, dass die Chartagrundrechte ganz überwiegend solchen der EMRK entsprechen1223, ob nun in voller Kongruenz1224 oder aber in engster Anknüpfung an diese und zugleich schutzbereichsspezifisch weitergehend1225. Von nicht untergeordneter Bedeutung sind auch jene ChartaArt. II-112 Abs. 3 S. 1 und Art. II-112 Abs. 4 EV. Vgl. Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh (Art. II-112 Abs. 2 S. 2 EV). 1223 Dazu auch Callewaert, EuGRZ 2003, 198 ff., der etwa 50% der Chartarechte in der EMRK verwurzelt sieht. 1224 Folgende Artikel der Charta haben gemäß den Erläuterungen zur Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie ihre EMRK-Vorbilder: Art. 2 entspricht Art. 2 EMRK; Art. 4 entspricht Art. 3 EMRK; Art. 5 Abs. 1 und 2 entsprechen Art. 4 EMRK; Art. 6 entspricht Art. 5 EMRK; Art. 7 entspricht Art. 8 EMRK; Art. 10 Abs. 1 entspricht Art. 9 EMRK; Art. 11 entspricht Art. 10 EMRK (unbeschadet der Einschränkungen, mit denen das Unionsrecht das Recht der Mitgliedstaaten auf Einführung der in Art. 10 Abs. 1 S. 3 EMRK genannten Genehmigungsverfahren eingrenzen kann); Art. 17 entspricht Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK; Art. 19 Abs. 1 entspricht Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK; Art. 19 Abs. 2 entspricht Art. 3 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; Art. 48 entspricht Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK; Art. 49 Abs. 1 (mit Ausnahme des letzten Satzes) und 2 entsprechen Art. 7 EMRK. 1225 Folgende Artikel haben nach den Erläuterungen zur Charta die gleiche Bedeutung wie und zugleich eine weitergehende Tragweite als ihre entsprechenden 1221 1222

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bestimmungen, die auf die europäischen Sozialchartas1226, das europäische Primärrecht1227, europäisches Sekundärrecht1228 oder andere internationale Verträge und Übereinkommen1229 zurückgehen. Dem gegenüber findet sich keine deutlich präponderierende Zahl an Chartabestimmungen, die ihren Ursprung vorwiegend oder allein in den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten haben. Im Gegenteil dürfte dies neben den in den Erläuterungen mit einem mehr oder weniger ausdrücklichen Verweis auf die Verfassungen versehenen Art. 17 GrCh (Eigentumsrecht) und 20 GrCh (Allgemeiner Gleichheitsgrundsatz) sowie auch Art. 49 Abs. 1 S. 3 GrCh (Rückwirkungsgebot für mildere Strafandrohungen) im Wesentlichen nur noch für die in Art. 15 Abs. 1 GrCh fixierte Berufsfreiheit und die in Art. 16 GrCh genannte unternehmerische Freiheit zutreffen1230. Mögen also einige der Chartarechte auch auf mehrere der aufgezählten Quellen zurückgehen, so stellt sich die Charta in Anbetracht der höchst unterschiedlichen Schutzrichtungen nicht als das Ergebnis der Verschmelzung all dieser Grundrechtsressourcen dar. Im Rahmen einer Gesamtschau der Chartagewährleistungen ist damit bereits hier festzuhalten, dass sich nur einige wenige der katalogisierten Grundrechte auf die Verfassungsüberlieferungen zurückführen lassen, wähVorbilder EMRK: Art. 9 deckt Art. 12 EMRK ab, aber sein Anwendungsbereich kann auf andere Formen der Eheschließung ausgedehnt werden, wenn die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften diese vorsehen; Art. 12 Abs. 1 entspricht Art. 11 EMRK, sein Anwendungsbereich ist jedoch auf die Unionsebene ausgedehnt worden; Art. 14 Abs. 1 entspricht Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK, sein Anwendungsbereich erfasst aber auch den Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung; Art. 14 Abs. 3 entspricht Art. 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK, was die Rechte der Eltern betrifft; Art. 47 Abs. 2 und 3 entsprechen Art. 6 Abs. 1 EMRK, die Beschränkung auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen kommt indes nicht zum Tragen, wenn es um das Recht der Union und dessen Anwendung geht; Art. 50 entspricht Art. 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, wobei seine Tragweite auf die Ebene der EU ausgedehnt worden ist und er zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten gilt; schließlich können die Unionsbürgerinnen und -bürger im Anwendungsbereich des Unionsrechts wegen des Verbots jeglicher Diskriminierung aufgrund der Nationalität nicht als Ausländer angesehen werden, so dass die in Art. 16 EMRK vorgesehenen Beschränkungen der Rechte ausländischer Personen in diesem Rahmen auf sie keine Anwendung finden. 1226 So ganz oder teilweise die Art. 12 Abs. 2, 15 Abs. 1 u. 3, 25–30 und 32–35 GrCh. 1227 So – jedenfalls partiell – insbesondere Art. 8, 15 Abs. 3, 18, 21 Abs. 1, 22, 23, 34, 35–38 und 42–46 GrCh. 1228 So ganz oder zum Teil Art. 8 und 31–33 GrCh. 1229 So zumindest auch Art. 1, 3, 5 Abs. 3 und 24 GrCh. 1230 Der in den Chartaerläuterungen zu Art. 15 und 16 GrCh gewählte Verweis auf die einschlägigen Entscheidungen des Gerichtshofs greift hier demnach zu kurz, soweit er dabei die wahre Rechtserkenntnisquelle, auf die sich auch der EuGH bezogen hat, außen vor lässt.

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rend dies auf die Mehrzahl gerade nicht zutrifft. Auch dies spricht maßgeblich gegen eine Qualifizierung der Charta als Verkörperung der sich aus den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen ergebenden Rechte und Grundsätze. d) Keine Folgerung von den Verfahrensbeteiligten auf einen gemeinsamen verfassungsrechtlichen Wertekonsens Darüber hinaus erscheint es aber ebenso wenig zulässig, im Rahmen einer formalen Betrachtung von den bei der Initiierung und Schaffung der Charta beteiligten Akteuren auf die Qualität der niedergelegten Rechte als mitgliedstaatlichem Wertekonsens und hierüber auf das Vorliegen in den Verfassungen wurzelnder Garantien zu schließen. Mit Bedenken ist insofern schon behaftet, die verfassungsrechtliche Herkunft der Materie aus dem – einmal unterstellten – mitgliedstaatlichen Konsens abzuleiten. Die Charta ist wesentlich auf die Spezifika des unionalen Rechtssystems zugeschnitten und lässt daher keinen einfachen Rückschluss auf die Existenz eines originär mitgliedstaatlichen Wertes zu. Maßgebend ist zudem zu berücksichtigen, dass sich einige Mitgliedstaaten gegenüber einer Rechtsverbindlichkeit der Charta von Anfang an explizit verwahrt haben1231. Dies steht aber der Annahme eines verbindlichen Wertekonsenses – auch im Sinne gemeinsamer Verfassungstraditionen – entgegen. Allein der Umstand, dass die Mitgliedstaaten die Entstehung sowie den Inhalt der Charta wesentlich begleitet und mitgetragen haben und der Katalog vor dem Hintergrund seiner gesamten Entstehungsgeschichte eine gegenüber prätorischem Recht wesentlich festere demokratische Legitimation für die Grundrechtsgeltung mit sich bringen kann1232, vermag ihm folglich weder die Rechtsnatur gemeinsamer Verfassungstraditionen noch auch nur eine Indizwirkung für die Existenz eben solcher zu vermitteln. e) Kein Schluss pars pro toto Die vorhergehenden Ausführungen zeigen deutlich, dass jedenfalls nicht sämtliche Chartagewährleistungen in pauschalierter Weise als Hilfserkenntnisquelle den Weg zur Begründung und Konkretisierung von auf den gemeinsamen Verfassungstraditionen basierenden Unionsgrundrechten ebnen 1231 So vornehmlich Großbritannien, Finnland und Dänemark (dazu näher Bernsdorff, NdsVBl. 2001, 177, 178 f.). Die jüngeren Diskussionen rund um die Fortführung des EU-Verfassungsprozesses betreffen demnach auch diese Frage und münden seitens der Chartakritiker auch in die Forderung nach einer Ausgliederung der Grundrechte-Charta aus dem vertraglichen Kerntext (dazu in Teil 3 unter A. IV.). 1232 Vgl. zu diesem Aspekt auch Nickel, JZ 2001, 625, 631.

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können. Soweit sich in der Tat entsprechende Grundrechte in der Charta auffinden lassen, kann dies nicht pars pro toto für die Eigenschaft des Gesamtkatalogs als grundrechtlicher Essenz der mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen sprechen. Bilden Letztere neben der EMRK gewissermaßen das Substrat der Unionsgrundrechte, so kann die Charta als solche nur schwerlich als deren Grundlage im Sinne eines „Subsubstrats“ qualifiziert werden. (cc) Nutzen einer fallabhängigen Aktivierung der Charta Damit verbleibt schließlich die Frage, ob die Charta gleichwohl wenigstens punktuell zum einen für den Nachweis der Existenz eines bestimmten Grundrechts und zum anderen für die jeweilige spezielle Schutzgehaltskonkretisierung herangezogen werden kann. Solange die Charta nicht mit formaler Rechtsverbindlichkeit ausgestattet ist, erscheint Ersteres denklogisch nur möglich, sofern zwischen den Chartarechten und dem bisher prätorisch geprägten Grundrechtsschutz eine echte Ursprungskongruenz der Art besteht, dass beide ihre Wurzel in der gleichen Erkenntnisquelle haben. Erst nachdem eine solche Übereinstimmung positiv festgestellt worden ist, mag sie im Hinblick auf bestimmte Grundrechte auch von vornherein außer Frage stehen, ist ein Rekurs auf die Charta stellvertretend für die Begründung der Existenz eines Grundrechts zulässig. Einen hermeneutischen Mehrwert bringt ein solcher Rückgriff unterdessen nicht mit sich, da die Anerkennung und die konstituierenden Quellen des in Frage stehenden Grundrechts bereits im Rahmen der die Quellenkongruenz betreffenden Vorprüfung geklärt werden müssen. Dann aber wäre die Heranziehung der Charta in dieser Funktion derzeit nicht nur von bloß deklaratorischer Bedeutung, sie wäre geradezu hinfällig, da ihr gegenüber die Anführung der quellenhierarchisch näheren – echten – Rechtserkenntnisquelle zur Grundrechtsherleitung prioritär sein sollte. Dies macht eine feststellende Erwähnung der Charta neben den jeweils einschlägigen Grundrechtsquellen zwar nicht unzulässig1233, sie wäre allerdings aufgrund der untergeordneten, rein erklärend bestärkenden und damit letztlich nur symbolischen Wirkung ohne besondere Signifikanz. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Erwägungen erscheint auch zweifelhaft, ob quellenkongruente Chartabestimmungen darüber hinaus jene weithin befürwortete und theoretisch durchaus nutzbringende Konkretisierungsfunktion haben können. Erhebliche Bedenken gegen eine solche Rolle, In diesem Sinne wohl auch Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 11, der einen Hinweis auf die Charta zur Bestätigung des Ergebnisses einer methodischen Grundrechtsherleitung für zulässig erachtet. 1233

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die es erlauben würde, den auf den Einzelfall bezogenen Schutzgehalt eines Grundrechts näher aus der Charta zu bestimmen, ergeben sich darüber hinaus insbesondere aus Art. 52 GrCh1234, der den Auslegungsmaßstab für die Chartabestimmungen grundsätzlich bei den jeweils zugrunde liegenden Quellen, hier also bei den Verfassungstraditionen, ansiedelt1235. Die Auslegungsregel des Art. 52 Abs. 4 GrCh führt somit zwar zu dem auf den ersten Blick merkwürdig anmutenden und den Sinn und Zweck der Charta leicht erschütternden Ergebnis, dass die sichtbaren, in ihrem Wortlaut auch für den Grundrechtsberechtigten weitgehend verständlichen Chartarechte inhaltlich von ihren undeutlicher zu sichtenden und hinsichtlich ihres Schutzgehalts weniger sicher zu ponderierenden Vorbildern gelenkt werden. Sie erscheint jedoch zur Vorbeugung der Gefahr einer Unterschreitung des bisher erreichten Grundrechtsschutzniveaus erforderlich sowie angemessen und hat zu Recht die Bindung des materiellen Gehalts der Charta an den grundrechtlichen „acquis“ zur Folge. Um eine Chartagewährleistung zur Schutzbereichskonkretisierung des jeweils in Frage stehenden Grundrechts zu aktivieren, müsste daher zunächst vorgedanklich über die oben genannte Quellenkongruenz hinaus eine volle materielle Kongruenz des gewährten Schutzniveaus bestehen1236. Mit einer entsprechenden und grundsätzlich mühsamen Vorprüfung der Deckungsgleichheit ginge keine Vereinfachung der materiellen Grundrechtskonkretisierung einher, sondern bedeutete regelmäßig einen beträchtlichen rechtsmethodischen Mehraufwand, der den Rekurs auf die Charta schon generell unattraktiv machen dürfte. Die postulierte materielle Akzessorietät der betreffenden Chartarechte zu den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen lässt einen Rückgriff auf die Charta unterdessen nicht nur praktisch obsolet werden. Solange die betreffenden Chartabestimmungen selbst einer Inhaltsinterpretation anhand der Verfassungstraditionen bedürfen, brächte ein solcher Rückgriff vielmehr zugleich eine systemwidrige Umkehrung des Verhältnisses zwischen der Auslegungsquelle und der inhaltlich zu konkretisierenden Norm mit sich. Da aber der materielle Gehalt des jeweiligen Grundrechtsschutzes stets den gesellschaftlichem Wandel und wissenschaftlichem Fortschritt unterworfenen Besonderheiten des Einzelfalles Rechnung tragen muss, sind auch die betreffenden Chartabestimmungen keiner abschließenden Interpretation zugänglich, sondern für eine jedenfalls quantitative Grundrechtsschutzerweiterung offen zu halten, wofür auch die Existenz der vereinzelten „Reserverechte“ der Charta Art. II-112 Abs. 3 EV. Vgl. dazu Turpin, RTDE 2003, 615, 626. 1236 Ähnlich Schmitz, JZ 2001, 833, 835. Dies erkennen i. Erg. teilweise auch jene Ansichten an, die der Charta im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EUV eine rechtliche Wirkung zusprechen (so etwa Beutler, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 104 unter Hinweis auf Lenaerts/de Smijter, CMLR 2001, 273). 1234 1235

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ein Indiz sein kann. Wenn man in diesem Zusammenhang zuletzt die Erwägung anstellen möchte, einzelne Chartarechte jedenfalls dann zur Konkretisierung eines auf die Verfassungstraditionen zurückgehenden Grundrechts zu aktivieren, soweit die materielle Kongruenz aufgrund der Existenz einer gesicherten Rechtsprechung zu bestimmten und wiederkehrenden Fallgestaltungen feststünde, so wäre damit im Ergebnis ebenfalls nichts gewonnen, da der Rückgriff auf die Charta sodann abermals keine Vereinfachung, sondern einen unnötigen Quellenumweg bedeutete. (h) Die Charta als Auslegungshilfe im Bereich der EMRK Abschließend kann auch der Gedanke nicht fruchten, die Charta als Auslegungshilfe für die Erkenntnisquelle der EMRK nutzbar zu machen. Zwar könnte hierfür sprechen, dass zahlreiche Chartabestimmungen, wie bereits aufgezeigt, eng an die Konvention angelehnt oder in Entsprechung zu ihr gestaltet worden sind und die Charta insofern möglicherweise den Vorteil böte, besser auf die Unionsrechtsordnung abgestimmt zu sein als die systemexterne EMRK. Indes schiebt der Grundrechtskatalog einer solchen Rolle mit Art. 52 Abs. 3 GrCh selbst einen Riegel vor, indem er im Interesse der grundrechtlichen Kohärenz und folglich auch zur Vermeidung von Rechtsprechungsdivergenzen die Garantien der EMRK zum Auslegungsvorbild für die betreffenden Gewährleistungen der Charta ernennt. Ungeachtet der Fragen, welches Maß an Entsprechung die Anwendung dieses doppelten Günstigkeitsprinzips dabei verlangt1237, ob sich insofern die gegebenenfalls zu beachtende Bedeutung und Tragweite nur auf die Ebene des jeweiligen Schutzbereichs bezieht und ob bzw. inwieweit damit eine rechtliche oder faktische Bindung an die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs einhergehen kann1238, können den Chartarechten angesichts der eigenen Auslegungsvorgaben im Unionsrechtssystem nur schwerlich ihrerseits konventionsinterpretatorische Hinweise entnommen werden1239. (4) Zwischenergebnis Eine über die innenrechtliche Selbstbindung einiger Unionsorgane hinausgehende außenrechtliche Verbindlichkeit der Charta darf nach alledem weder über die Rechtsfigur des „soft law“ oder über die Hintertür des Dazu Calliess, EuZW 2001, 261, 264. s. dazu Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 12, der sich für eine Übertragbarkeit wesentlicher Teile der EGMR-Rechtsprechung ausspricht. 1239 s. indessen zum umgekehrten Fall, in dem die Charta den Auslegungsvorgang des EGMR beeinflusst hat, bereits oben in Fn. 1165. 1237 1238

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Art. 220 EGV noch in der Funktion als Hilfserkenntnisquelle und erst recht nicht als echter Erkenntnisquelle konstruiert werden. Denn letztlich liefe dies unter Umgehung des Willens der Vertragsherren darauf hinaus, in der Charta eine bloße Dokumentation der bislang anerkannten Grundrechte der Gemeinschaftsrechtsordnung zu erblicken. Mit ihrem Inkrafttreten soll sie aber viel mehr als dies sein, nämlich eine eigenständige Rechtsquelle grundlegender Rechte und Werte, mit denen sich der Einzelne identifizieren kann1240. Der Charta kommt daher bis zu ihrem formellen Inkrafttreten noch keine unmittelbare oder mittelbare Rechtsbindungswirkung zu. Eine Aktivierung einzelner Bestimmungen derselben zur Herleitung, Auslegung oder Geltungsbestätigung der Grundrechte erscheint demnach, auch in der Funktion als uneigenständige Hilfsquelle, bis auf weiteres nicht zulässig, zumal eine solche in praktischer Hinsicht keinen Nutzen verspräche. Anderes wird freilich gelten, wenn der Charta eine formale Verbindlichkeit zuteil wird1241. Auch wenn auf der einen Seite die Charta selbst in den Bereichen, in welchen es auf die von der EMRK nicht berücksichtigten spezifischen Anforderungen der unionalen Rechtsordnung ankommt, derzeit keine rechtserhebliche Rolle spielen kann1242, konvergiert ihre tatsächliche Bedeutung andererseits schon deshalb nicht gegen null, weil der in ihr verkörperte Werteund Rechtekanon kontemporär die einzige speziell und unmittelbar auf die Unionsrechtsordnung bezogene schriftliche Katalogisierung von Grundrechten darstellt. Ihre feierliche Proklamierung legt nicht nur Zeugnis für das bislang entwickelte Grundrechtsbewusstsein ab, sondern enthält auch ein klares Indiz für die weiter wachsende Grundrechtssensibilität der Union wie auch ihrer Mitgliedstaaten. Der weitgehend klare und prägnante Wortlaut der Charta, der gemäß dem Mandat von Köln von Anfang an bewusst darauf angelegt worden ist, eines Tages verbindliche Grundrechtsgarantien zu kodifizieren1243, stützt schon heute ihre hohe symbolische Relevanz. Das über die politischen und symbolischen Dimensionen hinausgehende rechtliche Potential der Charta ist unterdessen noch hypothetischer Natur, da es gerade in ihrer zukünftig möglichen, derzeit noch ungewissen Verbindlichkeit begründet liegt1244. Auch die funktionale Bedeutung der Charta, den GrundÄhnlich Tettinger, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 79, 80 f. 1241 Dazu in Teil 3 unter A. III. 1242 A. A. insoweit Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 42. 1243 In diesem Sinne auch Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 12; Pernice, ColJEL 2004, 5, 9 f.; Triebel, Jura 2003, 525. 1244 Obgleich das „Wie“ angesichts der Verknüpfung der Charta mit dem weiteren Konstitutionalisierungsprozess grundsätzlich geklärt sein dürfte, kann und muss die 1240

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rechtsschutz im Interesse der Rechtssicherheit nachhaltig transparent zu gestalten1245, ist von der Aktivierung dieses Potentials abhängig. b) Rechtsquellencharakter der Rechtsprechung des EGMR Im Gegensatz zur Grundrechte-Charta fällt es nicht schwer, eine hinreichende Rechtfertigung für die Zulässigkeit eines grundrechtshermeneutischen Rückgriffs auf die weit entwickelte und ausdifferenzierte Rechtsprechung des EGMR zu den einzelnen Konventionsrechten zu finden. Fungiert die EMRK in einem gegebenen Fall als echte Rechtserkenntnisquelle und kann die Stellung des Gerichtshofs in Straßburg als für die Interpretation der EMRK besonders qualifizierte Auslegungsquelle nicht ernsthaft in Frage gestellt werden1246, so kann auch die Fruchtbarmachung seiner Auslegungsergebnisse durch den EuGH keinen Bedenken unterliegen. Berücksichtigt man weiterhin die neueren Tendenzen des EGMR, unionsrechtliche Maßnahmen nicht schon wegen des fehlenden Beitritts der EU zur EMRK aus der Konventionsverantwortlichkeit zu entlassen, sondern eine eigene Kontrollkompetenz über die völkerrechtlich verbleibende Verantwortung der Mitgliedstaaten zu begründen, und sieht man in dem Bemühen des EuGH um materielle Konvergenz zur Rechtsprechung des EGMR gar eine faktische Selbstbindung1247, kann die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs im Rahmen der unionalen Grundrechtsquellensystematik ganz besondere Bedeutung zukommen. Auch wenn hier wohlgemerkt nicht von einer echten rechtlichen Bindung an die EGMR-Rechtsprechung die Rede ist, würde jedenfalls ihre Bezeichnung als bloße Hilfserkenntnisquelle dieser Relevanz doch nicht gerecht. Aufgrund des zumindest faktischen Beachtungsgebots und angesichts der Autorität des EGMR als des zentralen Konventionsorgans haftet seine Rechtsprechung den Konventionsbestimmungen vielmehr so unmittelbar an, dass eine quellensystematische Differenzierung zwischen der Erkenntnisquelle, namentlich der EMRK, und einer Hilfserkenntnisquelle, der Rechtsprechung des EGMR, weder sinnvoll noch möglich erscheint. Die Frage jedoch einer erneuten Diskussion zugeführt werden, wenn die Bemühungen um den Verfassungsvertrag vollends fehlschlagen sollten. Ein solches Szenario müsste sodann die Überlegung herausfordern, den Eintritt der Formalverbindlichkeit der Grundrechte-Charta wieder von den anderweitigen Reformbemühungen loszukoppeln [dazu in Teil 3 unter A. IV. 2.]. 1245 Entsprechend der Selbstbindung des Europäischen Parlaments bejaht dieses schon heute eine solche funktionelle Bedeutung [vgl. Entschließung des Europäischen Parlaments zu der Wirkung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihren künftigen Status vom 8. Oktober 2002 (2002/2139(INI)), insbesondere Punkt K]. 1246 Vgl. Rodríguez Iglesias, in: FS Bernhardt, S. 1269, 1275. 1247 Zu alledem bereits ausführlich oben unter 2. a) bb) (3).

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Rechtsprechung des EGMR ist in diesem Sinne als unmittelbarer Bestandteil der EMRK bereits der Grundrechtsquellensystematik des Art. 6 Abs. 2 EUV inhärent, so dass auch insoweit die Konzipierung einer neuen, vierten Stufe im unionalen Grundrechtsquellensystem nicht angezeigt ist. c) Überlegungen zu weiteren internationalen Menschenrechtsquellen Damit verbleibt im Rahmen der rechtssysteminternen Grundrechtsquellenanalyse de lege lata zuletzt die Frage zu klären, ob und gegebenenfalls wie andere internationale Erklärungen und Verträge betreffend die Menschenrechte und Individualfreiheiten in das grundrechtliche Herleitungssystem eingebettet werden können. Zur Klarstellung sei dabei schon vorab betont, dass es im Rahmen der hiesigen Überlegungen um eine mögliche Einordnung internationaler Quellen in die von Art. 6 Abs. 2 EUV gelenkte Struktur des internen Unionsrechtssystems geht. Soweit die EG am völkerrechtlichen Rechtsverkehr teilnimmt, unterliegen ihre Handlungen schon als Völkerrechtssubjekt1248 auch einer etwaigen Bindung an die einschlägigen internationalen Menschenrechts- und Grundfreiheitsverbürgungen, insbesondere wenn diesen völkergewohnheitsrechtlich1249 und womöglich gar in der Stellung von ius cogens1250 Rechtsverbindlichkeit zukommen1251. Zudem 1248 Nach Art. 281 EGV ist die Gemeinschaft eigenständiges „gekorenes“ Völkerrechtssubjekt (vgl. Tomuschat, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUG/EUV, Art. 210 EGV, Rn. 1). Die Verfassung würde diese Natur durch Art I-7 EV auf die gesamte Union ausweiten. 1249 Hierzu näher Klein, Bedeutung des Gewohnheitsrechts für den Menschenrechtsschutz, in: Klein/Menke, Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, S. 11 ff. 1250 Vgl. zum Begriff des ius cogens Art. 53 WVK. Ausführlicher zur Konnexität von Menschenrechten und imperativem Recht Karl, Menschenrechtliches ius cogens – Eine Analyse von „Barcelona Traction“ und nachfolgender Entwicklungen, in: Klein/Menke, Menschenrechtsschutz durch Gewohnheitsrecht, S. 102 ff.; s. ferner die Überlegungen von Klein, in: FS Ress, S. 151 ff. 1251 Zu denken ist dabei vor allem an das Genozidverbot, das Sklaverei- und Sklavenhandelverbot, das Folterverbot, das Verbot willkürlicher Tötung und den Grundsatz nullum crimen, nulla poena sine lege (vgl. Klein, in: FS Benda, S. 135, 151). Darüber hinaus können am menschenrechtlichen Völkergewohnheitsrecht folgende Rechte teilnehmen: Das Verbot schwerer Körperverletzung und Zufügung von Leiden, die willkürliche Zerstörung und Enteignung von Eigentum, das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren, die willkürliche Deportation oder Geiselnahme, das Verbot systematischer Diskriminierung aufgrund der Rasse, der Religion oder des Geschlechts, das Verbot willkürlicher und überlanger Freiheitsberaubung oder auch der Grundsatz des non-refoulement (vgl. zu dem Thema auch Schachter, International Law in Theory and Practice, S. 338 ff.; zum Verbot der Diskriminierung aus Glaubensgründen Klein, Menschenrechte, Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, S. 15).

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ist die EU auch darüber hinaus bestrebt, auf internationaler Ebene die allgemeinen Menschenrechte im Sinne der einschlägigen Instrumente, wie etwa der AllgErklMenschenR1252, des IPwirtR1253, des IPbürgR1254 und der UN-Kinderrechtskonvention1255 zu achten und zu fördern1256. Diese völkerrechtlichen Menschenrechtsquellen1257 können aber auch für das interne Grundrechtsregime von Bedeutung sein. Erscheint es in diesem Belang nach dem vorliegenden Verständnis von Art. 6 Abs. 2 EUV a priori auch zulässig, den fokussierten internationalen Ressourcen in ihrer vertraglichen Gestalt oder aber in der Form von allgemeinem Völkerrecht die Position echter gemeinschaftsrechtlicher Rechtserkenntnisquellen zuteil werden zu lassen, liegt es aufgrund der normativen Prägung des Grundrechtsquellensystems mit der ausdrücklichen Hervorhebung der Verfassungsüberlieferungen und der EMRK auch nicht fern, sie analog zu den obigen Überlegungen zur Charta der Grundrechte1258 auf die eine oder andere Weise erst auf einer untergeordneten Hilfserkenntnisquellenebene fruchtbar zu machen. Für die Begründung einer unionsinternen Quellenrelevanz völkerrechtlicher Grundrechtsquellen kommen folglich verschiedene Wege in Betracht. aa) Unverbindlichkeit der AllgErklMenschenR Was die AllgErklMenschenR anbelangt, so ist diese von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in Gestalt einer unverbindlichen Resolution beschlossen worden. Eine formal-rechtliche Bindungswirkung fehlt ihr daher. Obgleich sie im Übrigen jedem menschlichen Individuum universell einen ganzen Strauß an unveräußerlichen Rechten zuspricht, diese Rechte Sartorius II Nr. 19; internationale Quelle: Resolution 217 (III) Universal Declaration of Human Rights, in: United Nations, General Assembly, Official Records (GAOR), third Session (part I), Resolutions (Doc. A/810), 71. 1253 BGBl. 1973 II 1570. 1254 BGBl. 1976 II 1068. 1255 Übereinkommen über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989, in Kraft getreten am 2. September 1990, deutsche Fundstelle: BGBl. 1992 II 122. Vgl. insoweit EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 37 und 57 (Parlament/Rat). 1256 Vgl. die Ausführungen des Rats der Europäischen Union in seinem EU-Jahresbericht 2004 zur Menschenrechtslage, S. 8. 1257 Weiterhin potentiell relevante Quellen des Völkerrechts, so etwa die UN-Folterkonvention vom 10. Dezember 1984 (BGBl. 1990 II 246) oder das Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form der Diskriminierung der Frau vom 18. Dezember 1979 (BGBl. 1985 II 648) spielen wohl angesichts der Existenz „systemimmanenter“ und mindestens ebenso schutzintensiver Regelungen, hinsichtlich der genannten Beispiele etwa in Art. 3 EMRK einerseits und Art. 141 EGV andererseits, bislang keine besondere Rolle in der Rechtsprechung des Gerichtshofs. 1258 s. o. unter a) bb) (3). 1252

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dabei gleichsam als bestehend voraussetzt1259 und ihre zentralen Aussagen in diesem Lichte auch in der Form von Völkergewohnheitsrecht1260 oder allgemeinen Rechtsgrundsätzen1261 sowie partiell auch als ius cogens Geltung beanspruchen können, erscheint eine Eingliederung der Erklärung als solcher in das unionale Grundrechtsquellensystem auf der Grundlage der Erwägung, dass ihr auch sämtliche EU-Mitgliedstaaten zugestimmt haben, nicht möglich. Zu beachten gilt hier nämlich, dass in der Rechtsprechung des EuGH eben nur die „internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte“1262 Grundrechtsquellenrelevanz haben. Eine quellenhermeneutische Beachtlichkeit der AllgErklMenschenR kommt demnach vielmehr allein in Bezug auf etwaig parallel existentes allgemeines Völkerrecht in Betracht, nicht aber für den Resolutionstext selbst. bb) Indizierung gemeinsamer Verfassungstraditionen durch Menschenrechtsverträge Vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Resonanzgefüges, das die gemeinschaftliche Rechtsordnung mit den mitgliedstaatlichen Rechtssystemen bildet, käme für die in den Blick genommenen völkerrechtlichen Verträge eine rechtsrelevante Bezugnahme zunächst über eine weitere, die Recherche nach gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen betreffende Grundrechtsquellenebene in Betracht. Der Ansatz könnte aus der Überlegung heraus zu rechtfertigen sein, dass die völkerrechtlichen Bindungen der Mitgliedstaaten nicht ohne Einfluss auf das Gemeinschaftsrecht bleiben können1263. Denn durch den Abschluss eines dem Schutz des Individuums dienenden internationalen Vertrages haben sich die Vertragsstaaten nicht nur im Rahmen des Grundsatzes pacta sunt servanda1264 gegenüber den anderen Vertragsstaaten zur Gewährung und Beachtung der beredten menschenrechtlichen Werte verpflichtet, vielmehr bedingen Sinn und Vgl. Klein, EuGRZ 1999, 109. So etwa Buergenthal, International Human Rights in a Nutshell, S. 35; s. insofern auch UN-Menschenrechtskommission, Report on the Human Rights Situation in the Islamic Republic of Iran by the Special Representative of the Commission, Mr. Reynoldo Galindo Pohl, appointed pursuant to Resolution 1986/41, UN-Dok. E/CN.4/1987/23, § 22. 1261 So punktuell, nicht aber in Bezug auf den kompletten Erklärungstext Schachter, International Law in Theory and Practice, S. 337 f. 1262 EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 ff., 507 f., Rn. 13 (Nold); ebenso anschließend EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 ff., Rn. 15 (Hauer). 1263 In diesem Sinne bereits Bernhardt, EuR 1983, 199, 214. 1264 Zur Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane, den Grundsatz „pacta sunt servanda“ als tragendem Grundsatz jeder Rechtsordnung bei der Ausübung ihrer Befugnisse zu beachten EuGH, Rs. C-162/96, Slg. 1998, I-3655, Rn. 49 (Racke). 1259 1260

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Zweck eines Menschenrechtsabkommens gerade, den jeweils interessierenden Schutzsubjekten die garantierten Rechte auch in justitiabler Weise auf der innerstaatlichen Ebene zu gewährleisten. Die vertragliche Begründung einer völkerrechtlichen Menschenrechtsverpflichtung lässt folglich die Präsumtion zu, dass der Vertragsstaat die Gewähr auch in das ihn tragende oder von ihm geschaffene Rechtssystem transportieren möchte, sofern das Wesen und der Inhalt der einzelnen Verbürgungen dies erlauben. Die so intendierte praktische Gewährung der auf internationaler Ebene begründeten Menschenrechte nach innen hängt auch nicht zwingend davon ab, ob das Abkommen, wie etwa die EMRK, zugleich ausdrückliche Regelungen zur prozessualen Geltendmachung der grundrechtlichen Garantien enthält und den Einzelnen so bereits selbst zu einem zumindest partiellen Völkerrechtssubjekt aufwertet1265. Die vorstehenden Überlegungen dürften insbesondere für die EU-Mitgliedstaaten Geltung beanspruchen, die sich durch die Gründung eines neuen, teils supranationalen, teils intergouvernementalen Rechtssystems und durch die im Zuge dessen bewirkte Teilübertragung von Hoheitsrechten nicht ihrer völkerrechtlichen Menschenrechtsverpflichtungen entziehen konnten1266 und gewiss auch nicht wollten. Der beschriebene Ansatz kann für sich zudem prima facie den Vorteil verbuchen, den beiden in Art. 6 Abs. 2 EUV hervorgehobenen Erkenntnisquellen den quellenhermeneutischen Vorrang zu belassen, Ungeachtet der jeweiligen Systementscheidung für eine monistische oder dualistische Konzeption beanspruchen die menschenrechtlichen Verpflichtungen eines völkerrechtlichen Vertrages jedoch nur in den wenigsten nationalen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Rechtsgeltung im Range des Verfassungsrechts1267. Haftet man also eng am Worte des Art. 6 Abs. 2 EUV, dürften internationale Quellen schon danach nicht zur Begründung 1265 Vgl. zu diesem Thema BVerfG NJW 2006, 2542, 2543; Doehring, Völkerrecht, Rn. 245; Epping, in: Ipsen, Völkerrecht, § 7, Rn. 3 f.; Herdegen, Völkerrecht, § 12, Rn. 2; vgl. zur differenzierenden Beurteilung der Subjektsqualität in Bezug auf völkerrechtliche Delikte einerseits und vertragliche Menschenrechtssysteme andererseits BVerfGE 94, 315, 334, wonach das Individuum in ersterem Bereich ohne eigene Rechtssubjektivität nur in mediatisierter Form, namentlich über den diplomatischen Schutz durch seinen Staat in den Schutzbereich des Völkerrechts einbezogen wird. 1266 s. insofern in Bezug auf die EMRK bereits EKMR, UnzEnt. vom 9. Februar 1990, Beschw. Nr. 13258/87 (Melchers & Co./Deutschland). s. zur Geltung völkergewohnheitsrechtlicher Verpflichtungen für Internationale Organisationen auch schon IGH, Gutachten vom 20. Dezember 1980, ICJ Reports 1080, 73 (Interpretation of the WHO-Egypt Agreement). 1267 s. zum speziellen Fall der EMRK den einfachen Gesetzesrang in Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Italien und Schweden. Echten Verfassungsrang hat sie etwa in Österreich [zu diesem Thema bereits ausführlicher oben unter 2. b) aa) (1) (b)].

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von „Verfassungsüberlieferungen“ herangezogen werden. Sofern man hingegen den Verweis auf die mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen in einem normsystematischen Kontext zu Art. 288 Abs. 2 EGV verstehen und auch auf die einfachgesetzlichen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ausweiten möchte, wogegen jedoch aus grammatikalischer, rechtssystematischer und teleologischer Sicht Bedenken anzumelden sind, so ließe sich in der Tat zumindest dem Grunde nach die bereits angedeutete Konstruktion einer Hilfserkenntnisquellenebene entwerfen. Dabei müsste indessen die Frage nach der Bedeutung einzelner mitgliedstaatlicher Vorbehalte mit besonderem Feingefühl behandelt werden, da die Legitimation zur Aktivierung der betreffenden Hilfserkenntnisquelle nicht direkt im Quellenprogramm des Art. 6 Abs. 2 EUV begründet läge und hier demnach eine weitaus präzisere Prüfung der tatsächlichen Gemeinsamkeiten zwischen den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen angezeigt wäre. Anders als im Falle der EMRK, für die Art. 57 § 1 EMRK den zulässigen Vorbehaltsrahmen auf das Maß des Notwendigsten einschränkt, können die mitgliedstaatlichen Vorbehalte zu anderen Menschenrechtsverbürgungen des Vertragsvölkerrechts aber weitreichender und in ihrer Zahl wie auch ihrem Umfang teilweise nur schwer vollständig zu überblicken sein1268. Insoweit erscheint es kaum zulässig, auch dann auf eine gemeinsame Tradition in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zu schließen, wenn einer oder mehrere der unterzeichnenden Vertragsstaaten, die zugleich Mitglieder der EU sind, gerade aufgrund entgegenstehender Besonderheiten der eigenen Verfassungsordnung Vorbehalte gegenüber einer Bestimmung des betreffenden Abkommens erklärt haben. Bejahte man in einem solchen Fall gleichwohl die Existenz gemeinsamer mitgliedstaatlicher Rechtstraditionen, sähe sich letztlich die systemprägende, vorbehaltsrechtfertigende Besonderheit des nationalen Rechts von dem allgemeinen, vorbehaltslosgelösten Gehalt des völkerrechtlichen Abkommens überlagert. Der maßgebliche Blick darf demzufolge nicht dem Inhalt des jeweils in Frage stehenden völkerrechtlichen Abkommens gelten, sondern muss primär auf die Eigenarten der nationalen Rechtsordnungen als echter Rechtserkenntnisquelle gerichtet werden. Nur diese Betrachtung wird dem in Art. 6 Abs. 2 EUV zum Ausdruck kommenden Quellensystem gerecht, das mit gutem Grund den unionalen Grundrechtsschutz vornehmlich an die beiden dem europäischen Rechtssystem 1268 Nach Art. 19 WVK kann jeder Staat bei der Unterzeichnung, Ratifikation, Annahme oder Genehmigung eines Vertrags oder bei einem Vertragsbeitritt grundsätzlich ohne Einschränkungen Vorbehalte anbringen, es sei denn der Vertrag begrenzt diese Möglichkeit ausdrücklich, wie beispielsweise Art. 35 der EMRK und Art. 2 des zweiten Fakultativprotokolls zum IPbürgR zur Abschaffung der Todesstrafe (deutsche Fundstelle: BGBl. 1992 II 391; Sartorius II 20 b; ausführlicher zum Thema Menschenrechtsverträge und Vorbehaltserklärungen Lorz, Der Staat 2002, 29 ff.).

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am nächsten stehenden und für dieses daher besonders sachgemäßen Erkenntnisquellen der EMRK und der mitgliedstaatlichen Verfassungswerte koppelt. Selbst wenn aber mit Blick auf den Umstand, dass unter Anwendung der Methodik der wertenden Rechtsvergleichung nicht zwingend nach einer vollständigen Übereinstimmung der nationalen Rechtssysteme gesucht werden müsste, ein vertragsstaatlicher Wertekonsens über ein menschenrechtliches Abkommen feststellbar wäre, erschiene der zu beschreitende Herleitungsweg, namentlich von originär völkerrechtlichen Quellen ausgehend über die nationalverfassungsrechtlichen Grundrechtssysteme hin zu den Unionsgrundrechten in Form von allgemeinen Rechtsgrundsätzen doch insgesamt zu umständlich und mit der Schaffung einer weiteren Grundrechtsquellenebene auch zu konstruiert. Angesichts der Existenz der rechtssystematisch näheren und gegenüber den Menschenrechtsverträgen in der Regel nicht minder ergiebigen Rechtserkenntnisquelle der EMRK dürfte hierfür letztlich keine praktische Notwendigkeit bestehen. cc) Herleitung von Verfassungstraditionen über das Völkergewohnheitsrecht Denkbar ist im unmittelbaren Zusammenhang dazu zwar auch, gemeinsame mitgliedstaatliche Verfassungstraditionen aus dem Bereich des Völkerrechts zu gewinnen, soweit die internationalen Menschenrechtsverbürgungen über eine völkergewohnheitsrechtliche Geltung in die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen Eingang finden, wie etwa in Deutschland nach Art. 25 GG1269, der Völkergewohnheitsrecht wie auch allgemeine völkerrechtliche Rechtsgrundsätze im Range zwischen einfachem Recht und Verfassungsrecht1270 erfasst. Allerdings ergeben sich auch bei einer derartigen Begründung verfassungsrechtlicher Gemeinsamkeiten aufgrund der gebotenen Beachtung der unterschiedlichen Geltungsmodalitäten der allgemeinen Regeln des Völkerrechts in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen erhebliche rechtsmethodische Probleme, deren Ausmaße in keinem vernünftigen Verhältnis zu dem rechtshermeneutischen Mehrwert einer weiteren Grundrechtsquellenebene stehen.

Vgl. dazu BVerfGE 23, 288, 316 f.; BVerfGE 37, 271, 278 f. Für einen Verfassungsrang etwa Steinberger, Allgemeine Regeln des Völkerrechts, in: Isensee/Kirchhof, HdBStR VII, S. 557 f. 1269 1270

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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dd) Direkte Quellenimplementierung über die Geltung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Gemeinschaftsrecht Methodisch sinnvoller kann es daher sein, eine Implementierung der völkerrechtlichen Menschenrechtsverpflichtungen in das unionale Grundrechtsquellensystem über den Umstand zu begründen, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts nach der Rechtsprechung des EuGH selbst Bestandteil des Gemeinschaftsrechts sind1271, und dies auch ohne einen darauf bezogenen gemeinschaftsrechtlichen Umsetzungsakt1272. In Konsequenz hierzu sind jegliche Befugnisse der Gemeinschaftsorgane unter Beachtung des Völkerrechts auszuüben und haben insbesondere die Auslegung des Gemeinschaftsrechts und die Umschreibung seines Anwendungsbereichs im Lichte der einschlägigen internationalen Regeln zu erfolgen1273. Allerdings dürfte dies nur insoweit gelten, als die Anwendung auf eine zwischenoder überstaatliche internationale Einrichtung mit dem Wesen der völkerrechtlichen Regel überhaupt kompatibel ist1274. In diesem Zusammenhang ist auch von Bedeutung, dass das unionale Rechtssystem in der internationalen Rechtssphäre ein self-contained-regime1275 mit besonderem Spezialisierungsgrad bildet. Kann ein solches einerseits nicht gänzlich außerhalb 1271 Vgl. EuGH, Rs. C-286/90, Slg. 1992, 6019, Rn. 9 f. (Poulsen) sowie EuGH, Rs. C-162/96, Slg. 1998, 3655, Rn. 45 f. (Racke). Vgl. zur Einbeziehung eines völkerrechtlichen Grundsatzes in die rechtlichen Erwägungen bereits EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 21/23 (Van Duyn). 1272 Vgl. Müller-Ibold, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 300 EGV, Rn. 4; ausführlicher zur Stellung des Völkerrechts im Unionssystem Epiney, EuZW 1999, 5 ff.; zur umgekehrten Frage näher Hobe/Müller-Satori, Jus 2002, 8 ff. 1273 So jüngst EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 249 und 274 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649, Rn. 199 und 223 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission); zu einem Fall völkerrechtskonformer Auslegung des Gemeinschaftsrechts schon EuGH, verb. Rsn. 89/85, 104/85, 114/85, 116/85, 117/85, 125 bis 129/85, Slg. 1988, 5193, Rn. 15 ff. (Ahlström/Kommission). 1274 Vgl. Krück, in: Schwarze, EUV/EGV, Art. 281 EGV, Rn. 19; s. dazu auch die Rechtsprechungsnachweise bei Ukrow, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 281 EGV, Rn. 12. 1275 Grundlegend EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 25 (Van Gend & Loos); dazu und auch zum Gegenmodell im Kontext zur EU Nettesheim, WHI-Paper 1/2007, S. 13 ff. s. allgemeiner zum Begriff des self-contained regimes den Bericht von Martii Koskenniemi, Outline of the Chairman of the ILC Study Group on Fragmentation of International Law, The Function and Scope of the lex specialis rule and the question of self-contained regimes, S. 1 ff., insb. Punkt 3.1 (im Internet abrufbar unter www.untreaty.un.org/ilc/sessions/55/fragmentation_outline.pdf – letzter Besuch: 22. Juli 2007). Zur Verwendung des Begriffs durch das BVerfG im Kontext zu den Regeln des Diplomatenrechts BVerfGE 96, 68, 84.

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

des Anwendungsbereichs des allgemeinen Völkerrechts stehen1276 und muss es vor allem mit dem völkerrechtlichen ius cogens konform gehen1277, so setzen sich im Konfliktfall andererseits die primärrechtlichen Regeln der gemeinschaftlichen Rechtsordnung zur Wahrung der prägenden Eigenheiten des autonomen Systems gegenüber dem allgemeinen Völkerrecht durch, während sich das Sekundärrecht Letzterem ausweislich der in Art. 300 Abs. 7 EGV zum Ausdruck kommenden Rechtsquellenhierarchie unterordnet1278. Mit besonderem Blick auf das Grundrechtsregime der EU ist abermals in diesem Kontext zu bedenken, dass eine unreflektierte, ob vollständige oder nur teilweise Übernahme externer Rechtsressourcen völkerrechtlichen oder einzelstaatlichen Ursprungs in das eigene Rechtssystem kaum den Besonderheiten der europäischen Rechtsordnung genügt hätte. Just vor diesem Hintergrund hat der EuGH schließlich die Rechtsfigur der allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundsätze bemüht und diese wiederum mit Rechtserkenntnisquellen unterfüttert, um bei der Findung und Ausformung der systemeigenen Grundrechtsordnung auf eine rechtsordnungsoriginäre, flexible und zugleich rechtsdogmatisch tragende Basis verweisen zu können. Soweit aber die internationalen menschenrechtlichen Garantien nach völkerrechtlichen Maßstäben als Gewohnheitsrecht oder als allgemeine Rechtsgrundsätze Bestandteil des allgemeinen Völkerrechts sind, unterfallen auch sie dem dargelegten Beachtungsgebot und können demnach im Einzelfall rechtserhebliche Hinweise für die Herleitung und Ausformung eines Unionsgrundrechts liefern und in diesem Sinne an der Grundrechtsquellenkonzeption des Unionsrechts teilnehmen.

1276 Vgl. dazu etwa den Bericht der International Law Commission, 55. Session vom 18. Juli 2003, Report of the Study Group on Fragmentation of International law: Difficulties arising from the Diversification and Expansion of International Law, A/CN.4/L.644, S, 8 f., § 23. 1277 Dazu schon EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 21/23 (Van Duyn); ferner jüngst wieder EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 277 ff. (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649, Rn. 226 ff. (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139, Rn. 101 ff. (Ayadi/Rat); dazu auch Ukrow, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 281 EGV, Rn. 12. 1278 Vgl. Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. 210 EGV, Rn. 6; dazu auch schon Meessen, CMLR 1976, 485 ff., insb. 497; zum Vorrang der seitens der EG geschlossenen völkerrechtlichen Abkommen gegenüber dem abgeleiteten Gemeinschaftsrecht s. EuGH, Rs. C-61/94, Slg. 1996, I-3989, Rn. 52 (Kommission/Deutschland).

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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ee) Die völkervertragsrechtlichen Menschenrechtsverpflichtungen der Mitgliedstaaten als Rechtserkenntnisquelle Darüber hinaus bleibt schließlich die Möglichkeit, eine gemeinschaftsrechtsinterne Relevanz der internationalen Abkommen zum Schutze der Menschenrechte maßgebend an dem Umstand der völkervertraglichen Bindung der EU-Mitgliedstaaten festzumachen und die Quellenimplementierung damit in Abweichung zu dem vorhergehenden Ansatz, der die internationalen Verbürgungen kraft und im Umfang ihrer Zugehörigkeit zum allgemeinen Völkerrecht in das Grundrechtsquellensystem einbezieht, gerade direkt an den einzelnen Bestimmungen des betreffenden Vertrags anzusetzen. Ist die EG nämlich als Völkerrechtssubjekt grundsätzlich an das allgemeine Völkerrecht gebunden, so kann es vor dem Hintergrund der Rechtsordnungsrückkopplung an die mitgliedstaatlichen Rechtssysteme a fortiori gerechtfertigt sein, sie in ihrer Eigenschaft als Träger der gemeinschaftsrechtlichen Hoheitsgewalt in gewissem Umfang auch den speziellen vertragsrechtlichen Menschenrechtsverpflichtungen der Unionsmitglieder zu unterwerfen. Ein solcher Ansatz entspricht ganz offenbar auch der Praxis des EuGH, wenn dieser sich ausweislich seiner ständigen Grundrechtsformel eben von jenen Völkerrechtsverträgen zum Schutze der Menschenrechte leiten lassen will, „an deren Abschluss die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind“1279. Im Gegensatz zu den zuvor behandelten Ansätzen verläuft dieser Weg methodisch nicht über eine erst zu konstruierende Hilfsquellenebene zum Nachweis der Existenz mitgliedstaatlicher Verfassungswerte. Vielmehr werden die einschlägigen Menschenrechtsabkommen hierbei zur Ermittlung der Gemeinschaftsgrundrechte als eigenständige Rechtserkenntnisquellen fruchtbar gemacht1280. Eine tragende Stütze findet dieser Ansatz in der Überlegung, dass die Mitgliedstaaten sich durch die Gründung der EU oder einen Beitritt zu dieser nicht ihrer vertraglichen Menschenrechtsverpflichtungen entziehen konnten und ebenso wenig wollten. Was der EGMR in ständiger Rechtsprechung in speziellem Bezug auf die EMRK festgestellt hat1281, dürfte entsprechend für die anderen Menschenrechtspakte gelten. Die Gemeinschaft soll sich ersicht1279 St. Rspr., s. exemplarisch nur EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41 (ERT); EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 25 (Roquette Frères); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 (Schmidberger); ferner jüngst wieder EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 35 (Parlament/Rat). 1280 Zur betreffenden Beurteilung der in sich uneinheitlichen Rechtsprechungspraxis des EuGH bereits oben unter 1. b) und 2. b) bb) (1). 1281 Vgl. insbesondere EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94, § 32 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich).

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

lich nicht den demgemäß fortwährenden Verantwortlichkeiten der Mitgliedstaaten verschließen können, sondern ihre im Wirkungsbereich mitgliedstaatlicher Völkerrechtsverpflichtungen übertragenen Befugnisse im Sinne derselben ausüben1282. Eine wesentliche Flankierung erhält der Ansatz auch durch die Art. 307 und Art. 10 EGV. Nach ersterer Regelung lässt die Gemeinschaft die vor ihrer Gründung oder vor einem späteren Beitritt begründeten völkervertraglichen Verpflichtungen gegenüber Drittstaaten unberührt1283. Zugleich müssen sich die betreffenden Mitgliedstaaten aber im Konfliktfall um die Behebung etwaiger Unvereinbarkeiten bemühen1284. Obschon die Vorschrift vielfach aus temporalen Gründen nicht auf die hier relevanten Menschenrechtsabkommen anwendbar ist1285 und auch ihr primärer Zweck als Kollisionsregel, die Mitgliedstaaten oder beitrittswillige Länder vor völkerrechtlichen Verpflichtungskonflikten zu bewahren, im hier interessierenden Bereich in Abwesenheit eines echten Reibungspotentials nicht greifen dürfte, ist sie doch Ausdruck eines gegenseitigen Rücksichtnahmegebots1286, das in Art. 10 EGV eine allgemeine Niederlegung gefunden hat und die Gemeinschaft dazu anhält, den internationalen Verpflichtungen ihrer Mitglieder bei der Ausübung der übertragenen Hoheitsrechte Rechnung zu tragen. In diesem Lichte kann aus dem hinter den Art. 307 und Art. 10 EGV stehenden allgemeinen Rechtsgedanken gleichsam ein die Gemeinschaft betreffendes Respektierungsgebot gegenüber den ihre Mitglieder bindenden Verträgen zum Schutze der Menschenrechte resultieren. Die daraus folgende Bindung dürfte freilich nicht so weit reichen wie jene im Bereich der GATT, in welchem die Gemeinschaft aufgrund des mit der weitgehenden mitgliedstaatlichen Übertragung der Außenhandelskompetenzen einhergehenden Antritts einer funktional-beschränkten Nachfolge eigenen völkerrechtlichen Verpflichtungen unterliegt1287. Ebenso 1282 Dahingehend EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 246 und 248 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission). 1283 Vgl. EuGH, Rs. C-324/93, Slg. 1995, I-563, Rn. 27 (Evans Medical und Macfarlan Smith). 1284 Dazu etwa EuGH, Rs. C-147/03, Slg. 2005, I-5969, Rn. 72 (Kommission/Österreich). 1285 Zur Nichtanwendbarkeit der Vorschrift auf spätere Änderungen eines internationalen Abkommens EuGH, Rs. C-476/98, Slg. 2002, I-9855, Rn. 69 (Kommission/ Deutschland). 1286 s. in diesem Zusammenhang insbesondere EuGH, Rs. 812/79, Slg. 1980, 2787, Rn. 9 (Burgoa), wonach die Regelung stillschweigend auch eine Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane begründet, die völkerrechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten zu beachten und deren Erfüllung nicht zu behindern. 1287 Vgl. dazu schon EuGH, Rs. 21/72 bis 24/72, Slg. 1972, 1227, Rn. 14/18 (International Fruit Company u. a.); s. dazu auch Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. 210 EGV, Rn. 13.

B. Grundlage: Grundrechtsbindung und Grundrechtsquellensystematik

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muss die so eruierte Verantwortung der Gemeinschaft gegenüber den internationalen Menschenrechtsabkommen weniger streng ausfallen, als ihre Bindung an UN-rechtliche Verhaltensvorgaben, die in Ermangelung einer mitgliedschaftlichen Position zwar ihrerseits keine unmittelbare ist1288, aber mit Blick auf die nach Maßgabe der Art. 103 und Art. 25 UN-Charta vorrangigen UN-rechtlichen Pflichten der Mitgliedstaaten dem festen Willen Letzterer entsprechen muss1289 und daher eine streng mediatisierte Verantwortung begründet. Jedenfalls aber dürften die obigen Ausführungen zum Berücksichtigungsgebot jene Orientierungsfunktion rechtfertigen, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung den seitens der Mitgliedstaaten abgeschlossenen internationalen Menschenrechtsabkommen beimisst und in diesem Sinne auch ihre rechtssystematische Einbeziehung als eigenständige Rechtserkenntnisquellen erlauben. Das Grundrechtsregime der Gemeinschaft wird auf diese Weise noch enger mit den mitgliedstaatlichen und zugleich in der internationalen Rechtssphäre manifestierten Wertmaßstäben rückgekoppelt. Dabei möchte der EuGH, soweit er in diesem Kontext regelmäßig betont, sich nur von den in jenen Quellen enthaltenen Hinweisen leiten lassen zu wollen1290, wohl einer leicht schwächeren Bindungswirkung Ausdruck verleihen, als er sie den Verfassungstraditionen zuteil werden lässt1291. Zumindest impliziert seine Formel, dass auch in diesem Grundrechtsquellenbereich keine kongruente Übertragung des jeweiligen Schutzgehalts zu fordern ist. In Entsprechung zu der in Bezug auf die mitgliedstaatlichen Vorbehaltserklärungen zur EMRK festgestellten RechtsHierzu EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 242 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission). 1289 Vgl. EuG, a. a. O., Rn. 250 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/ Rat und Kommission) unter Hinweis auf EuGH, Rs. 21/72 bis 24/72, Slg. 1972, 1227, Rn. 15 (International Fruit Company u. a.). Dazu bereits unter II. 4. b) cc). 1290 So bei EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 41 (ERT); EuGH, Rs. 219/91, Slg. 1992, I-5485, Rn. 34 (Ter Voort); EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 25 (Krombach) EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611, Rn. 37 (Connolly/Kommission); EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011, Rn. 23 (Roquette Frères); EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 71 (Schmidberger); EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 64 (Aalborg Portland u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 (Karner); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 (Omega); so auch jüngst wieder EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439, Rn. 76 (PKK und KNK/Rat). 1291 Abweichend, namentlich im Sinne einer den Verfassungstraditionen entsprechenden Bindungswirkung an die internationalen Menschenrechtsverträge aber etwa noch EuGH, 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 18 (National Panasonic); EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 13 (Hoechst/Kommission). Mit Blick auf Art. 6 Abs. 2 EUV besteht eine gleich gewichtige Bindungswirkung jedenfalls zwischen den Verfassungstraditionen und der EMRK [dazu bereits ausführlicher oben unter 2. b) aa) (2)]. 1288

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Teil 2: Die unionalen Rechtsquellen der Rechtsschutzgarantie

lage1292 muss sich der Gerichtshof folglich nicht mit Einzelvorbehalten und deren Reichweite zu den fokussierten Völkerrechtsverträgen auseinandersetzen. Schließlich ist hier rechtlicher Anknüpfungspunkt der Quellenrelevanz nicht die gemeinsame Völkerrechtsverpflichtung, sondern das grundsätzlich von allen EU-Mitgliedstaaten geschlossene Abkommen als solches. Aufgrund der hohen Schutzkonzentration der mitgliedstaatlichen Grundrechtsregimes und der EMRK in ihrer prätorisch gewonnenen Reife und der besonderen, nicht zuletzt der Rechtsprechung des BVerfG und des EGMR geschuldeten Systemrückkopplung an diese beiden Quellen1293 spielen die völkervertragsrechtlichen Menschenrechtsquellen in der Praxis jedoch nur dann eine nennenswerte Rolle, wenn sie gegenüber Letzteren eine ganz besondere Zielrichtung aufweisen und damit einen umfassenderen oder spezielleren Schutz versprechen1294. Vor diesem Hintergrund versteht sich von selbst, dass sie in den grundrechtsrelevanten Judikaten des EuGH nicht durchgehend, sondern nur bei Bedarf Erwähnung finden. Ihre wesentliche Bedeutung entfalten sie weiterhin im Bereich der Außenbeziehungen der Gemeinschaft.

IV. Ergebnis zu Bedeutung und Regelungsgehalt des Art. 6 Abs. 2 EUV Insgesamt führt die Normbedeutungs- und Norminhaltsinterpretation des Art. 6 Abs. 2 EUV zu dem Ergebnis, dass das Unionsrecht mit dieser Bestimmung ausdrücklich und verbindlich auf einer ersten Stufe das allgemeine grundrechtliche Achtungsgebot kodifiziert, auf einer zweiten Stufe die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts als unmittelbare Rechtsquelle und zugleich als Geltungsform der Grundrechte fixiert und diese auf einer dritten Stufe zur genaueren Inhaltskonkretisierung normativ insbesondere mit den beiden normativ hervorgehobenen Quellen der Verfassungstraditionen und der EMRK als gleichberechtigte Rechtserkenntnisquels. o. unter 2. a) dd). Hervorzuheben sind in Bezug auf die nationalen Verfassungsgerichte die Hinweise bei BVerfGE 37, 271, 285 (Solange I) und bei Giur. Cost., EuR 1974, 253 (Frontini ed altri/Admministrazione Finanze Stato) (in englischer Übersetzung abgedruckt in CMLR 1974, 383 ff., in französischer Übersetzung abgedruckt in RTDE 1974, 148 ff.). Der besondere Konvergenzdruck gegenüber der EMRK resultiert nicht zuletzt aus den nunmehr mit der Bosphorus-Entscheidung konkretisierten Vorgaben des EGMR [vgl. EGMR, Urteil v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, §§ 72 ff. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland) – dazu bereits ausführlich unter 2. a) bb) (3) (a) (bb) und (cc). 1294 In diesem Sinne jüngst auch EuGH, Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769, Rn. 37 und 39 (Parlament/Rat). 1292 1293

C. Konsequenzen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz

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len verklammert1295. Auch wenn die Norm einen Rückgriff auf andere Rechtserkenntnisquellen a priori nicht ausschließt, bedarf es eines solchen aufgrund der materiellen Schutzdichte im Bereich der inneren Grundrechtshermeneutik regelmäßig nicht mehr, gleichviel er dazu geeignet ist, die über die interne Rechtsordnung hinausgehende Bedeutung des betreffenden Menschenrechtsschutzes in der internationalen Rechtsebene zu verdeutlichen. Eine rechtserhebliche Aktivierung der Grundrechte-Charta sollte durch den EuGH im Anwendungsbereich des unionalen Primärrechts bis zum Eintritt ihrer Formalverbindlichkeit noch unterbleiben, sofern dies nicht allein zur symbolischen Unterstreichung der Bedeutung eines einzelnen Grundrechts im Sinne eines rein deklaratorischen Rekurses erfolgt, was gegebenenfalls hinreichend kenntlich zu machen ist.

C. Konsequenzen für die Quellen des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz Aus dem Ergebnis der Analyse der unionsrechtlichen Grundrechtsquellenkonzeption im Allgemeinen folgt für das hier im Speziellen interessierende Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz, dass auch dieses seine allgemeine Geltungsberechtigung als grundrechtlichem Rechtsgrundsatz in Art. 6 Abs. 2 EUV findet, während sein Schutzgehalt aus den Rechtserkenntnisquellen der Art. 6 und 13 EMRK1296 und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten zu entnehmen ist1297. Eines Rückgriffs auf Art. 14 Abs. 1 IPbürgR bedarf es im gemeinschaftsinternen Bereich aus praktischer Sicht nicht, wenngleich der Norm rechtsquellenhermeneutisch auch inhaltliche Erkenntnisse entnommen werden dürfen. Die Regelung des Art. 47 GrCh hingegen nimmt unter den gegebenen Umständen noch nicht am Grundrechtsquellensystem teil. Ihre zusätzliche Zitierung kann aber die Rechtsanerkennung zumindest symbolisch unterstreichen. Mit Erlangung formaler Rechtsverbindlichkeit wird die einschlägige Bestimmung des Grundrechtskatalogs sodann wohl zur zentralen, wenn auch nicht ausschließlichen Rechtsquelle des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aufsteigen1298. 1295 Zum Terminus der normativen Verklammerung auch BVerfGE 73, 339, 383 ff. (Solange II). 1296 Zum Schutzgehalt der Art. 6 und 13 EMRK näher in Teil 4 unter B. II. 2. 1297 So in Bezug auf die Rechtserkenntnisquellen etwa auch EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 29 (Kommission/Jégo-Quéré). 1298 Zum Verhältnis einer etwaig rechtsverbindlichen Grundrechte-Charta zu Art. 6 Abs. 2 EUV respektive zu der korrespondierenden Regelung im Verfassungsvertrag ausführlicher im folgenden Teil 3 unter A. II. 2.

Teil 3

Ausblick auf bevorstehende Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes Befindet sich die Rechtsschutzgarantie als Bestandteil der beschriebenen europäischen Grundrechtskonzeption damit auch in rechtlich stabilen Bahnen, so zeigen gleichwohl die hier behandelten herleitungssystematischen Unterschiede zwischen sowie innerhalb der jeweiligen Jurisprudenz und Gerichtspraxis, dass über die exakte Struktur des Grundrechtsquellensystems nur schwer vollkommene dogmatische Klarheit zu erzielen ist. Auch die Aufnahme des Art. 6 Abs. 2 EUV hat den betreffenden Diskussionen kein Ende gesetzt, sondern, wie sich gezeigt hat, im Gegenteil weitere komplexe Fragestellungen mit sich gebracht. Zudem ist die Grundrechtsentwicklung im Unionsrecht auch noch längst nicht abgeschlossen. Das besondere Augenmerk ist insofern für die nähere Zukunft auf die möglichen Entwicklungen in Bezug auf die Charta der Grundrechte und hinsichtlich eines Beitritts der EU zur EMRK zu richten.

A. Die Charta der Grundrechte Das volle Potential der Charta der Grundrechte kann erst mit einem formellen Akt des Inkrafttretens abgerufen werden. Besteht nach dem bereits Gesagten im Unionsrecht ein gesteigertes Bedürfnis nach einer verbindlichen Charta, ist hier weiterführend auf die möglichen Wege der Verbindlichkeitsherstellung einzugehen. Zuvor ist unterdessen angezeigt, einige Reflexionen zum Anwendungsbereich der Charta sowie dem durch sie entstehenden Verhältnis der unterschiedlichen Grundrechtsquellen und der in ihr veranlagten Eingriffs- und Schrankensystematik anzustellen.

I. Anwendungsbereich Nach dem Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 GrCh gelten die Bestimmungen der Charta sowohl für die dem Subsidiaritätsprinzip1299 unterworfenen Or1299 Vgl. zu diesem bereits Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, S. 71; ausführlicher zu dem Thema auch Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in

A. Die Charta der Grundrechte

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gane, Einrichtungen, Ämter und Agenturen der Union als auch für die Mitgliedstaaten, in Bezug auf Letztere jedoch ausschließlich bei der „Durchführung des Rechts der Union“1300. Die Regelung dient zwar offensichtlich einer klaren Festlegung des Anwendungsbereichs der Charta, gleichwohl bringt sie Probleme mit sich, da sie ungeachtet des Umstands, dass schon die rechtliche „Geltung“ des Grundrechtskatalogs eng mit seiner Rechtsverbindlichkeit verwoben ist, einige, insbesondere aus Mängeln in der Formulierung1301 herrührende Unklarheiten aufweist. 1. Geltung gegenüber den „Organen der Union“ Zunächst ist daran zu erinnern, dass die EU auf der Grundlage der aktuellen Verträge weder völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit noch – abgesehen vom Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs nach Art. 4 EUV – eigene Organe besitzt1302. Demzufolge ist Art. 51 Abs. 1 GrCh in Kohärenz zu Art. 5 EUV auszulegen und kann mithin nur die Organe der Europäischen Gemeinschaften meinen1303. Die teils unklare und irreführende, indes im gesamten Dokument konsequent eingehaltene Verwendung des Begriffs der „Union“ vermeidet aus nachvollziehbaren Gründen eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem komplexen Verhältnis zwischen der Union und den Gemeinschaften1304 und trägt möglicherweise auch in antizipierender Weise der im EU-Reformprozess angestrebten einheitlichen Bezeichnung Rechnung1305. Damit einhergehend steht aber die Frage im Raum, ob sich die Grundrechte-Charta auch auf die intergouvernemental ausgeprägten Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie die polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen bezieht. Grammatikalisch legt der Wortlaut dies zwar nahe, da er sich ausdrücklich an die Organe der „Union“ und eben nicht nur jene der Gemeinschaften wendet. Doch gilt auch hier der EU, S. 25 ff.; vgl. zur Relativität dieses Prinzips insbesondere W. Moersch, Leistungsfähigkeit und Grenzen des Subsidiaritätsprinzips, 2001, S. 51 ff. 1300 Die ursprüngliche Formulierung des Art. 51 Abs. 1 der Charta wurde um die „Ämter“ und „Agenturen“ der Union erweitert, um sämtliche durch die Verfassung oder sekundäre Rechtsakte begründete Einrichtungen der Union (im weiteren Sinne) zu erfassen. 1301 Dazu weiterführend Stein, in: FS Steinberger, S. 1425, 1433 ff. 1302 Mit Inkrafttreten des Vertrages über eine Europäische Verfassung wären die Organe jedoch der sodann mit Rechtspersönlichkeit ausgestatteten EU (vgl. Art. I-7 EV) zuzuordnen, vgl. Art. I-19 bis I-32 EV. 1303 So etwa auch Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 16. 1304 Zu diesem Thema näher Trüe, ZEuS 2000, 127 ff. 1305 Dazu unter IV. 1. c) bb).

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

die soeben angesprochene terminologische Ungenauigkeit zu berücksichtigen, so dass semantische Aspekte nicht allein ausschlaggebend sein können. In systematischer und teleologischer Hinsicht sprechen die gemäß den primärrechtlichen Vorschriften für das Gemeinschaftsrecht weitgehend uneingeschränkten1306 und im Übrigen erheblich begrenzten, jedenfalls aber auch im Bereich der PJZS1307 in differenzierter Ausprägung gegebenen, teils uneingeschränkten, teils fakultativen1308 Kontrollkompetenzen des EuGH nicht entscheidend gegen eine Anwendung der Charta auf die intergouvernementalen Säulen. Denn ein weites Verständnis vom Anwendungsbereich der Charta bedingt nicht notwendig neue Zuständigkeiten des Gerichtshofs, wie es die Art. 51 Abs. 1 S. 2 u. Abs. 2 GrCh explizit klarstellen. Vielmehr verbleibt es nach Maßgabe der Charta in jedem Fall bei der bestehenden Rechtslage, unter welcher der nach Art. 6 Abs. 2 EUV begründete Umfang der Grundrechtsbindung der Union und jener der darauf bezogenen Rechtsprechungskompetenzen des EuGH ausweislich der Art. 35, 46 lit. b) u. d) EUV und Art. 68 EGV nicht deckungsgleich sind1309. Da sich der Anwendungsbereich der Charta streng am geltenden Recht und der Rechtsprechung des EuGH orientiert1310, sprechen auch Sinn und Zweck der Regelung für eine Einbeziehung der GASP und der PJZS1311. Des Weiteren dürften auch die jüngst vom EuG in den Rechtssachen Yusuf1312, Kadi1313 und Ayadi1314 sowie Modjahedines du peuple d’Iran1315 Vgl. Art. 46 lit. d) EUV. Vgl. Art. 35, 46 lit. b) EUV. 1308 Eine Anerkennungserklärung im Sinne der Fakultativklausel des Art. 35 Abs. 2 EUV haben bislang Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien, die Tschechische Republik und Ungarn abgegeben (dazu bereits Fn. 746). 1309 Zu den insofern eingeschränkten Kompetenzen des EuGH ausführlicher Dörr/ Mager, AöR 2000, 387 ff. Zur partiellen Inkongruenz zwischen der materiellen Grundrechtsgeltung und den justitiellen Prüfungskompetenzen des EuGH bereits in Teil 2 unter B. II. 4. b) aa). 1310 s. die aktualisierten Erläuterungen zum Text der Charta der Grundrechte vom 18. Juli 2003 zu Art. 51 der Charta, CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/ 454. 1311 Für einen entsprechend weiten Anwendungsbereich der Charta auch Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 51, Rn. 18; i. Erg. ebenso Schröder, JZ 2002, 849, 853; ähnlich weit Magiera, DÖV 2000, 1017, 1025. 1312 EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission). 1313 EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). 1314 EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139 (Ayadi/Rat). 1315 EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat). 1306 1307

A. Die Charta der Grundrechte

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aufgestellten Grundsätze zur eingeschränkten gerichtlichen Grundrechtskontrolle in Bezug auf UN-rechtlich bedingte unionale und gemeinschaftsrechtliche Handlungen1316 unter dem Grundrechtsregime der Charta Geltung beanspruchen, sofern sie in den jeweiligen Rechtsmittelverfahren vom EuGH eine Bestätigung erfahren werden. 2. Geltung gegenüber den Mitgliedstaaten Überdies bedarf einer Klärung, welche Fälle Art. 51 Abs. 1 GrCh erfasst, soweit er die Anwendung der Chartarechte im Bereich mitgliedstaatlicher Maßnahmen auf die Fälle der „Durchführung des Rechts der Union“ bezieht. Zum einen könnte hiermit in einem engeren Sinn allein die Durchführung von Verordnungen nach Art. 249 Abs. 2 EGV oder Entscheidungen nach Art. 249 Abs. 4 EGV durch staatliche Stellen gemeint sein. Ebenso könnte die Regelung in einem weiteren Sinn aber auch andere Konstellationen mit Unionsrechtsbezug meinen, so insbesondere im Geltungsbereich der Grundfreiheiten und im Kontext zur Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Richtlinien. a) Grammatikalische Erwägungen Anlässlich eines ersten Blicks auf den Regelungswortlaut kann der Begriff „Durchführung“ für eine enge Lesart sprechen, da dieser vorwiegend im Zusammenhang mit Verordnungen und Entscheidungen Verwendung findet, während Richtlinien wegen der ihnen in der Regel fehlenden unmittelbaren Wirkung1317 grundsätzlich nicht durchgeführt, sondern umgesetzt werden. Es erscheint aber nicht zwingend, den Begriff der Durchführung nur in diesem Kontext zu verstehen, der streng systematisch auf die rechtswissenschaftlich begründeten Terminologien der Rechtsaktsdogmatik des Art. 249 EGV abstellt1318. Im Rahmen eines offeneren Begriffsverständnisses kann der Begriff nämlich ebenso die Vollziehung oder Anwendung des Unionsrechts meinen. Letztere Annahme wird vor allem durch einen Vergleich zu den anderen Sprachfassungen des Art. 51 Abs. 1 GrCh gestützt. So steht etwa die englische Formulierung „implementing Union law“ nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht nur für die Durchführung, sondern nicht weniger für die Umsetzung, Einführung, Anwendung, Durchsetzung Zu jenen Grundsätzen ausführlich in Teil 2 unter B. II. 4. b) cc). Vgl. zur unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise möglichen unmittelbaren Wirkung von Richtlinien schon EuGH, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825 (Grad). 1318 Mit entsprechend kritischer Tendenz aber Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 61, insb. Fn. 165. 1316 1317

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

oder Vollziehung von Recht. Analoges gilt für die anderen Sprachfassungen der Regelung1319. Die deutsche Fassung ist vor diesem Hintergrund möglicherweise partiell missglückt1320. b) Teleologische Erwägungen Aufgrund der sprachlichen Abweichungen muss daher teleologisch der Rechtsprechung des Gerichtshofs, an die sich die Regelung und damit auch der Wortlaut derselben bewusst und eng anlehnt1321, maßgebliche Bedeutung für die diesbezügliche Inhaltsermittlung zukommen. Der EuGH hat eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte jedoch nie ausdrücklich auf die Fälle der Durchführung von Verordnungen beschränkt. Vielmehr hat er zunächst, obschon es in dem zur Entscheidung stehenden Fall in der Tat um eine Verordnung ging, die Beachtung der Grundrechte bei der „Durchführung der gemeinschaftsrechtlichen Regelungen“1322 eingefordert und diese in den einschlägigen Entscheidungspassagen nicht explizit auf Verordnungen beschränkt1323. Den Begriff der „Durchführung“1324 des Gemeinschaftsrechts hat er zudem auch im Zusammenhang mit nationalen Regelungen angeführt, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Anwendung einer Verordnung stan1319 So sind etwa auch die Textversionen in Französisch („mettent en œuvre le droit de l’Union“), Spanisch („apliquen el derecho de la Unión“), Italienisch („nell’attuazione del diritto dell’Unione“) und Niederländisch („recht van de Unie ten uitvoer brengen“) ersichtlich in jenem weiteren Sinn zu verstehen. 1320 Die vergleichsweise enge deutsche Wortwahl setzt sich auch in der Entschließung des Europäischen Parlaments zur Grundrechte-Charta fort, wenn es dort in der deutschen Übersetzung heißt, die Charta richte sich an die Mitgliedstaaten, „wenn und soweit sie Recht und Politik der Europäischen Union umsetzen“, während die anderen Fassungen der Erklärung der jeweiligen Formulierung des Art. 51 GrCh entsprechen [vgl. die Entschließung des Europäischen Parlaments zur Wirkung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und ihren künftigen Status (2002/2139(INI)), ABl. EG C 300 E/432, Erwägungspunkt O, in seinen unterschiedlichen Sprachfassungen]. 1321 Vgl. auch hierzu die aktualisierten Erläuterungen zum Text der Charta der Grundrechte vom 18. Juli 2003 zu Art. 51 der Charta, CONV 828/1/03, S. 46 f. (ABl. EG 2004, C 310/454). 1322 EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 19 (Wachauf); ebenso EuGH, Rs. C-2/92, Slg. 1994, I-955, Rn. 16 (Bostock); aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-292/97, Slg. 2000, I-2737, Rn. 37 (Karlsson) sowie EuGH Rs. C-442/00, Slg. 2002, I-11915, Rn. 30 (Caballero). 1323 Dies verkennt de Burca, ELR 2001, 126, 127, wenn er die Rechtsprechung des EuGH und die Entstehungsgeschichte des Art. 51 GrCh zur Begründung eines engen Anwendungsbereichs anführt. 1324 Respektive die entsprechenden Terminologien der anderen Sprachfassungen.

A. Die Charta der Grundrechte

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den1325. Schon dies spricht teleologisch für eine weite Auslegung des Art. 51 Abs. 1 GrCh. Fernerhin verlangt der Gerichtshof für die unionsgrundrechtliche Bindung der Mitgliedstaaten grundsätzlich ein Handeln „im Rahmen des Gemeinschaftsrechts“1326, „auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts“1327, im „Geltungs-“1328 oder im „Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts“1329 und zählt hierzu insbesondere auch die Fälle der mitgliedstaatlichen Beschränkungen der Grundfreiheiten1330. Zwar führen die Mitgliedstaaten im grundfreiheitssensiblen Bereich nicht im engsten Sinne Unionsrecht durch, doch haben sie sich hier gleichwohl in den Grenzen der besonderen Anforderungen des Primärrechts und der Rechtsprechung des EuGH zu bewegen und sind dabei für die Konformität ihrer Handlungen mit dem Unionsrecht verantwortlich1331. Soweit demgemäß der Geltungsbereich des Unionsrechts tangiert ist, kann sich auch Art. 51 Abs. 1 GrCh auf die Fälle der mitgliedstaatlichen Grundfreiheitsbeschränkungen beziehen1332. Nur dieses weite Verständnis trägt dem telos der Charta ausreichende Rechnung, dem prätorisch entwickelten Grundrechtsschutz, der als zum acquis communautaire im Sinne des Art. 2 EUV zugehörig in seinem vollen Umfang zu wahren 1325 Vgl. EuGH, Rs. C-309/96, Slg. 1997, I-7493, Rn. 21 (Annibaldi). Im konkreten Fall ging es um die Frage der Verletzung des speziellen Diskriminierungsverbots betreffend die gemeinsame Organisation des Agrarmarktes (Art. 34 Abs. 2 EGV). 1326 EuGH, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719, Rn. 28 (Demirel). 1327 EuGH, verb. Rsn. 60/84 u. 61/84, Slg. 1985, 2605, Rn. 26 (Cinéthèque). 1328 EuGH, Rs. C-144/95, Slg. 1996, I-2909, Rn. 12 f. (Procédure pénale contre Maurin). 1329 EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 42 (ERT); EuGH, Rs. C-299/95, Slg. 1997, I-2629, Rn. 15 (Kremzow). 1330 Vgl. EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925, Rn. 43 (ERT); EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689, Rn. 24 (Familiapress); EuGH, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685, Rn. 31 (Society for the protection of unborn children Ireland); EuGH, Rs. C-60/00, Slg. 2002, I-6279, Rn. 40 (Carpenter); vgl. aus der Lit. etwa Cirkel, Bindung der Mitgliedstaaten, S. 141 ff.; Jürgen/Schlünder, AöR 1996, 200, 213 ff.; Kühling, EuGRZ 1997, 296, 299 f.; Rengeling, in: FS Rauschning, S. 225, 240; Szczekalla, Grundrechte, in: Rengeling, Umweltrecht, § 12, Rn. 31, ausführlicher zum Ganzen Jones, Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der EG, S. 60 ff. 1331 In diesem Sinne auch Klein, AfP 1994, 9, 12; ders., in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 11. 1332 Ebenfalls für eine weite Auslegung wohl Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 131, 144; zu einer engen Auslegung tendierend hingegen de Witte, MJ 2001, 81, 86; Lenaerts, ColJEL 2000, 3, 18 ff.; Thym, FYIL 2002, 11, 28.

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

ist, sowohl für die Grundrechtsadressaten als auch für die Grundrechtsträger mehr Transparenz zu verleihen1333. Für den weiteren Bereich des richtlinienumsetzenden Rechts gilt, dass a priori allein die Akte der Mitgliedstaaten, die unmittelbar anwendbare Richtlinienbestimmungen vollziehen, an den Gemeinschaftsgrundrechten zu messen sind, während im Übrigen zunächst nur die Regelungen der Richtlinie Kontrollgegenstand einer grundrechtlichen Überprüfung sein können1334. Auch der Anwendungsbereich der Charta ist in diesem Sinne zu verstehen. Im Bereich der mitgliedstaatlichen Umsetzungsakte von intergouvernementalen Maßnahmen auf dem Gebiet der GASP und der PJZS treten indes Abweichungen auf, soweit der EuGH hier aufgrund der Regelungen der Art. 35 und 46 EUV keine vollumfängliche Prüfungskompetenz besitzt1335 und eine effektive rechtsstaatliche Kontrolle des nationalen Umsetzungsaktes folglich in gewissem Maß durch die nationalen Verfassungsgerichte anhand der nationalen Grundrechte zu leisten ist1336. Angesichts der finalen Orientierung der Charta an der Rechtsprechung des EuGH greifen diese Grundsätze auch für ihren Anwendungsbereich gegenüber den Maßnahmen der Mitgliedstaaten. 3. Unmittelbare Drittwirkung der Chartarechte Die Regel, dass die Unionsgrundrechte grundsätzlich keine unmittelbare Drittwirkung zwischen Privaten entfalten1337, dürfte ebenso für die Chartarechte gelten. Hierfür spricht nicht nur der Wortlaut des Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh und die auf hoheitliche Machtausübung zugeschnittene Eingriffs- und Schrankensystematik des Art. 52 GrCh1338, sondern abermals das umgekehrte Konfusionsargument. Soweit in Anbetracht der vorwiegend privatrechtlichen Schutzrichtung einiger Chartarechte1339 teilweise für eine grund1333 In diesem Sinne Jacqué, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 3 EUV; Zuleeg, EuGRZ 2000, 511 ff. 1334 Dazu unter der geltenden Rechtslage bereits in Teil 2 unter B. II. 4. b) bb). 1335 s. zu den Staaten, die eine Anerkennungserklärung i. S. d. Fakultativklausel des Art. 35 Abs. 2 EUV abgegeben haben, oben in Fn. 747. 1336 Vgl. insoweit zur Umsetzung des Europäischen Haftbefehls in das deutsche Recht BVerfGE 113, 273, 300 ff.; dazu u. a. näher Kretschmer, Jura 2005, 780 ff.; Mitsch, JA 2006, 448 ff. 1337 Dazu bereits in Teil 2 unter B. II. 4. b) dd). 1338 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 4, Rn. 17. 1339 Verwiesen sei insbesondere auf Art. 3 Abs. 2, Art. 4, Art. 5, Art. 24 Abs. 1 S. 3, Abs. 2 u. Abs. 3, Art. 30 sowie Art. 31 GrCh.

A. Die Charta der Grundrechte

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rechtsbezogene unmittelbare Drittwirkung plädiert wird1340, verkennt diese Ansicht, dass sich hinter solchen Rechten, die als Reaktion auf neue, von privatem Handeln ausgehende Grundrechtsgefährdungslagen in die Charta aufgenommen worden sind1341, in Verbindung mit Art. 51 Abs. 1 S. 1 GrCh ein an die Hoheitsstellen und hierbei vor allem an die legislativen Kräfte gerichteter Schutzauftrag verbergen dürfte und es insoweit einer Bemühung der Figur der unmittelbaren Drittwirkung nicht bedarf1342. 4. Räumlicher Anwendungsbereich und persönliche Grundrechtsberechtigung Der räumliche Anwendungsbereich der Charta bezieht sich zunächst ersichtlich auf das Gebiet der EU. Es scheinen jedoch ebenso Fälle denkbar, in denen das Gebiet von Drittstaaten einbezogen sein kann, so beispielsweise im Rahmen der Auslegung von internationalen Verträgen solcher Länder mit der Union1343. Der persönliche Anwendungsbereich der Charta ist stets grundrechts- und fallspezifisch zu bestimmen. So richten sich manche Bestimmungen allein an die Unionsbürger, wie insbesondere das Wahlrecht auf Unions- und Kommunalebene, während die überwiegende Zahl auch Drittstaatler mit in den jeweiligen Schutzbereich einbezieht1344. Das persönliche Schutzkonzept der Charta trägt damit maßgeblich dem Umstand Rechnung, dass die Folgen der Ausübung unionaler Hoheitsgewalt – auch über den Weg des mitgliedstaatlichen Vollzugs – einen jeden unabhängig von der Frage der staatlichen Zugehörigkeit treffen können1345. Einer Bemerkung bedarf in diesem Zusammenhang auch, dass die ursprüngliche Fassung der Charta gegenüber der konsolidierten Fassung beträchtliche Unzulänglichkeiten in Bezug auf die Berücksichtigung der juristischen Personen und anderer Personenvereinigungen des Privatrechts als im 1340 Dahingehend insbesondere Schmitz, EuR 2004, 691, 705; speziell zu Art. 24 Abs. 1 S. 3 GrCh auch ders., JZ 2001, 833, 840; vgl. ferner die Ausführungen von Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 51, Rn. 31, obgleich er dort auch am Ende anmerkt, dass eine unmittelbare Drittwirkung wohl abzulehnen sei. 1341 Vgl. Schmitz, EuR 2004, 691, 705. 1342 In diesem Sinne auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rn. 63; ebenso bereits zur aktuellen Rechtslage Gersdorf, AöR 1994, 400, 420. 1343 Dazu ausführlicher Wouters, MJ 2001, 3 ff. 1344 Vgl. Pernice, DVBl. 2000, 847, 856 f.; kritisch zu dieser differenzierten Grundrechtsberechtigung Davis, ELR 2002, 121, 131 ff. 1345 Vgl. dazu auch Weber, Die Zukunft der EU-Grundrechtecharta, in: Griller/ Hummer, Die EU nach Nizza – Ergebnisse und Perspektiven, S. 281, 287.

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

Allgemeinen oder im Einzelnen in Betracht kommende Rechtsträger aufweist. So werden juristische Personen dort nur in einigen wenigen Chartagewährleistungen ausdrücklich neben den natürlichen Personen erwähnt, namentlich beim Recht auf Zugang zu Dokumenten, beim Recht auf Befassung des Bürgerbeauftragten sowie beim Petitionsrecht. Diese nur vereinzelte Nennung wird aber kaum den generellen rechtsstaatlichen Anforderungen an einen ausreichenden Grundrechtsschutz sowie vor allem der Rechtsprechung des Gerichtshofs gerecht, geht doch auch diese – allerdings regelmäßig ohne nähere Erläuterungen und insbesondere ohne eine mit den Vorgaben des Art. 19 Abs. 3 GG vergleichbare Prüfung1346 – von der punktuellen Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus1347. Das Schweigen der ursprünglichen Chartabestimmungen zum Grundrechtsschutz juristischer Personen ist dabei umso erstaunlicher, als sich die meisten ihrer Artikel (auch ausweislich der Erläuterungen des Präsidiums des Konvents) direkt auf die korrelierenden Garantien der EMRK stützen, in denen jedoch im Gegensatz zur ursprünglichen Chartafassung bisweilen explizit zwischen natürlichen und juristischen Personen differenziert wird1348, im Übrigen aber der Kreis der Grundrechtsträger begrifflich in der Regel auf „Personen“ abstellt, womit grundsätzlich sowohl juristische als auch natürliche Personen gemeint 1346 Eine eingehendere Begründung liefert der EuGH regelmäßig nur bei Ablehnung der Grundrechtsträgerschaft: s. insoweit zur Unverletzlichkeit der Wohnung EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 17 (Hoechst/Kommission) sowie EuGH, verb. Rsn. 97/87, 98/87 u. 99/87, Slg. 1989, 3165, Rn. 14 (Dow Chemical Ibérica u. a./Kommission); s. zum Recht auf Aussageverweigerung EuGH, Rs. 60/62, Slg. 1993, I-5683, Rn. 11 (Otto BV/Postbank). 1347 Vgl. zu den Verfahrensgrundrechten etwa EuGH, Rs. 136/79, Slg. 1980, 2033, Rn. 21 (National Panasonic), EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 50 f. (Niederlande u. a./Kommission) sowie EuGH, Rs. 60/62, Slg. 1993, I-5683, Rn. 12 (Otto BV/Postbank); vgl. zum Eigentumsrecht EuGH, verb. Rsn. 154/78, 205/78, 206/78, 226/78, 227/78, 228/78, 263/78, 264/78, 39/79, 31/79, 83/79 u. 85/79, Slg. 1980, 907, Rn. 88–90 (Valsabbia/Kommission); vgl. zu Letzterem und darüber hinaus zum Recht auf freie Berufsausübung auch EuGH, Rs. 265/87, Slg. 1089, 2237, Rn. 15 ff. (Schräder/Hauptzollamt Gronau); vgl. zur Grundrechtsberechtigung juristischer Personen des öffentlichen Rechts etwa EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 44 ff. (Niederlande u. a./Kommission). 1348 Besonders deutlich wurde die anfängliche Diskrepanz im Bereich des Eigentumsschutzes, den nach Art. 1 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK jede „natürliche und juristische Person“ genießt, während Art. 17 der ursprünglichen Fassung der Charta jenes Recht – in Missachtung der Rechtsprechung des EuGH in der Rs. 265/87, Slg. 1089, 2237, Rn. 15 ff. (Schräder) – jedem „Menschen“ gewähren sollte. Eine Ausweitung des Schutzbereichs des Chartarechts auf juristische Personen erschien damit bereits begrifflich ausgeschlossen, ein insofern abweichendes Schutzniveau mithin handgreiflich (vgl. insofern die das Problem übergehenden Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 17 der Charta, CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/436).

A. Die Charta der Grundrechte

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sein können, und damit nicht allein auf „menschliche“ Rechtsträger beschränkt ist. Da viele der in der Charta katalogisierten Rechte keine höchstpersönlichen Rechte verbürgen und einige sogar augenscheinlich auf juristische Personen zugeschnitten sind, wie beispielsweise das in Art. 16 GrCh als spezifische Ausprägung der Berufsfreiheit geregelte Recht auf unternehmerische Freiheit, ist eine Geltungsbeschränkung auf den Schutz der natürlichen Personen kaum zu rechtfertigen, sind es doch zumeist private Personen- oder Kapitalvereinigungen und eben nicht nur natürliche Personen, die am europäischen Rechts- und Wirtschaftsverkehr teilnehmen und daher in besonderem Maße auf eine hinreichende Grundrechtsgewährung angewiesen sind. Der ursprüngliche Chartatext enthält hier demnach eine wesentliche Unvollkommenheit, die ihrem Sinn und Zweck offenkundig entgegensteht und die es vor ihrem möglichen Inkrafttreten noch zu regulieren gilt1349. Wie ein Vergleich der anfänglichen mit der konsolidierten Fassung der Charta zeigt1350, wurde das Problem im Zuge des Verfassungsprozesses von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten erkannt und durch den in einigen Grundrechten, die wie etwa das Eigentumsrecht, in der konsolidierten Fassung keinen höchstpersönlichen Bezug aufweisen, vorgenommenen Austausch des Wortes „Mensch“ durch das Wort „Person“ bereinigt. Grammatikalisch werden danach auch juristische Personen in den jeweiligen persönlichen Grundrechtsschutzbereich fallen können1351. Problematisch erscheint an dieser Lösung jedoch, dass die Erweiterung des Anwendungsbereichs damit strikt auf entsprechend verselbständigte Gesellschaften beschränkt bleibt und jenen Personenvereinigungen, die Rechte zur gesamten Hand halten, ohne eigene unbeschränkte Rechtspersönlichkeit zu besitzen, unter der Charta möglicherweise keine Grundrechtsfähigkeit zukommen kann. Die Lösung zeichnet sich aber darüber hinaus auch durch eine nicht zu unterschätzende Inflexibilität aus, die darin begründet liegt, dass der persönliche Anwendungsbereich einiger Grundrechte unbesehen eröffnet wird, ohne der Möglichkeit der Gewähr unterschiedlicher Schutzsphären, die auch im Rahmen eines einzelnen Grundrechts mal mehr und mal weniger individualbezogen ausgeprägt sein können, ausreichend Rechnung zu tragen. Vorzugswürdig gegenüber einer solchen Einzeldifferenzierung zwischen den In diesem Sinne bereits Magiera, DÖV 2000, 1017, 1025. s. die konsolidierte Fassung des Chartatextes, zunächst angepasst für den Verfassungsvertrag (Fassung vom 16. Dezember 2004, ABl. EG C 310) und sodann – außerhalb des Verfassungsvertrag – angepasst in Straßburg am 12. Dezember 2007. Diese Fassung soll auch nach dem Vertrag von Lissabon – über Art. 6 Abs. 1 EUV in spe – Rechtsverbindlichkeit erlangen. 1351 Allein im Bereich der Unionsbürgerrechte, insbesondere die aktiven und passiven Wahlrechte und das Recht auf Dokumentenzugang, auf Anrufung des Bürgerbeauftragten und auf Einlegung einer Petition, bleibt es im Zuge der Beschränkung des persönlichen Schutzbereichs bei einer sprachlichen Trennung zwischen. 1349 1350

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möglichen Grundrechtsträgern im jeweiligen Grundrechtstatbestand wäre vor diesem Hintergrund die Aufnahme einer allgemeinen Regelung, die eine Ausweitung des persönlichen Schutzbereichs eines jeden Grundrechts auf juristische Personen oder andere Personenvereinigungen dann ermöglichen könnte, wenn die betreffende Grundrechtsgewähr ihrem Wesen nach nicht allein auf den Schutz höchstpersönlicher Rechte und Rechtsgüter abzielt1352.

II. Verhältnis zwischen einer rechtsverbindlichen Grundrechte-Charta und dem kontemporären Grundrechtsquellensystem Auch für die Beantwortung der sich nunmehr stellenden Frage nach dem Verhältnis einer rechtsverbindlichen Charta zu den bisherig bemühten Grundrechtsquellen wird es keinen Unterschied machen, ob das normative Inkrafttreten des Chartainhalts im Rahmen des EU-Reformprozesses oder separat zu diesem vollzogen werden soll. Zum einen sind nämlich die maßgeblichen Bestimmungen zur Auslegung des Chartarechts bereits in Art. 52 f. GrCh enthalten und fließen insoweit unverändert in das Reformwerk ein1353. Zum anderen sollte auch die Verfassung in Form des Art. I-9 Abs. 3 EV und wird die nach dem Vertrag von Lissabon vorgesehene künftige Fassung des Art. 6 Abs. 3 EUV (in spe) eine inhaltlich mit Art. 6 Abs. 2 EUV übereinstimmende Regelung enthalten. 1. Chartainternes Vertikalverhältnis In vertikaler Richtung enthalten vor allem die Interpretationsregelungen des Art. 52 Abs. 3 u. 4 GrCh wesentliche Aussagen zur Relation der Chartabestimmungen zu den bisherigen Quellen. Aufgrund der Einbettung dieser Regelungen in das System der allgemeinen Grundrechtsschranken lassen sich ihre Aussagen nur im Kontext zu den allgemeinen Anforderungen an die Rechtmäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen verstehen. a) Allgemeine Schrankensystematik des Art. 52 Abs. 1 u. 2 GrCh Anstatt die Eingriffs- und Schrankensystematik vergleichbar zur deutschen Grundrechtsdogmatik oder auch jener der EMRK jeweils bereichsspe1352 In diesem Sinne auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 53. Der Ansatz lehnt sich freilich eng an die Konzeption des Art. 19 Abs. 3 GG an. 1353 Vgl. noch zum Verfassungsvertrag Art. II-111, 112 und 113 EV.

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zifisch zu regeln, wurde – auch aus Gründen der Textökonomie1354 – in der Gestalt des Art. 52 GrCh1355 eine horizontal geltende Bestimmung geschaffen. Grundrechtsspezifische Eingriffs- und Schrankenregelungen, welche die allgemeinen Regeln ergänzen oder modifizieren1356, haben demgegenüber klaren Ausnahmecharakter1357. Die Generalklausel des Art. 52 Abs. 1 S. 1 GrCh1358 stellt für jede Grundrechtseinschränkung, worunter nicht nur finale und unmittelbare Eingriffe im engeren Sinne1359, sondern nach Maßgabe der Bedeutung des interessierenden Rechts und der Finalität und Intensität des hoheitlichen Verhaltens auch mittelbare oder faktische Schutzbereichsverkürzungen fallen dürften1360, zunächst den Grundsatz des Gesetzesvorbehalts1361 und die Wesensgehaltsgarantie1362 auf. Vor dem Hintergrund der Kompetenzverteilung im unionalen Gesetzgebungsverfahren1363 kann der Gesetzesvorbehalt keinen strengen Parlamentsvorbehalt meinen1364. Obgleich im Übrigen die Wesensgehaltsgarantie als absolute Eingriffsschranke, gleichsam als Bestandteil der so genannten SchrankenSchranken das ultimative Minimum des Grundrechtsschutzes sichern soll und zur Bewahrung eines eigenständigen Sinngehalts die Existenz eines abSo Kenntner, ZRP 2000, 423, 424 f. Art. II-112 EV. 1356 So etwa Jarass, EU-Grundrechte, § 6, Rn. 26 u. 33; Lenaerts/de Smijter, MJ 2001, 90, 97; a. A. Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 13, soweit er Art. 52 Abs. 3 als lex specialis gegenüber Abs. 1, 4 und 6 ansieht; ähnlich wie Letzterer Streinz, in: ders., EUV/EGV, Art. 52, Rn. 8; hierzu kritisch Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 42. 1357 Zu den Ausnahmen gehören insbesondere Art. 8 Abs. 2 S. 1 GrCh zur Verarbeitung personenbezogener Daten und Art. 17 Abs. 1 S. 2 GrCh zur Entziehung von Eigentum. 1358 s. Everling, EuZW 2003, 225. 1359 s. zur Verwendung des Eigentumsbegriffs in der Rechtsprechung des Gerichtshofs etwa jüngst EuGH, Rs. C-441/02, Slg. 2006, I-3449, Rn. 109 (Kommission/Deutschland) sowie EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 87 (ABNA u. a.). 1360 Vgl. dazu Jarass, EU-Grundrechte, § 6, Rn. 15 ff.; Kingreen, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 68. 1361 Dazu unter Verweisung auf die Verfassungstraditionen schon EuGH, verb. Rsn. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859, Rn. 19 (Hoechst/Kommission). 1362 Die Wesensgehaltsgarantie ist auch Bestandteil der st. Rspr. des Gerichtshofs, s. etwa EuGH, Rs. 265/87, Slg. 1989, 2237, Rn. 15 (Schräder); EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rn. 17 (Wachauf) sowie aus jüngerer EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 87 (ABNA u. a.). 1363 Vgl. dazu ausführlicher Bumke, Rechtsetzung in der Europäischen Gemeinschaft – Bausteine einer gemeinschaftsrechtlichen Handlungsformenlehre, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 643 ff. 1364 Vgl. Weber, NJW 2000, 537, 543 f.; a. A.: v. Danwitz, Internationale Politik 2001, 37, 42. 1354 1355

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soluten Grundrechtskerns voraussetzt1365, scheint sie aus der Sicht des EuGH einer abwägenden Prüfung zugänglich zu sein1366 und folglich nur einen relativen Wesensgehalt zu erfassen1367, was sie rechtsmethodisch weitgehend mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verschmelzen lässt1368. Unter ausdrücklicher Nennung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bindet sodann Art. 52 Abs. 1 S. 2 GrCh die Rechtmäßigkeit grundrechtlicher Einschränkungen an die Verfolgung unionsrechtlich anerkannter Gemeinwohlinteressen bzw. an grundrechts- oder grundfreiheitliche Bedürfnisse. Für jene Rechte, die bereits andernorts anerkannt sind und dabei, wie etwa die Unionsbürgerrechte, teils speziellen Regeln unterworfen werden, stellt Art. 52 Abs. 2 GrCh klar, dass die Geltung jener Rechtsregimes unangetastet bleiben soll. Die Art. 52 Abs. 3 u. 4 GrCh untermauern im Anschluss daran das Gebot der Kohärenz zwischen den Chartarechten und ihren rechtlichen Vorbildern, worin sich zumindest die Intention der Chartageber widerspiegelt, das bislang auf der Basis der Rechtserkenntnisquellen der EMRK und der Verfassungstraditionen gewonnene Grundrechtsniveau als Mindestleitmaß zu postulieren und die Interpretationsmöglichkeiten der Chartagarantien zukunftsdynamisch zu halten. Zuletzt enthält Art. 52 Abs. 6 GrCh eine Klarstellung zu den unter besonderem Regelungsvorbehalt stehenden Chartarechten. b) Spezifische Vorgaben Im Einzelnen erscheinen die Vorgaben des Art. 52 GrCh nicht durchgehend selbsterklärend und bedürfen daher einer genaueren Betrachtung. aa) Zu den der EMRK entsprechenden Chartarechten Zunächst verknüpft Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh die Bestimmung des Schutzniveaus der den Gewährleistungen der EMRK entsprechenden Char1365 In diesem Sinne wohl auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 76; vgl. dazu auch Günter, Berufsfreiheit und Eigentum in der Europäischen Union, S. 30 ff. 1366 So im Kontext zur Freizügigkeit nach Art. 18 EGV EuGH, Rs. C-408/03, Slg. 2006, I-2647, Rn. 68 ff. (Kommission/Belgien); zur Eigentumsfreiheit etwa EuGH, Rs. C-347/03, Slg. 2005, I-3785, Rn. 121 (Regione autonoma Friuli-Venezia Giulia und ERSA). 1367 In diesem Sinne schon Pernice, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 164 EGV, Rn. 62 d; ebenso schon Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 26; s. zum analogen Verständnis des BVerfG von der Wesensgehaltsgarantie nach Art. 19 Abs. 2 GG insbesondere BVerfGE 58, 300, 348; E 61, 82, 113. 1368 So auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 76.

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tarechte mit ihren jeweils aktuellen Konventionsvorbildern. Die somit durch die Regelung angestrebte dynamische Kohärenzbindung1369 ist aber keine absolute, sondern greift nur bis zur Schwelle des Konventionsniveaus, so dass der Schutzgrad, sofern erforderlich und systemangemessen, auch darüber hinausgehen darf1370, wie Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh ausdrücklich klarstellt. Die Regelung begründet demnach ein relatives Harmonisierungsgebot1371, das Konkurrenzfragen grundsätzlich zugunsten der EMRK löst. Bestehende Unklarheiten, wann ein Chartarecht seinem Konventionsvorbild im Sinne der Chartaregelung entspricht und welche schutzrechtlichen Ebenen genau mit der ihr auf jener Basis zukommenden Bedeutung und Tragweite angesprochen sind1372, lassen sich möglicherweise auf der Basis der nach der Vorstellung des Verfassungskonvents ausweislich des Art. II-112 Abs. 7 EV1373 sogar „gebührend“ zu beachtenden Chartaerläuterungen auflösen, obgleich Letzteren – selbst durch eine solche Regelung – keine unmittelbare Rechtsverbindlichkeit zukommen kann1374. Die Voraussetzung der rechtlichen Entsprechung visiert unter Bedachtnahme der EMRK samt ihrer Zusatzprotokolle demzufolge alle den EMRK-Vorbildern textlich nahen1375 und wohl auch nach diesem Kriterium vom Präsidium ausgewiesenen Chartarechte1376. Eine wörtliche Übereinstimmung kann hingegen nicht gemeint sein, da eine „Entsprechung“ schon grammatikalisch 1369 So auch Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 37; Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 44. 1370 Vgl. Calliess, EuZW 2001, 261, 262; Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 11; Pache, EuR 2001, 475, 492. 1371 Vgl. Weber, DVBl. 2003, 220, 224. 1372 Ausführlicher Grabenwarter, DVBl. 2000, 1, 2 f.; Heringa/Verhey, MJ 2001, 11, 25; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 480; Weber, DVBl. 2003, 220, 224. 1373 Abs. 7 wurde erst mit Zuge der Redaktion des Vertrags über eine Verfassung für Europa in den Chartatext eingefügt, Art. 52 GrCh enthält diese Regelung nicht. 1374 So auch Polakiewicz, Europäischer Menschenrechtsschutz zwischen Europarat und Europäischer Union, in: Marauhn, Die Rechtsstellung des Menschen im Völkerrecht, S. 37, 50; deutlich in Richtung einer gewissen Bindungswirkung der Erläuterungen hingegen Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 31 (andererseits gegen eine echte Rechtsverbindlichkeit aber ders, a. a. O., Rn. 31 b). 1375 Ebenso Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 16. 1376 Ausweislich der Präsidiumserläuterungen entspricht Art. 2 dem Art. 2 EMRK, Art. 4 dem Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 1 u. 2 dem Art. 4 EMRK, Art. 6 dem Art. 5 EMRK, Art. 7 dem Art. 8 EMRK, Art. 10 Abs. 1 dem Art. 9 EMRK, Art. 11 dem Art. 10 EMRK unbeschadet des Art. 10 Abs. 1 S. 3 EMRK, Art. 17 dem Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK, Art. 19 Abs. 1 dem Art. 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK, Art. 19 Abs. 2 dem Art. 3 EMRK in der Auslegung durch den EGMR, Art. 48 dem Art. 6 Abs. 2 u. 3 EMRK sowie Art. 49 Abs. 1 (mit Ausnahme des letzten Satzes) und 2 dem Art. 7 EMRK (s. die aktualisierten Erläuterungen zu Art. 52 der Charta in CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/456).

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keine vollständige Kongruenz verlangt und fast durchgehend kleinere Differenzen zwischen den Fassungen der Chartabestimmungen und der Konventionsregelungen bestehen1377. Die geforderte Gleichheit von Bedeutung und Tragweite bringt sodann grundsätzlich den Auftrag zum Ausdruck, die konkrete Schutzgehaltsbestimmung jedes betreffenden Chartarechts maßgeblich an der Konvention sowie der zugehörigen Rechtsprechung des EGMR auszurichten1378. Dabei dürfte jedoch dem Erfordernis der Bedeutungsgleichheit in der Anwendungspraxis kaum Rechnung zu tragen sein, da sich – unbeschadet der besonderen Werthaltigkeit der die höchstpersönlichen Rechte und Rechtsgüter schützenden Grundrechte – die Signifikanz eines Grundrechts ebenso wenig wie eine differenzierende Bedeutungshierarchie allein abstrakt bestimmen lässt und sich auch die konkrete Relevanz eines in casu anwendbaren Unionsgrundrechts angesichts ihrer Abhängigkeit von den Umständen des Einzelfalls nicht durch einen bloßen Blick auf die Kasuistik zum jeweiligen Konventionsvorbild erschließen kann. Der in Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh verwendete Begriff der Tragweite dürfte sich derweil sowohl auf die Reichweite des Schutzbereichs als auch auf die an eine Eingriffsrechtfertigung zu stellenden Bedingungen beziehen1379, da ein Grundrecht den Einzelnen letztlich stets nur soweit zu tragen vermag, wie es der Schutzbereich nach Maßgabe der legalen Begrenzungsmöglichkeiten zulässt. Hierfür spricht auch, dass auch der EuGH nicht nur zur Geltungs- und Schutzbereichsbeschreibung eines Grundrechts auf die EMRK zurückgegriffen hat, sondern gelegentlich ebenso die spezielle Schrankenregelung des jeweiligen Konventionsrechts in seine Überlegungen einbezogen hat1380. Eine strikte materielle Kongruenz gegenüber den Konventionsbestimmungen, wie sie vom EGMR ausgelegt und angewendet werden, dürfte die Vorschrift indes nicht voraussetzen1381. In satzsemantischer Hinsicht ist das Vgl. hierzu Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 98; Rodríguez Iglesias, EuGRZ 2002, 206, 207. 1378 Der weitere Verweis in den Erläuterungen des Präsidiums (CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/456) auf die Rechtsprechung des EuGH erscheint hier verfehlt (so zu Recht auch Heringa/Verhey, MJ 2001, 11, 17). 1379 Vgl. insofern Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 30a; Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 16; Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 2; a. A. hingegen Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 44, die nur den grundrechtlichen Schutzbereich von der Regelung des Art. 52 Abs. 2 S. 1 GrCh erfasst sieht. 1380 Vgl. etwa zu Art. 10 EMRK EuGH, Rs. C-219/91, Slg. 1992, I-5485, Rn. 38 (Ter Voort) und zu Art. 11 EMRK EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 79 (Schmidberger). Zur Klarstellung sei angemerkt, dass der Gerichtshofs die einschlägigen Schrankenbestimmungen hierbei nicht direkt anwendet. 1381 A. A. insofern Schmitz, EuR 2004, 691, 710 („deckungsgleich“). 1377

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Adjektiv „gleich“ nämlich ersichtlich im satzsystematischen Kontext zu dem mit dem Adverb „wie“ eingeleiteten Nebensatz zu verstehen. Dieser fordert aber gerade nicht die Tragweite an Grundrechtsschutz, „die“ sich unmittelbar aus der EMRK ergibt. Auch im Interesse einer rechtseinheitlichen Auslegung spricht die Verwendung des komparativen Adverbs für das Postulat eines zwar vergleichbaren, jedoch zugleich an die Besonderheiten des Systems angepassten Grundrechtsschutzniveaus1382. Eine „Eins-zu-EinsÜbernahme“ der EMRK-Regelungen ist ersichtlich auch durch die Charta nicht angestrebt worden1383. Nähme man dies an, so mutierte die Konvention – quasi durch die Hintertür des Art. 52 Abs. 3 S. 1 GrCh – zu einer Rechtsquelle des Unionsrechts1384, womit sich nicht nur Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh, der just einen über die EMRK hinausgehenden Schutz zulässt, und Art. 53 GrCh, der eine uneingeschränkte Grundrechtsparallelgeltung der dort genannten Quellen in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich klarstellt1385, weitgehend ihres Sinns entledigt sähen, sondern letztendlich das gesamte Chartakonvolut seiner Bedeutung sowie seiner wesentlichen Funktionen verlustig ginge. Wie bereits die Chartaerläuterungen zeigen, soll der Grundrechtskatalog die Eigenständigkeit des unionalen Grundrechtsregimes jedoch gerade nicht antasten1386, sondern diese im Gegenteil unterstreichen und der Wahrnehmung der Grundrechtsträger besser zugänglich machen. Dann aber kann Art. 52 Abs. 3 GrCh nur eine konventionsharmonische Auslegung der betreffenden Chartabestimmungen fordern, ohne die Bestimmungen der EMRK undifferenziert in das Recht der Union zu übernehmen oder auch nur teilweise zu inkorporieren1387. bb) Zu den verfassungsverwandten Chartarechten Des Weiteren sieht Art. 52 Abs. 4 GrCh für die auf den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen gründenden Chartarechte im Lichte der 1382 Zur korrelierenden Argumentation in Bezug auf das Grundrechtsquellensystem des Art. 6 Abs. 2 EUV s. in Teil 2 unter B. III. 2. a) cc) (2). 1383 A. A. insoweit Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 30; ähnlich Streinz, in: ders., EUV/EGV, Art. 52 GrCh, Rn. 9, der hier von einer Transferklausel spricht. 1384 In letzterem Sinne etwa Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 200; hingegen zutreffend auf den rechtsqualitativen Unterschied verweisend Pernice/Mayer, in: Grabitz/ Hilf, EUV/EGV, Art. 6 EUV (Oktober 2002), Rn. 51. 1385 Vgl. Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 95; wohl a. A. unter Zugrundlegung eines zweifelhaften Textverständnisses Seidel, EuZW 2003, 97; in Bezug auf diesen auch kritisch Everling, EuZW 2003, 225. 1386 Vgl. insoweit die Erläuterungen des Präsidiums zu Art. 52 GrCh (CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/456). 1387 Mit dieser Formulierung – vorbehaltlich einer günstigeren gemeinschaftsrechtlichen Regelung – Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 16.

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zu Art. 6 Abs. 2 EUV entwickelten Methode der wertenden Rechtsvergleichung eine mit den Verfassungstraditionen harmonisierte und möglichst freiheitsfreundliche Auslegung vor1388. Die Regelung betont damit zugleich die Bedeutung der Rückkopplung des unionalen Grundrechtsregimes an die Grundwerte und Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten1389. Dies darf indessen nicht dahingehend verstanden werden, dass die betreffenden Chartabestimmungen selbst der methodischen Anwendung der wertenden Rechtsvergleichung zu unterziehen sind, soweit sie als direkte rechtliche Grundrechtsquelle herangezogen werden. Vielmehr setzt jene im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EUV gebräuchliche Methodik im Bedarfsfalle – wie gehabt – allein bei den Verfassungsüberlieferungen an, die sodann rechtshermeneutisch nicht in der Eigenschaft als Rechtserkenntnisquellen, sondern als Interpretationsleitquellen fungieren1390. In dieser Funktion ist ihnen allerdings zugleich eine Begrenzungswirkung in Bezug auf die Reichweite des möglichen Schutzes der von der Regelung betroffenen Chartarechte inhärent, zumal Art. 52 Abs. 4 GrCh kein Pendant zu Art. 52 Abs. 3 S. 2 GrCh enthält. Die Vorschrift hat im Übrigen keine Auswirkungen auf das von den Grundsätzen der unmittelbaren Geltung und des Anwendungsvorrangs geprägte Verhältnis zwischen den nationalen Grundrechten und dem unionalen Grundrechtsregime1391. Als Bestandteil des EU-Reformprozesses und mithin als unionaler, quasi-bundesstaatlicher Grundrechtskatalog wird die Charta dennoch eine merklich überlagernde und unitarisierende Wirkung für die mitgliedstaatlichen Grundrechtsverbürgungen entfalten können1392. cc) Rechte unter Spezialvorbehalt Schließlich spricht Art. 52 Abs. 6 GrCh den Ausnahmebereich der unter speziellem Vorbehalt stehenden Grundrechte oder Grundsätze an, deren Anerkennung, Achtung oder Gewährleistung sich gemäß dem jeweiligen Wortlaut der betreffenden Grundrechtsnormen nach den einzelstaatlichen Gesetzen1393 oder nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen RechtsvorVgl. dazu Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 566 f. Vgl. Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 44. 1390 Insofern etwas ungenau Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 567; Pernice, DVBl. 2000, 847, 854. 1391 Vgl. Everling, EuZW 2003, 225. 1392 So Ress, Die Europäische Grundrechtscharta und das Verhältnis zwischen EGMR, EuGH und den nationalen Verfassungsgerichten, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 184. 1393 Hierzu zählen Art. 9, Art. 10 Abs. 2 und Art. 14 Abs. 3 GrCh (Art. II-69, II-70 Abs. 2 und II-74 Abs. 3 EV). 1388 1389

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schriften1394 richtet. Sofern prima facie in Betracht kommt, diese Vorbehaltsklauseln in ihrem grundrechtlichen Kontext im Sinne von Schutzbereichsschranken zu verstehen, was grammatikalisch durchaus zulässig und zumindest hinsichtlich des Rechts auf Ehe und Familie auch sinnvoll erscheint, muss zugleich bedacht werden, dass der Geltungsmodus und der sachliche Anwendungsbereich jener Grundrechte in diesem Fall nicht mehr einheitlich im Unionsrecht geregelt wäre1395 und somit kaum noch von einem originären Unionsgrundrecht gesprochen werden könnte. Insbesondere wenn die „Ausübung“ eines Grundrechts speziellen Regelungen unterworfen werden kann, wie etwa bei Art. 10 Abs. 2 GrCh1396 und Art. 14 Abs. 3 GrCh1397 der Fall, ist darin eher ein auf die Ebene der Grundrechtseinschränkung zu verortender Regelungsvorbehalt zu sehen. Vor diesem Hintergrund scheint es vorzugswürdig, die genannten Vorbehaltsklauseln als die Regeln des Art. 52 Abs. 1–4 GrCh ergänzende Einschränkungsregelung zu verstehen1398. Dies indiziert letztlich auch die Einfügung des Art. 52 Abs. 6 GrCh in den unmittelbaren normsystematischen Kontext zu dem Schrankensystem. c) Risiken und Schwächen der Schrankenregelung Es ist bereits angeklungen, dass die in weitgehend einheitlichen Regelungen niedergelegte Schrankensystematik nicht ganz unproblematisch erscheint. Nicht zu übersehen ist zunächst ihre enge Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH, deren Dogmatik aber selbst nicht zur Gänze ausgereift ist und nur unzureichend dem Umstand Rechnung trägt, dass die Grundrechtsschranken schlechterdings konstituierende Wirkung für den tatsächlich gewährten Grundrechtsschutz haben1399. Bedenken können zudem dahingehend aufkommen, ob ein derartig nivelliertes Rechtfertigungsschema nicht die Eignung der Charta zur Gewährleistung falladäquaten Grundrechtsschutzes berührt1400. Diese Befürchtung lässt sich jedoch teilweise entkräften, wenn man beachtet, dass zum einen schon die Regelung 1394 Hierzu gehören Art. 16, Art. 27, Art. 28, Art. 30, Art. 34 Abs. 1–3, Art. 35 S. 1 und Art. 36 GrCh (Art. II-76, II-87, II-88, II-90, II-94 Abs. 1–3, II-95 und II-96 EV). 1395 In diesem Sinne auch Jarass, EU-Grundrechte, § 6, Rn. 29. 1396 Art. II-70 Abs. 2 EV. 1397 Art. II-74 Abs. 3 EV. 1398 So auch Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 16; Rengeling, DVBl. 2004, 453, 457; Schwarze, EuZW 2001, 517, 519. 1399 Insofern zu Recht kritisch Klein, Europäische Verfassung im Werden, in: Bremische Bürgerschaft – Fachtagung vom 26. September 2000, S. 79, 85. 1400 In diesem Sinne etwa Schmitz, JZ 2001, 833, 838.

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des Art. 52 Abs. 2 GrCh die Eigenheiten der andernorts spezieller geregelten Rechte wahrt und sich zum anderen die Regelungen des Art. 52 Abs. 3 u. 4 GrCh durchaus um eine auf europäische Grundrechtskohärenz gepolte und zumindest nach der Grundrechtsherkunft differenzierenden Einschränkungsdogmatik bemühen1401. Allein die Systementscheidung zugunsten einer allgemein geregelten Schrankendogmatik bedingt überdies nicht automatisch und generell eine übermäßige Verkürzung des Grundrechtsschutzes1402. Für das tatsächliche Grundrechtsschutzniveau ist viel entscheidender, dass die Regelungen zur Bestimmung der Reichweite des Schutzbereichs, der Eingriffsschwelle und der Rechtfertigungsanforderungen einzelfalladäquat angewendet werden, wobei das zentrale Element der Rechtmäßigkeitsprüfung nach wie vor der sämtliche fallrelevanten Umstände einbeziehende Verhältnismäßigkeitsgrundsatz darstellt1403. Liegt es demnach so, dass die rechtsstaatliche Qualität der Kriterien für Grundrechtseinschränkungen entscheidende Bedeutung für die Effektivität des Grundrechtsschutzes hat1404, sieht sich die Funktion einer Grundrechtsschrankenregelung aber nicht schon durch ihren allgemein gehaltenen Anwendungsmodus gefährdet1405. Sofern dem EuGH in Grundrechtsangelegenheiten eine mangelnde Prüfungsdichte vorzuwerfen ist1406, liegt dies zwar auch, nicht aber allein an der Abwesenheit eines grundrechtsspezifischen Eingriffs- und Rechtfertigungssystems, sondern ebenso an der bislang fehlenden Scharfkonturierung der einzelnen Grundrechtsschutzbereiche einhergehend mit der Zubilligung eines bisweilen besonders weiten Ermessensspielraums des Gemeinschaftsgesetzgebers1407. Eine nähere Beschäftigung mit dem materiellen Schutzgehalt auf der Grundlage eines geschriebenen Grundwertekatalogs kann indes zugleich die Vornahme einer genaueren und den besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung tragenden Rechtfertigungsprüfung be1401 Ähnlich Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 17, nach dem die Regelung ein „fein ausziseliertes System“ enthält. 1402 Vgl. dazu auch v. Bogdandy, JZ 2001, 157, 168, der unter Hinweisung auf die allgemeine Schrankenregelung des Art. 36 der Schweizer Bundesverfassung (n. F.) gar die Zeitgemäßheit spezifischer Grundrechtsschranken in Zweifel ziehen möchte; a. A. insoweit Schmitz, JZ 2001, 833, 838, der im Gegenteil in der einheitlichen Schrankenklausel einen Rückschritt sieht. 1403 In diesem Sinne auch Jarass, EU-Grundrechte, § 6, Rn. 25. 1404 Insofern zutreffend Kenntner, ZRP 2000, 423, 424. 1405 In diesem Sinne aber Kenntner, a. a. O. 1406 Zur bloßen „Evidenzkontrolle“ durch den EuGH Calliess, EuZW 2001, 261, 262. 1407 s. exemplarisch im Kontext der Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit aus Gründen des Gesundheitsschutzes jüngst EuGH, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573, Rn. 145 (Deutschland/Parlament und Rat).

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dingen1408. Ob der EuGH diese Chance zu nutzen bereit ist, wird erst die gerichtspraktische Handhabe der Charta zeigen. Die dem Schrankensystem eigentlich anhaftende Problematik liegt damit weniger in seiner Generalität, als vielmehr in seiner hohen Komplexität begründet1409, die der Charta letztlich zum eigenen Nachteil gereichen kann. Durch die Aufnahme einer allgemeinen und mehrerer spezieller Schrankenebenen kann sich die praktische Rechtsanwendung nämlich rasch schrankendogmatischen Labyrinth verlieren. Schon für solche Grundrechte, die zwar nicht im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GrCh einem Konventionsrecht entsprechen, die aber in der Rechtsprechung des EuGH regelmäßig unter kumulativer Heranziehung der Verfassungstraditionen und der EMRK gewonnen wurden und auf der Grundlage ihrer Anlehnung an beide Erkenntnisquellen in die Charta Eingang gefunden haben, was ausweislich der Chartaerläuterungen des Präsidiums etwa für das Recht auf Bildung nach Art. 14 GrCh zutrifft1410, stellt sich die Frage, welches Quellenvorbild hier für eine historisch-teleologische Auslegung maßgeblich sein soll oder ob sodann eine fakultativ oder obligatorisch gestufte Interpretation angezeigt ist. Als besonders delikat erweist sich die so aufgeworfene Problematik für jene Grundrechte, die tatsächlich nach Maßgabe der dargestellten Kohärenzregeln einem Konventionsrecht entsprechen und zugleich in den verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten wurzeln, was insbesondere auf das Eigentumsrecht nach Art. 17 GrCh zutrifft1411 und im Übrigen auch für die Meinungsfreiheit gemäß Art. 10 GrCh, die Versammlungsfreiheit nach Art. 11 GrCh und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf nach Art. 47 Abs. 2 GrCh gelten dürfte. Streng genommen müsste in einem solchen Fall sowohl die Auslegungsregel des Art. 52 Abs. 3 GrCh als auch die des Art. 52 Abs. 4 GrCh Anwendung finden1412. Der daraus eventuell resultierende Prüfungsbedarf lässt jedoch in der Tat daran zweifeln, ob die Gestaltung der Schrankensystematik als gelungen bezeichnet werden kann. Möglicherweise hätte hier ein alternativ eingefügter Hinweis auf die Zulässigkeit und Nützlichkeit einer entstehungsgeschichtlichen Auslegung einhergehend mit der Betonung der besonderen Eignung einer teleologischen Dies übersieht Kenntner, ZRP 2000, 423, 425. So auch Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 14; näher zu den die verschiedenen Rechtsregimes betreffenden Regelungsrelationen Grabenwarter, in: FS Steinberger, S. 1129, 1135 ff. 1410 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums, CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/434. 1411 Vgl. die Erläuterungen des Präsidiums, CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/436. 1412 A. A. wohl Borowsky, in: Meyer, GrCh, Art. 52, Rn. 44b, der Art. 52 Abs. 2 u. 3 GrCh vorrangig angewendet wissen möchte. 1408 1409

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Chartainterpretation im Ergebnis Gleiches auf systematisch einfacherem Wege bewirkt. Darüber hinaus erscheint an der „Entsprechungslösung“ nicht nur problematisch, dass die Klärung, wann eine Norm der Charta dem EMRK-Korrelat im Sinne des Art. 52 Abs. 3 GrCh entspricht, letztlich in der Einschätzungsprärogative der Gemeinschaftsgerichtsbarkeit liegen wird. Vielmehr bleibt vor allem hinsichtlich des Postulats der Angleichung der rechtlichen Bedeutung und Tragweite undurchsichtig, inwieweit der Gerichtshof selbst über die damit zusammenhängenden Fragen befinden kann bzw. in welcher Form und in welchem Umfang die Rechtsprechung des EGMR dabei eine Rolle spielen muss1413. Zwar sind die Konventionsregelungen grundsätzlich in der durch den EGMR gegebenen Gestalt zu berücksichtigen, doch darf in dem unionalen Gewaltgefüge allein der EuGH unmittelbar über die Anwendung und den Inhalt der Charta als unionsrechtlicher Quelle entscheiden. Die Problematik wird durch das Kumulationsfeld von Unionsgrundrechten und Konventionsrechten, das mit Blick auf die im Bereich des Unionsrechts erfolgenden Durchführungsmaßnahmen der Mitgliedstaaten besteht, noch beträchtlich verschärft, da hier nicht nur der EuGH eine Jurisdiktionszuständigkeit besitzt, sondern auch der EGMR eine auf die Konventionsgemäßheit des mitgliedstaatlichen Aktes bezogene Prüfungskompetenz für sich beansprucht1414. Darüber hinaus erweitert die bereits mit der Entscheidung in der Rechtssache Matthews1415 eingeleitete und nunmehr in der Rechtssache Bosphorus1416 hinreichend klarifizierte Linie des Gerichtshofs zur mitgliedstaatlichen Konventionsverantwortlichkeit für originäre Gemeinschaftsakte nochmals jenes grundrechtliche Überschneidungsfeld und erhöht infolgedessen merklich den auf dem EuGH lastenden Kohärenzdruck. Ob die demnach dringliche Koordinierung zwischen den Gerichtshöfen in Luxemburg und Straßburg auch ohne eine unmittelbare prozedurale Verbindung gelingen kann, wird von der Bereitschaft des EuGH abhängen, die Entsprechungsklausel des Art. 52 Abs. 3 GrCh hinreichend ernst zu nehmen und ihr in der Regel eine konventionsfreundliche Anwendung zuteil werden zu lassen. Gewiss verbessert die Charta nach alledem die Sichtbarkeit der Grundrechtsexistenz sowie auch die Bestimmbarkeit des persönlichen und sach1413 In diesem Sinne auch Lecheler, ZEuS 2003, 337, 344; Mahlmann, ZEuS 2000, 419, 442. 1414 Grundlegend EGMR, Urteil v. 15. November 1996, Beschw. Nr. 17862/91, § 30 (Cantoni/Frankreich). 1415 EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94, § 32 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich) mit Besprechung von Rudolf, AJIL 1999, 682 ff.; vgl. insoweit auch Ress, ZEuS 1999, 219, 229 f. 1416 EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschw. Nr. 45036/98, §§ 72 ff. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland).

A. Die Charta der Grundrechte

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lichen Schutzbereichs eines Grundrechts für den Einzelnen. Aufgrund des nicht ohne weiteres ponderablen Schrankenprogramms wird sich ihm die wirklich erreichbare Schutzweite dennoch nur schwerlich allein durch einen Blick in den Grundrechtskatalog erschließen können1417. Diese den Chartarechten anhaftende Schwäche erscheint sogar dazu geeignet, die Bedeutung der Charta im Ganzen sensibel zu schmälern, und könnte sich zu gegebener Zeit retrospektiv gar als „Achillesferse“1418 des Grundrechtskatalogs erweisen. 2. Chartaexternes Horizontalverhältnis Zum künftigen Verhältnis der Quellen der Grundrechte verbleibt fernerhin die Frage zu klären, welche Quellenrelation aus dem Nebeneinander der Grundrechte-Charta mit Art. 6 Abs. 2 EUV bzw. der mit Letzterem weitgehend korrelierenden Regelung des Art. 6 Abs. 3 EUV in spe resultiert. Interessanterweise wurde die Aufnahme der Vorschrift in den Verfassungstext schon in der Arbeitsgruppe II des Verfassungskonvents dermaßen divergierend beurteilt, dass eine klare Stellungnahme hierzu im Schlussbericht ausdrücklich unterblieben ist. Lehnte die eine Seite den zusätzlichen Verweis auf externe Quellen mit Blick auf die teils übereinstimmenden Quellenvorbilder und das darauf basierende Verwirrungspotential ab, so betonte die andere Seite just die Ergänzungsfunktion und den Flexibilitätsgewinn eines solchen Verweises1419. Wie die Redaktion des mit der künftigen Fassung des Art. 6 EUV übereinstimmenden Art. I-9 EV zeigt, hatte sich der Verfassungskonvent letzterer Ansicht angeschlossen. Auch die damit etwaig bevorstehende parallele Quellengeltung wirft einige Fragen auf, die im Interesse eines möglichst reibungslosen Starts der Chartageltung nicht früh genug geklärt werden können. Gleiches gilt für solche Rechte, die redundant sowohl in der Charta als auch an anderer Stelle des Primärrechts geregelt sind. a) Koexistenz unionaler Grundrechtsquellen Blendet man einmal kurzzeitig die fortwährende Existenz jeweils außerhalb der Charta stehender Grundrechtsvorschriften aus, so scheint es auf den ersten Blick logisch, einen verbindlichen Grundrechtskatalog als abschließendes Regelungskonvolut zu den Grundrechten zu begreifen, um seiZu Recht kritisch daher Pache, EuR 2001, 475, 489. So ausdrücklich Kenntner, ZRP 2000, 423 f. 1419 Vgl. Schlussbericht der Arbeitsgruppe II des Verfassungskonvents, CONV 354/02, S. 9 f. 1417 1418

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

ner Funktion, die unional geschützten Grundrechte und ihre jeweilige Tragweite für den Einzelnen lesbar zu präsentieren und so ihre tatsächliche Wahrnehmung wie auch den praktischen Umgang mit ihnen zu erleichtern, zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen1420. Eines Rückgriffs auf externe Quellen bedürfte es aus dieser Sicht nicht mehr. Solche externen Rekurse könnten aus diesem Winkel vielmehr das Potential haben, der Rechtsquellenklarheit abträglich zu sein. Sähe man dies auch in letzter Hinsicht so, wäre der Blick auf das künftige Grundrechtskonstrukt jedoch unvollständig. Mangels Beabsichtigung einer rechtsnatürlichen Modifikation des Art. 6 Abs. 2 EUV hin zu einer deklaratorischen Regelung oder einer Streichung der Norm in integrum1421 würden seine Aussagen für die unionale Grundrechtsgeltung weiterhin rechtsrelevant bleiben. Ebenso wenig dürfte sich im Hinblick auf die normsystematische Stellung und den Wortlaut des substituierenden Art. I-9 Abs. 3 EV/Art. 6 Abs. 3 EUV in spe ernsthaft vertreten lassen, der darin enthaltene zusätzliche Verweis auf die hergebrachte Grundrechtssystematik sei nur deklaratorischer Natur1422. Zu beachten gilt in diesem Zusammenhang zunächst, dass die Charta nicht schon wegen ihrer schriftlichen Form und der Aufnahme moderner Grundrechte und Grundsätze auch ein gegenüber dem status quo ante höheres Schutzniveau gewährleisten können wird. Zudem zeigt sie streckenweise in Bereichen Schutzbereitschaft an, in denen in Abwesenheit unionsrechtlicher Kompetenzen aktuell gar keine grundrechtlichen Gefährdungssituationen drohen1423. Überdies hat die Auslegung der Chartarechte nach den Regelungen des Art. 52 Abs. 3 und 4 GrCh, wie gesehen, vorwiegend gerade im Lichte der etablierten Quellen zu erfolgen, so dass die Chartarechte sich zum großen Teil auch nicht allzu weit von ihren Vorbildern entfernen können. Ferner kann es keinem Zweifel unterliegen, dass mit einer rechtsverbindlichen Charta keine Zementierung des grundrechtlichen status quo post einhergehen soll, wie schon die in Art. 52 Abs. 3 u. 4 GrCh angelegte Dynamisierung der Auslegung und Anwendung der Chartagarantien belegt. Vielmehr soll ersichtlich auch unter ihrem Regime die bisher für das unionale Grundrechtssystem charakteristische Entwicklungsflexibilität beibehalten 1420 So deutlich Schmitz, EuR 2004, 691, 697 f., welcher der Charta hier einen „abschließenden Charakter“ attestiert. 1421 Mit dieser Tendenz aber Calliess, in: ZEuS 2002, 483, 504; ders., in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 32; Pietsch, ZRP 2003, 1, 4; Weber, DVBl. 2003, 220, 222. 1422 In diesem Sinne aber wohl Kingreen, EuGRZ 2004, 570, 571. 1423 Vgl. dazu auch Altmaier, ZG 2001, 195, 203.

A. Die Charta der Grundrechte

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werden. Die parallele Existenz der auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 2 EUV oder Art. I-9 Abs. 3 EV/Art. 6 Abs. 3 EUV in spe rechtsgrundsätzlich herzuleitenden Grundrechte dient folglich ersichtlich dazu, den bisher erreichten acquis unter Verdeutlichung der fortwährenden Rückkopplung der Grundrechtsordnung an die mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen und die EMRK abzusichern1424 sowie zugleich den durch die Charta vermittelten Schutz zu ergänzen. Die Koexistenz der bewährten chartaexternen Quellen erscheint dabei ein durchaus geeignetes Mittel, dem beschriebenen Anliegen Rechnung zu tragen1425 und unvorhergesehene Negativfolgen der Charta im Notfall aufzufangen. Zu beachten gilt schließlich auch, dass die Charta partiell doch ebenso hinter dem grundrechtlichen acquis zurückbleiben kann. So enthält sie insbesondere keine Regelung zur allgemeinen Handlungsfreiheit1426, die aber bereits früh in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt worden ist1427. Auch Art. 6 GrCh1428 verbrieft kein allgemeines Recht auf Freiheit in diesem weiten Sinne1429. Über den Umstand hinaus, dass die Charta insoweit den an ein rechtsordnungsspezifisch verfasstes Grundrechtsdokument zu stellenden Anspruch der Vollständigkeit enttäuscht, forciert sie damit zumindest im Einzelfall einen Rückgriff auf außerhalb ihres Textes liegende Grundrechtsquellen. Vor diesem Hintergrund erscheint es nur schwerlich vertretbar, eine rechtsverbindliche Charta als die exklusive Grundrechtsquelle des Unionsrechts zu qualifizieren1430. Die künftige Koexistenz zweier die unionale Grundrechtsgeltung tragenden Rechtsherleitungsmöglichkeiten ist wohl bereits beschlossene Sache und erscheint nach dem Gesagten auch kein sinnentleerter Schritt in der unionalen Grundrechtsentwicklung.

Ebenso De Witte, MJ 2001, 81, 86. So zutreffend Szczekalla, DVBl. 2005, S. 286, 293; s. in diesem Kontext auch Abs. 7 der Chartapräambel, wonach die Union die „nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze“ anerkennt. 1426 Vgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 16. 1427 s. insbesondere EuGH, verb. Rsn. 133/85, 134/85 u. 136/85, Slg. 1987, 2289, Rn. 15 (Rau u. a./BALM). 1428 Art. II-66 EV. 1429 In diesem Sinne auch die aktualisierten Erläuterungen des Konvent-Präsidiums zu Art 6 GrCh, CONV 828/1/03, ABl. EG 2004, C 310/429; zu der Frage im Übrigen schon ausführlicher in Teil 2 unter B. III. 3. a) aa). 1430 So i. Erg. auch Stein, in: FS Steinberger, S. 1425, 1434; ähnlich Pernice, ColJEL 2004, 5, 16 f., der die Beibehaltung des Art. 6 Abs. 2 EUV neben einer verbindlichen Charta aber für unnötig hält. 1424 1425

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

b) Bildung einer einheitlichen Grundrechtsordnung Es drängt sich damit jedoch die Anschlussfrage auf, ob die Fixierung zweier verschiedener Regelungen zur Grundrechtsgeltung auch die Folgerung abnötigt, das Unionsrecht weise künftig zwei separate Grundrechtssysteme mit unterschiedlicher Rechtsnatur und verschiedenen, möglicherweise gar punktuell konfligierenden Schutzniveaus auf1431. Geschürt wird die Problematik vornehmlich durch die terminologische Gestaltung des Art. I-9 EV/Art. 6 EUV in spe, der einerseits im ersten Absatz von der Anerkennung der „Rechte, Freiheiten und Grundsätze“ der Charta der Grundrechte spricht, während er andererseits im dritten Absatz die „Grundrechte“, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen ergeben, in der Form von allgemeinen Grundsätzen als Bestandteil des Unionsrechts bezeichnet. Die norminterne Regelungsdifferenzierung und die dabei auftretende unterschiedliche Bezeichnung könnte den Eindruck erwecken, die oben aufgeworfene Frage sei affirmativ dahingehend zu beantworten, dass im Reformwerk eine strikte rechtsnatürliche Unterscheidung zwischen grundrechtlichen Chartarechten und -freiheiten auf der einen sowie grundsätzlichen Grundrechten auf der anderen Seite angelegt werden sollte. Denn in Bezug auf die Grundrechte-Charta und in dieser selbst unterbleibt eine Zuordnung der in ihr niedergelegten Rechte zur Rechtsfigur der allgemeinen Grundsätze. Im Gegenteil differenziert auch der Chartatext ausdrücklich zwischen Rechten, Freiheiten und Grundsätzen, wie der siebte Erwägungspunkt der Präambel sowie die Art. 49 GrCh1432, Art. 51 Abs. 1 GrCh1433 und Art. 52 GrCh1434 belegen. Auf der Basis dieser rechtsnatürlichen Grundrechtsunterteilung läge auch die Zuordnung der beiden Seiten zu jeweils separaten Grundrechtsregimes nahe. Die getrennte Regelung der Grundrechte innerhalb des unionalen Gesamtsystems versetzt damit zunächst in Erstaunen, zumal die unterschiedlichen Grundrechtsbezeichnungen wohl ganz bewusst Eingang in die Reformwerke gefunden haben. Die Problematik wird zudem durch den Umstand verschärft, dass Art. I-9 Abs. 3 EV/Art. 6 Abs. 3 EUV in spe den einen Teil der Unionsgrundrechte als „allgemeine Grundsätze (. . .) des Unionsrechts“ bezeichnen, obgleich in einer systematischen, insbesondere auf Art. I-9 EV/ 1431 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf das Szenario eines in Kraft getretenen Reformvertrages, gelten aber großteils entsprechend für die etwaige Rechtslage unter einer neben Art. 6 Abs. 2 EUV oder über Art. 6 Abs. 1 EUV in spe verbindlichen Charta. 1432 Art. II-109 EV. 1433 Art. II-101 Abs. 1 EV. 1434 Art. II-102 EV.

A. Die Charta der Grundrechte

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Art. 6 EUV in spe und Art. I-11 EV/Art. 3b EUV in spe gerichteten Gesamtschau klar und deutlich zwischen der Terminologie der Grundrechte und jener der Grundsätze differenziert wird, was auch der bereits in der Charta angelegten Systematik entspricht. Es stellt sich hier die Frage, ob es nicht vorzugswürdig gewesen wäre, den auch vom EuGH im Grundrechtskontext verwendeten Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze1435 aufzunehmen, um so zumindest den Unterschied zu den auch von der Charta geregelten und gerade nicht als subjektive Rechte ausgestalteten Grundsätzen1436 hinreichend deutlich zu machen. Eine Erklärung für die terminologische Wahl dürfte unterdessen in dem Umstand liegen, dass der Begriff der allgemeinen Rechtsgrundsätze unter dem Reformwerk exklusiv dem Regime der aus den Gemeinsamkeiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gewonnenen Grundsätze vorbehalten sein soll1437, während die übrigen originär aus dem Unionsrecht herrührenden Rechtsprinzipien in Abgrenzung hierzu nur die Bezeichnung „Grundsätze“ tragen sollen. Trotz dieser Differenzierungsebene dürfte das Reformwerk aber mit den in Art. I-9 EV/Art. 6 Abs. 3 EUV in spe genannten Grundsätzen doch etwas anderes meinen als mit jenen im Sinne des Art. I-11 EV/Art. 3b EUV in spe. Denn augenscheinlich möchte der Reformvertrag auch zwischen diesen begrifflich unterscheiden, indem er nur Ersteren ausdrücklich einen „allgemeinen“ Charakter bescheinigt und Letztere hingegen ohne ein weiteres Attribut lässt. Für die Annahme einer weiteren rechtlichen Differenzierung innerhalb der Grundsätze des Unionsrechts sprach auch die nochmalige Verwendung des Begriffs der „allgemeinen Grundsätze“ in Art. I-50 Abs. 3 EV, der das bereits in der Grundrechtecharta genannte Recht auf Zugang zu Dokumenten näher regeln sollte und damit nach Maßgabe des Gebots der einheitlichen Auslegung der Rechtsordnung und in Anbetracht des unmittelbaren Zusammenhangs zum unionalen Grundrechtsschutz ersichtlich auf die in Art. I-9 Abs. 3 EV gewählte Terminologie Bezug nahm. Nicht unterschlagen werden darf in diesem Zusammenhang auch, dass dem Gerichtshof eine derartige begriffliche Trennschärfe bislang nicht nachgesagt werden kann. So zeigt etwa seine Entscheidung in der Rechtssache Roquette Frères1438, in der er im Bereich der Grundrechtsgeltung unter dem Zwischentitel „Zu den Auswirkungen der allgemeinen Grundsätze 1435 Vgl. schon EuGH Rs. 4/73, Slg. 1974, 491, Rn. 13 (Nold) und EuGH Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727, Rn. 15 (Hauer). 1436 Vgl. zu diesen Jarass, EU-Grundrechte, § 7, Rn. 22 ff. 1437 Vgl. dazu auch Art. II-101 Abs. 3 EV sowie Art. III-431 EV, in denen jeweils von den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, „die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind“, die Rede ist. 1438 EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011 (Roquette Frères).

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

des Gemeinschaftsrechts“ die Grundrechte zunächst den „allgemeinen Rechtsgrundsätzen“1439 zurechnet und sodann im gleichen Kontext von den „allgemeinen Grundsätzen“1440 des Gemeinschaftsrechts spricht1441, dass er bis dato mit den betreffenden Begriffen recht ungenau umgeht. Bisweilen tritt jene unpräzise Rechtsbehandlung übrigens auch im Bereich der Anwendung grundrechtsfremder Grundsätze des Gemeinschaftsrechts auf1442. Ungeachtet dieser Ungenauigkeiten ist die begriffliche Differenzierung aber just vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Entstehung der über einen langen Zeitraum gewachsenen rechtsgrundsätzlichen Grundrechte einerseits und der zur gegebenen Zeit quasi ad hoc ins Rechtsleben zu rufenden Chartagrundrechte andererseits zu betrachten. Die Motivation für die unterschiedlichen Bezeichnungen in den beiden Absätzen dürfte sich zugleich in der Kenntlichmachung dieser differierenden Herkunft erschöpfen. Dass hiermit zwei separate Grundrechtsregimes in ein und derselben Rechtsordnung gebildet werden sollen, erscheint nur schwerlich vorstellbar, zumal eine grundrechtliche Quellenvielfalt auf der Grundlage der Geltungskumulation nationaler, supranationaler und völkerrechtlicher Quellen nahezu alle mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen prägt und auch dort nicht zu einer Mehrzahl eigenständiger Grundrechtssysteme in der jeweiligen Rechtsordnung geführt hat. Von den beschriebenen Neuerungen des unionalen Systems auf eine rechtsnatürliche Aufspaltung in originäre und rechtsgrundsätzliche Grundrechte zu schließen, lässt sich zudem dogmatisch kaum sinnvoll begründen. Für die gemeinsame Zugehörigkeit der Grundrechte zu einer unter dem neuen Vertragsregime einheitlich bestehenden Grundrechtsordnung spricht im Hinblick auf die ursprünglich vorgesehenen Regelungen in dem Entwurf des Vertrags einer Verfassung für Europa schließlich entscheidend, dass der bereits erwähnte Art. I-50 EV den in Art. I-9 Abs. 3 EV den prätorischen Grundrechten zugeordneten Begriff der allgemeinen Grundsätze direkt auf das in Art. II-102 EV als Chartagarantie geregelte Recht auf Zugang zu Dokumenten und mithin auf ein Grundrecht im Sinne des Art. I-9 Abs. 1 EV anwenden sollte. Diese verfassungsinterne Verbindung hätte folglich die in Art. I-9 EV angelegte norminterne Barriere zwischen den chartarechtlichen EuGH, a. a. O., Rn. 23 (Roquette Frères). EuGH, a. a. O., Rn. 26 ff./Roquette Frères). 1441 Vgl. insofern auch schon EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419, 427 f. (Stauder) sowie EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125, Rn. 4 (Internationale Handelsgesellschaft), wo ebenfalls von den Grundrechten als „allgemeinen Grundsätzen“ die Rede ist. 1442 Vgl. exemplarisch zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, den der EuGH im unmittelbaren Zusammenhang einmal als allgemeinen Grundsatz und anschließend als allgemeinen Rechtsgrundsatz tituliert, EuGH, verb. Rsn. C-177/99 u. C-181/99, Slg. 2000, I-7013, Rn. 42 (Ampafrance und Sanofi). 1439 1440

A. Die Charta der Grundrechte

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und den allgemeingrundsätzlichen Grundrechten der Union überwunden. Da unter dem nunmehr vorgesehenen Vertragswerk nichts anderes gewollt sein kann, erlaubt dies den Schluss, dass beide Seiten gesamtsystematisch einer einzigen, die gleiche Rechtsnatur aufweisenden unionalen Grundrechtsordnung angehören. Der erste Eindruck einer rechtsnatürlichen wie rechtsquellensystematischen Grundrechtsseparierung innerhalb des Unionsrechts dürfte damit ausreichend erschüttert sein. Die der gegenteiligen, im Ergebnis wenig wünschenswerten Annahme der Geltung paralleler Grundrechtsordnungen zugrunde liegenden Überlegungen lassen sich auch rechtsdogmatisch überwinden, indem etwa die Chartagrundrechte gleichsam als die geschriebenen allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts aufgefasst werden, wofür insbesondere der ursprünglich intendierte Art. I-50 Abs. 3 EV sprechen dürfte, oder indem man die verschiedenen Quellen unbeschadet ihrer formalen Bezeichnungsdivergenzen als uneigenständige Systemzweige einer grundrechtlichen Oberordnung versteht. In beiderlei Sinne handelt es sich bei den differierenden Grundrechtsressourcen gleichsam nur um variable Quellenelemente desselben Grundrechtsaggregats. c) Konkurrenzverhältnis Die mit der Charta visierte Rechtsklarheit gebietet infolgedessen, eine taugliche Regel zum horizontalen Anwendungsverhältnis jener beiden grundrechtlichen Herleitungszweige aufzuzeigen. Soweit es nämlich zur freien Disposition des EuGH stünde, wann er sich des Systems der Charta und wann der ihm gewohnten Quellensystematik bedienen dürfte, könnte dies die intendierte Bindungswirkung der Charta rasch unterminieren1443. Schon vor diesem Hintergrund erscheint es nahe liegend, die Anwendung der Charta in Anbetracht ihrer exklusiven Position als rechtsordnungsspezifischem Grundrechtstext im Falle der Eröffnung ihres Anwendungsbereichs grundsätzlich für vorrangig zu erachten. Der korrelierende Wille der Normgeber lässt sich deutlich an der systematischen Stellung der Nennung der Charta in Art. I-9 Abs. 1 EV/Art. 6 Abs. 1 EUV in spe und der nachrangigen Erwähnung der bisherigen Grundrechtsquellen im dritten Absatz der Norm ablesen. Hieraus folgt aber nicht, dass die EMRK und die Verfassungstraditionen im Grundrechtsquellensystem künftig hinfällig sein werden. Angesichts des grundsätzlichen Anwendungsvorrangs der Charta dürften jene zwar regelmäßig nicht mehr als Erkenntnisquelle, sondern über Art. 52 GrCh gegebenenfalls nur als Auslegungsquelle fungieren1444. Wenn So auch Pietsch, ZRP 2003, 1, 3. Weitergehend Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 200, der eine faktisch indirekte Rechtsquellenwirkung der EMRK annimmt. 1443 1444

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

aber die Charta den grundrechtlichen Schutz nicht oder nach Maßgabe der Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips nicht hinreichend gewähren kann, was, wie bereits dargelegt, insbesondere für die allgemeine Handlungsfreiheit gilt, wird ein hilfsweiser Rückgriff auf die ursprüngliche Grundrechtsdogmatik im Interesse eines adäquaten Grundrechtsschutzes geboten sein. Art. I-9 EV/Art. 6 EUV in spe ist nach diesem Verständnis nicht zuletzt die klarstellende Aussage zu entnehmen, dass die Vertragsreform keine Abkehr von der bisherigen Grundrechtsrechtsprechung des EuGH bedeutet1445. Dieses Systemverständnis vermeidet zugleich in angemessener Weise die Gefahr, dass sich eine rechtsverbindliche Charta zum ausschließlichen Grundrechtsmaßstab der Unionsrechtsprechung verselbständigen und so die Verpflichtungen aus der EMRK und den Verfassungstraditionen komplett verdrängen wird1446. Die Befürchtung, der EuGH werde es möglicherweise bevorzugen, sich auf der Grundlage des parallelen Quellenverweises und unter Vermeidung der Auseinandersetzung mit den Anwendungs- und Auslegungsproblemen der Charta seiner hergebrachten Grundrechtsquellenhermeneutik zu bedienen, beschreibt zwar ein ebenfalls denkbares Szenario1447. Dessen Eintritt erscheint angesichts der begründeten Hoffnung, dass auch der Gerichtshof eine rechtsverbindliche Charta ernst nehmen und das Anwendungsverhältnis in dem hier beschriebenen Sinne einschätzen wird, jedoch eher unwahrscheinlich. Im Hinblick auf die enge Anlehnung der Chartarechte an die Grundrechtsrechtsprechung ist vielmehr zu erwarten, dass der EuGH sich bemühen wird, eine größtmögliche Kohärenz zwischen den katalogisierten Rechten und seiner bisherigen Grundrechtskasuistik herzustellen. Freilich liegt es damit auch künftig primär in seiner Hand, für die Entfaltung eines adäquaten Grundrechtsschutzes zu sorgen und so auf der Basis der neuen unionalen Grundrechtsquellenhermeneutik einen hinreichenden Kontrollmaßstab gegenüber der europäischen Hoheitsgewalt zu etablieren. Die breitere Fächerung der dem Gerichtshof hierfür zur Verfügung stehenden Quellen kann sogar von Vorteil sein, zumal künftige Entwicklungen der mitgliedstaatlichen Verfassungsstrukturen und der EMRK weiterhin innerhalb und außerhalb des Art. 52 GrCh in das Unionsrecht einfließen werden. Letztlich wird aber erst die praktische Anwendung der bereits beschriebenen Kollisionsregeln zeigen, ob diese zur Vermeidung und Auflösung von Konflikten im chartainternen Bereich zwischen den verschiedenen QuellenÄhnlich Mayer, RTDE 2003, 175, 186. Zu dieser Gefahr Klein, Europäische Verfassung im Werden, in: Bremische Bürgerschaft – Fachtagung vom 26. September 2000, S. 79, 85, der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass sich durch eine zu vordringliche Charta auch die menschenrechtliche Rechtsprechung in Europa auseinander entwickeln könnte. 1447 Mit dieser Tendenz Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 568. 1445 1446

A. Die Charta der Grundrechte

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ebenen taugen1448. Sofern es dem Gerichtshof gelingen wird, die Chartabestimmungen hierdurch in inhaltlicher Kohärenz zum bisherigen Grundrechtsschutz auszulegen und anzuwenden1449, was jedenfalls mit Blick auf die großteils recht offen gehaltene Beschreibung der jeweiligen Schutzbereiche keine nennenswerten Schwierigkeiten bereiten dürfte, werden Ergebnisdivergenzen bei der Beurteilung der Grundrechtskonformität eines Rechtsakts nicht zu befürchten sein1450, ist es doch gerade der Charta gestattet, über den bereits erreichten acquis hinauszugehen1451. Da die Entstehungsgeschichte und Struktur einer künftig verbindlichen Charta die weitgehend einheitliche und im Übrigen das bisherige Grundrechtsschutzniveau weiterführende Auslegung und Anwendung der Grundrechte erlauben, kann und wird ihre Heranziehung in der Praxis wohl rasch dominieren, so dass die gewohnten Rechtserkenntnisquellen in gewissem Umfang, keinesfalls aber gänzlich, an Bedeutung verlieren können1452. Im einem zukünftigen System der Grundrechte wird Art. 6 Abs. 2 EUV bzw. Art. 6 Abs. 3 EU in spe folglich die Funktion eines Rechtsverweises auf die subsidiäre Grundrechtsquelle der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts erfüllen und damit normsystematisch wie teleologisch als Auffangregelung zu verstehen sein1453. Von einer Inflation im Bereich des Grundrechtsschutzes kann bei einem solchen Konkurrenzverständnis kaum die Rede sein1454. Die Charta wird hiernach aber nicht nur „prima inter pares“, sondern in der Tat die rechtlich wie praktisch vorrangige Quelle grundrechtlicher Werte der Union sein. d) Redundante Chartarechte Zu klären verbleibt noch, ob diese Grundsätze auch für jene Rechte gelten, zu denen sowohl in der Charta als auch an anderer Stelle des Unionsrechts Regelungen existieren und zu denen weite Teile der Bürgerrechte, die etwa nicht nur in Titel V der Charta1455, sondern bereits eingehend in Vgl. Grabenwarter, a. a. O., 566. Dazu auch Calliess, EuZW 2001, 261, 264; zum Vorrang der Wertungen der EMRK im Falle eines etwaigen Auslegungskonflikts Grabenwarter, a. a. O., 566. 1450 In Bezug auf den theoretischen Fall, dass ein mit der Charta vereinbarer Unionsrechtsakt dem aus den Verfassungstraditionen oder der EMRK folgende Schutzniveau nicht genügt a. A. Schmitz, EuR 2004, 691, 699. 1451 Vgl. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1, 12; Pache, EuR 2001, 475, 492. 1452 In diesem Sinne H.-H. Klein, Die politische Meinung 2001, 45, 49. 1453 So i. Erg. auch Schmitz, EuR 2004, 691, 698. 1454 A. A. insoweit Trechsel, ZEuS 1998, 371 ff.; in dessen Sinne auch Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 32 unter Hinweis auf Stein, in: FS Steinberger, S. 1425, 1435 f. 1455 Vgl. Art. II-99 ff. EV. 1448 1449

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

Art. 17 Abs. 2 EUV in spe1456 abgehandelt werden, sowie das allgemeine Diskriminierungsverbot1457 gehören1458. Im Falle einer Verdoppelung des Regelungsortes drängt sich naturgemäß die Frage auf, welche der betreffenden Normen die vorrangige Rechtsgrundlage des jeweiligen Rechts bilden soll. Denkbar erscheint insoweit zwar auch ein kumulierter Rekurs jeweils auf beide Vorschriften, rechtsdogmatisch ist dies bei materieller Kongruenz der Vorschriften für die Begründung der Geltung und die Bestimmung des Inhalts eines Rechts aber weder nötig, noch wertvoll. Der Sinn einer kumulierten Zitierung mehrerer Normen des gleichen Rechtskonvoluts bleibt dabei weitgehend verborgen. Wie vor allem Art. 52 Abs. 2 GrCh1459 zeigt, kann die Frage nach dem Anwendungsverhältnis aber im Sinne des Spezialitätsgrundsatzes dahingehend zu beantworten sein, dass der Vorrang grundsätzlich der andernorts getroffenen Regelung zukommen soll, soweit diese nicht weniger Substanz als die betreffende Chartaregelung hat und nicht nur einschränkende Vorgaben enthält1460, sondern mit Blick auf ihre rechtlichen Merkmale, insbesondere ihre Klarheit und Bestimmtheit, als eigenständige Grundlage der Rechtsgeltung taugen kann1461. Möglicherweise gilt dies ebenso für die sich mit den einzelnen Grundfreiheiten überschneidenden Berufsgarantien nach Art. 15 Abs. 2 GrCh1462.

III. Nutzen einer verbindlichen Grundrechte-Charta Die hier zutage geförderten und nicht durchweg belanglosen Unzulänglichkeiten der Charta fordern nunmehr zu einer Stellungnahme heraus, ob der Katalog der europäischen Grundrechte tatsächlich mehr Nutzen für den 1456 Art. I-10 EV, s. auch Art. I-47 Abs. 4 EV, Art. I-50 Abs. 3 EV, Art. III126 ff. EV und Art. III-334 f. EV. 1457 s. Art. I-4 Abs. 2 EV und Art. II-81 Abs. 2 EV. 1458 Des Weiteren finden sich partielle Wiederholungen zu den Grundfreiheiten (vgl. Art. II-75 Abs. 2 EV) und zur Gleichheit von Frau und Mann (vgl. Art. II-83 EV). 1459 Art. II-112 Abs. 2 EV. 1460 In einem solchen Fall böte die Chartaregelung die vorrangige Rechtsgrundlage, während die anderweitige Verfassungsbestimmung spezielle Regelungen zum Schutzgehalt parat hielte und somit ebenfalls an der Quelle des Grundrechts teilnähme. 1461 Ähnlich Jarass, EU-Grundrechte, § 2, Rn. 7 f. 1462 Zur Frage des Konkurrenzverhältnisses zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten einerseits für einen Vorrang der Grundfreiheiten plädierend Jarass, EUGrundrechte, § 2, Rn. 10; Ehlers, in: ders., Europäische Grundrechte, § 13, Rn. 12; andererseits für eine Idealkonkurrenz plädierend Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 81.

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unionalen Grundrechtsschutz bringen kann, als er möglicherweise Schaden oder Verwirrung zu stiften vermag1463. Die Anerkennung von der Hoheitsgewalt vorauseilenden Grund- und Menschenrechten, die jedem Individuum schon kraft seiner Menschennatur anhaften, ist das konstitutive Element einer rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Rechtsordnung, wie sie die Europäische Union ausweislich des Art. 6 Abs. 1 EUV darstellt1464. Die im Laufe der Zeit stetig gewachsene und noch immer zunehmende Sensibilisierung der EU für die Notwendigkeit von effektivem Grundrechtsschutz, dessen Relevanz längst über die Dimension wirtschaftlicher Betätigungen des Einzelnen hinausgeht1465, ist die konsequente Reaktion auf die schrittweise Bildung einer zwar kompetentiell limitierten, praktisch jedoch äußerst agilen Union, deren teils unmittelbar verbindliche und vorrangig zu beachtende Rechtsakte weit in die wirtschaftlichen und privaten Sphären des Einzelnen hineinwirken. Der besondere Wert einer verbindlichen Charta gegenüber dem derzeitigen, auf Art. 6 Abs. 2 EUV und der Rechtsprechung des EuGH basierenden Grundrechtssystem liegt ausweislich ihrer vierten Präambelerwägung in der Sichtbarmachung der Grundrechte, womit ein beachtlicher Gewinn an Rechtsklarheit1466 und Rechtssicherheit1467 einhergehen kann, sobald sich eine einheitliche und ebenso deutlich wahrnehmbare Praxis in der Handhabung des Grundrechtsschrankensystems durch den Gerichtshof herausgebildet haben wird. Die Dichte des Grundrechtsschutzes, die ihrerseits einen sensiblen Seismographen zur Feststellung des Legitimitätsgrads hoheitlichen Handelns bildet, hängt im Lichte des altgermanischen Prinzips „Wo kein Kläger, da kein Richter“ vor allem vom Rechtsbewusstsein des Einzelnen und damit von der Erkennbarkeit der Grundrechtsgeltung und seiner Grenzen ab1468. Eine bessere Wahrnehmbarkeit der Grundrechte durch die Rechtsinhaber erhöht jedoch nicht nur faktisch die Intensität und den Umfang des Individualrechtsschutzes, sie bedeutet auch spiegelbildlich hierzu einen signifikanten Legitimationsgewinn für die dem Demokratieprinzip nicht vollends verpflichtete Union1469 und kann zugleich merklich die Acht1463 Zu den Gefahren und der Nützlichkeit einer Charta s. auch die Behandlung bei Mayer, RTDE 2003, 175, 181 ff. 1464 Zum Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit schon EuGH, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 5 (Granaria); s. dazu ferner Hector, in: FS Ress, S. 180, 192. 1465 In diesem Sinne schon Klein, AfP 1994, 9, 10, Fn. 10. 1466 Dazu Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 13. 1467 Dazu Calliess, EuZW 2001, 261, 262. 1468 Zur Intensität der Gerichtskontrolle im Kontext zur Charta auch Mayer, RTDE 2003, 175, 184. 1469 Zum Problem der Demokratieschwäche in der EU ausführlich Fischer, Das Demokratiedefizit bei der Rechtsetzung durch die Europäische Gemeinschaft,

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samkeit ihrer unionalen Hoheitsgewalten gegenüber den Grundrechten schärfen1470. Darüber hinaus bietet eine verbindliche Grundrechte-Charta als Ausdruck eines übergreifenden Wertekonsenses nicht nur die Chance, die Identifizierung des Einzelnen mit seiner Rolle als Bürger einer Europäischen Union zu stärken1471, vielmehr sähe sich dadurch auch die Identität der Union jenseits der bereits existierenden Symbolik1472 substantiell gestärkt1473. Und auch im Bereich außenpolitischen Wirkens brächte die Möglichkeit, die Ernsthaftigkeit der im Bereich der GASP angesiedelten Bemühungen um die „Wahrung der gemeinsamen Werte“ im Sinne des Art. 11 Abs. 1 EUV durch einen Verweis auf einen eigenen geschriebenen GrundMünster 2001; s. auch Ress, in: GS Geck, S. 625, 628 ff.; fernerhin v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders., Europäisches Verfassungsrecht, S. 149, 171 ff. 1470 In diesem Sinne auch Hector, in: FS Ress, S. 180, 183 f. 1471 Vgl. dazu Pache, EuR 2001, 475, 478. 1472 Die fünf folgenden Aspekte sollten nach dem ursprünglichen Verfassungsentwurf die Symbole der EU bilden (vgl. Art. I-8 EV): – Die Flagge, einem Kreis aus zwölf fünfzackigen goldfarbenen Sternen auf einem blauen Rechteck (vgl. ABl. EG 4/1986, 54, 57 sowie Art. I-8 EV). Die Anzahl der Sterne spiegelt nicht die frühere Zahl der Mitgliedstaaten wider, sondern symbolisiert in Verbindung mit der kreisförmigen Anordnung traditioneller Weise Vollkommenheit, Vollständigkeit und Einheit, so dass die Flagge unabhängig von späteren Beitritten zur EU unverändert geblieben ist und bleiben wird. – Die Devise „In Vielfalt geeint“, welche in der Präambel und in Art. I-8 EV zum Ausdruck kommt und von der eine gewisse Symbolwirkung ausgeht. – Die Hymne, der vierte Satz der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens von 1823 (indes ohne den Text von Friedrich Schillers Gedicht „Ode an die Freude“ von 1785), wurde von den Staats- und Regierungschefs der Union im Jahre 1985 als offizielle Hymne der EU angenommen und nunmehr in Art. I-8 EV festgeschrieben. Sie versinnbildlicht die Werte Freiheit, Frieden und Solidarität. – Der Euro (Zeichen: e; ISO-Code: EUR), im Zuge der Europäischen Währungsunion unter dem 1. Januar 1999 als Buchgeld und seit dem 1. Januar 2002 als Bargeld eingeführt und auch von Art. I-8 EV erwähnt, befördert in besonderem Maße die Identifikation der Unionsbürger mit Europa und wurde aufgrund seiner epochalen Wirkung im Jahre 2002 mit dem Karlspreis (Internationaler Karlspreis zu Aachen) ausgezeichnet. – Ebenfalls symbolischer Wert, jedoch wohl nicht die gleiche identitätsfördernde Wirkung wie dem Euro, kommt dem in Art. I-8 EV auf den (in Zusammenhang mit der EU auf den Schumann-Plan von 1950 bezogenen) 9. Mai festgelegten „Eurotag“ als EU-weitem Feiertag zu. Soweit die jüngsten Entwicklungen im Rahmen des Reformprozesses hiervon auch abweichen, werden die dargestellten Symbole wohl zumindest in faktischer Hinsicht gelten. 1473 Zum identitäsfördernden Potential der Verfassung und den Grenzen desselben v. Bogdandy, Europäische Verfassung und europäische Identität, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 331 ff.; kritischer Haltern, Gestalt und Finalität, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 815 ff.

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rechtskatalog zu unterstreichen, einen erheblichen Glaubwürdigkeitsgewinn auf dem internationalem Parkett1474. Ob die Vorteile einer rechtsverbindlichen Grundrechte-Charta auch in rechtspraktischer Hinsicht präponderieren werden, ist hingegen eine Frage des gerichtlichen Umgangs mit dem Chartatext. Da im Anwendungs- und Schutzbereich zahlreicher Chartarechte aber zumindest der bis dato regelmäßig in der Vorarbeit zur gerichtlichen Entscheidungsbegründung von den Gemeinschaftsgerichten zu leistende Rechtsvergleich unter mittlerweile bis zu 27 mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen entfallen könnte1475, liegt schon insofern eine gewisse Vereinfachung der Grundrechtskontrolle auf der Hand. Korrelierend hierzu wird das mögliche Mehr an Rechtsklarheit nicht nur den Grundrechtsträgern, sondern auch den Grundrechtsadressaten zugute kommen können, deren Verpflichtung zur Grundrechtsachtung mit einem Blick auf den Chartainhalt möglicherweise leichter als unter dem aktuellen Regime zu erfüllen sein wird. Selbst wenn im Übrigen mit einer verbindlichen Charta zunächst neue rechtliche Fragestellungen aufkommen werden, die kurzzeitig sogar methodische Unruhen in der Grundrechtsordnung stiften können, so liegt dies in der Natur der Sache einer jeden, ob erforderlichen oder weniger sinnvollen Systemmodifikation. Die Unsicherheiten während der insoweit bereits in vollem Gange befindlichen Phase der rechtswissenschaftlichen Positionierungen vermag jene prominenten Vorteile aber nicht aufzuwiegen. Letztlich ist es eine vorwiegend politische Entscheidung, ob die Charta als Bestandteil des Primärrechts ein weithin sichtbares Zeugnis für die Bereitschaft der EU zur Realisierung gemeinsamer Werte und Freiheiten ablegen1476 oder weiterhin einen Schwebestatus beibehalten soll. Die mit ihr ursprünglich verfolgten und nach wie vor geltenden Ziele können freilich nur erreicht werden, wenn sie aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt wird1477. Gerade ihre Stellung als visualisierter und doch weitestgehend unverbindlicher Grundrechtskatalog leistet derzeit eher Verwirrungen den Vorschub, als dass sie wahren Nutzen stiften kann, wie die teils diametralen Ansichten anerkannter Rechtsgelehrter zur aktuellen Lage ihrer rechtlichen Bedeutung 1474 In diesem Sinne auch Pernice, DVBl. 2000, 847, 849; ähnlich Mombaur, DÖV 2001, 595. 1475 Klargestellt sei insoweit, dass auch derzeit kein vollständiger Vergleich aller mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen zur Herleitung eines Unionsgrundrechts von Nöten ist, sondern insoweit vielmehr eine wertende, d.h. den besonderen Bedürfnissen des Unionssystems Rechnung tragende Rechtsvergleichung erfolgt (dazu bereits oben in Teil 2 unter B. I. 3. 1476 Vgl. Pache, EuR 2001, 475, 478. 1477 In diesem Sinne auch Calliess, EuZW 2001, 261, 262; Pache, a. a. O., 487; Pechstein, in: Streinz, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rn. 13.

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eindrucksvoll belegen1478. Wenn der künftige zweite Erwägungsgrund des EUV (in der Fassung des Vertrags von Lissabon) die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als erste, mithin primordiale Errungenschaft der kulturellen, religiösen und humanistischen Entwicklung Europas bezeichnet und der zweite Punkt der Chartapräambel die Menschen in den Mittelpunkt des Handelns der Union stellt1479, so sollten einem derart deutlich artikulierten Grundrechtsbekenntnis Europas auch Taten folgen. Über die Schließung der rechtsstaatlich nicht unbedenklichen Wahrnehmungslücke1480 hinaus würde eine verbindliche Grundrechte-Charta in dem unionalen Rechtsgeflecht einen zentralen Platz einnehmen und hierbei nicht nur den eindeutigen Beleg für das gewachsene Grundrechtsbewusstsein der EU bieten, sondern zugleich umgekehrt der Entwicklung desselben einen weiteren Schub verleihen.

IV. Formalverbindlichkeit der Grundrechte-Charta de constitutione vel de lege ferenda Überwiegt damit der Nutzen einer verbindlichen Charta gegenüber den mit ihr verbundenen Risiken, so verbleibt abschließend darzustellen, auf welche Weise der formelle Akt des Inkrafttretens vollzogen werden kann. 1. Die Grundrechte-Charta im EU-Reformvertrag Die vorrangige Option bildet das Inkrafttreten der Charta der Grundrechte uno actu mit dem Vertrag von Lissabon1481. a) Hintergrund zur Enstehung des Vertragsentwurfs Der Vertrag von Lissabon ist die Konsequenz des Scheiterns des Vertrags über eine Verfassung für Europa, dem Ergebnis der Arbeit des vom Europäischen Rat in Laeken1482 beauftragten Europäischen Konvents1483. Den s. zu den unterschiedlichen Ansätzen oben in Teil 2 unter B. III. 3. a) bb). s. insofern auch die Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament vom 10. Mai 2005 (Haager Programm) zu den zehn Prioritäten für die nächsten fünf Jahre (Die Partnerschaft zur Erneuerung Europas im Bereich der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, KOM/2005/184), Punkt 1. 1480 Ähnlich mit weitergehenden Tendenzen Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 34. 1481 Zu diesem ausführlicher etwa Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473 ff.; Richter, EuZW 2007, 631 ff. 1482 s. Rn. 3 der Schlussfolgerungen des Vorsitzes des Europäischen Rats von Laeken vom 14. und 15. Dezember 2001 (Bulletin EU 12/2001). 1478 1479

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ursprünglichen Verfassungsvertragsentwurf hatten die damals 25 Mitgliedstaaten zwar am 29. Oktober 2004 feierlich in Rom unterzeichnet1484. Gemäß Art. IV-447 EV konnte er indes erst nach der Ratifizierung durch alle Mitgliedstaaten in Kraft treten. Das Gelingen dieses Unterfangens erschien von Anfang an keineswegs gesichert. War schon die zeitliche Dimension einer vollständigen Ratifizierung angesichts der teils obligatorischen1485 und teils fakultativen1486 Durchführung von Referenden1487 und damit trotz der Zielvorgaben des Art. IV-447 Abs. 1 EV nicht hinreichend genau zu prognostizieren1488, so bestand im Hinblick auf einige Mitgliedstaaten auch in grundsätzlicher Hinsicht die begründete Gefahr einer Verschleppung oder eines endgültigen Scheiterns des Ratifizierungsprozesses. Mit den negativen Volksabstimmungen in Frankreich1489 und den Niederlanden1490 geriet der Reformprozess sodann tatsächlich ins Stocken, so dass der ursprünglich für Der Konvent setzte sich unter der Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d’Estaing aus 56 Vertretern der nationalen Parlamente, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, 28 Regierungsvertretern und zwei Mitgliedern der Europäischen Kommission zusammen und wurde aktiv beobachtend von Vertretern der im Zuge der EU-Osterweiterung beigetretenen 12 neuen Mitgliedstaaten sowie des weiteren beitrittswilligen Kandidaten Türkei begleitet (zu jenen Beitrittskandidaten zählten ursprünglich die Tschechische Republik, die Republik Estland, die Republik Zypern, die Republik Lettland, die Republik Litauen, die Republik Ungarn, die Republik Malta, die Republik Polen, die Republik Slowenien und die Slowakische Republik; seit dem 1. Januar 2007 sind nunmehr auch Bulgarien und Rumänien hinzugekommen). 1484 Die seit 1. Januar 2007 ebenfalls zu den EU-Mitgliedern zählenden Länder Bulgarien und Rumänien haben dem Konvent als aktive Beobachter beigewohnt und werden nach Art 1 Abs. 2 i. V. m. Art. 2 Abs. 1 UAbs. 2 des Beitrittsvertrages vom 21. Juni 2005 (ABl. EG L 157/11 vom 21. Juni 2005) ab Inkrafttreten des Verfassungsvertrages ebenfalls Vertragspartei desselben. 1485 So in Dänemark, Irland und möglicherweise auch in Estland, sofern Letzteres die EU-Verfassung als „Verfassung“ und nicht als „Internationalen Vertrag“ behandeln wird. 1486 So in Belgien, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, Niederlande, Polen, Portugal und Spanien. 1487 In den Mitgliedstaaten Schweden, Finnland, Italien, Österreich, Portugal, der Slowakei, Slowenien und Ungarn sind beide Verfahrenswege rechtlich zulässig. In den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten Deutschland und Zypern ist ein betreffender Volksentscheid nicht vorgesehen und eine entsprechende Änderung des deutschen Grundgesetztes auch nicht mehr vordergründig in der öffentlichen Diskussion. 1488 Erfolgreich ratifiziert wurde der Vertrag bislang von Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Österreich, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Ungarn und Zypern. 1489 In dem Referendum vom 29. Mai 2005 stimmten 54,68% der abstimmenden Bürger mit „Non“. 1490 In dem am 1. Juni 2005 durchgeführten Referendum stimmten 61,6% der teilnehmenden Bürger mit „Nee“. 1483

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den 1. November 2006 visierte Zeitpunkt des Inkrafttretens nicht mehr eingehalten werden konnte. Dabei war das eingetretene Szenario zwar auch Gegenstand der Erörterungen des Konvents, eine konsensfähige Lösung wurde dort aber nicht gefunden und konnte im Vorfeld auch kaum sinnvoll verbindlich geregelt werden. Denn etwaige Bestimmungen hierzu innerhalb des Verfassungsentwurfs hätten ohne dessen Inkrafttreten ebenfalls keine Wirkung entfalten können. Eine antizipierende Lösung des Problems in einem Vorvertrag hätte dem Verfassungsprozess hingegen ab initio eine unangemessene Trägheit verliehen, da ein solches Vorabkommen seinerseits von allen Mitgliedstaaten zu ratifizieren und nur schwerlich konsensfähig gewesen wäre. Zuletzt wäre auch die – theoretisch nach wie vor – denkbare Beschränkung der Rechtswirkungen der Verfassung auf den ratifizierenden Teil der Unionsländer nicht wünschenswert gewesen, hätte dies doch zu einer Parallelgeltung zweier Europäischer Rechtsordnungen mit unterschiedlichen Integrationsgraden führen und damit die Einheit des Gesamtsystems in Frage stellen müssen. Vor diesem Hintergrund sah eine Erklärung der Regierungskonferenz des Jahres 2004 vielmehr vor, dass sich der Europäische Rat mit der Frage des Schicksals der Verfassung erneut befassen möge, wenn der Ratifizierungsprozess innerhalb von zwei Jahren zwar in vier Fünfteln, aber nicht in allen Mitgliedstaaten erfolgreich abgeschlossen sein sollte1491. Die Mitgliedstaaten hatten sich demgemäß anlässlich des im Juni 2005 in Brüssel durchgeführten Gipfeltreffens für eine einjährige Reflexions- und Diskussionsphase entschieden1492, woraufhin der Ratifizierungsprozess bis auf weiteres ausgesetzt wurde1493. Im Rahmen des von der Kommission in Reaktion auf jene Entwicklung ins Leben gerufenen Plans D für Demokratie, Dialog und Diskussion1494 sollte derweil durch eine intensivere Einbeziehung der Öffentlichkeit in die europäische Verfassungsdebatte und darauf aufbauend durch eine bessere Berücksichtigung der Befürchtungen und Erwartungen der Bevölkerung deren Vertrauen in die zukünftige Union gesteigert werden1495. Ob insoweit tatsächlich eine um1491 s. dazu die 30. Erklärung zur Ratifikation des Vertrags über eine Verfassung für Europa, ABl EG Nr. C 310/464 vom 16. Dezember 2004. 1492 Vgl. die Erklärung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zur Ratifizierung des Vertrags über eine Verfassung für Europa vom 18. Juni 2005, DOC/05/03; im Internet abrufbar unter www.europa. eu.int/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/05/3 (letzter Besuch: 28. Januar 2007). 1493 Dies betrifft insbesondere die Länder Dänemark, Großbritannien, Irland, Polen, Portugal, Schweden und die Tschechische Republik. Hingegen haben Belgien, Estland, Finnland, Lettland, Luxemburg, Malta und Zypern den Vertrag trotz jener Entwicklungen ratifiziert. Auch haben Rumänien und Bulgarien ihren EU-Beitritt sogleich mit der Ratifikation des Verfassungsvertrags verbunden. 1494 KOM 2005/494.

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fassende und für die breite Masse verständliche Aufklärung über Sinn, Zweck und Inhalt der umfassenden Primärrechtsreform erreicht wurde, kann indes bezweifelt werden, war dem Projekt doch von Anfang an die Schwäche inhärent, sich unter der Regie der nationalen Parlamente vorwiegend in innermitgliedstaatlichen Sphären zu bewegen, ohne zugleich einen grenzüberschreitenden, supranational koordinierten Gedankenaustausch zu ermöglichen. Unbeschadet dessen und einigen Zweiflern zum Trotz hat der nach Abschluss jener Reflexionsphase1496 durchgeführte EU-Gipfel vom Juni 2007 die entscheidenden Streitpunkte aber recht tragfähigen Kompromissen zugeführt1497 und dem Reformprozess durch die Übernahme wesentlicher Teile des Verfassungsvertrags in den Vertrag von Lissabon neuen Schwung verliehen1498. 1495 Dem weiteren, aus den Reihen des Europäischen Parlaments präsentierten Vorschlag der beiden Berichterstatter des Konstitutionellen Ausschusses Andrew Duff und Johannes Voggenhuber, einen zweiten Verfassungskonvent mit stärkerer Beteiligung der Bürger und der nationalen Parlamente anzustrengen, dabei die Debatte erst auf weniger kontroverse Verfassungsteile zu beziehen und die Ergebnisse gestuft einem unionsweiten Bürger-Referendum zu unterziehen [2005/2146(INI)], wurden angesichts der damit verbundenen Aufschnürung des Verfassungsentwurfs schwerwiegende Bedenken entgegengehalten [s. hierzu insbesondere den „Gegenreport“ des finnischen Europaparlamentariers Alexander Stubb, A five-step plan to get Europe’s constitution on track, veröffentlicht in der Financial Times vom 30. September 2005]. 1496 Im Rahmen zweier Ratstreffen im Jahre 2006 bekam der darauf folgende deutsche Ratsvorsitz den Auftrag, dem Europäischen Rat in der ersten Hälfte des Jahres 2007 einen Bericht vorzulegen, auf dessen Grundlage der Verfassungsprozess fortgesetzt werden kann, um spätestens in der zweiten Jahreshälfte 2008 die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen [s. die Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes zum Treffen des Europäischen Rats in Brüssel am 15. und 16. Juni 2006, Rn. 47 f. (Bulletin EU 6/2006) sowie die gleich lautenden Schlussfolgerungen des Ratsvorsitzes zum Treffen am 14. und 15. Dezember 2006, Rn. 3 (Bulletin EU 12/2006)]. Im Rahmen des unter der deutschen Ratspräsidentschaft geführten Treffens des Europäischen Rates am 8./9. März 2007 in Brüssel präsentierte Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich eines Empfangs der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten eine entsprechende Roadmap und lancierte zugleich den Vorschlag, von der vertraglichen Verfassungsbezeichnung abzusehen. 1497 Die Kernpunkte der Einigung bildeten den Aufschub der Einführung des Systems der doppelten Mehrheit unter Beibehaltung des unter dem Vertrag von Nizza vereinbarten Abstimmungsmodus bis zum Jahr 2014 (respektive des Kompromisses von Ioannina bis 2017), die bereits erwähnte Auslagerung der Grundrechte-Charta sowie die Bündelung der Funktionen des EU-Außenbeauftragten und des EU-Außenkommissars im Amt eines Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außenund Sicherheitspolitik. Im Übrigen waren erweiterte Ausstiegsmöglichkeiten in den Bereichen der PJZS und der Sozialpolitik vorgesehen. Der Begriff „Verfassung“ wurde fallen gelassen. 1498 Zur Beibehaltung der wesentlichen Teile des Verfassungsvertrags etwa Rabe, NJW 2007, 3153; Richter, EuZW 2007, 631, 633.

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b) Ausgewählte Aspekte Im Folgenden sollen einige ausgewählte Aspekte der zahlreichen, auch bereits im Zusammenhang mit dem Verfassungsvertrag kritisch begleiteten Punkte des EU-Reformwerks angesprochen werden. aa) Verfassungsbegriff Der Reformprozess war von Anfang an von der Frage geprägt, ob es sich bei dem Reformwerk um eine „Verfassung“ handelt1499. Die Antwort konnte allerdings nicht auf der Grundlage eines streng formalen Verfassungsbegriffs gesucht werden, stellt doch schon der EGV mit den Worten des EuGH die in der Form einer völkerrechtlichen Übereinkunft geschaffene „grundlegende Verfassungsurkunde einer Rechtsgemeinschaft“1500 dar. Obwohl weder die EU noch die europäischen Gemeinschaften die drei staatskonstituierenden Voraussetzungen1501 erfüllen1502 und sich auch in Zukunft wohl nicht zu einem „europäischen Staat“ in diesem Sinne entwickeln werden1503, erscheint die Begriffswahl der Verfassung bereits in Bezug auf das geltende Primärrecht zulässig, da die Gründungsverträge ihrerseits zahlreiche konstitutionalisierende Bestimmungen aufweisen, so insbesondere im Hinblick auf die mitgliedschaftliche Zugehörigkeit, die Organisationsstrukturen, die Kompetenzregelungen und die Schaffung einer 1499 Vgl. dazu ausführlich Hufeld, Europäische Verfassungsgebung zwischen Völker- und Europarecht, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld, Eine Verfassung für Europa, S. 313 ff.; im Ansatz kritischer Kadelbach, in: FS Ress, S. 527, 529; vgl. dazu ferner Schwarze, EuR 2003, 537, 570. 1500 So ausdrücklich EuGH, Gutachten 1/91, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21 (EWR I); ebenso von einer „Verfassungsurkunde“ sprechend in EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament). 1501 Zu den drei Wesenselementen eines Staates, namentlich dem Staatsvolk, dem Staatsgebiet und der Staatsgewalt, schon Jellinek, Allgemeine Staatslehre, S. 394 ff. 1502 Die Aufnahme des Begriffs der „Rechtsstaatlichkeit“ in Art. 6 Abs. 1 EUV kann insoweit freilich nicht schon zur Bejahung des Staatscharakters der EU führen. Der Terminus wurde vielmehr aus den mitgliedstaatlichen Verfassungen entlehnt, um insbesondere die Bindung der EU als Träger von Hoheitsgewalt an die Grundrechte, das Rückwirkungsverbot sowie den Vertrauensschutzgrundsatz normativ zu fixieren [s. zur bereits frühen Erwähnung des Grundsatzes der Rechtsstaatlichkeit EuGH, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 5 (Granaria)]. 1503 Vgl. dazu eingehend Klein, Auf dem Weg zum „europäischen Staat“?, in: Holtmann/Riemer, Europa: Einheit und Vielfalt, Eine interdisziplinäre Betrachtung, S. 261, 268 ff.; ferner Griller, Die Europäische Union. Ein staatsrechtliches Monstrum?, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 201, 220 ff. und 254, nach welchem insbesondere der Eindruck vermieden werden müsse, die EU solle ein Staat i. S. d. Völkerrechts werden.

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eigenen Gerichtsbarkeit1504. In Anbetracht ihrer Bedeutung für die europäische Rechtsordnung sind neben den Gründungsverträgen im Übrigen auch die ungeschriebenen Rechtsgrundsätze und hierunter vor allem die Grundrechte zum „Verfassungsrecht“ zu zählen. Der rechtliche Begriff der Verfassung1505 ist insofern nicht stringent an jenen des Staats gekoppelt, sondern in einem materiell-funktionalen Sinn zu verstehen1506. Soweit dem Regelungswerk des Verfassungsvertrags erstmals ausdrücklich von den Vertragsgestaltern1507 der Titel „Verfassung“ verliehen wurde, war auch damit ein entsprechendes Verständnis gemeint1508, das den charakteristischen Kern einer Verfassung bei ihrer Eigenschaft ansiedelt, oberste Grundordnung des Gemeinwesens zur umfassenden und systematischen Begründung und Begrenzung politischer Herrschaft zu sein1509, die insbesondere Antworten zu den Fragen der Regierungsform, der Organisation und der Kompetenzverteilung der rechtlich eigenständigen Ordnung gibt1510, ohne dessen Finalität abschließend und allwährend zu beschreiben1511. Bedenkt man, dass schon heute das europäische Primärrecht als Verfassungsrecht verstanden werden kann, so vermochte die Synthese zwischen dem so verstandenen Verfassungsbegriff und dem formellen Vertragsbegriff das Anliegen und Wesen des Regelungskonvoluts grundsätzlich treffend wiederzugeben. Das demokratische Entstehungsmoment ließ und lässt indes zu wün1504 Hierzu ausführlich Klein, Europäische Verfassung im Werden, in: Bremische Bürgerschaft – Fachtagung vom 26. September 2000, S. 79, 80 f.; hinsichtlich der Verfassungsfunktionen ebenso Pernice, WHI-Paper 2/07, S. 3. 1505 Pernice, JöR 2000, 205 ff. räumt in diesem Zusammenhang dem Begriff vom „Verfassungsverbund“ den Vorzug gegenüber dem vom BVerfG [in BVerfGE 89, 155, 181 (Maastricht)] verwendeten Begriff des „Staatenverbundes“ ein. s. auch zur Charakterisierung der EU als konsoziativer Föderation Nettesheim, ZEuS 2002, 507, insb. 533 ff. 1506 Vgl. Klein, Auf dem Weg zum „europäischen Staat“?, in: Holtmann/Riemer, Europa: Einheit und Vielfalt, Eine interdisziplinäre Betrachtung, S. 261, 276; dazu auch Kadelbach, in: FS Ress, S. 527, 529 f.; vorsichtiger Papier, in: FS Ress, S. 699, 701 ff.; kritisch in Bezug auf die EU unter Hinweis auf das Fehlen eines europäischen Volkes Grimm, JZ 1995, 581 ff.; zu dem Thema im Übrigen schon Koenig, NVwZ, 1996, 549 ff. 1507 Die ausdrückliche Bezeichnung vom Verfassungsvertrag geht auf den entsprechenden Vorschlag des Konventspräsidenten Giscard d’Estaing zurück, der mit der frühen Festlegung einer Diskussion über den Titel vorbeugen wollte (vgl. dazu die Rede des Konventspräsidenten anlässlich der Eröffnungstagung des Konvents am 28. Februar 2002, CONV 4/02, S. 20). Im Rahmen der neueren Bemühungen um den Vertragsentwurf wird der Terminus jedoch zunehmend vermieden. 1508 Ebenso Kadelbach, in: FS Ress, S. 527, 530. 1509 Dazu näher Grimm, Europas Verfassung, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 177, 185. 1510 Vgl. Kadelbach, a. a. O. 1511 In diesem Sinne Schwarze, EuR 2003, 537, 571 f.

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schen übrig1512, zumal der Umfang wie auch die Struktur des Verfassungsvertrages wenig von einem verfassten Grundgesetz hatte. Eine weitere Frage ist freilich, ob die Bezeichnung des Vertrages nicht zu der Assoziation verleiten musste, die EU entwickele sich mehr und mehr zu einem die eigenen Mitglieder ersetzenden Europastaat, ein Bild, dessen Realisierung nicht für jeden wünschenswert erscheinen dürfte und das auch wesentlich zum Scheitern des Verfassungsvertrags beigetragen hat. Es ist aber auch umgekehrt zweifelhaft, ob schon durch die Vermeidung des Verfassungsbegriffs im neuen Reformwerk dieses Bild gerade gerückt ist. bb) Verschmelzung der EU und EG zu einer „Union“ Unschädlich erscheint es, die Neugründung der „Union“ unter Verschmelzung der EU und der EG zu einem janusköpfigen transnationalen Gemeinwesen mit Hoheitsgewalt1513 nicht mit einer Änderung der Bezeichnung der so entstehenden völkerrechtlichen Organisation eigener Art einhergehen zu lassen. Selbst wenn die fehlende begriffliche Kenntlichmachung zu kleineren Konfusionen führen kann1514, sind ernsthafte Abgrenzungsschwierigkeiten nicht zu befürchten, zumal sich die Bezeichnung „Europäische Union“ oder „EU“ in den Köpfen der Unionsbürger mittlerweile als das Identifikationsmerkmal des für sie nur schwer begreiflichen unionalen Konstrukts etabliert hat. Wann die Union supranational und wann intergouvernemental handelt, wird sich dem Einzelnen durch die einheitliche Bezeichnung regelmäßig verborgen bleiben. Verständlicher wird ihm das Gesamtgebilde damit gewiss nicht1515. cc) Inhaltliche Schwächen In inhaltlicher Hinsicht kann zunächst die Beibehaltung und Erweiterung der Konzeption des Art. 308 EGV kritisch gesehen werden, soweit die Reform doch eigentlich eine klarere Kompetenzabgrenzung leisten und so das 1512 Vor diesem Hintergrund besonders kritisch Grimm, a. a. O., 188 ff., der eine Gleichsetzung zwischen einem demokratisch und einem rechtsstaatlich akzentuierten Verfassungsbegriff ablehnt und nur die demokratisch entstandene Verfassung für eine solche im vollen Sinne hält. Für eine vom staatlichen Vorbild losgelöste Bestimmung der demokratischen Legitimation aber bereits Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, S. 99 ff., insb. 104. 1513 Dazu Müller-Graff, integration 2004, 186, 193 f. 1514 So Obwexer, Europa Blätter 2003, 208, 210. 1515 Insofern ebenfalls kritisch Müller-Graff, a. a. O., 193; a. A. insoweit Papier, in: FS Ress, S. 699, 710 f. ferner Richter, EuZW 2007, 631, 632, der sich durch die Reform ein Ende der „Verwirrung“ verspricht.

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Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung stärken sollte1516. Angesichts der frühzeitigen Aufgabe des Vorhabens, einen präzisen Zuständigkeitskatalog aufzustellen, bringt die nunmehr angelegte Kompetenzaufteilung auch nicht die ursprünglich intendierte Klarheit mit sich. Die im Vertragsentwurf anstelle dessen vorgesehene rechtliche Trennung zwischen ausschließlichen und geteilten Zuständigkeiten dürfte zu neuen Auslegungs- und Anwendungsproblemen führen1517, so vor allem in den Fällen des Erlasses von bereichsübergreifenden Rechtsakten1518. Wie im Übrigen schon der Pilotversuch gezeigt hat, ist auch das gem. Art. 48 Abs. 2–5 EUV in spe für „ordentliche“ Vertragsänderungen eingerichtete Konventsverfahren letztlich nicht sonderlich effizient und angesichts der Gefahr, dass nur ein Mitgliedstaat, der seine Interessen in den Ergebnissen der Arbeits- oder Entscheidungsgremien nicht hinreichend gewahrt sieht, den Änderungsvertrag nicht ratifizieren könnte, weniger Erfolg versprechend als die direkte Verhandlung zwischen den mitgliedstaatlichen Regierungsträgern, zumal selbst die eigentlich hinter der Konventsmethode stehende Idee des Transparenz- und Legitimationsgewinns nicht durchgreifen kann, wenn einige wesentliche Entscheidungen im Präsidium huis clos getroffen werden. In besonders kritischem Licht ist ferner die Möglichkeit des Übergangs auf ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren zu sehen (Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV in spe). Eine solche Reformoption kann nämlich auf die partielle Kompetenz der unionseigenen Organe hinauslaufen, punktuelle Fragen zu den Zuständigkeiten und Grenzen der Unionsgewalt selbst festlegen zu dürfen, was den Vorgaben des Maastricht-Urteils des BVerfG ersichtlich widerspräche1519. Auch das in Art. 48 Abs. 7 UAbs. 3 EUV in spe enthaltene Vetorecht vermag diese Bedenken nicht auszuräumen, da eine effektive Wahrnehmung des Kontroll- und Ablehnungsrechts der nationalen Parlamente schon vor dem Hintergrund der nur sechsmonatigen Reaktionsfrist nicht immer möglich sein dürfte und dies um so mehr in Mitgliedstaaten Vgl. Papier, in: FS Ress, S. 699, 704 f. So Papier, a. a. O., 705 f.; zur mangelnden Transparenz bei der Kompetenzverteilung auch Götz, Kompetenzverteilung und Kompetenzkontrolle in der Europäischen Union, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 43, 56; ferner v. Bogdandy, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 27, der zwar ebenfalls Transparenzprobleme konstatiert (Rn. 36 ff.), zugleich aber ein Bedürfnis für substanzielle Änderungen des – vertikalen – Verbandskompetenzgefüges verneint (Rn. 38). 1518 Verwiesen sei etwa auf den Fall der Einführung eines Dosenpfandes, der rechtliche Aspekte des Kartellrechts, des Wettbewerbsrechts, des Umweltrechts und des allgemeinen Binnenmarktrechts berührt. 1519 So ausdrücklich auch Papier, in: FS Ress, S. 699, 706. 1516 1517

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

mit einem parlamentarischen Mehrkammersystem1520. An der Konzeption des Art. 48 Abs. 7 EUV weckt insofern gerade der automatische Schluss von einer nicht oder nicht rechtzeitigen Ablehnung auf die Befugnis des Europäischen Rates zum Erlass des betreffenden Europäischen Beschlusses größte Bedenken. c) Die Stellung der Charta im EU-Reformvertrag Im Ergebnis der anfänglichen, teils kontrovers geführten Diskussionen, ob und in welcher Weise die Grundrechte-Charta in den EU-Reformprozess einzubinden ist1521, sollte der Grundrechtskatalog vollständig und mit nur kleineren redaktionellen Veränderungen als Teil II Eingang in den Verfassungsvertrag finden. Vielerorts wurde dies als begrüßenswerter Schritt1522 und teils gar als die größte Leistung des Konvents gehandelt1523. Im Zuge des im Juni 2007 unter deutscher Ratspräsidentschaft veranstalteten EUGipfels wurde dieses Vorhaben währenddessen aufgrund der gegen die Verbindlichkeit der Charta vorgebrachten Einwände Großbritanniens revidiert. Anstelle dessen wurde auf dem Gipfel vereinbart, dass die Charta als selbständiger Text außerhalb der Verträge stehen bleiben und durch eine primärrechtliche Bezugnahme auf sie formelle Bindungswirkung erlangen soll (die den britischen und auch den polnischen Rechtsraum jedoch nicht erfassen wird). An dieser hält auch der Vertrag von Lissabon fest (vgl. Art. 6 Abs. 1 EUV in spe). Im Falle des Inkrafttretens qua Rechtsverweis würde die Charta zum zentralen Instrument der verbindlichen und rechtlich wie symbolisch auf höchster Normstufe stehenden Grundrechtsordnung des Rechts der EU werden1524, was für den Grundrechtsträger die Möglichkeit mit sich brächte, sich vor allen Unionsgewalt ausübenden Stellen und insbesondere vor den Gerichten direkt auf sie zu stützen, ohne die bisherige Grundrechtsquellenhermeneutik zu bemühen1525. 1520 Einen besonders langen Weg kann insbesondere der Verfahrensgang in Belgien nehmen, wo etwa die Ratifizierung des Verfassungsvertrags sieben verschiedenen Institutionen (darunter die Abgeordnetenkammer, den Senat, die Regionalparlamente und die Parlamente der Sprachgemeinschaften) durchlaufen musste. 1521 Diskutiert wurden im Wesentlichen die Voranstellung, die Einbettung respektive die protokollarische Anfügung der Charta sowie auch die Aufnahme eines bloßen Verweises auf diese in den Verfassungsvertrag (vgl. Schlussbericht der Gruppe II des Europäischen Konvents vom 22. Oktober 2002, CONV 354/02, S. 3). 1522 So etwa Schwarze, EuR 2003, 535, 560. 1523 Vgl. etwa Meyer/Hölscheidt, EuZW 2003, 613, 618. 1524 Dazu bereits ausführlich unter III. 1525 Vgl. Schwarze, a. a. O.

A. Die Charta der Grundrechte

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2. Alternative Behandlung der Charta im Falle des Scheiterns der Reformvorhaben Sollte sich die nach wie vor latente Gefahr eines negativen Ausgangs der Ratifikation des Vertrages von Lissabon1526 zu einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit verdichten1527, besteht grundsätzlich weiterhin die Option, die Charta wieder aus dem Reformprozess auszugliedern und gesondert einer formalen Rechtsverbindlichkeit zuzuführen. Dass der Grundrechtskatalog für eine erfolgreiche Weiterführung des Reformprozesses nicht unabdingbar ist, sondern vielmehr auch Ansatzpunkt mitgliedstaatlicher Bedenken sein und somit die Reformbemühungen gar lähmen kann, hat das Schicksal des Verfassungsvertrags gezeigt. Andererseits dürfte gerade das Interesse der überwiegenden Zahl der Mitgliedstaaten am Eintritt ihrer Rechtsverbindlichkeit erheblich zu deren Kompromissbereitschaft bei weniger einhelligen Punkten der Reform beigetragen haben. Schließlich war ihre Einbindung in den Reformprozess eines der zentralen Anliegen der Vertragsinitiatoren und ihr Schicksal also mit jenem der weiteren Reformbestrebungen aufs Engste verwoben. Ein Reformvertrag, der die Charta gänzlich außer Acht ließe, wäre daher von Anfang an mit einem Makel behaftet, steht doch die anzustrebende Chartaverbindlichkeit ganz im Zeichen des bereits in Art. 1 Abs. 2 EUV zum Ausdruck kommenden und stetig wachsenden Bewusstseins der Mitgliedstaaten für die Notwendigkeit zunehmender Bürgernähe der Union als ein sich dem Einzelnen noch immer weitgehend anonym und gesichtslos präsentierendes Hoheitsmonstrum1528. Da das Schicksal der Charta aber keiner allzu engen Verzahnung mit dem weitergehenden Reformprozess unterliegt, sollte sie im Falle weiterer Stagnationen vorweg in Kraft treten können, um als Bestandteil des euro1526 Verwiesen sei nur auf die ausstehende Ratifizierung des Vertrags in Irland durch Referendum sowie die nötigen, derzeit noch ausstehenden Änderungen der begleitgesetzlichen Ausgestaltung der parlamentarischen Beteiligungsrechte infolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2009 (BVerfG, 2 BVE 2/08, 2 BvR 1010/08 u. a., NJW 2009, 2267), die ggf. ihrerseits Gegenstand einer bundesverfassungsgerichtlichen Überprüfung werden können. 1527 Probleme im Rahmen primärrechtlicher Reformvorhaben sind auch schon früher aufgetreten. So drohten auch die Verträge von Maastricht und Nizza zwischenzeitlich aufgrund der ablehnenden Referenden 1992 in Dänemark und 2001 in Irland zu scheitern, doch konnten sie nach einer erfolgreichen Wiederholung der in diesen Ländern obligatorischen Volksentscheide letztlich doch – etwas verspätet und im Wesentlichen unverändert – in Kraft treten. 1528 Zu diesem Begriff in Bezug auf die Europäische Union Griller, Die Europäische Union. Ein staatsrechtliches Monstrum?, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 201, 264 f. – in Anlehnung an die Überlegungen von Samuel von Pufendorf, Die Verfassung des deutschen Reiches, zitiert nach Denzen, 1994, S. 199 f.

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päischen Verfassungsrechts de lege lata alsbald die ihr gebührende Stellung im Rechtssystem der EU einzunehmen. Um dies zu erreichen, erscheint es etwa möglich und ausreichend, nach dem Vorbild des Art. 6 Abs. 1 EUV in der Fassung nach dem Vertrag von Lisabon einen ausdrücklichen Hinweis auf den Grundrechtskatalog in den geltenden Art. 6 EUV aufzunehmen1529. Vor dem Hintergrund der kritischen Haltung einzelner Mitgliedstaaten gegenüber einer rechtsverbindlichen Charta wäre jedoch auch ein solches Unterfangen nicht einfach durchzusetzen.

B. Beitritt der EU zur EMRK In einem weiteren Ausblick auf die künftige unionale Grundrechtsentwicklung gerät auch die Möglichkeit eines Beitritts der EU zur EMRK in den Fokus der Überlegungen. Vor einer Abwägung der Vor- und Nachteile einer solchen Einbindung der Union in den konventionsrechtlichen Kontrollmechanismus steht zunächst die dringliche Frage im Raum, welche formalen Hürden hierfür zu nehmen sind bzw. welche Punkte noch einer Klärung bedürfen, um den Weg dorthin zu ebnen.

I. Formale Probleme und ausgewählte offene Fragen In Bezug auf den ersten Fragenkomplex waren in jüngerer Zeit bereits einige erhebliche Veränderungsansätze zu beobachten. 1. Beitrittsfähigkeit der EU Darf die EU/EG nach den Vorgaben des Gerichtshofs in Luxemburg nur auf einer primärrechtlichen Basis de lege ferenda der Menschenrechtskonvention beitreten1530, so wurde dem im Entwurf zum Verfassungsvertrag und wird dem auch im Vertrag von Lissabon Rechnung getragen. Denn nach Art. I-9 Abs. 2 S. 1 EV/Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV in spe „tritt (die Union) der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und 1529 Dies entspräche der Situation der Französischen Verfassung von 1958, die in ihrer rechtsverbindlichen Präambel unter Hinweis auf die staatliche Bindung an die Menschenrechte die „Déclaration des droits de l’homme et du citoyen“ vom 26. August 1789 und die Verfassungspräambel von 1946 rezipiert. Im Bereich des EUV sollte der Verweis auf die Charta dabei durch Einfügung eines neuen Absatzes in Art. 6 EUV, etwa eines Abs. 2a, erfolgen, um den eigenständigen Rechtsquellencharakter der Charta deutlich zu machen. 1530 Dazu ausdrücklich EuGH, Gutachten 2/94, Slg. 1996, I-1759, Rn. 36 (Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten).

B. Beitritt der EU zur EMRK

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Grundfreiheiten bei.“ Zudem soll die EU nach der Vertragsreform selbst Völkerrechtssubjekt sein (Art. I-7 EV/Art. 46a EUV in spe). Ein etwaiger Beitritt bliebe damit nicht auf die Gemeinschaften beschränkt. A priori wären also auch im Rahmen der intergouvernementalen Politikbereiche ergangene Akte der direkten Jurisdiktion des EGMR unterworfen. Gleichviel der Wortlaut der Regelung des Art. I-9 Abs. 2 EV/Art. 6 Abs. 2 EUV in spe nicht nur obligatorisch, sondern vielmehr „selbstvollziehend“ gewählt ist, kann dies freilich nicht von dem Beitrittsprozedere nach den Regeln der Konvention befreien. Eines Hinweises bedarf auch, dass die EU mit einem Beitritt nicht zugleich die Stellung eines Mitglieds des Europarats einnähme1531. Im Übrigen liegt auf der Hand, dass die Möglichkeit eines zeitnahen EMRK-Beitritts aus unionsrechtlicher Sicht mit dem erfolgreichen Abschluss des aktuellen Reformprozesses steht und fällt. 2. Öffnung der Konvention für ein nichtstaatliches Mitglied Hisichtlich der für einen Beitritt der EU notwendig vorzunehmenden Formalakte bedarf es aus der Warte der Konvention zuvor zwingend einiger wesentlicher Modifikationen ihrer Beitrittsregeln, sieht sie in Art. 59 Abs. 1 S. 1 EMRK doch derzeit noch vor, dass allein Mitglieder des Europarates1532 und mithin nicht sämtliche juristischen Personen des Völkerrechts, sondern nur Staaten zu ihrer Unterzeichnung befugt sind1533. Dem soll Art. 17 des Zusatzprotokolls Nr. 14 zur EMRK über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention abhelfen, der die Einfügung eines neuen zweiten Absatzes in Art. 59 EMRK vorsieht, nach welchem sodann ausdrücklich auch die EU der EMRK beitreten kann1534. Aus konventionss. den Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 14. Vgl. Art. 59 EMRK. 1533 Vgl. Art. 4 S. 1 Satzung des Europarats. 1534 Das 14. Zusatzprotokoll sieht des Weiteren Maßnahmen zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des durch die wachsende Zahl der eingehenden Individualbeschwerden überlasteten EGMR vor, so insbesondere mit den Art. 6 ff. die Einführung von Einzelrichter- und Ausschussentscheidungen, mit Art. 12 die erleichterte Beschwerdezurückweisung a limine wegen Fehlens eines erheblichen Nachteils des Individualbeschwerdeführers sowie mit Art. 15 die Förderung gütlicher Einigungen. Das Protokoll geht nicht unwesentlich auf den Bericht der Evaluation Group to the Committee of Ministers on the European Court of Human Rights vom 27. September 2001 (HRLJ 2001, 308 ff.) zurück. Einige, letztlich nicht übernommene Vorschläge der Evaluation Group sahen sich dabei erheblicher Kritik in der Literatur ausgesetzt, da sie dazu geeignet waren, die Effektivität des Grundrechtsschutzes durch den EGRM zu verkürzen (ausführlicher zum Reformvorhaben und zu den kritischen Punkten etwa Engel, EuGRZ 2003, 122 ff., insb. 133; Grabenwarter, EuGRZ 2003, 174 ff.; Schokkenbroek, EuGRZ 2003, 134 ff.; Stoltenberg, EuGRZ 2003, 139 ff.). 1531 1532

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rechtlicher Sicht hängt die Realisierung des Vorhabens demzufolge ganz entscheidend vom Inkrafttreten des mit Ausnahme von Russland1535 bereits von sämtlichen Mitgliedstaaten unterzeichneten und ratifizierten 14. Zusatzprotokolls ab. 3. Probleme eines „bedingten Beitritts“ Mit Inkrafttreten des betreffenden Protokolls sowie des Vertrags von Lissabon wären somit zwar die zentralen Weichen für einen Beitritt gestellt, indes wäre hiermit nicht schon der letzte notwendige Schritt von konventionsrechtlicher wie unionaler Seite getan. Nach den Erklärungen der Konferenz zum Verfassungsvertrag sollte der Beitritt im Sinne des Art. I-9 Abs. 2 EV, der textlich unverändert in Art. 6 Abs. 2 EUV in spe übernommen wurde, nämlich unter solchen Bedingungen erfolgen, die eine Wahrung der Besonderheiten der unionalen Rechtsordnung erlauben. Wie ein solch „bedingter“ Beitritt im Einzelnen aussehen soll, ließ der Konvent ungeklärt und bedarf folglich noch vertiefter Auseinandersetzungen in den einschlägigen Kreisen. Unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Konvention eine Vorbehaltung ihrer Nichtgeltung ausweislich des Art. 57 § 1 EMRK nur in engen Grenzen zulässt, namentlich allein hinsichtlich eines mit einer Konventionsregelung unvereinbaren und bereits im Beitrittszeitpunkt geltenden Gesetzes des neuen Mitglieds sowie auch nur zu einzelnen Konventionsbestimmungen und keineswegs in Form eines allgemeinen Vorbehalts, erscheint der so intendierte Beitritt nicht ohne weiteres möglich. Die hierbei vom Konvent visierten und unstreitig bestehenden Eigenheiten der Unionsrechtsordnung lassen sich aber nur schwerlich an einem einzelnen unionalen Gesetz im Sinne des Art. 57 § 1 EMRK festmachen, vielmehr durchziehen sie – oftmals als prätorisch gewachsene allgemeine Rechtsgrundsätze – die grundlegendsten Systemstrukturen der gesamten Rechtsordnung. Ob bzw. wie ein auf ihrer Grundlage bedingter Beitritt die Vorbehaltsschranken und insbesondere jene des allgemeinen Vorbehaltsverbots nach Art. 57 § 1 S. 2 EMRK1536 und der im Interesse der Beweis- und Rechtssicherheit stehenden Beschreibungspflicht gemäß Art. 57 § 2 EMRK1537 wahren kann, erscheint daher fragwürdig. Relevant wird dies etwa im Hinblick auf die Bereiche des GASP und der PJZS, die derzeit nur 1535 Die Duma hat die Ratifizierung des 14. Zusatzprotokolls am 20. Dezember 2006 mit 138 gegen 27 Stimmen und mithin deutlich abgelehnt. 1536 Vgl. dazu etwa EGMR, Urt. v. 29. April 1988, Beschw. Nr. 10328/83, § 55 (Belilos/Schweiz). 1537 Vgl. zu Sinn und Zweck der Regelung sowie zu der Rechtsfolge der Ungültigkeit eines Art. 57 § 2 EMRK verletzenden Vorbehalts EGMR, a. a. O., § 59 (Belilos/Schweiz); EGMR, Urt. v. 22. Mai 1990, Beschw. Nr. 11034/84, § 38 (Weber/

B. Beitritt der EU zur EMRK

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sehr eingeschränkt der Grundrechtskontrolle des EuGH unterliegen und insoweit möglicherweise auch einer Kontrolle des EGMR entzogen werden sollen, um dessen Rechtsprechungskompetenz nicht über jene des EuGH hinausgehen zu lassen1538. Möchte die Union an dem vom Konvent geäußerten Willen festhalten, so wäre die Umsetzung eines konditionierten Beitritts wohl allein über eine Öffnung der Vorbehaltsklausel der Konvention möglich. Jedoch ist nur schwerlich vorstellbar, dass eine so weitgehende Konventionsreform unter den Mitgliedern konsensfähig wäre, könnten dadurch doch nicht nur Sinn und Zweck der Vorbehaltsklausel, sondern letztlich der gesamten Konvention untergraben werden. Nichts anderes gilt für eine etwaige Aufweichung der Vorbehaltsregeln allein zugunsten der EU. Mit Blick auf das von der EMRK abzusichernde gemeinsame Mindestschutzniveau erschiene die damit einhergehende uneinheitliche Reichweite der Konventionsverpflichtungen geradezu systemwidrig. 4. Weitere anstehende Änderungen im Verfahrenssystem der EMRK Selbst wenn sich aber die Union letztlich für einen Beitritt sine conditio durchringen würde, dürften die bislang auf beiden Seiten vorgesehenen Regelungen kaum für eine reibungslose Durchführung des Beitritts wie auch für einen ebensolchen Start als EMRK-Mitglied hinreichen, solange weitere wesentliche technische wie rechtliche Fragen rund um den Beitritt ungeklärt bleiben. a) Streitgenössische Bindung zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten So wird im Rahmen der Beitrittsverhandlungen zu erörtern sein, ob die EU vor dem EGMR in einem gegen sie gerichteten Verfahren auch mit einem oder mehreren ihrer Mitgliedstaaten als Streitgenossen auftreten können soll. Schließlich könnte dies den Gerichtshof im Einzelfall vor der Beantwortung formeller Zuständigkeitsfragen innerhalb des unionalen Kompetenzgefüges bewahren1539. Zur Einführung der Möglichkeit einer solchen Schweiz); zu den Anforderungen an die kurze Darstellung des Gesetzes EGMR, Urt. v. 25. August 1993, Beschw. Nr. 13308/87, § 20 (Chorherr/Österreich). 1538 Zur möglichen Inkongruenz der Prüfungskompetenzen s. sogleich unter II. 5. 1539 Zu entsprechenden Ausführungen des Richters am EGMR Fischbach s. die Kurzniederschrift der Arbeitsgruppe II über die Sitzung vom 17. September 2002 (CONV 295/02, S. 5); s. in diesem Zusammenhang ferner die Studie des Europa-

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

Kumulation der Verfahrensbeteiligten wären indes einige verfahrensrechtliche Änderungen in den konventionsrechtlichen Bestimmungen erforderlich. b) Verfahrensvertretung Fernerhin hat der Konvent mit Art. III-325 Abs. 6 lit. a) ii) EV, der unverändert in die Fassung des Art. 188n Abs. 6 lit. a) ii) AEUV eingeflossen ist, die Vorschläge der Arbeitsgruppe II zu den Vertragsschlussmodalitäten zwar großteils übernommen1540. Jedoch gilt es auf Seiten der Union nach wie vor auch die verfahrensrechtlichen Aspekte zu Art. 35 EGMR-VerfO zu klären, der das Erfordernis der Vertretung einer Vertragspartei durch einen Prozessbevollmächtigten samt Möglichkeit der Unterstützung durch Rechtsbeistände oder Berater niederlegt. Auch wenn der EGMR in diesem Zusammenhang stets von dem Erscheinen „für die Regierung“1541 spricht, richtet sich die Vertretung einer Vertragspartei nach dem jeweils eigenen Recht, so dass hierzu im unionalen Bereich vorab und nicht erst in dem Beitrittsübereinkommen dezidiertere Regelungen getroffen weren sollten. Interessanterweise befinden sich hierzu trotz der schon derzeit primärrechtlich unklaren Situation1542 auch in dem Reformwerk keine punktgenauen Bestimmungen. Zwar ist in diesem Kontext denkbar, auf die allgemeine Wertung des Art. 188p Abs. 2 AEUV, der die Durchführung der zweckdienlichen Zusammenarbeit mit Internationalen Organisationen dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und der Kommission auferlegt, zurückzugreifen, sachdienlicher und damit vorzugswürdig erscheinen aber genauere Vorgaben zum Modus der internen Verteilung und einer möglichen Delegierung der Prozessvertretungskompetenzen. Die betreffenden Regelungen könnten etwa in dem in Art. 188n Abs. 6 lit. a) ii) AEUV genannten Beitrittsbeschluss des Rates ergehen. rats (Arbeitsdokument Nr. 8, Rn. 57–62); die Arbeitsgruppe II des Konvents hat entsprechende Vorschläge in ihrem Schlussbericht wiederholt (CONV 354/02, S. 14). 1540 Die Arbeitsgruppe II schlug vor, dass für die Unterzeichnung und den Abschluss des Beitrittsvertrages ein einstimmiger Beschluss des Rates nebst Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich sein soll (vgl. Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 13). Die verfassungsvertragliche Umsetzung weicht hiervon sensibel ab, soweit Art. III-235 Abs. 8 EV für den betreffenden Beschluss des Rates eine qualifizierte Mehrheit ausreichen lässt. 1541 Die gängige Formulierung lautet: „There appeared before the Court: (a) for the government (. . .).“ 1542 Auf der Grundlage der Art. 211, 281, 282, 300 und 302 EGV lässt sich zwar die grundsätzliche Vertretung durch die Kommission herleiten, eine ausdrückliche und insoweit klare Bestimmung enthält das derzeitige Primärrecht jedoch nicht.

B. Beitritt der EU zur EMRK

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Beiderseitiger Klärungsbedarf besteht außerdem hinsichtlich der Position und der Ernennungsmodalitäten des an den Entscheidungen des EGMR teilnehmenden Unionsrichters sowie in Bezug auf die Frage, wer die Union in welchen Fällen im Ministerkomitee vertreten soll1543. Angesichts der – noch – fehlenden Staatsqualität der EU sind darüber hinaus von Seiten der Konvention zahlreiche terminologische Anpassungen in der EMRK und der EGMR-VerfO angezeigt, soweit deren Formulierungen an den staatlichen Charakter ihrer aktuellen Mitglieder anknüpfen1544. c) Vorlageverfahren zum EGMR Überdies ist im Hinblick auf das künftige Verhältnis zwischen den Gerichtshöfen eine Überlegung wert, ob im Interesse der Vermeidung unterschiedlicher Auslegungen der Konventionsrechte ein Vorlageverfahren zum EGMR eingeführt werden sollte, dessen sich der EuGH in solchen Fällen bedienen könnte, in denen im Rahmen der vor ihm anhängigen Verfahren EMRK-Garantien geltend gemacht werden1545. A priori erscheint eine präventive Harmonisierung der Konventionsauslegung im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens gegenüber einem System der Nachkontrolle der Urteile des EuGH durch den EGMR vorzugswürdig, da Auslegungsdivergenzen so von vornherein vermieden werden könnten. Hierdurch würde auch die aktuelle Situation der faktischen Bindung des EuGH an die Rechtsprechung des EGMR in eine formal-rechtliche Bindung überführt und zugleich mit verfahrensrechtlichen Mitteln flankiert1546. Zudem hätten beide s. auch dazu den Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 14, in welchem eine Vertretung der EU im Ministerkomitee insbesondere im Bereich der Überwachung der Durchführung der Urteile des EGMR nach Artikel 46 EMRK in Erwägung gezogen wird. 1544 Änderungsbedarf besteht in Bezug auf den Kernvertrag insbesondere bei den Art. 5 Abs. 1 lit. f), Art. 6 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1, Art. 11 Abs. 2, Art. 17, Art. 27 Abs. 2 u. 3, Art. 29 Abs. 2, Art. 33, Art. 34, Art. 35 Abs. 1, Art. 36 Abs. 1, Art. 38 Abs. 1 lit. a), Art. 41, Art. 56 Abs. 1 u. 4, Art. 57 Abs. 1, Art. 59 Abs. 3 u. 4 EMRK; in Bezug auf die Verfahrensordnung sind insbesondere betroffen: Art. 1 lit. o), Art. 19 Abs. 1, Art. 34 Abs. 2, Art. 36 Abs. 5 lit. b), Art. 37 Abs. 2, Art. 44 Abs. 1, Art. 46 lit. d), Art. 47 Abs. 1 S. 2 lit. f) und Abs. 2 lit. a) und Art. 50 EGMR-VerfO sowie auch die einschlägigen Überschriften insbesondere bei den Art. 51 ff. EGMR-VerfO; entsprechender Anpassungsbedarf besteht freilich auch im Rahmen der Zusatzprotokolle zur EMRK. s. dazu auch die Ausführungen der Arbeitsgruppe II im Arbeitsdokument WG II WD 08, S. 12 ff.; s. ferner Krüger/ Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 102. 1545 s. zur Einführung eines solchen Vorlageverfahrens ohne Beitritt der EU zur EMRK Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497, 508; vgl. dazu ferner Grabenwarter, in: FS Steinberger, S. 1129, 1148. 1546 Ähnlich Weber, DVBl. 2003, 220, 225. 1543

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

Gerichtshöfe in einem solchen System der Arbeitsteilung1547 konsistente und kompetentiell klar abgrenzbare Funktionen. Die latente Gefahr konkurrierender Rechtsprechungskompetenzen und divergierender Auslegungsergebnisse könnte so zugunsten einer fruchtbaren Kooperation vermieden werden, was im Übrigen einen Gewinn an Rechtssicherheit und -klarheit für die Grundrechtsträger mit sich brächte1548. Zugleich gilt jedoch zu bedenken, dass vor der Einführung eines solch systeminnovierenden Verfahrens weitere Fragen zu den genauen Voraussetzungen einer Vorlage zu klären wären, namentlich ob das Verfahren nur durch die Unionsgerichtsbarkeit eingeleitet werden könnte oder zugleich auch auf die mitgliedstaatlichen Gerichte ausgeweitet werden sollte, ob bzw. in welchen Fällen die Vorlage fakultativ oder obligatorisch erfolgte1549, welchen formellen Anforderungen die Anfrage genügen müsste und an welchen Spruchkörper sie zu richten wäre. Diese Fragen sind dabei mit um so größerer Sensibilität zu behandeln, soweit sie die Problematik berühren, ob und inwiefern im Rahmen einer EMRK-Mitgliedschaft den Eigenheiten der EU Rechnung getragen werden kann, obwohl eine unterschiedliche Behandlung zugleich einen Fremdkörper innerhalb des Konventionssystems darstellen würde1550. Ein weiteres Problemfeld eröffnet sich zudem mit der Frage, ob die Durchführung des Vorlageverfahrens gegebenenfalls durch die am Ausgangsverfahren Beteiligten erzwungen werden könnte oder deren Stellung ähnlich schwach wie im Bereich des Art. 234 EGV auszugestalten wäre1551. In ersterem Fall, der noch weitere rechtliche wie technische Fragen aufwerfen würde1552, könnte diese Rechtsschutzmöglichkeit mit der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK in Konkurrenz treten und in einer weiteren Überlegung auch den Zweck der Zulässigkeitsvoraussetzung der Rechtswegerschöpfung aushöhlen und letztlich gar ad absurdum führen, so vor allem wenn der Ausgangsrechtsstreit ein nationales Gerichtsverfahren wäre, in welchem es zu einem konventionsgrundrechtliche Fragen betreffenden 1547 Ebenso Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 233. 1548 So auch Pache, in: EuR 2001, 475, 493. 1549 Denkbar wäre in Anlehnung an Art. 234 Abs. 2 und 3 EGV ein fakultatives Vorlagerecht des EuG und eine Vorlagepflicht des ggf. letztentscheidenden EuGH. In Abwesenheit einer Rechtsmitteleröffnung träfe diese Pflicht bereits das EuG. 1550 Kritisch daher Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 74; Winkler, Der Beitritt der EGen zur EMRK, S. 112 f.; Ress, in: Duschanek/Griller, Grundrechte für Europa, S. 183, 207; Grabenwarter, EMRK, § 4, Rn. 16. 1551 s. zu diesem Aspekt Grabenwarter, in: FS für Steinberger, 1129, 1148. 1552 So wäre nicht zuletzt auch die Frage nach den Rüge- und Sanktionsmöglichkeiten einer pflichtwidrig unterlassenen Vorlage zu klären.

B. Beitritt der EU zur EMRK

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Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art. 234 EGV käme, die dieser sodann dem EGMR vorzulegen hätte. Problematisch erscheint darüber hinaus, ob auch solche rechtsgrundsätzlichen Unionsgrundrechte, die ihre Wurzeln kumulativ sowohl in der EMRK als auch in den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten haben, ein tauglicher Vorlagegegenstand wären. Bejahendenfalls wäre weiterhin fraglich, in welchem Umfang dem EGMR hier eine Vorabentscheidungskompetenz zukäme, darf dieser doch keineswegs außerhalb originär konventionsrechtlicher Belange tätig werden. Zudem bestünde eventuell umgekehrt auch die Möglichkeit, dass der EuGH einer Vorlage praktisch recht einfach entgehen könnte, indem er zur Herleitung der betreffenden Grundrechte vorwiegend nur auf die mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen rekurrierte. Jedenfalls müsste sich der Gegenstand des Vorlageverfahrens damit stringent im Rahmen der EMRK bewegen, ohne andere unionale Rechtsfragen einzubeziehen, um nicht die exklusive Letztentscheidungskompetenz des EuGH zu unterminieren1553. Mit der Einführung eines Vorlageverfahrens käme freilich nicht nur eine beträchtliche Mehrarbeit auf den schon heute überlasteten EGMR, sondern auch auf den Rechtsschutzsuchenden eine ganz erhebliche Verzögerung des Gesamtverfahrens zu1554, so dass zuvor dringend die entsprechend nötigen Kapazitäten herzustellen wären. Letzten Endes würde die Einführung eines zwischengeschalteten Verfahrens vor dem EGMR aber den subsidiären Charakter des EMRK-Systems im Ganzen erschüttern, soweit der Schutz der Individualrechte sodann nicht mehr in erster Linie in der Hand der Gerichte der Konventionsvertragsparteien läge1555. Vor dem Hintergrund des Umfangs und insbesondere der Qualität der offenen Aspekte und Ungereimtheiten liegt die Möglichkeit eines Konsenses über entsprechende Modifikationen des konventionsrechtlichen Verfahrenssystems eher im Bereich des Unwahrscheinlichen. Auch eine Ausweitung des Gutachtenverfahrens nach Art. 47 EMRK in materieller Hinsicht auf Dazu Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, S. 233; Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497, 508. 1554 Hierauf mit besonderem Blick auf die mögliche Anfügung eines etwaigen Vorlageverfahrens zum EGMR an ein Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV zum EuGH hinweisend Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 74; ähnlich Winkler, Der Beitritt der EGen zur EMRK, S. 111. In diesem Zusammenhang gibt Grabenwarter, in: FS für Steinberger, 1129, 1147 ff., aber zu Recht zu bedenken, dass sich die Verfahrenssituation in zeitlicher Hinsicht durch einen Beitritt der EU zur EMRK ähnlich gestalten würde. 1555 Vgl. dazu Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 100; Wildhaber, HRLJ 2002, 161, 165. 1553

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

den ersten Abschnitt der EMRK und in personaler Hinsicht auf die hohen Vertragsparteien als Antragsteller ginge die Problematik kaum adäquat an1556, da eine solche Änderung das Wesen des bislang praktisch irrelevanten1557 Verfahrens komplett in sein Gegenteil verkehren würde1558. Fernerhin ist zu berücksichtigen, dass mit Blick auf das Verhältnis zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EGMR bis dato der Funktion der EMRK auch ohne ein entsprechendes Präjudizverfahren hinreichend Genüge getan werden konnte. Geht man davon aus, dass die EU im Falle eines Beitritts keinem wesentlich anderen Verhältnis zum Konventionssystem unterstehen wird, als es die staatlichen Vertragsparteien nach der aktuellen Rechtslage tun1559, so besteht für die erörterte Modifizierung des Verfahrenssystems der EMRK ungeachtet der weitreichenden Zweifel an ihrer Praktikabilität1560 auch keine Notwendigkeit, zumal ihr, wie gesehen, schon in der Theorie nicht nur nützliche Seiten anhaften. d) Zwischenresümee In Anbetracht der grundsätzlichen Natur solcher zwar nicht aporetischen1561, aber gleichwohl komplexen und vor allem nach wie vor offenen Fragen liegt ein Beitritt der EU zur EMRK, ob bedingt oder nicht, trotz der ausdrücklichen und ernsthaften Willensbekundungen und des wahrnehmbaren Entgegenkommens beider Seiten noch immer nicht in greifbarer Nähe. Dies gilt um so mehr, soweit die Tür zum Beitritt derzeit im Hinblick auf den stockenden Reformprozess und den das 14. Zusatzprotokoll betreffenden Ratifizierungsstaus in beiden Sphären blockiert ist. Im Übrigen dürften sich auch die darüber hinaus notwendigen Konventionsreformen kaum nebenbei realisieren lassen1562. Und auch seitens der Union sind noch nicht alle rechtlichen und technischen Fragen berücksichtigt, derer Klärung es vor einem Beitritt bedarf. Vor diesem Hintergrund könnte sich die resoA. A. Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 101. s. Winkler, Der Beitritt der EGen zur EMRK, S. 108. 1558 Vgl. dazu auch Grabenwarter, in: FS für Steinberger, S. 1129, 1147, Fn. 61. 1559 So etwa auch Grabenwarter, in: FS für Steinberger, S. 1129, 1148; ders., EMRK, § 4 V Rn. 16. 1560 Vgl. dazu auch Bernhardt, in: FS Everling, S. 103, 109. 1561 s. zu einzelnen Lösungsansätzen auch die Study of technical and legal issues of a possible EC/EU accession to the European Convention on Human Rights, Report des Steering Committee for Human Rights (CDDH) vom 28. Juni 2002, DG-II (2002), S. 6. 1562 Die Schwierigkeiten eines Beitritts der EU zur EMRK von Anfang hervorhebend etwa Preuß, KJ 1998, 1, 3; ähnlich Wetter, Die Grundrechtscharta des EuGH, S. 232; a. A. aber schon Pernice, DVBl. 2000, 847, 854. 1556 1557

B. Beitritt der EU zur EMRK

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lute Formulierung in Art. 6 Abs. 2 EUV in spe doch als zu optimistisch erweisen, soweit sie den Eindruck vermittelt, mit einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon stehe ein Beitritt der EU zur EMRK unmittelbar bevor und sei gleichsam in trockenen Tüchern.

II. Überlegungen zum Für und Wider eines Beitritts der EU zur EMRK Mutatis mutandis stünde nicht zu befürchten, dass sich eine rechtsverbindliche Charta und ein Beitritt zur EMRK in die eine oder in die andere Richtung ausschließen würden1563. Die beschriebene Situation trägt darüber hinaus die Prognose, dass sich ein Beitritt zur Konvention dem etwaigen Inkrafttreten der Charta der Grundrechte zeitlich wohl nachordnen wird1564. Weiterer Reflexionen bedarf jedoch, welcher Nutzen oder welche Probleme mit einer Anbindung der EU an den grundrechtlichen Kontrollmechanismus der Konvention neben der Bindung an das eigene Grundrechtsregime einhergehen. 1. Gefahr einer heteronomen Steuerung des systemeigenen Grundrechtsregimes Hinsichtlich des Nutzens eines Beitritts ist bereits die Frage angebracht, ob ein solcher Schritt vor dem Hintergrund der Existenz eines systemspezifischen, auf Art. 6 Abs. 2 EUV (bzw. Art. I-9 Abs. 3 EV/Art. 6 Abs. 3 EUV in spe) und einer künftig wohl verbindlichen Charta basierenden Unionsgrundrechtssystems überhaupt sinnvoll und geboten ist1565. Soweit und solange das systeminterne Schutzniveau sich als ausreichend und angemessen erweist, muss eine Erhöhung der Anzahl möglicher Grundrechtsbindungen und -kontrollinstanzen nämlich nicht zwingend zugleich ein Mehr an Grundrechtsschutzqualität bedeuten, sondern kann vielmehr auch umgekehrt zu einem Weniger an Rechtsklarheit für den Einzelnen führen. Möglicher1563 In diesem Sinne auch Tettinger, NJW 2001, 1010, 1012; Pernice, DVBl. 2000, 847, 854; de Witte, MJ 2001, 81, 83. 1564 Weniger gewiss erwiese sich die Lage jedoch, wenn nach einem endgültigen Scheitern des Verfassungsvertrages in Abwesenheit der Rechtsfähigkeit der EU (mangels Änderung des EUV) die vielfach diskutierte Idee eines Beitritts der Gemeinschaft(en) zur EMRK wieder aufgenommen würde, deren Realisierung indes mit Blick auf die derzeitige Position des EuGH ebenfalls primärrechtliche Änderungen erforderlich werden ließe. 1565 s. in diesem Kontext auch schon Schwarze, ZfV 1993, 1, 9, der einen formellen Beitritt der EU zur EMRK bereits aufgrund des früheren Art. F Abs. 2 EUV für hinfällig hielt.

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weise würde sich eine Bindung der EU an ein zusätzliches externes Grundrechtssystem, das originär nur für staatliche Mitglieder ausgelegt und dem folglich eine Öffnung für Internationale Organisationen fremd ist, gar als Störfaktor für die unionsinterne Grundrechtsordnung erweisen, deren künftige Handhabung sodann eventuell einer heteronomen Steuerung unterläge1566. Bedenkt man, dass das Grundrechtsregime de lege lata auf der primärrechtlichen Ebene verortet ist1567, könnte der Nutzen eines Beitritts zudem im Hinblick auf den mit ihm einhergehenden rechtlichen Rang der EMRK zwischen dem Primär- und dem Sekundärrecht1568 in Zweifel gezogen werden. 2. Eigenständigkeit der Rechtsordnung und Verbesserung des individuellen Grundrechtsschutzes Indes erscheint auf der anderen Seite die Feststellung nötig, dass ein Beitritt der EU zur EMRK weder die Eigenständigkeit der unionalen Rechtsordnung antasten soll1569, noch eine Änderung der Kompetenzstruktur der EU im Allgemeinen oder im speziellen grundrechtlichen Bereich mit sich bringen darf1570. Auch Art. 53 GrCh1571 ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, stellt er doch ausdrücklich klar, dass die Charta weitere Grundrechtsverpflichtungen der Union wie auch ihrer Mitgliedstaaten nationaler, internationaler oder unionaler Herkunft unangetastet lassen möchte1572. Demnach kann ein Beitritt der EU zur Konvention die ernst zu nehmende Chance beinhalten, parallele Grundrechtsstandards in Europa zu vermeiden und den Rechtsschutz des Einzelnen durch eine einheitliche Kontrollinstitution spürbar zu verbessern1573. Für den Beitritt spricht im Übrigen nicht nur 1566 Zu dieser Befürchtung etwa Rengeling, Grundrechtsschutz, S. 124; Magiera, DÖV 2000, 1017, 1019. 1567 s. hierzu insbesondere EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 77 ff. (Schmidberger); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 ff. (Omega); EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 ff. (Karner); ebenso BVerfGE 73, 339, 383 f. (Solange II); dies ist auch die h. M. in der Literatur, vgl. Beutler, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. F EUV, Rn. 73; Giegerich, ZaöRV 1990, 836, 850 f.; Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 11; a. A. etwa Simon, in: Constantinesco/Kovar/Simon, TUE, Art. F EUV, Rn. 8. 1568 Vgl. Art. 300 Abs. 7 EGV; hierauf ebenfalls hinweisend Busse, NJW 2000, 1074, 1078; Weber, DVBl. 2003, 220, 226. 1569 Insoweit kritisch Baumgartner, ZfV 1996, 319, 330; Toth, CMLR 1997, 491, 503. Wie hier indes etwa Pernice, ColJEL 2004, 5, 11 ff. 1570 Vgl. Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 12 f.; dazu auch Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 203; Kokott/Rüth, CMLR 2003, 1315, 1330. 1571 Art. II-113 EV. 1572 Ähnlich Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 95.

B. Beitritt der EU zur EMRK

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das damit zum Ausdruck kommende Bekenntnis der Union zu einem mit der Konvention kohärenten Grundrechtssystem1574. In Anbetracht der weitreichenden Übertragungen hoheitlicher Kompetenzen der Mitgliedstaaten auf die EU, die ihrerseits einen Neubeitritt zumindest faktisch von der Konventionsmitgliedschaft des interessierten Kandidaten abhängig macht1575, ist dieser Schritt auch eine Frage der Glaubwürdigkeit der unionalen Hoheitsgewalt1576. Zudem erscheint die Möglichkeit des Einzelnen, Maßnahmen aus dem unionalen Bereich wie einen Akt des eigenen Staats als ultima ratio vor dem EGMR auf seine grundrechtliche Konformität überprüfen zu lassen, besonders geeignet, das Vertrauen der Unionsbürger in einen rechtsstaatlichen Grundsätzen genügenden Ablauf der europäischen Entscheidungsprozesse zu erhöhen. Es ist auch nicht zu besorgen, dass die Mitgliedstaaten durch die eigene Konventionsmitgliedschaft und jene der EU letztlich einer doppelten Bindung an die EMRK unterliegen könnten, die möglicherweise den individuellen, aufgrund jeweils erklärter Konventionsvorbehalte und unterlassener Protokollratifizierungen variierenden Bindungsumfang untergraben würde. Denn insoweit verbliebe es bei der schon nach aktueller Lage differenzierten Behandlung von rein nationalen Sachverhalten einerseits und solchen mit Unionsrechtsbezug andererseits1577, mag die trennscharfe Abgrenzung zwischen beiden Rechtssphären bisweilen auch schwer fallen1578. 3. Erstrebung paneuropäischer Grundrechtskohärenz vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung des EGMR Ein zentraler Vorteil des Beitritts der EU zur EMRK läge ferner in der bereits angeklungenen Konsolidierung des Grundrechtsschutzes in Europa und damit zusammenhängend nicht zuletzt in der Harmonisierung des Verhältnisses zwischen dem EuGH und dem EGMR. Die derzeitige, auf der Verzahnung und Überschneidung unterschiedlicher nationaler und internatio1573 Dazu etwa Calliess, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 19, Rn. 32; Stein, in: FS Steinberger, S. 1425, 1435 f.; Weiler, Harvard Jean Monnet Working Paper 2/96, S. 22. 1574 s. dazu den Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 11. 1575 Aus der in Art. 49 EUV (Art. I-58 Abs. 1 EV) kodifizierten Verpflichtung jedes Beitrittsstaats, die in Art. 6 Abs. 1 EUV (Art. I-2 EV) genannten Grundsätze und Werte zu achten, ist de facto die Anforderung geworden, Vertragsstaat der EMRK zu sein. 1576 So auch der Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 12. 1577 Vgl. Weber, DVBl. 2003, 220, 227; ebenso die Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 15. 1578 So auch Weber, a. a. O.

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naler Verpflichtungsebenen beruhende Situation lässt sich zwar als Zustand der indirekten Einflechtung unionaler Hoheitsmaßnahmen in das Kontrollsystem der EMRK beschreiben, im Einzelnen charakterisiert sie sich aber weder durch hinreichende Transparenz noch durch einen veritablen Rechtsschutzgewinn. Denn auch wenn der Gerichtshof in Straßburg auf dem Weg war, aus der Sphäre des Unionsrechts stammende Akte über den Umweg der fortwährenden Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten gegenüber der EMRK an den Konventionsrechten messen zu wollen1579, hat er den entscheidenden Schritt hin zu einer direkten materiellen Prüfung des Unionsrechts bislang nicht gewagt, wie die Entscheidungen in der Rechtssache DSR Senator Lines1580, in welcher die Zulässigkeit der Beschwerde aus anderen Gründen abgelehnt wurde, und in der Rechtssache Emesa Sugar NV1581, in welcher die Frage der Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten nochmals ausdrücklich offen gelassen wurde, zeigen. Im Gegenteil hat der EGMR seine Kontrollbereitschaft jüngst ganz in der Tradition der Solange II-Entscheidung des BVerfG1582 für den gesamten gemeinschaftsrechtlichen Bereich wieder zurückgenommen, indem er in der Rechtssache Bosphorus unter Hinweisung auf die Existenz zahlreicher teils namentlich angeführter Entscheidungen des EuGH, in welchen dieser seinerseits auf die Konvention und die zugehörige Rechtsprechung zurückgegriffen hatte, und nach Darstellung der im Unionsrecht zur Verfügung stehenden Kontrollmechanismen pauschal festgestellt hat, dass der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz derzeit als gleichwertig zu dem durch die Konvention vermittelten Schutz erachtet werden könne und damit eine widerlegbare Vermutung für die Konventionsgemäßheit der EG-Rechtsakte streite, die nur ausnahmsweise über den Nachweis eines offenkundigen Schutzdefizits seriös angezweifelt werden könne1583. Der hiermit einhergehende, für die Erschütterung jener Präsumtion nötige Substantiierungsaufwand kann sich in der Praxis schnell als eine unüberwindbare Rechtsschutzhürde entpuppen. Solange auf der aktuellen Basis anzunehmen ist, dass sich ein seine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtungen umsetzender Mitgliedstaat grundsätzlich innerhalb der Anforderungen der Konvention bewegt und keine Verurteilung durch den EGMR zu Grundlegend EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 24833/94, insb. § 32 (Denise Matthews/Vereinigtes Königreich). 1580 EGMR, Entsch. v. 10. März 2004 (Große Kammer), Beschw. Nr. 56672/00 (DSR Senator Lines/EU-Mitgliedstaaten). 1581 EGMR, Entsch. v. 13. Januar 2005, Beschw. Nr. 62023/00 D. The Courts assessment (Emesa Sugar NV/Niederlande). 1582 BVerfGE 73, 339 ff. (Solange II); bestätigt in BVerfGE 89, 155, 174 f. (Maastricht) sowie ausdrücklich in BVerfGE 102, 147, 162 f. (Bananenmarktordnung). 1583 Vgl. EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschw. Nr. 45036/98 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 1579

B. Beitritt der EU zur EMRK

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fürchten hat, wird Letzterer derzeit nicht in besonderem Maß zur paneuropäischen Grundrechtskohärenz beitragen können. Ohne einen Beitritt der EU zur EMRK würde die unionale Rechtsordnung in der Folge einer Verfestigung dieser neuen Linie des Gerichtshofs in Straßburg also auch weiterhin nicht ihres – zweifelhaften – Rufes verlustig gehen dürfen, in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichteten Europa das einzige „Inselchen“ zu sein, das der externen Grundrechtskontrolle des EGMR entzogen ist1584. Mit einem Beitritt der Union zur EMRK hingegen würde an die Stelle dieser derzeit für den Rechtsschutzsuchenden kaum wägbaren und neuerdings besonders wenig Erfolg versprechenden Situation die Möglichkeit treten, gemeinschaftsrechtliche Maßnahmen nach Erschöpfung des systeminternen Rechtswegs vor dem EGMR als einheitlicher Schutzinstitution anzugehen1585. Weitere greifbare Vorteile lägen sowohl in der erheblich verbesserten Verteidigungsmöglichkeit der Union durch ihre sodann unmittelbare Vertretung in einem ihre Akte betreffenden Beschwerdeverfahren1586 als auch in der Teilnahme eines originär aus ihrer Sphäre stammenden Richters am Spruchkörper, der den im Straßburger Gerichtshof omnipräsenten Dialog zwischen Rechtskulturen um eine unionale Stimme bereichern würde1587. Zugleich wäre hiermit dem besonderen Kohärenzbedürfnis Genüge getan, das nach wie vor insbesondere dort besteht, wo die Mitgliedstaaten gemeinschaftsrechtlichen wie konventionsrechtlichen Verpflichtungen unterworfen sind und sich bei kontradiktorischen Pflichtinhalten in einer delikaten Loyalitätsfalle befinden1588, der sie kaum unbeschadet entkommen können. 4. Folgen einer Einbindung der EU in das Konventionssystem für den EuGH Dass kehrseitig nach einem Konventionsbeitritt jede Maßnahme der EG und folglich auch jedes Urteil des EuGH der nachgelagerten RechtspreVgl. zur entsprechenden Bezeichnung der EG als „îlot“ Jacqué, in: Iliopoulos, Grundrechtsschutz im europäischen Raum, S. 302, 317. 1585 s. dazu auch Walter, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 1 III 3 Rn. 28; Kokott, AöR 1996, 599, 636; Lenaerts/de Smijter, MJ 2001, 90, 100; Lenaerts/ Desomer, ELR 2002, 377, 383. 1586 So auch Böse, ZRP 2001, 402, 404; Callewaert, EuGRZ 2003, 198, 202; Epping, JZ 2003, 821, 826; Lenaerts/de Smijter, MJ 2001, 90, 100 f.; Lenaerts, ELR 2000, 575, 600. 1587 Dahingehend auch der Schlussbericht der Arbeitsgruppe II des Konvents, CONV 354/02, S. 14. 1588 So zu Recht Klein, Europäische Verfassung im Werden, in: Bremische Bürgerschaft – Fachtagung vom 26. September 2000, S. 79, 85 mit weiterem Verweis auf Ress, ZEuS 1999, 471 ff. und Busse, NJW 2000, 1074 ff. 1584

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chungsgewalt des EGMR unterläge1589, vermag zudem keine ernsthafte Gefährdung der Souveränität des Gerichthofs in Luxemburg zu begründen. Denn hierdurch würde sich eine Hierarchisierung unter den beiden Gerichtshöfen nicht einstellen1590. Zu bedenken gilt insoweit, dass zwischen den jeweiligen Kompetenzen der beiden Gerichtshöfe ganz wesentliche funktionale und kompetentielle Unterschiede bestehen, die durch einen Beitritt nicht berührt würden. Dies gilt sowohl hinsichtlich der einzelnen Rechtsmaterien, über deren Achtung die beiden Gerichthöfe jeweils zu wachen haben, als auch im Hinblick auf die gemäß ihrer jeweiligen Funktionen besonders ausgestalteten Entscheidungsarten. Die prozessrechtlichen Unterschiede manifestieren sich im Besonderen in den systemspezifischen Ausprägungen der Rechts- und Rechtsbindungswirkungen der jeweiligen Gerichtsentscheidungen. Während nämlich der EuGH Rechtsakte gerade auch im Falle ihrer Grundrechtswidrigkeit kassieren, zur Leistung von Schadensersatz verurteilen oder die notwendigen Auslegungsrichtlinien im Unionsrecht vorgeben kann und im Rahmen seines Auftrags nach Art. 220 EGV auch muss, darf der EGMR auf der Grundlage der ihm verliehenen Befugnisse zunächst allein das Vorliegen einer Konventionsverletzung feststellen und im Übrigen nur unter den Voraussetzungen des Art. 41 EMRK eine Entschädigung zusprechen1591. Zwar tritt neben die formelle Rechtskraft der Entscheidungen des EGMR auch eine gewisse materielle, diese erschöpft sich aber formaliter auf eine Wirkung inter partes1592, während den Judikaten des EuGH nicht selten auch eine echte allgemeine Bindungswirkung zukommt1593. Neben der fehlenden kassatorischen Wirkung der Entscheidungen des EGMR1594 durchbrechen diese – insoweit in Parallelität zum EuGH – auch nicht die Rechtskraft einer vertragsstaatlichen Gerichtsentscheidung1595. Soweit beide Gerichtshöfe grundrechtlich sensible Fragen auf der Basis der EMRK zu Vgl. dazu etwa Ress, ZEuS 1999, 471, 474; Toth, CMLR 1997, 491, 503. Vgl. Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 104; Hilf, in: FS Bernhardt, S. 1193, 1209. 1591 Besonders ausführlich zur Bindungswirkung der Entscheidungen des EGMR Polakiewicz, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des EGMR, 1993; vgl. zu dem Thema auch Grabenwarter, EMRK, § 16. 1592 Zur begrenzten materiellen Rechtskraft Cremer, Entscheidung und Entscheidungswirkung, in: Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar, Rn. 56 f. m. w. N.; zur Präzedenzwirkung der Leitentscheidungen des EGMR erga omnes Papier, EuGRZ 2006, 1 f. 1593 So insbesondere im Bereich der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV und des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV. 1594 Dazu Papier, EuGRZ 2006, 1, 2. 1595 s. insoweit zur deutschen Rechtslage BVerfGE 111, 307, 325 (EGMR-Entscheidungen) unter Bezugnahme auf BVerfG, EuGRZ 1985, 654. 1589 1590

B. Beitritt der EU zur EMRK

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lösen haben, können sich die justitiellen Kompetenzen somit zwar im Umfang der materiellen Prüfung partiell überschneiden, nicht aber in Bezug auf den Entscheidungstenor und die Bindungswirkung und mithin im Wirkungsergebnis. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls von Bedeutung, dass ein formaler Beitritt der EU zum System der EMRK nicht notwendig auch eine strikte Bindung des EuGH an die Vorgaben des EGMR zur Folge hätte. Ein Blick auf die deutsche Rechtsordnung zeigt insofern, dass die Entscheidungen des Gerichtshofs in Straßburg von den nationalen Gerichten aufgrund der konventionsrechtlichen Bindungen zwar weitestmöglich nach Maßgabe des eigenen Prozessrechts zu berücksichtigen sind, wobei in der Regel der Restitution des in seinen Rechten Verletzten gegenüber einer Entschädigung der Vorrang zukommt1596. Zugleich sind aber aus der Sicht der eigenen Rechtsordnung bei dieser Berücksichtigung der auch die Auswirkungen auf das interne System und dabei insbesondere auf einzelne, in sich equilibrierte Teile desselben ins Kalkül zu nehmen, so dass die Einbeziehung der konventionsrechtlichen Maßstäbe nicht durch eine starre, sondern mittels einer wertenden und nötigenfalls die Kasuistik des EGMR in die Rechtsordnung einpassenden Methodik erfolgt1597. Diese Grundsätze scheinen einer gedanklichen Übertragung auf das unionale Rechtssystem zugänglich, da auch hier das Bedürfnis bestehen kann, die jeweiligen Folgen einer Einflussnahme der Konventionsrechtsprechung auf die systemspezifische Grundrechtsordnung zu beachten und gegebenenfalls auftretende Spannungen abzufedern, mag jene Ordnung auch noch nicht derart ausgereift und ausbalanciert sein, wie es für manch nationales Grundrechtsregime der Fall ist. Fernerhin dürfte es unstreitig sein, dass ein EMRK-Beitritt die Stellung des EuGH als oberstes unionsrechtliches Gericht ebenso wenig in Frage stellen soll und kann, wie dies für die obersten Gerichte der staatlichen Mitglieder der Fall ist. Die Kontrollfunktion des EGMR könnte vielmehr nur als besonders spezialisierter und systemextern positionierter Menschenrechtshüter im Anwendungsbereich der Konventionsrechte greifen1598, so dass sich die Situation des Gerichtshofs in Luxemburg nicht anders darstellen würde als jene seiner mitgliedstaatlichen Äquivalente1599. Die herausgearbeiteten Systemunterschiede zeigen insofern deutlich, dass die beiden BVerfGE 111, 307, 325 ff. (EGMR-Entscheidungen). Vgl. BVerfGE, a. a. O., 327 f. (EGMR-Entscheidungen). 1598 Vgl. Alber/Widmaier, EuGRZ 2001, 497, 506; Bernhardt, in FS Everling, S. 103, 109; Hoffmann-Riem, EuGRZ 2002, 473, 478; Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 100; Pernice/Kanitz, WHI 7/04, S. 11. 1599 Vgl. Schlussbericht der Arbeitsgruppe II, CONV 354/02, S. 12 f. 1596 1597

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

Judikativorgane im Grunde der Verfolgung jeweils rechtssystemspezifischer Zwecke dienen, die zwar in Teilbereichen durchaus kongruieren können, sich im Übrigen aber vor allem komplementieren1600. Ihr Verhältnis wäre in diesem Sinne gerade heterarchischer Natur. Aufgrund der Regelung des Art. 292 EGV1601 wäre übrigens auch nicht zu erwarten, dass grundrechtsrelevante Streitigkeiten auf dem Gebiet des Unionsrechts zwischen den EUMitgliedstaaten untereinander oder zwischen diesen und der Union vor dem EGMR ausgetragen würden. Durch einen Beitritt der EU würde Letzterer im unionalen Kontext folglich allein die Aufgabe haben, den Mindestschutz der Grundrechtsträger gegen individualbelastende Unionsrechtsakte zu komplettieren. 5. Kompetenzüberhang zugunsten des EGMR in den intergouvernementalen Säulen des Unionsrechts? Ein problematischer Punkt könnte indes noch in den Unionsbereichen der GASP und der besonders grundrechtssensiblen PJZS begründet liegen, soweit der EuGH hier trotz der materiellen Grundrechtsgeltung nach Art. 6 Abs. 2 EUV aktuell keine1602 oder nur begrenzte1603 Kontrollbefugnisse innehat und auch künftig jedenfalls nicht in vollwertigen Maße besitzen wird1604. Wenn der besondere Nutzen eines Beitritts der EU zur EMRK angesichts dieses bislang vorherrschenden Grundrechtsschutzvakuums vielfach und im Grunde zu Recht gerade in einer Öffnung jener Systemteile für eine 1600 So etwa auch Magiera, DÖV 2000, 1017, 1019; Pernice, ColJEL 2004, 5, 12. Ebenso im Übrigen das im September 2002 auf Vorschlag des Europäischen Parlaments eingerichtete EU-Netz unabhängiger Experten für Menschenrechte in seinem Jahresbericht über die Lage der Menschenrechte in der EU und in den Mitgliedstaaten 2005, CFR-CDF/Conclusions 2005, S. 16. 1601 Dieser wird nahezu unverändert in Art. III-375 Abs. 2 EV übernommen. 1602 s. in Bezug auf die GASP EuG, Rs. T-299/04, Slg. 2005, II-20, Rn. 5 ff. (Selmani/Rat und Kommission). 1603 Vgl. zur PJZS die Kompetenzregelungen in Art. 35 Abs. 1 und 5 bis 7 EUV. Auch hier ist ein Individualklagerecht nicht vorgesehen; vgl. EuG, T-338/02, Slg. 2004, II-1647, Rn. 36 ff. (Segi u. a./Rat); dazu wiederholt kritisch im Hinblick auf die insoweit bestehenden Rechtsschutzlücken das EU-Netz unabhängiger Experten für Menschenrechte in seinem Jahresbericht über die Lage der Menschenrechte in der Europäischen Union und in den Mitgliedstaaten 2005, CFR-CDF/Conclusions 2005, S. 281 f. s. zu diesem Themenkomplex auch Dörr/Mager, AöR 2000, 387 ff. 1604 Der Verfassungsvertragsentwurf enthält in Art. III-376 EV und Art. III-377 EV für den Bereich der GASP nach wie vor wesentliche Einschränkungen der Zuständigkeiten des EuGH in den angesprochenen Bereichen, obgleich der Grundrechtsschutz des Einzelnen durch Art. III-376 S. 2 EV und die vorherige Streichung der ursprünglich geplanten Art. III-282 EV (erste Fassung) und Art. III.283 EV (erste Fassung) teilweise erweitert wurde.

B. Beitritt der EU zur EMRK

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justitielle Grundrechtskontrolle durch den EGMR gesehen wird1605, kommt hier zunächst die Frage auf, ob die Prüfungskompetenzen des systemexternen Gerichtshofs in Straßburg überhaupt weiter reichen dürften als jene des systeminternen EuGH, soll Ersterer doch den vorrangig über die jeweils systemeigenen Gerichte zu gewährenden Grundrechtsschutz subsidiär absichern und nicht substituieren1606. Auf dem Boden seiner aktuellen Rechtsprechung stünde unterdessen in der Tat zu befürchten, dass der einmal mit den betreffenden Grundrechtsfragen konfrontierte EGMR in Abwesenheit eines lückenlosen Kontrollmechanismus zu der Ansicht gelangen könnte, dass der Grundrechtsschutz der EU in den völkerrechtlich geprägten Bereichen der EU und in Abweichung zu dem gemeinschaftsrechtlichen Bereich im engeren Sinne1607 nicht vollends dem geforderten Mindeststandard der EMRK entspricht und folglich konventionswidrig ist. Die Folge einer solchen auf die intergouvernementalen Säulen der Union bezogenen Feststellung wäre wohl die aus Art. 46 EMRK resultierende Verpflichtung der Herren der Verträge, das Primärrecht und damit in erster Linie die Art. 35, 46 EUV zu modifizieren. Eine solche Verurteilung der Union wäre aber auch nur konsequent, brächte ihr formaler Beitritt doch gerade das Bekenntnis mit sich, dass das gesamte Unionsrechtssystem den Anforderungen der EMRK Genüge tut und dies nicht nur materiell, wie es Art. 6 Abs. 2 EUV bereits zum Ausdruck bringt, sondern mit Blick auf die Art. 6 und 13 EMRK auch prozessual. Die vorherige Erklärung eines dem entgegenwirkenden Vorbehalts der EU nach Art. 57 EMRK, der die Wahrung der Kompetenzvorgaben des Art. 46 EUV bezweckte, läge offenkundig außerhalb der Grenzen des Zulässigen, so dass eine „Parallelschaltung“ der Kompetenzen des EGMR zu jener des EuGH auf diese Weise rechtlich nicht möglich wäre. Ein unbedingter Beitritt brächte derweil zu Recht die entsprechende Feststellungskompetenz des gegebenenfalls hiermit befassten EGMR mit sich, liegt dessen Aufgabe doch auch darin, Systemelemente seiner Mitglieder, die nicht dem Minimalschutz der Konvention genügen, aufzuzeigen und mit dem Ziel zu rügen, auf eine konventionskonforme Situation hinzuwirken. Nicht übersehen werden sollte überdies, dass die Unionsbereiche der GASP und der PJZS ungeachtet ihrer Einbindung in die materielle Grund1605 So etwa Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92, 102, ebenso Mahlmann, ZEuS 2000, 419, 425. 1606 So auch jüngst wieder ausdrücklich und unter Hinweis auf seine ständige Rechtsprechung EGMR, Urt. v. 4. August 2005, Beschw. Nr. 16945/02, § 16 (Agatianos/Griechenland). 1607 Vgl. zu diesem nochmals EGMR, Urt. v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland).

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

rechtsbindung unter Zugrundelegung des jüngst bekundeten Verständnisses des BVerfG1608 und in Abweichung von der nur für den gemeinschaftsrechtlichen Bereich geltenden Solange-Rechtsprechung insoweit nicht ganz aus einer gerichtlichen Kontrolle entlassen sind, als zumindest die innerstaatlichen Umsetzungsakte – insbesondere im Rahmen eines etwaigen Ermessensspielraums – am Maßstab der innerverfassungsrechtlich verbürgten Grundrechte überprüft werden können. Einer Bemerkung bedarf dabei auch, dass das BVerfG in der besagten Entscheidung den Bereich der PJZS nach wie vor und ohne weiteres als intergouvernementales Recht behandelt1609, obgleich der EuGH schon kurz zuvor die Position bezogen hat, dass die Verfasser des EU-Vertrags es für angebracht gehalten hätten, einen Rückgriff auf die innerhalb der PJZS vorgesehenen Rechtsinstrumente auch mit „analogen Wirkungen“ zum EG-Recht zuzulassen1610, und er sich damit wohl gegen einen zumindest rein intergouvernementalen Charakter der PJZS ausgesprochen hat1611. Auch ohne abschließende Klärung der Frage nach der Rechtsnatur jener unionalen Sphären lässt sich hier aber jedenfalls feststellen, dass schon jetzt eine an die grundrechtliche Kontrolle des nationalen Umsetzungsakts anknüpfende, obschon subsidiäre, letztlich auch die Bereiche der GASP und PJZS berührende Kontrollmöglichkeit zugunsten des EGMR gegeben ist. Nicht zuletzt in Anbetracht der umfassenden materiellen Grundrechtsbindung der Union nach Art. 6 Abs. 2 EUV wäre daher auch in diesen Unionssäulen eine den Grundrechtsschutz absichernde Kontrollkompetenz des EGMR gegenüber der EU zu begrüßen. Auf der Grundlage seiner Rechtsprechung von der „margin of appreciation“1612 der Ver1608 Vgl. dazu BVerfGE 113, 273, 300 ff. (Europäischer Haftbefehl); dazu ausführlicher etwa Jekewitz, GA 2005, 625 ff.; Masing, NJW 2006, 264 ff.; ungenau insoweit v. Unger, NVwZ 2005, 1266 ff., soweit er meint, das BVerfG nehme für sich in Anspruch, mit dem deutschen Umsetzungsakt auch den zu Grunde liegenden europäischen Rechtsakt hinsichtlich der Grundrechtsmäßigkeit zu überprüfen. 1609 Vgl. BVerfGE, a. a. O., 273 (Europäischer Haftbefehl). 1610 Vgl. EuGH, Rs. C-105/03, Slg. 2005, I-5285, Rn. 36 (Pupino); hierzu kritisch Hillgruber, JZ 2005, 841 ff.; i.Erg zustimmend hingegen Herrmann, EuZW 2005, 436 ff.; in Erwiderung hierauf Fetzer/Groß, EuZW 2005, 550 f.; vgl. dazu ferner Adam, EuZW 2005, 558 ff. 1611 Ebenso gegen ein rein intergouvernementales Verständnis der PJZS-Säule Wasmeier, ZEuS 2006, 23, 27 ff., der dabei auf einige supranationale Charakterelemente der PJZS hinweist, so insbesondere die – teils eingeschränkte – Einbeziehung von Kommission, Parlament und EuGH in das Entscheidungssystem. Ähnlich unter Hinweis auf das Fehlen eines für völkerrechtliche Abkommen typischen Verfassungsvorbehalts Vogel, JZ 2005, 801, 805. 1612 Vgl. schon EGMR (Plenum), Urt. v. 7. 12. 1976, Beschw. Nr. 5493/72, § 48 (Handyside); aus jüngerer Zeit EGMR, Urt. v. 18.04.206, Beschw. Nr. 44362/04, § 31. (Dickson/United Kingdom) sowie besonders ausführlich EGMR (Große Kammer), Urt. v. 12.04.2006, verb. Beschw.Nrn. 65731/01 u. 65900/01, §§ 51 f. (Stec u. a./United Kingdom).

C. Fazit zu Teil 3

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tragsparteien hätte er im Übrigen auch selbst den nötigen Spielraum zur hinreichenden Berücksichtigung der Spezifik des Unionsrechts1613. 6. Zwischenergebnis Der Blick auf die Mitgliedstaaten zeigt, dass die Existenz zweier Grundrechtssysteme der Wirksamkeit des Grundrechtsschutzes nicht abträglich ist, solange das eine den systemspezifischen und regelmäßig weiterreichenden Schutz gewährt, während sich das andere darauf konzentriert, den einheitlichen Minimalschutz abzusichern. Der Zweck der EMRK, die Achtung der gemeinsamen Wertebasis in ganz Europa zu garantieren, lässt sich auch erst durch eine aus den internen Systemen ausgegliederte gerichtliche Kontrolle erreichen. Dabei stehen die Kontrollmechanismen gerade nicht in einem konkurrierenden Parallelverhältnis, sondern bauen ausweislich der in Art. 35 § 1 EMRK angeordneten Subsidiarität der Zuständigkeit des EGMR nicht nur verfahrensrechtlich, sondern auch funktional aufeinander auf. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Vorteile einer Einbindung der EU in das Konventionssystem überwiegt folglich zu Recht das Feld der Beitrittsfürsprecher, welches mit dem EGMR1614, der Europäischen Kommission1615 und dem Europäischen Parlament1616 besonders stimmgewichtige Vertreter in ihren Reihen weiß.

C. Fazit zu Teil 3 Eine Rechtsordnung, die zwar ein System individualschützender Grundrechte parat hält, diese aber nicht sichtbar macht, sondern bis zu ihrer Findung, Ausformung und Anwendung durch den EuGH amorph lässt, leistet der Rechtsunsicherheit einen Bärendienst und büßt mit Blick auf ihre rechtsstaatlichen Verbürgungen erheblich an Glaubwürdigkeit ein. Dies gilt 1613 In diesem Sinne dürften auch die betreffenden Ausführungen des Richters am EGMR Fischbach in seiner Anhörung durch die Arbeitsgruppe II des Konvents (CONV 295/02, S. 3. zu verstehen sein. 1614 Vgl. etwa das Memorandum des EGMR zum dritten Gipfel des Europarats vom 16–17. Mai 2005, Nr. 8 ff. (abrufbar unter www.echr.coe.int/eng/Press/2005/ April/SummitCourtMemo.htm – letzter Besuch: 3. Juli 2007). 1615 s. dazu schon die Mitteilung der Kommission vom 19. Oktober 1990 über den Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK und einige ihrer Protokolle, SEC (90) 2087; ähnlich bereits das am 4. April 1979 verabschiedete Memorandum über den Beitritt der EGen zur EMRK (Bull. EG, Ergänzungsband 2/79). 1616 s. anstelle der vielen einschlägigen Erklärungen die Entschließung des Europäischen Parlaments über die Ausarbeitung einer Grundrechtecharta der Europäischen Union, Plenartagung vom 16. März 2000 (A5-0064/2000).

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Teil 3: Entwicklungen des unionalen Grundrechtsregimes

um so mehr, wenn sie den privaten Rechtssubjekten einen Katalog von Rechten und Werten nur in der Form eines Papiertigers präsentiert. Der unbefriedigende Schwebezustand der Grundrechte-Charta gehört daher alsbald abgestellt. Mit Blick auf den gelähmten Reformprozess könnte die Charta im Übrigen durchaus auch vorab eigenständiger Reife zugeführt werden. Ein daneben und möglichst simultan1617 anzustrebender Beitritt der Union zur EMRK würde zusätzliche paneuropäische Synergieeffekte auf dem Gebiet des Grundrechtsschutzes mit sich bringen und insbesondere das Verhältnis zwischen EuGH und EGMR klarifizieren. Es drohte hierbei auch keineswegs, dass der EuGH seine judikative Exklusivposition im Unionsrecht verlöre. Denn dieser ist und bleibt unter allen Umständen das oberste Gericht der unionalen Rechtsordnung. Indes sieht sich die EU dieser wünschenswerten Entwicklung noch immer in weiter Ferne, solange mit der Stagnation des Reformprozesses auf der einen und dem Ratifizierungsprozess des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK auf der anderen Seite schon die grundsätzlichsten der aus beiden Richtungen nötigen Schritte nicht gegangen werden.

Das Bedürfnis der Parallelität zwischen der Chartaverbindlichkeit und einem EMRK-Beitritt betont ausdrücklich auch der EGMR, vgl. Memorandum des EGMR zum dritten Gipfel des Europarats vom 16.–17. Mai 2005, Nr. 10 f. 1617

Teil 4

Effektivität des Systems primären Individualrechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte Sind damit die Grundrechtsquellensystematik und die künftig zu erwartenden Grundrechtsentwicklungen im Allgemeinen dargelegt sowie die Geltung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz und auch seine rechtlichen Quellen im Speziellen aufgezeigt, so sollen nunmehr die wesentlichen Schwachpunkte des Systems der Rechtsbehelfsmöglichkeiten des Einzelnen, die einem EG-Rechtsakt mit allgemeiner Wirkung entspringenden Belastungen prozessual abzuwehren oder aufzufangen, sowohl im Einzelfokus als auch in einer Gesamtschau betrachtet und mit Blick auf das hier behandelte Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz kritisch hinterleuchtet werden, um im Anschluss daran einige Betrachtungen zu möglichen Wegen der Effektivitätssteigerung anzustellen.

A. Das unionale Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte Hängt die Adäquanz des zu gewährenden Rechtsschutzes nicht allein von den einzelnen Systemkomponenten ab, sondern vielmehr gerade auch von der Vollständigkeit und Effektivität des Systems im Ganzen1618, so sind die bereits angedeuteten Rechtssystemschwächen phänomenologisch punktuell in den einzelnen in Betracht kommenden, mehr oder weniger direkten Rechtsschutzmöglichkeiten wie auch gesamtsystematisch gerade in dem Umstand der Koexistenz und Konkurrenz zweier Rechtsschutzebenen nachweisbar.

I. Allgemeine Systematik des Individualrechtsschutzes Im Wesentlichen ist das gemeinschaftsrechtliche Verfahrenssystem durch die Existenz zweier Rechtsschutzebenen geprägt, namentlich der zentralen 1618

So auch Nettesheim, JZ 2002, 928, 932.

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

und der dezentralen Ebene1619. Im Falle der Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV, einer Untätigkeitsklage nach Art. 232 EGV oder einer Schadensersatzklage nach Art. 235 i. V. m. Art. 288 Abs. 2 EGV ist der Individualrechtsschutz – bisweilen auch in Verbindung mit der Inzidentkontrolle nach Art. 241 EGV – unmittelbar und dann zumeist allein auf der zentralen Ebene der Gemeinschaftsgerichte zu erlangen. Steht dem Einzelnen der zentrale Rechtsschutzweg nicht offen, so muss er regelmäßig einen gestuft kombinierten Weg über beide Ebenen beschreiten, indem er das Verfahren zunächst vor einem mitgliedstaatlichen Gericht anstrengt und sich innerhalb desselben sodann um die Einleitung eines beim EuGH verorteten Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 234 EGV bemüht, dessen Ergebnis schließlich in dem zwischenzeitlich ausgesetzten Ausgangsverfahren Berücksichtigung findet muss. Gemein ist dabei allen möglichen Vorgehensweisen, dass das Verfahren vor dem EuGH, ob zentral oder dezentral eingeleitet, nach Art. 242 EGV keine geltungs- oder vollziehungssuspendierenden Wirkungen in Bezug auf den betreffenden Gemeinschaftsakt hat1620.

II. Bereichsspezifischer Blick auf die einzelnen Mittel prinzipalen und inzidenten, echten und unechten Individualrechtsschutzes Da die Gewährleistung effektiven Individualrechtsschutzes in der unionalen Rechtsordnung demnach arbeitsteilig sowohl den mitgliedstaatlichen als auch den europäischen Gerichten obliegt1621, stehen hier unterschiedliche Verfahrensarten im Dienste des Rechtsschutzes des Einzelnen. Soweit parallel zu diesen „echten“ Individualrechtsschutzmöglichkeiten weitere verfahrensrechtliche Behelfe in Betracht kommen, die zwar nicht dem speziellen Zweck des Schutzes individueller Rechte gewidmet sind, im Einzelfall aber gleichsam im Ergebnis dem Begehren des Individualklägers entsprechen können, werden diese hier als „unechte“ Individualrechtsschutzmöglichkeiten bezeichneten Wege der Vollständigkeit halber ebenfalls eine konzise Erwähnung finden.

Vgl. dazu auch Nowak, in: ders./Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47, 50 ff. Zur Verhinderung des Eintritts vollendeter und irreversibel schadensstiftender Tatsachen kann der Gerichtshof aber nach Art. 242 S. 2 EGV bei Bedarf sowohl die Aussetzung der betreffenden Handlung anordnen, als auch nach Art. 243 EGV die erforderlichen einstweiligen Anordnungen treffen (vgl. dazu näher Voss, RIW 1996, 417 ff.; ferner Mankowski, JZ 2005, 1144 ff.). 1621 s. Nettesheim, JZ 2002, 928, 932; ähnlich Everling, DRiZ 1993, 5. 1619 1620

A. Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte

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1. Die Nichtigkeitsklage Das für den Einzelnen mit Abstand bedeutsamste, da effizienteste Mittel zur Erlangung primären Rechtsschutzes bildet gewiss die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV, da mit ihr im Wege einer Gestaltungsklage1622 die Nichtigerklärung eines EG-Rechtsakts direkt durch die Gemeinschaftsgerichtsbarkeit begehrt und im Erfolgsfalle erreicht werden kann. Bei der Prüfung der Erfolgsaussichten einer Nichtigkeitsklage sind im Wesentlichen folgende Punkte von Bedeutung, die mit der Person des jeweiligen Klägers teils erheblich variieren und sich insbesondere in Bezug auf Individualkläger als problematisch erweisen können. a) Gerichtszuständigkeit, Parteifähigkeit und Klagegegner Während die Klagen der nach Art. 230 Abs. 2 EGV privilegiert1623 oder nach Art. 230 Abs. 3 EGV teilprivilegiert1624 klagebefugten Parteien allein dem EuGH zugewiesen sind, ist für die in Art. 230 Abs. 4 EGV geregelte Klage der nichtprivilegierten, aber gleichfalls parteifähigen natürlichen oder juristischen Personen gemäß Art. 225 Abs. 2 EGV i. V. m. Art. 3 Abs. 1 lit. C des Ratsbeschlusses 88/5911625 als Eingangsinstanz das Gericht erster Instanz zuständig. Zu den somit zur Klageerhebung ebenfalls fähigen juristischen Personen gehören nicht nur rechtsfähige Gesellschaften des Privatrechts, sondern im Interesse eines weiten und damit rechtsschutzfreundlichen Begriffsverständnisses auch Körperschaften, Verbände und anderen Interessenvereinigungen des öffentlichen oder privaten Rechts1626. In jedem Fall aber ist die Klage nach Art. 230 Abs. 1 EGV gegen den oder die Urheber des angegriffenen Rechtsakts zu erheben1627.

Vgl. Art. 231 Abs. 1 EGV. Dies sind die Mitgliedstaaten, der Rat und die Kommission. 1624 Hierzu zählen das Europäische Parlament, der Rechnungshof und die EZB. Der in diesem Kontext verwendete Begriff „teilprivilegiert“ verdeutlicht, dass die genannten Parteien zur Begründung ihrer Klagebefugnis als Klageziel die Wahrung ihrer Recht, nicht aber eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit darzulegen haben und folglich im Klagezugangssystem des Art. 230 EGV eine Zwischenstellung einnehmen. 1625 Beschl. des Rates (88/591/EGKS, EWG, Euratom) zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 24. Oktober 1988, zuletzt geändert durch Beschl. v. 26. April 1999 (ABl. EG 1988 L 319/1; Sartorius II Nr. 248). 1626 s. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 29. 1627 Dazu näher Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 23 ff. 1622 1623

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

b) Anfechtungsgegenstand und Klagebefugnis Ebenfalls nach der Klägeridentität differiert, welche unionalen Maßnahmen im Wege einer Nichtigkeitsklage angreifbar sind und inwieweit die klagende Partei diesbezüglich eine besondere Klagebefugnis1628 dartun muss. aa) Allgemeine Klagegegenstandssystematik Einen zulässigen Klagegegenstand bilden nach Art. 230 Abs. 2 EGV grundsätzlich sämtliche Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane, die dazu bestimmt sind, verbindliche Rechtswirkungen zu erzeugen1629, d.h. nicht nur alle Rechtsakte im Sinne des Art. 249 Abs. 2 bis 4 EGV, sondern auch alle Akte des Europäischen Parlaments mit rechtlicher Drittwirkung1630 sowie alle atypischen Maßnahmen der EG-Organe mit rechtlicher Bindungswirkung1631. Unverbindliche Stellungnahmen oder Empfehlungen sind hingegen in Abwesenheit einer Rechtsverbindlichkeit keine tauglichen Anfechtungsgegenstände1632. Gleiches gilt für bloße Bestätigungs- oder Durchführungshandlungen1633 und grundsätzlich auch für verwaltungsinterne Dienstanweisungen1634. 1628 Der Begriff der „Klagebefugnis“ soll hier trotz seiner Anlehnung an die Terminologie der deutschen Rechtsordnung, die vorwiegend durch die Ausformung der Individualrechtsbehelfe als Verletztenklagen geprägt ist, Verwendung finden, da ihn auch der EuGH in den deutschen Fassungen seiner Entscheidungen heranzieht [vgl. etwa EuGH, Rs. 169/84, Slg. 1986, 391, Rn. 21 (Cofaz u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-367/04 P, Slg. 2006, I-26, Rn. 46 und 60 (Deutsche Post und DHL Express)]. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass das EuG hier bisweilen auch den Begriff des „Rechtsschutzbedürfnisses“ bemüht [vgl. etwa EuG, Rs. T-178/94, Slg. 1997, II-2529, Rn. 53 f. (ATM/Kommission)]. Insoweit scheint jedoch der Gerichtshof einen qualitativen Unterschied zwischen der „Klagebefugnis“ und dem „Rechtsschutzinteresse“ zu sehen, wie die Entscheidung EuGH, Rs. C-367/04 P, Slg. 2006, I-26, Rn. 60 (Deutsche Post und DHL Express) impliziert. 1629 St. Rspr., vgl. etwa EuGH, Rs. 60/81, Slg. 1981, 2639, Rn. 9 (IBM/Kommission); EuGH, verb. Rs. C-68/94 u. C-30/95, Slg. 1998, I-1375, Rn. 62 (Frankreich u. a./Kommission), EuGH, Rs. C-123/03 P, Slg. 2004, I-11647, Rn. 44 (Kommission/Greencore Group); EuG, Rs. T-87/96, Slg. 1999, II-203, Rn. 37 (Assicurazioni Generali und Unicredito/Kommission). 1630 Ausführlicher zu den tauglichen Gegenständen der Nichtigkeitsklage Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 7 ff. u. 29 ff., s. auch Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 29 ff. 1631 Dazu Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 13. 1632 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-476/93 P, Slg. 1995, I-4125, Rn. 30 (Nutral/Kommission). 1633 Vgl. EuGH, Rs. C-46/01, Slg. 2005, I-10167, Rn. 25 (Vereinigtes Königreich/Kommission). 1634 Dazu EuGH, Rs. C-366/88, Slg. 1990, I-3571, Rn. 9 (Frankreich/Kommission).

A. Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte

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Für Individualklagen beschränkt Art. 230 Abs. 4 EGV das Feld der mit der Nichtigkeitsklage angreifbaren Maßnahmen jedoch ausdrücklich auf Entscheidungen, die an den Kläger gerichtet sind oder diesen als Nichtadressaten unmittelbar und individuell betreffen. Letzteres gilt nach dem Wortlaut der Norm auch dann, wenn die Entscheidung „als Verordnung“ ergangen ist. Mit dem Ziel, eine den Individualrechtsschutz ausschließende und somit missbräuchliche Rechtsaktsformenwahl durch die EG-Organe von vornherein zu unterbinden1635, dürften damit von den Normverfassern bei unbefangener Lektüre nur die so genannten „Scheinverordnungen“1636 visiert gewesen sein, die Regelungen mit materiellem Entscheidungscharakter formal in den Mantel einer Verordnung hüllen und in der Sache eher Sammelentscheidungen darstellen1637. Ob darüber hinaus auch echte Verordnungen oder gar ebensolche Richtlinien in zulässiger Weise durch eine direkte Individualklage angegriffen werden können, ist eine der problematischsten Fragen des gemeinschaftlichen Verfahrensrechts und bedarf sogleich einer eingehenden Betrachtung. Insoweit lässt sich bereits vorab konstatieren, dass der Gerichtshof die Zulässigkeit der Individualnichtigkeitsklage grundsätzlich weniger aus einer formalen, rein klagegegenstandsbezogenen Warte beurteilt, sondern eher mit Blick auf die beeinträchtigenden Wirkungen der Handlung1638, wenn er ohne weitere Problematisierung solche Handlungen von einer Kontrolle nach Art. 230 EGV ausnimmt, die keine verbindlichen Rechtswirkungen erzeugen, welche die Interessen des Rechtsunterworfenen beeinträchtigen können1639. bb) Allgemeine Klagezugangssystematik Aus der vorstehenden Differenzierung zwischen den tauglichen Klagegegenständen resultiert zugleich die gestufte Klagezugangssystematik der Nichtigkeitsklage, die sich durch den Umstand auszeichnet, dass den verschiedenen Klägern ganz unterschiedliche Darlegungslasten in Bezug auf ihr Verhältnis zum angegriffenen Akt auferlegt werden. Während nämlich St. Rspr., vgl. nur EuGH, verb. Rsn. 789/79 u. 790/79, Slg. 1980, 1949, Rn. 7 (Calpak und Società Emiliana Lavorazione Frutta/Kommission); EuG, Rs. T-122/96, Slg. 1997, II-1559, Rn. 50 (Federolio/Kommission). 1636 s. dazu und zu den Problemen der Abgrenzung zu echten Verordnungen Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 360 f. 1637 So etwa der Fall bei EuGH, Rs. 113/77, Slg. 1979, 1185, Rn. 11 (TNT Toyo Bearing/Rat). 1638 Insofern deutlich bereits EuGH, Rs. 60/81, Slg. 1981, 2639, Rn. 9 (IBM/ Kommission). 1639 So etwa jüngst EuGH, Rs. C-131/03 P, Slg. 2006, I-7795, Rn. 55 (Reynolds Tobacco u. a.). 1635

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

nach Art. 230 Abs. 2 EGV die Mitgliedstaaten, die Kommission und der Rat als Standschafter des öffentlichen Interesses an der Wahrung der Gesetzmäßigkeit allen hoheitlichen Handelns zur Klageerhebung privilegiert und mithin ohne Nachweis einer irgendwie gearteten Betroffenheit berechtigt sind1640, müssen das Europäische Parlament, der Rechnungshof und die Europäische Zentralbank nach Art. 230 Abs. 3 EGV hierfür zumindest ein Interesse an der Wahrung eigener organschaftlicher Rechte geltend machen1641. Zur Vermeidung von Popularklagen legt Art. 230 Abs. 4 EGV aber besonders hohe Anforderungen an die Klagebefugnis von Individualklägern, die in Abwesenheit einer eigenen Adressatenstellung eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit nachzuweisen haben1642, wobei mit der Betroffenheit zunächst nur eine Beschwer der klägerischen Partei im Sinne einer Beeinträchtigung ihrer Interessen gemeint ist1643. Das Erfordernis hat zugleich zur Folge, dass der gerichtliche Prüfungsumfang gegenständlich auf die Teile des angegriffenen Rechtsakts begrenzt ist, die tatsächlich auch gerade den Kläger belangen1644. (1) Unmittelbare Betroffenheit Unmittelbar ist die Betroffenheit, wenn die Beeinträchtigung direkt von der angegriffenen Maßnahme ausgeht1645. Durch diese Voraussetzung soll 1640 Vgl. zu Art. 37 EGKS bereits EuGH, verb. Rsn. 2/60 u. 3/60, Slg. 1961, 281, 310 (Niederrheinische Bergwerks-AG; vgl. noch zu Art. 173 EWGV EuGH, Rs. 45/86, Slg. 1987, 1493, Rn. 3 (Kommission/Rat) sowie EuGH, Rs. 131/86, Slg. 1988, 905, Rn. 6 (Vereinigtes Königreich/Rat). 1641 Der im Zuge des Vertrags von Maastricht in Art. 230 EGV eingefügte dritte Absatz positiviert die inhaltlich entsprechende Entscheidung des EuGH zur Klagebefugnis des Europäischen Parlaments [EuGH, Rs. C-70/88, Slg. 1990, I-2041, Rn. 27 (Parlament/Rat)] in das geschriebene Primärrecht. 1642 Hinweise für die damit angedeutete Unterteilung in das Erfordernis der Betroffenheit einerseits und die Merkmale der Unmittelbarkeit und der Individualität andererseits enthält bisweilen auch die Rechtsprechung, so etwa bei EuGH, Rs. C-142/00, Slg. 2003, I-3483, Rn. 69 (Kommission/Nederlandse Antillen), EuG, Rs. T-311/03, Slg. 2006, II-46, Rn. 66 (Nürburgring/Parlament), sowie schon früher bei EuGH, Rs. 62/70, Slg. 1971, 897, Rn. 4 f. (Bock/Kommission). Aufgrund des untrennbaren Zusammenhangs wird ersteres Merkmal aber nur ganz ausnahmsweise gesondert geprüft. 1643 EuGH, Rs. 60/81, Slg. 1981, 2639, Rn. 18 (IBM/Kommission). Allgemeininteressen, wie etwa das Interesse an einem hohen Grad an Wohlstand, reichen dabei freilich nicht aus [vgl. EuGH, Rs. C-142/00, Slg. 2003, I-3483, Rn. 69 (Kommission/Nederlandse Antillen)]. 1644 Dazu EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 52 f. (Kommission/ AssiDomän Kraft Products u. a.). 1645 s. insbesondere EuGH, verb. Rs. 41/70 bis 44/70, Slg. 1971, 411, Rn. 23/29 (International Fruit Company u. a./Kommission).

A. Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte

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gewährleistet werden, dass nur die von einer Handlung tatsächlich Betroffenen eine zulässige Klage erheben können1646, während nur potentiell Betroffene das Eintreten einer tatsächlichen Beschwer abwarten müssen. Das Kriterium der Unmittelbarkeit ist indes nicht streng formal zu verstehen. Für sein Vorliegen genügt es, dass die Berührung der Rechtspositionen oder der wirtschaftlichen Interessen des Einzelnen bereits in der angefochtenen Gemeinschaftshandlung angelegt ist und es dabei keines weiteren wesentlichen, insbesondere nicht unter Ausübung eines Ermessensspielraums vorzunehmenden Zwischenaktes einer nationalen Behörde oder irgendeines Dritten bedarf, die belastende Durchführung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne dass weitere Vorschriften appliziert werden1647. Dem Fehlen eines Ermessenspielraums gleichgestellt hat der EuGH die Fälle, in denen die mit der Durchführung des Akts betrauten Mitgliedstaaten nur eine rein theoretische Möglichkeit haben, den Gemeinschaftsakt nicht zu vollziehen, weil etwa ihr Wille zur Durchführung zweifelsfrei feststeht1648. Die Rechtsprechung des EuGH korrespondiert demnach mit der im Schrifttum vorwiegend vertretenen Ansicht, dass dem Erfordernis der Unmittelbarkeit ein materielles Begriffsverständnis zugrunde zu legen ist1649. (2) Individuelle Betroffenheit Die in der Praxis gegenüber der unmittelbaren Betroffenheit signifikantere Voraussetzung der individuellen Betroffenheit1650 dient – wie die Aufstellung des Erfordernisses einer eigenen Beschwer in jedweder Prozessordnung – primär dem Ausschluss von Popularklagen1651. Es verlangt nach der 1963 entwickelten und seitdem ständig und ausnahmslos angewandten Plaumann-ForDazu schon Schwarze, in: FS Schlochauer, S. 927, 936. St. Rspr., vgl. etwa EuGH, Rs. 113/77, Slg. 1979, 1185, Rn. 11 (TNT Toyo Bearing/Rat); EuGH, Rs. C-386/96, Slg. 1998, I-2309, Rn. 43 (Dreyfus/Kommission); EuGH, Rs. C-404/96 P, Slg. 1998, I-2435, Rn. 41 (Glencore Grain/Kommission); EuGH, Rs. C-C-486/01 P, Slg. 2004, I-6289, Rn. 34 (Front national/Parlament) und jüngst wieder EuGH, Rs. C-417/04 P, Slg. 2006, I-3881, Rn. 28 (Regione Siciliana/Kommission). 1648 So EuGH, Rs. C-386/96, Slg. 1998, I-2309, Rn. 44 (Dreyfus/Kommission) unter Hinweis auf EuGH, Rs. 62/70, Slg. 1971, 897, Rn. 6 ff. (Bock/Kommission), auf EuGH, Rs. 11/82, Slg, 1985, 207, Rn. 8 ff. (Piraiki-Patraiki u. a./Kommission) und auf EuGH, verb. Rsn. C-68/94 und C-30/95, Slg. 1998, I-1375, Rn. 51 (Frankreich u. a./Kommission). 1649 Vgl. schon Wegmann, Nichtigkeitsklage, S. 132; ausführlich zum Ganzen auch bereits Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 77 ff. 1650 Mayer, DVBl. 2004, 606, 608. 1651 Vgl. nur Borchardt, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 30. 1646 1647

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mel des EuGH, dass der Rechtsakt den Einzelnen, der nicht Adressat der Maßnahme ist, „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten“1652. Wurde diese Formel ursprünglich für den Fall des Vorgehens gegen eine drittgerichtete Entscheidung durch einen Individualkläger entwickelt1653, so wendet der EuGH sie seitdem auch in Bezug auf sämtliche anderen Klagegegenstände an, die nicht an den Individualkläger adressiert sind1654. cc) Der Problemkomplex zur Angreifbarkeit normativer Rechtsakte Die soeben angedeuteten Einschränkungen der Direktangriffsmöglichkeit des Einzelnen in Bezug auf den tauglichen Klagegegenstand einer Individualklage und die abverlangte Klagebefugnis werfen vor allem die Frage auf, ob ihrer unbeschadet auch eine Individualanfechtung echter normativer Rechtsakte möglich ist, und im Falle einer Affirmation, welchen Grad und welche Art der Betroffenheit der Einzelne zur Begründung seiner Klagebefugnis im Einzelfall aufweisen muss. (1) Anfechtbarkeit echter Verordnungen Die damit zunächst zu klärende Frage, ob neben Entscheidungen und den bereits erwähnten Scheinverordnungen auch echte Verordnungen im Sinne des Art. 249 Abs. 2 EGV in zulässiger Weise mittels der Individualnichtigkeitsklage angegriffen werden können, war im Schrifttum bereits Gegenstand eingehender Diskussionen1655. Ihre Beantwortung ist nicht nur anhand 1652 EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 213, 238 (Plaumann/Kommission); in st. Rspr. u. a. bestätigt in EuGH, verb. Rsn. 67/85, 68/85 u. 70/85, Slg. 1988, 219, Rn. 14 (Van der Kooy u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6719, Rn. 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); vgl. auch jüngst wieder EuGH, verb. Rsn C-182/03 und C-217/03, Slg. 2003, I-6887, Rn. 59 (Forum 187 u. a./Kommission). s. zur Plaumann-Formel auch Simon, Droit au juge, S. 1399 ff. 1653 s. zum grundlegenden Fall EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 213, 238 (Plaumann/ Kommission). 1654 Vgl. für den Fall einer Verordnung exemplarisch EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6719, Rn. 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); für den Fall einer Richtlinie EuGH, Rs. C-10/95 P, Slg. 1995, I-4149, Rn. 41 (Asocarne/Rat). 1655 Für eine Angreifbarkeit echter Verordnungen etwa Calliess, NJW 2002, 3577, 3580 ff.; Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 30 ff.; Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 33; ähnlich Bleckmann, Europarecht, Rn. 885; v. Danwitz, NJW 1993, 1108, 1111 f.; a. A. etwa: Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 49; Daig, Nichtigkeitsklage, Rn. 82; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 361.

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des Wortlauts des Art. 230 Abs. 4 EGV, sondern maßgebend an der Praxis der Rechtsprechung auszurichten, die jedoch ihrerseits von wenig Einheitlichkeit und Übersichtlichkeit geprägt ist. (a) Verordnungen als zulässiger Klagegegenstand Ein erster Blick auf die Norm vermittelt zunächst in der Tat den Eindruck, dass die Individualklagemöglichkeit allein gegen Entscheidungen im förmlichen Sinne eröffnet ist und zwar in drei Varianten, namentlich wenn der angegriffene Rechtsakt primo klägerbezogen, secundo als Scheinverordnung oder tertio an einen Dritten ergangen ist. Gleichwohl befinden sich innerhalb der einschlägigen Judikatur des EuGH zahlreiche Entscheidungen, in denen Rechtsakte mit materiellem Verordnungscharakter einen tauglichen Angriffsgegenstand gebildet haben1656. Uneinheitlich zeigt sich die Rechtsprechung hier vor allem in Bezug auf die Frage, ob der Klagegegenstand seiner Rechtsnatur nach sodann ausschließlich ein normativer Rechtsakt, d.h. ein Akt mit allgemeiner Geltung1657, ist1658 oder ihm gegebenenfalls eine Doppelnatur im Sinne eines Rechtsaktshybrids anhaftet, weil er im Falle seiner Individualanfechtbarkeit zugleich materielle Wesenszüge einer Verordnung und einer Entscheidung aufweist1659. 1656 Vgl. statt vieler EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 13 (Extramet Industrie/Rat); EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); EuGH, Rs. C-142/00, Slg. 2003, I-3483, Rn. 65 ff. (Kommission/ Nederlandse Antillen). Vgl. dazu auch den Überblick bei Cremer, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 31 ff. 1657 Wie etwa im deutschen Rechtssystem werden auch in der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsaktsdogmatik insbesondere die Begriffspaare allgemeine/individuelle und unmittelbare/mittelbare Geltung (respektive Wirkung) gegenübergestellt (vgl. dazu Biervert, in Schwarze, EUV/EGV, Art. 249 EGV, Rn. 18 ff., insb. 19, 21, 33, 35). 1658 In diese Richtung weisend etwa EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 13 (Extramet Industrie/Rat); EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); EuGH, Rs. C-96/01, Slg. 2002, I-4025, Rn. 41 (Galileo et Galileo International/Rat); mit entsprechender Tendenz EuG, Rs. T-287/04, Slg. 2005, II-3125, Rn. 37 (Lorte u. a./Rat), wenn das Gericht unter Hinweis auf frühere Rechtsprechung die allgemeine Geltung eines Rechtsakts als das maßgebliche Kriterium zur Differenzierung zwischen einer Verordnung und einer Entscheidung nennt und folglich für eine strikte rechtsnatürliche Trennung eintritt. Besonders deutlich im Bereich der internationalen Terrorismusbekämpfung auch EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 186 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission) und EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139, Rn. 81 (Ayadi/Rat) – zu diesen Entscheidungen bereits ausführlicher in Teil 2 unter B. II. 4. b) cc) (1). 1659 Dahingehend, indes wohlgemerkt insbesondere in Bezug auf Antidumpingverordnungen etwa EuGH, Rs. C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe)

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Insbesondere mit Blick auf die viel beachtete Entscheidung in der Rechtssache Codorniu1660 lässt sich insoweit eine dogmatisch klare Position des Gerichtshofs kaum hinreichend sicher bestimmen, soweit er dort erklärt hat, dass die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen eine Verordnung davon abhängt, „(. . .) dass die Vorschriften der Verordnung (. . .) in Wirklichkeit eine diese Person unmittelbar und individuell betreffende Entscheidung darstellen“1661. Hieraus zu folgern, dass die betreffenden Regelungen der Verordnung1662 einen hybriden1663 Rechtscharakter tragen1664, erscheint mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH zur Objektivität des Tatbestands einer Verordnung und ihrer daraus folgenden allgemeinen Geltung1665 sowie zur damit einhergehenden rechtsnatürlichen Konstanz eines Rechtsakts1666 inkompatibel1667, zumal eine solch janusköpfige Rechtsnatur einzelner Bestimmungen rasch in Konflikt mit den differenzierteren Aussagen des sowie EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 (Kommission/BCE); ebenso zuvor schon EuG, verb. Rsn. T-481/93 u. T-484/93, Slg. 1995, II-2941, Rn. 50 (Verenigung van Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission); EuG, Rs. T-47/95, Slg. 1997, II-481, Rn. 43 (Terres rouges Consultant SA u. a./Kommission); EuG, Rs. T-122/96, Slg. 1997, II-1559, Rn. 58 (Federolio); vgl. aus jüngerer Zeit auch EuG, Rs. T-155/02, Slg. 2002, II-1949, Rn. 40 (VVG International u. a./Kommission); analog für einen im Bereich der internationalen Terrorismusbekämpfung ergangenen EG-Beschluss mit allgemeiner Geltung EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 97 f. (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat) – zu dieser Entscheidung bereits in Teil 2 unter B. II. 4. b) cc) (2). 1660 EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (Codorniu/Rat). 1661 EuGH, a. a. O., Rn. 17 (Codorniu/Rat). 1662 Formaler Streitgegenstand war hier Art. 1 Nr. 2 lit. c) der VO (EWG) Nr. 2045/89 des Rates vom 19. Juni 1989 (ABl. L 202, S. 12). 1663 Die Theorie von der hybriden Rechtsnatur wurde von GA Warner in seinen Schlussanträgen zu EuGH, Rs. 113/77, (NTN Toyo Bearing/Rat) entwickelt, in der zugehörigen Entscheidung des EuGH jedoch nicht aufgegriffen. Die Theorie findet Befürwortung bei: Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 183 ff.; Köngeter, NJW 2002, 2216, 2217; Borchardt, in: Lenz, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 39; Braun/Kettner, DÖV 2003, 58, 59. 1664 Deutlich in Richtung einer solchen Interpretation Cooke, in: Vorträge, Reden und Berichte aus dem Europa-Institut Nr. 353, 1996, S. 28, soweit die angegriffene Verordnungsregelung in Bezug auf Codorniu „simultaneously“ eine Entscheidung darstelle. 1665 St. Rspr., vgl. erstmals EuGH, verb. Rsn. 16/62 und 17/62, Slg. 1962, 963, Rn. 3 (Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat); vgl. ferner EuGH, Rs. C-298/89, Slg. 1993, I-3605, Rn. 17 (Gibraltar/Rat); EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853, Rn. 18 f. (Codorniu/Rat); EuGH, Rs. C-41/99 P, Slg. 2001, I-4239, Rn. 27 (Sadam Zuccherifici u. a./Rat) und aus jüngerer Zeit wieder EuGH, Rs. C-167/02, Slg. 204, I-3149, Rn. 27 (Rothley u. a./Parlament). s. dazu auch Booß, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 230 EGV (Januar 2000), Rn. 56. 1666 Vgl. nochmals EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 13 (Extramet Industrie/Rat); EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat).

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Art. 249 EGV und den unterschiedlichen formellen und materiellen Rechtmäßigkeitsanforderungen der jeweils einschlägigen Ermächtigungsgrundlage geraten müsste1668. Angesichts der klaren und ausdrücklichen Feststellung der Rechtsnatur des Klagegegenstands durch den Gerichtshof1669 dürfte ebenso wenig die Annahme durchgreifen, es handele sich bei dem angegriffenen Rechtsakt in Wahrheit um eine Entscheidung, Sammelentscheidung oder Allgemeinverfügung1670 in Gestalt einer Verordnung und mithin stets um eine bloße Scheinverordnung1671. Ebenfalls zweifelhaft ist die Annahme, die im Einzelnen nach Art. 230 Abs. 4 EGV anfechtbaren Bestimmungen einer Verordnung seien ihrerseits als echte Entscheidungen, insbesondere etwa als Sammelentscheidungen zu betrachten, deren Erlass nur anlässlich und im Rahmen eines normativen Rechtsakts erfolge1672. Insoweit würde Letzterer nur einen Mantelakt bilden, in welchen sich Rechtsakte anderer Rechtsnatur eingebettet sähen1673. Der betreffende Ansatz hat zwar den Vorteil, eine klare rechtsnatürliche Abgrenzung der einzelnen Regelungen innerhalb eines Gesamtrechtsakts zu gewährleisten, jedoch lässt er sich gleichfalls nur schwerlich mit den späteren Aussagen des EuGH zur fortwährenden allgemeinen Geltung einer normativen Maßnahme trotz unmittelbarer und individueller Betroffenheit des Einzelnen in Einklang bringen1674. Denn aus der betreffenden Kumulation von Bestimmungen mit unterschiedlichem 1667 Eindeutig gegen den Hybridansatz auch EuGH, Rs. 45/81, Slg. 1129, Rn. 18 (Moksel/Kommission). 1668 In diesem Sinne auch Cremer, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 36; ders., EWS 1999, 48, 50; kritisch zur etwaigen Doppelnatur auch schon v. Danwitz, NJW 1993, 1108, 1114 f. 1669 EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853, Rn. 19 (Codorniu/Rat); noch deutlicher EuGH, Rs. C-451/98, Slg. 2001, I-8949, Rn. 43 ff. (Antillean Rice Mills/ Rat). 1670 I.S.d. Art. 35 S. 2 VwVfG (Bund). 1671 In diesem Sinne aber Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 58 ff.; ähnlich Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 49. 1672 Dahingehend indes noch EuGH, verb. Rsn. 16/62 und 17/62, Slg. 1962, 963, Rn. 2 (Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat). 1673 Vgl. insofern zum Fall einer Sammelentscheidung innerhalb einer Antidumpingverordnung EuGH, Rs. 113/77, Slg. 1979, 1185, Rn. 11 (NTN Toyo Bearing/ Rat); s. zum Fall eines Entscheidungsbündels im Beamtenrecht EuGH, verb. Rsn. 87/77, 130/77, 22/83, 9/84 und 10/84, Slg. 1985, 2523, Rn. 30 (Salerno u. a./Kommission und Rat). 1674 s. insoweit insbesondere die Entscheidung EuGH, Rs. C-345/00 P, Slg. 2001, I-3811, Rn. 44 ff. (FNAB u. a./Rat), in welcher der Gerichtshof zunächst die allgemeine Geltung des betroffenen Rechtsakts feststellt und sodann betont, dass die angefochtene Bestimmung an diesem Charakter teilnimmt und dies ungeachtet ihrer Wirkungen.

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Rechtscharakter in einem einheitlichen Rechtsaktserlass resultiert abermals die Problematik uneinheitlicher formeller und materieller Rechtmäßigkeitsvorgaben der rechtlichen Grundlagen des Rahmenakts. Nach alledem handelt es sich bei den durch den EuGH für anfechtbar erklärten Rechtsakten in der Tat um echte Verordnungsbestimmungen, deren Wirkungen im Ausnahmefall auch zu einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit der in ihren persönlichen Anwendungsbereich fallenden Personen führen können1675. (b) Anforderungen an die individuelle Betroffenheit Die Problematik der Zugänglichkeit prinzipalen Individualrechtsschutzes gegen Verordnungen liegt folglich vielmehr in den besonderen Anforderungen an die Klagebefugnis begründet1676. Soweit die visierten Regelungen einer Verordnung ihre Wirkungen gegenüber dem Einzelnen erst über weitere Durchführungsmaßnahmen entfalten, diese also nicht selbstvollziehend sind, fehlt ganz regelmäßig bereits die unmittelbare Betroffenheit des Einzelnen. Als weitaus unwägbarer hat sich in der Rechtsprechung indessen das Merkmal der individuellen Betroffenheit entpuppt. Obgleich hierzu noch immer keine vollends übersichtliche und abschließende Kasuistik existiert1677, dürften zumindest folgende Fallgruppen in der Praxis des EuGH anerkannt sein1678. (aa) Beeinträchtigung einer materiellen Rechtsposition Primo lässt der EuGH die spürbare Beeinträchtigung von schützenswerten Markt- oder Wettbewerbspositionen des Individualklägers als ausreichende Klagebefugnis gelten, sofern jene hinreichend spürbar ist1679. Die Individualisierung des Klägers kann dabei losgelöst von einer vorhergehenden TeilHierfür sprechen insbesondere die Ausführungen bei EuGH, verb. Rsn. C-239/82 und 275/82, Slg. 1984, 1005, Rn. 11 (Allied Corporation u. a./Kommission) und bei EuGH, Rs. C-451/98, Slg. 2001, I-8949, Rn. 46 (Antillean Rice Mills/ Rat). 1676 Ähnlich Arnull, CMLR 2001, 7, 23 f.; Mayer, DVBl. 2004, 606, 607. 1677 Kritisch insoweit etwa Nettesheim, JZ 2002, 928, 930; ferner Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1302. 1678 Vgl. zu diesen im Einzelnen besonders ausführlich Lindner, NVwZ 2003, 569 ff. 1679 Vgl. hierzu jüngst EuGH, Rs. C-78/03 P, Slg. 2005, I-10737, Rn. 37 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum); s. insoweit auch die Rechtsprechungsverweise bei Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 53 ff.; ferner ders., in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 27, 42. 1675

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nahme an dem Erlassverfahren allein aufgrund seiner durch die Maßnahme beeinträchtigten materiellen Rechtspositionen erfolgen1680. Nicht zuletzt zählen hierher die Fälle der Inhaberschaft besonderer, im Zeitpunkt des Rechtsaktserlasses gültiger Rechte, die ihren Träger aus dem Kreise der Allgemeinheit herausheben, wie es beispielsweise für Inhaber von Ausfuhrlizenzen1681 oder Markenrechten1682 sowie auch schon im Vorfeld für die Beantragung von Einfuhrlizenzen1683 der Fall ist. Nicht hinreichen kann aber etwa, dass die angegriffene beihilfenrechtliche Maßnahme bloß geeignet ist, die Marktverhältnisse zu beeinflussen, oder dass der Einzelne in einem irgendwie gearteten Wettbewerbsverhältnis zu dem Begünstigten steht1684. Ebenso wenig können bloß soziale oder wirtschaftliche Nachteile eine individuelle Betroffenheit stützen1685. Im Übrigen müssen für die auf eine Beeinträchtigung materieller Rechtspositionen gestützte adressatenähnliche Individualisierung stets tatsächliche Umstände vorliegen1686. (bb) Verfahrensbeteiligung Secundo kann eine individuelle Betroffenheit im Sinne der Plaumann-Formel auch dann vorliegen, wenn der Einzelne innerhalb des dem Rechtsaktserlass vorausgehenden Verfahrens eine besondere Beteiligtenstellung innehat, die es ihm erlaubt, seine rechtlichen oder tatsächlichen Interessen in individualisierender Weise geltend zu machen1687. Die somit in erster Linie 1680 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-106/98 P, Slg. 2000, I-3659, Rn. 40 (Comité d’entreprise de la Société française de production/Kommission). 1681 s. dazu EuGH, Rs. 88/76, Slg. 1977, 709, Rn. 9/12 (Exportation des Sucres/ Kommission). 1682 So bei EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853, Rn. 21 f. (Codorniu/Rat). 1683 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-354/87, Slg. 1990, I-3847, Rn. 20 ff. (Weddel/Kommission); ähnlich schon EuGH, Rs. 62/70, Slg. 1971, 897, Rn. 10 (Bock/Kommission). 1684 So EuGH, Rs. C-367/04 P, Slg. 2006, I-26, Rn. 40 (Deutsche Post und DHL Express). 1685 Vgl. EuGH, Rs. C-142/00, Slg. 2003, I-3483, Rn. 77 (Kommission/Nederlandse Antillen); EuG, Rs. T-215/00, Slg. 2001, II-181, Rn. 37 (SCEA La Conqueste/Kommission); ebenso jüngst EuG, Rs. T-170/04, Slg. 2005, II-2503, Rn. 43 (FederDoc u. a./Kommission). Selbst der Nachweis der Existenzbedrohung reicht per se nicht für die Individualisierung des Betroffenen aus [so zumindest EuG, Rs. T-311/03, Slg. 2006, II-46, Rn. 65 (Nürburgring/Parlament)]. 1686 Vgl. nur EuGH, Rs. 88/76, Slg. 1977, 709, Rn. 9/12 (Exporation des Sucres/ Kommission); aus jüngster Zeit EuGH, Rs. C-367/04 P, Slg. 2006, I-26, Rn. 41 (Deutsche Post und DHL Express). 1687 Eingehend zur Klagebefugnis wegen Beteiligung am vorangegangenen Verfahren Nehl, in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 135 ff.; vgl. auch den umfassenden Überblick über die Rechtsprechung bei Cremer, in: Calliess/Ruffert,

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verfahrensrechtlich bedingte Individualisierung der Betroffenheit ist insbesondere dann gegeben, wenn eine einschlägige Gemeinschaftsnorm dem Kläger bestimmte Verfahrensgarantien, wie etwa ein Recht auf Anhörung, einräumt1688. Vor allem im Bereich des Beihilfenrechts reicht indes nicht schon jede nur tatsächlich ausgeübte Verfahrensbeteiligung aus1689, selbst die Position als besonders bedeutender Verhandlungspartner oder als wichtige Informationsquelle und damit als erheblicher Einflussfaktor innerhalb der Entscheidungsfindung genügt nicht als solche1690. Vielmehr bedarf es insoweit neben dem bloßen Umstand der Verfahrensbeteiligung nach Maßgabe des Art. 88 Abs. 2 EGV einer Verletzung der Interessen anderer Personen, Unternehmen oder Vereinigungen, etwa der Konkurrenzunternehmen und Berufsverbände1691 oder aber in Abwesenheit dieser Eigenschaft einer spürbaren Beeinträchtigung der eigenen Marktstellung1692. Folglich ist neben dem Umfang einer etwaigen Verfahrensbeteiligung auch der Grad der Beeinträchtigung eigener Rechtspositionen von Bedeutung1693. Über die bloße Verfahrensteilnahme hinaus müssen in dem Verwaltungsverfahren oder in dessen Vorfeld also gerade eigene aushandlungsfähige Interessen oder Rechte auf dem Spiel stehen1694. Dies hat der Gerichtshof beispielsweise für EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 52; s. dazu ferner schon Sedemund/Heinemann, DB 1995, 713, 715 f. 1688 EuGH, Rs. C-342/04 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 39 f. (Schmoldt u. a.); in diesem Sinne i.Ü. schon EuGH, Rs. 191/82, Slg. 1983, 2913 (FEDIOL/Komission); ferner EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 47 f. (Kommission/Jégo-Quéré). 1689 Vgl. dazu etwa EuGH, Rs. C-10/95, Slg. 1995, I-4149, Rn. 40 (Asocarne/ Rat). 1690 Vgl. EuGH, Rs. C-78/03 P, Slg. 2005, I-10737, Rn. 56 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum). 1691 EuGH, Rs. 323/82, Slg. 1984, 3809, Rn. 16 (Intermills/Kommission); EuGH, Rs. C-367/95 P, Slg. 1998, I-1719, Rn. 41 (Kommission/Sytraval und Brink’s France). 1692 EuGH, Rs. C-78/03 P, Slg. 2005, I-10737, Rn. 37 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum); EuG, Rs. T-395/04, Slg. 2006, II-1343, Rn. 32 (Air One/Kommission) unter Hinweis auf EuGH, Rs. 169/84, Slg. 1986, 391, Rn. 22 ff. (Cofaz u. a./Kommission) sowie auf EuGH, Rs. C-409/96 P, Slg. 1997, I-7531, Rn. 45 (Sveriges Betodlares und Henrikson/Kommission); ähnlich auch jüngst wieder EuG, Rs. T-210/02, Slg. 2006, II-2789, Rn. 53 (British Aggregates/ Kommission). 1693 Dahingehend EuGH, Rs. C-106/98 P, Slg. 2000, I-3659, Rn. 41 (Comité d’entreprise de la Société française de production/Kommission). 1694 In diesem Sinne EuGH, Rs. C-78/03 P, Slg. 2005, I-10737, Rn. 57 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum) unter Hinweis auf EuGH, verb. Rsn. 67/85, 68/85 und 70/85, Slg. 1988, 219, Rn. 19 bis 25 (Van der Kooy u. a./ Kommission) sowie auf EuGH, Rs. C-313/90, Slg. 1993, I-1125, Rn. 29 f. (CIRFS u. a./Kommission).

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den Fall angenommen, wenn der Kläger gerade in seiner Eigenschaft als Verhandlungspartner betroffen ist1695. Da demzufolge neben die bloße Tatsache der vorhergehenden Teilnahme an dem Verfahren ganz regelmäßig noch eine weitere schützenswerte Position treten muss, geht es zumeist auch in der hier beschriebenen Kategorie letztlich um die Frage, ob durch den Rechtsakt materielle Rechte oder Interessen des Einzelnen beeinträchtigt werden und er gerade aufgrund dieser an dem Verfahren zu beteiligen war. (cc) Berücksichtigungspflichten Tertio kann ein Einzelner individuell betroffen sein, wenn die Kommission vor dem Erlass einer Entscheidung die durch diese zu erwartenden Negativfolgen für die bestimmbaren betroffenen Unternehmen hätte ermitteln müssen, wie etwa im Falle des Erlasses von Schutzmaßnahmen zugunsten bestimmter Produktgruppen oder Wirtschaftszweige1696. Der Kläger muss hier jedoch nicht nur die normative Verpflichtung des Urhebers der angegriffenen Maßnahme, die Konsequenzen der Handlung für die Situation eines bestimmbaren Kreises Einzelner zu berücksichtigen, und seine Zugehörigkeit zu diesem begrenzten Personenkreis, sondern fernerhin eine tatsächliche Betroffenheit eigener Rechte oder Interessen, die gerade durch die Maßnahme in ihrem Anwendungszeitraum vereitelt oder beeinträchtigt werden, nachweisen1697. Auch in dieser Fallgruppe liegt der hintergründige Anknüpfungspunkt der Klagebefugnis folglich in einer materiellen Rechtsoder Interessenposition. (dd) Gemeinschaftsgrundrechte Quarto zählen wohl auch die Grundrechte zu den Rechtspositionen, deren Betroffenheit die Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV eröffnen1698. 1695 Vgl. EuGH, Rs. C-106/98 P, Slg. 2000, I-3659, Rn. 42 (Comité d’entreprise de la Société française de production/Kommission). 1696 s. zu Maßnahmen zum Schutz von aus den Niederländischen Antillen stammende Reis EuGH, Rs. C-390/95 P, Slg. 1999, I-769, Rn. 25 (Antillean Rice Mills u. a.); zum Fall von Schutzmaßnahmen gegen die unbeschränkte Einfuhr von Baumwollgarnen von Griechenland nach Frankreich s. EuGH, Rs. 11/82, Slg, 1985, 207, Rn. 28 und 31 (Piraiki-Patraiki u. a./Kommission); zum Fall von Schutzmaßnahmen auf dem Obst- und Gemüse-Sektor s. EuGH, Rs. 152/88, Slg. 1990, I-2477, Rn. 11 (Sofrimport/Kommission). 1697 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-96/01 P, Slg. 2002, I-4025, Rn. 44 (Galileo und Galileo International/Rat). 1698 Ebenso etwa: Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EUV, Rn. 55, unter Hinweis auf die entsprechende Interpretation des Urteils Codorniu

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a) Materielle Grundrechte In erster Linie dürfte dies zunächst für die materiellen Grundrechte gelten. Soweit das EuG dies früher ausdrücklich anders beurteilt hat1699, kann dem eine Zusammenschau der Rechtsprechung des EuGH entgegen gehalten werden, in der bereits frühzeitig auch die Berührung des Rechts auf wirtschaftliche Betätigungsfreiheit, das seit ständiger Rechtsprechung zu den Gemeinschaftsgrundrechten gehört1700, als eine die Klagebefugnis tragende Rechtsbeeinträchtigung anerkannt worden ist1701. Den gleichen Schluss erlauben überdies die Ausführungen des Gerichtshof in der Rechtssache Codorniu1702, soweit er dort der Inhaberin eines von dem angegriffenen Rechtsakt betroffenen Markenzeichens die Individualklagebefugnis zugebilligt hat1703 und man diese Wertung aus dem Winkel der Entscheidung in der Rechtssache SMW Winzersekt1704 betrachtet, in welcher der EuGH das Recht an einem Markenzeichen explizit der grundrechtlich geschützten Berufsfreiheit zugeordnet hat1705. Für die Subsumtionseignung der materiellen Grundrechte unter den Zulässigkeitstatbestand des Art. 230 Abs. 4 EGV sprechen schließlich auch die in jüngerer Zeit ergangenen Entscheidungen des EuG in den Rechtssachen Yusuf1706, Kadi1707 und Ayadi1708, in denen es maßgeblich um Fragen der Grundrechtskonformität gemeinschaftsrechtlicher Akte zur Einfrierung der Finanzmittel von in Verbindung zum internationalen Terrodurch Nowak, EuZW 2000, 453, 470 ff.; ders., in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 27, 43; in diesem Sinne auch Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 93; Arnull, CMLR 1995, 7, 39; Nettesheim, JZ 2002, 928, 930; Toth, CMLR 1997, 491, 517 ff.; a. A. etwa: Götz, DVBl. 2002, 1350; Gundel, VerwArch 2001, 81, 96 f.; Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1313. 1699 s. EuG, Rs. T-13/94, Slg. 1994, II-431, Rn. 15 (Century Oils Hellas/Kommission): „Für die Beurteilung der Zulässigkeit der Klage ist es ohne Belang, daß die Klägerin geltend macht, es liege ein Verstoß gegen ihr Eigentumsrecht vor, wie es durch die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und durch Art. F des Vertrages über die Europäische Union geschützt sei.“ 1700 Vgl. nur EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 86 f. (ABNA u. a.). 1701 EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 17 (Extramet Industrie/Rat). 1702 EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (Codorniu/Rat). 1703 Vgl. EuGH, Rs. C-309/89, a. a. O., Rn. 21 f. (Codorniu/Rat). 1704 EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 (SMW Winzersekt/Rheinland-Pfalz). 1705 s. EuGH, Rs. C-306/93, a. a. O., Rn. 22 ff. (SMW Winzersekt/RheinlandPfalz). 1706 EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission). 1707 EuG, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649 (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission). 1708 EuG, verb. Rsn. T-253/02 und T-49/04, Slg. 2006, II-2139 (Ayadi/Rat).

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rismus stehenden Personen und Organisationen ging. Obgleich die Kläger in den betreffenden Akten namentlich genannt wurden und das EuG die Individualisierung daher schon hierauf hätte stützen können1709, zog es als Betroffenheitsposition doch ersichtlich die Eigentumsfreiheit der von den restriktiven Maßnahmen tangierten Kläger heran, die vor diesem Hintergrund auch ein zentraler Gegenstand der Sachprüfung war1710. Soweit etwa Gundel gegen eine solche Sichtweise einwendet, der im Fall Codorniu eingeschlagene Weg des EuGH sei nicht verallgemeinerungsfähig und das Grundrechtsargument für die Begründung einer individuellen Betroffenheit letztlich untauglich, weil damit eine Durchbrechung der Trennung von Zulässigkeit und Begründetheit dergestalt einhergehe, dass von der voraussichtlichen Begründetheit bereits auf die Zulässigkeit der Klage geschlossen werde, und zugleich die Filterfunktion des Zulässigkeitsmerkmals wie auch die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsgerichte in Gefahr geriete1711, kann dem nicht gefolgt werden. Zum einen träte nämlich eine wirkliche Verschmelzung der Prozess- und Sachprüfungsanforderungen nur dann auf, wenn es gegenständlich wenigstens im Rahmen Letzterer um eine Rechtsverletzung des Einzelnen ginge. Dies ist aber weder dort noch auf ersterer Prüfungsebene der Fall. Der Maßstab der Begründetheitsprüfung beschränkt sich grundsätzlich vielmehr auf die objektive Rechtswidrigkeit des Aktes nach Maßgabe des Art. 230 Abs. 2 EGV1712 und dies ungeachtet des Umstands, ob die in casu interessierenden Nichtigkeitsgründe auf Gemeinschaftsnormen basieren, die in erster Linie oder zumindest auch individualschützende Rechte gewähren. Die Zulässigkeit verlangt ihrerseits allein eine Betroffenheit im Sinne einer rechtlich relevanten Beeinträchtigung, ohne zugleich auch die Rechtswidrigkeit des Eingriffs und somit das Verdikt der Verletzung eines Rechts vorauszusetzen1713. Die Anerkennung der s. nur EuG, a. a. O., Rn. 186 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission) und EuG, a. a. O., Rn. 81 (Ayadi/Rat). 1710 s. EuG, a. a. O., Rn. 285 ff. (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/ Rat und Kommission); EuG, a. a. O., Rn. 234 ff. (Yassin Abdullah Kadi/Rat und Kommission); hierauf Bezug nehmend EuG, a. a. O., Rn. 116 (Ayadi/Rat); in letzterer Rechtssache ging es darüber hinaus um das materielle Grundrecht der freien Berufsausübung [s. EuG, a. a. O., Rn. 118 und 123 ff. (Ayadi/Rat). 1711 Gundel, VerwArch 2001, 81, 96 f. 1712 Vgl. dazu schon Daig, Nichtigkeitsklage, S. 118 f.; ferner Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 92. Vor diesem Hintergrund aber zweifelhaft EuG, Rs. T-96/92, Slg. 1995, II-1213, Rn. 46 ff. (CCE de la Société générale des grandes sources u. a./Kommission), soweit das Gericht allein die qualifizierte Verletzung der verfahrensmäßigen Rechte der Kläger zum Kriterium der Begründetheitsprüfung macht (insoweit ebenfalls kritisch Cremer, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 73). 1713 Vgl. dazu EuGH, Rs. 60/81, Slg. 1981, 2639, Rn. 18 (IBM/Kommission). Systematisch fragwürdig erweist sich insofern die Entscheidung EuG, Rs. T-100/94, 1709

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Grundrechte als betroffenheitsfähige Rechtspositionen im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EGV führt auch keineswegs zum Wegfall der Filterfunktion des Erfordernisses der Klagebefugnis. Der Einzelne muss schließlich nach wie vor dartun, gerade durch den Klagegegenstand unmittelbar und erheblich in seinen grundrechtlichen Positionen beeinträchtigt zu sein. Ist dies der Fall, kann auch die Grundrechtsträgerschaft des Klägers hinreichen, ihn in individualisierender Weise aus dem Kreise der Allgemeinheit herauszuheben. Zuletzt vermag demnach auch das Argument der Gerichtsüberlastung nicht durchzugreifen, zumal dieses schon kein sachliches Kriterium für die Konkretisierung der materiellen Anforderungen einer Norm an die Befugnis des Einzelnen zur Klageerhebung darstellen kann. Da es im Übrigen keines Rückgriffs auf Grundrechte bedarf, solange besondere Individualrechtspositionen durch speziellere Gemeinschaftsnormen konstituiert oder konkretisiert werden, halten grundrechtliche Rechte auch nur subsidiär für die Begründung der Klagebefugnis her. Kommt es jedoch im gegebenen Fall tatsächlich auf die Betroffenheit von einzelnen Grundrechtspositionen an, tritt auch auf dieser Grundlage und nicht nur wegen des normativen Verfahrensgegenstands neben die generelle verwaltungsprozessuale Funktion der Nichtigkeitsklage eine verfassungsprozessuale Dimension1714. Unbeschadet der Abwesenheit einer ausdrücklich geregelten EG-Grundrechtsbeschwerde sieht sich die Individualnichtigkeitsklage dabei zumindest funktional der deutschen Grundrechtsbeschwerde1715 angenähert. b) Verfahrensgrundrechte Des Weiteren könnten a priori auch die prozessualen Grundrechte als solche im Einzelfall betroffenheitsfähige Rechtspositionen im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EGV darstellen, soweit die klägerisch angefochtene Maßnahme in grundrechtlich abgesicherte Verfahrensrechte des Einzelnen eingreift. Vor dem Hintergrund der Anerkennung einer Individualklagebefugnis wegen der Verletzung von Verfahrensgarantien1716 erscheint dies insbesondere in Fällen einer Verletzung des rechtsgrundsätzlich fundierten Rechts Slg. 1998, II-3115, Rn. 67 (Michailidis u. a./Kommission), soweit das Gericht hier von der bereits seitens des EuGH festgestellten Rechtmäßigkeit der belastenden Maßnahme auf das Fehlen einer Rechtsverletzung und hierüber auf die Unzulässigkeit der Klage schließt. 1714 Dazu bereits oben in Teil 1 unter A. II. 4. d) bb) (1). 1715 Vgl. zu dieser Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, §§ 8 Nr. 13, 90 ff. BVerfGG. 1716 Vgl. nochmals EuGH, Rs. C-342/04 P, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn. 39 f. (Schmoldt u. a.); in diesem Sinne auch schon EuGH, Rs. 191/82, Slg. 1983, 2913 (FEDIOL/Komission); vgl. ferner EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 47 f. (Kommission/Jégo-Quéré).

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auf rechtliches Gehör1717 denkbar, wobei sodann für die Begründetheit der Klage nach wie vor der Nachweis einer hypothetisch-kausalen Abweichungsmöglichkeit bezüglich des Entscheidungsergebnisses bei hinzugedachter Beachtung des Rechts auf rechtliches Gehör erforderlich ist1718. Für die Begründung der individuellen Betroffenheit dürfte aber aufgrund der Geltungs-/Wirkungsreziprozität zwischen justitiellen und materiellen Grundrechten neben dem Eingriff in ein Verfahrensrecht schon zur Begründung der Klagebefugnis ganz regelmäßig auch eine kausale materielle Rechts- oder Interessenbeeinträchtigung notwendig sein1719. So kann etwa die Überschreitung einer angemessenen Verfahrensdauer oder eine anderweitige Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren, ob offenkundig oder gar willkürlich, ohne den Nachweis einer weiteren, hierauf beruhenden Betroffenheit nur schwerlich zum Erfolg der Klage verhelfen1720, zumal nach dem bisher Gesagten allein soziale oder wirtschaftliche Negativfolgen keine Betroffenheit im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EGV zu stützen vermögen1721 und der Einzelne prinzipiell kein rechtlich schützenswertes Interesse an der kompletten Beseitigung eines normativen Rechtsakts haben kann, der in der gleichen Art und Weise auch ohne den Rechtsverstoß er1717 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-48/90 u. C-66/90, Slg. 1992, I-565, Rn. 46 (Niederlande u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-269/90, Slg. 1991, I-5469, Rn. 14 (Technische Universität München). s. zum Recht auf rechtliches Gehör EuGH, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461, Rn. 9 (Hoffmann-La Roche/Kommission); EuGH, Rs. 209/78 bis 215/78 u. 218/78, Slg. 1980, 3125, Rn. 16 ff. (Van Landewyck u. a./Kommission); EuGH, verb. Rsn. 100/80 bis 103/80, Slg. 1983, 1825, Rn. 10 (Musique Diffusion Francaise/Kommission); EuGH, Rs. 49/84, Slg. 1985, 1779, Rn. 10 (Debäcker u. Plouvier); s. aus jüngerer Zeit auch EuGH, Rs. C-240/03 P, Slg. 2006, I-731, Rn. 129 (Comunità montana della Valnerina/Kommission) sowie EuGH, Rs. C-3/05, Slg. 2006, I-1579, Rn. 26 (Verdoliva). 1718 Dazu bereits EuGH, Rs. 209/78 bis 215/78 u. 218/78, Slg. 1980, 3125, Rn. 47 (Van Landewyck u. a./Kommission) und deutlicher EuGH, Rs. C-301/87, Slg. 1990, I-307, Rn. 31 (Frankreich/Kommission); s. ferner EuGH, Rs. C-288/96, Slg. 2000, I-8237, Rn. 191 (Deutschland/Kommission); EuG, Rs. T-86/95, Slg. 2002, II-1011, Rn. 470 (Compagnie générale maritime u. a./Kommission). 1719 Ähnlich Berrisch, in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 177, 193 ff., der hier zwischen der Verletzung einzelner Verfahrensrechte und der Verletzung des Verteidigungsrechts differenziert. 1720 Vgl. zum Erfordernis der Erheblichkeit des verfahrensrechtlichen Verstoßes für das Entscheidungsergebnis schon EuGH, Rs. C-185/95, Slg. 1998, I 8417, Rn. 49 (Baustahlgewebe/Kommission); vgl. ferner EuGH, Rs. C-39/00 P, Slg. 2000, I-11201, Rn. 44 und 46 (SGA/Kommission); ähnlich EuG, Rs. T-196/01, Slg. 2003, II-3987, Rn. 233 (Aristoteleio Panepistimio Thessalonikis/Kommission) m. w. N. 1721 Vgl. dazu nochmals EuGH, Rs. C-142/00, Slg. 2003, I-3483, Rn. 77 (Kommission/Nederlandse Antillen); EuG, Rs. T-215/00, Slg. 2001, II-181, Rn. 37 (SCEA La Conqueste/Kommission); EuG, Rs. T-170/04, Slg. 2005, II-2503, Rn. 43 (FederDoc u. a./Kommission).

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gangen wäre1722. Der Einzelne wird dadurch auch nicht rechtsschutzlos gestellt, da auf dem Verstoß basierende materielle und immaterielle Nachteile insofern auch anderweitig aufgefangen1723 und vor allem finanzielle Schadenspositionen unter weiteren Voraussetzungen auch über die Ebene des sekundären Rechtsschutzes kompensiert werden können. Das Erfordernis der hypothetisch-kausalen Ergebnisabweichung oder des Nachweises einer anderweitigen Betroffenheitsposition dürfte damit analog der Gerichtspraxis zu der oben dargestellten Fallgruppe der Verfahrensbeteiligung1724 aber ganz regelmäßig auf die Prüfungsebene der Sachentscheidungsvoraussetzungen zu verorten sein. Darüber hinaus erscheint de lege lata nicht zweifelhaft, dass ein justitielles Individualrecht per se, wie insbesondere das Recht auf effektiven Rechtsschutz, nicht schon wegen einer sich im Einzelfall offenbarenden Unvollkommenheit des EG-Rechtsschutzsystems zur Bejahung der individuellen Betroffenheit führen kann1725. Eine gegenteilige Einschätzung würde letztlich den vollständigen Verzicht auf die kumulativ neben der unmittelbaren Betroffenheit zu erfüllende Voraussetzung der individuellen Betroffenheit bedeuten, wie auch der EuGH iterativ betont hat1726. Gleichviel Letzterer in der in diesem Zusammenhang zu erwähnenden Rechtssache Rothley1727 Anhaltspunkte zu der Frage erörtert haben will, ob dem Kläger im Falle der Ablehnung der Zulässigkeit seiner gegen eine generelle Rechtsnorm1728 er1722 Dem steht die Prüfungsverortung bei EuGH, Rs. C-185/95, Slg. 1998, I 8417, Rn. 49 (Baustahlgewebe/Kommission) nicht notwendig entgegen, da der Angriff hier einer zweifellos unmittelbar und individuell betreffenden Gerichtsentscheidung des EuG galt. 1723 Zu den möglichen Rechtsfolgen eines Verstoßes in den einzelnen Mitgliedstaaten und der weiten Verbreitung der Entschädigungspflicht s. die Erörterungen von GA Léger, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-185/95 P, Punkt IV A 2 (Baustahlgewebe/Kommission). Der EuGH folgte dem Vorschlag, einen angemessenen finanziellen Ausgleich für die überlange Verfahrensdauer zu gewähren, und bezifferte diesen auf 50.000 ECU [EuGH, Rs. C-185/95, Slg. 1998, I 8417, Rn. 141 (Baustahlgewebe/Kommission)]. s. ferner zu denkbaren Rechtsfolgen einer Verletzung des Anspruchs auf Entscheidung in angemessener Frist den Überblick bei Schlette, EuGRZ 1999, 369, 371; s. dazu ferner unter B. II. 2. b) cc). 1724 Vgl. insoweit jüngst auch wieder EuG, Rs. T-210/02, Slg. 2006, II-2789, Rn. 52 f. (British Aggregates/Kommission). 1725 So zutreffend Gundel, VerwArch 2001, 81, 96 f. 1726 Vgl. nur EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 44 f. (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 36 (Kommission/Jégo-Quéré); ebenso jüngst EuG, Rs. T-311/03, Slg. 2006, II-46, Rn. 69 (Nürburgring/Parlament). 1727 EuGH, Rs. C-167/02, Slg. 2004, I-3149 (Rothley u. a./Parlament). 1728 In der Rechtssache klagten Abgeordnete des Europäischen Parlaments auf Nichtigerklärung des im Anschluss an die Interinstitutionelle Vereinbarung zwischen dem Europäischen Parlament, dem Rat der EU und der Kommission vom

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hobenen Nichtigkeitsklage ein effektiver Rechtsschutz verwehrt bliebe1729, kann auch hierin keine veritable Abkehr von jener gefestigten Rechtsprechungslinie gesehen werden. Genau genommen fragte der EuGH in der zitierten Entscheidung nämlich nicht danach, ob das Recht auf effektiven Rechtsschutz eine betroffene Individualrechtsposition darstellen oder über deren Notwendigkeit hinweghelfen kann, vielmehr verwies er insoweit nur auf die Möglichkeit des gerichtlichen Angriffs etwaig später folgender Maßnahmen1730, um auf dieser Argumentationsbasis die Verletzung der Rechtsschutzgarantie gerade durch die erstinstanzliche Ablehnung der individuellen Betroffenheit zu verneinen1731. Im Lichte der zuvor genannten ständigen Rechtsprechung erscheinen diese Ausführungen des Gerichtshofs zwar nicht ganz konsequent, da nach jener die bloße Feststellung eines Rechtsschutzdefizits zulasten des Einzelnen nichts an der Notwendigkeit des Nachweises der individuellen Betroffenheit nach Art. 230 Abs. 4 EGV ändern kann. Jedoch fußen die insoweit bestehenden Ungereimtheiten genauer betrachtet auf einer dogmatischen Unschärfe in der Begründung des Gerichtshofs bezüglich der Differenzierung zwischen der unmittelbaren und der individuellen Betroffenheit der Abgeordneten. Denn während sich die in dem Rechtsmittelverfahren gerügten Ausführungen des EuG allein mit der fehlenden Individualisierung der Abgeordneten im Sinne der ständigen Rechtsprechung beschäftigten1732, begnügte sich der EuGH damit, auf einen möglichen späteren Rechtsschutz einerseits gegen eventuelle beschwerende Maßnahmen des Parlaments, die in Reaktion auf die Verweigerung der zu leistenden Zusammenarbeit mit OLAF ergehen würden, und andererseits gegen konkrete Untersuchungshandlungen seitens der Betrugsbekämpfungsbehörde hinzuweisen1733, was in erster Linie nur das Fehlen der unmittelbaren Betroffenheit der Abgeordneten belegte und eine dogmatisch zutreffende Prüfung der individuellen Betroffenheit verfehlte. 25. Mai 1999 über die internen Untersuchungen des Europäischen Betrugsbekämpfungsamtes OLAF ergangenen Parlamentsbeschlusses über die Billigung der Vereinbarung und die Änderungen seiner Geschäftsordnung (ABl. EG L 136 vom 31. Mai 1999, S. 15). Die dahinter stehenden Vereinbarungen enthalten Regelungen, unter welchen Bedingungen das Parlament mit dem OLAF kooperiert, um den reibungslosen Ablauf der Untersuchungen in diesem Organ zu erleichtern. Das vorinstanzlich urteilende EuG hat die angefochtene Handlung wegen ihrer unbefristeten und unterschiedlosen Rechtswirkungen gegenüber der allgemein und abstrakt beschriebenen Personengruppe der Parlamentsabgeordneten als generelle Rechtsnorm qualifiziert [EuG, Rs. T-17/00, Slg. 2002, II-579, Rn. 61 (Rothley u. a./Parlament)]. 1729 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 48 (Rothley u. a./Parlament). 1730 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 49 ff. (Rothley u. a./Parlament). 1731 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 52 (Rothley u. a./Parlament). 1732 Vgl. EuG, a. a. O., Rn. 63 ff. (Rothley u. a./Parlament). 1733 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 49 ff. (Rothley u. a./Parlament).

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Festzuhalten bleibt damit, dass die Rechtsschutzgarantie allein keine individuelle Betroffenheit zu begründen vermag. Sähe man dies anders, würde über das Erfordernis der Gewährung effektiven Rechtsschutzes materieller Rechtspositionen letztlich im Wege eines Zirkelschlusses eine durch den Rechtsakt tatsächlich betroffene Individualrechtsposition konstruiert. Dem steht aber der hier in der Tat eindeutige Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EGV entgegen, der die beiden Merkmale zur Betroffenheit gerade in ein Kumulativverhältnis setzt. Die Rolle der prozessualen Grundrechte muss sich hier also auf ihre Wirkung als bei der Normauslegung zu berücksichtigende objektive Werteordnung beschränken. (ee) Betroffenheit von Vereinigungen Entsprechend der bereits aufgezeigten Fallgruppen können im Übrigen auch Vereinigungen befugt sein, eine Individualnichtigkeitsklage zu erheben, wenn ihnen entweder durch eine Gemeinschaftsnorm ausdrücklich eigene Verfahrensrechte zustehen, wenn sie die Aufgabe haben, Interessen von ihrerseits unmittelbar und individuell betroffenen Unternehmen wahrzunehmen, oder wenn sie selbst in ihren Verbandsinteressen betroffen sind, so etwa im Falle der Beeinträchtigung der eigenen Stellung als Verhandlungsführerin1734.1735 (ff) Zwischenergebnis Betrachtet man die Rechtsprechung des EuGH zu den Anforderungen an die Betroffenheit des einen normativen Rechtsakt anfechtenden Einzelnen in einer Gesamtschau, so fällt neben ihrer restriktiven Prägung1736 auf, dass sich das Erfordernis der Beeinträchtigung materieller Positionen letztlich wie ein roter Faden durch sämtliche Fallgruppen der Individualbetroffenheit zieht. Der Einzelne kann demnach ganz regelmäßig nur dann eine hinreichende Klagebefugnis geltend machen, wenn er neben verfahrensrechtlichen Rechten, mag er diese wahrgenommen haben oder nicht, gerade auch aufVgl. ausführlicher zur Problematik der Klageberechtigung und Klagebefugnis von Verbänden die Rechtsprechungszusammenstellung bei Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 230 EGV, Rn. 27; dazu ferner Ahrens, Die Klagebefugnis von Verbänden im EG-Recht, S. 97 ff. Dazu ausführlicher Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 23 ff. 1735 s. zum Ganzen auch die Zusammenstellung bei EuG, Rs. T-287/04, Rn. 64 (Lorte u. a./Rat). 1736 Dazu Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 64 m. w. N. 1734

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zeigen kann, durch den angegriffenen Rechtsakt nicht nur unerheblich in eigenen materiellen Rechts- oder Interessenstellungen berührt zu sein. Letztere können sich dabei sowohl aus öffentlich-rechtlichen Sonderrechtsbeziehungen als auch aus allgemeinen Normen mit individualschützender Wirkung unter Einschluss der Gemeinschaftsgrundrechte ergeben. (2) Anfechtbarkeit von Richtlinien Obgleich Art. 230 Abs. 4 EGV mit keinem Wort die Anfechtbarkeit von Richtlinien erwähnt1737, zeigt die Rechtsprechung seit einiger Zeit1738 die Tendenz, neben den Individualklagen gegen Verordnungen auch solche gegen Richtlinienbestimmungen zuzulassen. Vor dem Hintergrund des eigentlich verfolgten Sinns und Zwecks der Formulierung des Art. 230 Abs. 4 EGV enthält dies zunächst freilich die Anfechtung so genannter Scheinrichtlinien, sprich von solchen Rechtsakten, die ihrer Rechtsnatur nach nicht in der Form einer Richtlinie hätten ergehen dürfen1739. Die Rechtsprechung indiziert aber darüber hinaus, dass auch echte Richtlinienbestimmungen im Sinne des Art. 249 Abs. 3 EGV ein möglicher Individualklagegegenstand sein können1740. Indessen war von Anfang an zu erwarten, dass die Frage der Erlangung zentralen Rechtsschutzes gegen Richtlinien damit nur um eine ProblemDies ist gemeinhin unbestritten, vgl. aus der Rspr. EuG, Rs. T-310/03, Slg. 2006, II-36, Rn. 40 (Kreuzer Medien/Parlament und Rat); vgl. aus der Literatur nur Klüpfel, EuZW 1996, 393. 1738 Zurückhaltend noch EuGH, Rs. 160/88, Slg. 6399, Rn. 9 ff. und. insb. 13 (Fédération européenne de la santé animale u. a./Rat); bezüglich echter Richtlinienbestimmungen ablehnend insbesondere EuGH, Rs. C-298/89, Slg. 1993, I-3605, Rn. 14 ff., insb. 23 (Gibraltar/Rat); ähnlich zurückhaltend insbesondere in Bezug auf echte Richtlinien noch EuG, Rs. T-99/94, Slg. 1994, II-871, Rn. 17 ff. (Asocarne/Rat), gleichviel das EuG hier „hilfsweise“ auch auf eine individuelle Betroffenheit der Klägerin eingeht. 1739 s. insoweit zur Ausschließung eines rechtsschutzabträglichen Formenmissbrauchs in Bezug auf Richtlinien insbesondere EuG, Rs. T-135/96, Slg. 1998, II-2335, Rn. 63 (UEAPME/Rat). 1740 Hinreichend deutlich etwa EuGH, Rs. C-10/95, Slg. 1995, I-4149, Rn. 28 ff. (Asocarne/Rat), wenn der Gerichtshof zunächst die echte Richtliniennatur des angegriffenen Akts bestätigt und sodann den weiteren Rechtsmittelgrund nicht sogleich verwirft, sondern vielmehr Überlegungen zur individuellen Betroffenheit des Klägers anstellt. Aussagekräftig ist ferner EuGH, Rs. C-408/95, Slg. 1997, I-6315, Rn. 29 (Eurotunnel u. a./SeaFrance), da der Gerichtshof hier betont, dass eine Nichtigkeitsklage gegen die betreffende Richtlinie nicht offenkundig zulässig gewesen wäre. Vgl. aus der Judikatur des Gerichts insbesondere EuG, Rs. T-135/96, Slg. 1998, II-2335, Rn. 62 ff. (UEAPME/Rat); EuG, Rs. T-172/98 und T-175/98 bis T-177/98, Slg. 2000, II-2487, Rn. 29 f. (Salamander u. a./Parlament und Rat) sowie jüngst wieder EuG, Rs. T-311/03, Slg. 2006, II-46, Rn. 36 ff. (Nürburgring/Parlament). 1737

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ebene verschoben wird, soweit einer erfolgreichen Anfechtung angesichts der Staatengerichtetheit der Richtlinie nach Art. 249 Abs. 3 EGV ganz regelmäßig die Sachentscheidungsvoraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit1741 und wegen ihres normativen Charakters auch jene der individuellen Betroffenheit entgegenstehen muss. Zwar können einzelnen Bestimmungen einer Richtlinie unter den durch den EuGH herausgearbeiteten Bedingungen, zu denen neben dem Ablauf der Umsetzungsfrist1742 die inhaltliche Unbedingtheit und hinreichende Bestimmtheit der nicht oder nur unzureichend umgesetzten Richtlinienbestimmung gehören1743, ausnahmsweise auch eine unmittelbare Wirkung zukommen kann und dies wohl selbst dann, wenn der Rechtsakt den betroffenen Mitgliedstaaten einen gewissen Gestaltungsspielraum für die Umsetzung belässt, sofern nur dessen Nutzung bestimmten, den Mindestschutz betreffenden Grenzen unterworfen ist und diese überschritten wurden1744. Jedoch ist eine entsprechende Wirkung nach wie vor nur im vertikalen Verhältnis zwischen Bürger und Staat zulasten der Hoheitsträger möglich, während eine unmittelbare Richtlinienwirkung zulasten des Privatrechtssubjekts und eine horizontale Wirkung im Sinne einer unmittelbaren Drittwirkung1745 vom EuGH bislang nicht anerkannt, sondern vielmehr ausdrücklich abgelehnt worden ist1746. 1741 Vgl. dazu etwa EuG, Rs. T-172/98 und T-175/98 bis T-177/98, Slg. 2000, II-2487, Rn. 52 ff. (Salamander u. a./Parlament und Rat). 1742 s. zu den weitreichenden Vorwirkungen einer Richtlinie vor Ablauf der Umsetzungsfrist Pieper, DVBl. 1990, 684, 685; angesichts der Reichweite dieser Wirkungen indes kritischer Klein, in: FS Everling, S. 641, 645 f. m. w. N. 1743 Zur Möglichkeit des Einzelnen, sich unter den genannten Voraussetzungen auf nicht oder nicht hinreichend umgesetzte, individualschützende Richtlinienbestimmungen zu berufen grundlegend EuGH, Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337, Rn. 12 (Van Duyn); s. dazu i.Ü. EuGH, Rs. 148/78, Slg. 1979, 1629, Rn. 18 ff. (Ratti); EuGH Rs. 8/81, Slg. 1982, 53, Rn. 25 (Becker); aus jüngerer Zeit etwa EuGH, Rs. C-141/00, Slg. 2002, I-6833, Rn. 51 (Kügler); EuGH, verb. Rsn. C-465/00, C-138/01 und C-139/01, Slg. 2003, I-4989, Rn. 98 (Österreichischer Rundfunk u. a.) sowie EuGH, verb. Rsn. C-453/02 u. C-462/02, Slg. 2005, I-1131, Rn. 33 (Linneweber und Akritidis). s. dazu aus der unüberschaubaren Literatur etwa Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, EGV/EUV, Art. 249 EGV (August 2002), Rn. 154 ff.; Winter, ZUR 2002, 313 ff. Zur objektiven Wirkung von Richtlinien ohne das Erfordernis individualschützenden Gehalts grundlegend EuGH, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189, Rn. 26 (Großkrotzenburg); ebenso EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839, Rn. 30 f. (Fratelli Costanzo/Comune di Milano); ausführlicher zur entsprechenden Pflicht der innerstaatlichen Stellen, Richtlinienbestimmungen ex officio zu beachten Klein, in: FS Everling, S. 641, 647. 1744 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-72/95, Slg. 1996, I-5403, Rn. 50 ff., insb. 55 ff. (Kraaijeveld u. a.); in diesem Sinne auch später EuGH, verb. Rsn. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 105 (Pfeiffer u. a.). 1745 s. dazu näher Emmert, EWS 1992, 56 ff.; Göz, DZWir 1995, 256 ff.; Gundel, EuZW 2001, 143 ff.; Hilf, EuR 1993, 1 ff.; Seidel, NJW 1985, 517 ff.

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Eine Ausnahme macht der Gerichtshof hier allein insoweit, als sich der Einzelne in einem privatrechtlichen Streit auf die Unanwendbarkeit technischer Vorschriften eines Mitgliedstaats berufen darf, wenn diese unter wesentlicher Verletzung verfahrensrechtlicher Richtlinienvorgaben ergangen sind, da die Richtlinienbestimmungen in diesem Fall weder Rechte noch Pflichten des Einzelnen begründen1747. Im Übrigen aber kann eine Richtlinie materielle Wirkungen zwischen Privatrechtssubjekten nur mittelbar über den Weg der richtlinienkonformen Auslegung interpretationsbedürftiger und -fähiger Privatrechtsnormen erlangen1748. Wenn in diesem Zusammenhang der Aufsehen erregenden Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Mangold1749 entnommen wird, der Gerichtshof habe hier erstmalig und in Abkehr zu seiner bisherigen Rechtsprechung eine unmittelbare Horizontalwirkung von Richtlinien anerkannt1750, übersieht diese Ansicht den ganz wesentlichen Umstand, dass der EuGH dort gerade nicht die in casu interessierenden Vorgaben der Richtlinie zu unmittelbar anwendbarem Gemeinschaftsrecht ausgerufen hat, sondern letztlich ganz im Sinne der Anregungen des Generalanwalts Tizzano1751 das Verbot der Diskriminierung wegen Alters in der Form eines allgemeinen Grundsatzes des Gemeinschaftsrechts bemüht hat, um die Unanwendbarkeit nationaler Vorschriften, wie der im Streit relevanten1752, zu begründen1753. Es bleibt demzufolge dabei, dass Richtlinien in aller Regel schon keine unmittelbaren Belastungen für den Einzelnen mit sich bringen können und eine Individualanfechtungsklage also wei1746 s. insbesondere EuGH, Rs. 152/84, Slg. 1986, 723, Rn. 48 (Marshall/Southampton and South-West Hampshire Area Health Authority); EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24 (Faccini Dori/Recreb); EuGH, Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 108 f. (Pfeiffer u. a.); dazu ausführlicher Klein, in: FS Everling, S. 641, 648 f. m. w. N. auch zur Gegenansicht. 1747 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-194/94, Slg. 1996, I-2201, Rn. 44 ff., insb. 48 (CIA Security International/Signalson und Securitel); EuGH, Rs. C-443/98, Slg. 2000, I-7535, Rn. 49 ff. (Unilever). 1748 Vgl. EuGH, Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8 (Marleasing/Comercial Internacional de Alimentación); EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325, Rn. 26 (Faccini Dori/Recreb); EuGH, Rs. C-397/01 bis C-403/01, Slg. 2004, I-8835, Rn. 110 ff. (Pfeiffer u. a.). 1749 EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (Mangold). 1750 So etwa Bauer/Arnold, NJW 2006, 6, 13. 1751 s. Schlussanträge des GA Tizzano zu EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 84 und 101 (Mangold). 1752 Im Initialverfahren ging es insbesondere um die Vorschrift des § 14 Abs. 3 S. 4 des deutschen Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG), nach welcher Arbeitsverhältnisse bis zum 31. Dezember 2006 mit Arbeitnehmern ab dem 52. Lebensjahr ohne weiteres als befristete Arbeitsverhältnisse begründet werden durften. 1753 Insofern eindeutig EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981, Rn. 74 ff. (Mangold).

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terhin regelmäßig an dieser Zugangsvoraussetzung scheitern wird. In jüngerer Zeit werden die gegen Richtlinien verfolgten Rechtsbehelfe auf der Grundlage der restriktiven Plaumann-Formel fernerhin schon in Ermangelung einer individuellen Betroffenheit verworfen1754. Ungeachtet der Art der Zugangshürde im Einzelfall vermochte jedenfalls, soweit ersichtlich, noch kein Individualkläger darzulegen, dass er durch eine dem Gegenstand nach anfechtbare Richtlinie in einer die Klagezulässigkeit eröffnenden Weise betroffen war, so dass sich die beschriebene Rechtsprechungstendenz zur Angreifbarkeit von Richtlinienvorschriften derzeit und auch in Zukunft in den Bahnen theoretischer Rechtsschutzmöglichkeiten bewegt. c) Klagefrist und Eintritt der Bestandskraft des Klagegegenstands Eine weitere Hürde auf dem Weg zur Erlangung primären Rechtsschutzes liegt in dem Klagefristerfordernis gemäß Art. 230 Abs. 5 EGV i. V. m. Art. 80 f. EuGH-VerfO begründet1755. Danach ist die Klage grundsätzlich innerhalb von zwei Monaten seit der Bekanntgabe oder Mitteilung der Maßnahme oder seit Kenntniserlangung zu erheben. Zu der jeweiligen Frist ist nach Art. 81 § 2 EuGH-VerfO eine pauschale1756 Entfernungsfrist von 10 Tagen hinzuzurechnen. Überdies wird der Fristbeginn im Falle der öffentlichen Bekanntmachung des Rechtsakts im Amtsblatt der EU nach Art. 81 § 1 EuGH-VerfO um weitere 14 Tage aufgeschoben. Nach der allgemeinen Bestimmung des Art. 46 Abs. 2 EuGH-Satzung bleibt der Fristablauf zudem folgenlos, wenn er nachweislich auf Zufall oder höherer Gewalt beruht1757. Ersterer kann etwa dann vorliegen, wenn die Hauptursache der Verspätung in einem ungewöhnlich langen Postlauf liegt1758. Die Versäumung der Klagefrist bei im Übrigen zulässiger Klageerhebung kann den Rechtsakt gegenüber dem Kläger in formeller Bestandskraft er1754 s. zuletzt etwa EuG, Rs. T-310/03, Slg. 2006, II-36, Rn. 70 ff. (Kreuzer Medien/Parlament und Rat) sowie EuG, Rs. T-311/03, Slg. 2006, II-46, Rn. 60 ff. (Nürburgring/Parlament); s. dazu ferner EuG, Rs. T-135/96, Slg. 1998, II-2335, Rn. 68 ff. (UEAPME/Rat). 1755 Vgl. zu Beginn und Ende der Frist s. Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/ EGV, Art. 230 EGV, Rn. 65 ff. 1756 Die frühere Differenzierung der Entfernungsfristen nach den einzelnen Mitgliedstaaten wurde per Änderung der Verfahrensordnung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften vom 28. November 2000 (ABl. EG L 322/1 vom 19. Dezember 2000) abgeschafft. 1757 Vgl. dazu schon EuGH, verb. Rsn. 25/65 und 26/65, Slg. 1967, 42, 56 (Simet u. a.). 1758 Vgl. EuG, Rs. T-322/03, Slg. 2006, II-835, Rn. 20 (Telefon&Buch Verlagsgesellschaft).

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wachsen lassen1759 mit der Folge, dass dieser nicht nochmals gegen denselben Gegenstand klagen darf. Der in Bezug auf den Kläger relativierten Bestandskraft fähig sind dabei nicht nur Entscheidungen i. S. d. Art. 249 Abs. 4 EGV, sondern ebenso normative Akte, sofern sie den Einzelnen unmittelbar und individuell betreffen und dieser zweifellos eine Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV hätte erheben können1760. Trotz dieser einschneidenden Folgen verstößt die starre Festlegung und strikte Anwendung der Regelungen zu den Verfahrensvorschriften nach zutreffender Ansicht des EuGH angesichts ihres Sinns und Zwecks, Rechtssicherheit eintreten zu lassen und die Gleichbehandlung der Rechtsschutzsuchenden zu gewährleisten1761, nicht per se gegen das Recht auf effektiven Rechtsschutz1762. d) Weitere Sachentscheidungsvoraussetzungen Wie alle anderen Verfahren setzt auch die Nichtigkeitsklage neben der Partei- und Postulationsfähigkeit des jeweiligen Klägers nach Art. 19 EuGH-Satzung eine den Anforderungen der Art. 20, 21 EuGH-Satzung und Art. 37, 38 EuGH-VerfO genügende Klageschrift voraus1763. Parteifähig sind neben den (teil-)privilegiert Klageberechtigten auch natürliche und ju1759 Dazu erstmals in Bezug auf den Rechtsakt der Entscheidung EuGH, Rs. 20/65, Slg. 1965, 1112 (Collotti/Gerichtshof); vgl. ferner insbesondere EuGH, Rs. C-188/92, Slg. 1994, I-833, Rn. 13 ff. (TWD Textilwerke Deggendorf); EuGH, Rs. C-178/95, Slg. 1997, I-585, Rn. 19 ff. (Wiljo); EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 60 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.) sowie EuGH, verb. Rsn. C-346/03 und C-529/03, Slg. 2006, I-1875, Rn. 31 (Atzeni u. a.). 1760 In diesem Sinne insbesondere für Antidumpingverordnungen vor dem Hintergrund der ihnen seitens des Gerichtshofs attestierten Doppelnatur EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe). Die Entscheidung EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 ff. (Kommission/BCE) legt aber nahe, dass dies eben nur für Verordnungen mit jener Doppelnatur gilt. Andererseits indiziert die Entscheidung EuGH, Rs. C-408/95, Slg. 1997, I-6315, Rn. 29 ff. (Eurotunnel u. a./SeaFrance), dass selbst bei Richtlinien eine solche Bestandskraft – rechtstheoretisch – nicht vollkommen auszuschließen ist, sofern eine ihrer Bestimmungen den Kläger ausnahmsweise unmittelbar und individuell betrifft und eine Anfechtung insoweit zweifelsohne möglich gewesen wäre. 1761 Vgl. EuGH, Rs. 152/85, Slg. 1987, 223, Rn. 11 (Misset/Rat); EuGH, Rs. C-178/95, Slg. 1997, I-585, Rn. 19 (Wiljo); EuGH, Rs. C-188/92, Slg. 1994, I-833, Rn. 16 (TWD Textilwerke Deggendorf). 1762 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-406/01, Slg. 2002, I-4561, Rn. 20 (Deutschland/Parlament und Rat). 1763 Der obligatorische Klageschriftinhalt umfasst nach Art. 21 EuGH-Satzung insbesondere die Individualisierung des Klägers und des Beklagten sowie die Angabe des Streitgegenstands samt Klagegründen und Anträgen [vgl. zu den einzelnen Anforderungen insbesondere in Bezug auf die Klagegründe EuG, Rs. T-387/94, Slg. 1996, II-961, Rn. 106 (Asia Motor France u. a./Kommission); EuG, Rs. T-56/92,

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ristische Personen des Privatrechts unter Einschluss von Drittstaatsangehörigen, wobei sich die rechtliche Qualifizierung als juristische Person nach gemeinschaftsrechtlichen Kriterien richtet1764. Zur sachlichen Stützung darf sich der Kläger allein auf die in Art. 230 Abs. 2 EGV genannten Gründe berufen, namentlich auf die Unzuständigkeit des verklagten Organs zur Vornahme der betreffenden Maßnahme, auf die Verletzung wesentlicher Formvorschriften, auf die Verletzung des Vertrages1765 oder der bei seiner Durchführung relevanten Rechtsnormen sowie auf den Missbrauch eines normativ eingeräumten Ermessens. Bei Vorliegen der Klagebefugnis fehlt das allgemeine Rechtsschutzinteresse nur in Ausnahmefällen und bildet daher ganz regelmäßig keine gesonderte Hürde1766. e) Begründetheit und Urteilsbindungswirkung Die Klage ist begründet und führt nach Art. 231 Abs. 1 EGV zur Nichtigerklärung der angegriffenen Regelungen, soweit diesen im Zeitpunkt ihres Erlasses1767 ein Mangel im Sinne des Art. 230 Abs. 2 EGV anhaftet1768. Slg. 1993, II-1267, Rn. 21 (Koelman/Kommission); EuG, Rs. T-43/92, Slg. 1994, II-441, Rn. 183 f. (Dunlop Slazenger/Kommission)]. 1764 Vgl. EuGH, Rs. 135/81, Slg. 1982, 3799, Rn. 10 (Agences de voyages/Kommission). Auch die einzelnen deutschen Bundesländer werden von der Regelung des Art. 230 Abs. 4 EGV erfasst [vgl. EuG, verb. Rsn. T-132/96 u. T-143/96, Slg. 1999, II-3663, Rn. 81 (Freistaat Sachsen u. a./Kommission)]. 1765 Hierunter fällt nicht allein der Vertragstext, sondern das gesamte geschriebene und ungeschriebene Gemeinschaftsrecht samt Grundrechten und anderen allgemeinen Rechtsgrundsätzen, so dass dieser Klagegrund einen Auffangtatbestand darstellt, dem in der Rechtsprechungspraxis eine zentrale Rolle zukommt. 1766 Gleichwohl besteht ein rechtlicher Unterschied zwischen der Klagebefugnis als besonderem Rechtsschutzinteresse und dem allgemeinen Rechtsschutzinteresse (dazu schon oben in Fn. 1628). Das EuG zieht insoweit nicht immer eine saubere Grenze zwischen beiden, wenn es etwa vom Vorliegen eines eigenen Rechtsschutzinteresses unmittelbar auf die individuelle Betroffenheit der Klägerin schließt [s. hierzu etwa EuG, Rs. T-178/94, Slg. 1997, II-2529, Rn. 53 f. (ATM/Kommission)]. Zwar hatte das gegen die Entscheidung eingelegte Rechtsmittel zum EuGH Erfolg, Letzterer beanstandete jedoch nur die Bejahung des eigenen Rechtsschutzinteresses nach dem gegebenen Sachverhalt, nicht aber die Folgerung von diesem Interesse auf die Klagebefugnis [vgl. EuGH, Rs. C-78/03 P, Slg. 2005, I-10737, Rn. 59 (Kommission/Aktionsgemeinschaft Recht und Eigentum)]. 1767 Dies ist ganz regelmäßig der maßgebliche Entscheidungszeitpunkt, nicht hingegen jener des Inkrafttretens oder der letzten gerichtlichen Entscheidung [vgl. EuGH, verb. Rsn. C-15/76 u. 16/76, Slg. 1979, 321, Rn. 7 (Frankreich/Kommission); ferner jüngst wieder EuGH, Rs. C-535/03, Slg. 2006, I-2689, Rn. 74 (Unitymark u. a.)]. 1768 Vgl. zu den einzelnen Nichtigkeitsgründen Cremer, in Calliess/Ruffert, EUV/ EGV, Art. 230 EGV, Rn. 72 ff.

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Auf eine Verletzung subjektiver Rechte kommt es in der Begründetheitsprüfung hingegen nicht mehr an, was der Verfahrensart jedenfalls im Hinblick auf die Sachstation den Wesenszug eines objektiven Beanstandungsverfahrens verleiht und es folglich insoweit in die Nähe des französischen „recours pour excès de pouvoir“ rückt1769. Der stattgebenden Nichtigerklärung durch den EuGH kommt in Bezug auf den angegriffenen Streitgegenstand absolute Verbindlichkeit1770 und regelmäßig eine ex-tunc-Wirkung erga omnes zu1771. Die Bindungswirkung bezieht sich dabei auf den Tenor samt den diesen tragenden und für seine Deutung relevanten Entscheidungsgründen1772. Im Interesse der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes1773 kann der Gerichtshof im Einzelfall auch den in Art. 231 Abs. 2 EGV vorgesehenen Beurteilungsspielraum1774 nutzen und den Rechtsakt1775 nur ex nunc annullieren oder einzelne Bestimmungen eines für nichtig erklärten Akts vorübergehend als weiterhin anwendbar deklarieren1776. In jedem Fall haben die erfolgreich verklagten Organe gemäß Art. 233 Abs. 1 EGV – wie auch im Falle einer begründeten Untätigkeitsklage – alle sich aus der Gerichtsentscheidung ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Ist die Nichtig1769 Weitergehend Schilling, EuGRZ, 2000, 3, 27; ähnlich Baumgartner, Klagebefugnis, S. 65 ff. Die Individualnichtigkeitsklage verlagert die Prüfung der Beschwer von subjektiven Rechten oder Interessen aber in die Prüfung der Sachentscheidungsvoraussetzungen und weist damit gleichwohl auch wesentliche subjektive Elemente auf (dazu bereits ausführlich in Teil 1 unter A. II. 4. d) bb) (2) (b). 1770 Vgl. schon EuGH, Rs. 1/54, Slg. 1954–1955, 7, 36 (Frankreich/Hohe Behörde); EuGH, Rs. 2/54, Slg. 1954–1955, 81, 113 (Italien/Hohe Behörde); EuGH, Rs. 3/54, Slg. 1954–1955, 132 (Assider/Hohe Behörde). 1771 Zur ex tunc-Wirkung s. bereits EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, 263, Rn. 59 (Kommission/Rat) sowie EuGH, verb. Rsn. 97/86, 99/86, 193/86 und 215/86, Slg. 1988, 2181, Rn. 30 (Asteris u. a./Kommission); vgl. dazu auch Borchardt, in: Lenz/ Borchardt, EUV/EGV, Art. 231 EGV, Rn. 3. 1772 Vgl. EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 54 f. (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.). Im Falle der Anfechtung einer Entscheidung durch ihren Adressaten sind allein die diesen betreffenden Teile der Entscheidung Streitgegenstand (vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 53). Ein anderer am Rechtsstreit nicht beteiligter Adressat kann sich daher nicht auf eine Verbindlichkeit der die Rechtswidrigkeit tragenden Begründung berufen (vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 55). 1773 Zu diesen Grundsätzen etwa schon EuGH, Rs. 205–215/82, Slg. 1983, 2633 (Deutsche Milchkontor). 1774 Dazu EuGH, Rs. 112/83, Slg. 1985, 719, Rn. 18 (Société des produits de mais); ferner EuGH, Rs. 33/84, Slg. 1985, 1605, Rn. 18 (Fagd). 1775 Der Gerichtshof hat die direkt nur auf Verordnungen bezogene Vorschrift des Art. 231 Abs. 2 EGV bereits entsprechend auf andere Rechtsakte wie Richtlinien und Beschlüsse angewendet [vgl. EuGH, Rs. C-295/90, Slg. 1992, I-4193, Rn. 26 f. (Europäisches Parlament/Rat) oder auch EuGH, Rs. C-106/96, Slg. 1998, I-2729, Rn. 41 (Vereinigtes Königreich/Kommission)]. 1776 Vgl. dazu auch Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 231 EGV, Rn. 3 f.

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keitsklage dagegen unbegründet, entfaltet die Entscheidung nur Wirkungen inter partes1777. f) Gesamtschau zu den neuralgischen Punkten der Individualnichtigkeitsklage Bereits die Darstellung der Nichtigkeitsklage gegen einen normativen Rechtsakt hat diverse Individualrechtsschutzschwächen zutage gefördert. Es ist ein europaweiter Daueraspekt kritischer Verlautbarungen1778, dass dem Einzelnen ein prinzipaler Rechtsschutz gegen echte Verordnungs- oder Richtlinienbestimmungen im Sinne des Art. 249 Abs. 2 und 3 EGV auch im Falle einer individualbelastenden Wirkung ganz regelmäßig allein deshalb verwehrt bleibt, weil solche Unionsrechtsakte einen allgemeinen, d.h. abstrakt generellen, Regelungsbereich mit objektiver Tatbestandsstruktur aufweisen. Die Zulässigkeit der Klage gegen eine Richtlinie scheitert von Rechts wegen aufgrund der Adressierung dieser Rechtsakte an die Mitgliedstaaten und des diesen bei der Umsetzung grundsätzlich zustehenden Ermessensspielraums, wie gesehen, regelmäßig schon an der unmittelbaren Betroffenheit. Dass eine Richtlinienvorschrift einmal unmittelbar wirkt und zugleich individuell belastet, erscheint nur schwerlich vorstellbar und ist in der Praxis noch nicht aufgetreten. Da der EuGH im Übrigen das Kriterium der individuellen Betroffenheit, nach wie vor – wohl in der Überzeugung vom „eindeutig engen Wortlaut“1779 der Norm – restriktiv handhabt und trotz oder gerade wegen zwischenzeitlicher Bemühungen des Gerichts erster Instanz um eine Erweiterung des Individualrechtsschutzes1780 nicht müde wird, sein Festhalten an dieser Rechtsprechungslinie zu betonen, tritt praktisch häufig der Fall auf, dass der Einzelne unmittelbar in rechtlich oder tatsächlich nachteiliger Weise von der Regelung eines allgemein geltenden EG-Rechtsakts betroffen ist, ohne die Voraussetzungen der Plaumann-Formel zu erfüllen und folglich ohne gegen diesen direkt im Rechtszug der zentralen Gemeinschaftsgerichtsbarkeit vorgehen zu können.

Vgl. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 231 EGV, Rn. 5. Eine gelungene Zusammenfassung der Literatur findet sich insoweit bei Barav, in: FS Gautron, S. 227 ff. 1779 EuGH, Rs. 40/64, Slg. 1965, 295, 312 (Sgarlata). 1780 s. dazu EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365, Rn. 51 (Jégo-Quéré/Kommission); dazu näher unter C. I. 4. c). 1777 1778

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2. Untätigkeitsklage Die in Art. 232 Abs. 3 EGV1781 geregelte Individualuntätigkeitsklage vermag jene der Individualnichtigkeitsklage inhärenten Schwächen nicht einmal ansatzweise aufzufangen. Selbst wenn sie angesichts ihrer vertragssystematischen Stellung1782 und der Ausgestaltung des Tenors bei Klageerfolg nach Art. 232 Abs. 1 EGV1783 einen selbständig neben den anderen Rechtsschutzmöglichkeiten stehenden Rechtsbehelf darstellt1784, steht sie in engstem Zusammenhang zur Individualnichtigkeitsklage und korreliert in vielen Punkten ihrer Zulässigkeitsvoraussetzungen mit dieser1785. Nicht zuletzt gilt das für die Anforderungen an die Individualklagebefugnis nach Art. 232 Abs. 3 EGV1786, die in Entsprechung zu Art. 230 Abs. 4 EGV zu bestimmen sind1787. Der Einzelne muss demzufolge für die Zulässigkeit der 1781 Die Norm findet im Bereich der Euratom eine Entsprechung in Art. 148 EAGV. 1782 Das systematische Argument verliert freilich durch die in Art. 233 EGV für Nichtigkeits- wie Untätigkeitsklagen gleichermaßen geltenden Verpflichtungsfolgen für die betroffenen Gemeinschaftsorgane an Schwere. 1783 Die Vorschrift erlaubt dem EuGH allein die Feststellung einer Vertragsverletzung [vgl. etwa EuG, Rs. T-74/92, Slg. 1995, II-115, Rn. 75 (Ladbroke/Kommission); EuG, Rs. T-127/98, Slg. 1999, II-2633, Rn. 50 (UPS Europe/Kommission)], während sich erst aus Art. 233 EGV ergibt, dass das unterliegende Gemeinschaftsorgan die pflichtwidrige Unterlassung durch Vornahme der erforderlichen Handlung abzustellen hat [vgl. etwa EuG, Rs. T-34/05, Slg. 2005, II-1465, Rn. 67 (Bayer CropScience u. a./Kommission)]. Eine veritable Verpflichtungsklage, wie sie etwa die deutsche Rechtsordnung in § 113 Abs. 5 VwGO vorsieht, ist dem Gemeinschaftsrecht hingegen fremd (vgl. dazu Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 1). 1784 So Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 2; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 8, Rn. 3 m. w. N.; ähnlich Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 1; a. A. indes wohl der Gerichtshof, vgl. EuGH, Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065, Rn. 59 (T. Port); s. insoweit auch EuG, Rs. T-17/96, Slg. 1999, II-1757, Rn. 27 (TF1), wonach Art. 173 EGV (a. F.; Art. 230 EGV n. F.) und Art. 175 EGV (a. F.; Art. 232 EGV n. F.) „ein und denselben Rechtsbehelf regeln“; ebenso Schwarze, in: ders., EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 1. 1785 Ausführlicher zu den äquivalent ausgeformten Zulässigkeitsvoraussetzungen, insbesondere der gerichtlichen Zuständigkeit, der Klageberechtigung und den möglichen Klagegegenständen Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 8, Rn. 6 ff. 1786 Ein privilegiertes Recht zur Klageerhebung steht hier abermals nur den Mitgliedstaaten und den Gemeinschaftsorganen zu. Wenn die EZB Partei des Verfahrens ist, muss sich der Klagegegenstand nach Art. 232 Abs. 4 EGV auf ihren Zuständigkeitsbereich beziehen. 1787 Dazu etwa EuGH, Rs. 134/73, Slg. 1974, 1, Rn. 5 (Holtz & Willemsen/Rat), ausführlicher zum Ganzen auch Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EURechtsschutz, § 8, Rn. 26 ff. u. 34 ff.

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Klage aufzeigen können, dass er sich in der Rechtsstellung eines potentiellen Adressaten befindet, das Organ den begehrten Rechtsakt also gerade ihm gegenüber zu erlassen hat1788. Besonderheiten in den Sachentscheidungsvoraussetzungen bestehen aber gegenüber der Nichtigkeitsklage vor allem insoweit, als nach Art. 232 Abs. 2 EGV vor Erhebung der Klage zwingend eine Stellungnahme des omittierenden Organs einzufordern ist und dieses auf die Eingabe nicht innerhalb von zwei Monaten reagiert haben darf. Nur dann kann die Klage – unter Wahrung einer Frist von zwei Monaten – erhoben werden. In terminologischer Abweichung von Art. 249 Abs. 5 EGV ist dabei mit der „Stellungnahme“ eine verbindliche und grundsätzlich abschließende Erklärung des betreffenden Organs gemeint, durch die sein Standpunkt hinreichend deutlich wird1789. Art. 232 EGV erfasst demnach jedwede Nichtbescheidung oder Nichtstellungnahme, nicht aber die Fälle, in denen der erlassene Akt nicht der gewünschten oder für notwendig gehaltenen Handlung entspricht1790. Die bloße Weigerung des Organs, tätig zu werden, oder aber der Verweis auf bereits erfolgtes Handeln oder eine weitere Prüfung der Sache kann der Klage freilich nicht entgegen gehalten werden1791. Die Vornahme der Stellungnahme beendet jedoch den Zustand der Untätigkeit1792 und stellt den Kläger „begehrlos“, so dass sein Rechtsschutzbedürfnis entfällt, die Untätigkeitsklage gegenstandslos wird1793 und der Rechtsstreit 1788 Vgl. EuGH, Rs. 246/81, Slg. 1982, 2277, Rn. 16 (Lord Bethell/Kommission); EuGH, Rs. C-371/89, Slg. 1990, I-1555, Rn. 5 u. 6 (Emrich/Kommission); EuGH, Rs. C-72/90, Slg. 1990, I-2181, Rn. 10 ff. (Asia Motor France/Kommission). 1789 Vgl. EuGH, Rs. 42/71, Slg. 1972, 105, Rn. 4 f. (Nordgetreide GmbH & Co./ Kommission); EuGH, Rs. C-107/91, Slg. 1993, I-599, Rn. 10 ff. (ENU/Kommission). Die Stellungnahme kann aber auch nur vorbereitenden Charakter haben [vgl. EuGH, Rs. C-282/95, Slg. 1997, I-1503, Rn. 34 (Guérin automobiles/Kommission)]. Zu den Einzelheiten hinsichtlich der Aufforderung EuGH, Rs. C-249/99 P, Slg. 1999, I-8333, Rn. 18 (Pescados Congelados Jogamar/Kommission) und EuG, Rs. T-17/96, Slg. 1999, II-1757, Rn. 41 (TF1/Kommission); näher zu Aufforderung und Stellungnahme nach Art. 232 Abs. 2 EGV auch Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 11 ff. 1790 St. Rspr., EuGH, Rs. 8/71, Slg. 1971, 705, Rn. 2 (Deutscher Komponistenverband/Kommission); EuGH, verb. Rsn. 166/86 und 220/86, Slg. 1988, 6473, Rn. 17 (Irish Cement/Kommission); EuGH, verb. Rsn. C-15/91 und C-108/91, Slg. 1992, I-6061, Rn. 17 (Buckl u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-107/91, Slg. 1993, I-599, Rn. 10 (ENU/Kommission). 1791 Vgl. schon EuGH, verb. Rsn. 42/59 und 49/59, Slg. 1961, 111, 156 f. (SNUPAT); ferner EuGH, Rs. 13/83, Slg. 1985, 1513, Rn. 25 (Parlament/Rat); EuG, Rs. T-95/96, Slg. 1998, II-3407, Rn. 88 (Gestevisión Telecinco/Kommission). 1792 Dazu etwa EuG, verb. Rsn. T-194/97 und T-83/98, Slg. 2000, II69, Rn. 55 (Branco/Kommission). 1793 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-15/91 und C-108/91, Slg. 1992, I-6061, Rn. 15 (Buckl u. a./Kommission); EuG, Rs. T-34/05, Slg. 2005, II-1465, Rn. 67 (Bayer

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sich folglich erledigt1794. In der Regel kann der Einzelne aber erforderlichenfalls gegen die Stellungnahme1795 oder, wenn diese zwar nicht selbst anfechtbar, aber Zwischenstufe in einem mehrstufigen Verfahren ist, das in einen anfechtbaren Rechtsakt münden soll, gegen Letzteren1796 Nichtigkeitsklage erheben1797. Aus der inneren Systematik des Art. 232 EGV und seiner Einbettung in das vertragliche Verfahrenssystem folgt also, dass die Untätigkeitsklage aufgrund ihres subsidiären Charakters unzulässig ist, sobald ein im Wege der Nichtigkeitsklage anfechtbarer Akt vorliegt1798. So verhält es sich selbst dann, wenn das eigentliche Rechtsschutzbegehren der klagenden Partei darauf gerichtet ist, die unterlassene Aufnahme einzelner Regelungen in den Rechtsakt anzugreifen1799. Was insbesondere den hier interessierenden primären Rechtsschutz gegen einen normativen Rechtsakt anbelangt, erweist sich die Untätigkeitsklage schon wegen dieses grundsätzlichen Vorrangs der Nichtigkeitsklage als weitgehend unergiebig. Dies gilt ungeachtet der Frage, ob der Einzelne überhaupt mit Erfolg geltend machen könnte, im Sinne des Art. 232 Abs. 3 EGV potentieller Adressat eines einen bereits existenten Normativakt aufhebenden Rechtsakts zu sein, woran im Übrigen erhebliche Zweifel bestehen1800, da der Aufhebungsakt als actus contrarius des aufzuhebenden Gegenstands dessen Rechtsnatur teilen dürfte, infolgedessen auch allgemeiner Natur wäre und der Einzelne CropScience u. a./Kommission); EuG, Rs. T-107/96, Slg. 1998, II-311, Rn. 29 (Pantochim/Kommission). 1794 EuGH, verb. Rsn. C-15/91 und C-108/91, Slg. 1992, I-6061, Rn. 18 (Buckl u. a./Kommission); EuG, Rs. T-34/05, Slg. 2005, II-1465, Rn. 67 (Bayer Crop Science u. a./Kommission). 1795 EuGH, Rs. 42/71, Slg. 1972, 105, Rn. 4 f. (Nordgetreide GmbH & Co./Kommission). 1796 Vgl. EuGH, Rs. C-282/95, Slg. 1997, I-1503, Rn. 36 (Guérin automobiles/ Kommission); EuG, Rs. T-34/05, Slg. 2005, II-1465, Rn. 69 (Bayer CropScience u. a./Kommission); EuG, Rs. T-186/94, Slg. 1995, II-1753, Rn. 25 (Guérin automobiles/Kommission). 1797 Zwingend ist dies jedoch nicht, vgl. EuG, Rs. C-25/92, Slg. 1993, I-473, Rn. 10 (Miethke/Parlament); EuG, Rs. T-277/94, Slg. 1996, II-351, Rn. 50 (AITEC/Kommission). 1798 Dahingehend EuGH, Rs. 42/71, Slg. 1972, 105, Rn. 4 f. (Nordgetreide GmbH & Co./Kommission); EuGH, verb. Rsn. 10/68 und 18/68, Slg. 1069, 459, Rn. 17 (Eridiana Zuccherifici u. a./Kommission); EuGH, Rs. 48/65, Slg. 1966, 28, 40 (Lütticke); s. dazu ausführlicher Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EURechtsschutz, § 8, Rn. 3 m. w. N. 1799 In diesem Sinne EuGH, Rs. C-301/90, Slg. 1992, I-221, Rn. 14 (Kommission/Rat). 1800 Dahingehend auch schon EuGH, verb. Rsn. 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, Slg. 1988, 2181, Rn. 17 (Asteris u. a./Kommission); EuG, Rs. T-166/98, Slg. 2004, II-3991, Rn. 82 (Cantina Sociale di Dolianova u. a./Kommission).

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

schließlich nach ständiger Rechtsprechung nicht die Änderung oder Aufhebung einer allgemein geltenden Gemeinschaftshandlung geltend machen kann1801. Im Lichte dieser Ausführungen bildet die Untätigkeitsklage damit just das prozessuale Gegenstück zum Klagebegehren im Rahmen der Nichtigkeitsklage, geht es in der Sache doch ausschließlich um das objektiv rechtswidrige1802 Unterlassen der Erfüllung einer rechtlichen Handlungspflicht1803, namentlich der Adressierung eines Rechtsaktes an den Individualkläger, nicht aber um die Beseitigung zurückliegender Tätigkeiten der Gemeinschaftsorgane. Aus diesen Gründen erweist sich die Untätigkeitsklage im allgemeinen Feld der normativen Rechtsakte jedoch als praktisch zu vernachlässigender und im speziellen Fall der Abwehr eines individualbelastenden Normativakts gar als generell unzulässiger Rechtsbehelf. 3. Inzidentkontrolle gemäß Art. 241 EGV Eine die Schwächen der beiden Direktklagen zumindest in gewissem Umfang ausgleichende Wirkung entfaltet indessen die in Art. 241 EGV geregelte inzidente Normenkontrolle1804, deren wesentliche Funktion es ist, insbesondere den Einzelnen vor der Anwendung rechtswidriger Sekundärrechtsnormen zu bewahren1805. Wie auch Art. 234 EGV1806 ist Art. 241 EGV normativierter Ausdruck eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes, nach dem jede Partei das Recht hat, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens inzident die Rechtswidrigkeit derjenigen Gemeinschaftshandlungen geltend zu machen, die als rechtliche Grundlage für die gegen sie ergangenen belastenden Maßnahmen dienen1807. Obschon Art. 241 EGV in erster Linie die Zulässigkeit der Rechtswidrigkeitsrüge vor dem Gerichtshof regelt, impliziert er doch denklogisch zugleich dessen Befugnis zur Vornahme einer entspre1801

sion).

Vgl. EuGH, Rs. C-87/89, Slg. 1990, I-1981, Rn. 8 f. (Sonito u. a./Kommis-

1802 s. dazu näher Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 670; s. ferner Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 232 EGV, Rn. 15. 1803 Vgl. Burgi, in: Rengeling/Midekke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 8, Rn. 50. 1804 s. zu diesem Begriff Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EURechtsschutz, § 11, Rn. 1. 1805 Vgl. EuGH, verb. Rsn. 31/61 und 33/62, Slg. 1962, 1029, 1042 (Wöhrmann und Lütticke). Zur Ausgleichsfunktion des Inzidentverfahrens auch schon Daig, AöR 1958, 132, 177; ders., EuR 1968, 259, 263. 1806 Dazu näher unter 4. 1807 So EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe) unter Hinweis auf EuGH, Rs. 216/82, Slg. 1983, 2771, Rn. 10 und 12 (Universität Hamburg).

A. Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte

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chenden Inzidentkontrolle1808, die übrigens – losgelöst von Art. 241 EGV – auch ex officio erfolgen kann1809. a) Wesentliche Voraussetzungen Hinsichtlich des Regelungsgehalts des Art. 241 EGV sind folgende Punkte von besonderer Bedeutung. aa) Anhängiges Hauptverfahren Art. 241 EGV konstituiert keine selbständige, den Zugang zum EuGH ebnende Verfahrensart1810, sondern setzt die zulässige Anhängigkeit eines anderen zentralen Rechtsstreits voraus1811. Bei diesem kann es sich etwa um eine Nichtigkeitsklage gegen den Vollziehungsakt oder um eine Untätigkeitsklage gerichtet auf Durchführung der Verordnung, aber ebenso um haftungsrechtliche oder beamtenrechtliche Verfahren handeln1812. Zweifelhaft ist dies unterdessen für das Vertragsverletzungsverfahren1813, soweit die Mitgliedstaaten hierdurch die Folgen des Ablaufs der Nichtigkeitsklagefrist umgehen könnten1814. Obsolet erscheint die Anwendung des Art. 241 EGV aber jedenfalls auf der Grundlage eines Vorabentscheidungsverfahrens, da Letzteres selbst ein Zwischenverfahren darstellt, in welchem nicht nur über 1808 A. A. insoweit Busse, EuZW 2002, 715, 719, der den Regelungskern gerade in der Statuierung der damit verbundenen Prüfungskompetenz des EuGH erblickt. 1809 So insbesondere in Bezug auf die Prüfung der Verletzung wesentlicher Formvorschriften EuGH, Rs. C-291/89, Slg. 1991, I-2257, Rn. 14 (Interhotel/Kommission); s. dazu auch Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 11, Rn. 3. 1810 In diesem Sinne EuGH, Rs. 33/80. Slg. 1981, 2141, Rn. 17 (Albini/Rat und Kommission). 1811 St. Rspr., s. EuGH, verb. Rsn. 31/61 und 33/62, Slg. 1962, 1029, 1042 (Wöhrmann und Lütticke); EuGH, Rs. 33/80. Slg. 1981, 2141, Rn. 17 (Albini/Rat und Kommission); EuGH, verb. Rsn. 87/77, 130/77, 22/83, 9/84 und 10/84, Slg. 1985, 2523, Rn. 36 (Salerno u. a./Kommission und Rat); EuGH, Rs. C-64/93, Slg. 1993, I-3595, Rn. 19 (Donatab u. a./Kommission); EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 33 (Nachi Europe). 1812 Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 EGV, Rn. 5. 1813 s. hierzu näher Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 11, Rn. 10. 1814 Dahingehend EuGH, verb. Rsn. 6/69 und 11/69, Slg. 1969, 523, insb. Rn. 24 (Kommission/Frankreich); zur Möglichkeit der Rüge der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens EuGH, Rs. 226/87, Slg. 1988, 3611, Rn. 14 (Kommission/Griechenland); EuGH, Rs. C-74/91, Slg. 1992, I-5437, Rn. 10 (Kommission/Deutschland).

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die Anwendbarkeit, sondern nach Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV sogar über die Wirksamkeit der Handlungen der Organe und der EZB gerichtet werden kann. bb) Rügefähigkeit und Rügegegenstand Angesichts des weiten Wortlauts der Norm1815 darf die Rüge grundsätzlich sowohl von Privatklägern als auch von den Mitgliedstaaten und Unionsorganen erhoben werden1816. In Konsequenz zur allgemeinen Zuständigkeitsverteilung können gemäß Art. 4 des Ratsbeschlusses 88/5911817 entsprechende Zwischeneinreden des Einzelnen auch schon vor dem EuG geltend gemacht werden. Gegenständlich lässt der EuGH die Erhebung der Rüge über die grammatikalischen Grenzen hinaus für alle Rechtsakte mit verordnungsgleicher Wirkung zu1818. Ob hierzu ausnahmsweise auch Richtlinien zählen können1819, erscheint jedoch fraglich. Insoweit dürfte jedenfalls die Möglichkeit der Rechtswidrigkeitsrüge durch Private ganz regelmäßig ausscheiden, da Individualklagen auf der unmittelbaren oder mittelbaren Grundlage und damit im hinreichenden rechtlichen Zusammenhang1820 mit einer Richtlinie aufgrund deren Staatengerichtetheit und der damit zumeist fehlenden unmittelbaren Individualbelastungswirkung grundsätzlich vor den nationalen Gerichten und nicht vor dem EuGH anhängig zu machen sind, wofür sodann Art. 234 EGV das statthafte Zwischenverfahren zur Klärung der Rechtmäßigkeit der interessierenden Bestimmungen darstellt. Ähnlich liegt der Fall, wenn sich ein Mitgliedstaat mit der Rüge der Rechtswidrigkeit einer nicht frist- oder ordnungsgemäß umgesetzten Richtlinie gegen das Schadensersatzbegehren eines durch die Richtlinienbestimmungen unmittelbar begünstigten Individualklägers wehren möchte. Denn auch hier nimmt das 1815

heben.

Nach Art. 241 EGV kann „jede Partei“ die Rüge der Unanwendbarkeit er-

s. dazu näher Krück, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 184, Rn. 11 ff.; a. A. in Bezug auf die Mitgliedstaaten und EU-Organe Grabitz, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 184, Rn. 14. 1817 Beschluss des Rates (88/591/EGKS, EWG, Euratom) zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 24. Oktober 1988, zuletzt geändert durch Beschl. v. 26. April 1999 (ABl. EG 1988 L 319/1; Sartorius II Nr. 248). 1818 EuGH, Rs. 92/78, Slg. 1979, 777, Rn. 38 ff. (Simmenthal/Kommission). 1819 Zur Diskussion Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 11, Rn. 14. 1820 s. dazu EuGH, Rs. 32/65, Slg. 1966, 458, 487 (Italien/Rat und Kommission) sowie EuGH, verb. Rsn. 81/85 und 119/85, Slg. 1986, 1777, Rn. 13 (Usinor/Kommission). 1816

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Verfahren seinen Anfang und sein Ende vor einem nationalen Gericht, so dass die Rechtmäßigkeitskontrolle abermals in einem Vorabentscheidungsverfahren herbeizuführen ist. Möchte sich ein Mitgliedstaat im Rahmen eines Vertragsverletzungsverfahrens auf die Rechtswidrigkeit der verletzten Sekundärrechtsnorm berufen, wird der betreffenden Inzidentrüge vielfach die bereits eingetretene Bestandskraft des Gemeinschaftsakts entgegenstehen1821. Nach alledem verbleibt für Richtlinien im Anwendungsbereich des Art. 241 EGV jedenfalls praktisch kein nennenswerter Raum. cc) Entscheidungserheblichkeit und Rechtsschutzbedürfnis Zentral für die Zulässigkeit der Inzidentrüge nach Art. 241 EGV ist fernerhin, dass das Ergebnis der Rechtmäßigkeitsprüfung hinsichtlich des hintergründigen Gegenstands gerade entscheidungserheblich für das Hauptverfahren ist1822. Hieran fehlt es, wenn die Sache auch ohne Klärung der Inzidentfrage spruchreif ist, diese also aus anderen rechtlichen oder tatsächlichen Gründen einer abschließenden Entscheidung zugeführt werden kann. Ist die zulässige Erhebung der Unanwendbarkeitsrüge auch an keine Frist gebunden1823, so bildet dafür die Voraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses ein besonderes Zugangshindernis, das sich vor allem dann als unüberwindbar erweisen kann, wenn der Normativakt gegenüber dem Rügenden bestandskräftig geworden ist, weil dieser die Möglichkeit einer fristgerechten und auch im Übrigen zulässigen Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV nicht wahrgenommen hat1824. Die Praxis des Gerichtshofs – auch – im Bereich des Art. 241 EGV kann dabei überraschen, da die Vorschrift die 1821 Zum Fall des Inzidentangriffs einer Entscheidung durch einen Mitgliedstaat im Vertragsverletzungsverfahren bereits EuGH, Rs. 156/77, Slg. 1978, 1881, Rn. 20 ff. (Kommission/Belgien); ferner EuGH, Rs. C-183/91, Slg. 1993, I-3131, Rn. 9 f. (Kommission/Griechenland); EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 58 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.); in Bezug auf ein Inzidentverfahren und allgemeiner, namentlich losgelöst von der Qualität des Klägers EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe); zum Fall des Angriffs einer Richtlinie (hier indes durch einen Individualkläger) s. EuGH, Rs. C-408/95, Slg. 1997, I-6315, Rn. 29 (Eurotunnel u. a./SeaFrance). In der Systematik der Sachentscheidungsvoraussetzungen dürfte es sich dabei um das Fehlen des Rechtsschutzbedürfnisses handeln, da der EuGH hier zumeist davon spricht, dass die Bestandskraft den Betreffenden „daran hindert“, die Rechtswidrigkeit geltend zu machen [EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 (Kommission/BCE); EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe)]. 1822 Dazu Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 EGV, Rn. 12. 1823 Vgl. schon Ehle, MDR 1964, 719. 1824 Vgl. insbesondere EuGH, Rs. C-188/92, Slg. 1994, I-833, Rn. 21 ff. (TWD Textilwerke Deggendorf).

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Unanwendbarkeitsrüge gerade „ungeachtet des Ablaufs“1825 der Anfechtungsfrist nach Art. 230 Abs. 5 EGV und eben nicht „unbeschadet“1826 oder noch deutlicher „unter Berücksichtigung“ jener Frist zulässt. Zur Rechtfertigung der im EG-Vertrag nicht geregelten Rügepräklusion führt der EuGH teleologisch neben den Erfordernissen einer geordneten Rechtspflege und der Verfahrensökonomie auch den durch die Festsetzung von Verfahrensfristen gewährleisteten Grundsatz der Rechtssicherheit an, welcher der Möglichkeit, rechtsverbindliche Gemeinschaftsakte zeitlich unbeschränkt in Frage zu stellen, entgegenstehen soll1827. Da in diesem Zusammenhang gerade den Mitgliedstaaten und einigen Gemeinschaftsorganen nach Art. 230 Abs. 2 EGV stets die Möglichkeit offen steht, gegen normative Handlungen Nichtigkeitsklage zu erheben, wird deren Rechtsschutzbedürfnis im Rahmen des Art. 241 EGV folglich ganz regelmäßig fehlen, so dass der Anwendungsbereich der Regelung insoweit leer läuft1828. dd) Folgen der zulässigen Rüge Wird die Rüge auch in der Sache erfolgreich erhoben, weil der betreffende Rechtsakt einen Mangel im Sinne des Art. 230 Abs. 2 EGV aufweist, so führt dies aufgrund des vordergründigen Zwecks des Art. 241 EGV, den Rechtsunterworfenen vor der Anwendung eines rechtswidrigen Normativrechtsakts zu schützen, ohne Letzteren als direkten Gegenstand des gerichtlichen Angriffs zuzulassen1829, allein zu einer Unanwendbarkeit des Aktes in dem anhängigen Verfahren1830, nicht aber zu seiner Aufhebung. Anders als bei der Nichtigkeitsklage beschränkt sich das inzidente Verdikt der Rechtswidrigkeit und der daraus folgenden Unanwendbarkeit demnach auf das Verhältnis inter partes1831. Auch wenn der Gerichtshof regelmäßig gewillt sein 1825 Auf Französisch: „Nonobstant l’expiration“; auf Englisch: „Notwithstanding the expiry“; auf Spanisch: „Aunque haya expirado“. Auch die anderen Vertragssprachen geben diesen Sinngehalt wieder, so dass eine sprachliche Textdivergenz nicht feststellbar ist. 1826 Vgl. dazu die Betrachtungen bei Busse, EuZW 2002, 715, 717 f. 1827 EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 61 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.). 1828 Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 241 EGV, Rn. 7, bezeichnet das in Art. 241 EGV vorgesehene Recht der betreffenden Parteien vor diesem Hintergrund als „leere Hülse“. 1829 Dazu ausführlicher Ortega, El acceso a la justicia, S. 139 ff. 1830 Vgl. schon EuGH, verb. Rsn. 31/61 und 33/62, Slg. 1962, 1029, 1042 (Wöhrmann und Lütticke); ebenso EuGH, verb. Rsn. 15–33, 52, 53, 57–109, 116, 117, 123, 132 und 135–137/73, Slg. 1974, 177, Rn. 38 (Kortner-Schots u. a./Rat, Kommission und Parlament); EuGH, verb. Rsn. 87/77, 130/77, 22/83, 9/84 und 10/84, Slg. 1985, 2523, Rn. 36 (Salerno u. a./Kommission und Rat).

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dürfte, sich im Interesse einer widerspruchsfreien Rechtsordnung in anderen Verfahren an dem Entscheidungsergebnis zu orientieren, darf er damit angesichts der nur beschränkten Bindungswirkung in einem anderen Rechtsstreit a priori auch zu einem abweichenden Ergebnis kommen1832. Dies gilt freilich erst recht, wenn die Inzidentrüge in der Sache keinen Erfolg hat. b) Neuralgie der inzidenten Normenkontrolle Obgleich das Inzidentverfahren nach Art. 241 EGV gerade als Kompensation für die Einschränkungen des Zugangs des Einzelnen zum Direktrechtsschutz in den Vertrag aufgenommen worden ist, steht es nur zum Teil im wirklichen Dienste eines effektiven Individualrechtsschutzes. Setzt nämlich die Inzidentrüge nach Art. 241 EGV die Zulässigkeit eines anderweitigen Hauptverfahrens gerade vor dem EuGH voraus, so erfüllt sie im Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft keine echte systemkomplettierende Rechtsschutzfunktion, sondern genau genommen nur eine ergänzende Hilfsfunktion. Der wesentliche Schwachpunkt des Rügerechts liegt mithin in seiner strengen Akzessorietät zur Existenz und Zulässigkeit einer anderen Verfahrensart begründet. Die Grenzen ihrer Rechtsschutztauglichkeit werden insbesondere mit Blick auf den hier besonders interessierenden primären Rechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte offenkundig. Bedarf eine Verordnung keiner individualbezogenen und direktklagefähigen Vollziehung, was etwa bei allgemein geltenden Verbotsvorschriften, ebenso aber bei gebietenden Verordnungsregelungen oder solchen, die bereits gewährte subjektive Rechtspositionen wieder entziehen1833, der Fall sein kann, fehlt es schon an der Möglichkeit, ein anderweitiges Hauptverfahren anzustrengen und hierüber eine 1831 So auch Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 11, Rn. 23 m. w. N., a. A. Busse, EuZW 2002, 715, 716, der dabei aber zu Unrecht davon ausgeht, auch der EuGH folge dem Ansatz einer Allgemeinwirkung seines Prüfungsergebnisses. Ebenfalls fehl geht hier der Verweis auf den Fall der Teilnichtigerklärung von im Gewand einer Verordnung ergangenen Sammelentscheidungen, da sich dort die Bindungswirkungen der Gerichtsentscheidung gerade nach Art. 231 EGV richtet und überdies Entscheidungen eben kein nach Art. 241 EGV rügefähiger Gegenstand sein können. 1832 Vgl. hierzu EuGH, verb. Rsn. C-432/98 P und C-433/98 P, Slg. 2000, I-8535, Rn. 21 f. (Rat/Chvatal u. a.). 1833 Vgl. dazu auch Nettesheim, JZ 2002, 928, 933. Dass es sich dabei nicht um ein theoretisches Problem handelt (in diesem Sinne aber noch Everling, DRiZ 1993, 5, 9), zeigen schon die vom EuGH entschiedenen Rechtssachen EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat) und EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425 (Kommission/Jégo-Quéré). Vgl. zu zwei weiteren Problemfeldern Gundel, VerwArch 2001, 81, 87 ff.

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inzidente Rechtmäßigkeitsprüfung bezüglich der eigentlich im Fokus des Rechtsschutzinteresses stehenden Verordnung herbeizuführen. Wenngleich hier auch noch der Weg über ein Verfahren auf Schadensersatz gegen die Gemeinschaft verbleibt, um die Rechtswidrigkeit der Verordnung nach Art. 241 EGV zu rügen, gilt doch zu bedenken, dass der klägerische Erfolg dabei an weitere Voraussetzungen geknüpft ist, welche von der betreffenden Partei wegen der Akzessorietät und des Erfordernisses der Entscheidungserheblichkeit der Inzidentrüge allesamt zusätzlich zu erfüllen sind. Zudem kann auch der Ausblick auf den idealen Verfahrensausgang dem Interesse des Einzelnen nicht hinreichend Genüge tun, ist das Rechtsbegehren doch dadurch gekennzeichnet, dass die Gültigkeit des allgemein geltenden, ausnahmsweise unmittelbar und subjektiv belastenden Rechtsakts im Vordergrund der zu klärenden Fragen steht, das Anliegen der Rechtswidrigkeitsfeststellung also nicht nur eine Zwischenstation im Rahmen eines weiterreichenden, einen anderen Gegenstand betreffenden Begehrens darstellt. Das eigentliche Interesse des Einzelnen, durch die gerichtliche Entscheidung nachhaltige Rechtssicherheit in Bezug auf die vom interessierenden Rechtsakt geprägte Rechtslage zu erlangen, wird angesichts der in der begrenzten Entscheidungsbindung zugrunde liegenden Wirkungsschwäche des Inzidentverfahrens nicht bedient. Jenes Charakteristikum ist damit neben der im Übrigen bestehenden Gefahr, durch Nichterhebung der Anfechtungsklage nach Art. 230 EGV wegen des etwaigen Eintritts der Bestandskraft der Verordnung mit der Rügemöglichkeit zu präkludieren, der wesentliche Schwachpunkt des Verfahrens nach Art. 241 EGV. Denn anstelle einer nach Art. 231 EGV gegenüber jedermann geltenden Nichtigerklärung des Akts kann der Kläger hier nur die auf den Einzelfall beschränkte Unanwendbarkeitsfeststellung erreichen. Nicht nur müsste der Kläger das Inzidentverfahren in einem anderen Hauptverfahren nochmals anstrengen, wenn es dort wieder entscheidend um die Rechtswidrigkeit der jeweiligen Verordnung ginge, er müsste sogar die Möglichkeit ins Kalkül ziehen, dass der EuGH in dem neuen Fall in Ermangelung einer Bindung an das Ergebnis seiner vorhergehenden Inzidententscheidungen – theoretisch – auch anders judizieren kann. 4. Vorabentscheidungsverfahren Das verfahrensrechtliche Pendant zu dem auf der zentralen Rechtsschutzebene angesiedelten Inzidentverfahren nach Art. 241 EGV bildet im dezentralen Systembereich das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV. Vor dem Hintergrund der ganz überwiegend indirekt ausgestalteten, namentlich in den Händen der Mitgliedstaaten liegenden Umsetzung und Vollziehung des Gemeinschaftsrechts sowie angesichts des zunehmenden Maßes an unmittelbar anwendbaren primären und sekundären Gemeinschaftsrechts-

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normen kommt dem Vorabentscheidungsverfahren im Geflecht der Rechtsschutzmöglichkeiten eine ganz zentrale Bedeutung zu1834, was sich freilich auch quantitativ in den Verfahrenszahlen widerspiegelt1835. Funktional soll es vor allem die einheitliche Auslegung und ordnungsgemäße Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die mitgliedstaatlichen Stellen absichern1836, indem es dem Auslegungs- und Verwerfungsmonopol des EuGH im Sinne der Letztverbindlichkeit seiner rechtlichen Würdigungen ein verfahrensrechtliches Werkzeug zur Seite stellt. Zugleich ermöglicht es dem EuGH die prätorische Weiterentwicklung des Rechtssystems1837 und dient nicht zuletzt dem Rechtsschutz des Einzelnen1838, soweit es von diesem als prozessuale Brücke zwischen den mitgliedstaatlichen Gerichten und dem EuGH genutzt werden kann1839. 1834 Dazu ausführlicher Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EURechtsschutz, § 10, Rn. 14 f. m. w. N. 1835 Seit 1994 überwiegt die Zahl der beim EuGH neu eingehenden Vorabentscheidungsverfahren regelmäßig gegenüber jener der anderen Verfahrensarten, so auch gegenüber den neu eingehenden Direktklagen (inklusive Gutachten). Im Jahre 2004 etwa waren unter den insgesamt 527 neuen Verfahren 249 Vorabentscheidungsverfahren und 220 Direktklagen (s. EuGH, Jahresbericht 2004, Luxemburg 2005, S. 191). 1836 So deutlich EuGH, Rs. 166/73, Slg. 1974, 33, Rn. 2 (Rheinmühlen Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel); EuGH, Rs. 107/76, Slg. 1977, 957, Rn. 5 (Hoffmann-La Roche); EUGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 15 (Foto-Frost); EuGH, Rs. C-337/95, Slg. 1997, I-6013, Rn. 25 (Parfums Christian Dior/Evora). s. dazu auch Fastenrath, in: FS Ress, S. 461, 462. Zu jener Funktion gehört auch die im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens mögliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane [dazu grundlegend EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 16 (Foto-Frost)]. 1837 Vgl. schon Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 17 f.; dazu aus neuerer Zeit auch Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 758. 1838 In diesem Sinne schon EuGH, Bericht über bestimmte Aspekte der Anwendung des Vertrages über die Europäische Union, 22. Mai 1995, Punkt 15 (Bericht veröffentlicht in: Tätigkeit des Gerichtshofs Nr. 15/1995, S. 12 ff.; ferner in EuGRZ 1995, 316 ff.); s. dazu ferner die Ausführungen des Präsidenten des EuGH Vassilios Skouris anlässlich seines Festvortrags „Rechtskulturen im Dialog – Über Verständnisse und Unverständnisse, Risiken und Chancen einer internationalen Rechtsordnung und Rechtsprechung“, auf dem Kongress „Globalisierung und Recht – Beiträge Japans und Deutschlands zu einer internationalen Rechtsordnung im 21. Jahrhundert“ anlässlich des „Deutschland in Japan“ – Jahres 2005/2006 (im Internet abrufbar unter www.tokyo-jura-kongress2005.de/_documents/skouris_de.pdf, S. 6 – letzter Besuch: 5. Juli 2007). s. zu dem Thema aus der Literatur insbesondere Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 18 ff.; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EGProzessrecht, Rn. 757; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 8. Zur funktionalen Entwicklung des Vorabentscheidungsverfahrens ausführlicher Basedow, RabelsZ 2002, 203, 208 ff. 1839 Grundlegend EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3, 24 (Van Gend & Loos); vgl. ferner EuGH, Rs. 228/92, Slg. 1994, I-1445, Rn. 27 (Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern).

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a) Wesentliche Voraussetzungen Für das Verfahren nach Art. 234 EGV sind insbesondere folgende Punkte bedeutsam. aa) Zuständigkeit, Verfahrensbeteiligte und deren Verfahrensstellung Das Vorabentscheidungsverfahren ist nicht kontradiktorisch ausgestaltet, sondern seinem Geiste nach auf eine unmittelbare Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH ausgelegt1840, und charakterisiert sich durch die arbeitsteilige Lösung eines Rechtsstreits, in welchem zunächst das mitgliedstaatliche Gericht den Sachverhalt aufklärt, die Entscheidungserheblichkeit gemeinschaftsrechtlicher Fragen feststellt und diese dem EuGH vorlegt, der sodann entscheidungsdienliche Antworten an die Hand gibt, welche das nationale Gericht letztlich seiner Entscheidung zugrunde legt. Als rein objektives Feststellungsverfahren1841, das ganz regelmäßig das mitgliedstaatliche Gerichtsverfahren suspendiert1842, unterliegt seine Zulässigkeit naturgemäß keinen direkten subjektiv-rechtlichen Anforderungen in Bezug auf die Parteien des Ausgangsverfahrens1843, was zugleich umgekehrt die eher schwache Ausgestaltung der Stellung derselben in dem derzeit noch allein vor dem EuGH1844 durchzuführenden Inzidentverfahren erklärt1845. Da die Beteiligten nämlich in Ermangelung eines echten Initiativrechts keine vollwertigen Prozessparteien sind, sondern vielmehr nur ein einmaliges Äußerungsrecht innehaben1846, dürfen sie – wie im Übrigen stets auch die Mitgliedstaaten und die Kommission1847 – zwar im 1840 EuGH, Rs. C-364/92, Slg. 1994, I-43, Rn. 9 (SAT Fluggesellschaft); vgl. dazu auch Hess, ZZP 1995, 59, 65; zum Ganzen näher auch Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 223 ff. 1841 Vgl. Middeke, in: Rengeling/Midekke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 12. 1842 Vgl. dazu Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 6; ebenso schon Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 39 f.; zu den Ausnahmen Hakenberg/Stix-Hackl, Handbuch zum Verfahren vor dem EuGH, S. 116. 1843 Indirekt müssen freilich die subjektiv-rechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Ausgangsverfahrens vorliegen. 1844 Gleichviel Art. 225 Abs. 3 EGV seit dem Vertrag von Nizza vorsieht, dass dem EuG durch Satzungsänderung auch für den Bereich des Art. 234 EGV bestimmte Sachgebiete zugewiesen werden können, wurde von dieser Entlastungsmöglichkeit für den EuGH noch kein Gebrauch gemacht. 1845 Hierzu schon Everling, DRiZ 1993, 5, 11. 1846 Vgl. EuGH, Rs. C-364/92, Slg. 1994, I-43, Rn. 9 (SAT Fluggesellschaft); ähnlich bereits EuGH, Rs., Slg. 1965, 1267, 1275 (Singer).

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Rahmen des schriftlichen Verfahrens innerhalb von zwei Monaten Schriftsätze einreichen und sich des Weiteren auch in der sich regelmäßig anschließenden mündlichen Verhandlung zu den relevanten Fragen äußern1848, jedoch ist ihnen das Stellen verfahrensrechtlich relevanter Anträge, etwa auf Wiederaufnahme des Verfahrens oder auf Auslegung des Vorabentscheidungsurteils, nicht gestattet1849. bb) Verfahrensgegenstand Gegenständlich muss es in der Vorlage ausweislich des Art. 234 Abs. 1 EGV um Fragen zur Auslegung des Vertrages, zur Gültigkeit oder Auslegung einer Organhandlung einschließlich jener der EZB oder aber zur Auslegung der Satzungen der vom Rat geschaffenen EG-Einrichtungen gehen, Letzteres indes nur, soweit die jeweilige Satzung diese Möglichkeit auch vorsieht1850. Art. 234 Abs. 1 lit. a) EGV betreffend enthält der Begriff des Vertrags nicht nur den Text des EGV samt seiner Anhänge und Protokolle im Sinne des Art. 311 EGV, sondern ebenso die Beitrittsverträge, das gemeinschaftsrechtliche Gewohnheitsrecht und insbesondere auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze1851. Zu den vorlagetauglichen Organhandlungen gehören alle sekundärrechtlichen typischen1852 oder atypischen1853, verbindlichen oder unverbindlichen1854 Akte der in Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV genannten Akteure mit Ausnahme der Entscheidungen des Gerichtshofs1855. Unerheblich ist, ob die jeweilige Handlung in den nationalen Vgl. Art. 23 EuGH-Satzung. Das Parlament, der Rat und die EZB können ebenfalls teilnehmen, sofern es in dem Verfahren um eine ihrer Maßnahmen geht. 1848 Ausführlicher zum Verfahrensablauf vor dem EuGH Hackspiel, in: Rengeling/Midekke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 21; dazu ferner schon Lenz, EuZW 1993, 10, 11. 1849 Dazu EuGH, Rs. C-116/96, Slg. 1998, I-1989, Rn. 6 ff. (REV Reisebüro Binder). 1850 Näher zu dieser Fallgruppe Middeke, in: Rengeling/Midekke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 35. Ihre praktische Relevanz konvergiert wohl gegen Null. 1851 Dazu ausführlicher Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EURechtsschutz, § 10, Rn. 28 f., der hier jedoch zu Unrecht bereits das Sekundärrecht nennt, fällt dieses doch gerade unter Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV. 1852 Gemeint sind jene i. S. d. Art. 249 EGV. 1853 Vgl. dazu EuGH, Rs. 9/73, Slg. 1973, 1135, Rn. 18 ff. (Schlüter); ferner EuGH, Rs. 59/75, Slg. 1976, 91, Rn. 19 f. (Manghera u. a.). Repliken sind in dem Inzidentverfahren daher nicht vorgesehen. 1854 Zum Fall einer Empfehlung etwa EuGH, Rs. C-188/91, Slg. 1993, I-363, Rn. 18 (Deutsche Shell). 1855 Dazu näher Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 34. 1847

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Rechtsordnungen unmittelbare Anwendung findet oder nicht1856. Außerdem sind auch völkerrechtliche Abkommen einer Vorlage zugänglich, sofern sie im Gemeinschaftsrecht Geltung beanspruchen1857. Obgleich Art. 234 EGV angesichts des Sinns und Zwecks des Vorabentscheidungsverfahrens eigentlich nur gemeinschaftsrechtliche Angelegenheiten in den Bereich der vorlagefähigen Materien einbeziehen dürfte, nimmt sich der EuGH darüber hinaus zur Vermeidung künftiger Auslegungsunterschiede ebenfalls einer Vorlage an, wenn rein innerstaatliche Sachverhalte regelnde nationale Vorschriften über die rechtliche Pflicht hinaus an gemeinschaftsrechtlichen Regelungen ausgerichtet worden sind, um beispielsweise zu verhindern, dass es zu Benachteiligungen der eigenen Staatsangehörigen oder aber zu Wettbewerbsverzerrungen kommt1858. cc) Vorlageberechtigung, Vorlageverpflichtung und Grenzen Art. 234 EGV stellt klar, dass nur die mitgliedstaatlichen Gerichte eine Vorlage zum EuGH bewirken dürfen und nach Art. 234 Abs. 3 EGV und nach Maßgabe der Rechtsprechung müssen. (1) Initiativberechtigung Im Geiste des gerichtlichen Dialogs, den das Vorabentscheidungsverfahren ermöglichen soll, sind allein die Gerichte der Mitgliedstaaten nach Art. 234 EGV vorlage- und damit initiativberechtigt. Gemeint sind hierbei nicht nur die Judikativstellen im formal-nationalrechtlichen Sinne unter Einschluss der Verfassungsgerichte1859, sondern unter Zugrundlegung eines rein gemeinschaftsrechtlichen1860, teils von organisationsrechtlichen, teils von funktionalen Kriterien geprägten Begriffsverständnisses all jene mitgliedstaatlichen Stellen, die über eine Streitigkeit grundsätzlich als unabhängige und durch oder aufgrund eines Gesetzes errichtete Instanzen mit obligatorischer, nicht nur fakultativer Gerichtsbarkeit im Rahmen eines streitigen Verfahrens durch die Anwendung von Rechtsnormen verbindlich entscheiden1861. Zur AusEuGH, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I.4025, Rn. 21 (Palmisani). Vgl. etwa EuGH, Rs. 104/81, Slg. 1982, 3641, Rn. 11 ff. (Kupferberg). 1858 Vgl. EuGH, Rs. C-28/95, Slg. 1997, I-4161, Rn. 32 (Leur-Bloem). Ausführlicher zur überschießenden Richtlinienumsetzung Hakenberg, RabelsZ 2002, 367, 378 f. 1859 Zur Vorlageberechtigung des BVerfG Mayer, EuR 2002, 239, 250 ff. 1860 So ausdrücklich z. B. EuGH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Rn. 23 (Dorsch Consult). 1861 St. Rspr., s. EuGH, Rs. 61/65, Slg. 1966, 584, 602 (Vaassen-Göbbels); EuGH, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545, Rn. 7 (Pretore di Salò/X); EuGH, Rs. 109/88, 1856 1857

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klammerung justizbehördlicher Tätigkeiten besteht das Recht jener Stellen zur Anrufung des EuGH jedoch nur dann, wenn das konkrete Ausgangsverfahren den anhängigen Rechtsstreit einer Entscheidung mit Judikativcharakter zuführen soll1862. Im Interesse der praktischen Wirksamkeit des Art. 234 EGV dürfen die mitgliedstaatlichen Vorschriften zum Prozess- und Verfahrensrecht die Vorlageberechtigung der so verstandenen Gerichte nicht beschränken1863. (2) Vorlageverpflichtungen Im Dienste des primären Ziels des Vorabentscheidungsverfahrens, das sich durch eine Etablierung unterschiedlicher nationaler, nicht im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht stehender Rechtsprechungslinien gefährdet sähe1864, ordnet Art. 234 Abs. 3 EGV für sämtliche mitgliedstaatlichen Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit innerstaatlichen Rechtsmitteln angegriffen werden können, ausdrücklich eine gerichtliche Vorlageverpflichtung an. Nach anfänglicher Unsicherheit, ob hiermit aus einem abstrakt-institutionellen Blickwinkel heraus nur die obersten mitgliedstaatlichen Gerichte gemeint sind oder aber losgelöst von der justitiellen Hierarchieordnung auf die konkret-verfahrensrechtliche Situation der Parteien abzustellen ist, hat der Gerichtshof sich nunmehr durch die in seinen jüngeren Urteilen anzutreffende ausdrückliche Differenzierung zwischen den obersten Gerichten einerseits und allen anderen letztinstanzlich entscheidenden Gerichten andererseits1865 der entsprechenden, bereits frühzeitig vorherrschenden AnSlg. 1989, 3199, Rn. 7 f. (Danfoß); EuGH, Rs. C-393/92, EuGH, Rs. C-111/94, Slg. 1995, I-3361, Rn. 9 (Job Centre); EuGH, Rs. C-54/96, Slg. 1997, I-4961, Rn. 23 (Dorsch Consult); EuGH, verb. Rsn.C-110/98 bis C-147/98, Slg. 2000, I-1577, Rn. 33 (Gabalfrisa u. a.); EuGH, Rs. C-195/98, Slg. 2000, I-10497, Rn. 24 (Österreichischer Gewerkschaftsbund); EuGH, Rs. C-516/99, Slg. 2002, I-4573, Rn. 34 (Schmid); EuGH, Rs. C-53/03, Slg. 2005, I-4609, Rn. 29 (Syfait u. a.). 1862 s. dazu EuGH, Rs. C-134/97, Slg. 1998, I-7023, Rn. 14 (Victoria Film); EuGH, Rs. C-195/98, Slg. 2000, I-10497, Rn. 25 (Österreichischer Gewerkschaftsbund); EuGH, Rs. C-53/03, Slg. 2005, I-4609, Rn. 29 (Syfait u. a.). Für eine Übersicht zu den mitgliedstaatlichen Stellen, die diese Kriterien erfüllen, s. Wägenbaur, EuZW 2000, 37, 38. 1863 So schon EuGH, Rs. 166/73, Slg. 1974, 33, Rn. 3 f. (Rheinmühlen Düsseldorf/Einfuhr- und Vorratsstelle für Getreide und Futtermittel). Zur darauf fußenden Möglichkeit der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf nationales Verfahrensrecht ausführlicher Oexle, NVwZ 2002, 1328 ff. 1864 s. etwa EuGH, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 29 (Intermodal Transtports) sowie davor EuGH, Rs. C-393/98, Slg. 2001, I-1327, Rn. 17 (Gomes Valente) m. w. N. 1865 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 14 f. (Lyckeskog); EuGH, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 30 (Intermodal Transtports).

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sicht des Schrifttums1866 angeschlossen. Unter den ebenfalls konsequent aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht zu determinierenden Begriff des Rechtsmittels1867 im Sinne des Art. 234 Abs. 3 EGV fallen alle ordentlichen Rechtsbehelfe, mittels derer vorinstanzliche Entscheidungen in rechtlicher und etwaig darüber hinaus in tatsächlicher Hinsicht überprüft werden können1868. Im deutschen Rechtssystem dürften neben der Berufung1869 und der Revision1870 schon mit Blick auf die jeweilige Devolutiv- und Suspensivwirkung auch die Nichtzulassungsbeschwerde1871 sowie der Antrag auf Zulassung der Berufung1872 zu den Rechtsmitteln im Sinne der Norm zählen1873. Des Weiteren hat der EuGH zur Sicherung seines Normverwerfungsmonopols über den geschriebenen Tatbestand des Art. 234 Abs. 3 EGV hinaus eine obligatorische Vorlage für jedes auch unterinstanzliche nationale Gericht postuliert, sofern dieses anlässlich eines bei ihm anhängigen Verfahrens zu der Auffassung gelangt, dass durchgreifende Gründe für die Ungültigkeit des relevanten Gemeinschaftsrechtsakts vorliegen und es den Rechtsakt daher unangewendet lassen will1874. Hält das Gericht aber umgekehrt den Rechtsakt für rechtsgültig, muss es keine Vorlage veranlassen, da die 1866 Ausführlicher zum betreffenden Streitstand Middeke, in: Rengeling/Midekke/ Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 57 m. w. N.; ferner Wegener, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 234 EGV, Rn. 19; ausführlicher dazu auch Schima, Vorabentscheidungsverfahren, S. 48 f. 1867 In der französischen Fassung: „recours juridictionnel“; in der englischen Fassung: „judicial remedy“. Zur autonomen Begriffsbestimmung bereits Lieber, Vorlagepflicht, S. 95 f. 1868 Dazu Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 42. 1869 §§ 511 ff. ZPO, §§ 124 ff. VwGO, §§ 312 ff. StPO. 1870 §§ 542 ff. ZPO, §§ 132 ff. VwGO, §§ 333 ff. StPO. 1871 Vgl. insbesondere § 544 ZPO und § 133 VwGO. Dazu deutlich BVerwG NVwZ-RR 1998, 752, Leitsatz 3: „Ein Rechtsmittel (i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV) stellt neben der Revision jedenfalls hinsichtlich revisiblen Rechts auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gem. § 133 VwGO dar.“ 1872 Vgl. § 124 a Abs. 4 und 5 VwGO. Möchte das OVG die Berufung nicht zulassen, entscheidet es angesichts des Umstands, dass der Ablehnungsbeschluss nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann, letztinstanzlich und ist daher i. S. d. Art. 234 Abs. 3 EGV zur Vorlage verpflichtet. 1873 Zu einem ähnlich gelagerten Fall betreffend das schwedische Verfahrensrecht s. EuGH, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839, Rn. 16 f. (Lyckeskog). 1874 Grundlegend EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 12 ff. (Foto-Frost); ferner jüngst wieder EuGH, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 30 (IATA und ELFAA). Die prätorisch begründete Vorlagepflicht ist auch unter den mitliedstaatlichen Gerichten anerkannt (vgl. etwa BVerfG, NJW 2001, 1267, ferner BVerwG, DVBl. 2005, S. 1383, 1386 f.). Kritisch in Bezug auf diese richterrechtlich begründete Vorlagepflicht GA Colomer, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-461/03, Rn. 35 ff., insb. 60 ff. (Gaston Schul Douane-expediteur), der für eine Übertragung der Grundsätze der CILFIT-Rechtsprechung auf jene Fallgruppe der Vorlagepflicht plädiert. Dem

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kohärente Existenz des Gemeinschaftsrechts hierdurch nicht in Frage gestellt wird1875. Dies gilt analog im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, wenn das dezentrale Gericht von der Vollziehung eines Gemeinschaftsaktes oder eines auf Gemeinschaftsrecht beruhenden nationalen Aktes im Interesse der Sicherung der Rechte des Einzelnen absehen möchte1876, da die gerichtliche Aussetzung oder die dem Gemeinschaftsakt widersprechende gerichtliche Anordnung nur vorläufig bis zu einer Entscheidung des Gerichtshofs ausgesprochen werden darf1877 und das Verwerfungsmonopol des EuGH dadurch nicht angetastet wird. (3) Grenzen der Vorlagepflicht Indessen erkennt der EuGH insbesondere aus prozessökonomischen Gründen auch einige Ausnahmen an, welche die Reichweite der Vorlagepflichten wieder begrenzen. So hat er die Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens schon früh für sinnlos erachtet, wenn die Vorlagefrage bereits in einem gleichgelagerten Fall Vorlagegegenstand gewesen ist1878. In ausdrücklicher Erweiterung dieser Ausnahme hält der EuGH seit seiner Entscheidung in der Rechtssache CILFIT1879 ein Absehen von der Vorlage ferner für möglich, wenn bereits eine gesicherte Rechtsprechung zu den aufzuwerfenden Fragen existiert und dies ungeachtet der Art des vorhergehenden Verfahrens und selbst dann, wenn die Fragen nicht ganz identisch sind1880. Allerdings möchte der EuGH die Anwendung dieser Ausnahmen hat der Gerichtshof jedoch eine klare Absage erteilt [vgl. EuGH, Rs. 461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 19 ff. (Gaston Schul Douane-expediteur)]. 1875 EuGH, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 29 (IATA und ELFAA) mit Verweis auf EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 14 (Foto-Frost). A. A. wohl Fastenrath, in: FS Ress, S. 461, 467 f., der auch insoweit einer Vorlageverpflichtung das Wort spricht. 1876 Zu dieser Befugnis EuGH, verb. Rsn. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 16 ff. (Zuckerfabrik Süderdithmarschen u. a.); ebenso EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 19 ff. (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft); s. zu dem Thema auch Hauser, VBl.BW 2001, 377 ff. und besonders ausführlich Wiehe, Effektiver vorläufiger Rechtsschutz beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht, S. 105 ff. 1877 s. EuGH, verb. Rsn. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 24 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen u. a.); EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 38, 51 (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft). Generell gegen eine Vorlagepflicht im einstweiligen Rechtsschutz etwa BVerfG, NVwZ 1992, 360; weniger direkt noch BVerfGE 82, 159, 195; offengelassen aber wieder in BVerfG, NVwZ 2002, 335, 337. 1878 EuGH, verb. Rsn. 28/62 bis 30/62, Slg. 1963, 63, 80 f. (Da Costa & Schaake u. a.). 1879 EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (CILFIT). 1880 EuGH, a. a. O., Rn. 14 (CILFIT).

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ausschließlich auf den Bereich solcher Rechtsfragen beschränkt wissen, die die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffen1881. Im Bereich des Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV darf ein nationales Gericht hingegen von der Ungültigkeit eines Gemeinschaftsrechtsakts nur dann ausgehen und demgemäß von einer Vorlage absehen, wenn der EuGH jenen Akt bereits für ungültig erklärt hat1882. Im Übrigen kann das nationale Gericht seine Fragen selbst dann – frei von einer Rechtspflicht – vorlegen, wenn es dies für opportun hält1883. Die fehlende Erforderlichkeit hat infolgedessen nicht zwingend die Unzulässigkeit der Vorlage zur Folge. Im Falle einer vorhergehenden Nichtigerklärung eines Rechtsakts beschränkt sich die fortbestehende Vorlagemöglichkeit indes im Wesentlichen auf offen gebliebene Fragen in Bezug auf die Ungültigkeitsgründe, -reichweite und -folgen1884. Ebenso soll es sich nach den Ausführungen des Gerichtshofs schließlich hinsichtlich der Erforderlichkeit der Vorlage verhalten, wenn die zutreffende Auslegung und Anwendung einer Gemeinschaftsrechtsnorm so offenkundig ist, dass keinerlei Raum für vernünftige Zweifel an der zutreffenden Beantwortung der das Gemeinschaftsrecht betreffenden Frage bestehen, was jedoch nur dann der Fall sein soll, wenn das nationale Gericht davon überzeugt ist, dass auch der EuGH und alle anderen mitgliedstaatlichen Gerichte zu der gleichen Gewissheit kämen1885. Angesichts dieser ganz erheblichen Rückeinschränkungen der Vorlagepflichtbegrenzung1886 und der deutlichen Warnung vor einer voreiligen und zu unbekümmerten Nutzung dieser so genannten acte-clair-Doktrin1887 erscheint fraglich, ob dieser im Felde der 1881 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 19 (Gaston Schul Douane-expediteur). 1882 s. dazu EuGH, Rs. 66/80, Slg. 1981, 1191, Rn. 13 ff. (International Chemical Corporation). 1883 EuGH, a. a. O., Rn. 15 (CILFIT). 1884 Dahingehend EuGH, a. a. O., Rn. 14 (International Chemical Corporation). 1885 EuGH, a. a. O., Rn. 16 (CILFIT). 1886 Der EuGH weist darüber hinaus ausdrücklich und warnend auf die besonderen Auslegungsschwierigkeiten im Gemeinschaftsrecht hin, die sich aus den Eigenheiten des Rechtssystems, insbesondere der Parallelität authentischer Vertragssprachen, der Autonomie gemeinschaftsrechtlicher Terminologien und dem Erfordernis einer weitreichenden systematischen und teleologischen Auslegung ergeben [s. EuGH, a. a. O., Rn. 17 ff. (CILFIT)]. Ausführlicher zur Normauslegung im Gemeinschaftsrecht schon in Teil 2 unter B. I. 1887 Der ursprünglich aus dem französischen Rechtssystem stammende Begriff wurde wohl erstmals verwendet bei Laferrière, Traité de la juridiction administrative et des recours contentieux I, S. 449 f. (s. Mayer, EuR 2002, 239, 246, Fn. 29). Zu seinem französischen Ursprung auch Lagrange, CMLR 1983, 313, 314. s. für einen ausführlichen Überblick über die Diskussion zur Doktrin Hummert, Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, S. 31 ff.

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Ausnahmen zu den gerichtlichen Vorlagepflichten überhaupt ein hinreichend praktikabler Anwendungsbereich verbleibt1888. Denn zur Ablehnung der exzeptionellen Befreiung von der Vorlageverpflichtung begnügte sich der EuGH in betreffenden Fällen zumeist mit einem kurzen Hinweis auf den Umstand, dass die Annahme, die Lösung der gemeinschaftsrechtlichen Frage lasse keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel, nicht gerechtfertigt sei1889. Gleichwohl entpuppt sich die hausgemachte acte-clair-Doktrin nicht schon deshalb als bloße Scheinausnahme zu den gemeinschaftsrechtlichen Kooperationspflichten der mitgliedstaatlichen Gerichte. Denn letztlich bleibt die Beurteilung, ob die richtige Anwendung des Gemeinschaftsrechts so offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel kein Raum bleibt, und die dem gemäße Entscheidung, von der Vorlage einer Auslegungsfrage zum Gerichtshof abzusehen, allein den nationalen Gerichten überlassen1890. In Abwesenheit einer Nichtvorlagebeschwerde oder einer eigenen Möglichkeit des EuGH, das Inzidentverfahren zu erzwingen, erscheint das hinter den restriktiven Vorgaben des EuGH stehende Ersuchen um einen umsichtigen Einsatz der acte-clair-Doktrin im Interesse der kohärenten Wirkung des Gemeinschaftsrechts daher berechtigt. Überdies sei klarstellend darauf hingewiesen, dass den genannten Ausnahmemöglichkeiten im Bereich der auf der Foto-Frost-Rechtsprechung des EuGH basierenden Vorlagepflichten kein sinnvoller Anwendungsbereich zukommen kann. Soweit nämlich das nationale Gericht von der Rechtswidrigkeit eines vom Gerichtshof bereits überprüften EG-Rechtsakts überzeugt ist und ihn deshalb nicht anwenden möchte, unterliegt es in Ermangelung einer eigenen Normverwerfungsbefugnis auch weiterhin der Vorlagepflicht1891. Geht das Gericht dagegen auf der Grundlage eines die Gültigkeit des gleichen oder eines ähnlichen Rechtsaktes bereits bestätigenden Judikats des EuGH von der Rechtmäßigkeit des Aktes aus, so stellt es die kohärente 1888 Insoweit kritisch schon Lenaerts, CDE, 1983, 471, 500; ferner Boulouis/Darmon, Contentieux communautaire, S. 27; s. dazu auch Hess, RabelsZ 2002, 470, 493 m. w. N. 1889 So etwa jüngst EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 118 (Köbler) zur Aufrechterhaltung eines bereits eingeleiteten und sodann wieder zurück genommenen Vorabentscheidungsverfahrens. 1890 So auch ausdrücklich EuGH, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 37 (Intermodal Transports) unter Hinweis auf EuGH, Rs. C-340/99, Slg. 2001, I-4109, Rn. 35 (TNT-Traco). Für einen zurückhaltenden Umgang mit der Doktrin daher etwa bereits Rasmussen, ELR 1984, S. 242, 259; für ihre der Entlastung des EuGH dienende Erweiterung hingegen etwa Hummert, Neubestimmung der acte-clair-Doktrin im Kooperationsverhältnis zwischen EG und Mitgliedstaat, S. 123 f. 1891 Ohne eine wesentliche tatsächliche oder rechtliche Abweichung des Falles zu dem zuvor entschiedenen wird der EuGH aber selten zu einer anderen rechtlichen Würdigung zur Gültigkeit des Aktes kommen.

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Geltung des Gemeinschaftsrechts nach wie vor nicht in Frage und hat mithin auch keine Veranlassung zur Einleitung eines Inzidentverfahrens. dd) Entscheidungserheblichkeit Schließlich ist eine Vorabentscheidung des EuGH aber nur dann einzuholen, wenn das nationale Gericht von Amts wegen oder auf Hinweis der Parteien1892 feststellt, dass es für seine Entscheidung auf eine der in Art. 234 Abs. 1 EGV genannten Fragen ankommt, die Klärung der Vorlagefrage für die eigene Streitlösung also erforderlich, da entscheidungserheblich ist1893. Dabei liegt es auf der Hand, dass das per se nur in Art. 234 Abs. 2 EGV erwähnte Erforderlichkeitsmerkmal auch im Bereich des Art. 234 Abs. 3 EGV Geltung beansprucht1894, letztere Regelung jene des zweiten Absatzes folglich nur um das Kriterium der Vorlagepflicht ergänzt1895. Da das Vorlageverfahren ein den mitgliedstaatlichen Gerichten dienendes Instrument bildet, ist es grundsätzlich auch allein deren Sache, jene Erforderlichkeit der Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens wie auch die Erheblichkeit der vorzulegenden Fragen im Übrigen zu beurteilen1896, so dass der EuGH grundsätzlich gehalten ist, die das Gemeinschaftsrecht betreffenden Fragen ohne eigene Prüfung dieser Punkte zu beantworten1897. Aufgrund des Beurteilungsspielraums der mitgliedstaatlichen Gerichte hängt die praktische Wirksamkeit des Art. 234 EGV in Abwesenheit prozessualer Möglichkeiten einer direkten Vorlageerzwingung auf der Gemeinschaftsebene1898 ganz maßgeblich von der Vorlagebereitschaft der nationalen Gerichte ab1899. EuGH, Rs. 126/80, Slg, 1981, 1563, Rn. 7 (Salonia); EuGH, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 30 (IATA et ELFAA). 1893 s. dazu EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, Rn. 10 (CILFIT); EuGH, Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513, Rn. 16 (Gaston Schul Douane-expediteur). 1894 Vgl. nur Lieber, Vorlagepflicht, S. 66. 1895 Ähnlich Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 47. 1896 Vgl. EuGH Rs. C-369/89, Slg. 1991, I-2971, Rn. 10. (Piageme); EuGH, verb. Rn. C-297/88 u. C-197/89, Slg. 1990, I-3763, Rn. 33 f. (Dzodzi); EuGH, Rs. C-130/95, Slg. 1997, I-4291, Rn. 20 (Giloy). EuGH, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I-4025, Rn. 18 (Palmisani). Zur Beurteilung des Erforderlichkeitskriteriums bei Offenkundigkeit auch EuGH, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 37 (Intermodal Transports). 1897 EuGH, Rs. C-231/89, Slg. 1990, I-4003, Rn. 20 (Gmurzynska-Bscher); EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 59 (Bosman); EuGH, Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Rn. 38 (Preußen Elektra); EuGH, Rs. C-390/99, Slg. 2002, I-607, Rn. 18 (Canal Satélite Digital); EuGH, Rs. C-445/01, Slg. 2003, I-1807, Rn. 21 (Simoncello und Boerio). 1898 Zur Möglichkeit der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a) GG wegen Entziehung des gesetzlichen Richters und ihren Grenzen sogleich unter c) bb) (2). 1892

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Umgekehrt kann der Gerichtshof in Ausnahmefällen aber zur Überprüfung seiner Zuständigkeit die näheren Gründe der objektiven Erforderlichkeit der Vorlage untersuchen1900 und eine sachliche Begutachtung wegen Unzulässigkeit ablehnen, wenn es offensichtlich ist, dass die erbetene Rechtsauslegung keinen Realitätsbezug oder keinen Zusammenhang zu dem originären Verfahrensgegenstand aufweist, oder wenn die vorgelegten Fragen rein hypothetischer Natur bzw. mit unzureichenden tatsächlichen oder rechtlichen Angaben unterfüttert sind1901. Im Interesse einer effizienten, auf justitieller Kooperation basierenden Aufgabenerfüllung und zur Vermeidung missbräuchlicher, da „konstruierter“ Vorlageverfahren1902 verlangt der Gerichtshof von dem vorlegenden Gericht zum einen eine möglichst erschöpfende und der Vorlage vorhergehende Sachverhaltsaufklärung1903 sowie zum anderen die Angabe der Gründe für die Notwendigkeit der Vorabentscheidung1904. ee) Keine relative Bestandskraft des Vorlagegegenstands Die Möglichkeit der nationalen Gerichte, den EuGH im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens in die Lösung des anhängigen Rechtsstreits einzubeziehen, stößt aber im Bereich der Gültigkeitsvorlagen an die Grenze des Gebots der Rechtssicherheit, wenn der betreffende Gemeinschaftsrechtsakt in Relation zu den Verfahrensparteien in Bestandskraft erwachsen ist1905. 1899 Dazu ausführlicher Lieber, Vorlagepflicht, S. 126 ff.; ferner Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 162. 1900 Vgl. EuGH, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 18 ff. (Foglia/Novello). 1901 Dazu u. a. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 61 (Bosman); EuGH, Rs. C-261/95, Slg. 1997, I-4025, Rn. 18 (Palmisani); EuGH, Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Rn. 39 (Preußen Elektra); EuGH, Rs. C-390/99, Slg. 2002, I-607, Rn. 19 (Canal Satélite Digital); EuGH, Rs. C-445/01, Slg. 2003, I-1807, Rn. 22 (Simoncello und Boerio). 1902 So ausdrücklich EuGH, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 18 (Foglia/Novello). 1903 s. dazu EuGH, verb. Rsn. 36/80 und 71/80, Slg. 1981, 735, Rn. 6 (Irish Creamery Milk Suppliers Association); EuGH, Rs. C-83/91, Slg. 1992, I-4871, Rn. 26 (Meilicke/ADV-ORGA). Gleichwohl liegt die vor allem von prozessökonomischen Gründen abhängende Entscheidung über den Zeitpunkt der Vorlage im Ermessen des nationalen Gerichts [so ausdrücklich EuGH, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545, Rn. 11 (Pretore di Salò/X)]. 1904 Vgl. EuGH, Rs. 101/96, Slg. 1996, I-3081, Rn. 6 (Testa); EuGH, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403, Rn. 31 (IATA et ELFAA). Eine Ausnahme besteht bei Aktenkundigkeit der Vorlagegründe [vgl. schon EuGH, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 17 (Foglia/Novello)]. 1905 Zu der dem Grundsatz der Rechtssicherheit dienenden Funktion der Bestandskraft und zum Umfang der gemeinschaftsrechtlichen Pflicht zur Aufhebung

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Nach der Rechtsprechung des EuGH ist dies zumindest dann der Fall, wenn die sich auf die Ungültigkeit berufende Partei Adressat oder unmittelbar und individuell Betroffener des interessierenden Gemeinschaftsakts ist, so dass sie diesen zweifellos mit der indes mittlerweile verfristeten Nichtigkeitsklage wirksam hätte anfechten können1906. Dies gilt auch für normative Akte und unter diesen insbesondere für Verordnungen, soweit sie einer Bestandskraft fähig sind1907. Selbst für Richtlinienbestimmungen erscheint dies nicht vollends ausgeschlossen1908. Anders dürfte der Fall aber liegen, wenn der Einzelne zumutbar erst bei oder nach dem Erlass des nationalen Akts Kenntnis von der Existenz des EG-Rechtsakts erlangen konnte1909. Überraschenderweise scheint der Gerichtshof die Ablehnung einer Vorabentscheidung jedoch nicht allein von dieser Beziehung des Verfahrensbeteiligten zu dem interessierenden Rechtsakt abhängig zu machen. Vielmehr kommt es nach seiner Ansicht wohl auch darauf an, dass die Vorlage der Gültigkeitsfrage gerade auf die Initiative jener Partei zurückgeht und nicht durch das nationale Gericht von Amts wegen erfolgt ist1910. ff) Urteilsbindungswirkung Hinsichtlich der Bindungswirkung eines Vorabentscheidungsurteils ist sowohl zwischen den von der Entscheidung tangierten Gerichtsverfahren als auch zwischen den einzelnen Vorlagegegenständen zu differenzieren. Alleiner nach nationalem Recht unangreifbar gewordenen Verwaltungsentscheidung s. EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837, Rn. 24 ff. (Kühne & Heitz); dazu näher Potacs, EuR 2004, 595 ff., insb. 602. 1906 Vgl. jüngst wieder EuGH, verb. Rsn. C-346/03 und C-529/03, Slg. 2006, I-1875, Rn. 31 (Atzeni u. a.). Ausführlicher dazu Pechstein/Kubicki, NJW 2006, 1825 ff. 1907 Vgl. EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe). Die Entscheidung EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 ff. (Kommission/BCE) legt aber nahe, dass dies nur für Verordnungen mit „Doppelnatur“ und mithin vor allem für Antidumpingverordnungen gilt. 1908 So wohl EuGH, Rs. C-408/95, Slg. 1997, I-6315, Rn. 29 ff. (Eurotunnel u. a./ SeaFrance). 1909 Dahingehend EuGH, Rs. 216/82, Slg. 1983, 2771, Rn. 7 ff. (Universität Hamburg). Ob dieser Fall verallgemeinerungsfähig ist und auch für Verordnungen gilt, erscheint wegen der in Art. 254 EGV vorgeschriebenen allgemeinen Veröffentlichung von Verordnungen im Amtsblatt der EG fraglich, zumal das subjektivierte Merkmal der Kenntnisnahme missbräuchlicher Handhabe Tür und Tor öffnen und daher keine objektive Gleichbehandlung im Rechtsschutzsystem erlauben würde. 1910 Insoweit unmissverständlich EuGH, Rs. C-222/04, Slg. 2006, I-289, Rn. 72 f. (Cassa di Risparmio di Firenze u. a.); der Gerichtshof spricht hier aber zu Unrecht von der Vorlage „auf Antrag eines Betroffenen“ (in französischer Fassung: „à la demande d’un sujet de droit“), steht dem Einzelnen doch gerade kein formelles Antragsrecht auf Einleitung des Verfahrens nach Art. 234 EGV zu.

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gemein lässt sich hierbei zunächst feststellen, dass der Vorabentscheidung grundsätzlich eine ex-tunc-Wirkung zukommt, dies gleichermaßen für Ungültigkeitsentscheidungen nach Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV1911 wie auch für Auslegungsentscheidungen nach Art. 234 Abs. 1 lit. a) EGV1912. Abweichungen von diesem Grundsatz sind ausnahmsweise bei in gutem Glauben begründeten Rechten und Rechtsverhältnissen aus Gründen der Rechtssicherheit möglich1913, wobei eine solche Einschränkung der temporalen Bindungswirkung der Entscheidung des Gerichtshofs sodann deutlich aus dem betreffenden Urteil selbst hervorgehen muss1914. Wie der Gerichtshof überdies schon frühzeitig betont hat, bindet die Vorabentscheidung zunächst nur das vorlegende Gericht in direkter Weise1915. Trotz dieser Bindung ist es derweil nicht daran gehindert, eine erneute Vorlage vorzunehmen, wenn es Unklarheiten zum Verständnis oder der Umsetzung der Auslegungsvorgaben des Gerichtshofs ausgeräumt wissen, eine vollkommen neue Rechtsfrage anbringen oder aber die Antwort zu der bereits vorgelegten Frage vor dem Hintergrund neu aufgetretener Gesichtspunkte nochmals in Frage stellen möchte1916. Soweit im Übrigen seit jeher uneinheitlich bewertet wird, ob den Vorabentscheidungen des EuGH über die Aussage ad rem auch eine Bindungswirkung ultra rem1917 zukommt1918, dürfte sich eine differenzierende Sichtweise anbieten. Aufgrund der ganz beträchtlichen präjudiziellen Wirkung, die einer Vorabentscheidung auch gerade funktional zuzugestehen ist, müssen auch andere Gerichte die Auslegungsergebnisse des EuGH beachten und jedenfalls die in Art. 234 Abs. 3 EGV genannten Gerichte eine erneute Vorlage anstrengen, wenn sie von der Rechtsprechung abweichen wollen1919. Erst recht gilt dies angesichts des So EuGH, Rs. C-228/92, Slg. 1994, I-1445, Rn. 17 (Roquette Frères/Hauptzollamt Geldern). 1912 Dazu bereits EuGH, Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 16 (Amministrazione delle finanze dello Stato/Denkavit italiana). 1913 Grundlegend EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455, Rn. 69 ff. (Defrenne/Sabena). 1914 Vgl. EuGH, Rs. 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 18 (Amministrazione delle finanze dello Stato/Denkavit italiana). 1915 So schon EuGH, Rs. 52/76, Slg. 1977, 163, Rn. 26/27 (Benedetti/Munari). 1916 Vgl. EuGH, Rs. 14/86, Slg. 1987, 2545, Rn. 12 (Pretore di Salò/X). 1917 Zu dieser angesichts der Rechtsnatur des Vorabentscheidungsverfahrens vorzugswürdigen Bezeichnung schon Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 172 und 175. 1918 Für eine überwiegende Wirkung inter partes (respektive ad rem) etwa schon Lagrange, RTDE 1974, 268, 295 f.; ähnlich Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 153 ff.; für eine Wirkung erga omnes (respektive ultra rem) schon Ehle, MDR 1964, 719, 720; Lutter, ZZP 1973, 107, 138; ausführlicher zum Streit Lieber, Vorlagepflicht, S. 120 ff. 1919 Vgl. dazu näher Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 89 m. w. N. 1911

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Normverwerfungsmonopols des EuGH für eine die Ungültigkeit eines Gemeinschaftsakts aussprechende Vorabentscheidung1920. Der umgekehrte Fall der Bestätigung der Rechtmäßigkeit einer Gemeinschaftshandlung hat demgegenüber allenfalls beschränkte Bindungswirkung, da ein Rechtsakt grundsätzlich die Vermutung seiner Gültigkeit in sich trägt1921 und der Tenor einer diese bestätigenden Vorabentscheidung stets darauf beschränkt wird, dass die Prüfung nichts ergeben habe, was die Gültigkeit des gegenständlichen Gemeinschaftsakts beeinträchtigen könne1922. b) Wesentliche neuralgische Punkte des Vorabentscheidungsverfahrens Vor dem Hintergrund der vorwiegend dezentralen Rechtsvollziehung durch die Mitgliedstaaten liegt die mit dem Instrument des Art. 234 EGV visierte Wahrung der Kohärenz des inhaltlichen Verständnisses und der Fortentwicklung der Gemeinschaftsrechtsordnung und ihrer ebenso einheitlichen Anwendung mit Blick auf die exklusiv ausgestaltete Vorlageberechtigung maßgeblich in den Händen der mitgliedstaatlichen Gerichte, mit deren Initiativbereitschaft die praktische Wirksamkeit des Vorabentscheidungsverfahrens steht und fällt1923. Die erste hiermit verbundene Schwäche des Inzidentverfahrens besteht daher in der Gefahr, dass die innerstaatlichen Gerichte allzu leicht zu Umgehungsversuchen ihrer Vorlagepflicht ansetzen könnten, dies schon allein in Anbetracht der Dauer des ausgelagerten Inzidentverfahrens1924. Es liegt nicht fern, dass so mancher gerichtlicher Spruchkörper unterer Instanz trotz gemeinschaftsrechtlicher Brisanz des Falles also schon mit Blick auf die zu erwartende Verzögerung und das Dahingehend bereits EuGH, Rs. 66/80, Slg. 1981, 1191, Rn. 13 ff. (International Chemical Corporation), auch wenn der Gerichtshof hier (in Rn. 13) in eher missglückter Weise davon spricht, dass seine inzidente Ungültigerklärung für jedes andere Gericht einen ausreichenden Grund dafür darstelle, den Akt ebenfalls als ungültig anzusehen. 1921 Dazu ausdrücklich EuGH, Rs. C-137/92, Slg. 1994, I-2555, Rn. 48 (Kommission/BASF u. a.). 1922 So jüngst in Bezug auf eine Richtlinienbestimmung EuGH, Rs. C-479/04, Slg. 2006, I-8089, Rn. 82 (Laserdisken); ebenso bezüglich einer Verordnungsbestimmung wieder EuGH, Rs. C-14/05, Sl. 2006, I-6763, Rn. 28 (Anagram International). 1923 Ähnlich Haltern, VerwArch 2005, 311, 314. Ausführlicher zu dieser Relevanz Tridimas, CMLR 2003, 9 ff. 1924 s. dazu näher Scorey, ELR 1996, 224 ff.; ferner Gerven, ELR 1996, 211 ff. Ob und inwieweit die Gefahr tatsächlich besteht oder aber eher theoretischer Natur ist, lässt sich nur schwerlich empirisch feststellen. So wird dem entgegen auf der anderen Seite gerade der überwältigende Erfolg des Vorabentscheidungsverfahrens betont (s. etwa Haltern, VerwArch 2005, 311, 314 f.). 1920

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selbst zu absolvierende Pensum auf die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens verzichtet. Drängt das Gericht erfolgreich auf eine Verfahrensbeendigung durch Vergleich, so wird die Kohärenz des Gemeinschaftsrechts dabei zwar noch nicht gefährdet. Anders dürfte die Sache aber liegen, wenn das Gericht die Vorlage in die nächste Instanz „vertagt“. Wird in diesem Fall kein Rechtsmittel eingelegt und kommt es somit nicht zu einer Vorlage zum EuGH, kann ein die Einheitlichkeit des Gemeinschaftsrechts berührendes Judikat letztlich in Rechtskraft erwachsen, obwohl doch genau dem das Verfahren nach Art. 234 EGV entgegensteuern will. Darüber hinaus trägt auch die auf der CILFIT-Rechtsprechung basierende acte-clairDoktrin ein gewisses Gefahrenpotential in sich, da deren richtige Anwendung zunächst nur von den höheren innerstaatlichen Instanzen und letztlich von der Verfassungsgerichtsbarkeit, mangels eigenen Rechts, das Verfahren an sich zu ziehen, aber nicht vom EuGH überprüft werden kann. Auch in Abwesenheit eines zentralen Kontrollmechanismus oder gerade wegen derselben sollten sich die mitgliedstaatlichen Gerichte im Interesse der einheitlichen Geltung der EG-Rechtsordnung von dem Gedanken „in dubio pro interrogatione“ leiten lassen1925. Besonders problematisch erscheint zudem, dass der Einzelne nach den Bestimmungen des Art. 234 EGV keinen eigenen verbindlichen Antrag auf Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens stellen kann1926, gleichviel, ob in dem betreffenden Fall individualschützende Gemeinschaftsrechte unmittelbar im Spiel sind oder vom Staat gewährte subjektive Rechte durch das EG-Recht beeinträchtigt werden. Da das Vorlageverfahren streng betrachtet allein zwischen dem mitgliedstaatlichen Gericht und dem Gerichtshof stattfindet1927, kann es nicht ohne Bedenken in die Riege der echten prozessualen Möglichkeiten zur Erlangung primären Individualrechtsschutzes im eingangs beschriebenen Sinne eingereiht werden, zumal den Parteien des Ausgangsstreits aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht nicht einmal innerprozessual ein Recht einzuräumen ist, gegen den Inhalt und die Form des gerichtlichen Vorlagersuchens vorgehen zu können1928. Dass der EuGH keine gemeinschaftsrechtlichen Einwände gegen die potentielle Angreifbar1925 Dazu Everling, Vorabentscheidungsverfahren, S. 50, der vom Grundsatz „in dubio pro praesentatione“ spricht. 1926 s. nur EuGH, verb. Rsn. 31/62 u. 33/62, Slg. 1962, 1029, 1042 (Wöhrmann und Sohn). 1927 Vgl. dazu nochmals Hess, ZZP 1995, 59, 65. 1928 Vgl. Hess, RabelsZ 2002, 470, 500. Zu dem hieraus resultierenden Spannungsverhältnis zwischen der kooperativen Verbindung der Gerichte und den Verfahrens(grund)rechten der originär Verfahrensbeteiligten Brück, Vorabentscheidungsverfahren, 41 ff. Nach Basedow, RabelsZ 2002, 203, 212, trägt das Verfahren nach Art. 234 EuGH vor diesem Hintergrund „paternalistische Züge“.

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keit einer positiven Vorlageentscheidung des mitgliedstaatlichen Gerichts nach nationalem Recht gefunden hat1929, ändert an dieser Beurteilung nichts, basiert diese Beurteilung des Gerichtshofs doch maßgeblich auf der zu wahrenden Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten1930. c) Rechtsschutzmöglichkeiten im Falle einer pflichtwidrigen Nichtvorlage Im unmittelbaren Zusammenhang zur Abwesenheit eines echten Individualinitiativrechts und der nur durch die Prinzipien der praktischen Wirksamkeit und der Äquivalenz begrenzten Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten steht schließlich die Folgefrage, ob und wie gegen das pflichtwidrige Unterlassen der Vorlage effektiv und dem Rechtsschutzbedürfnis des Einzelnen entsprechend vorgegangen und letztlich eine Vorlage wirksam erzwungen werden kann. Denkbare prozessuale Vorgehensweisen sind sowohl auf der zentralen als auch auf der dezentralen sowie auf der konventionsrechtlichen Ebene angesiedelt. aa) Entfernte Rechtsschutzmöglichkeit gegen die Nichtvorlage auf der zentralen Rechtsschutzebene: Anregung eines Vertragsverletzungsverfahrens Sofern die Nichtvorlage eines nationalen Gerichts gegen die gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen aus Art. 234 EGV, flankiert durch den Grundsatz der Gemeinschaftstreue aus Art. 10 EGV, verstößt, ist es zwar möglich, gegen diesen Verstoß im Wege des Vertragsverletzungsverfahrens nach den Art. 226 und 227 EGV vorzugehen1931, da ein Gemeinschaftsrechtsverstoß grundsätzlich unabhängig von der Frage, ob das rechtswidrige Verhalten einem etwaig auch verfassungsmäßig unabhängigen Staatsorgan zuzurechnen ist, festgestellt werden kann1932. Jedoch sind zur Erhebung einer solchen Klage ausschließlich die Kommission und die Mitgliedstaaten berechtigt1933. Dem Einzelnen bleibt hier allein die Möglichkeit, eine der Vgl. schon EuGH, Rs. 13/61, Slg. 1962, 89, 110 (Bosch u. a.). So zutreffend GA Roemer, Schlussanträge zu EuGH, Rs. 31/68, Slg. 1970, 403, 409 (Chanel). 1931 Zur Vertragsverletzungsqualität einer Missachtung der Vorlagepflicht etwa Lipp, NJW 2001, 2657, 2658. 1932 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-129/00, Slg. 2003, I-14637, Rn. 29 (Kommission/Italien). 1933 Dazu näher Burgi in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 6, Rn. 8. 1929 1930

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klageberechtigten Stellen zur Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens anzuregen1934. Dabei scheidet freilich die Anregung des Mitgliedstaats, dessen Gericht nicht vorgelegt hat, von vornherein aus, da dieser sich – ungeachtet seiner im Übrigen diametral entgegenstehenden Interessenposition – schon verfahrensrechtlich nicht selbst vor dem EuGH der Vertragsverletzung bezichtigen kann, nach Maßgabe des Art. 227 Abs. 1 EGV vielmehr stets ein „anderer Mitgliedstaat“ Zurechnungssubjekt der behaupteten Vertragsverletzung sein muss. Aber auch die Anregung eines anderen Mitgliedstaats zur Verfahrenseinleitung wäre offenkundig ohne Erfolgsaussichten. Ist schon die praktische Bedeutung des Art. 227 EGV im Verfahrenssystem der Gemeinschaft bislang eher marginal1935, so dürfte ein Mitgliedstaat mangels eigener Betroffenheit von der Nichtvorlage und aus dem Bedürfnis politischer Rücksichtnahme heraus ganz regelmäßig auch frei von jedwedem Interesse an der Verurteilung des anderen Mitgliedstaats wegen der betreffenden Vertragsverletzung sein1936. Indessen verspricht auch ein Vorgehen des Einzelnen gegenüber der Kommission nicht mehr Erfolg1937. Da diese praktisch selten aus eigener Initiative Kenntnis von der Vertragsverletzung erlangen kann und daher für eine effektive Nutzung des Aufsichtsklageverfahrens gemäß Art. 226 EGV gerade auf entsprechende Individualbeschwerden angewiesen ist1938, kann sie nicht zuletzt mit Blick auf ihre Rolle als „Hüterin des Vertrages“ im Sinne des Art. 211 EGV zwar durchaus ein greifbares Interesse, von einem 1934 Ein verfahrensrechtlich abgesichertes Antragsrecht besteht grundsätzlich auch hier nicht. 1935 Vor dem Gerichtshof waren bislang nur wenige, namentlich – soweit ersichtlich – fünf Streitigkeiten zwischen Mitgliedstaaten anhängig. Zwei Verfahren wurden aufgrund einer Klagerücknahme eingestellt und aus dem Register gestrichen [s. EuGH, Rs. 58/77, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, (Irland/Frankreich) und EuGH, Rs. C-349/92, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht (Spanien/Vereinigtes Königreich)]. In drei Fällen führte das Verfahren zu einem Urteil des Gerichtshofs [so bei EuGH, Rs. 141/78, Slg. 1979, 2923 (Frankreich/Vereinigtes Königreich), bei EuGH, Rs. C-388/95 Slg. 2000, I3123 (Belgien/Spanien) und jüngst bei EuGH, C-145/04, Slg. 2006, I-7917 (Spanien/Vereinigtes Königreich)]. 1936 Im Gegenteil dürften die anderen Mitgliedstaaten eher daran interessiert sein, eine eigene Verletzung der Vorlagepflicht in der Zukunft nicht (auch) im Vertragsverletzungsverfahren behandelt zu sehen, so dass ihr Interesse also gerade der Vermeidung einer „denunziatorischen“ Atmosphäre zwischen den Mitgliedstaaten gelten dürfte. 1937 So auch Nowak, in: ders./Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47, 61 m. w. N. 1938 Die Kommission trägt diesem Umstand Rechnung, indem sie ein Beschwerdeformblatt bereit hält, das dem Einzelnen die Eingabe der Vertragsverletzung erleichtern soll (das Formblatt ist im Internet abrufbar unter www.ec.europa.eu/ community_law/complaints/form/index_de.htm – letzter Besuch: 6. Juli 2007).

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möglicherweise unionsrechtswidrigen mitgliedstaatlichen Verhalten zu erfahren und hiergegen vorzugehen, haben. Doch führt auch eine an sie adressierte Anzeige des Rechtsverstoßes keineswegs automatisch zur Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens. Denn in erster Linie muss die Kommission nach Art. 226 Abs. 1 EGV hierfür vom Vorliegen der Vertragsverletzung „überzeugt“ sein. Ein Fürmöglichhalten der Vertragsverletzung oder bloße Zweifel an der unionsrechtlichen Konformität des mitgliedstaatlichen Verhaltens genügen dabei nicht1939. Zudem hätte sie im Falle der Einleitung des gerichtlichen Verfahrens als klagende Partei schließlich die Vertragsverletzung zu beweisen1940. Mit Blick auf das Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit bedarf es hierfür nach Ansicht der Kommission auch der Überzeugung, dass die betreffenden mitgliedstaatlichen Gerichte Art. 234 EGV systematisch und vorsätzlich vernachlässigen1941. Schon diese Hürde zu nehmen, dürfte für den Individualrechtsschutzsuchenden in der Praxis kein Leichtes sein. Sollte es dem Einzelnen trotz des den mitgliedstaatlichen Gerichten zugestandenen Spielraums bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer Vorlage gelingen, die Kommission von einem Verstoß gegen Art. 234 EGV zu überzeugen, tut sich anschließend sogleich die nächste Barriere auf. Könnte die Kommission nämlich im Falle der Überzeugung von einer Vertragsverletzung nach Art. 226 Abs. 1 EGV noch zur Einleitung des Vorverfahrens1942 verpflichtet sein1943, so liegt ihre spätere Entscheidung, ob sie anschließend – in der zweiten Phase des Verfahrens – auch eine Klage zum EuGH anstrengen wird, ausweislich des hier eindeutigen Wortlauts der Vorschrift in ihrem pflichtgemäßen Ermessen1944. Insoweit fehlt es aber an einer prozesVgl. Burgi in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 6, Rn. 8. Vgl. EuGH, Rs. C-249/88, Slg. 1991, I-1275, Rn. 6 (Kommission/Belgien); EuGH, Rs. C-119/92, Slg. 1994, I-393, Rn. 37 (Kommission/Italien). 1941 So die Erklärung der Kommission auf eine parlamentarische Anfrage aus dem Jahre 1983 (vgl. ABl. EG 1983, C 268/25). Vgl. dazu ausführlicher Gaitanides, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 70 m. w. N. 1942 Zur ordnungsgemäßen Durchführung des Vorverfahrens ausführlich Burgi in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 6, Rn. 9 ff. 1943 Für eine solche Pflicht zur Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens spricht zwar der Wortlaut der Norm, gleichwohl ist schon dies in der Literatur streitig und wird mit Verweis auf mögliche Bagatellfälle und die Vermeidung der Überlastung der Kommission und des EuGH vorwiegend verneint (s. zum Streit Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 40 ff.). Auch der Gerichtshof lehnt eine solche Pflicht in mittlerweile konstanter Rechtsprechung ab [vgl. etwa EuGH, Rs. 247/87, Slg. 1989, 291, Rn. 11 (StarFruit/Kommission); EuGH, Rs. C-422/97 P, Slg. 1998, I-4913, Rn. 42 (Sateba); EuG, Rs. T-202/02, Slg. 2004, II-181, Rn. 46 (Makedoniko Metro und Michaniki/Kommission)]. 1944 Ganz h. M., vgl. nur Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 226 EGV, Rn. 43 m. w. N. 1939 1940

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sualen Möglichkeit, die vollständige Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission zu erzwingen. Eine Untätigkeitsklage nach Art. 232 Abs. 3 EGV wäre gegenüber der Nichtigkeitsklage gegen den Beschluss der Kommission zur Einstellung des Verfahrens subsidiär. Aufgrund des ihr zustehenden Ermessensspielraums, der individualrechtliche Belange nicht berührt, darf der Einzelne aber auch die Entscheidung der Kommission, das Vertragsverletzungsverfahren nicht weiter zu betreiben, nicht vor dem Gemeinschaftsrichter anfechten1945. Sofern in diesem Zusammenhang noch die Möglichkeit zu erwägen sein kann, die Kommissionsuntätigkeit zum Gegenstand einer Beschwerde vor dem Bürgerbeauftragten gemäß Art. 195 EGV zu machen1946, verspricht diese ebenfalls wegen der fehlenden Drittgerichtetheit der Kommissionsentscheidung keine hinreichenden Erfolgsaussichten, zumal eine solche Eingabe dem hier im Raum stehenden Interesse des Einzelnen an der Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens in Anbetracht der Verfahrenslänge und der recht schwachen Befugnisse des Ombudsmanns nicht gerecht werden können. Mit Blick auf die Belange des Individualrechtsschutzes erschöpfen sich die punktuellen Schwächen des Vertragsverletzungsverfahrens hierin zudem noch nicht. Denn selbst wenn dieses einmal erfolgreich durchgeführt würde, erginge am Ende „nur“ ein seiner Rechtsnatur nach nicht vollstreckbares Feststellungsurteil und kein Leistungs- oder Gestaltungsurteil. Die Verpflichtung zur Vornahme der nach dem Urteil erforderlichen Maßnahmen wäre vielmehr allein die Konsequenz des Art. 228 Abs. 1 EGV und obläge insbesondere den durch die Entscheidung in ihrem Tätigkeitskreis berührten innerstaatlichen Stellen1947. Nähme der betreffende Mitgliedstaat nicht sofort die für ein schnellstmögliches Einstellen der Vertragsverletzung erforderlichen Maßnahmen in Angriff1948 und entspräche er folglich nach Ansicht der Kommission nicht seinen Verpflichtungen aus dem Urteil, könnte diese1949, gleichviel das mitgliedstaatliche Verhalten im Hinblick auf Art. 228 Abs. 1 EGV erneut vertragswidrig ist, nicht sogleich ein zweites Vertragsverletzungsverfahren einleiten, sondern müsste den Mitglied1945 Vgl. EuGH, Rs. 247/87, Slg. 1989, 291, Rn. 11 f. (StarFruit/Kommission); EuGH, Rs. C-87/89, Slg. 1990, I-1981, Rn. 6 f. (Sonito u. a.); EuGH, Rs. C-422/97 P, Slg. 1998, I-4913, Rn. 42 (Sateba). 1946 Zu dieser Möglichkeit Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 195 EGV, Rn. 4 ff. 1947 Dazu schon EuGH, Rs. 314/81, Slg. 1981, 4337, Rn. 14 (Procureur de la République/Waterkeyn). 1948 Zum zeitlichen Kriterium erstmals EuGH, Rs. C-101/91, Slg. 1993, I-191, Rn. 20 (Kommission/Italien); s. auch EuGH, Rs. C-387/97, Slg. 2000, I-5047, Rn. 82 (Komission/Griechenland). 1949 Auch insoweit obliegt der Kommission jedoch eine nicht justitiable Ermessensentscheidung.

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staat nach Art. 228 Abs. 2 UAbs. 1 EGV zunächst abmahnen und diesem nach der Anhörung eine mit Gründen versehene Stellungnahme zusenden, in der sie unter Festsetzung einer Handlungsfrist zur Vornahme der unerlassenen Urteilsumsetzung aufzufordern hätte. Erst danach kann die Kommission eine weitere Vertragsverletzungsklage vor dem EuGH anstrengen und anlässlich dieser nach Art. 228 Abs. 2 UAbs. 2 S. 2 EGV als Druckmittel die Zahlung eines Pauschalbetrags oder Zwangsgeldes beantragen1950, deren Höhe sich im Interesse der Transparenz, Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit vornehmlich nach den Grundkriterien der Dauer und Schwere des Verstoßes sowie der Zahlungsfähigkeit des betreffenden Mitgliedstaats zu richten hat1951. Obgleich sich diese finanzielle Sanktionsmöglichkeit im Falle ihrer konsequenten Nutzung funktional rasch von einem spezial-repressiven zu einem general-präventiven Mittel weiterentwickeln und so schon im Vorfeld erheblich zur einheitlichen Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts beitragen kann1952, stellt das Vertragsverletzungsverfahren angesichts der Notwendigkeit der Anregung der Kommission zur Durchführung des Vertragsverletzungsverfahrens samt des obligatorischen mehrstufigen Vorverfahrens doch in toto einen äußerst mühsamen, langwierigen und letztlich ungeeigneten Weg für den Einzelnen dar, gegen die Verletzung der hier in Frage stehenden Vorlagepflicht eines mitgliedstaatlichen Gerichts vorzugehen1953. Neben diesen Bedenken erscheint das Vertragsverletzungsverfahren noch aus zwei weiteren Gründen kein adäquates Mittel des Individualrechtsschutzes. Zum einen würde sich das Verfahren nämlich stets gegen den durch seine Regierung vertretenen Mitgliedstaat richten, die ihrerseits aber angesichts des Staatsprinzips der Gewaltenteilung und der weitreichenden Unabhängigkeit des Richters keine rechte Handhabe hat, das omittierende Gericht zur Vorlage zu zwingen. Hinzu tritt, dass das mitgliedstaatliche Gerichtsverfahren in der Zwischenzeit ganz regelmäßig rechtskräftig abgeschlossen sein wird und es sodann aufgrund der weitreichenden Verfahrens1950 Zu solch einem Fall schon EuGH, Rs. C-387/97, Slg. 2000, I-5047, Rn. 79 ff. (Komission/Griechenland); s. ferner jüngst EuGH, Rs. C-177/04, Slg. 2006, I-2461, Rn. 57 ff. (Kommission/Frankreich). 1951 Zur Berechnungsmethode EuGH, Rs. C-387/97, Slg. 2000, I-5047, Rn. 79 ff. (Komission/Griechenland). s. dazu ferner EuGH, Rs. C-304/02, Slg. 2005, I-6263, Rn. 104 (Kommission/Frankreich), wonach die Anwendung dieser Kriterien unter Berücksichtigung der öffentlichen und privaten Interessen und der Dringlichkeit der Unterlassung der Vertragsverletzung zu erfolgen hat. Vor diesem Hintergrund dürfte sich trotz der einfacheren Praktikabilität der Festsetzung eines Pauschalbetrags letztlich das Zwangsgeld als das probatere Druckmittel durchsetzen. 1952 Ähnlich Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, EUV/EGV, Art. 228 EGV, Rn. 36. 1953 Näher zu den Schwächen des Verfahrens nach Art. 226 EGV Haltern, VerwArch 2005, 311, 313 f.

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autonomie der Mitgliedstaaten1954 vom innerstaatlichen Prozessrecht abhängt, ob die Rechtskraft der letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung überhaupt wieder in Frage gestellt werden kann1955. bb) Rechtsbehelfe gegen die pflichtwidrige Nichtvorlage im Rahmen der nationalen Gerichtsbarkeit Als wirksamere Mittel könnten sich hingegen ordentliche oder außerordentliche Rechtsbehelfe auf der dezentralen Rechtsschutzebene erweisen1956. (1) Ordentliche Rechtsbehelfsmöglichkeiten Unter den in Betracht kommenden ordentlichen Rechtsbehelfen befinden sich mit speziellem Blick auf die deutschen Verfahrensordnungen primär die gegen eine gerichtliche Endentscheidung möglichen Rechtsmittel der Beschwerde1957, der Berufung und der Revision. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH ist zudem eine erneute Initiative gegenüber den zuständigen Verwaltungsträgern denkbar. Aber auch der Gang über die sekundäre Rechtsschutzebene kann dem Rechtsschutzbegehren des Einzelnen in gewissem Umfang entsprechen. (a) Primärer Rechtsschutz Das Rechtsmittel der Beschwerde, das grundsätzlich gegen Gerichtsentscheidungen ohne Urteilsqualität statthaft ist, hilft dem Einzelnen hier zu1954 Zum Fall der Aufhebung einer bestandskräftigen Verwaltungsentscheidung s. EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837, Rn. 24 ff. (Kühne & Heitz); zur Bedeutung der Rechtskraft einer Gerichtsentscheidung EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 38 (Köbler); zu fehlenden Pflicht zur nochmaligen Prüfung und Aufhebung einer rechtskräftigen Gerichtsentscheidung EuGH, Rs. C-234/04, Slg. 2006, I-2585, Rn. 20 ff. (Kapferer). 1955 In der deutschen Rechtsordnung ist eine Wiederaufnahmeklage, etwa in Form der Restitutionsklage nach § 580 ZPO (ggf. i. V. m. § 153 VwGO), nach ganz h. M. mangels Vorliegens eines Restitutionsgrundes unzulässig (vgl. schon BFH, DVBl. 1978, 501 f.; vgl. aus der Literatur etwa Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 147; Schmidt, in: FS Lüke, S. 721, 738; a. A. etwa Meier, EuZW 1991, 11, 14 f., der unter Hinweis auf das Gebot der Gemeinschaftstreue für eine analoge Anwendung der Restitutionsklage plädiert). 1956 Die folgenden Erwägungen beziehen sich im Wesentlichen auf die Rechtsschutzmöglichkeiten im Bereich des deutschen Verfahrensrechts, können aber im Falle der Existenz vergleichbar ausgestalteter Verfahrenselemente in den anderen mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsystemen entsprechend gelten. 1957 Im Bereich der ZPO „sofortige Beschwerde“, vgl. § 567 ZPO.

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nächst kaum weiter. Wenn es in verfahrensrechtlicher Hinsicht auch nicht ausgeschlossen erscheint, dass eine Beschwerde gegen die gerichtliche Entscheidung, dem EuGH bestimmte Rechtsfragen vorzulegen, zulässig sein kann1958, wobei beschwerdegegenständlicher Anknüpfungspunkt gegebenenfalls der Beschluss zur Aussetzung des anhängigen Verfahrens wäre1959, so scheidet eine Anfechtung der negativen Vorlageentscheidung des Gerichts mangels individuellen Antragsrechts und demzufolge fehlenden formalen Judikativakts schlechthin aus. Der im deutschen Prozesssystem mögliche Weg geht vielmehr über die Rechtsmittel der Berufung und der (Sprung-)Revision gegen die instanzliche Endentscheidung. Jedoch ist hierbei nicht schon die unterlassene Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH hinreichender Rechtsmittelgrund, sondern allein die unzutreffende oder unterlassene Anwendung des unmittelbar anwendbaren Gemeinschaftsrechts1960. Im Lichte des Art. 10 EGV sind die das Gemeinschaftsrecht betreffenden Fragen im Falle ihrer Entscheidungserheblichkeit dabei ganz regelmäßig von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Rechtsmittelrechts1961, so dass es etwa für den Bereich der zivilprozessualen Berufung auf den Wert des Beschwerdegegenstands nicht ankommt1962. Hat das Berufungsgericht zu der entscheidungserheblichen Frage ebenfalls keine Vorlage erwirkt, ist schon aus diesem Grund die Revision zuzulassen1963. Die Justitiabilität eines positiven Vorlagebeschlusses ist im deutschen Verfahrensrechtssystem streitig. Anders als in Frankreich oder Belgien verneint sie die h. M. in der deutschen Literatur und Rechtsprechung (vgl. schon OLG Köln, WRP 1977, 734 ff.; ferner BFHE 132, 217; aus der Literatur etwa Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 84; kritischer etwa Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 137 ff.; Pfeiffer, NJW 1994, 1996, 1998 ff.; differenzierend Hess, ZZP 1995, 59, 98 f.). 1959 Ähnlich Hess, ZZP 1995, 59, 98 f. 1960 Zu einem entsprechenden Berufungsgrund im deutschen Zivilprozessrecht s. Schmidt, in: FS Lüke, S. 721, 737. 1961 Vgl. zu § 132 VwGO BVerfGE 82, 159, 296; BVerfG, NVwZ 1993, 883; BVerwG NVwZ-RR 1998, 752. Ausführlicher im Hinblick auf die frühere Grundsatzrevision nach § 546 Abs. 1 ZPO (a. F.) respektive § 554 Abs. 1 ZPO (a. F.) Hess, ZZP 1995, 59, 99 f. Dabei dürfte die Rechtslage unter dem aktuellen Begriff der „grundsätzlichen Bedeutung“ ausweislich des § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, der seinerseits das Erfordernis der Fortbildung des Rechts oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung als Revisionszulassungsgrund nennt, weiter reichen als die frühere. 1962 Dieser beträgt nach § 511 Abs. 2 Nr. 1 ZPO derzeit e 600,–. 1963 So BGH, Beschl. vom 16.1.2003 – I ZR 130/02, S. 2. Vgl. auch aus jüngerer Zeit BGH, Beschl. vom 24.11.2005 – III ZR 4/05, Rn. 4: „Mit der Beschwerde werden keine Fragen aufgeworfen, die in einem Revisionsverfahren geklärt werden müssten oder die eine Vorlage nach Art. 234 EG an den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften verlangten.“ 1958

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(b) Antrag auf Aufhebung eines bestandskräftigen Verwaltungsakts Kommt es in einem verwaltungsgerichtlichen Instanzenzug zu keiner Vorlage und hilft auch eine gegen die gerichtlichen Entscheidungen erhobene Verfassungsbeschwerde nicht weiter1964, so bleibt mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des EuGH weiterhin die Möglichkeit, sich nochmals an die zuständige mitgliedstaatliche Exekutivstelle zu wenden mit dem Ziel, trotz der mit der Rechtskraft der letztinstanzlichen Gerichtsentscheidung einhergehenden Bestandskraft der zuvor angegriffenen Verwaltungsentscheidung deren behördliche Aufhebung zu erreichen. Denn nach der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Kühne & Heitz1965 ist eine Verpflichtung zur nochmaligen Überprüfung wegen des in Art. 10 EGV niedergelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit dann anzunehmen, wenn die nationale Rechtsordnung die einseitige Durchbrechung der Bestandskraft eines Verwaltungsaktes durch die Exekutive unbeschadet der Rechte Dritter erlaubt, der betreffende Akt gerade infolge eines gerichtlichen Verfahrens in Bestandskraft erwachsen ist, im Zuge dessen es in Ermangelung der Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens trotz einer nach Art. 234 Abs. 3 EGV bestehenden Vorlagepflicht und ausweislich einer späteren Rechtsprechung des EuGH zu einer unzutreffenden Auslegung oder Anwendung des Gemeinschaftsrechts gekommen ist und sich der Einzelne unmittelbar nach Kenntniserlangung von dieser Entscheidung an die Verwaltung wendet1966. In der unlängst entschiedenen Rechtssache i-21 und Arcor1967 hat der Gerichtshof weiterführend klargestellt, dass der mit dem Rechtsinstitut der Bestandskraft verfolgte Grundsatz der Rechtssicherheit keineswegs verlangt, dass eine nationale Behörde schon grundsätzlich zur Aufhebung einer unanfechtbar gewordenen Handlung verpflichtet ist, dass aber zugleich die der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten unterliegenden Modalitäten des innerstaatlichen Rechts dem Äquivalenzund Effektivitätsprinzips zu genügen haben und demnach eine rechtsordnungsintern bestehende Verpflichtung einer Behörde zur Rücknahme eines offensichtlich rechtswidrigen und doch bestandskräftigen Verwaltungsakts gleichermaßen im Falle seiner offensichtlichen Unvereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht greifen muss1968. Dazu ausführlich sogleich unter (2). EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837 (Kühne & Heitz). 1966 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 24 ff. (Kühne & Heitz). 1967 EuGH, verb. Rsn. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559 (i-21 und Arcor/Deutschland). 1968 EuGH, a. a. O., Rn. 51 ff. (i-21 und Arcor/Deutschland). Für den Bereich rechtskräftiger gemeinschaftswidriger Gerichtsentscheidungen hat der EuGH eine 1964 1965

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Im Anwendungsbereich des deutschen Verwaltungsprozessrechts könnte der Einzelne sich demzufolge ungeachtet der Bestandskraft eines ihn belastenden Verwaltungsakts erneut an die zuständige Behörde mit dem Antrag wenden, das Verfahren gemäß § 51 VwVfG1969 wieder aufzugreifen oder den gemeinschaftswidrigen Verwaltungsakt nach § 48 Abs. 1 VwVfG zurückzunehmen1970. Zwar dürfte die betreffende Entscheidung des EuGH in Bezug auf erstere Möglichkeit, die den Vorteil hat, bei Vorliegen eines tatbestandlichen Wiederaufgreifensgrundes einen gebundenen Anspruch auf eine erneute Sachprüfung zu gewähren, nicht schon einen Fall des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG darstellen, da eine gerichtliche Spruchpraxis keine Änderung der materiellen Rechtslage begründet1971. Falls die Norm analogiefähig sein sollte, was aufgrund des abschließenden Charakters der Ausnahmevorschrift freilich erheblichen Zweifeln unterliegt, käme hier aber eine entsprechende Anwendung des Wiederaufgreifensgrundes nach § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG i. V. m. § 580 Nr. 8 ZPO1972 für den Fall der Feststellung der Gemeinschaftsrechtsverletzung durch den EuGH in Betracht. Ungeachtet der Frage, ob die Rücknahmeentscheidung über die Zwischenstufe des § 51 VwVfG oder unmittelbar über § 48 VwVfG herbeizuführen ist, kann dem Einzelnen letztlich jedenfalls auch ein gebundener Aufhebungsanspruch zustehen, sofern das Rücknahmeermessen der Behörde aufgrund einer offenkundigen EG-Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes gegen Null konvergiert und sich damit der Bescheidungsanspruch zu einem Verpflichtungsanspruch verdichtet1973. Im Weigerungsfalle oder bei Untätigkeit der solche Pflicht zur nochmaligen Prüfung und Aufhebung unter Hinweis auf die besondere Bedeutung der formellen Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen hingegen verneint [vgl. EuGH, Rs. C-234/04, Slg. 2006, I-2585, Rn. 20 ff. (Kapferer)]. 1969 Visiert wird hier die Regelung des VwVfG des Bundes und in Abwesenheit einer landesrechtlichen Verweisung auf dieses die entsprechende Vorschrift des jeweiligen VwVfG der Bundesländer. 1970 Nach § 51 Abs. 5 VwVfG bleiben die Vorschriften zur Rücknahme und zum Widerruf eines Verwaltungsakts nach den §§ 48, 49 VwVfG von der Möglichkeit des Antrags auf Wiederaufgreifen des Verfahrens unberührt. Über das Wiederaufgreifen nach § 51 Abs. 4 VwVfG wie auch über die Aufhebung nach § 48 VwVfG hat dabei unabhängig von der Erlassbehörde die örtlich zuständige Behörde zu entscheiden. 1971 So ausdrücklich jüngst wieder BVerwGE 121, 226, 228. 1972 Nach § 580 Nr. 8 ZPO liegt ein Wiederaufnahmegrund vor, wenn der EGMR eine Verletzung der EMRK festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht. 1973 Dahingehend die Ausführungen bei EuGH, verb. Rsn. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559, Rn. 69 (i-21 und Arcor/Deutschland), die nicht zuletzt im Lichte der Rechtsprechung des BVerwG zu betrachten sind, nach der ein gebundener Anspruch auf Rücknahme stets dann besteht, wenn eine Aufrechterhaltung des Verwaltungsakts schlechthin unerträglich wäre, so insbesondere im Falle seiner offensichtlichen Rechtswidrigkeit (vgl. BVerwGE 121, 226, 230). Zu bedenken ist

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Behörde im Sinne des § 75 VwGO könnte der Einzelne sodann trotz des rechtskräftigen Abschlusses des vorhergehenden Gerichtsverfahrens eine Verpflichtungsklage1974 in Form der Bescheidungsklage nach § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO erheben. Erst recht erscheint ein nochmaliges gerichtliches Vorgehen im Übrigen möglich, wenn die rechtskräftig bestätigte Maßnahme keinen der Bestandskraft fähigen Akt, sondern rein faktisches Verwaltungshandeln bildet, da dem Grundsatz der Rechtssicherheit hier gegenüber den gemeinschaftsrechtlichen Interessen weitaus weniger Gewicht zukommt. Einschlägig wäre in diesem Falle zumeist die allgemeine Leistungsklage1975 oder die allgemeine Feststellungsklage1976. (c) Sekundärer Rechtsschutz Insbesondere mit Blick auf die jüngere Rechtsprechung des EuGH kommt als weitere ordentliche Rechtsschutzmöglichkeit die prozessuale Geltendmachung der durch das gerichtliche Unterlassen erlittenen Schäden nach dem Grundsatz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung1977 in Betracht1978. Schon auf der Grundlage der seit der Francovich-Entscheidung1979 ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs erschien ein solches Vorgehen nicht per se ausgeschlossen, da nach ihr die Mitgliedstaaten für all solche Schäden haften, die dem Einzelnen durch einen gemeinschaftsrechtlichen Verstoß entstehen, sofern die verletzte Norm gerade bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, der Verstoß hinreichend qualifiziert ist und zwischen beiden ein unmittelbarer Kausalzusammenhang besteht1980. In in diesem Zusammenhang jedoch, dass bei evidenter Rechtswidrigkeit auch eine Nichtigkeit des Aktes nach § 44 Abs. 1 VwVfG vorliegen kann mit der Folge, dass dieser gem. § 43 Abs. 3 VwVfG unwirksam ist. Probater Rechtsbehelf wäre in diesem Fall die sog. Nichtigkeitsfeststellungsklage nach § 43 Abs. 2 S. 2 VwGO. 1974 Vgl. § 42 Abs. 1 Alt. 2 VwGO. 1975 Diese ist in der VwGO nicht ausdrücklich geregelt, findet aber in verschiedenen Vorschriften Anklang, so insbesondere in §§ 43 Abs. 2 S. 1, 111 S. 1 und 113 Abs. 4 VwGO. 1976 Vgl. § 43 Abs. 1 VwGO. 1977 Dieser stellt nach zutreffender Auffassung einen eigenständigen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar und bezieht seinen Geltungsanspruch nicht allein aus den mitgliedstaatlichen Haftungssystemen [s. dazu EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 17 (Brasserie du pêcheur und Factortame); ebenso BGHZ 134, 30, 33; vgl. dazu ferner Lageard, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 288 EGV, Rn. 43]. 1978 Eine umfassende Übersicht – auch zum früheren Streitstand – findet sich bei Wegener, EuR 2002, 785, 786 ff. 1979 EuGH, verb. Rsn. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich u. a.). 1980 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 50 (Brasserie du pêcheur und Factortame); EuGH, verb. Rsn. C-178/94, C-179/94, C-188/94,

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diesem Kontext hat der EuGH auch wiederholt betont, dass die mitgliedstaatliche Haftung a priori durch jeden Gemeinschaftsrechtsverstoß ausgelöst werden kann und dies ungeachtet der Frage, welches mitgliedstaatliche Organ diesen durch sein Handeln oder Unterlassen begangen hat1981. Gleichwohl erschien vor allem im Anwendungsbereich des Art. 234 EGV die Bejahung eines hinreichend qualifizierten Verstoßes im Sinne der benannten Haftungsgrundsätze in Abwesenheit klarstellender Ausführungen des EuGH allenfalls bei objektiv willkürlicher Verletzung der gerichtlichen Vorlagepflicht erlaubt1982 und die Verfolgung von Ansprüchen im Wege der Schadensersatzklage daher von vornherein ein praktisch eher aussichtsloses Unterfangen. (aa) Die Rechtssache Köbler Erst das Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache Köbler1983 brachte für den Bereich der mitgliedstaatlichen Haftung für judikatives Unrecht einige Klarifizierungen. Hier ging dem betreffenden Vorlageverfahren zunächst ein separates Verfahren des Herrn Köbler vor den österreichischen Verwaltungsgerichten voraus1984, in dessen Zuge es bereits zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens hinsichtlich der Frage der Vereinbarkeit des einschlägigen nationalen Rechts mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit des Klägers gekommen war. Aufgrund einer anderen, dem Abschluss dieses Inzidentverfahrens zuvorgekommenen Vorabentscheidung in einem vergleichbaren Fall nahm der Verwaltungsgerichtshof seine Vorlage jedoch wieder zurück und entschied in Abweichung von den Vorgaben des EuGH sachlich gegen den Kläger1985. Gestützt auf die Geltendmachung der EG-Rechtswidrigkeit jener Gerichtsentscheidung erhob Herr Köbler daraufhin Klage auf SchadensC-189/94 und C-190/94, Slg. 1996, I-4845, Rn. 21 (Dillenkofer u. a.); vgl. aus jüngerer Zeit auch EuGH, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Rn. 36 (Haim). 1981 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 32 (Brasserie du pêcheur und Factortame); EuGH, Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123, Rn. 27 (Haim). 1982 Vgl. dazu Gaitanides, in: Groeben/Schwarze, EUV/EGV, Art. 234 EGV, Rn. 72 m. w. N. 1983 EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 (Köbler). 1984 Der Kläger, ein während seiner Laufbahn in Deutschland und Österreich tätiger Universitätsprofessor, begehrte hier höhere Dienstalterszulagen auf der Grundlage des österreichischen Gehaltsgesetzes, das jedoch tatbestandlich nur für eine fünfzehnjährige Dienstzeit an österreichischen Hochschulen galt. 1985 s. näher zum Verfahrensgang Haltern, VerwArch 2005, 311, 316 f.; s. dazu ferner Breuer, BayVBl. 2003, 586 f.

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ersatz vor dem zuständigen österreichischen Zivilgericht, das hierauf seinerseits dem EuGH die entscheidungserheblichen Fragen zur Haftung eines Mitgliedstaats für rechtswidriges Judikativhandeln vorlegte. Zunächst stellte der Gerichtshof unter Berufung auf seine ständige Rechtsprechung unmissverständlich klar, dass a priori auch die Entscheidungen zumindest der letztinstanzlichen Gerichte der Mitgliedstaaten in den Anwendungsbereich des gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsgrundsatzes fallen. Zur Begründung verwies er unter anderem auf die auch im Bereich der völkerrechtlichen Staatshaftungsregeln gängige einheitliche Behandlung des Staates und insbesondere auf die entscheidende Bedeutung der Judikative für den gemeinschaftsrechtlichen Individualrechtsschutz, dessen volle Wirksamkeit sich durch eine Ausklammerung der letztinstanzlich und damit regelmäßig abschließend und irreversibel entscheidenden Gerichte beeinträchtigt sähe1986. Die in erster Linie auf die Grundsätze der Rechtssicherheit und richterlichen Unabhängigkeit und Autorität gestützten Einwände einiger Regierungen wies der EuGH im Wesentlichen mit der Begründung zurück, dass anlässlich der Haftungsklage nicht die Existenz der gerichtlichen Entscheidung und ebenso wenig die persönliche Haftung des Richters im Raum stehe, da die Gemeinschaftsrechtsordnung nur die Entschädigung des Verletzten durch den Mitgliedstaat fordere und die Autorität der Rechtsordnung sowie der Gerichte durch solch eine Möglichkeit der Wiedergutmachung judikativen Unrechts vielmehr eine Bekräftigung erfahre1987. Darüber hinaus bemerkte der Gerichtshof, dass die pflichtgemäß vorzunehmende Festlegung eines für die Behandlung der betreffenden Haftungsklagen zuständigen innerstaatlichen Gerichts in Ermangelung gemeinschaftsrechtlicher Regelungen die alleinige Sache der Mitgliedstaaten sei1988. Insbesondere könne, wie der Gerichtshof unter Berufung auf die Ausführungen des Generalanwalts hervorhob, dem aber keine innerstaatliche Beschränkung der Haftung für judikatives Unrecht entgegengehalten werden, da die Geltung des Grundsatzes der Staatshaftung für Gerichtsentscheidungen den meisten Mitgliedstaaten in der einen oder anderen Form bekannt sei1989. Die haftungsbegründende Voraussetzung des hinreichend qualifizierten Gemeinschaftsrechtsverstoßes konkretisierte der Gerichtshof sodann unter expliziter Anerkennung der Besonderheit der richterlichen Funktion und der berechtigten Belange der Rechtssicherheit dahingehend, dass die Mitglied1986 1987 1988 1989

EuGH, EuGH, EuGH, EuGH,

Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 32 ff., insb. 36 (Köbler). a. a. O., Rn. 39 ff. (Köbler). a. a. O., Rn. 44 ff. (Köbler). a. a. O., Rn. 48 (Köbler).

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staaten im judikativen Handlungsbereich nur im Ausnahmefall der Offenkundigkeit des EG-Rechtsverstoßes zu haften hätten1990. Bei der Prüfung dieses Merkmals habe das zuständige innerstaatliche Gericht alle Gesichtspunkte des Einzelfalles zu berücksichtigen, unter diesen vor allem das Maß an Klarheit und an Präzision der verletzten Norm, den Verschuldensgrad des Verstoßes, die Entschuldbarkeit eines Rechtsirrtums sowie gegebenenfalls die Stellungnahme eines Gemeinschaftsorgans und die Verletzung der Vorlagepflicht nach Artikel 234 Abs. 3 EGV1991. Schließlich stellte der EuGH zudem klar, dass ein Verstoß jedenfalls dann als hinreichend qualifiziert einzustufen sei, wenn das Gericht die einschlägige Rechtsprechung des Gerichtshofs offenkundig verkannt habe1992. (bb) Die Rechtssache Traghetti del Mediterraneo In der noch jüngeren Rechtssache Traghetti del Mediterraneo1993 hatte der EuGH im Übrigen die Gelegenheit, jene Erkenntnisse zur mitgliedstaatlichen Haftung für fehlerhaftes Judikativverhalten, die im besonderen Bezug auf die Reichweite der Haftungsgrenzen die Aufmerksamkeit der Literatur auf sich gezogen hatten1994, nochmals zu bekräftigen und fortzuentwickeln. Seinen Ursprung nahm dieses Vorabentscheidungsverfahren in der Schadensersatzklage eines Seeschifffahrtskonzerns gegen ein Konkurrenzunternehmen, die auf eine Verletzung der Wettbewerbsregeln des italienischen Zivilgesetzbuchs durch den Erhalt gemeinschaftsrechtlich zweifelhafter Staatsbeihilfen und die damit ermöglichte Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung durch Niedrigpreispolitik gestützt war. In der Sache bejahten jedoch sämtliche Tatsacheninstanzen entgegen dem klägerischen Vorbringen die Rechtmäßigkeit der gewährten Beihilfen und wiesen die Klage demgemäß ab. Zuletzt blieb auch die vornehmlich auf eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts gestützte Revision samt Anregung, dem Gerichtshof die betreffenden Fragen zur gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit der Beihilfen vorzulegen, erfolglos1995. Das unterlegene Unternehmen klagte daher anschließend gegen die Italienische Republik vor dem zuständigen Gericht auf Ersatz der Schäden, die ihm aufgrund der das Gemeinschaftsrecht betreffenden Auslegungsfehler und die VerletEuGH, a. a. O., Rn. 53 (Köbler). EuGH, a. a. O., Rn. 54 f. (Köbler). 1992 EuGH, a. a. O., Rn. 56 (Köbler). 1993 EuGH, Rs. C-173/03, Slg. 2006, I-5177 (Traghetti del Mediterraneo). 1994 Vgl. Gundel, EWS 2004, 8, insb. 13 ff.; Sensburg, NVwZ 2004, 179 f.; Wegener/Held, Jura 2004, 479, insb. 481 ff. 1995 EuGH, a. a. O., Rn. 9 ff. (Traghetti del Mediterraneo). 1990 1991

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zung der Vorlagepflicht nach Artikel 234 Abs. 3 EGV entstanden waren. Im Zuge dieses Verfahrens legte das angerufene Gericht dem EuGH die entscheidenden Fragen zur Haftung des Staates für fehlerhaftes und im Lichte des Art. 234 EGV pflichtwidriges Judikativverhalten sowie zur gemeinschaftsrechtlichen Zulässigkeit von nationalen Vorschriften vor, die eine solche Haftung für die Rechtsauslegung sowie die Sachverhalts- und Beweiswürdigung ausschließen und die Haftung darüber hinaus auf die Fälle des Vorsatzes oder der groben Fahrlässigkeit beschränken1996. Nach ausdrücklicher Bestätigung der sich aus der Rechtssache Köbler ergebenden Lehren1997 zur Einbeziehung insbesondere letztinstanzlicher Gerichte in das Staatshaftungsregimes und dessen gleichzeitiger Begrenzung auf offenkundige Verstöße1998 wies der Gerichtshof in seiner Antwort weiterführend zunächst darauf hin, dass schon das Recht des Einzelnen auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz einem vollständigen Ausschluss der Haftung eines Mitgliedstaats für eine fehlerhafte gerichtliche Auslegung entgegenstehe, da die Rechtsinterpretation eine wesentliche Tätigkeit des Richters zur Lösung streitiger Rechtsfragen bilde und gerade in diesem Feld offenkundige Gemeinschaftsrechtsverstöße nicht auszuschließen seien1999. Des Weiteren führte der EuGH aus, dass die in der Rechtssache Köbler aufgestellten Maßstäbe ihres Inhalts gleichfalls durch einen allgemeinen Haftungsausschluss im Bereich der richterlichen Sachverhaltsund Beweiswürdigung beraubt würden, da die richtige Rechtsanwendung oftmals von dieser ebenso wesentlichen Beurteilung abhinge und demnach auch hier offenkundige Rechtsverstöße etwa bei der Anwendung der Beweislastregeln, der Würdigung des Beweiswertes oder der Zulässigkeit der Beweisarten sowie bei der rechtlichen Sachverhaltsqualifizierung denkbar seien2000. Dies gelte im Hinblick auf die Verfahrensgarantien des Einzelnen um so mehr im Bereich der letztinstanzlichen Beurteilung staatlicher Beihilfen2001. Betreffend die Zulässigkeit der Begrenzung der staatlichen Haftung auf die Fälle vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verhaltens des Spruchkörpers bejahte der Gerichtshof schließlich zwar die Möglichkeit, eigene natio1996 Nachdem zwischenzeitlich das Urteil des EuGH in der Rechtssache Köbler ergangen war, beschränkte das vorlegende Gericht den Gegenstand auf Fragen zur Vereinbarkeit der innerstaatlichen Haftungsregelungen. 1997 Dass es sich um „Lehren“ zum allgemeinen Haftungsgrundsatz handelt, brachte auch der EuGH hinreichend zum Ausdruck, s. etwa EuGH, Rs. C-495/03, Slg. 2005, I-8151, Rn. 37 (Intermodal Transports); ebenso EuG, Rs. T-47/02, Slg. 2006, II-1779, Rn. 36 (Danzer/Rat). 1998 EuGH, a. a. O., Rn. 30 ff. (Traghetti del Mediterraneo). 1999 EuGH, a. a. O., Rn. 33 ff. (Traghetti del Mediterraneo). 2000 EuGH, a. a. O., Rn. 37 ff. (Traghetti del Mediterraneo). 2001 EuGH, a. a. O., Rn. 41 (Traghetti del Mediterraneo).

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nale Kriterien zur Natur und zum Grad des für die Haftung vorausgesetzten Rechtsverstoßes aufzustellen, jedoch betonte er zugleich, dass hierdurch kein strengerer Maßstab als der durch das Urteil Köbler aufgestellte begründet werden dürfe2002. (cc) Bewertung Schon der erste Blick auf die beiden soeben behandelten Entscheidungen offenbart den Willen des EuGH klarzustellen, dass die Mitgliedstaaten dem Einzelnen auch für gemeinschaftsrechtlich fehlerhaftes Handeln der innerstaatlichen Gerichte haften können. Der Gerichtshof hat so eine weitere Tür zur Erreichung individuellen Rechtsschutzes aufgestoßen, wobei sich die Herleitung und Geltung dieser Haftungsmöglichkeit in den prätorisch gewachsenen Grundsatz der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung integriert sehen. Der Verweis in der Rechtssache Köbler auf die Existenz entsprechender Haftungsregimes innerhalb der meisten mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen2003 kann zwar angesichts der erheblichen Unterschiede zwischen den einzelnen Systemen in Bezug auf die Behandlung der Frage der Haftung für Judikativunrecht2004 durchaus überraschen2005. Indes wollte der Gerichtshof hier keine eigene, neue quellendogmatische Herleitung der mitgliedstaatlichen Haftung für schadstiftendes Judikativverhalten begründen, sondern schlicht und konsequent an die schon seit den Rechtssachen Francovich2006 und Brasserie du pêcheur2007 übliche Dogmatik anknüpfen. Im Übrigen dienten dem Gerichtshof die betreffenden Ausführungen insoweit auch allein der Zurückweisung der Berufung einiger Mitgliedstaaten auf ihre Probleme bei der prozessualen Umsetzung der Erweiterung des Staatshaftungsgrundsatzes. Ausweislich der Einbettung der behandelten Fragen zur Haftung für judikatives Unrecht in den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Staatshaftung handelt es sich also um ein einheitliches Prinzip, das sich insgesamt aus dem Geiste des Vertrages herleiten lässt2008. Für die im Hinblick auf Art. 234 EGV interessierende Fragestellung, ob und unter welchen Voraussetzungen der Einzelne eine pflichtwidrige NichtEuGH, a. a. O., Rn. 42 ff. (Traghetti del Mediterraneo). s. EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 48 (Köbler). 2004 s. dazu die Vergleiche bei Wegener, EuR 2002, 785, 790 f. 2005 Kritisch insoweit insbesondere Haltern, VerwArch 2005, 311, 320, der die betreffenden Ausführungen des EuGH und des GA Léger als „sibyllinisch“ bezeichnet. 2006 EuGH, verb. Rsn. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 (Francovich u. a.). 2007 EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029 (Brasserie du pêcheur und Factortame). 2008 Deutlich in dieser Richtung EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 52 (Köbler). 2002 2003

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vorlage durch das mitgliedstaatliche Gericht im Bereich des sekundären Rechtsschutzes erfolgreich geltend machen kann, enthalten die beiden Entscheidungen durchaus einige wertvolle Hinweise. Von besonderer Bedeutung ist insofern zunächst, dass die Vorlagepflicht nach Auffassung des Gerichtshofs auch der Vermeidung der Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Individualrechte dient2009. Dass die aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsende Verpflichtung der staatlichen Gerichte damit selbst zu jenen Rechtssätzen gehört, die dem Einzelnen Rechte verleihen, sagt der EuGH indessen nicht ausdrücklich und erscheint in Ermangelung eines echten Initiativrechts Privater oder eines prozessualen Vorlageerzwingungsrechts nach wie vor zweifelhaft. Auch die durch den EuGH vorgenommene Einreihung der Vorlagepflichtverletzung in die Riege der nicht abschließend aufgezählten Einzelkriterien zur Offenkundigkeit eines Rechtsverstoßes spricht wesentlich gegen eine solch isolierte Qualifizierung der Vorlagepflicht als subjektiv schützendem Rechtssatz. Zur Begründung der mitgliedstaatlichen Haftung muss der Einzelne folglich eine weitere Gemeinschaftsnorm, so wie etwa jene zum Schutze der Grundfreiheiten, anführen können, deren subjektiv-schützende Wirkung entscheidungserheblich war und daher im Rahmen des unterlassenen Vorabentscheidungsverfahrens einen zentralen Prüfungspunkt gebildet hätte. Von erheblicher Bedeutung ist ferner, dass der EuGH es grundsätzlich auch weiterhin den Mitgliedstaaten überlässt, die Modalitäten der Schadensersatzgewährung und ihrer Durchsetzbarkeit unter Beachtung der Grundsätze der Effizienz und Äquivalenz zu regeln2010, dem mitgliedstaatlichen Ausgestaltungsermessen aber zugleich eine genaue Schranke setzt, indem er, wie im Kontext zur Rechtssache Traghetti del Mediterraneo gezeigt, im Dienste der kohärenten Anwendung des Gemeinschaftsrechts jedem allgemeinen Haftungsausschluss die gemeinschaftsrechtliche Zulässigkeit abspricht und darüber hinaus klarstellt, dass auch alle anderen nationalen Haftungsbeschränkungen keine strengeren Anforderungen an die Schadensersatzpflicht begründen dürfen als die vom EuGH in der Rechtssache Köbler vorgegebenen. Von ganz zentraler Relevanz ist in diesem Zusammenhang allerdings auch, dass der Gerichtshof die Möglichkeit der hier interessierenden mitgliedstaatlichen Haftung in einem Atemzug mit ihrer Anerkennung unter ausdrücklicher Hinweisung auf die besondere Rolle der unabhängigen Richter sogleich wieder in den Bereich der Ausnahmefälle verortet. Neu ist dabei nicht jene Grenzziehung, die in rechtlicher Hinsicht durch die inhaltliche Konkretisierung des dem Mitgliedstaat vorzuwerfenEuGH, a. a. O., Rn. 35 (Köbler). s. schon EuGH, verb. Rsn. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357, Rn. 41 ff. (Francovich u. a.). 2009 2010

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den qualifizierten Rechtsverstoßes anhand des Merkmals der Offenkundigkeit erfolgt. Denn von Anfang an hat der EuGH die zweite der drei haftungsbegründenden Voraussetzungen mit den Attributen der Offenkundigkeit und Erheblichkeit versehen2011 und ersteres Merkmal insofern nur konsequent auch auf den neu anerkannten Teilbereich der mitgliedstaatlichen Haftung appliziert. Die wesentliche Einschränkung besteht hier vielmehr in der expliziten Hervorhebung des exzeptionellen Charakters der mitgliedstaatlichen Haftung für richterliches Fehlverhalten2012. Mit diesem Zugeständnis geht nämlich eine generelle Ausweitung des Beurteilungsspielraums der staatlichen Judikative im spruchrichterlichen Tätigkeitsbereich einher. Hinzu kommt noch eine weitere, insbesondere in faktischer Hinsicht wirkende Haftungsbegrenzung. Denn durch die ausdrücklich nicht abschließende Aufzählung der an sich bereits bekannten abwägungsrelevanten und ihrerseits ausfüllungsbedürftigen Punkte2013 gibt der Gerichtshof den mitgliedstaatlichen Gerichten eine ganze Reihe von mehr oder weniger weichen Kriterien an die Hand, deren Einsatz, Bewertung und Gewichtung in jedem einzelnen Fall gleichfalls ihrem Entscheidungsspielraum unterliegen. Vor dem Hinterrund der aus der Rechtssache Köbler folgenden Haftungslehren könnte aber erst eine offenkundig fehlerhafte Anwendung dieses flexiblen und offenen Kriterienbündels einen hinreichend qualifizierten und mithin ihrerseits schadensersatzrechtlich relevanten Verstoß begründen. Wenn der EuGH schließlich als weiteren Anwendungshinweis auf den Weg gibt, dass ein hinreichend qualifizierter Verstoß jedenfalls im Falle der offenkundigen Verkennung seiner eigenen einschlägigen Rechtsprechung durch das mitgliedstaatliche Gericht vorliege, so bleibt im Verborgenen, wann vom Vorliegen einer solch evidenten Rechtsprechungsdivergenz auszugehen ist. Das in der Rechtssache Köbler offenbar gewordene Irrverständnis des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs bezüglich des parallel ergangenen Vorabentscheidungsurteils in der Rechtssache Schöning-Kougebetopoulou2014, das seinerseits die Rücknahme des eigenen Vorlageersuchens ausgelöst hatte, sprach angesichts der wenig missverständlichen Ausführungen des EuGH in den dort einschlägigen Entscheidungsgründen eher für die Bejahung der Offenkundigkeit des Verstoßes2015, zumal dem Verwaltungsgerichthof schon die frühere Rechtsprechung des EuGH Anlass zu erhebli2011 s. EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 55 (Brasserie du pêcheur und Factortame). 2012 Der restriktiven Linie des EuGH unter Hinweis auf den kooperativen Charakter des Vorabentscheidungsverfahrens beipflichtend Wegener/Held, Jura 2004, 479, 483 f.; für eine extensivere Haftung hingegen Obwexer, EuZW 2003, 726, 728. 2013 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-46/93 und 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 56 f. (Brasserie du pêcheur und Factortame). 2014 EuGH, Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47 (Schöning-Kougebetopoulou).

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chen Zweifeln an der Richtigkeit seiner Erwägungen hätte geben dürfen2016. Der Gerichtshof in Luxemburg sah dies im Fall Köbler jedoch anders2017, was auch vor dem Hintergrund zu erklären ist, dass die Rücknahme des Vorabentscheidungsantrags durch den Verwaltungsgerichtshofs, wie erwähnt, ihren Ursprung in der an ihn gerichteten Anfrage des Kanzlers des Gerichtshofs nahm2018. Es bleibt abzuwarten, ob der EuGH seiner neuen Linie in künftigen Fällen noch mehr Kontur zu geben vermag und so den Druck insbesondere auf die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten, den Dialog mit dem Gerichtshof über das Vehikel des Vorabentscheidungsverfahrens in Adäquanz zum Gebot der einheitlichen Geltung des Gemeinschaftsrechts zu suchen, wirksam erhöhen kann2019. Dabei darf nicht die Gefahr übersehen werden, dass das weitgehend sanktionsfrei ausgestaltete System ebenenübergreifender Kooperation in eine Schieflage geraten könnte, wenn dem Einzelnen durch die Hintertür des sekundären Rechtsschutzes de facto ein primärrechtlich nicht vorgesehenes Initiativrecht an die Hand gegeben würde2020. Dies scheint auch der Gerichtshof erkannt zu haben. Denn gleichviel er durch seine der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts geschuldeten Vorgaben den in einigen Mitgliedstaaten zumeist über ein Spruchrichterprivileg oder eine Subsidiaritätsklausel geregelten Haftungsbeschränkungen im Bereich der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung2021 einen Riegel vorschieben will, begründet er ausweislich der Betonung des Ausnahmecharakters der mitgliedstaatlichen Haftung im justitiellen Verantwortungsbereich zugleich eine eigene gemeinschaftsrechtlich determinierte Privilegierung der mitgliedstaatlichen Gerichte im allgemeinen Haftungsregime, soweit hier strengere Maßstäbe gelten sollen2022. Die in den Mitgliedstaaten geläufige, mit Blick auf das unabdingbare Prinzip richterlicher Unabhängigkeit und im 2015 Auch GA Léger plädierte in seinen Schlussanträgen für die Annahme eines offenkundigen Rechtsverstoßes [s. seine Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 165 ff. (Köbler)]. 2016 Schon die Entscheidung EuGH, Rs. C-419/92, Slg. 1994, I-505, Rn. 11 (Scholz) indizierte deutlich die allgemeine Tendenz des Gerichtshofs, dass in der Nichtberücksichtigung der Beschäftigungszeiten in der öffentlichen Verwaltung anderer Mitgliedstaaten eine rechtswidrige mittelbare Diskriminierung liegen kann. 2017 s. EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 124 (Köbler). 2018 s. EuGH, a. a. O., Rn. 8 ff. (Köbler). 2019 A. A. Mayer, DVBl. 2004, 606, 613, Fn. 77, für den vieles für eine von Besonderheiten geprägte Einzelfallrechtsprechung und damit gegen eine neue Rechtsprechungslinie des EuGH spricht. 2020 Ähnlich Wegener/Held, Jura 2004, 479, 483 f. 2021 Vgl. etwa für Deutschland § 839 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 BGB. 2022 In diesem Sinne auch Obwexer, EuZW 2003, 726, 727; Wegener/Held, Jura 2004, 479, 483; a. A. wohl Haltern, VerwArch 2005, 311, 323 f.

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Interesse der Rationalität der Justiz und des Rechtsfriedens2023 grundsätzlich gerechtfertigte Sonderbehandlung der dritten Hoheitsgewalt sieht sich folglich durch die neue Haftungslehre für den Judikativbereich nicht vollends abgeschafft, sondern nur auf die flexiblere und gleichsam begründungsintensivere Prüfungsebene des EG-Rechts verlagert. Nicht zuletzt vor dem weiteren Hintergrund, dass es in der Praxis gerade die innerstaatliche Gerichtsbarkeit ist, die mittelbar in eigener Sache über einen Schadensersatzanspruch zu judizieren hat2024, erscheinen die Erfolgsaussichten einer allein auf die gerichtliche Verletzung der Vorlagepflicht gestützten Schadensersatzklage nach alledem derzeit eher gering. Unbeschadet des weiteren Umstands, dass ein etwaiger Erfolg über den sekundären Rechtsschutzweg regelmäßig nur ein zweitklassiger und zumeist unvollkommener ist, da er das eigentlich verfolgte Rechtsschutzinteresse des Einzelnen an der Erlangung einer gesicherten Rechtssituation nicht befriedigend abzudecken vermag, sondern regelmäßig nur deren Ausfall auffängt bzw. kompensiert, erweist sich die hier aufgezeigte Möglichkeit der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen demnach als wenig effektiver und kaum Erfolgsaussichten versprechender Rechtsbehelf. (2) Verfassungsbeschwerde zum BVerfG Des Weiteren kann das pflichtwidrige Unterlassen der Vorlage entscheidungserheblicher Rechtsfragen gegebenenfalls im Rahmen eines außerordentlichen Rechtsbehelfs gerügt werden, so in Deutschland durch Erhebung der Bundesverfassungsbeschwerde2025. (a) Mögliche verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte Da das BVerfG schon in der Solange II-Entscheidung den EuGH als gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkannt hat2026, ist für eine solche Beschwerde die Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter im Sinne jenes Verfahrensgrundrechts der maßgebliche verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt. Darüber hinaus erscheint insbesonVgl. Wegener/Held, Jura 2004, 479, 483. Im Hinblick auf die Kontrolle der Entscheidungen höchstinstanzlicher Gerichte durch unterinstanzliche Gerichte im Schadensersatzprozess und dem damit einhergehenden Autoritätsverlust kritisch Haltern, VerwArch 2005, 311, 327 f. 2025 Vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i. V. m. §§ 13 Nr. 8 a, 90 ff. BVerfGG. 2026 s. BVerfGE 73, 339, 366 ff. (Solange II). Ebenso für die österreichische Rechtsordnung der Verfassungsgerichtshof, s. VfGH B 2300/95-18, VfSlg. 14.390 (Bundesvergabeamt). 2023 2024

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dere für den Bereich der Gültigkeitsfragen nach Art. 234 Abs. 1 lit. b) EGV auch eine Verletzung der Rechtsweggarantie nach Art. 19 Abs. 4 GG denkbar, soweit die mitgliedstaatlichen Gerichte wegen der Existenz eines vergleichbaren europäischen Grundrechtsschutzes auf die Prüfung der innerverfassungsrechtlichen Vereinbarkeit von EG-Rechtsakten verzichten, so dass der inzidenten Normenkontrolle am Maßstab des europäischen Rechts in diesem Grundrechtsschutzsystem die zentrale Bedeutung zukommt2027. Um dem BVerfG eine hinreichende Kontrolle am Maßstab der Verfahrensgrundrechte des Grundgesetzes zu ermöglichen, hat das sich gegen eine Vorlage zum EuGH entscheidende Gericht die tragenden Gründe seiner ablehnenden Entscheidung anzugeben2028. (b) Anforderungen an eine auf das Recht auf den gesetzlichen Richter gestützte Verfassungsbeschwerde Hinsichtlich der Erfolgsaussichten einer solchen Verfassungsbeschwerde unterliegt zunächst die Zulässigkeit des Rechtsbehelfs in der Regel keinen durchgreifenden Bedenken2029. Tauglicher Beschwerdegegenstand ist zumeist die letztinstanzliche gerichtliche Endentscheidung samt der in ihr wenigstens konkludent zum Ausdruck kommenden Entscheidung über das Absehen von einer Vorlage zum EuGH. Die Beschwerdebefugnis fußt auf der eigenen, gegenwärtigen und unmittelbaren Betroffenheit des an der Vorlage interessierten Verfahrensbeteiligten in den genannten Verfahrensgrundrechten. Da sich die Beschwerde ganz regelmäßig gegen ein letztinstanzliches Urteil richtet, ist zudem grundsätzlich auch den Erfordernissen der Rechtswegerschöpfung und der Subsidiarität Genüge getan. Anders verhält es sich aber mit der Begründetheit einer demgemäß erhobenen Verfassungsbeschwerde. Ein auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützter Verfassungsrechtsbehelf führt nämlich nach ständiger Rechtsprechung grundsätzlich nur unter der vom BVerfG mit Blick auf die richterliche Unabhängigkeit ersonnenen Voraussetzung der „willkürlichen“ Rechtsverletzung zum Erfolg2030. Ein richterliches Verhalten ist danach nur dann im Sinne des So jüngst BVerwG, DVBl. 2005, 1383, 1386. BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268; ähnlich schon BVerfG, NVwZ 1993, 883. 2029 Voraussetzung ist freilich die Annahme der Beschwerde durch das BVerfG nach § 93a BVerfGG wegen grundsätzlicher verfassungsrechtlicher Bedeutung der Sache oder besonders schwerer Nachteile zulasten des Beschwerdeführers, so dass offensichtlich unzulässige oder unbegründete Verfassungsbeschwerden schon durch Kammer-Beschluss ausgefiltert werden. 2030 So auch anfangs in Bezug auf das Vorabentscheidungsverfahren BVerfGE 73, 339, 366 ff. (Solange II); s. dazu auch Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 10, Rn. 67. 2027 2028

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Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG tatbestandsmäßig, wenn eine willkürliche, also bei verständiger Würdigung nicht mehr verständliche und offensichtlich unhaltbare Entziehung des gesetzlichen Richters gegeben ist2031. Denn auch wenn Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG einen subjektiven Anspruch auf den gesetzlichen Richter garantiert, ist das BVerfG nicht dazu berufen, jeden einem Gericht unterlaufenden, zuständigkeitsrelevanten Verfahrensfehler zu revidieren2032. Das BVerfG prüft die Zuständigkeitsgarantie hier vielmehr als Teil des rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots, das auch die Beachtung der Kompetenzregeln der Rechtsordnung fordert. Diese überträgt die Kontrolle der Befolgung der Zuständigkeitsordnung aber vor allem den oberen Fachgerichten und beschränkt sie damit zugleich auf den Instanzenzug. Auch im Zusammenhang zu Art. 234 EGV prüft das BVerfG unter leichter Vernachlässigung der Terminologie der Willkür daher, ob die justitiellen Zuständigkeitsregeln in offensichtlich unhaltbarer Weise gehandhabt worden sind2033. Im Laufe seiner zum Problemkreis der Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht ergangenen Rechtsprechung hat sich hierzu bislang eine dreigliedrige Kasuistik herausgebildet2034. Nach dieser ist eine Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter erstens dann anzunehmen, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht eine Vorlage trotz der erkannten Entscheidungserheblichkeit gemeinschaftsrechtlicher Fragen und trotz ernsthafter Zweifel an ihrer richtigen Beantwortung überhaupt nicht erwägt2035. Eine Verletzung ist zweitens zu bejahen, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht bewusst von der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH abweicht und die relevanten Fragen nicht oder nicht nochmalig vorlegt2036. Und drittens liegt eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vor, wenn zu der entscheidungserheblichen Frage noch keine einschlägige oder sie erschöpfende Rechtsprechung des EuGH existiert oder eine Fortentwicklung seiner Rechtsprechung nicht nur als entfernte Möglichkeit erscheint, sofern in einem der aufgezählten Fälle das letztinstanzliche Hauptsachegericht den ihm zukommenden Beurteilungsrahmen in unvertretbarer Weise überschreitet2037. Letzteres ist vor allem dann anzunehmen, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der gemeinschaftsrechtlichen Frage gegenüber der von dem nicht vorlegenden Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind2038. 2031 Vgl. etwa BVerfGE 75, 223, 233 ff.; BVerfGE 82, 159, 194; BVerfG RIW 1994, 519, 529; s. zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG auch schon BVerfGE 29, 198, 207. 2032 BVerfGE 82, 159, 194. 2033 So ausdrücklich BVerfG, NJW 2001, 1267, 1268. 2034 s. nur die Zusammenfassung bei BVerfGE 82, 159, 195 f. 2035 Fallgruppe der grundsätzlichen Verkennung der Vorlagepflicht. 2036 Fallgruppe des bewussten Abweichens ohne Vorlagebereitschaft. 2037 Fallgruppe der Unvollständigkeit der EuGH-Rechtsprechung.

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(c) Blick auf die neuere Rechtsprechung Konnte man dem BVerfG – im Gegensatz zum österreichischen Verfassungsgerichtshofs2039 – anfangs noch zu Recht vorwerfen, dass es die zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG mit Blick auf die richterliche Unabhängigkeit der Instanzgerichte und seine eigene Konzentration auf die Prüfung spezifischer Verfassungsfragen2040 entwickelte Willkürformel zu unreflektiert auch auf die Fälle einer gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflichtverletzung angewendet hat2041, so kommt mit fortschreitender Konturierung der Kasuistik möglicherweise zugleich die wachsende Bereitschaft des BVerfG zum Ausdruck, die Vorlagepraxis der innerstaatlichen Instanzgerichte und insbesondere die der letztinstanzlichen fortan einer genaueren Kontrolle am Maßstab des GG zu unterziehen. Ein erster greifbarer Beleg für ein solches Umdenken könnte vor allem in der Stattgabe der auf die Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des BVerwG im Jahre 2001 zu sehen sein2042. Unter Heranziehung des etablierten Fallgruppensystems stellte das BVerfG hier, soweit ersichtlich erstmals, eine offensichtlich unhaltbare Handhabung der Vorlagepflicht und somit eine Verletzung des Rechts auf den EuGH als gesetzlichen Richter fest. Zur Begründung des Defizits in der spruchrichterlichen Auseinandersetzung mit den entscheidungserheblichen, aus der Sphäre des Gemeinschaftsrechts stammenden Fragen führte das BVerfG im Wesentlichen aus, das BVerwG habe zum einen die methodischen Fragen zur Auflösung der Kollision zwischen zwei in der Sache einschlägigen Richtlinien allein anhand des nationalen Rechts und folglich ohne hinreichend erkennbare Orientierung an der RechtspreHervorhebung (auch) im Original, s. BVerfGE 82, 159, 196. Zu dessen umfassender Kontrollbereitschaft s. Holoubek, Vorlageberechtigung und Vorlageverpflichtung, in: ders./Lang, EUGH-Verfahren, S. 60, 64. 2040 Das BVerfG weist jedoch in st. Rspr. ausdrücklich darauf hin, dass nicht jede fehlerhafte Anwendung oder Nichtbeachtung einer einfachgesetzlichen Verfahrensvorschrift auch eine Verfassungsverletzung darstellt, da andernfalls die Anwendung einfachen Rechts auf die Ebene des Verfassungsrechts gehoben würde (vgl. BVerfGE 82, 286, 299, BVerfGE 87, 282, 284 f.). In dieser Begrenzung der Kontrollkompetenzen des BVerfG auf die Verletzung spezifischen Verfassungsrechts sieht insbesondere Fastenrath, in: FS Ress, S. 461, 464 f., ein Problem, da es letztlich auch im Bereich der Vorlagepflichtverletzung um eine verfassungsrechtliche Kontrolle der Gesetzesauslegung und -anwendung der Fachgerichte durch die Verfassungsgerichtsbarkeit gehe. 2041 Auch jüngst wieder kritisch Fastenrath, in: FS Ress, S. 461 ff. Ebenfalls kritisch schon Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, S. 213 ff., nach dem für eine Unterscheidung zwischen einem beachtlichen Richterentzug und unbeachtlichen richterlichen Fehlern kein Raum verbleibt. 2042 s. BVerfG, DVBl. 2001, 720. 2038 2039

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chung des EuGH und am Gemeinschaftsrecht beurteilt sowie zum anderen die Relevanz des Gebots der Gleichbehandlung von Mann und Frau als ungeschriebenes gemeinschaftsrechtliches Grundrecht verkannt. Eine wenig später ergangene Entscheidung aus dem gleichen Jahre indiziert hingegen, dass das BVerfG die im gemeinschaftsrechtlichen Kontext entwickelten Maßstäbe zur Entziehung des gesetzlichen Richters nach wie vor unter ganz besonderer Rücksichtnahme auf die richterliche Unabhängigkeit und das justitielle Aufgabengefüge der nationalen Rechtsordnung handhaben möchte. Hier nämlich wies das BVerfG die Anträge der Beschwerdeführer auf Erlass einer einstweiligen Anordnung per Kammerbeschluss mit dem Hinweis auf die Unzulässigkeit der unter anderem auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerden zurück2043 und begründete dies primär damit, dass die Instanzgerichte die in casu einschlägige Rechtsprechung des EuGH und die relevante Literatur eingehend erörtert hätten und es den Beschwerdeführern nicht gelungen sei, substantiiert darzulegen, dass mögliche Gegenauffassungen zu den entscheidungserheblichen gemeinschaftsrechtlichen Fragen gegenüber der vom Gericht vertretenen Auffassung eindeutig vorzuziehen seien. Ähnlich restriktive Züge trägt eine weitere, jüngst im Anwendungsbereich der dritten Fallgruppe ergangene Entscheidung des BVerfG, in der die unter anderem auf Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen wurde, weil der BGH sich hinsichtlich des einschlägigen Gemeinschaftsrechts kundig gemacht, die entscheidungstragenden Gesichtspunkte in nachvollziehbarer Weise dargelegt und den ihm gebührenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten habe2044. (d) Würdigung Mit Blick auf die beiden zuletzt erwähnten Entscheidungen lässt sich trotz zwischenzeitlicher Ansätze zu einer weniger strengen Rechtsprechungslinie zumindest derzeit kaum mit hinreichender Sicherheit ausmachen, ob und inwieweit das BVerfG tatsächlich bereit ist, einen Wandel seiner Rechtsprechung zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG für den Bereich des Vorlageverhaltens deutscher Gerichte einzuleiten, oder ob es einen solchen bereits eingeleitet hat2045. Insbesondere die Entscheidungen zur dritten Fallgruppe sprechen jedenfalls eher gegen eine liberalisierende Rechtsprechungsentwicklung. Prekär an den genannten Judikaten erscheint dabei vor Vgl. BVerfG, NVwZ 2002, 337. BVerfG, Beschl. vom 14. Juli 2006 – 2 BvR 264/06, Absatz-Nr. 16 ff., www.bverfg.de. 2043 2044

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allem, dass das BVerfG weitgehend ungeklärt lässt, wann nach seiner Ansicht eine gegenläufige Auffassung mit der so ausdrücklich geforderten Eindeutigkeit den Vorzug gegenüber der des jeweiligen Gerichts verdient. Schon die terminologische Wahl erscheint in diesem Kontext nicht ganz glücklich, geht es bei der Abwägung des Für und Wider der die unterschiedlichen Meinungen stützenden Argumente doch weniger um eine inhaltliche „Deutung“, als vielmehr um eine mitunter quantitative, vornehmlich aber qualitative Gewichtung der widerstreitenden Positionen und mithin um die Feststellung einer zweifelsfreien Vorzugswürdigkeit der einen oder anderen Auffassung. Betrachtet man die Ausführungen des BVerfG nüchtern, so wird offenbar, dass die Erfolgsaussichten einer Rüge der Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG praktisch gegen Null konvergieren, sobald das Instanzgericht die Relevanz der gemeinschaftsrechtlichen Fragen nur erkannt und in seiner Entscheidung in nicht völlig unvertretbarer Weise aufgelöst hat. Dies dürfte übrigens a fortiori gelten, wenn es in dem gegebenen Fall allein um die korrekte Auslegung sekundären Gemeinschaftsrechts ohne gleichzeitige Relevanz grundrechtlicher Fragen geht2046. Betreffend die zuletzt angesprochene Entscheidung des BVerfG ist ferner von zentralem Interesse, dass der BGH als letztinstanzliches Gericht allein unter Heranziehung der acte-clair-Doktrin von einer Vorlage zum EuGH abgesehen und hierbei die Abwesenheit jeglicher vernünftiger Zweifel an der richtigen Anwendung des einschlägigen Gemeinschaftsrechts sowie seine Überzeugung, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den EuGH die gleiche Gewissheit hinsichtlich der Beantwortung bestünde, im Wesentlichen über eine grammatikalische und entstehungsgeschichtliche Auslegung der streitrelevanten Gemeinschaftsvorschrift begründet hatte. Angesichts der strengen Vorgaben, die der EuGH in der CILFIT-Entscheidung2047 und der darauf folgenden Rechtsprechung gemacht hat, unterliegt das so gestützte Unterlassen einer Vorlage durch den BGH wie auch die verfassungsrechtliche Bestätigung durch das BVerfG aber ganz erheblichen gemeinschaftsrechtlichen Bedenken. Schon unter Berücksichtigung der Schwächen der entstehungsgeschichtlichen Norminterpretation im Gemeinschaftsrecht sowie der Existenz von 23 authentischen Vertragssprachen erscheint die vom BGH gewählte Vorgehensweise nicht jeglicher Zweifel erhaben. Insbesondere durfte der BGH jedoch aufgrund des Umstands, dass er sich ausgiebig mit einem umfassenden Meinungsspektrum zu der letztlich selbst entschiedenen gemeinschaftsrechtlichen Frage auseinandersetzen 2045 A. A. wohl Füßer, DVBl. 2001, 1574, 1576, soweit er seitens des BVerfG das Bestreben erkennen will, die Äquivalenz des gemeinschaftlichen Grundrechtsschutzsystems gerade über das Vorlageverhalten der nationalen Instanzgerichte zu fördern. 2046 So auch Hirte, RabelsZ 2002, 553, 572. 2047 EuGH, Rs. 284/81, Slg. 1982, 3415 (CILFIT).

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musste, kaum davon ausgehen, dass die anderen mitgliedstaatlichen und europäischen Gerichte die Frage mit gleicher Gewissheit und in der gleichen Weise beantwortet hätten2048. Im Gegenteil hätte gerade die Existenz einer rechtswissenschaftlichen Meinungsvielfalt jedenfalls in Abwesenheit einer gefestigten ganz herrschenden Meinung zu einer bestimmten gemeinschaftsrechtlichen Frage ganz allgemein Anlass zu ernsten Zweifeln an der richtigen Auslegung und Anwendung geben und den BGH zur Vorlage veranlassen müssen. Solche Zweifel auszuräumen oder aufzulösen und so die kohärente Geltung des Gemeinschaftsrechts zu gewährleisten, gebührt in dem derzeit geltenden gemeinschaftlichen Rechtsschutzsystem ausweislich der Bestimmungen in den Art. 220 ff. EGV aber in erster Linie dem EuGH. Wenn das BVerfG den Instanzgerichten nunmehr auch für die Anwendung der acteclair-Doktrin einen weitreichenden Beurteilungsspielraum einräumt, indem es die bloße Erörterung der einschlägigen Literatur und den Anschluss an eine überwiegende Ansicht ausreichen lässt, um eine verfassungsrechtlich relevante Verletzung der Vorlagepflicht zu verneinen, entkernt es die vom EuGH genannten Anforderungen an ein exzeptionelles Entfallen der Vorlagepflicht in bedenklicher Weise zu bloßen Voraussetzungshülsen, um diese zugleich mit den seinerseits zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entwickelten Maßstäben aufzufüllen. Die damit einhergehenden Divergenzen zwischen den Maßstäben des BVerfG zum Anspruch auf den gesetzlichen Richter und jenen des EuGH zur Vorlagepflicht sind augenfällig2049 und nötigen zu Zweifeln an der gemeinschaftsrechtlichen Konformität der Haltung des höchsten deutschen Gerichts2050. Denn ist der EuGH erst einmal als gesetzlicher Richter im Sinne der innerstaatlichen Rechtsordnung anerkannt, so steht ein allzu restriktiver Umgang mit dem betreffenden Verfahrensgrundrecht in klarem Widerspruch zu den unmittelbar anwendbaren Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts. Problematisch an einer zu engen Handhabe des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erscheinen auch die Folgen für den effektiven Rechtsschutz der Rechte des Einzelnen, der in dem arbeitsteilig ausgestalteten Rechtsschutzsystem ganz maßgeblich auf die Vorlagebereitschaft der innerstaatlichen Gerichte angewiesen ist. Für ihn besteht die größte Gefahr schließlich darin, dass ein seine gemeinschaftsrechtlich garantierten Rechte verletzendes Gerichtsurteil unter Verletzung der auch den Rechtsschutzinteressen des Einzelnen dienenZu dieser Voraussetzung EuGH, a. a. O., Rn. 18 (CILFIT). In diesem Sinne ebenfalls Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 154; Hess, ZZP 1995, 59, 83. 2050 Ebenfalls kritisch Meier, EuZW 1991, 11, 13; s. dazu ferner den Überblick bei Brück, Vorabentscheidungsverfahren, S. 175 ff. 2048 2049

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den Vorlagepflicht ohne Klärung der aus der Sphäre des Gemeinschaftsrechts herrührenden entscheidungserheblichen Fragen endgültig verbindlich werden kann2051. Selbst wenn eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter ausnahmsweise einmal Erfolg hätte, bedeutete dies für den Beschwerdeführer noch nicht automatisch die Erlangung des ersehnten Rechtsschutzes. Ausweislich der dauernden Übung des BVerfG, das bislang selbst noch keine Vorlage zum EuGH angestrengt hat2052, käme es nämlich sodann erst durch das Gericht, an welches der Rechtstreit zurückverwiesen würde, zu einer Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens. Dieses aber hätte zumindest theoretisch2053 fernerhin die Möglichkeit, seinen neu auflebenden Beurteilungsspielraum zu aktivieren und unter hinreichender Beachtung der vom BVerfG aufgestellten, weiträumigen Grenzen die Vorlage zum EuGH nach einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Gemeinschaftsrecht abermals zu verweigern, ohne dass hiergegen nochmals erfolgreich eine Verfassungsbeschwerde angestrengt werden könnte. Auch in einem solchen Szenario bliebe dem Rechtsschutzsuchenden folglich ein wirksamer Schutz der gemeinschaftsrechtlich verliehenen Rechte verwehrt. Obgleich auch das BVerfG die Bedeutung des Vorabentscheidungsverfahrens für den Individualrechtsschutz erkennt und betont2054, bleibt es dem Grundrechtsträger die Leistung des eigenen Anteils an der Absicherung des Grundrechtsschutzes in einem arbeitsteilig ausgestalteten Kompetenzgefüge damit schuldig2055. Nicht zuletzt mit Blick auf den bereits getätigten, wenn auch noch vorsichtigen Fingerzeig des EuGH in den Rechtssachen Köbler2056 sowie Kommission/Italien2057 wächst indessen der Druck auch auf 2051 Einer Klarstellung bedarf insoweit, dass die Erhebung der Verfassungsbeschwerde dem Eintritt der Rechtskraft des letztinstanzlichen Urteils zwar nicht entgegensteht. Nach § 95 Abs. 2 BVerfGG hebt das BVerfG die Gerichtsentscheidung auf eine erfolgreiche Verfassungsbeschwerde hin jedoch auf und verweist die Sache ggf. an ein zuständiges Gericht zurück. 2052 Zu dieser Möglichkeit Mayer, EuR 2002, 239, 250 ff. 2053 Auf die bereits genannte Entscheidung des BVerfG, DVBl. 2001, 720 hin legte das BVerwG dem EuGH zwar die relevanten Fragen vor [s. dazu EuGH, Rs. C-25/02, Slg. 2003, I-8349 (Rinke)], doch ist die Gefahr, dass ein mit der Sache erneut befasstes Instanzgericht aus anderen Gründen abermals von einer Vorlage absieht, nicht vollends von der Hand zu weisen. 2054 Vgl. nochmals BVerfG, DVBl. 2001, 720. 2055 Ähnlich Schmidt, in: FS Lüke, 721, 738. 2056 EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 (Köbler). 2057 EuGH, Rs. C-129/00, Slg. 2003, I-14637 (Kommission/Italien). Indes rechnete der EuGH hier den Vertragsverstoß, der eigentlich auf einer gemeinschaftsrechtswidrigen Rechtsauslegung der mitgliedstaatlichen Judikative beruhte, dem nationalen Gesetzgeber zu und vermied so eine direkte Rüge in Bezug auf das judikative Verhalten (s. dazu auch Haltern, VerwArch 2005, 311, 318 f.).

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das BVerfG, die im Bereich des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG – jedenfalls materiell – konsequent weiterverfolgte Willkürformel zu überdenken und seine Praxis näher an die Rechtsprechungslinie des EuGH heranzurücken2058. Genügen die mitgliedstaatlichen Gerichte ihrer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtung auch weiterhin nur unzureichend, ist durchaus denkbar und aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht wünschenswert, dass der EuGH den Druck nochmals sensibel erhöht. In Zusammenarbeit mit der Kommission könnte dies auch anlässlich eines Vertragsverletzungsverfahrens geschehen, in welchem der EuGH den betreffenden Mitgliedstaat direkt in Bezug auf das Vorlagefehlverhalten seiner Judikativstellen rügen könnte. Im Zuge dessen stünde dem Gerichtshof möglicherweise ferner die Möglichkeit offen, die Rechtsnatur des so festzustellenden Vertragsverstoßes von einer Verfahrensrechtsverletzung zu einer Verletzung eines rechtsgrundsätzlichen Verfahrensgrundrechts aufzuwerten und auf diese Weise seine Qualität und zugleich den auf die nationalen Gerichte ausgeübten Druck merklich zu steigern. Rechtsdogmatisch könnte der Gerichtshof hierfür ausdrücklich ein gemeinschaftseigenes Grundrecht auf den EuGH als gesetzlichem Richter in Form eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes anerkennen, der sich aufbauend auf den bereits hervorgehobenen funktional-individualschützenden Charakter der gerichtlichen Vorlagepflicht2059 aus der Gewährleistung des Art. 6 § 1 EMRK2060 sowie insbesondere aus der mittlerweile gefestigten Anerkennung seiner Institution als gesetzlichem Richter im Rahmen der meisten mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen herleiten ließe. Ein Folgeproblem der so gearteten Anerkennung eines gemeinschaftsgrundrechtlichen Verfahrensrechts auf den gesetzlichen Richter wäre jedoch, ob damit gemäß dem Grundsatz vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zugleich die Überprüfung des gerichtlichen Vorlageverhaltens am Maßstab der nationalen Verfahrensgrundrechte gesperrt würde. Bezieht man die Solange II-Rechtsprechung auch auf den Bereich der Justizgrundrechte, müsste die Frage streng genommen bejaht werden. Denn wöllte man hier im Hinblick auf die schwache Ausgestaltung des Klagerechts des Einzelnen eine Ausnahme machen mit der Argumentation, der gemeinschaftsrechtliche Schutz des betreffenden Prozessgrundrechts sei nicht gleichwertig Ebenfalls kritisch etwa Nicolaysen, Europarecht I, S. 415; Fastenrath, in: FS Ress, S. 461, 480 f. 2059 Vgl. nochmals EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 35 (Köbler). 2060 Erste Anzeichen für eine Anerkennung des Rechts auf den gesetzlichen Richter finden sich bereits im Zusammenhang mit der Frage der Besetzung der Kammern des Gerichtshofs [s. dazu EuGH, Rs. C-7/94, Slg. 1995, I-1031, Rn. 10 ff. (Landesamt für Ausbildungsförderung Nordrhein-Westfalen/Gaal)]. Ebenfalls mit Blick auf Art. 6 § 1 EMRK von einem gemeinschaftsrechtlichen Anspruch auf den gesetzlichen Richter spricht etwa GÄin Stix-Hackl, Schlussanträge zu Rs. C-443/03, Slg. 2005, I-9611, Rn. 25 und 77 (Leffler). 2058

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und daher nach wie vor vom Grundgesetz zu leisten, so erfüllte dieser Vortrag noch nicht die verfassungsgerichtlich postulierte Voraussetzung des generellen Absinkens des jeweiligen grundrechtlichen Schutzniveaus unter jenes der deutschen Verfassung2061. Dennoch sollten dem BVerfG hier angesichts der eingeschränkten Kontrollmöglichkeiten des EuGH auch weiterhin eigene Prüfungskompetenzen zustehen. Zur Rechtfertigung einer solchen Parallelermächtigung erscheinen mehrere Begründungsansätze denkbar. Der erste kann über die schon angedeutete Annahme laufen, dass justitielle Grundrechte per se nicht von den Aussagen der Solange II-Rechtsprechung erfasst sind, da es insoweit allein um die prozedurale Absicherung der materiellen Grundrechte im Gesamtsystem geht, die ihrerseits sowohl auf der zentralen wie auch auf der dezentralen Rechtsschutzebene zu erfolgen hat, so dass je nach der tätigen Justizebene auch die dort geltenden Prozessgrundrechte Anwendung finden. Ein ähnlicher Begründungsstrang könnte maßgeblich an den Charakter des Art. 234 EGV als zentrale Schaltstelle für den justitiellen Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte anknüpfen. Denn ein zentraler Wesenszug des mit dem Vorabentscheidungsverfahren verwirklichten gerichtlichen Kooperationssystems ist die Notwendigkeit der Aktivierung dieses justitiellen Links durch die mitgliedstaatlichen Gerichte, die jedoch im Vorfeld der Entscheidung über die Vornahme einer Vorlage, wie gesehen, einen beträchtlichen, vom EuGH nur eingeschränkt überprüfbaren Ermessensspielraum innehaben. Das Zusammenspiel zwischen der besonders engen Verzahnung der Gerichtsebenen und der Existenz eigener Kompetenzbereiche kann es somit rechtfertigen, die wirksame Handhabung des gerichtlichen Schutzsystems über die simultane Geltung von nationalen und gemeinschaftsrechtlichen Prozessgrundrechten abzusichern. Als weitere Begründungsmöglichkeit käme in diesem Zusammenhang in Betracht, streng und präzise zwischen den einzelnen Entscheidungssphären zu differenzieren und jene Anforderungen, die allein das nationale Recht betreffen, auch nur dem Maßstab der nationalen Justizgrundrechte zu unterwerfen und die Anwendung jener Voraussetzungen, die aus dem Gemeinschaftsrecht herrühren, allein an dem gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgrundrecht zu messen. Eine solch sphärenspezifische Aufteilung der Problematik überginge indes den Umstand, dass gerade die gemeinschaftsrechtlich determinierten Vorlageanforderungen die Beantwortung mitgliedstaatsinterner Fragen bedingen, so dass sich angesichts der Vielschichtigkeit der teilweise mehr oder minder im instanzgerichtlichen Ermessensspielraum liegenden Entscheidungskriterien, die für die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens relevant sind, eine stringente Rechtssphärentrennung nicht sinnvoll vornehmen lassen wird. Aufgrund der engen Verzahnung der Rechtssysteme erscheint es im 2061 s. zu dieser Voraussetzung nochmals BVerfGE 102, 147, 164 (Bananenmarktverordnung).

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Interesse eines effizienten Einsatzes des Vorabentscheidungsverfahrens folglich nach wie vor geboten, die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des gerichtlichen Vorlageverhaltens sowohl aus gemeinschaftsverfassungsrechtlicher als auch aus nationalverfassungsrechtlicher Sicht zu ermöglichen. Losgelöst von diesem delikaten Fragenkomplex und unter weiterer Außerachtlassung der zusätzlichen zeitlichen Dimensionen, die der außerordentliche Weg über das BVerfG zur Erzwingung einer Vorlage eröffnet, erweist sich aber die Möglichkeit der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde vor dem Hintergrund der dargestellten hohen Anforderungen, die an einen Beschwerdeerfolg gestellt werden, in der Riege der gegen eine unterlassene Gerichtsvorlage bestehenden Angriffsmittel als ungeschliffenes Schwert. Zu bedenken gilt schließlich, dass in einigen mitgliedstaatlichen Rechtssystemen ein der Bundesverfassungsbeschwerde äquivalenter Rechtsbehelf zum Schutze der fundamentalen Rechte des Einzelnen überhaupt nicht vorgesehen ist. Ein europaweit einheitlicher Individualrechtsschutz ist über diesen Weg also nicht zu erreichen. cc) Individualbeschwerde zum EGMR Abseits der zentralen und dezentralen Rechtsschutzmöglichkeiten im Rechtsschutzsystem der EG verbleibt schließlich die Möglichkeit, die gemeinschaftspflichtwidrige Nichtvorlage vor dem EGMR im Wege einer gegen den betreffenden Mitgliedstaat gerichteten Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK zu rügen. Denn der Gerichtshof in Straßburg hat bereits mehrfach ausdrücklich anerkannt, dass die willkürliche Zurückweisung eines Antrags auf Einleitung eines präjudiziellen Verfahrens, einschließlich jenes Verfahrens nach Art. 234 EGV, das Recht des Einzelnen auf ein faires Verfahren nach Art. 6 § 1 EMRK verletzen kann2062. Die wesentlichen Vorteile dieses konventionsrechtlichen Rechtsbehelfs liegen dabei auf der Hand. Nicht nur hat der Einzelne hier unter den üblichen Zulässigkeitsvoraussetzungen ein echtes Beschwerderecht und ist folglich nicht auf die Vornahme einer verfahrenseinleitenden Ermessensentscheidung einer hoheitlichen Stelle angewiesen. Vielmehr steht ihm dieser Weg gerade gegen jeden Mitgliedstaat offen und dies ungeachtet des Umstands, ob jener seinerseits innerstaatliche ordentliche oder außerordentliche Verfahrensmittel gegen die gerichtliche Nichtvorlageentscheidung vorsieht. Dazu jüngst wieder EGMR, Entsch. v. 17. März 2005, Beschw. Nr. 40051/ 02, Entscheidungsgründe 1. b) (Kefalas u. a./Griechenland); ebenso zuvor etwa EGMR, Entsch. v. 7. September 1999, Beschw. Nr. 38399/97 (Dotta/Italien); ferner EGMR, Entsch. v. 8. Juni 1999, Beschw. Nr. 31993/96, Entscheidungsgründe 1. c) (Predil Anstalt AG/Italien). 2062

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Mit Blick auf die Autonomie der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsordnung ist jedoch zu berücksichtigen, dass der EGMR der Konvention kein eigenständiges und generelles Recht auf Weiterleitung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorlage durch ein nationales Gericht zum EuGH entnehmen kann, sondern seine Kontrolle auf die Frage beschränken muss, ob die Anwendung der systemeigenen Verfahrensregeln ein Konventionsrecht verletzt hat. Im Hinblick auf das in Art. 6 § 1 EMRK niedergelegte Recht auf ein faires Verfahren konzentriert der EGMR die Kontrolle dabei stets auf das Attribut der Willkür2063 und begnügt sich hier ganz regelmäßig mit der Prüfung, ob der Vortrag und die Anregung zur Vorlage überhaupt vom nationalen Gericht berücksichtigt und der Ablehnung hinreichend begründet worden ist, um so das Risiko einer willkürlichen Entscheidung ausschließen zu können2064. Ebenso verneint der EGMR einen Fall von Willkür bereits dann, wenn gerade der EuGH durch einen Hinweis auf bereits existierende Rechtsprechung zu ähnlich gelagerten Fragen explizit oder konkludent zu einer Rücknahme der Vorlage ermuntert hat2065. Ob das nationale Gericht überhaupt ansatzweise die einschlägige Rechtsprechung des EuGH berücksichtigt hat, unterliegt derweil nicht der Prüfungskompetenz des EGMR2066 und ist daher kein taugliches Kriterium zur Begründung des Willkürvorwurfs. Der EGMR setzt seinen Kontrollbefugnissen in Bezug auf das Vorlageverhalten der mitgliedstaatlichen Gerichte durch diese – aus konventionsrechtlicher Sicht zutreffende – Praxis somit noch engere Grenzen als das BVerfG im Anwendungsbereich des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Im Ergebnis sind die Erfolgsaussichten einer auf die Verletzung des Art. 6 § 1 EMRK gestützten Individualbeschwerde zum EGMR damit aber noch geringer als jene einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG2067. 2063 Französisch: „s’il apparaît arbitraire“; s. schon EKMR, Entsch. v. 12. Mai 1993, Beschw. Nr. 20631/92, Entscheidungsgründe 1. (Société DIVAGSA/Spanien). 2064 Vgl. insbesondere EGMR, Entsch. v. 8. Juni 1999, Beschw. Nr. 31993/96, Entscheidungsgründe 1. c) (Predil Anstalt AG/Italien); ähnlich EGMR, Urt. v. 23. Juni 2000, Beschw.Nrn. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96, Nr. 115 (Coëme u. a./Belgien); EGMR, Urt. v. 5. November 2002, Beschw. Nr. 32576/96, Nr. 42 (Wynen/Belgien); EGMR, Urt. v. 15. Juli 2003, Beschw. Nr. 33400/96, Nr. 74 (Ernst u. a./Belgien). Mit einem anderen Begründungsansatz aber EGMR, Entsch. v. 7. September 1999, Beschw. Nr. 38399/97 (Dotta/Italien), soweit der Gerichtshof hier darauf abstellte, dass die zugunsten der Vorlage angeführten Prinzipien und Regeln zum einen nicht treffend gewesen seien und zum anderen keine Auslegungsprobleme hervorgerufen hätten. 2065 Vgl. EGMR, Entsch. v. 17. März 2005, Beschw. Nr. 40051/02, Entscheidungsgründe 1. b) (Kefalas u. a./Griechenland). 2066 EGMR, a.a.O (Kefalas u. a./Griechenland). 2067 Soweit ersichtlich, hat der EGMR eine Verletzung des Art. 6 § 1 EMRK durch eine Nichtvorlage zum EuGH bislang durchgehend verneint. Hatte er sich dabei anfangs mit den relevanten Fragen noch in der Begründetheitsprüfung auseinan-

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d) Zwischenergebnis Das Vorabentscheidungsverfahren verkörpert im gemeinschaftlichen Gefüge der dem Schutz der Individualrechte förderlichen Rechtsbehelfe ein zentrales Element. Die Bedeutung seiner systemgerechten und unter seiner funktionalen Prämisse erfolgenden Handhabe für die Effektivität des Individualrechtsschutzes ist kaum zu unterschätzen. Allerdings steht seine verfahrensrechtliche Ausgestaltung zu dieser – auch – subjektiv-schützenden Zweckbestimmung in krassem Missverhältnis, handelt es sich doch letztlich um einen Rechtsbehelf, der ebenso dem Grundrechtsschutz des Einzelnen dienen soll, ohne dass Letzterer sich dieses Mittels wirksam aus eigener Initiative bedienen kann. Entsprechend verhält es sich mit den Möglichkeiten des Grundrechtsträgers, eine Vorlage mittelbar über den Angriff gegen die Negativentscheidung des mitgliedstaatlichen Gerichts durchzusetzen, da auch insoweit angemessen zugängliche und wirksame Rechtsbehelfe fehlen. 5. Schadensersatzklage gegen die Gemeinschaft Kann der Einzelne einen ihn belastenden EG-Rechtsakt nicht oder nicht erfolgreich über die primäre Rechtsschutzebene angreifen, bleibt ihm möglicherweise der Gang über den in Art. 288 Abs. 2 i. V. m. Art. 235 EGV geregelten sekundären Rechtsschutz, um über eine außervertragliche Haftung der Gemeinschaft zumindest die durch den Akt kausal verursachten finanziellen Nachteile kompensiert zu sehen. Dass indessen auch diese Rechtsschutzmöglichkeit nicht leicht zu realisieren ist, wird der folgende Blick auf die Voraussetzungen einer erfolgreichen Amtshaftungsklage zeigen. a) Zulässigkeitsvoraussetzungen Die Klage kann jede nach nationalem Recht prozessfähige natürliche oder juristische Person2068 nach Art. 3 Abs. 1 lit. B bis d des Ratsbeschlusses 88/5912069 beim EuG gegen die Gemeinschaft, vertreten durch das dergesetzt, so ist er in seinen neueren Entscheidungen dazu übergegangen, die Beschwerden nach Art. 35 § 3 u. 4 EMRK unter Berufung auf eine offensichtliche Unbegründetheit schon als unzulässig abzulehnen. 2068 In Betracht kommt auch eine Klage juristischer Personen des öffentlichen Rechts (dazu näher Gilsdorf/Oliver, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. 215 EGV, Rn. 23). 2069 Beschluss des Rates (88/591/EGKS, EWG, Euratom) zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 24. Oktober 1988, zuletzt geändert durch Beschl. v. 26. April 1999 (ABl. EG 1988 L 319/1; Sartorius II Nr. 248).

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schadensverursachende Organ2070, erheben, ohne eine besondere Klagebefugnis geltend machen zu müssen. aa) Temporäre Aspekte Der Schadensersatzanspruch ist aufgrund der Verjährungsregelung des Art. 46 EuGH-Satzung innerhalb von fünf Jahren nach dem erstmaligen Vorliegen aller für sein Bestehen notwendigen Voraussetzungen gerichtlich geltend zu machen2071. Hat der Gerichtshof die Einrede der Verjährung dabei anfangs noch als ein den Umfang des Schadensersatzanspruchs betreffendes Verteidigungsmittel angesehen2072, so handelt es sich bei ihr nach neuerer Rechtsprechung um eine Sachentscheidungsvoraussetzung2073. Einer besonderen Erwähnung bedarf in diesem Zusammenhang die nicht ganz unproblematische Entscheidung des EuG in der Rechtssache Eagle2074, nach welcher der Einzelne auch in Abwesenheit solch ausdrücklicher Verjährungs- oder Ausschlussfristen2075 vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Rechtssicherheit einen Schadensersatzanspruch gegenüber der Gemeinschaft innerhalb einer angemessenen Frist beantragen muss, die das Gericht in Analogie zu Art. 46 EuGH-Satzung pauschal mit fünf Jahren festsetzt2076. Sowohl die Feststellung einer solchen Verpflichtung im Allgemeinen als auch die starre Übertragung der Fünfjahresfrist erscheinen hier aber mehr als zweifelhaft. Zunächst geht schon die Begründung zu Ersterer fehl, soweit das EuG einerseits auf den allein die Hoheitsträger bindenden Vgl. EuGH, Rs. 63/72, Slg. 1972, 1229, Rn. 8 (Werhahn Hansamühle u. a.). Dazu erstmals EuGH, verb. Rsn. 256, 257, 265 und 267/80 sowie 5/91, Slg. 1982, 85, Rn. 9 f. (Birra Wührer/Rat und Kommission). 2072 EuGH, Rs. 4/69, Slg. 1971, 325, Rn. 8 (Lütticke/Kommission). 2073 s. insbesondere EuGH, verb. Rsn. 256, 257, 265 und 267/80 sowie 5/91, Slg. 1982, 85, Rn. 13 (Birra Wührer/Rat und Kommission), wo der Gerichtshof die Verjährungseinrede als „prozesshindernde Einrede“ bezeichnet. Im Anschluss daran konsequent auch EuGH, verb. Rsn. 256, 257, 265 und 267/80 sowie 5/91, Slg. 1984, 3693, Rn. 16 f. (Birra Wührer/Rat und Kommission). Ebenso deutlich etwa EuG, Rs. T-143/97, Slg. 2001, II-277, Rn. 58 ff. und insb. 73 f. (van den Berg/Rat und Kommission), wobei bemerkenswert ist, dass das Gericht hier vor der letztlich bejahten Verjährungsfrage ebenfalls in der Zulässigkeit die Voraussetzungen zur Entstehung des Schadensersatzanspruchs erörterte. In der Rechtsmittelinstanz erachtete der EuGH die inhaltlichen Ausführungen des EuG insoweit zwar partiell für unzutreffend, kam im Ergebnis aber gleichfalls zur Verjährung [vgl. EuGH, Rs. C-164/01 P, Slg. 2004, I-10225, Rn. 90 ff. (van den Berg/Rat und Kommission)]. 2074 EuG, Rs. T-144/02, Slg. 2004, II-3381 (Eagle u. a.). 2075 In casu handelte es sich um eine Streitigkeit zwischen der Gemeinschaft und ihren Bediensteten i. S. d. Art. 152 EAG, für welche Art. 90 des EuGH-Statuts keine Fristenregelungen vorsieht. 2076 EuG, a. a. O., Rn. 57 ff. (Eagle u. a.). 2070 2071

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Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung und andererseits auf die Rechtsprechung des EuGH zur Schadensbegrenzungspflicht des Einzelnen verweist, deren Verletzung eher ein anspruchsminderndes Mitverschulden, aber kaum die Unzulässigkeit eines prozessualen Antrags tragen kann. Dogmatisch wäre insoweit viel eher die Heranziehung des auch im Gemeinschaftsrecht bekannten Instituts der Verwirkung in Betracht gekommen2077, für das jedoch im konkreten Fall ein hinreichendes Umstands- und Zeitmoment vorliegen muss. Doch auch die analoge Anwendung des Art. 46 EuGH-Satzung vermag nicht zu überzeugen, da das EuG die hierfür notwendige Regelungslücke, also die planwidrige Unvollständigkeit im Rechtssystem, mit keinem Wort näher begründet und gegen diese auch die Annahme streiten muss, dass für einen spezifischen Bereich in Abwesenheit ausdrücklicher Regelungen nach dem Willen des Normgebers gerade kein Fristerfordernis gelten soll und damit zumindest die Planwidrigkeit der Gesetzesunvollständigkeit fehlen dürfte. bb) Rechtsschutzbedürfnis Probleme können im Rahmen der Zulässigkeit einer Amtshaftungsklage zudem hinsichtlich des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses des Klägers auftreten, sofern zur Erreichung seines Rechtsschutzziels auch andere, möglicherweise gar vorrangige Verfahrenswege zur Verfügung stehen oder standen. Gleichviel die Schadensersatzklage im Rechtsschutzsystem der EG einen selbständigen Rechtsbehelf mit eigenen Zulässigkeitsvoraussetzungen und Funktionen bildet2078 und der Einzelne somit nicht zwingend gehalten ist, sich zuvor um die Nichtigerklärung der schadensstiftenden Maßnahme zu bemühen2079, steht der sekundäre Rechtsschutz doch in einem gewissen Komplementärverhältnis zum primären Rechtsschutz. Diese Relation folgt aus dem Umstand, dass der Grundsatz der Amtshaftung der Gemeinschaft vor allem der Kompensation der durch rechtswidriges Organverhalten erlittenen Schäden dient2080. Mit dem Vorabentscheidungsverfahren hat die 2077 s. zu einem Fall prozessualer Verwirkung EuG, verb. Rsn. T-25/95, T-26/95, T-30/95 bis T-32/95, T-34/95 bis T-39/95, T-42/95 bis T-46/95, T-48/95, T-50/95 bis T-65/95, T-68/95 bis T-71/95, T-87/95, T-88/95, T-103/95 und T-104/95, Slg. 2000, II-491, Rn. 383 (Cimenteries CBR u. a./Kommission). 2078 So bereits EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975, Rn. 3 (Zuckerfabrik Schöppenstedt/Rat); vgl. ferner etwa EuGH, Rs. C-87/89, Slg. 1990, I-1981, Rn. 14 (Sonito u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-257/93, Slg. 1993, I-3335, Rn. 14 (Van Parijs u. a./Rat und Kommission). 2079 Vgl. EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 59 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.). 2080 Vgl. etwa EuGH, verb. Rsn. C-46/93 u. 48/93, Slg. 1996, I-1029, Rn. 20 ff. (Brasserie du pêcheur und Factortame).

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Amtshaftungsklage daher funktional gemein, bestehende Lücken im System direkten Rechtsschutzes auszugleichen2081. Da die Amtshaftungsklage mit Blick auf ihren Zweck aber nicht an die Stelle des primären Rechtsschutzes treten kann und soll, steht sie zu Letzterem eher in einem Subsidiaritätsverhältnis2082 dahingehend, dass Schadensersatzanträge ganz regelmäßig zurückzuweisen sind, soweit diese in einem engen Zusammenhang mit Nichtigkeitsanträgen stehen, die ihrerseits bereits zurückgewiesen wurden2083. In diesem Sinne kann eine Partei über den Weg des Schadensersatzes nicht die Unzulässigkeit eines Nichtigkeitsantrags untergraben, wenn Letzterer dieselbe Rechtswidrigkeit betrifft und dabei den gleichen finanziellen Interessen dient2084. Kann über den Amtshaftungsprozess demnach keinesfalls die Aufhebung einer bestimmten Maßnahme oder die Feststellung der Untätigkeit eines Organs begehrt werden2085, so steht der Zulässigkeit der Klage angesichts ihrer Eigenfunktion aber nicht schon entgegen, dass sie auch zu einem einer Anfechtungs- oder Untätigkeitsklage vergleichbaren Ergebnis führen kann2086. Anders, namentlich als rechtsmissbräuchlich, ist dies nur zu beurteilen, wenn das unter dem Deckmantel der Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs geäußerte Begehren in Wirklichkeit auf Aufhebung einer gegenüber dem Kläger bestandskräftigen Maßnahme gerichtet ist und die Klage folglich den gleichen Gegenstand und die gleiche Wirkung hat wie eine Nichtigkeitsklage2087. Vgl. Bieber/Epiney/Haag, S. 238, Rn. 67. So ausdrücklich EuG, T-166/98, Slg. 2004, II-3991, Rn. 121 (Cantina sociale di Dolianova u. a./Kommission). 2083 s. EuG, verb. Rsn. T-189/95, T-39/96 u. T-123/96, Slg. 1999, II-3587, Rn. 72 [Services pour le groupement d’acquisitions (SGA)/Kommission], bestätigt durch EuGH, C-39/00 P, Slg. 2000, I-11201, Rn. 73 (SGA/Kommission). 2084 Vgl. EuGH, Rs. 543/79, Slg. 1981, 2669, Rn. 28 (Birke/Kommission und Rat); EuGH, Rs. 799/79, Slg. 1981, 2697, Rn. 19 (Bruckner/Kommission und Rat); EuGH, Rs. 175/84, Slg. 1986, 753, Rn. 33 (Krohn/Kommission); ebenso in jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 59 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.). 2085 s. für einen Überblick zum Streit, ob der Anspruch auf Schadensersatz seiner Art nach auch auf eine Naturalrestitution gerichtet sein kann Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 9, Rn. 52 m. w. N. 2086 So EuG, T-166/98, Slg. 2004, II-3991, Rn. 122 (Cantina sociale di Dolianova u. a./Kommission). 2087 Vgl. insbesondere EuG, a. a. O. (Cantina sociale di Dolianova u. a./Kommission) unter Bezugnahme auf folgende Entscheidungen: EuGH, Rs. 4/69, Slg. 1971, 325, Rn. 6 (Lütticke/Kommission); EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975, Rn. 3 ff. (Zuckerfabrik Schoeppenstedt/Rat); EuGH, Rs. 175/84, Slg. 1986, 753, Rn. 26, 32 und 33 (Krohn/Kommission); EuGH, Rs. 261/78, Slg. 1979, 3045, Rn. 7 (Interquell Stärke-Chemie/Rat und Kommission); EuG, Rs. T-491/93, Slg. 1996, II1131, Rn. 64 ff. (Richco/Kommission); EGMR, Urt. v. 16. April 2002, Beschw. Nr. 26677/97, §§ 47 und 61 (SA Dangeville/Frankreich). 2081 2082

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cc) Subsidiaritätsaspekte Ein weiterer problematischer Punkt der Zulässigkeit kann in der vom EuGH bisweilen angedeuteten Subsidiarität der Amtshaftungsklage gegenüber innerstaatlichen Klagemöglichkeiten begründet liegen2088. Mangels eigenen Verwaltungsunterbaus sind es schließlich ganz regelmäßig die mitgliedstaatlichen Stellen, die das EG-Recht durchzuführen und anzuwenden haben. Insbesondere im Bereich der Haftung der EG für normatives Unrecht kann es daher zu Schwierigkeiten bei der Abgrenzung der unterschiedlichen Verantwortungs- und Haftungssphären kommen. Soweit das Schadensersatzbegehren sich im Wesentlichen auf solche Maßnahmen stützt, welche die mitgliedstaatlichen Stellen auf der Grundlage gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen ergriffen haben, ist eine Schadensersatzklage gegen die Gemeinschaft demzufolge regelmäßig unzulässig2089. Fragen des Ersatzes solcher Schäden, die durch das Verhalten staatlicher Stellen unter Verletzung des Gemeinschaftsrechts oder anlässlich seiner Durchführung unter Verletzung des nationalen Rechts entstehen, haben vielmehr allein die mitgliedstaatlichen Gerichte nach nationalem Recht zu beantworten2090. Wird der behauptete Rechtsverstoß hingegen gerade einem Gemeinschaftsorgan vorgeworfen und der Schaden also der EG angelastet2091, so kann nur der nach Art. 235 EGV für Haftungsklagen gegen die Gemeinschaft zuständige Gemeinschaftsrichter den wirksamen Schutz der dem Einzelnen verliehenen Rechte gewährleisten2092, so dass in diesem Fall eine direkte Schadensersatzklage gegen die Gemeinschaft zulässig ist2093.

2088 s. dazu die Ausführungen bei EuGH, Rs. 175/84, Slg. 1986, 753, Rn. 27 (Krohn/Kommission). 2089 So schon EuGH, Rs. 12/77, Slg. 1978, 553, Rn. 25/26 (Debayser); ähnlich EuGH, Rs. 12/79, Slg. 1979, 3657, Rn. 10 (Hans-Otto Wagner); EuGH, Rs. 217/81, Slg. 1982, 2233, Rn. 9 (Interagra/Kommission). 2090 EuGH, Rs. 101/78, Slg. 1979, 623, Rn. 14 (Granaria). 2091 Vgl. EuGH, Rs. 126/76, Slg. 1977, 2431, Rn. 5 (Dietz/Kommission); EuGH, verb. Rsn. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rn. 9 (Mulder u. a./Rat und Kommission). 2092 Dazu EuGH, verb. Rsn. 107/87 bis 120/87, Slg. 1988, 5515, Rn. 14 (Asteris u. a./Griechenland und EWG). 2093 Vgl. EuG, Rs. T-18/99, Slg. 2001, II-913, Rn. 26 ff. (Cordis Obst und Gemüse Großhandel/Kommission). Macht der Kläger aber einen Schadensersatzanspruch geltend, der auf einer sowohl nach gemeinschaftsrechtlichen als auch nach innerstaatlichen Rechtsmaßstäben rechtswidrigen Handlung fußt, so hat er zunächst die innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten auszuschöpfen, um eine finanzielle Restitution zu erreichen, bevor er den etwaig verbleibenden Schaden bei der Gemeinschaft liquidieren kann [vgl. EuGH, verb. Rsn. 5, 7, 13 bis 24/66, Slg. 1967, 332, 355 f. (Kampffmeyer u. a.)].

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b) Begründetheitsanforderungen In der Sache ist eine außervertragliche Haftung der Gemeinschaft nach der ständigen Rechtsprechung zu bejahen, wenn erstens die dem Organ der Gemeinschaft vorgehaltene Handlung rechtswidrig ist, zweitens der Einzelne einen tatsächlichen Schaden erlitten hat und drittens zwischen der Handlung und dem Schaden ein kausaler Zusammenhang besteht2094. Gleichviel Erstere der kumulativ2095 vorausgesetzten Anforderungen keine grammatikalische Stütze in Art. 288 Abs. 2 EGV findet und a priori ebenso eine Haftung der EG für rechtmäßiges Handeln ihrer Organe oder Bediensteten in Betracht kommt2096, hat sie sich im Laufe der Zeit als wesentliche haftungsbegründende Voraussetzung entwickelt, die ihrerseits von verschiedenen Subkriterien geprägt ist. So lässt der EuGH speziell im Bereich der hier interessierenden Haftung für schadensstiftende Normativakte die einfache Rechtswidrigkeit der Handlung nicht ausreichen2097, sondern verlangt unter Bedachtnahme der Komplexität des Sachverhalts sowie der Probleme bei der Anwendung und Auslegung der Rechtsvorschriften und des dem erlassenden Organ zustehenden Ermessensspielraums, dass die verletzte Rechtsnorm den Zweck hat, dem Einzelnen Rechte zu verleihen, und dass der betreffende Rechtsverstoß hinreichend qualifiziert ist2098. Wesentliche 2094 Vgl. etwa EuGH, verb. Rsn. 197/80 bis 200/80, 243/80, 245/80 und 247/80, Slg. 1981, 3211, Rn. 18 (Ludwigshafener Walzmühle u. a./Rat und Kommission); EuG, verb. Rsn. T-481/93 und T-484/93, Slg. 1995, II-2941, Rn. 80 (Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission). s. zum europäischen Haftungsrecht näher Detterbeck, AöR 2000, 202 ff. 2095 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-257/98 P, Slg. 1999, I-5251, Rn. 14 (Lucaccioni/ Kommission). 2096 Denkbar ist dies insbesondere, wenn dem Einzelnen im Vergleich zu anderen Betroffenen ein Sonderopfer abverlangt wird, seine Belastung also außergewöhnlich ausfällt und daher aus Gründen der Gerechtigkeit und Billigkeit einer Kompensation zugeführt werden muss [vgl. dazu schon EuGH, verb. Rsn. 9/71 und 11/71, Slg. 1972, 391, Rn. 45 f. (Compagnie d’approvisionnement et grands moulins de Paris/ Kommission); EuGH, Rs. 59/83, Slg. 1984, 4057, Rn. 28 (Biovilac/EWG); EuGH, Rs. 267/82, Slg. 1986, 1907, Rn. 33 (Développement SA und Clemessy/Kommission); EuGH, Rs. 81/86, Slg. 1987, 3677, Rn. 16 f. (De Boer Buizen/Rat und Kommission) sowie aus jüngerer Zeit auch EuGH, Rs. C-237/98 P, Slg. 2000, I-4549, Rn. 17 ff. (Dorsch Consult); ausführlich zur Haftung der Gemeinschaft für rechtmäßiges Organverhalten Haak, EuR 1999, 395 ff.]. 2097 Vgl. etwa EuGH, verb. Rsn. 83/76 und 94/76, 4/77 und 40/77, Slg. 1978, 1209, Rn. 6 (Bayerische HNL). 2098 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-352/98 P, Slg. 2000, I-5291, Rn. 40 ff. (Bergaderm u. a./Kommission). Steht dem Organ hingegen ein erheblich eingeschränkter bzw. gar kein Entscheidungsspielraum zu, kann bereits der einfache Verstoß gegen die individualschützende Norm genügen; so jüngst EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 235 (Sison/Rat) m. w. N.

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Voraussetzung für eine erfolgreiche Schadensersatzklage ist demnach der Nachweis einer schwerwiegenden Verletzung einer höherrangigen, individuelle Rechte schützenden Norm des Gemeinschaftsrechts2099. Im Gegensatz zur engen Schutznormtheorie in der deutschen Rechtsordnung2100 zeigt sich der Gerichtshof hier aber insoweit großzügiger, als er es ausreichen lässt, dass eine primär allgemeinen Interessen dienende Norm, die den Einzelnen mit Blick auf die ständige Rechtsprechung regelmäßig nicht unmittelbar und individuell betreffen kann, zumindest im Einzelfall – wohl im Sinne eines Rechtsreflexes2101 – auch den Schutz von Individualinteressen bewirkt2102. Damit einhergehende Voraussetzung ist freilich die Zugehörigkeit des Klägers zu dem normativ geschützten Personenkreis. In Bezug auf die für die Haftungsbegründung im legislativen Verantwortungsbereich regelmäßig nachzuweisende hinreichende Qualifizierung der Rechtsverletzung ist der EuGH dagegen weitaus strenger, soweit er die Haftung in Anbetracht des regelmäßig weiten politischen Gestaltungsspielraums der beteiligten Organe von einer offenkundigen und erheblichen Überschreitung der Grenzen der Befugnisse abhängig macht2103. Dies kann mit besonderem Blick auf das Verhalten der möglichen Legislativakteure etwa dann der Fall sein, wenn die verletzte Norm für den Schutz des Einzelnen von besonderer Bedeutung ist2104, wenn das Organ beim Normerlass die Interessen eines klar abgegrenzten Kreises von Betroffenen vollends unberücksichtigt gelassen hat, ohne sich auf ein höheres öffentliches Interesse berufen zu können2105, oder wenn es die Grenzen der Willkür überschritten hat2106. 2099 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rn. 9 (Mulder u. a./Rat und Kommission); vgl. aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-472/00 P, Slg. 2003, I-7541, Rn. 25 (Kommission/Fresh Marine Company); EuGH, Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803, Rn. 49 (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts) sowie EuGH, Rs. C-198/03, Slg. 2005, I-6357, Rn. 61 ff. (Kommission/CEVA und Pfizer). 2100 s. zu dieser etwa Happ, in: Eyermann, VwGO, § 42, Rn. 86 f.; Kopp/ Schenke, VwGO, § 42, Rn. 83 m. w. N. 2101 So auch Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 9, Rn. 41. 2102 Dazu schon EuGH, verb. Rsn. 5, 7, 13 bis 24/66, Slg. 1967, 332, 354 (Kampffmeyer u. a.). 2103 Vgl. EuGH, Rs. 5/71, Slg. 1971, 975, Rn. 11 (Zuckerfabrik Schoeppenstedt/ Rat); EuGH, verb. Rsn. 83/76 und 94/76, 4/77 und 40/77, Slg. 1978, 1209, Rn. 6 (Bayerische HNL); EuGH, verb. Rsn. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rn. 12 (Mulder u. a./Rat und Kommission). 2104 Vgl. EuGH, Rs. 64/76, Slg. 1979, 3091, Rn. 11 (Dumortier/Rat). 2105 Vgl. EuGH, verb. Rsn. C-104/89 und C-37/90, Slg. 1992, I-3061, Rn. 16 (Mulder u. a./Rat und Kommission). 2106 Vgl. EuGH, verb. Rsn. 116 und 124/77, Slg. 1979, 3497, Rn. 19 (Amylum/ Rat und Kommission).

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Im Hinblick auf die Auswirkungen des Rechtsakts kann der Verstoß zudem dann hinreichend qualifiziert sein, wenn er quantitativ eine begrenzte und klar umrissene Gruppe trifft oder aber der erlittene Schaden über die Grenzen jener typischen Risiken hinausgeht, die der wirtschaftlichen Betätigung in dem einschlägigen Wirtschaftszweig adäquat-immanent sind2107. Verfügt die betreffende Stelle nur über einen erheblich eingeschränkten oder auch gar keinen Gestaltungsspielraum, kann indes schon der einfache gemeinschaftsrechtliche Verstoß genügen2108. Insoweit ist es für die Bestimmung des Ermessensumfangs auch nicht relevant, ob das Organhandeln allgemeiner und damit legislativer oder einzelfallbezogener und mithin exekutiver Natur ist2109. 6. Schutz gemeinschaftsrechtlicher Rechtspositionen durch den EGMR Außerhalb der systeminternen Möglichkeiten des Einzelnen, einen gemeinschaftsrechtlichen Normativakt direkt anzugreifen, gerät schließlich die EMRK und der ihr inhärente Rechtsschutzmechanismus ins Blickfeld der hiesigen Überlegungen. Denn bisweilen bewegt sich auch der EGMR anlässlich seiner konventionsrechtlichen Rechtsprechungstätigkeit auf dem Gebiet des Gemeinschaftsrechts und trägt so, vermittelt über den Schutz der Konventionsrechte, zur effektiven Geltung und Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts bei. Gezeigt hat sich dies bereits im Bereich des Art. 6 § 1 EMRK, soweit der EGMR dort im Einzelfall, wie bereits erörtert, zumindest einer willkürlichen Verletzung der gemeinschaftsrechtlichen Vorlagepflicht nach Art. 234 EGV durch die mitgliedstaatlichen Gerichte einen Riegel vorschieben kann2110. Des Weiteren kann der EGMR in die Situation kommen, unmittelbar durch das Gemeinschaftsrecht verliehene Individualrechtspositionen unter konventionsrechtliche Garantien zu subsumieren und auf diesem Weg über die Gemeinschaftsrechtskonformität mitgliedstaatlicher Handlungen zu judizieren. So verhielt es sich etwa in der Rechts2107 In diesem Sinne EuGH, Rs. 64/76, Slg. 1979, 3091, Rn. 11 (Dumortier/Rat); ferner EuGH, verb. Rsn. 83/76 und 94/76, 4/77 und 40/77, Slg. 1978, 1209, Rn. 7 (Bayerische HNL). 2108 Vgl. EuGH, Rs. C-5/94, Slg. 1996, I-2553, Rn. 28 (Hedley Lomas); EuGH, Rs. C-352/98 P, Slg. 2000, I-5291, Rn. 44 (Bergaderm u. a./Kommission); EuG, Rs. T-155/99, Slg. 2001, II-3143, Rn. 4 (Dieckmann & Hansen/Kommission). 2109 EuGH, a. a. O., Rn. 46 (Bergaderm u. a./Kommission). 2110 Vgl. dazu nochmals EGMR, Entsch. v. 17. März 2005, Beschw. Nr. 40051/ 02, Entscheidungsgründe 1. b) (Kefalas u. a./Griechenland); bereits zuvor ähnlich EGMR, Entsch. v. 7. September 1999, Beschw. Nr. 38399/97 (Dotta/Italien); EGMR, Entsch. v. 8. Juni 1999, Beschw. Nr. 31993/96, Entscheidungsgründe 1. c) (Predil Anstalt AG/Italien).

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sache Dangeville2111, in welcher der EGMR Art. 13-B-a der sechsten Umsatzsteuer-Richtlinie2112, die Frankreich nicht fristgemäß in nationales Recht umgesetzt hatte, eine unmittelbare Anwendbarkeit attestierte und die durch die Vorschrift verliehenen Rechte als eigentumsähnliche berechtigte Erwartungen im Sinne der Eigentumsgarantie nach Art. 1 des 1. Zusatzprotokolls zur EMRK2113 wertete2114, um letztlich in Ermanglung einer Rechtfertigung des Eingriffs eine Konventionsverletzung festzustellen2115. Jene Fälle, in denen der EGMR nicht nur peripher mit gemeinschaftsrechtlichen Materien in Berührung kommt, sondern durch die Einbeziehung gemeinschaftsrechtlicher Rechtspositionen in den sachlichen Anwendungsbereich der Gewährleistungen der EMRK selbst zu einem ihrer Garanten wird, haben dabei gemein, dass der Gerichtshof hier unmittelbar an ein mitgliedstaatliches Verhalten anknüpfen und sich daher ratione personae für zuständig erklären kann, ohne zugleich ratione materiae die Eigenständigkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung und damit einhergehend die exklusiven Judikativkompetenzen des EuGH in Frage zu stellen. Im Hinblick auf die primärschutzrechtlich interessierende Unterwerfung normativer Handlungen der EG unter das Kontrollregime der EMRK ist der Gerichtshof in Straßburg unterdessen nach einer zwischenzeitlich eher intransparenten Rechtsprechungsentwicklung nunmehr, seit der Rechtssache Bosphorus2116, dazu übergegangen, die grundsätzliche Äquivalenz des gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutzsystems zum konventionsrechtlichen Schutzstandard anzuerkennen und seine Kontrollbefugnisse, die aus konventionsrechtlicher Sicht de iure wegen der fortgeltenden Verantwortlichkeit der Mitgliedstaaten gegenüber der Konvention auch nach Beginn der jeweiligen EU-Mitgliedschaft bestehen bleiben, hier auf eine Reservekompetenz zurückzufahren2117. Nach dem derzeitigen Stand ist es vor diesem Hintergrund nicht ernsthaft zu erwarten, dass der EGMR eine Individualbeschwerde gegen die EG oder das Kollektiv seiner Mitgliedstaaten mit der Behauptung der Konventionsrechtswidrigkeit eines Gemeinschafts2111 EGMR, Urt. v. 16. April 2002, Beschw. Nr. 36677/97 (S. A. Dangeville gegen Frankreich). 2112 RL 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977, ABl. EG Nr. L 145 vom 13. Juni 1977, S. 1. 2113 Zum Schutz solcher „espérances légitimes“ durch die Eigentumsgarantie bereits EGMR, Urt. v. 29. November 1991, Beschw. Nr. 12742/87, § 51 (Pine Valley Developments Ltd. u. a./Irland). 2114 EGMR, Urt. v. 16. April 2002, Beschw. Nr. 36677/97, §§ 46 ff. (S. A. Dangeville gegen Frankreich). 2115 s. hierzu ausführlicher Breuer, JZ 2003, 433, 435 ff. 2116 EGMR, Urteil v. 30.6.2005, Beschw. Nr. 45036/98 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 2117 Dazu bereits näher in Teil 2 unter B. III. 2. a) bb) (3) (a) (cc).

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rechtsakts zur sachlichen Entscheidung annehmen wird. Jedenfalls werden solche Beschwerden keinen Erfolg haben, solange das gemeinschaftsrechtliche Schutzniveau nach Auffassung des EGMR nicht deutlich das der EMRK unterschreitet. Mit Blick auf den fortschreitenden Ausbau des Grundrechtsregimes durch den EuGH und in Erwartung seiner Entwicklung unter einer in Kraft getretenen Grundrechte-Charta liegt letzteres Szenario derzeit eher fern. 7. Primäre Rechtsschutzmöglichkeiten im weiteren Sinne: Der Bürgerbeauftragte, das Petitionsrecht und die Nichtigkeitsklage der privilegiert Klagebefugten Zuletzt verbleiben dem Individualrechtsträger noch drei weitere Verfahrensmöglichkeiten, das individuelle Rechtsschutzziel der Beseitigung eines normativen EG-Rechtsakts zu erreichen, namentlich die Einlegung einer Petition nach Art. 194 EGV, die Einschaltung des nach Art. 195 EGV beim Europäischen Parlament als unabhängige Kontrollinstanz angesiedelten Bürgerbeauftragten oder die Anregung einer nach Art. 230 Abs. 2 EGV privilegiert klageberechtigten Partei zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage. a) Einlegung einer Petition beim Parlament Möglich ist zunächst, für die Durchsetzung des primären Rechtsschutzbegehrens das Petitionsrecht gegenüber dem Europäischen Parlament nach Art. 194 EGV zu nutzen. Dieses jeder natürlichen und juristischen Person mit Wohnort oder Sitz in einem Mitgliedstaat zustehende politische Beschwerdemittel2118 weist nämlich einen weiten sachlichen Einsatzbereich auf und kann sich gegenständlich grundsätzlich auf jede Angelegenheit beziehen, die in den Tätigkeitsbereich der Gemeinschaft fällt, solange diese den Petenten nur unmittelbar betrifft. Letzteres ist nach der Praxis des Petitionsausschusses bereits der Fall, wenn der Petent eine ernstzunehmende und tatsächliche Besorgnis in Bezug auf den Petitionsgegenstand darlegen kann. Erfasst wird hiervon demzufolge auch ein auf Änderung des geltenden EG-Rechts gerichtetes Begehren2119. Insoweit ist eine Petition theoretisch durchaus ein taugliches Mittel, um die Aufhebung eines existenten, individualbelastenden EG-Rechtsakts zu verfolgen. Jedoch hat der Petent hier im Ergebnis nur einen Anspruch auf Unterrichtung über die anlässlich 2118 Zum Kreis der möglichen Petenten auch EuGH, Rs. C-145/04, Slg. 2006, I-7917, Rn. 73 (Spanien/Vereinigtes Königreich). 2119 s. auch Art. 175 Abs. 1 UAbs. 2 der GO des Europäischen Parlaments vom 2. August 1999, ABl. EG L 202/1.

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seines Ersuchens gefassten Beschlüsse und deren Begründung2120 und mithin nur auf Beantwortung seiner Eingabe in der Sache unter Darstellung der Ergebnisse der unternommenen Schritte, nicht aber auf Vornahme einer bestimmten Sachentscheidung oder Handlung. Die limitierte Effizienz der Petition dürfte dem Begehren des Einzelnen folglich eher selten Rechnung tragen können. b) Beschwerde zum Ombudsmann Das ferner in Betracht kommende Beschwerdeverfahren vor dem Ombudsmann enthält ebenfalls keine prozessuale, sondern vielmehr eine zum Schutz der Rechte des Einzelnen wie auch zur Förderung der Transparenz und zur Stärkung der demokratischen Kontrolle vorgesehene administrative Rügemöglichkeit, mittels derer Missstände in der Verwaltungstätigkeit der Organe und Institutionen der Europäischen Gemeinschaft gerügt und einer Untersuchung durch den unabhängigen Ombudsmann zugeführt werden können2121. Vor der Beschwerde, die innerhalb von zwei Jahren, nachdem von den missbrauchsbegründenden Tatsachen Kenntnis erlangt worden ist, eingelegt werden muss, hat sich der Beschwerdeführer aus verfahrensökonomischen Gründen mit seinem Anliegen erst einmal an die betreffende Stelle zu wenden2122. Kommt es nach Weiterleitung seines Anliegens zu keiner vorgezogenen Streitbeilegung, führt der vorrangig um eine einvernehmliche Lösung des Problems bemühte Ombudsmann zunächst die für die Prüfung der behaupteten Missstände erforderlichen Untersuchungen durch und konfrontiert die betroffene Stelle gegebenenfalls mit den Vorwürfen und möglichen Empfehlungsentwürfen, woraufhin diese innerhalb von drei Monaten eine begründete Stellung abzugeben hat2123. Abschließend legt der Ombudsmann sodann dem Parlament und der gerügten Stelle seinen obligatorisch auch zur Kenntnis des Beschwerdeführers gelangenden Bericht vor. Gegenständlich muss sich die Beschwerde zum Ombudsmann auf ein bestimmtes Verhalten der gerügten Stelle beziehen, das nicht im Einklang mit den jeweils verbindlichen Regeln oder Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts 2120 2121

Rn. 1.

s. Art. 175 Abs. 6 GO des Europäischen Parlaments. Vgl. Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 195 EGV,

2122 Zur Beschwerdefrist und dem administrativen Vorverfahren s. Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994, ABl. EG L 113/15, geändert durch Beschl. vom 14. März 2002, ABl. EG L 92/13. 2123 s. näher zum Verfahrensgang Art. 3 des Beschlusses des Europäischen Parlaments vom 9. März 1994, a. a. O.

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steht, so etwa im Falle einer pflichtwidrigen Omission, der Wahl eines unzutreffenden Verfahrensweges oder einer illegitimen Verfahrensweise. Die praktisch bedeutsamsten Fälle betreffen dabei unangemessene Verfahrensverzögerungen, unzureichende Auskunftserteilungen oder individuelle Grundrechtsverletzungen und Diskriminierungen sowie der anderweitig missbräuchliche Einsatz der hoheitlichen Befugnisse2124. Das Spektrum möglicher Beschwerdegegenstände ist demnach denkbar weit gefächert, so dass zumindest in gewissem Umfang auch normschöpferische Tätigkeiten durch die EG-Organe erfasst werden können und die Beschwerde also nicht von vornherein ungeeignet erscheint, das Erlassorgan zur Aufhebung seines Rechtsakts zu bewegen. Die Beschwerde nach Art. 195 EGV und die Petition nach Art. 194 EGV ergänzen sich insoweit gegenseitig2125, ohne in einem echten Exklusivverhältnis zu stehen. Gegenüber dem Petitionsrecht wie auch gegenüber den primärschutzrechtlichen Klagemöglichkeiten hat die Beschwerde zum Bürgerbeauftragten jedenfalls den flagranten Vorteil, nicht dem Erfordernis einer unmittelbaren Betroffenheit unterworfen zu sein. Zugleich liegen aber auch die Schwächen dieses Verfahrensganges offen zutage. Gleichviel der Bürgerbeauftragte im Hinblick auf seine streitschlichtende Rolle auch richterähnliche Funktionen einnimmt, ist er doch ersichtlich kein echter Teil des dem Einzelnen vom EG-Vertrag zur Verfügung gestellten Rechtsschutzsystems, da er nicht alle Voraussetzungen erfüllt, die an ein Gericht im Sinne des Art. 6 § 1 EMRK zu stellen sind2126. Schon ausweislich seiner eigenen Initiativberechtigung nach Art. 195 Abs. 1 UAbs. 2 EGV ist er viel eher dem Bereich der Gemeinschaftsverwaltung zuzurechnen. Der Bürgerbeauftragte darf sich auch nicht mit Angelegenheiten befassen, die Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sind oder waren. Bereits die Formulierung dieser Regelung macht deutlich, dass das Beschwerdeverfahren nach Art. 195 EGV selbst kein Gerichtsverfahren darstellt. Ganz wesentlich ist darüber hinaus zu beachten, dass der Ombudsmann verfahrensabschließend nur Empfehlungen abgeben darf, ohne rechtsverbindlich über die Angelegenheit zu entscheiden2127. Demgemäß hat der Einzelne auch nur einen Anspruch auf Behandlung seiner Beschwerdeeingabe 2124 Vgl. dazu den Jahresbericht des Europäischen Bürgerbeauftragten für das Jahr 2006, Zusammenfassung und Statistiken, S. 7; vgl. ferner den Jahresbericht für das Jahr 2005, Zusammenfassung und Statistiken, S. 10 (jeweils abrufbar unter www.euro-ombudsman.eu.int/report/de/default.htm#20052009). 2125 Vgl. Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 195 EGV, Rn. 2. 2126 Vgl. dazu etwa EuGH, Rs. C-134/97, Slg. 1998, I-7023, Rn. 14 f. (Victoria Film); EuGH, Rs. C-178/99, Slg. 2001, I-4421, Rn. 13 f. (Salzmann). 2127 Dazu ausführlich GA Geelhoed, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803, Rn. 56 ff. (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts).

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samt Inkenntnissetzung über den Verfahrensausgang in der für die Beschwerde gewählten Sprache, ohne anschließend die Beschwerdeentscheidung über Art. 230 EGV vor den Gemeinschaftsgerichten angreifen zu können2128. Hieran ändert nichts, dass die im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vorgenommenen Handlungen des Ombudsmanns nicht per se der gerichtlichen Kontrolle entzogen sind, sondern zumindest als eventuell schadensstiftendes Verhalten über die Amtshaftungsklage einer – freilich die Besonderheiten des Amtes berücksichtigenden – Überprüfung zugeführt werden können2129. Wenngleich insoweit einige der einschlägigen Bestimmungen zum Beschwerdeverfahren geeignet sein können, auch den Einzelnen schützende Verfahrensrechte zu begründen, deren Verletzung gegebenenfalls die Haftung der Gemeinschaft auszulösen vermag, wird eine entsprechende Schadensersatzklage jedoch nur ausnahmsweise Erfolg haben. Denn den Ombudsmann trifft ganz regelmäßig nur eine – nicht ohne weiteres drittgerichtete – Handlungspflicht zur Ausübung seiner Befugnisse, für deren Wahrnehmung ihm ein weites Ermessen zusteht2130. Zudem wird dem Einzelnen auch der Nachweis des Kausalzusammenhangs zwischen dem Verhalten des Bürgerbeauftragten und seinem Schaden nur selten gelingen. Die Möglichkeit der Einlegung einer Beschwerde vor dem Bürgerbeauftragten entbehrt folglich – nicht zuletzt im hier interessierenden Bereich normativen Unrechts – der nötigen Effizienz. c) Anregung einer privilegierten Nichtigkeitsklage Schließlich verbleibt dem Einzelnen noch die Möglichkeit, eine der nach Art. 230 Abs. 2 EGV klageprivilegierten Parteien zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage zu bewegen. Was die Kommission und den Rat als regelmäßig zentral am Normschaffungsprozess beteiligte Stellen anbelangt, dürfte ein solches Unterfangen jedoch von vornherein zum Scheitern verurteilt sein, liegt auf deren Seite das Interesse doch vielmehr an der Aufrechterhaltung des wohl nach ihrer Überzeugung rechtmäßigen Rechtsakts, den sie im Übrigen anderenfalls in einem partiellen Insichprozess anzugreifen hätten. Entsprechend gilt dies für das nur teilprivilegiert klageberechtigte Europäische Parlament, das mit der Klage nach Art. 230 Abs. 3 EGV überdies zumindest auch die Wahrung seiner eigenen Rechte verfolgen müsste. 2128 Anders insoweit GA Geelhoed, a. a. O., Rn. 78 (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts), der mit Blick auf die im Rahmen des Beschwerdeverfahrens bestehenden Verfahrensrechte des Einzelnen und unter Hinweis auf das Recht auf effektiven Rechtsschutz eine solche Klagemöglichkeit nicht ganz ausschließt. 2129 s. dazu EuGH, Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803, Rn. 43 ff. (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts). 2130 EuGH, a. a. O., Rn. 50 (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts).

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Anders kann die Interessenlage im Einzelfall seitens eines Mitgliedstaats liegen, sofern dieser etwa vor dem Hintergrund der punktuellen Zurückdrängung des Einstimmigkeitsprinzips im supranationalen Bereich der EG2131 den Erlass des Rechtsakts nicht mitgetragen und womöglich auch gar kein Interesse an dessen Aufrechterhaltung hat. Doch auch ohne wesentliche Eigenmotive kann der Mitgliedstaat hier geneigt sein, im Interesse des Einzelnen gegen den Rechtsakt über Art. 230 EGV vorzugehen. Aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht bestehen hiergegen auch keine grundsätzlichen Bedenken, da die so herbeigeführte Normenkontrolle der Durchsetzung des rechtsstaatlichen Gebots rechtmäßigen Handelns dient und damit der Rechtssicherheit und Stabilität der gesamten Rechtsgemeinschaft förderlich ist. Allerdings ergibt sich aus dem Gemeinschaftsrecht nicht zugleich eine entsprechende rechtliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten gegenüber ihren Bürgern, zu deren Gunsten auf der zentralen Prozessebene tätig zu werden. Weder der Regelung des Art. 230 EGV noch dem Gebot beiderseitiger loyaler Zusammenarbeit nach Art. 10 EGV lassen sich nämlich in grammatikalischer, normsystematischer oder teleologischer Hinsicht eine dahingehende mitgliedstaatliche Handlungspflicht entnehmen2132. Ob ein Mitgliedstaat von seinem Privileg, eine Nichtigkeitsklage ohne besondere Betroffenheit einleiten zu können, Gebrauch macht oder nicht, obliegt vielmehr seiner freien Entscheidung2133 und ist aus der Warte des EG-Vertrags nicht justitiabel. Auf der Ebene des nationalen Rechts bleibt es dem Mitgliedstaat derweil grundsätzlich unbenommen, zugunsten des Einzelnen Regelungen zum pflichtgemäßen Tätigwerden oder zu einer Amtshaftung wegen Untätigkeit zu treffen, wobei diese Möglichkeit unterdessen ihrerseits in dem in Art. 10 EGV fixierten Prinzip der loyalen Zusammenarbeit eine Grenze findet, das den Mitgliedstaaten u. a. verbietet, die Funktionsfähigkeit des EuGH durch die Erhebung zahlreicher, offenkundig unbegründeter 2131 Das auch als Unanimitätsprinzip bezeichnete Prinzip der Einstimmigkeit sieht sich in der gemeinschaftsrechtlichen Säule aber keineswegs ganz verdrängt. Nach folgenden Artikeln findet es noch immer Anwendung: Art. 13 Abs. 1, Art. 19 Abs. 1 S. 2, Art. 19 Abs. 2 S. 2, Art. 22, Art. 42, 47 Abs. 2 S. 1, Art. 57 Abs. 2, Art. 67 Abs. 1 und 2, Art. 71 Abs. 2, Art. 72, Art. 88 Abs. 2, Art. 93, Art. 94, Art. 104 Abs. 14, Art. 105 Abs. 6, Art. 107 Abs. 5, Art. 111 Abs. 1, Art. 117 Abs. 7, Art. 133 Abs. 5, Art. 137 Abs. 2, Art. 151 Abs. 5, Art. 161, Art. 175 Abs. 2, Art. 181a Abs. 2, Art. 187, Art. 190 Abs. 4 und 5, Art. 202, Art. 203, Art. 213 Abs. 1, Art. 215, Art. 222, Art. 225a, Art. 229a, Art. 245, Art. 250 Abs. 1, Art. 251 Abs. 3, Art. 252 lit. c), d) und e), Art. 266, Art. 269, Art. 279 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 290, Art. 296 Abs. 2, Art. 300 Abs. 2, Art. 308 und Art. 309 Abs. 4 EGV. 2132 So auch deutlich EuGH, Rs. C-511/03 Slg. 2005, I-8979, Rn. 27 f. (Ten Kate Holding Musselkanaal u. a.). 2133 Ebenso GÄin Stix-Hackl, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-511/03 Slg. 2005, I-8979, Rn. 32 (Ten Kate Holding Musselkanaal u. a.).

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Nichtigkeitsklagen zu gefährden2134. Sollten sich die Mitgliedstaaten also für eine innerstaatliche Ausgestaltung der Wahrnehmung des Nichtigkeitsklagerechts im Interesse des Einzelnen entscheiden, müssen sie sich zugleich einen weiten Ermessensspielraum vorbehalten, um die Opportunität der Klageerhebung in jedem Einzelfall angemessen beurteilen zu können. d) Zwischenergebnis: Mittelqualifizierung als „unechte“ Rechtsbehelfe Die drei hier aufgezeigten Möglichkeiten des Einzelnen, gegen einen EGRechtsakt über den Umweg des Europäischen Parlaments, des Ombudsmanns oder der Anregung einer Nichtigkeitsklage durch einen Mitgliedstaat Abhilfe zu suchen, nehmen offenkundig nicht an dem originär zum prozessualen Schutz der Individualrechte bestimmten Rechtsschutzsystem des EGVertrags teil. Denn unbeschadet einer subjektiven Rechtsverletzung besteht in allen drei Fällen kein justitiabler Anspruch des Einzelnen auf ein bestimmtes Einschreiten oder auf eine entsprechend determinierte Entscheidung in der Sache. In Ermangelung eines echten prozessualen Initiativrechts des Einzelnen ergänzen diese Behelfsmöglichkeiten das Individualrechtsschutzsystem nur beiläufig und sind daher am besten als „unechte“ Rechtsschutzmöglichkeiten zu qualifizieren, die für die vorliegend fokussierte Thematik der Effektivität des Systems primären Individualrechtsschutzes nicht sonderlich ins Gewicht fallen können.

III. Gesamtbetrachtung zu den Problemen beim Primärangriff unmittelbar individualbelastender EG-Rechtsakte Betrachtet man das System des gegen einen normativen EG-Rechtsakt eröffneten Individualrechtsschutzes in seiner durch die Rechtsprechung des EuGH gewonnenen Gestalt in der Gesamtschau, können sich die einzelnen neuralgischen Punkte der verschiedenen Rechtsbehelfe zu neuen Problemkomplexen kumulieren, die das primäre Rechtsschutzziel im Einzelfall letztlich unerreichbar werden lassen. Vor allem gilt dies im Bereich des Rechtsschutzes gegen jene normativen Maßnahmen, die den Einzelnen zwar mit hinreichender Deutlichkeit unmittelbar betreffen, weil sie bereits selbst und mithin ohne weitere Durchführungsakte auf mitgliedstaatlicher Ebene ein zu beachtendes Gebot oder Verbot aussprechen, die ihn aber nicht auch im Sinne der Plaumann-Formel individualisieren. 2134

EuGH, a. a. O., Rn. 31 (Ten Kate Holding Musselkanaal u. a.).

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1. Rechtswegklarheit In ständiger Rechtsprechung betont der Gerichtshof, dass der Einzelne, der an den Voraussetzungen des Art. 230 Abs. 4 EGV scheitert, die Ungültigkeit eines normativen Rechtsakts entweder über das zentrale Inzidentverfahren der konkreten Normenkontrolle nach Art. 241 EGV oder über das dezentral zu initiierende Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EGV geltend machen kann2135. Implizit unterstellt er dabei, dass Art. 234 EGV ganz regelmäßig das richtige Verfahrensmittel für die Erlangung des begehrten Rechtsschutzes ist. Liegen ausnahmsweise doch einmal die Merkmale der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit in der Person des Rechtsschutzsuchenden vor, so hat der Kläger aber zunächst die Wahl zwischen beiden Vorgehensweisen, da die Verfahren nach Art. 234 EGV und Art. 230 Abs. 4 EGV in keinem Exklusivitätsverhältnis stehen2136. Läge es insofern einerseits nahe, sich schon aus Gründen der Effizienz für den zentralen Rechtsweg zu entscheiden, kann andererseits die angesichts der teils intransparenten und insgesamt restriktiven Linie des Gerichtshofs zur Individualklagebefugnis bestehende Unsicherheit und die damit einhergehende Gefahr, mit seinem Begehren dort schon in der Prozessstation auf der Strecke zu bleiben, kaum im Vorhinein ganz ausgeräumt werden. Das System des EG-Vertrags hält hier grundsätzlich zwei Rechtswege parat, von denen der direkte zugleich der weniger sichere ist. Zu Recht wird daher bezweifelt, dass mit dieser Ausgestaltung dem Gebot der Rechtswegklarheit Genüge getan ist2137. 2. Drohende Bestandskraft Ein besonderer prozessualer Stolperstein kann ferner im möglichen Eintritt der Bestandskraft des visierten Aktes begründet liegen. Existiert eine nationale Vollziehungsmaßnahme, die einer formellen Bestandskraft gegenüber dem Betroffenen fähig ist, so muss schon diese vor dem zuständigen nationalen Gericht angefochten werden, um sämtliche justitiellen Erfolgschancen offen zu halten. Der Einzelne kann aber darüber hinaus ebenso gehalten sein, zuvor oder zugleich eine Nichtigkeitsklage gegen die gemeinschaftsrechtliche Rechtsgrundlage der Maßnahme beim EuGH zu erheben. Beschreitet er nämlich allein den Weg über die nationale Gerichtsbarkeit einhergehend mit der Anregung des Vorabentscheidungsverfahrens, obwohl Vgl. nur EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 ff., Rn. 38 f. (Unión de Pequeños Agricultores/Rat) und die dortigen Nachweise. 2136 s. dazu schon EuGH, Rs. 133–136/85, Slg. 1987, 2289, Rn. 11 f. (Rau/ BALM). 2137 Kritisch etwa auch Calliess, NJW 2002, 3577, 3580; ähnlich Nowak, in: ders./Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47, 50. 2135

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er auch zur Erhebung der Nichtigkeitsklage befugt gewesen wäre, kann der EG-Rechtsakt nach Ablauf der in Art. 230 Abs. 5 EGV geregelten Klagefrist ihm gegenüber bestandskräftig werden, was nach der Rechtsprechung des EuGH sodann grundsätzlich auch der Geltendmachung der Ungültigkeit des Rechtsakts in einem Vorabentscheidungsverfahren entgegenstünde2138. Ist diese prozessuale Schicksalsverknüpfung in Bezug auf nicht fristgerecht angefochtene Entscheidungen durchaus gerechtfertigt2139, so erweckt doch ernsthafte Bedenken, dass der Gerichtshof sie auf den Bereich der Anfechtbarkeit normativer Handlungen übertragen hat, soweit Letztere einer Bestandskraft fähig sind2140. Da der EuGH hierzu klargestellt hat, dass die Ausschlusswirkung nicht allein an den Ablauf der Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV gebunden ist, sondern vielmehr darüber hinaus erfordert, dass der Einzelne in dem konkreten Fall zweifellos zur Anfechtung des betreffenden Normativakts befugt gewesen ist, weil dieser ihn evident unmittelbar und individuell betroffen hat2141, ist die Gefahr des Klageausschlusses derzeit wohl noch auf den Bereich von Antidumpingverordnungen begrenzt2142. Angesichts der bisweilen rhapsodisch anmutenden Kasuistik zu Art. 230 Abs. 4 EGV erscheint es aber keineswegs ausgeschlossen, dass hiervon auch Verordnungen aus anderen Gebieten erfasst sein können, wie auch ein jüngeres Judikat des EuGH indiziert2143. Das damit einhergehende Sicherungsbedürfnis, zur Aufrechterhaltung des Individualrechtsschutzinteresses in dubio beide Rechtsschutzwege zu 2138 Vgl. dazu nochmals EuGH, Rs. C-188/92, Slg. 1994, I-833, Rn. 17 f. (TWD Textilwerke Deggendorf); EuGH, Rs. C-178/95, Slg. 1997, I-585, Rn. 21 (Wiljo); EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. Rn. 60 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.) sowie zuletzt EuGH, verb. Rsn. C-346/03 und C-529/03, Slg. 2006, I-1875, Rn. 31 (Atzeni u. a.). 2139 Hierzu ausführlicher schon Gröpl, EuGRZ 1995, 583 ff.; Pache, EuZW, 1994, 615 ff.; Tomuschat, Vorabentscheidung, S. 87 ff. 2140 Dass dies aus Sicht des Gerichtshofs möglich ist, zeigte sich erstmals deutlich bei EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe). 2141 Vgl. EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 ff. (Kommission/BCE) unter Hinweis auf EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe); ebenso jüngst in Bezug auf eine Kommissionsentscheidung EuGH, verb. Rsn. C-346/03 und C-529/03, Slg. 2006, I-1875, Rn. 31 (Atzeni u. a.). 2142 So etwa bei EuGH, a. a. O. (Nachi Europe). 2143 So erörtert der Gerichtshof in der Rechtssache EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 ff. (Kommission/BCE) im Anschluss an die allgemeinen Ausführungen zur Möglichkeit der Bestandskraft von Verordnungen in konziser Weise den normativen Charakter der in casu auf Art. 280 EGV fußenden Verordnung 1073/1999/EG, die diverse Untersuchungsbefugnisse des OLAF regelt, und verneint letztlich eine hinreichende „Adressatenstellung“ der EZB, um hierüber auch die fehlende Bestandskraft der Verordnung zu begründen. s. ausführlicher zur Thematik der Bestandskraft von EG-Rechtsakten Pechstein/Kubicki, NJW 2005, 1825 ff.

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beschreiten, besteht im Übrigen auch dann, wenn eine Vorlage durch das mitgliedstaatliche Gericht aus der Sicht des Einzelnen noch vor dem Eintritt der Bestandskraft zu erwarten ist. Denn die Ausführungen des EuGH implizieren weiterhin, dass einzig und allein der rechtzeitig anhängigen Nichtigkeitsklage ein solcher Aussetzungseffekt zukommen kann2144. Gleichviel der Gerichtshof also das Übergewicht der Individualrechtsschutzlast grundsätzlich auf der dezentralen Ebene angesiedelt sieht2145, gilt vor dem beschriebenen Hintergrund im gemeinschaftsrechtlichen Rechtsschutzsystem letztlich doch das Primat der Direktanfechtung. Selbst wenn der EuGH überdies mit Blick auf die Unsicherheiten bei der Rechtswegwahl dazu überginge, einer rechtzeitigen Vorlage die gleiche bestandskraftshemmende Wirkung beizumessen, liefe eine zunächst dezentral klagende Partei stets Gefahr, dass das nationale Gericht die Gültigkeitsfrage gar nicht oder zumindest nicht rechtzeitig vorlegt, weil es den Rechtsakt für gültig hält oder seine Vorlagepflicht aus anderen Gründen verneint. Da normative EG-Rechtsakte im Allgemeinen nach Art. 254 EGV im Amtsblatt der EG veröffentlicht werden, könnte sich ein individuell Betroffener hierbei auch nicht auf die Rechtssache Universität Hamburg2146 berufen, nach der das Vorabentscheidungsverfahren zulässig bleibt, wenn der Einzelne zumutbar erst durch den Erlass des nationalen Akts Kenntnis von der Existenz des EG-Rechtsakts erlangen konnte. Denn für den Beginn des Fristlaufs kommt es gerade nicht auf eine tatsächliche Kenntnisnahme des Betroffenen an. Zu beachten ist ferner, dass die Bestandskraft eines EG-Rechtsakts nach der Rechtsprechung des EuGH auch der Zulässigkeit des Inzidentverfahrens nach Art. 241 EGV entgegenstehen kann, obgleich die Unanwendbarkeitsrüge nach dem Wortlaut der Norm doch gerade „ungeachtet des Ablaufs“2147 der Anfechtungsfrist nach Art. 230 Abs. 5 EGV erhoben werden darf. Wenn der EuGH sich hierbei wie schon im Hinblick auf Art. 234 EGV auf die Gründe der geordneten Rechtspflege, der Verfahrensökonomie 2144 So stellt der Gerichtshof ganz regelmäßig nur auf das Kriterium ab, ob eine Nichtigkeitsklage zweifellos möglich gewesen wäre und gleichwohl nicht erhoben wurde, ohne darüber hinaus zu erörtern, ob an deren Stelle das Verfahren vor dem nationalen Gericht respektive das Vorabentscheidungsverfahren rechtzeitig innerhalb der Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV eingeleitet worden ist [vgl. insoweit etwa EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 ff. (Nachi Europe)]. 2145 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 41 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 31 (Kommission/Jégo-Quéré). 2146 EuGH, Rs. 216/82, Slg. 1983, 2771 (Universität Hamburg). 2147 Inhaltsgleich im Französischen: „Nonobstant l’expiration“, im Englischen: „Notwithstanding the expiry“, im Spanischen: „Aunque haya expirado“ (und analog in den anderen Sprachfassungen).

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und der Rechtssicherheit2148 sowie auch auf das Gebot der Gleichbehandlung der Rechtsschutzsuchenden2149 stützt, entscheidet er auf der Suche einer systemadäquaten Konkordanz zwischen dem klägerischen Interesse an der gerichtlichen Feststellung der Rechtswidrigkeit des Gemeinschaftsaktes und jenen durch die Einführung von Verfahrensfristen abgesicherten Grundsätzen letztlich einseitig zulasten des Einzelnen. So verständlich dabei der Schutz des Bestandes einer gemeinschaftsrechtlichen Handlung sein mag, findet die insoweit zu Art. 241 EGV gepflegte Praxis des EuGH keine hinreichende Stütze im Vertrag. Gilt dies ausweislich des Wortlauts des Art. 241 EGV schon grammatikalisch2150, so trägt der Gerichtshof neben dem wesentlichen Sinn und Zweck des Inzidentverfahrens, das System der allgemeinen Rechtmäßigkeitskontrolle zu vervollständigen2151 und insbesondere ein Rechtsschutzdefizit im Anwendungsbereich des Art. 230 Abs. 4 EGV auszugleichen2152, auch dem Umstand nicht ausreichend Rechnung, dass es hier – anders als bei Art. 234 EGV – nicht um die Feststellung der Nichtigkeit des Aktes und mithin nicht um seinen Bestand geht, sondern allein um dessen der materiellen Gerechtigkeit geschuldeten Unanwendbarkeit im Einzelfall. Der Rechtsakt wird dadurch auch nicht de facto auf ein Scheindasein beschränkt, da er weiterhin auf alle anderen von seinem Tatbestand erfassten Fälle Anwendung finden und insoweit nur von Fall zu Fall – abermals über Art. 241 EGV – deaktiviert werden kann, sofern die dafür nötigen Voraussetzungen vorliegen. Ein Folgeproblem der Linie des EuGH, nach der eine Gültigkeitsvorlagefrage ihre Zulässigkeit verliert, wenn der visierte Rechtsakt bestandskräftig geworden ist, bildet fernerhin, dass sich das angerufene mitgliedstaatliche Gericht auch die Frage zu stellen hat, ob der Kläger im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EGV von der Handlung betroffen ist. Diese Prüfung kann ein nationales Gericht angesichts der nicht abschließenden Kasuistik des Gerichtshofs zur Individualklagebefugnis aber nur bedingt fachgerecht leisten. Zudem obliegt diese Würdigung ausweislich des in den Art. 220 ff. EGV zum Ausdruck kommenden Kompetenzgefüges – zumindest in letzter Hinsicht – Vgl. EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 61 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.). 2149 Vgl. EuGH, Rs. 152/85, Slg. 1987, 223, Rn. 11 (Misset/Rat). 2150 s. dazu auch Busse, EuZW 2002, 715, 717 f., der hier jedoch zu Unrecht auf die von Cremer, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 241 EGV, Rn. 6, verwendete Beschreibung von der „leeren Hülse“ zurückgreift, die Letzterer allein auf die Rüge von nach Art. 230 Abs. 2 EGV klageprivilegierten Mitgliedstaaten und Gemeinschaftsorganen bezogen hat. 2151 So Borchardt, in: Lenz/Borchardt, EUV/EGV, Art. 241 EGV, Rn. 3. 2152 Vgl. schon EuGH, verb. Rsn. 31/61 und 33/62, Slg. 1962, 1029, 1042 (Wöhrmann und Lütticke). 2148

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dem EuGH, welchem sie daher im Wege des Art. 234 EGV zu ermöglichen wäre2153. Unklar ist aber, ob auf die entsprechende gemeinschaftsrechtliche Vorfrage zur primär interessierenden Gültigkeitsfrage dabei ebenfalls die Foto-Frost-Rechtsprechung Anwendung fände oder eine Vorlagepflicht nur letztinstanzlich bestünde, ginge es gegenständlich doch zunächst nur um die richtige Auslegung und Anwendung des Art. 230 Abs. 4 EGV. Fest steht zumindest, dass der EuGH über die im Vordergrund stehenden Gültigkeitsfragen gegebenenfalls erst nach einer Verneinung der relativen Bestandskraft des betreffenden Aktes gegenüber den Parteien des Ausgangsverfahrens entscheiden könnte. Das Rechtsschutzsystem erfährt hierdurch also eine weitere Verkomplizierung, die den Einzelnen auf seinem Verfahrensweg ein erhebliches Stück Effektivität kosten kann. Eine Ausweitung der Rechtsprechung des EuGH zur Unzulässigkeit eines Inzidentverfahrens wegen der Versäumung zentralen Rechtsschutzes wäre aber nicht nur aus diesen Gründen von erheblichen Bedenken begleitet. Abermals darf nämlich nicht übersehen werden, dass die Verfahren nach Art. 241 EGV und 234 EGV im Beziehungssystem der zentralen und dezentralen Rechtsschutzelemente2154 gerade auch die im primären Rechtsschutzbereich zuungunsten des Einzelnen zu verbuchenden Systemdefizite auffangen und somit die Mission der systemrealen Absicherung der Gewähr hinreichenden Individualrechtsschutzes komplettieren soll. Es begegnet daher ernsten Zweifeln, die Zulässigkeitsvorgaben des Art. 230 Abs. 4 und 5 EGV so weitreichend in andere Elemente des Rechtsschutzsystems einstrahlen zu lassen, dass jener ursprüngliche Hintergrund in sein Gegenteil verkehrt wird. Die Möglichkeit, dass ein normativer Rechtsakt wegen Klagefristversäumung in Bestandskraft erwächst, kann damit einen entscheidenden Gefahrenpunkt im Rechtsschutzsystem bilden. Der Einzelne sieht sich hier in Zweifelsfällen veranlasst, vorsorglich2155, d.h. in Simultaneität zu einer dezentralen Klage gegen den nationalen Normanwendungsakt, im Wege der Nichtigkeitsklage auch den dahinter stehenden EG-Rechtsakt anzugreifen und sich rechtzeitig um die interimäre Aussetzung des nationalen Gerichtsverfahrens zu bemühen. Im Falle der Zulässigkeit der parallel erhobenen prinzipalen Klage vor der europäischen Gerichtsbarkeit wäre das nationale Gericht außerdem gehalten, deren Ausgang in der Sache abzuwarten, während es sich im Falle der Klageunzulässigkeit selbst der Gültigkeitsprüfung widmen und bei Bedarf dem EuGH die fallrelevanten Fragen vorlegen könnte. Dass hiermit ein erheblicher Zeitverlust einhergeht, verInsofern besonders kritisch GA Colomer, Schlussanträge zu EuGH, verb. Rsn. C-346/03 und C-529/03, Slg. 2006, I-1875, Rn. 88 lit. d) (Atzeni u. a.). 2154 Zu jenem Verhältnis ausführlich Nowak, EuR 2000, 724 ff. 2155 Ebenso GA Colomer, a. a. O., Rn. 88 lit. b) (Atzeni u. a.). 2153

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steht sich von selbst. Fehlt es schließlich an einer nationalen Durchführungshandlung zum normativen EG-Rechtsakt und hatte der Einzelne sein Rechtsschutzziel gleichwohl zunächst über die dezentrale Ebene zu verfolgen, so muss er im Falle der Zulässigkeit der Direktklage zum EuGH das nationale Gerichtsverfahren rechtzeitig für erledigt erklären, um nicht wegen des Wegfalls des Rechtsschutzinteresses eine dortige Klagabweisung samt ungünstiger Kostenfolge zu riskieren. 3. Gerichtszugang auf der nationalen Ebene vor dem Hintergrund der Rechtssachen Unión de Pequeños Agricultores und Jégo-Quéré Die nächste, hieran unmittelbar anschließende Schwierigkeit, die dem Einzelnen im Bereich gemeinschaftsrechtlichen Individualrechtsschutzes begegnen kann, betrifft die Beschreitung des richtigen Klageweges vor den nationalen Gerichten. Sind auf der Grundlage des anzugreifenden EGRechtsakts nationale Durchführungsmaßnahmen ergriffen worden, so kann der Einzelne seine Klage ganz regelmäßig gegenständlich an diese anknüpfen, im deutschen Rechtssystem also insbesondere durch Erhebung einer Anfechtungsklage gemäß § 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO, wenn der innerstaatliche Vollzugsakt einen Verwaltungsakt im Sinne des § 35 VwVfG bildet, und im Übrigen im Wege einer allgemeinen Leistungs- oder Feststellungsklage, wenn die Vollziehung durch schlichtes Verwaltungshandeln erfolgte. a) Mitgliedstaatlicher Rechtsschutz in Abwesenheit nationaler Durchführungshandlungen Besondere Probleme bereiten indes die Fälle, in denen ein normativer EG-Rechtsakt keiner nationalen Durchführung bedarf, weil er die rechtliche Situation des Einzelnen unmittelbar prägt. Denkbar ist dies vor allem, wenn Verordnungen, wie in den viel beachteten Rechtssachen Unión de Pequeños Agricultores2156 oder Jégo-Quéré2157, unmittelbar wirkende Gebote oder 2156 EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 (Unión de Pequeños Agricultores/ Rat): Gegenstand war hier die Verordnung 1638/98/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Änderung der Verordnung 136/66/EWG über die Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Fette (ABl. EG L 210/32), deren Regelungen ihre Wirkungen teils ohne eine Anwendung der nationalen Behörden entfalten. 2157 EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425 (Kommission/Jégo-Quéré): Hier ging es gegenständlich um die Art. 3 lit. d) und Art. 5 der Verordnung 1162/2001/EG der Kommission vom 14. Juni 2001 mit Maßnahmen zur Wiederauffüllung des Seehechtbestands in bestimmten Gebieten und Vorschriften zur Überwachung der dort tätigen Fischereifahrzeuge (ABl. EG L 159/4), die für im Einzelnen festgelegte

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Verbote beinhalten2158. Eine Vollziehungshandlung der mitgliedstaatlichen Exekutive, an welche der Einzelne sein Rechtsschutzbegehren anhängen könnte, fehlt in einer solchen Konstellation. Aus der genannten Rechtsprechung ergibt sich insoweit unmissverständlich, dass die Gewährung gerichtlichen Rechtsschutzes im Lichte des Grundsatzes der Subsidiarität in erster Linie den mitgliedstaatlichen Stellen obliegt, die demgemäß in der Pflicht stehen, „ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, mit dem die Einhaltung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden kann“2159. Nach dem in Art. 10 EGV verankerten Grundsatz loyaler Zusammenarbeit müssen die nationalen Gerichte folglich die Geltendmachung der Ungültigkeit der EG-Rechtshandlung mit allgemeiner Geltung, soweit rechtsmethodisch zulässig, über die innerstaatlichen Verfahrensregelungen zur Angreifbarkeit der nationalen Maßnahme ermöglichen2160. Soweit das gemeinschaftsrechtliche System primären Individualrechtsschutzes dabei eher dem Modell der Interessentenklage entspricht und jedenfalls keine konsequente Übernahme des Modells der Verletztenklage darstellt2161, strahlt dieses Wesen im Zuge der Europäisierung des nationalen Rechts insbesondere in jene Rechtsordnungen ein, die letztere Systemprägung aufweisen2162. Obgleich der Gerichtshof diese Verpflichtung ausdrücklich auf die Fälle bezogen hat, in denen eine nationale Vollziehungsmaßnahme existiert, ergibt sich aus der Gesamtschau der Entscheidungen, dass die Abwesenheit dezentraler Maßnahmen und justitieller Rechtsbehelfs auf nationaler Ebene niemals per se zur Zulässigkeit einer Direktklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV führen können2163, sondern auch insoweit stets neben Fanggebiete den Einsatz von Grundschleppnetzen mit bestimmten Maschenmaßen verbieten. 2158 So etwa auch Nettesheim, JZ 2002, 928, 933. 2159 EuGH, a. a. O., Rn. 41 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); EuGH, a. a. O., Rn. 31 (Kommission/Jégo-Quéré). 2160 Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 42 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); EuGH, a. a. O., Rn. 32 (Kommission/Jégo-Quéré); so auch jüngst etwa EuG, Rs. T-117/05, Slg. 2006, II-72, Rn. 58 (Rodenbröker/Kommission). 2161 Zur betreffenden Charakterisierung des EG-Rechtsschutzsystems bereits in Teil 1 unter A. II. 4. d) bb) (6). 2162 Dazu näher Classen, VerwArch 1997, 645 ff.; ferner Kokott, Die Verwaltung 1998, 335, 348 ff. In diesem Zusammenhang für eine modifizierte Version der Schutznormtheorie zu § 42 Abs. 2 VwGO Schoch, NVwZ 1999, 457, 465; für eine europäisierte Neufassung der Norm hingegen Wegener, Die Rechte des Einzelnen, S. 295 f.; ähnlich Winter, NVwZ 1999, 467, 473. 2163 So auch jüngst EuG, Rs. T-311/03, Slg. 2006, II-46, Rn. 70 (Nürburgring/ Parlament und Rat); EuG, Rs. T-247/04, Slg. 2005, II-3449, Rn. 59 (Aseprofar und Edifa/Kommission); EuG, verb. Rsn. T-236/04 und T-241/04, Sl. 2005, I-4945, Rn. 68 (EEB und Stichting Natuur en Milieu/Kommission); dazu auch bereits oben II. 1. b) cc) (1) (b) (dd).

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der unmittelbaren eine individuelle Betroffenheit des Individualklägers im Sinne der Plaumann-Formel erforderlich ist2164. b) Klagemöglichkeiten nach der deutschen Verwaltungsprozessordnung Im Hinblick auf die deutsche Rechtsordnung kommt als insofern passender Rechtsbehelf vornehmlich die Erhebung einer allgemeinen Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO vor dem zuständigen Verwaltungsgericht in Betracht2165, deren Sachentscheidungsvoraussetzungen bei europarechtlicher Sachrelevanz nach Maßgabe jener neueren Rechtsprechung vor allem im Lichte des Art. 10 EGV und der Rechtsschutzgarantie auszulegen und anzuwenden sind2166. Zwar erscheint daneben auch eine über die Wortlautgrenze hinausgehende, mithin entsprechende Anwendung des abstrakten Normenkontrollverfahrens nach § 47 VwGO denkbar2167, da dieses die Kontrolle bestimmter innerstaatlicher Rechtsvorschriften ermöglicht2168 und dem Rechtsschutzinteresse insoweit in vergleichbarer Weise Genüge tun kann. Jedoch erweist sich der Weg der Rechtsschutzgewährung über § 43 VwGO hier als vorzugswürdig, soweit die flexibleren Voraussetzungen der allgemeinen Feststellungsklage auch innerhalb ihrer grammatikalischen Grenzen der erforderlichen Anpassung an die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben zugänglich sind und diese Verfahrensgewähr somit ohne Normanalogie auskommt. Die Bestimmung des feststellungsfähigen Rechtsverhältnisses ist hierbei von einer streng konkreten Betrachtungsweise im Sinne der früheren Rechtsprechung des BVerwG2169, nach welcher nur solche Beziehungen zwi2164 Dies stellte auch das Gericht erster Instanz nie in Frage [vgl. EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365, Rn. 48 (Jégo-Quéré/Kommission)], vielmehr schlug es nur eine Neuinterpretation des Merkmals der individuellen Betroffenheit vor [dazu näher unter C. I. 4. c) u. d)]. 2165 Zur Zulässigkeit der vorbeugenden Feststellungsklage in innerstaatlichem Kontext etwa BVerwGE 77, 207, 211 f. 2166 Vgl. Braun/Kettner, DÖV 2003, 58, 65; Calliess, NJW 2002, 3577, 3581; Dittert, EUR 2002, 708, 718; ebenso Gundel, VerwArch 2001, 81, 99 f. mit besonderem Verweis auf die Möglichkeit einer vorbeugenden Feststellungsklage; s. dazu ferner Köngeter, NJW 2002, 2216, 2217; Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 410. 2167 Hierfür etwa Lindner, BayVBl. 2003, 12, 14. 2168 § 47 VwGO visiert zum einen bauplanungsrechtliche Satzungen sowie Rechtsverordnungen i. S. d. § 246 Abs. 2 BauGB und zum anderen unterlandesgesetzliche Rechtsvorschriften, soweit das Landesrecht eine entsprechende Kontrollmöglichkeit eröffnet (vgl. dazu näher Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 30). 2169 s. dazu BVerwG, DÖV 1983, 548, 549.

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schen Personen und/oder Sachen, die auf einer Rechtsnorm basieren2170, über § 43 VwGO feststellungsfähig sind, loszulösen und gemeinschaftsrechtskonform dahingehend vorzunehmen, dass hierunter auch die Frage nach der Verletzung subjektiver Rechte durch die EG-Rechtsnorm fällt, wie es teilweise auch schon für innerstaatliche Fallkonstellationen anerkannt worden ist2171. Dass die Klage final auf die Klärung der gemeinschaftsrechtlichen Rechtmäßigkeit der EG-Rechtsnorm gerichtet ist und sich die Feststellungsklage damit gegenständlich auf die Gültigkeit oder Anwendbarkeit einer abstrakten Norm bezieht, muss ihrer Statthaftigkeit mit Blick auf den gemeinschaftsrechtlichen Einschlag nicht entgegenstehen, solange nur der theoretische (repressive) Vollzug der normativen EG-Regelungen ein konkretes Rechtsverhältnis zwischen dem Kläger und dem staatlichen Hoheitsträger begründen würde. Zu richten ist eine so erhobene Feststellungsklage wohl gegen die Behörde, die für die Überwachung der Einhaltung der Vorgaben des EG-Rechtsakts und eine Sanktionierung für etwaiges Zuwiderhandeln zuständig ist2172. Da andere, das gleiche Rechtsschutzziel abdeckende Verfahrensarten nicht ersichtlich sind, scheitert die Zulässigkeit der Klage schließlich auch nicht an der in § 43 Abs. 2 S. 1 VwGO geregelten Subsidiarität. In der Sache müsste das Gericht sodann die Entscheidungserheblichkeit der Gültigkeitsfrage prüfen, sie im Falle einer Affirmation dem EuGH vorlegen und bis zu dessen Entscheidung das Verfahren aussetzen. c) Gerichtszugang über einen intentionellen Rechtsverstoß Weitaus problematischer stellt sich die Lage für den Einzelnen aber dar, wenn sich der Prozessordnung eines Mitgliedstaats die Möglichkeit einer Klageerhebung ohne nationalen Bezugsakt nicht innerhalb der Grenzen der zulässigen Interpretation der Verfahrensnormen entnehmen lässt2173. Zunächst könnte hierin zwar eine mitgliedstaatliche Vertragsverletzung wegen Nichterfüllung der vom EuGH skizzierten Pflichten und somit ein Verstoß Zu dieser Definition etwa Hufen, Verwaltungsprozessrecht, § 18, Rn. 7. Vgl. etwa BVerfG, 1 BvR 541/02 vom 17. Januar 2006, Absatz-Nr. 50, www.bverfg.de; BVerwGE 111, 276, 278 f.; BSGE 72, 15, 17 ff. 2172 So auch Gundel, VerwArch 2001, 81, 108. Hingegen liegt es eher fern, die Klage direkt gegen den Bund oder ein Bundesland zu erheben, da es im Rahmen der allgemeinen Feststellungsklage gerade auf die an dem Rechtsverhältnis Beteiligten ankommt und das Rechtsträgerprinzip mithin nicht gilt. Eine Klageerhebung gegen den Rechtsträger der eigentlich zuständigen Behörde bliebe aber für die Zulässigkeit ohnehin folgenlos, da das Gericht die Klage sodann umdeuten müsste (vgl. für die umgekehrte Konstellation § 78 Abs. 1 Nr. 1 a. E. VwGO). 2173 Zur Situation in den anderen Mitgliedstaaten näher Gundel, VerwArch 2001, 81, 87 m. w. N. 2170 2171

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gegen Art. 10 EGV und die gemeinschaftsrechtliche Rechtsschutzgarantie liegen. Soweit das Recht auf effektiven Rechtsschutz eine individualschützende Norm des Gemeinschaftsrechts darstellt2174 und folglich unbeschadet der weiteren anspruchsbegründenden Voraussetzungen grundsätzlicheine taugliche Norm zur Begründung der Staatshaftung bilden kann, ist in diesem Zusammenhang fernerhin an die Möglichkeit der mitgliedstaatlichen Haftung wegen legislativen oder judikativen Unterlassens zu denken. Ungeachtet der ohnehin geringen Erfolgaussichten für den Einzelnen, ein Vertragsverletzungsverfahren anzuregen, dürfte die Nützlichkeit dieser beiden Möglichkeiten in diesem Fall doch im Bereich des rein Theoretischen liegen, wenn man berücksichtigt, dass zum einen der nationale Gesetzgeber eine besonders weite Gestaltungsprärogative bei der Ausformung des eigenen Verfahrensrechtssystems genießt, die erst bei offenkundigen Systemunzulänglichkeiten über- bzw. – angesichts seiner Leistungspflicht – unterschritten ist, was in Bezug auf die Schaffung der angesprochenen Klagemöglichkeit nicht der Fall sein dürfte2175, und zum anderen auch die staatliche, ihrerseits unabhängige Judikative mit Blick auf die neuere Rechtsprechung des EuGH erst bei besonders schwerwiegenden Rechtsverstößen eine Haftung auslösen kann. Zudem entfernte sich der Einzelne mit jenen beiden Behelfen auch allzu weit von seinem ursprünglichen Begehren, den allgemein geltenden EG-Rechtsakt annulliert zu sehen. Die Kläger sieht sich im Hinblick auf sein fortbestehendes Interesse an effektivem, primärem Rechtsschutz vielmehr dazu genötigt, sehenden Auges gegen die betreffenden Bestimmungen des EG-Rechtsakts zu verstoßen und dies mit dem alleinigen Zweck, eine staatliche Reaktion zu provozieren, die er daraufhin mit dem Ziel angreifen kann, die Rechtmäßigkeit der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsgrundlage zu rügen. Die Frage, ob dem Einzelnen diese Vorgehensweise zugemutet werden kann, verlangt im Lichte der rechtsstaatlichen Garantien eine entschiedene Negation2176. Die skizzierte 2174 Zur grundrechtlichen Rechtsnatur des Rechts auf effektiven Rechtsschutz ausführlich oben in Teil 1. 2175 Dies indizieren insbesondere die Ausführungen bei EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 35 (Kommission/Jégo-Quéré), in welchen der Gerichtshof darauf abstellt, dass es „nicht auszuschließen“ sei, dass der Einzelne im nationalen Rechtssystem bei den nationalen Behörden eine mit dem allgemeinen EG-Rechtsakt zusammenhängende Maßnahme beantragen kann, über welche er sodann mittelbar auch die EG-Verordnung angreifen könne, ohne aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht zugleich ausdrücklich die Vorsehung einer Verfahrensmöglichkeit zur Vermeidung des Verstoßes gegen den EG-Akt zu fordern. 2176 Ebenfalls kritisch GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Rn. 43 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); ferner Nettesheim, JZ 2002, 928, 933; Gundel, VerwArch 2001, 81, 99 m. w. N.; im Ansatz ähnlich Dittert, EuR 2002, 708, 713 f.

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Vorgehensweise wirft dabei insbesondere Bedenken auf, wenn Rechtsbehelfe gegen den so herausgeforderten Sanktionsakt keine aufschiebende Wirkung haben und den Einzelnen also umgehend die volle Wirkung der Repressalien treffen. Auch die Möglichkeit der parallelen Bemühung um Eilrechtsschutz vermag diese nicht immer abzufangen. Denn selbst wenn mitgliedstaatliche Gerichte nach der Rechtsprechung des EuGH befugt sind, die Rechtsdurchsetzung durch die vorläufige Aussetzung der nationale Durchführungsakte oder durch Erlass einer einstweiligen Anordnung zu sichern2177, unterliegt die Ausübung dieser Befugnis doch einer ganzen Reihe von engen Bedingungen2178. Nicht nur müssten hierfür seitens des Gerichts erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Gemeinschaftsakts geweckt werden, auch die Dringlichkeit der Sache und damit die Notwendigkeit der Verhinderung schwerer und irreversibler Schäden wäre nachzuweisen, zumal das Gericht in jedem Fall die Interessen der Gemeinschaft, insbesondere an der Aufrechterhaltung der praktischen Wirksamkeit der Rechtsordnung, und die zu dem gleichen Rechtsakt oder zu vergleichbaren einstweiligen Anordnungen ergangenen Entscheidungen des EuGH zu berücksichtigen hätte2179. Gleichviel der Gerichtshof sich hier auch bestrebt zeigt, durch seine Vorgaben eine ausreichende Richtschnur für die kohärente Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes an die Hand zu geben2180, unterliegt deren Anwendung schon angesichts der notwendigen Interessenabwägung bis zu einem gewissen Grad dem Entscheidungsspielraum der nationalen Gerichte. Trotz solcher Bedenken implizieren die Ausführungen des EuGH, dass dem Einzelnen der beschriebene Weg über den intentionellen Rechtsverstoß zur Erlangung einer klagbaren Situation sehr wohl zugemutet werden soll. Mit hinreichender Deutlichkeit zeichnete sich dies schon in der Rechtssache Rothley2181 ab, soweit der EuGH hier im Zuge der Prüfung, ob effektiver gerichtlicher Rechtsschutz gewährt wurde, auf die Möglichkeit der nachträglichen gerichtlichen Kontrolle der beeinträchtigenden Handlung verwies2182. 2177 Vgl. dazu EuGH, verb. Rsn. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 16 ff. (Zuckerfabrik Süderdithmarschen u. a.); ferner EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 19 ff. (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft); s. zu dem Thema auch Hauser, VBl.BW 2001, 377 ff. 2178 Dies unterschlägt Gundel, VerwArch 2001, 81, 103, wenn er die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes vor den nationalen Gerichten als hinreichende Möglichkeit zur Verringerung der mit dem Vorabentscheidungsverfahren einhergehenden Belastungen erachtet. 2179 EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 32 ff. (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft). 2180 s. insofern insbesondere EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 104 ff. (ABNA u. a.). 2181 EuGH, Rs. C-167/02, Slg. 2004, I-3149 (Rothley u. a./Parlament). 2182 EuGH, a. a. O., Rn. 48 ff. (Rothley u. a./Parlament).

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In der Rechtssache Jégo-Quéré hat sich der Gerichtshof hierzu sodann ganz eindeutig positioniert, indem er dort die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage explizit auch von dem Umstand losgekoppelt hat, dass der Einzelne nach den nationalen Verfahrensvorschriften die Gültigkeit der beanstandeten Gemeinschaftshandlung erst in Frage stellen kann, wenn er gegen diese Handlung verstößt2183. Der EuGH verlangt demnach von den Mitgliedstaaten weder ausdrücklich noch stillschweigend die Änderung oder Anpassung ihrer eigenen Verfahrensordnungen dahingehend, dem Einzelnen ein unmittelbares Vorgehen gegen den EG-Rechtsakt zu ermöglichen2184, solange nur ein nachträglicher Rechtsschutz zugänglich ist und in Bezug auf diesen die Grundsätze der Äquivalenz und der praktischen Wirksamkeit gewahrt bleiben. 4. Unzureichende Auffangwirkung der sekundären Rechtsschutzebene Dass natürliche oder juristische Personen im Einzelfall auch auf der sekundären Rechtsschutzebene Befriedigung erlangen können, vermag jene Schwächen des Systems primären Individualrechtsschutzes weder sicher noch hinreichend zu kompensieren2185. Zwar sind hier je nach der prozessualen Vorgeschichte freilich mannigfaltige Ansatzpunkte für eine Schadensersatzklage denkbar, so für eine Klage gegen einen Mitgliedstaat das Unterlassen der Erhebung einer privilegierten Nichtigkeitsklage oder die Nichtvorlage durch ein innerstaatliches Gericht und für eine Klage gegen die Gemeinschaft der Erlass der rechtswidrigen Norm selbst sowie die unterlassene Erhebung einer Nichtigkeitsklage oder einer Aufsichtsklage durch die Kommission. In sämtlichen Fällen wird aber unter Maßgabe der jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen, die der EuGH vorwiegend prätorisch entwickelt hat, vor dem Hintergrund der teils weitreichenden Entscheidungsspielräume des jeweiligen hoheitlichen Protagonisten schon der Nachweis eines Haftungsfalls regelmäßig nicht gelingen. Denn hierfür wäre zum einen eine die betreffende Handlungspflicht begründende Norm aufzuzeigen, die ihre Wirkungen gerade auch zugunsten des Klägers entfaltet, deren Missachtung zum anderen im konkreten Fall einen qualifizierten, d.h. offenkundigen und erheblichen Rechtsverstoß bildet. EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 34 (Kommission/Jégo-Quéré). s. dazu nochmals die deutlichen Ausführungen bei EuGH, a. a. O., Rn. 35 (Kommission/Jégo-Quéré). A. A. insoweit wohl Mayer, DVBl. 2004, 606, 613, der hier von einer „Überformung“ der Zulässigkeitsvoraussetzungen des nationalen Rechtsbehelfs durch die dezentrale Prägung des europäischen Rechtsschutzsystems spricht. 2185 So auch Nowak, in: ders./Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47, 59 m. w. N. 2183 2184

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Im Übrigen, und dies erscheint noch wesentlicher, ist die sekundäre Rechtsschutzebene auch nur bedingt geeignet, dem Einzelnen zu seinem eigentlichen rechtlichen Begehren zu verhelfen oder die Unerreichbarkeit desselben angemessen auszugleichen. Zunächst ist hierbei zu beachten, dass nicht jede Rechtsverletzung einer finanziellen Bewertung zugänglich ist. Besonderes Gewicht erhält dabei der Umstand, dass mit dem fehlenden primären Rechtsschutz regelmäßig auch das Recht auf eine bestimmte Ausübung des subjektiven Rechts, das beeinträchtigt worden ist, preisgegeben wird, so dass der Eingriff zumeist nicht allein durch eine pekuniäre Kompensation aufgewogen werden kann. Der Einzelne erlangt in diesem Sinne auf der sekundären Ebene keinen wirklichen Schutz seiner Rechte, sondern nur einen finanziellen Ausgleich für den Rechtsverlust. Hinzu kommt, dass primärer und sekundärer Rechtsschutz auch funktional naturgemäß nicht auf den gleichen Schutz ausgerichtet sind und vornehmlich im Bereich des öffentlichen Rechts in Abwesenheit echter Naturalrestitution faktisch nicht zum gleichen Ziel führen. Kann das Gericht nämlich im Rahmen von Ersterem die Rechtslage direkt und nachhaltig feststellen oder auch gestalten, so soll im Zuge von Letzterem nur das geschehene Unrecht revidiert werden, indem die konkreten, kausal verursachten Nachteile in wirtschaftlicher Hinsicht beseitigt werden, ohne zugleich den Zustand herbeizuführen, der bestünde, wenn der rechtswidrige Akt nicht Bestandteil des Rechts geworden wäre. Demzufolge dienen im zentralen Systembereich die Nichtigkeitsund die Untätigkeitsklage der Ahndung der Rechtswidrigkeit eines verbindlichen Rechtsakts oder aber des Fehlens eines rechtmäßigen Rechtsakts, während die Haftungsklage auf Ersatz des Schadens gerichtet ist, der sich aus einer Handlung oder einer unzulässigen Verhaltensweise ergibt, die einem Organ oder einer Einrichtung der Gemeinschaft zuzurechnen ist2186. Über die Amtshaftungsklage kann der Einzelne daher keinesfalls die Aufhebung eines Rechtsakts begehren2187. Der Tenor der gerichtlichen Entscheidung muss den belastenden Rechtsakt vielmehr unberührt lassen, so dass dieser weiterhin in der Welt bleibt und subjektive Rechtspositionen verletzen kann. Über all diese bedenkenswerten Aspekte scheint sich der Gerichtshof indes ohne weiteres hinwegzusetzen, wenn er den Einzelnen hinsichtlich der Frage des Gerichtszugangs lapidar auf die Möglichkeit einer Klageerhebung wegen außervertraglicher Haftung verweist2188. 2186 So jüngst wieder EuG, Rs. T-193/04, Slg. 2006, II-3995, Rn. 97 (Tillack/ Kommission) unter Berufung auf EuGH, Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803, Rn. 59 (Europäischer Bürgerbeauftragter/Lamberts) und die dort zitierte Rechtsprechung. 2187 Vgl. dazu EuG, T-166/98, Slg. 2004, II-3991, Rn. 122 (Cantina sociale di Dolianova u. a./Kommission) m. w. N. 2188 So etwa bei EuGH, Rs. C-131/03 P, Slg. 2006, I-7795, Rn. 82 (Reynolds Tobacco u. a.).

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5. Gesamtschau zur Systemneuralgie Wie gesehen, hält das gemeinschaftsrechtliche Verfahrenssystem zum Schutz individueller Rechte und Interessen verschiedene Behelfsmöglichkeiten bereit, derer sich der Einzelne mal auf der zentralen, mal auf der mitgliedstaatlichen Ebene bedienen kann. Bei näherer Betrachtung offenbaren sich aber vor allem in Bezug auf die Angreifbarkeit normativer Rechtsakte mit unmittelbar belastender Wirkung teils eklatante Rechtsschutzschwächen, die genau genommen nicht dem beschriebenen System als solchem anhaften, sondern erst durch die prätorischen Prägungen in selbiges Eingang finden. Die Individualnichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV ist dem Einzelnen wegen der konsequent restriktiv angewendeten Voraussetzungen der Plaumann-Formel in den allermeisten Fällen verschlossen und das Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV trotz seiner wesentlichen Bedeutung für den Individualrechtsschutz nicht mit den mit seiner Funktion korrelierenden Verfahrensrechten des Einzelnen versehen. Unter ungünstigen Umständen bleibt dieser mithin ohne Rechtsschutz. Insbesondere dann, wenn nicht einmal die Provokation eines nationalen Sanktionsakts als ultima ratio der prozessualen Taktik den gewünschten Rechtsweg zu eröffnen vermag, etwa weil ein Verstoß gegen den unmittelbar wirkenden EG-Rechtsakt mangels Vollstreckbarkeit des Regelungsgehalts oder in Abwesenheit von rechtlichen Sanktionsmechanismen keine konkreten Maßnahmen zur Folge hat oder aber die staatlichen Stellen solche in einem gegebenen Fall nicht für opportun halten, fehlt es an jedwedem tauglichen Klagebezugspunkt, wenn das innerstaatliche Prozessrecht keine allgemeine Auffangklageart bereit hält. Das System, wie es sich aus der Warte des EuGH darstellt, weist infolgedessen einen blinden Bereich auf, der nicht erst seit der jüngeren Rechtsprechung von Seiten der Literatur kritisch betrachtet wird2189 und durchaus die Vollständigkeit des Rechtsschutzsystems in Frage stellen kann2190. Der gegenteilige pauschale Ausspruch des EuGH2191 erscheint daher aus dem Blickwinkel des Rechtsschutzsuchenden unglaubhaft. 2189 GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Rn. 100 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat) bezeichnet diese Systemschwäche als „one of the least satisfactory aspects of the Community legal system“; noch deutlicher bereits Arnull, CMLR 2001, 7, 52, der vom „blot on the landscape of Community law“ spricht; fernerhin kritisch etwa Köngeter, ZfRV 2003, 123, 127; Schwarze, DVBl. 2002, S. 1297, 1303; einen umfassenden Überblick auch zu den früheren Stimmen gibt Nettesheim, JZ 2002, 928, Fn. 6. 2190 So auch Everling, L’avenir de l’organisation juridictionnelle de l’Union européenne, in: Vandersanden, S. 19, 22. Kritische Anmerkungen aus den Reihen der Mitglieder des EuGH und des EuG finden sich etwa bei Schockweiler, JTDE Nr. 25, 1996, 1, 6 ff.; de Almeida, in: FS Everling, S. 849, 857 ff.; Lenaerts, in: FS Mancini, S. 591, 617; Saggio, in: FS Mancini, S. 879, 903 f.

A. Individualrechtsschutzsystem und seine wesentlichen Schwachpunkte

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Soweit Letzterer im Übrigen andere Rechtsbehelfe aus dem Rechtsschutzrepertoire nutzen kann, um den begehrten Primärrechtsschutz durchzusetzen, zu flankieren oder dessen Ausfall abzufangen, fügt sich angesichts der punktuellen Schwächen dieser Möglichkeiten auch hierüber kein komplettes Rechtsschutzbild zusammen. Zwar bedeuten die dem Einzelnen auf der Grundlage der jüngeren Rechtsprechung neu geebneten Rechtsschutzmöglichkeiten im Bereich der pflichtwidrigen Nichtvorlage, die mittelbare Staatshaftung in Anspruch zu nehmen oder die Aufhebung des nationalen Vollziehungsakts durch die Exekutive zu begehren, durchaus eine gewisse Erweiterung des Rechtsschutzspektrums und können hintergründig auch positiv auf die Vorlagebereitschaft der mitgliedstaatlichen Gerichte zurückwirken. Jedoch bringen sie angesichts ihrer ebenfalls engen Voraussetzungen letztlich keinen durchgreifenden Rechtsschutzgewinn, zumal insoweit eine Änderung der Praxis des BVerfG zum Anspruch auf den gesetzlichen Richter nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG weitaus wirkungsvoller wäre2192. Eine weitere Schwäche des Systems zeigt sich darüber hinaus in der Art und Weise der Rechtsschutzgewährung, muss der Einzelne doch ganz regelmäßig erst den Weg über die nationale Gerichtsbarkeit beschreiten und dies selbst dann, wenn gar kein nationaler Durchführungsakt existiert. Dabei liegt sein Rechtsschutzanliegen hier nicht nur darin, im konkreten Einzelfall von der Belastung des rechtswidrigen EG-Rechtsakts befreit zu werden, sondern im Interesse eines dauerhaften Rechtsfriedens auch dessen gerichtliche Aufhebung zu erreichen, was aufgrund des Verwerfungsmonopols der europäischen Gerichtsbarkeit zur Klärung von Gültigkeitsfragen letztlich allein durch den Gerichtshof über das Vorabentscheidungsverfahren zu erreichen ist, dessen Einleitung folglich die höchste Priorität des Klägers gilt, während die Sinnhaftigkeit des Ausgangsverfahrens vollkommen in den Hintergrund gedrängt wird. Knüpft letzeres an eine nationale Maßnahme an, so steht und fällt sein Erfolg mit dem Ergebnis des zentralen Zwischenverfahrens, wenn die Frage der Rechtmäßigkeit des Klagegegenstand hier unmittelbar mit der Frage der Gültigkeit seiner rechtlichen Grundlage verknüpft ist. Demnach folgt in der Praxis auf die Entscheidung des EuGH oftmals ohne weitere Sachprüfung die Verfahrensbeendigung, so – insbesondere im zivilprozessualen Bereich – über ein Anerkenntnis, eine Klagerücknahme oder eine Erledigungserklärung der Hauptsache2193. Bedarf der Gemeinschaftsrechtsakt keines innerstaatlichen Vollzuges und darf der Einzelne, wie im deutschen Vgl. nochmals EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament); vgl. auch EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 40 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat) sowie EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 30 (Kommission/Jégo-Quéré). 2192 In diesem Sinne auch Fastenrath, in: FS Ress, S. 461, 483 f. 2193 s. dazu Hakenberg, DRiZ 2000, 345, 349. 2191

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

Verwaltungsprozessrecht, auf die abstrakte Feststellung der Rechtsverletzung klagen, so erschöpft sich das klägerische Begehren gar vollends in der Aufhebung des Rechtsakts durch den EuGH, so dass der ursprüngliche Antrag in dem nationalen Verfahren im Falle der Nichtigerklärung für erledigt erklärt und im Falle seiner Gültigkeitsbestätigung mit Blick auf die Verfahrenskosten zurückgenommen werden muss2194. Die Ansiedelung des prozessualen Start- und Endpunktes bei den mitgliedstaatlichen Gerichten entbehrt in diesem Fall vor dem Hintergrund des eigentlichen Rechtsschutzinteresses des Einzelnen einer greifbaren Zweckmäßigkeit. Die nationale Judikative dient dem EuGH hier vielmehr nur als Filterstation zur dezentralen Aussiebung solcher Fälle, in denen ein europarechtlicher Bezug oder aber die Entscheidungserheblichkeit der Gültigkeitsfrage fehlt, und mithin allein zu seiner eigenen Entlastung und dies unter spiegelbildlicher Mehrbelastung der dezentralen Judikative. Das mitunter mit dem Bild des Tandems charakterisierte Rechtsschutzsystem2195 kann jedoch nur dann zu einer effektiven prozessualen Absicherung der Individualrechte führen, wenn beide Akteure gleichermaßen um einen Vortrieb bemüht sind und sich der eine nicht allzu sehr auf das Lenken beschränkt, während dem anderen das Gros der Arbeitsbewältigung überlassen wird. Für den Einzelnen hat die beschriebene Schleife über die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit neben den in der Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens begründeten Schwächen zudem weitere Nachteile. Bedeutet schon die durchschnittliche Verfahrensdauer eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH mit derzeit etwa 19,8 Monaten2196 einen erheblichen Einschnitt in temporärer Hinsicht, so verzögert sich die begehrte Entscheidung des Gerichtshofs noch um den unbestimmten Zeitraum von der Klageerhebung im Ausgangsverfahren bis zum Zeitpunkt der Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens, dessen Eintritt aber maßgeblich davon abhängt, in welcher Instanz die Vorlage initiiert wird, sowie um den Zeitraum von der Entscheidung des EuGH bis zum endgültigen Abschluss des Verfahrens vor dem mitgliedstaatlichen Gericht. Eine zeitlich gegenüber dem Vorabentscheidungsverfahren nur unwesentlich länger dauernde Direktklage2197 brächte den Einzelnen also weitaus schneller zu seinem prozes2194 Die jüngere Rechtsprechung des EuGH darf keineswegs dahingehend verstanden werden, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte den EG-Rechtsakt verwerfen dürfen (in diese Richtung aber Schneider, NJW 2002, 2927, 2928). Vielmehr dürfte das mitgliedstaatliche Gericht die Nichtigkeit des EG-Rechtsakts allenfalls rein deklaratorisch feststellen. 2195 So bei Haltern, VerwArch 2005, 311, 313. 2196 s. dazu die Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs 2006, S. 93 (im Internet abrufbar unter http://www.curia.europa.eu/de/instit/presentationfr/rapport/ stat/06_cour_stat.pdf – letzter Besuch: 18. Juli 2007).

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems

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sualen Ziel. Einer Bemerkung ist in diesem Zusammenhang ferner würdig, dass dem Einzelnen durch die dezentrale Systemausrichtung auch eine zentrale Rechtsschutzebene weniger zur Verfügung steht, da die Gültigkeitsfrage im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens allein und einmalig durch den EuGH entschieden wird, während sich ein ausnahmsweise Individualklagebefugter in der eventuell rechtsschutzintensiveren Situation befinden, nach Art. 3 Abs. 1 lit. c) des Ratsbeschlusses 88/5912198 zunächst das Gericht erster Instanz als Eingansinstanz und nach den Art. 56 ff. EuGHSatzung anschließend nötigenfalls den Gerichtshofs als Rechtmittelinstanz anrufen zu können. Freilich kann der Rechtsschutz durch diese Möglichkeit kontralateral auch eine Schwächung in Form einer sensiblen Verzögerung erfahren, wenn besagtes Rechtsmittel gerade durch den Verfahrensgegner gegen das etwaig stattgebende Urteil des EuG eingelegt wird und die Wirksamkeit der erstinstanzlichen Nichtigerklärung nach Art. 60 Abs. 2 EuGHSatzung somit bis zur Zurückweisung des Rechtsmittels aufgeschoben wird. Sofern es dem Einzelnen hier nicht gelingt, seine Rechte parallel über einen einstweiligen Rechtsschutz nach Art. 242, 243 EGV abzusichern, kann sich der vordergründige Vorteil einer weiteren Entscheidungsinstanz insoweit rasch ins Gegenteil umkehren. Alles in allem bewährt sich das aktuelle Verfahrenssystem der EG nicht in allen Lagen individuellen Rechtsschutzbedürfnisses und ist vor diesem Hintergrund nicht durchgehend ein Erfolgsmodell2199. Betrachtet man das System im Ganzen in seiner durch den EuGH interpretierten Gestalt, so kumulieren sich die einzelnen Schwachpunkte der direkten und indirekten Rechtsschutzgewährung partiell zu einer solch flagranten Gemengelage, dass sich die Frage stellt, ob es gleichwohl noch den rechtsstaatlichen Anforderungen an die Garantie effektiven Rechtsschutzes genügt.

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems Die punktuellen wie gesamtsystematischen Schwächen des europäischen Individualrechtsschutzsystems in seiner durch die Rechtsprechung des Die Verfahrensdauer der Direktklagen betrug im Jahre 2006 durchschnittlich 20,0 Monate (vgl. die Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs 2006, a. a. O.). 2198 Beschluss des Rates (88/591/EGKS, EWG, Euratom) zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften vom 24. Oktober 1988, zuletzt geändert durch Beschl. v. 26. April 1999 (ABl. EG 1988 L 319/1; Sartorius II Nr. 248). 2199 A. A. insoweit Rodríguez Iglesias, Der EuGH und die Gerichte der Mitgliedstaaten, S. 23. 2197

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

EuGH gewonnenen Gestalt sind daher nunmehr im Lichte der einschlägigen Wertelemente des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz zu betrachten. Prämisse für einen derartigen grundrechtlichen Systemabgleich ist aber, dass an das primärrechtliche Rechtsschutzsystem überhaupt in zulässiger Weise die Messlatte jenes Grundrechts angelegt werden darf.

I. Einfluss grundrechtlicher Wertungen auf das primärrechtliche EG-Verfahrensrecht Letzterer Punkt betrifft die grundlegende Frage, wie sich geschriebenes Primärrecht und ungeschriebene grundrechtliche Werte im Unionsrechtssystem zueinander verhalten. 1. Primärrechtliche Auslegungsrelevanz der Grundrechte im Allgemeinen Bereits im Allgemeinen gilt in diesem Kontext zu beachten, dass sich auch in der EG die einzelnen Funktionen der Grundrechte nicht mehr in ihrer Dimension als wirtschaftliche Abwehr- und Freiheitsrechte im Sinne eines status negativus erschöpfen, sondern je nach in Bezug genommenem Grundrecht ebenso positive, soziale sowie nicht zuletzt auch objektive Dimensionen aufweisen2200, aus denen neuerdings auch grundrechtliche Schutzpflichten hergeleitet werden können2201. Während dabei den schutzrechtlichen und sozialen Funktionselementen der Grundrechte noch klarere Konturen durch die Rechtsprechung2202 und die Jurisprudenz gegeben werden können, ist in der rechtsgrundsätzlichen Funktionenlehre schon angesichts ihrer prätorisch gewachsenen Rechtsquelle wie auch ihrer Erwähnung in der Homogenitätsklausel des Art. 6 Abs. 1 EUV2203 als fundamentalem Grundsatz der Union jedenfalls die Dimension der Grundrechte als Ausdruck einer objektiven Werteordnung ohne weiteres anzuerkennen. Mit Blick auf seinen Auftrag nach Art. 220 EGV2204 und seine Bindung an die Grundrechte darf auch der EuGH dieser objektiv-rechtlichen Seite der 2200 s. zu dem Thema Krieger, Funktionen von Grund- und Menschenrechten, in Grote/Marauhn, Konkordanzkommentar, Kap. 6, Rn. 1 ff.; ferner Kingreen, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV, Rn. 44 ff. 2201 Hierzu ausführlich Szczekalla, DVBl. 1998, 219 ff.; Suerbaum, EuR 2003, 390, 400; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 194 ff. 2202 Zur schutzrechtlichen Dimension bereits EuGH, Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065, Rn. 40 (T. Port/Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung); ferner EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 74 ff. (Schmidberger). 2203 Dazu Pernice, Zur Finalität Europas, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 742, 759.

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems

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Grundrechte bei der Auslegung des geschriebenen Primärrechts nicht indifferent gegenüberstehen. Vielmehr gebietet es gerade deren primärrechtlicher Rang2205, die in Wechselwirkung zu diesen stehenden primärrechtlichen Regelungen durch eine grundrechtsadäquate2206 Interpretation in eine gesamtrechtssystematische Konkordanz zu bringen2207. 2. Primärrechtliche Auslegungsrelevanz der Rechtsschutzgarantie Im speziellen Fall des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz tritt vor dem Hintergrund, dass dieses seiner Natur gemäß systemgestaltender Regelungen bedarf, die ihm einerseits erst zur Geltung verhelfen und es andererseits zugleich begrenzen2208, zudem der leistungsrechtliche Charakter beZum Charakter des in Art. 220 EGV enthaltenen Auftrags an den EuGH als Ausdruck des Rechts auf effektiven Rechtsschutz Wegener, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 220 EGV, Rn. 11; Köngeter, ZfRV 2003, 123, 127. 2205 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659, Rn. 77 ff. (Schmidberger); EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, I-9609, Rn. 33 ff. (Omega); EuGH, Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025, Rn. 48 ff. (Karner); ebenso BVerfGE 73, 339, 383 f. (Solange II). s. aus der Literatur etwa Beutler, in: Groeben/Thiesing/Ehlermann, EUV/EGV, Art. F EUV, Rn. 73; Giegerich, ZaöRV 1990, 836, 850 f.; Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 11; zur a. A. s. Simon, in: Constantinesco/Kovar/Simon, TUE, Art. F EUV, Rn. 8. 2206 Dieser Begriff erscheint hier gegenüber jenem der „grundrechtskonformen“ Auslegung vorzugswürdig, da Letzterer den Eindruck vermitteln muss, die Grundrechte seien dem übrigen Primärrecht normenhierarchisch vorgelagert (hierauf zu Recht hinweisend Jarass, EU-Grundrechte, § 3, Rn. 8; begrifflich ebenso Nowak, in: ders./Cremer, Individualrechtsschutz, S. 47, 51). 2207 Aus hiesiger Sicht bedingt dies schon die normhierarchische Gleichstellung der Grundrechte mit dem geschriebenen Primärrecht. Eines Rückgriffs auf den Gedanken, dass den gemeinschaftsrechtlichen Grundrechten über ihre primärrechtliche Stellung hinaus ein gewisser Wertvorrang gegenüber dem „allgemeinen“ Primärrecht zukommen kann [vgl. dazu die Schlussanträge von GÄin Stix-Hackl zu EuGH, Rs. C36/02, Rn. 50 (Omega); ähnlich Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, § 3, Rn. 255], bedarf es zur Begründung jenes Konkordanzerfordernisses nicht. 2208 Zu entsprechenden Ausführungen des EGMR zu Art. 6 § 1 EMRK s. schon EGMR, Urt. v. 21. Februar 1975, Beschw. Nr. 4451/70, § 38 (Golder/United Kingdom); EGMR, Urt. v. 8. Juli 1986 (Große Kammer), Beschw.Nrn. 9006/80, 9262/81, 9263/81, 9265/81, 9266/81, 9313/81 u. 9405/81, § 194 (Lithgow u. a./ Vereinigtes Königreich); ebenso etwa EGMR, Urt. v. 23. Juni 2000, Beschw.Nrn. 32492/96, 32547/96, 32548/96, 33209/96 und 33210/96, § 114 (Coëme u. a./Belgique); EGMR, Urt. v. 20. Februar 2003, Beschw. Nr. 47316/99, § 59 (Forrer-Niedenthal/Deutschland); ähnlich das BVerfG, das die Funktion der Prozessordnungen als Mittel zur Sicherung der garantierten Effektivität des Rechtsschutzes hervorhebt, vgl. BVerfGE 96, 27, 39; ferner BVerfGE 94, 166, 213; in diesem Sinne auch Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 87, Fn. 26. 2204

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

sonders zutage2209. Die aus dieser Dimension eines Grundrechts resultierenden Ausgestaltungsverpflichtungen treffen neben der legislativen Gewalt auch die Exekutive und die Judikative2210. Obliegt einerseits mithin allen hoheitlichen Adressaten im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen eine systemgerechte Ausformung der Rechtsschutzkonzeption und kommt ihnen hierbei ein weiter Entscheidungsspielraum zu2211, so darf andererseits die Ausgestaltung der Gewähr des Grundrechts auf Rechtsschutz unter entsprechender Heranziehung jener Überlegungen, die der EuGH im Felde mitgliedstaatlicher Maßnahmen zur Gewährleistung der Warenverkehrsfreiheit angestellt hat2212, nicht offenkundig unzureichend sein2213. Mit anderen Worten dürfen die an der Systemformung Beteiligten unbeschadet ihres Gestaltungsspielraums im Sinne des Untermaßverbots2214 keinesfalls das zur Realisierung der Rechtsschutzgarantie zwingend notwendige Gewährleistungsmaß unterschreiten. Wenn das Recht auf effektiven Rechtsschutz mit Blick auf seinen objektiven und jenen positiv bedingten prozeduralen Gehalt seine konkrete Form erst durch die besonderen Ausprägungen des verfahrensrechtlichen Systems erhält, müssen demnach secta inversa die essentiellen Wertelemente der Rechtsschutzgarantie gerade auch bei der Auslegung und Anwendung des Rechtsschutzsystems Beachtung finden. Die daraus folgende, der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung geschuldete Beziehung gegenseitiger Bedingung und Beeinflussung wirkt sich im Rahmen der Handhabung der Nichtigkeitsklage als wesentlichem Ausdruck der Garantie individuellen Rechtsschutzes2215 folglich dergestalt aus, dass das Merkmal der individuel2209 Zur leistungsrechtlichen Dimension schon EGMR, Urt. v. 9. Oktober 1979 (Kammer), Beschw. Nr. 6289/73, § 26 (Airey/Irland); s. dazu auch Jarass, EUGrundrechte, § 40, Rn. 14; zu den Verfahrensgrundrechten als Rechte auf Schutz s. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff. und 446. 2210 Vgl. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 166 ff. 2211 Dazu allgemein Suerbaum, EuR 2003, 390, 413 f.; s. zu Art. 13 EMRK auch EGMR, Urt. v. 9. Oktober 1979, Beschw. Nr. 6289/73, § 26 (Airey/Irland), der den Konventionsstaaten eine „free choice of means“ attestiert. 2212 Verwiesen sei hier insbesondere auf EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959, Rn. 52 (Kommission/Frankreich): der Gerichtshof stellte hier eine Vertragsverletzung Frankreichs mit der Begründung fest, dass die staatlichen Maßnahmen „offenkundig nicht ausreichten, um den freien innergemeinschaftlichen Handelsverkehr (. . .) zu gewährleisten“; vgl. dazu auch Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 270 f. 2213 In Bezug auf Art. 47 GrCh weitergehend Eser, in: Meyer, GrCh, Art. 47, Rn. 3, nach dem das Verfahren so ausgestaltet sein muss, dass es „vollen Rechtsschutz“ gewähren kann. 2214 Vgl. zu diesem im deutschen Verfassungsrecht geläufigen Grundsatz BVerfGE 88, 203, 254 (Schwangerschaftsabbruch II).

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems

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len Betroffenheit nach Art. 230 Abs. 4 EGV nicht zuletzt im Lichte des Grundrechts auf einen effektiven gerichtlichen Rechtsschutz interpretiert werden muss2216. Auch der EuGH hat dieses Postulat der Rechtsschutzgarantie mittlerweile anerkannt2217 und muss daher auch seine eigene Rechtsprechung zum Verfahrenssystem des EG-Vertrags umso mehr daran messen lassen.

II. Wesentliche Rechtsschutzfaktoren und ihr Schutzgehalt Kann die Rechtsschutzgarantie also die Auslegung und Anwendung der primärrechtlichen Verfahrensregeln wesentlich beeinflussen, so sind nunmehr ihre vorliegend berücksichtigungsrelevanten Schutzkomponenten zu bestimmen. 1. Bestimmung des allgemeinen Kontrollmaßstabs Aus globaler Sicht hat das Recht auf effektiven Rechtsschutz die zentrale Funktion, die Durchsetzbarkeit materieller Rechtspositionen durch ein System von Regeln und Verfahren abzusichern2218. Wie sich schon mit Blick auf die verschiedenen Rechtsschutzaspekte, wie sie die Art. 6 und 13 EMRK in ihrer durch die Rechtsprechung des EGMR gefundenen Ausprägung verbriefen, ergibt, kann die Frage des wirksamen Rechtsschutzes ganz verschiedene Schutzkomponenten betreffen, die sich funktional dermaßen verzahnen, dass eine dogmatisch trennscharfe Differenzierung zwischen den Einzelelementen schwer fallen muss. So bildet beispielsweise der Anspruch auf eine Gerichtsentscheidung in angemessener Frist einerseits einen eigenständig überprüfbaren Seitenzweig der Rechtsschutzgarantie, der aber andererseits teilweise mit dem Anspruch auf ein faires rechtsstaatliches Verfah2215 Vgl. dazu statt vieler Stotz, Rechtsschutz vor europäischen Gerichten, in: Rengeling, Umweltrecht, § 45, Rn. 64; vgl. aus der Rspr. auch EuGH, Rs. C-374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 (Orkem/Kommission). 2216 So auch Schockweiler, JTDE Nr. 25, 1996, 1, 7.; ebenso und zugleich ausführlicher Cremer, EuZW 2001, 453, 455 ff.; ähnlich Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 87, Fn. 26, nach dessen Auffassung die Garantie effektiven Rechtsschutzes insoweit zu einer extensiven Auslegung einlade. 2217 s. EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 44 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat) sowie anschließend EuGH, Rs. C-312/00, Slg. 2002, I-11355, Rn. 78 (Kommission/Camar u. Tico) und EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 36 (Kommission/Jégo-Quéré). 2218 Vgl. nur Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 444.

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ren kongruiert2219. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz gebärdet sich demzufolge als ein bündelndes Rahmenrecht mit mannigfaltigen Schutzkomponenten2220, wie sie sich vornehmlich aus den Rechtserkenntnisquellen der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und der EMRK ergeben. Unter seinen verschiedenen Facetten geraten hier in Bezug auf die dargestellten Systemschwächen insbesondere zwei Schutzelemente in den Fokus, namentlich das Recht auf effektiven Zugang zu einem zuständigen Gericht und die Rechtzeitigkeit des erreichbaren Rechtsschutzes. Zu beachten ist in diesem Kontext jedoch, dass nicht nur die rechtlichen Grundlagen, sondern auch der allgemeine Schutzgehalt und die konkrete Gestalt der Rechtsschutzgewähr in den unterschiedlichen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten aufgrund der jeweiligen Eigenheiten der nationalen Prozessordnungen teils beträchtlich differieren2221. Schon dies steht einer allzu groben Festlegung des an das eigenständige Verfahrensrechtssystem der EG anzulegenden Kontrollmaßstabs entgegen. Überdies ist insofern ganz wesentlich der bereits erwähnte, den in die Ausformung und Anwendung des Rechtsschutzsystems involvierten Stellen zustehende Gestaltungsspielraum zu berücksichtigen, aus dessen Umfang bereits folgt, dass die betreffende Rechtsschutzgarantie keineswegs ein Recht auf das Optimum vermittelt und sie mithin nicht als Recht auf den effektivsten Rechtsschutz unter allen denkbaren Rechtsschutzgestaltungsmöglichkeiten zu verstehen ist. Andererseits kommt durch die attributive Qualifizierung der Rechtsschutzgarantie deutlich zum Ausdruck, dass die Art und Weise ihrer Gewähr sich nicht auf das Postulat der Effizienz der vorhandenen Rechtsschutzressourcen im Sinne einer ökonomischen Aufwandsbetrachtung beschränken darf, sondern die Gewähr gerade die Effektivität des Systems im Sinne einer Zielerreichbarkeit verspricht2222. Die weitreichende Gestal2219 Letzteres zeigt sich auch in der rechtlichen Herleitung durch den Gerichtshof, vgl. EuGH, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 20 f. (Baustahlgewebe/Kommission). 2220 Dazu auch bereits in Teil 1 unter B. III. 1. 2221 So ist das Gebot effektiven Rechtsschutzes nur in einigen Mitgliedstaaten im schriftlichen Verfassungsrecht verankert, so etwa neben Art. 19 Abs. 4 des deutschen Grundgesetzes in Art. 113 der Verfassung der italienischen Republik, in Art. 17 Abs. 2 der Verfassung der Republik Finnland, in Art. 20 Abs. 1 der Verfassung der Griechischen Republik, in Art. 20 der Verfassung der portugiesischen Republik und in Art. 17 Abs. 4 der Verfassung des Königreichs Spanien. In der irischen Verfassung finden sich insoweit nur partielle Regelungen zum Strafverfahren (vgl. Art. 38 der Verfassung der Irischen Republik). In Frankreich erfolgt die Herleitung des Rechts, soweit es die Unabhängigkeit der ordentlichen Gerichte betrifft, auf der Grundlage der Französischen Verfassung von 1958, und soweit die Unabhängigkeit der Verwaltungsgerichtsbarkeit gemeint ist, aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen („principes fondamentaux“).

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems

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tungsautonomie findet demnach eine Grenze in dem Erfordernis der Systemwirksamkeit, die im Sinne des Untermaßverbots zumindest dann als schlechterdings unzureichend zu bewerten sein dürfte, wenn der Wesensgehalt der grundrechtlichen Garantie tangiert ist2223. Die für den Systemabgleich entscheidenden Wertfaktoren sind damit in erster Linie im hermetischen Kernbereich des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz zu suchen. Dabei bedarf die Frage, ob mit der auch im Gemeinschaftsrecht geltenden Wesensgehaltsgarantie ein absoluter Kern im abstrakten oder konkreten Sinne oder aber ein fallrelativierter Grundrechtskern angesprochen ist, hier keiner abschließenden Klärung2224, da schon die allgemeine Überprüfung der Gesamtsystemadäquanz nur im Rahmen einer abstrakten, anhand wiederkehrender Typizitäten vorzunehmenden Betrachtung erfolgen kann. Dass zu jenem unabdingbaren Gehalt, den das gemeinschaftsrechtliche Recht auf Rechtsschutz in seinem innersten Schutzbereich aufweist, auch die allgemeine Anerkennung2225 der beiden hier interessierenden Elemente des effektiven Gerichtszugangs und der angemessenen Verfahrensdauer teilnehmen, kann keinen ernsthaften Zweifeln unterliegen. Das Recht auf tatsächlichen Zugang zu einem gerichtlichen Spruchkörper bildet nämlich schon denklogisch den Ausgangspunkt jeder justitiellen Rechtsschutzgewährung. Es liegt auf der Hand, dass erst die Möglichkeit, eine rechtliche Angelegenheit der Entscheidung eines Gerichts zu unterbreiten, weitere Überlegungen zur Art und Weise der Verfahrensgewähr eröffnet. Demgemäß ist das Recht auf Zugang zu einem effektiven Rechtsbehelf auch ausdrücklich in Art. 13 EMRK niedergelegt und gilt ungeachtet der punktuellen Rechtsquellendivergenzen in sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen. Aber auch das Recht auf zeitnahen Rechtsschutz bildet eine der wesentlichsten Komponenten der Effektivität eines Prozesssystems. Denn kommt 2222 Vgl. zu den einschlägigen offiziellen Begriffsdefinitionen im Bereich des Qualitätsmanagements die DIN EN ISO 9000:2000 (Qualitätsmanagementsysteme – Grundlagen und Begriffe) in der Fassung vom Dezember 2005. 2223 Dieser Ansatz knüpft unmittelbar an die ständige Rechtsprechung des EuGH zur Rechtmäßigkeit von Grundrechtseinschränkungen an, die er auch auf die Verfahrensrechte anwendet [vgl. dazu etwa jüngst EuGH, Rs. C-28/05, Slg. 2006, I-5431, Rn. 75 (Dokter u. a.): „Jedoch sind die Grundrechte, wie die Beachtung der Verfahrensrechte, nicht schrankenlos gewährleistet, sondern können Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.“ (Hervorhebung durch den Verfasser)]. 2224 s. zu dieser Frage schon in Fn. 873 sowie in Teil 3 unter A. II. 1. a). 2225 Aufgrund des abstrakten Systemabgleichs wird es in diesem Belang nur um die Frage gehen, welche unabdingbaren Schutzkomponenten ein Rechtsschutzsystem generell aufzuweisen hat.

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der begehrte Rechtsschutz zu spät, so steht dies im Ergebnis der Verweigerung des Gerichtszugangs gleich. Die englische Parömie „Justice delayed, justice denied“ hat insoweit nichts an ihrem Wahrheitsgehalt eingebüßt2226. Auch diese Gewähr ist im Übrigen explizit in Art. 6 § 1 EMRK verankert und in der einen oder anderen Art und Weise in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen anerkannt. Vor dem Hintergrund seiner herausragenden rechtsstaatlichen Bedeutung2227 gehört die generelle Ausrichtung eines jeden Verfahrenssystems am Beschleunigungsgebot somit ebenfalls zum undurchdringlichen Kernbereich einer effektiven Rechtsschutzgewähr. Gleich einem archimedischen Körper sind die Anerkennung des Rechts auf effektiven Gerichtszugang und die Gewähr des Rechts auf eine rechtzeitige Gerichtsentscheidung mithin aus jeder rechtsstaatlichen Perspektive und mit Blick auf alle beteiligten Wertesysteme als unabdingbare Elemente der Rechtsschutzgarantie wahrzunehmen, denen vor dem Hintergrund des Art. 6 Abs. 1 u. 2 EUV auch das prozessuale System des EG-Vertrags in seiner Ausgestaltung durch den EuGH Genüge tun muss. 2. Schutzanforderungen im Einzelnen Demzufolge sind nunmehr die einzelnen interessierenden Aspekte dieser beiden Systemvorgaben zu bestimmen2228, die hier vornehmlich aus den parallel anwendbaren Art. 6 und 13 EMRK hergeleitet werden können2229. a) Effektiver Zugang zu einem gesetzlich errichteten Gericht Der erste der beiden Rechtsschutzaspekte enthält zunächst die so genannte Rechtsweggarantie2230. Während Art. 13 EMRK „nur“ einen wirkÄhnlich Schlette, EuGRZ 1999, 369. Zur Bedeutung der Verfahrensdauer aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit s. bereits Klein, in: Mosler/Bernhardt/Hilf, Grundrechtsschutz in Europa, S. 160, 162; ferner Villiger, EMRK, Art. 6, Rn. 447. s. auch zur Derivation des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz aus dem Recksstaatsgebot und dem inhärenten, im Interesse der Rechtssicherheit bestehenden Erfordernis der Rechtsschutzgewährung innerhalb angemessener Zeit BVerfGE 88, 118, 124. 2228 Zu den vom Gerichtshof anerkannten Anforderungen an die Rechtsschutzgewähr auch schon in Teil 1 unter B. I. 3. 2229 Art. 6 EMRK ist nach neuerer Auffassung des EGMR nicht – mehr – lex specialis zu Art. 13 EMRK, dem eine eigenständige Garantie auf einen wirksamen Rechtsbehelf zu entnehmen ist, der sich seinerseits auch auf die Rüge der Verletzung des Art. 6 EMRK beziehen kann [vgl. EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000, Beschw. Nr. 30210/96, § 146 ff., insb. 152 und 156 (Kudla/Polen)]. 2230 Zur Herleitung der Rechtsweggarantie aus dem Grundsatz effektiven Rechtsschutzes s. Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 41 ff.; 2226 2227

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samen und somit angemessenen und zugänglichen2231 Rechtsbehelf zu einer nationalen, nicht notwendig gerichtlichen Instanz2232 garantiert, muss nach den Vorgaben des Art. 6 § 1 EMRK der Zugang zu einem unabhängigen2233, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht eröffnet sein2234, das neutral und objektiv im Rahmen eines fairen und öffentlichen Verfahrens entscheidet2235. Die vom EuGH gleichermaßen aus Art. 6 wie Art. 13 EMRK hergeleitete Rechtsweggarantie verbürgt demnach über eine synoptische Schutzbereichsbestimmung das Recht, die Behauptung einer Verletzung der eigenen Rechte durch eine Maßnahme der öffentlichen Gewalt2236 und das damit verbundene Rechtsschutzbegehren in wirksamer Weise einem zuständigen Gericht unterbreiten zu können2237. ähnlich bereits Tonne, Rechtsschutz, S. 200. Geht man indes von der grundrechtlichen Rechtsnatur des Rechts auf effektiven Rechtsschutz aus, so kann die Rechtsweggarantie auch als objektiv- und leistungsrechtliche Ausprägung des Verfahrensgrundrechts aufgefasst werden. 2231 Zu diesem Verständnis des Wirksamkeitsmerkmals EGMR, Entsch. v. 27. März 2003, Beschw. Nr. 58698/00 (Paulino Tomás/Portugal); ebenso EGMR, Urt. v. 7. April 2005, Beschw. Nr. 56483/00, § 38 (Jancikova/Australien). 2232 So ausdrücklich EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000, Beschw. Nr. 30210/96, § 157 (Kudla/Polen). 2233 Zur richterlichen Unabhängigkeit s. EuGH, verb. Rsn. C-174/98 P u. C-189/98 P, Slg. 2000, I-1, Rn. 17 (Van der Wal); zur Frage der gesetzlichen Besetzung des Gerichtshofs s. EuGH, Rs. C-7/94, Slg. 1995, I-1031, Rn. 10 ff. (Landesamt für Ausbildungsförderung Nordrhein-Westfalen/Gaal); zur Qualität des Gerichts i. S. d. Art. 6 § 1 EMRK s. schon Partsch, EMRK, S. 155 f. 2234 Zur Inhärenz des Rechts auf Zugang in der insoweit schweigenden Regelung des Art. 6 § 1 EMRK bereits EGMR, Urt. v. 21. Februar 1975, Beschw. Nr. 4451/70, § 36 (Golder/United Kingdom). 2235 Dazu näher Pache, EuGRZ 2000, 601, 602; ders., NVwZ 2001, 1342, 1343. 2236 Ob unter Art. 13 EMRK auch veritable Akte der Legislative fallen, ist nach wie vor wohl nicht vollends geklärt (s. dazu etwa Frowein, in: ders./Peukert, Art. 13 EMRK, S. 430 f.). Für den Bereich des Gemeinschaftsrechts dürfte die Frage in Abwesenheit einer konsequenten Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative sowie künftig mit Blick auf die weite Formulierung des Art. 47 Abs. 1 GrCh zu bejahen sein (a. A. insoweit wohl Eser, in: Meyer, GrCh, Art. 47, Rn. 18). In Bezug auf Art. 6 EMRK fordert auch der EGMR in seiner jüngeren Rechtsprechung die wirksame Angreifbarkeit eines jeden die Rechte des Einzelnen treffenden Akts ohne entsprechende Beschränkungen auf Exekutivakte [s. EGMR, Urt. v. 4. Dezember 1995, Beschw. Nr. 23805/94, § 36 (Bellet/Frankreich); EGMR, Urt. v. 30. Oktober 1998, Beschw. Nr. 38121/97, § 46 (F.E./Frankreich); anders zuvor noch EGMR, Urt. v. 16. Dezember 1992, Beschw. Nr. 12964/87, § 34 (de Geouffre/Frankreich)]. 2237 In diesem Sinne in zusammenfassender Bezugnahme auf die Art. 6 und 13 EMRK EuGH, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rn. 19 (Johnston); zum Erfordernis der Wirksamkeit ausdrücklich auch EuGH, Rs. 222/86, Slg. 1987, 4097, Rn. 15 (Unectef/Heylens). s. im Übrigen zum auf Art. 6 und 13 EMRK gestützten Erfordernis gerichtlicher Überprüfbarkeit EuGH, Rs. C-97/91, Slg. 1992, I-6313, Rn. 14 (Oleificio Borelli/Kommission); EuGH, Rs. C-1/99, Slg. 2001, I-207, Rn. 46 (Kofisa Ita-

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Dem Wirksamkeitspostulat gemäß muss das Rechtsschutzsystem vor allem einen klaren und geeigneten Angriff individualbelastender Akte ermöglichen2238. Zudem muss das Gericht mit hinreichenden, die tatsächlichen wie rechtlichen Aspekte des Rechtsschutzbegehrens erfassenden Prüfungsund Entscheidungskompetenzen ausgestattet sein2239 und der Rechtsbehelf auch im Übrigen praktisch wie rechtlich wirksam sein2240, so dass seine Nutzung nicht ohne Rechtfertigung durch ein hoheitliches Verhalten unterbunden werden kann2241. Wenngleich die gerichtliche Angreifbarkeit individuell belastender Akte konzeptionell gegenüber dem auf Entschädigung gerichteten sekundären Rechtsschutz vorrangig gewährt werden sollte2242, verlangt dies die EMRK nicht zwingend, solange zumindest ein angemessener Schadenersatz oder ähnliche Genugtuung erreichbar ist2243. Darüber hinaus bedingt jedoch der fair-trial-Grundsatz einen Anspruch auf prozessuale Waffengleichheit, der seinerseits in das Erfordernis einer kontradiktorischen Ausgestaltung des Gerichtsverfahrens münden kann2244. Ein Recht auf Gewährung eines lia); EuGH, Rs. C-226/99, Slg. 2001, I-277, Rn. 17 (Siples); EuGH, Rs. C-424/99, Slg. 2001, I-9285, Rn. 45 (Kommission/Österreich). 2238 s. EGMR, Urt. v. 16. Dezember 1992, Beschw. Nr. 12964/87, § 34 (de Geouffre/Frankreich); EGMR, Urt. v. 4. Dezember 1995, Beschw. Nr. 23805/94, § 36 (Bellet/Frankreich); EGMR, Urt. v. 30. Oktober 1998, Beschw. Nr. 38121/97, § 46 (F.E./Frankreich). 2239 s. dazu BVerfGE 61, 82, 110 f.: „Dazu gehört vor allem, daß der Richter – bezogen auf das als verletzt behauptete Recht – eine hinreichende Prüfungsbefugnis über die tatsächliche und rechtliche Seite des Rechtsschutzbegehrens hat sowie über eine zureichende Entscheidungsmacht verfügt, um einer erfolgten oder drohenden Rechtsverletzung wirksam abzuhelfen.“; ähnlich, indes in Bezug die nationale Stelle i. S. d. Art. 13 EMRK EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000, Beschw. Nr. 30210/ 96, § 157 (Kudla/Polen). 2240 So zu Art. 13 EMRK auch jüngst wieder EGMR, Urt. v. 7. April 2005, Beschw. Nr. 56483/00, § 38 (Jancikova/Australien). 2241 EGMR, Urt. v. 27. Juni 2000, Beschw. Nr. 22277/93, § 97 (Ylhan/Türkei); ebenso schon EGMR, Urt. v. 19. Februar 1998, Beschw. Nr. 22729/93, § 106 (Kaya/Türkei). 2242 So deutlich EGMR, Urt. v. 8. Juni 2006, Beschw. Nr. 75529/01, § 100 (Sürmeli/Deutschland); ähnlich schon EuGH, Rs. C-228/98, Slg. 2000, I-577, Rn. 64 (Dounias). 2243 Vgl. Peukert/Frowein, EMRK, Art. 13, Rn. 6. 2244 Zur kontradiktorischen Verfahrensausgestaltung EuGH, Rs. C-177/00, Slg. 2003, I-233, Rn. 25 (Italien/Kommission); zur Beschränkung des Grundsatzes auf den Bereich des Gerichtsverfahrens EuGH, verb. Rsn. C-204/00 P, C-205/00 P, C-211/00 P, C-213/00 P, C-217/00 P und C-219/00 P, Slg. 2004, I-123, Rn. 70 (Aalborg Portland u. a./Kommission) unter Berufung auf EGMR, Urt. v. 19. Juli 1995, Beschw. Nr. 17506/90, § 42 (Kerojärvi/Finnland) und EGMR, Urt. v. 18. März 1997, Beschw. Nr. 21497/93, § 33 (Mantovanelli/Frankreich).

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Rechtsmittels trägt die Rechtsschutzgarantie zwar nicht in sich2245, wird aber eine weitere Rechtsschutzebene bereitgestellt, so muss auch diese den Anforderungen der Art. 6 und 13 EMRK entsprechen2246. Das Recht auf Gerichtszugang ist unterdessen nicht absolut, da es naturgemäß nähere, an den Bedürfnissen des Einzelnen und den Ressourcen der Gemeinschaft ausgerichtete Regelungen durch den Hoheitsträger erfordert, für deren Gestaltung Letzterem ein Entscheidungsspielraum zukommt2247. Dabei darf das Recht unter Beachtung seines Wesensgehalts in Verfolgung eines legitimen Zieles verhältnismäßigen Einschränkungen unterworfen werden2248, so etwa partiell durch im Interesse der Rechtssicherheit stehende Fristen- oder Präklusionsregelungen2249 oder auch in umfassender Art und Weise aus Gründen der Staatenimmunität2250. 2245 So ausdrücklich EuGH, Rs. C-432/04, Slg. 2006, I-6387, Rn. 112 ff. (Kommission/Cresson). In dieser Rechtssache beantragte die Kommission die Feststellung, dass sich die Beklagte als Kommissionsmitglied der Günstlingswirtschaft oder zumindest einer groben Fahrlässigkeit schuldig gemacht und dadurch ihre Pflichten nach Art. 213 Abs. 2 EGV verletzt habe, weshalb ihr Ruhegehaltsansprüche oder andere an deren Stelle gewährte Vergünstigungen ganz oder teilweise aberkannt werden sollten. Der Gerichtshof ließ ausdrücklich offen, ob auf das in Art. 213 Abs. 2 EGV genannte Sanktionierungsverfahren die Regelungen des siebten Zusatzprotokolls zur EMRK, welches in Art. 2 ein Recht auf Berufung gegen eine strafgerichtliche Verurteilung garantiert, Anwendung finden, da er als oberstes Gemeinschaftsgericht jedenfalls unter den Ausnahmetatbestand des Art. 2 § 2 des Zusatzprotokolls falle. Im Übrigen stellte der Gerichtshof hier – wohl erstmals – eine Verletzung der aus Art. 213 Abs. 2 EGV folgenden Pflichten fest und sah in dieser Deklaration zugleich eine ausreichende und angemessene Sanktion für das Fehlverhalten. 2246 Vgl. dazu schon EGMR, Urt. v. 17. Januar 1970, Beschw. Nr. 2689/65, § 25 (Delcourt/Belgien); ferner aus jüngerer Zeit auch EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000, Beschw. Nr. 30210/96, § 122 (Kudla/Polen). Von Interesse ist in diesem Zusammenhang zudem EGMR, Urt. v. 4. August 2005, Beschw. Nr. 16945/02, § 17 f. (Agatianos/Griechenland), wonach das Recht auf effektiven Gerichtszugang nach Art. 6 § 1 EMRK auch durch die mit der Verfristung begründete Zurückweisung eines auf Rechtsfragen gestützten Rechtsmittels verletzt sein kann, wenn die Rechtsmittelfrist schon ab Urteilsverkündung läuft und dem Rechtsmittelführer die Begründung des anzufechtenden Urteils dort noch nicht hinreichend offenbart wurde. 2247 So schon EGMR, Urt. v. 21. Februar 1975, Beschw. Nr. 4451/70, § 38 (Golder/United Kingdom); vgl. dazu ferner EGMR, Urt. v. 28. Oktober 1998, Beschw. Nr. 23452/94, § 147 (Osman/Vereinigtes Königreich). 2248 EGMR, Urt. v. 21. September 1994, Beschw. Nr. 17101/90, § 65 (Fayed/ Vereinigtes Königreich); EGMR, Urt. v. 28. Oktober 1998, Beschw. Nr. 23452/94, § 147 (Osman/Vereinigtes Königreich). 2249 Vgl. EGMR, Urt. v. 4. April 2001, Beschw. Nr. 43269/98, § 23 (Leoni/Italie); vgl. ebenso jüngst wieder EGMR, Urt. v. 4. August 2005, Beschw. Nr. 16945/02, § 16 (Agatianos/Griechenland). 2250 s. dazu EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533, Rn. 342 (Yusuf and Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission) unter Berufung auf EGMR,

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b) Angemessene Verfahrensdauer Den zweiten, hier im Zentrum der Betrachtungen stehenden Schutzaspekt des Rechts auf wirksamen Rechtsschutz bildet der vom EuGH erstmals in der Rechtssache Baustahlgewebe anerkannte Anspruch auf eine gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist2251. Ergibt sich dieser primär aus Art. 6 § 1 EMRK2252, hat er zugleich im Rahmen von Art. 13 EMRK Bedeutung, da eine exzessive Verfahrensdauer ebenso die Effektivität eines Rechtsbehelfs unterminieren kann2253. Ab welcher temporären Spanne die Grenze des Adäquaten überschritten ist, kann freilich nicht mit einer Zeitvorgabe in abstracto bestimmt werden, sondern ist unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Einzelfalls zu beurteilen, die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen2254. Die insoweit berücksichtigungsfähigen Kriterien können in vornehmlicher Anlehnung an die einschlägige und bereits weitgehend ausgereifte Kasuistik des EGMR hergeleitet werden, auf die regelmäßig sowohl die mitgliedstaatlichen Gerichte2255 als auch der EuGH2256 rekurrieren und die ein ganzes Bündel allgemein anerkannter Abwägungsfaktoren an die Hand gibt2257. Urt. v. 12. Juli 2001, Beschw. Nr. 42527/98, §§ 52, 55, 59 und 68 (Prinz HansAdam II von Liechtenstein/Deutschland) und auf EGMR vom 21. November 2001, Beschw. Nr. 31253/96, §§ 34 ff. (McElhinney/Irland) sowie in Bezug auf die Immunität von Internationalen Organisationen auf EGMR, Urt. v. 18. Februar 1999, Beschw. Nr. 26083/94, §§ 63 und 68 ff. (Waite und Kennedy/Deutschland). 2251 s. EuGH, Rs. C-185/95 P, Slg. 1998, I-8417, Rn. 20 f. (Baustahlgewebe/ Kommission). 2252 Art. 6 § 1 S. 1 EMRK hat den Wortlaut: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“ (Hervorhebung durch den Verfasser). Im Englischen und Französischen ist eher von einer „vernünftigen“ Frist die Rede („reasonable time“/„délai raisonnable“). 2253 Vgl. EGMR, Urt. v. 7. April 2005, Beschw. Nr. 56483/00, § 38 (Jancikova/ Australien); s. in Bezug auf Art. 47 Abs. 2 GrCh auch Eser, in: Meyer, GrCh, Art. 47, Rn. 36. 2254 In diesem Sinne schon EuGH, Rs. C-185/95, Slg. 1998, I 8417, Rn. 29 (Baustahlgewebe/Kommission); s. für die deutsche Rechtsordnung etwa BVerfGE 55, 349, 369; BVerfGE 93, 1, 13; BGHSt 46, 159, 169, 171. 2255 Exemplarisch für Deutschland etwa BVerfG, 2 BvR 327/02, Beschl. vom 5. Februar 2003, Absatz-Nr. 36, www.bverfg.de. 2256 s. insbesondere EuGH, Rs. C-185/95, Slg. 1998, I 8417, Rn. 29 (Baustahlgewebe/Kommission); ferner EuGH, Rs. C-7/98, Slg. 2000, I-1935, Rn. 25 (Dieter Krombach/André Bamberski). 2257 Darauf hingewiesen sei zugleich, dass im Einzelnen durchaus Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des EGMR und jener der nationalen Gerichte beste-

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aa) Abwägungskriterien So ist die Frage der Angemessenheit der Frist im Sinne des Art. 6 § 1 EMRK nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR insbesondere anhand der Schwierigkeit und Komplexität des Falles, des Verhaltens der Beteiligten, also des Beschwerdeführers und der beteiligten hoheitlichen Stellen sowie nicht zuletzt anhand der Bedeutung des Rechtsstreits für den Betroffenen zu beantworten2258. Die Maßgeblichkeit dieser Grundkriterien hat der EuGH kongruent für das Gemeinschaftsrechtssystem übernommen2259 und zugleich seinerseits wiederholt klargestellt, dass ihre Aufzählung weder abschließend, noch streng kumulativer Natur ist und folglich im Einzelfall auch schon ein einzelnes der Kriterien das zeitliche Ausmaß des Verfahrens rechtfertigen oder gerade umgekehrt unangemessen erscheinen lassen kann2260. Ist aber die durchschnittliche Verfahrensdauer eingehalten, spricht dies prima facie für die Angemessenheit der Frist2261. Was die Kriterien im Einzelnen anbelangt, so kann sich zunächst die besondere Komplexität der Sache nicht nur aus der Schwierigkeit der zu beantwortenden Rechtsfragen, sondern auch aus der Anzahl der Verfahrensbeteiligten, der Prüfung von Anträgen auf Einsicht in sensible Akten sowie aus der Erforderlichkeit einer umfangreichen Beweisaufnahme ergeben2262. Im Hinblick auf das Kriterium der Bedeutung der Sache für den Betroffenen ist vor allem die Tragweite seiner auf dem Spiel stehenden Interessen hen, so etwa mit Blick auf die deutsche Rechtsprechung zu der Frage, ob die Schwere der Tat ein im Rahmen des Art. 6 § 1 EMRK entscheidungsrelevantes Kriterium darstellt (dazu näher Demko, HRRS 2005, 283, 294 f.). 2258 St. Rspr. des EGMR, s. etwa EGMR, Urt. v. 25. März 1999, Beschw. Nr. 25444/94, § 67 (Pélissier und Sassi/Frankreich); EGMR, Urt. v. 25. Februar 2000, Beschw. Nr. 29357/95, § 70 (Gast und Popp/Deutschland) sowie jüngst EGMR, Urt. v. 20. Januar 2005, Beschw. Nr. 64387/01, § 27 (Uhl/Deutschland) und EGMR, Urt. v. 11. Juli 2006, Beschw. Nr. 72377/01, § 26 (Sarl du Parc d’Activités de Blotzheim/Frankreich). s. zum Ganzen ausführlicher Wilfinger, Das Gebot effektiven Rechtsschutzes, S. 154 ff. 2259 Vgl. EuGH, Rs. C-185/95, Slg. 1998, I 8417, Rn. 29 (Baustahlgewebe/Kommission); EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P u. C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 179 ff. und 207 ff. (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.). 2260 Vgl. EuGH, Rs. C-194/99 P, Slg. 2003, I-10821, Rn. 156 (Thyssen Stahl/ Kommission); ebenso EuGH, Rs. C-195/99 P, Slg. 2003, I-10937, Rn. 123 (Krupp Hoesch Stahl/Kommission). 2261 EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P u. C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 188 (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.). 2262 s. dazu EuGH, Rs. C-194/99 P, Slg. 2003, I-10821, Rn. 158 ff. (Thyssen Stahl/Kommission).

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und Güter2263 sowie die Erheblichkeit der wirtschaftlichen, persönlichen oder sozialen Auswirkungen des Verfahrens2264 zu berücksichtigen. Auch die Natur des Verfahrens kann in diesem Kontext mit dem Beschleunigungsgebot in Wechselwirkung stehen2265. Bemerkenswerterweise hat der EuGH unter Hinweis auf das Interesse an Rechtssicherheit und an einem unverfälschten Wettbewerb auch schonmal die Interessen verfahrensexterner Personen in die betreffende Signifikanzprüfung einfließen lassen2266. Da auch das weitere Kriterium des Verhaltens der privaten und hoheitlichen Verfahrensbeteiligten einschließlich der Judikative nach objektiven Maßstäben zu beurteilen ist, kommt es insofern nicht zwingend auf ein Verschulden und insbesondere nicht auf ein solches des entscheidenden Gerichts an2267. Verfahrensverzögerungen aus der Sphäre des Betroffenen gehen jedoch selbstverständlich zu seinen Lasten und dürfen nicht in die zu berücksichtigende Dauer einfließen, wenn sie im Vergleich zu den anderen Gründen ins Gewicht fallen2268. Ähnlich verhält es sich mit jenen Faktoren, die von Seiten des Gerichts nicht unmittelbar beeinflusst werden können, wie etwa die Dauer der Tätigkeit der in das Verfahren notwendig einbezogenen Sachverständigen oder sonstigen Dritten2269. bb) Fristbestimmung In Bezug auf die für die Bestimmung der Verfahrensdauer maßgebenden Eckpunkte wird zunächst der Fristbeginn weitestgehend einheitlich am Zeitpunkt der Klageerhebung festgemacht2270. Der Endpunkt der relevanten 2263 So etwa EGMR, Urt. v. 25. März 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 25444/94, § 67 (Pélissier und Sassi/Frankreich). 2264 s. exemplarisch zu den sozialen Auswirkungen auf den beruflichen Status des Einzelnen EGMR, Urt. v. 20. Januar 2005, Beschw. Nr. 64387/01, § 34 (Uhl/ Deutschland). 2265 So etwa EGMR, Urt. v. 8. Januar 2004, Beschw. Nr. 47169/99, § 49 (Voggenreiter/Deutschland); ebenso BVerfGE 46, 17, 29. 2266 Vgl. dazu EuGH, Rs. C-185/95, Slg. 1998, I 8417, Rn. 30 (Baustahlgewebe/ Kommission). Die Vorgehensweise ist jedoch angesichts des tendenziellen Popularcharakters der so gearteten Interessenbestimmung nicht unproblematisch. 2267 Secta inversa impliziert dies, dass mit der Behauptung einer unangemessen langen Verfahrensdauer nicht notwendig auch ein Verschuldensvorwurf an die Adresse des Gerichts einhergehen muss. 2268 Vgl. dazu EGMR, Urt. v. 20. Januar 2005, Beschw. Nr. 64387/01, § 33 (Uhl/ Deutschland). 2269 Vgl. dazu etwa im Bereich der deutschen Rechtsprechung BVerfGE 46, 17, 29; BVerfG NVwZ 2004, 334, 335; BVerfG NJW 1999, 2582, 2583. 2270 So schon EGMR, Urt. v. 28. Juni 1978 (Plenum), Beschw. Nr. 6232/73, § 101 (König/Deutschland); ebenso EuGH, Rs. C-194/99 P, Slg. 2003, I-10821, Rn. 157 (Thyssen Stahl/Kommission) und EuGH, Rs. C-195-99 P, Slg. 2003,

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Verfahrensdauer liegt nach der Rechtsprechung des EGMR ganz regelmäßig in der Zustellung der letzten in dem Rechtszug ergangenen Gerichtsentscheidung, so dass nicht auf die Zeitspanne einer einzelnen Instanz abzustellen ist, sondern vielmehr auf die Gesamtverfahrensdauer2271 unter Einbeziehung der Dauer außerordentlicher Rechtsbehelfe, wie etwa einer Bundesverfassungsbeschwerde2272. Der EuGH hat die Frage, ob auch aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht die komplette Dauer des Gerichtsverfahrens zugrunde zu legen ist, explizit offen gelassen2273. In seiner jüngst ergangenen Entscheidung in der Rechtssache Technische Unie2274 hat er indes zur Thematik der angemessenen Dauer des Verwaltungsverfahrens einige Grundlinien skizziert, die auch auf den gerichtlichen Bereich übertragbar sein dürften und eine differenzierende Sichtweise erfodern. So hat der Gerichtshof zunächst im Bereich der Art. 85 und 86 EGV2275 die grundsätzliche Zulässigkeit der vom EuG vorgenommenen Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Verfahrensabschnitten2276 bestätigt und insoweit I-10937, Rn. 124 (Krupp Hoesch Stahl/Kommission). Ist ein Vorverfahren notwendig, so fließt auch dessen Dauer in die Berechnung mit ein (s. Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6, Rn. 72). 2271 Vgl. EGMR, Urt. v. 25. März 1999 (Große Kammer), Beschw. Nr. 25444/94, §§ 67 u. 71–75 (Pélissier und Sassi/Frankreich); EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000 (Große Kammer), Beschw. Nr. 30210/96, §§ 124–131 (Kudla/Polen [GK]); EGMR, Urt. v. 31. Mai 2001, Beschw. Nr. 37591/97, §§ 36–44 (Metzger/Deutschland) sowie jüngst wieder EGMR, Urt. v. 20. Januar 2005, Beschw. Nr. 64387/01, § 35 (Uhl/Deutschland). Eine differenzierende Ansicht vertritt hingegen das BVerfG, das die Dauer des Revisionsverfahrens regelmäßig nur dann einbezieht, wenn es zur Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers durchgeführt wurde (s. etwa BVerfG, NJW 2003, 2897, 2898). 2272 Dazu EGMR, Urt. v. 20. Januar 2005, Beschw. Nr. 64387/01, § 26 (Uhl/ Deutschland). 2273 s. insbesondere die Entscheidung EuGH, verb. Rsn. C-238/99 P, C-244/99 P, C-245/99 P, C-247/99 P, C-250/99 P bis C-252/99 P und C-254/99 P, Slg. 2002, I-8375, Rn. 229 ff. (Limburgse Vinyl Maatschappij (LVM)/Kommission u. a.), in welcher der Gerichtshof das Fehlen eines Rechtsverstoßes ausführlich begründete und so von einer eigenen Positionierung zu der Frage absehen konnte. 2274 EuGH, Rs. C-113/04 P, Slg. 2006, I-8831 (Technische Unie/Kommission). 2275 Bei dem in Frage stehenden Verwaltungsverfahren handelte es sich um ein kartellrechtliches Bußgeldverfahren nach Art. 15 Abs. 2 der ersten Durchführungsverordnung zu den Art. 85 und 86 des EGV (ABl. EG 1962, Nr. 13/204), die mittlerweile durch die Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. Dezember 2002 zur Durchführung der in den Art. 81 und 82 EGV niedergelegten Wettbewerbsregeln (ABl. EG 2003 L 1/1) ersetzt worden ist. 2276 Das EuG hatte in der Vorinstanz strikt zwischen dem Abschnitt der Ermittlungen vor der Mitteilung der Beschwerdepunkte an die betroffenen Unternehmen und dem restlichen Verwaltungsverfahren differenziert [s. EuG, verb. Rsn. T-5/00 und T-6/00, Slg. 2003, II-5761, Rn. 78 (Nederlandse Federatieve Vereniging voor de Groothandel op Elektrotechnisch Gebied u. a./Kommission)].

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klargestellt, dass eine getrennte Betrachtung grundsätzlich möglich ist, wenn jeder der einzelnen Verfahrensteile einer eigenen inneren Logik mit unterschiedlicher Zielsetzung folgt2277. Kann aber die Art und Weise der Durchführung des ersten Verfahrensabschnitts auf den zweiten dergestalt fortwirken, dass die Verteidigungsrechte des Betroffenen insgesamt beeinträchtigt werden, so muss sich, wie der Gerichtshof weiter eruiert hat, die Prüfung der Wirksamkeit des Rechtsschutzes auf die komplette Länge des Verfahrens beziehen2278. In Applikation dieser Grundsätze auf den justitiellen Bereich spricht weitaus mehr für eine Berücksichtigung der Gesamtverfahrensdauer. Denn auch wenn die verschiedenen Verfahrensabschnitte und Entscheidungsinstanzen im Hinblick auf die teils komplexe Verteilung der Prüfung von Tatsachen- und Rechtsfragen innerhalb und zwischen der zentralen und dezentralen Rechtsschutzebene jeweils partikulären Rechtsschutzzwecken dienen und bisweilen auch ganz eigenen Regeln folgen, so fällt letztlich doch ausschlaggebend ins Gewicht, dass die einzelnen Phasen eines Rechtszuges aus dem Winkel des individuellen Klagebegehrens keine eigenständigen Aspekte des Prozessweges bilden, sondern notwendige, interimäre Verfahrensschritte, die allesamt dem einen Ziel, namentlich der Erreichung effektiven und rechtzeitigen Primärrechtsschutzes dienen. cc) Rechtsfolgen der Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer Wird das Recht auf eine angemessene Verfahrensdauer verletzt, sind verschiedene Rechtsfolgen denkbar. Insoweit obliegt es grundsätzlich jedem einzelnen Rechtssystem, eine angemessene und systemgerechte Antwort parat zu halten2279. Jedenfalls muss die Verletzung der Pflicht zur Gewährung rechtzeitigen Rechtsschutzes spürbare und angemessene Konsequenzen haben2280. Erschöpft sich der Vorwurf in dem Verfahrensverstoß und gehen aus diesem keine materiellen Schäden hervor, so spricht der EGMR dem Beschwerten für das erlittene Unrecht auf der Grundlage des Art. 41 EMRK eine billige Entschädigung zu2281. Wie der Gerichtshof in Straßburg Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 42 f. (Technische Unie/Kommission). Vgl. EuGH, a. a. O., Rn. 54 ff. (Technische Unie/Kommission). 2279 s. dazu EGMR, Urt. v. 9. Dezember 1994, Beschw.Nrn. 19005/91 und 19006/91, § 75 (Schouten und Meldrum/Niederlande). 2280 So auch Gundel, DVBl. 2004, 17, 21 ff. 2281 Vgl. EGMR, 27. April 2006, Beschw. Nr. 40051/02, § 38 f. (Kefalas u. a./ Griechenland). Vgl. in diesem Kontext aber auch jüngst die Entscheidung EuG, Rs. T-47/03, Slg. 2007, II-73, Rn. 225 ff. (Sison/Rat), in welcher das Gericht sich in Ermangelung eines hinreichenden Kenntnisstandes nicht in der Lage sah, den angegriffenen Rechtsakt inhaltlich zu überprüfen, und diesen allein wegen Verstoßes ge2277 2278

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im Übrigen ausdrücklich klargestellt hat, muss aber jedes der Konvention verpflichtete Verfahrenssystem die Elemente aufweisen, die für den Abschluss eines Gerichtsverfahrens innerhalb angemessener Frist notwendig sind2282. Die Gerichte sind folglich sachlich und personell so auszustatten und strukturell zu organisieren, dass Streitsachen in angemessener Frist abgeschlossen werden können2283. In Konsequenz hierzu können sich die für die Gewährung effektiven Rechtsschutzes verantwortlichen Stellen zur Rechtfertigung einer exzessiven Verfahrensdauer nicht auf Umstände stützen, die im innerstaatlichen Verantwortungs- und Organisationsbereich liegen, wie etwa die kapazitäre Situation der Justiz2284. Nach der neueren Rechtsprechung des EGMR muss überdies auch die Behauptung der Verletzung der aus Art. 6 § 1 EMRK folgenden Rechte nach den Vorgaben des Art. 13 EMRK zum Gegenstand einer wirksamen Beschwerde bei einer rechtsordnungsinternen Instanz gemacht werden können2285. Wie der EGMR in diesem Zusammenhang jüngst für den Bereich des deutschen Rechtsschutzsystems festgestellt hat, ist weder die Verfassungsbeschwerde noch die Dienstaufsichtsbeschwerde, die Untätigkeitsbeschwerde oder die Schadensersatzklage als hinreichend wirksamer Rechtsbehelf in diesem Sinne anzusehen2286. Denn Erstere ermöglicht vorwiegend nur die Feststellung der Verletzung des Verfahrensgrundrechts, trägt ihrerseits aber nicht gesichert zur Beschleunigung des Verfahrens bei2287. Während des Weiteren eine Dienstaufsichtsbeschwerde in der Regel kein subjektives Recht auf Ausübung der Aufsichtspflicht vermittelt, steht der Effektivität der Untätigkeitsbeschwerde derzeit ihre fehlende gesetzgen die Begründungspflicht und die Verteidigungsrechte des Klägers aufgehoben hat. Da es in diesem Ausspruch zugleich eine angemessene Reparation der Rechtsverletzung sah, sprach es dem Kläger hingegen keine Geldentschädigung zu [vgl. EuG, a. a. O., Rn. 241 (Sison/Rat)]. 2282 Vgl. EGMR, Urt. v. 16. September 1996, Beschw. Nr. 20024/92, § 55 (Süßmann/Deutschland); ferner EGMR, Urt. v. 25. Februar 2000, Beschw. Nr. 29357/95, § 75 (Gast und Popp/Deutschland); ebenso etwa BVerfG, NVwZ 2004, 334, 335. 2283 Ebenso Lansnicker/Schwirtzek, NJW 2001, 1969, 1970; ferner Meyer-Ladewig, EMRK, Art. 6, Rn. 74. 2284 Auch chronische Arbeitsüberlastung ist insofern keine Rechtfertigung [vgl. EGMR, Urt. v. 1. Juli 1997, Beschw. Nr. 17820/91, § 69 (Pammel/Deutschland); ebenso BVerfGE 36, 264, 274 f.; zur entsprechenden Pflicht des Staates zur Aufbringung, Bereitstellung und Einsetzung der erforderlichen personellen und sachlichen Mittel jüngst wieder BVerfG, NJW 2006, 668, 671]. 2285 So EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000, Beschw. Nr. 30 210/96, § 156 (Kudla/ Polen) in Bezug auf den Anspruch auf eine angemessene Verfahrensdauer; ebenso EGMR, Urt. v. 7. April 2005, Beschw. Nr. 56483/00, § 39 (Jancikova/Australien). 2286 Vgl. EGMR, Urt. v. 8. Juni 2006, Beschw. Nr. 75529/01, §§ 98 ff., insb. 103–117 (Sürmeli/Deutschland). 2287 Vgl. EGMR, a. a. O., §§ 103–108 (Sürmeli/Deutschland).

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liche Grundlage und die damit einhergehende uneinheitliche Behandlung ihrer Zulässigkeit in der Rechtsprechung entgegen2288. Die theoretische Möglichkeit, eine Schadensersatzklage anzustrengen, bildet schließlich ebenfalls keinen praktisch wirksamen Rechtsbehelf, zumal der immaterielle Schaden der exzessiven Verfahrensdauer hierüber kaum befriedigend kompensiert werden kann2289.

III. Systemabgleich Im Folgenden ist damit zu klären, ob das oben dargestellte, durch den EuGH praktizierte Rechtsschutzsystem den hier beschriebenen Mindestanforderungen der Rechtsschutzgarantie gerecht wird. Da es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Straßburg für die Frage, ob ein System die Rechte des Einzelnen hinreichend effektiv schützt, nicht so sehr auf den einzelnen Rechtsbehelf, als vielmehr – in letzter Hinsicht – auf das Rechtsschutzaggregat im Ganzen ankommt2290, ist der folgende Effektivitätsabgleich vornehmlich auf das kommunalrechtliche Gesamtsystem zu beziehen. 1. Zugang zu einer gerichtlichen Kontrolle Beleuchtet man die bereits dargestellte Neuralgie der wesentlich durch den Gerichtshof gestalteten Konzeption des individuellen Gerichtszugangs zum Angriff unmittelbar belastender Rechtsakte normativen Charakters aus der Sicht des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz, so erweist sich vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR zur EMRK zunächst als weniger problematisch, dass dem Einzelnen über den regelmäßig zu beschreitenden dezentralen Weg keine gemeinschaftsgerichtliche Rechtsmittelinstanz zu Verfügung steht. Auch ist es nach Maßgabe des EGMR, wie gesehen, nicht zwingend erforderlich, den Rechtsschutz primär auszugestalten. Wenn aber das System einen direkten individuellen Rechtsschutz gewährt, so muss es das damit gegebene Versprechen unter Einhaltung der an die So EGMR, a. a. O., §§ 109–112 (Sürmeli/Deutschland). Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang auch auf den Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 22. August 2005 über die Rechtsbehelfe bei Verletzung des Rechts auf ein zügiges gerichtliches Verfahren [Untätigkeitsbeschwerdengesetz – im Internet abrufbar unter www.bdfr.de/Untaetigkeitsbeschwerde_BMJ.pdf (letzter Besuch: 28. Januar 2007)], der in Reaktion auf die Entscheidung des EGMR in der Rechtssache Kudla/Polen initiiert worden ist. 2289 EGMR, a. a. O., § 113 (Sürmeli/Deutschland). 2290 s. dazu statt vieler EGMR, Urt. v. 26. Oktober 2000, Beschw. Nr. 30 210/96, § 157 (Kudla/Polen). 2288

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Wirksamkeit der Rechtsschutzkonzeption zu stellenden Mindestanforderungen einlösen. Keinen Bedenken begegnet es insoweit, in dem von dezentralem Vollzug geprägten Rechtssystem der EG die Gewährung des Individualrechtsschutzes vorwiegend bei den mitgliedstaatlichen Gerichten anzusiedeln2291. Da der Individualrechtsschutz partiell jedoch auch unmittelbar von den Gemeinschaftsgerichten geleistet wird, bilden die zentrale und die dezentrale Rechtsschutzebene zwei in Wechselwirkung stehende Teile eines Individualrechtsschutzensembles2292, das die Aufgabe hat, als Ganzes den Rechtsschutz wirksam und mithin komplett und angemessen abzusichern2293. Den Individualkläger dabei im Regelfall zu zwingen, den weitaus zeitintensiveren, möglicherweise kostenaufwendigeren und vor allem im Ausgang ungewisseren Weg über die nationalen Instanzgerichte zu beschreiten, um die maßgeblichen gemeinschaftsrechtlichen Fragen letztlich im Wege einer durch den Einzelnen nicht erzwingbaren Vorlage des mitgliedstaatlichen Gerichts doch allein vom EuGH behandelt wissen zu wollen, erscheint in hohem Maße unbefriedigend und mit Blick auf die verschiedenen gangbaren Wege der Gewährung effektiven primären Rechtsschutzes suboptimal2294. Den mitgliedstaatlichen Gerichten droht in einem solchen System unter Einbüßung ihrer rechtsstaatstragenden Bedeutung die Abwertung zu bloßen „Durchlaufstationen“2295. Als wohl problematischster Aspekt kristallisiert sich in der Systemzusammenschau aber heraus, dass der Einzelne, wenn der EG-Rechtsakt keiner mitgliedstaatlichen Durchführung bedarf, weil seine Regelungen bereits unmittelbare Rechtswirkungen entfalten, den primären Individualrechtsschutz in Ermangelung einer effektiv zugänglichen zentralen Klagemöglichkeit einerseits und einer auf der dezentralen Ebene geregelten Auffangklageart andererseits zumeist nur über einen sanktionsbewehrten Ähnlich Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1303; ferner Wegener, in: Calliess/ Ruffert, EUV/EGV, Art. 234 EUV, Rn. 1. 2292 Ähnlich Nettesheim, ZEuS 2002, 507, 532. 2293 Ebenso Mengozzi, in: Rossi, nouvelle architecture de l’UE., S. 219, 226. 2294 Zu Recht hält auch GA Jacobs das Verfahren nach Art. 230 EGV für das geeignetere, um die Rechtmäßigkeit einer Verordnung gerichtlich klären zu lassen [vgl. GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Rn. 45 ff. (Unión de Pequeños Agricultores/Rat)]. 2295 Schneider, NJW 2002, 2927, 2928. Die anschließenden Ausführungen desselben zur künftigen Statthaftigkeit einer unmittelbar gegen EG-Sekundärrecht gerichteten Verfassungsbeschwerde begegnen jedoch Bedenken, da der EuGH seine exklusive Normverwerfungskompetenz ersichtlich nicht in Frage zu stellen gedachte, sondern nur die dezentralen Gerichte in die erste Reihe der Rechtsschutzgaranten stellen und somit seiner eigenen Einschaltung über das Vorlageverfahren nach Art. 234 EGV einen verfahrensrechtlichen Filter vorsetzen wollte. 2291

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Rechtsverstoß erreichen kann. Sofern das nationale Gericht a priori auch die Vollziehung des EG-Rechtsakts einstweilen aussetzen darf2296, wird der Einzelne hierüber nur ausnahmsweise2297 Rechtsschutz erlangen können. Eine einstweilige Anordnung wäre überdies territorial auf den betreffenden Mitgliedstaat beschränkt, so dass sich ein international agierendes Unternehmen genötigt sehen könnte, entsprechende Verfahren in einer ganzen Reihe von Mitgliedstaaten einzuleiten, angesichts der Gefahr einander widersprechender Gerichtsentscheidungen die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts vorübergehend beeinträchtigen könnte. Zudem droht ein kompletter Systemausfall, wenn eine hoheitliche Reaktion auf die Missachtung des EG-Rechtsakts rechtlich gar nicht erfolgen kann oder just faktisch nicht erfolgt. Hinzu kommt, dass der Einzelne auf der dezentralen Ebene seine Stellung als veritabler Verfahrensbeteiligter einbüßt, soweit er hier nicht auf einen im EG-Vertrag verankerten justitiablen Anspruch auf Einhaltung der mitgliedstaatlichen Vorlagepflicht verweisen kann. Das Vorabentscheidungsverfahren vermag die Schwächen im prinzipalen Rechtsschutzsystem dabei offenkundig nicht zu nivellieren und ist insgesamt kein hinreichendes Mittel der Rechtssicherung2298. Obgleich sich beide Wege des Individualrechtsschutzes gegenseitig komplettieren sollen und daher einer Handhabung im Lichte des Gebots der Kohärenz des Rechtsschutzsystems bedürfen2299, kann, solange einerseits die mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsysteme keine zufriedenstellende Antwort auf das Bedürfnis nach einer vollständigen Lückenschließung des Rechtsschutzsystems zu geben vermögen und sich das Schweigen der gemeinschaftsrechtlichen Individualrechtsschutzebene fortsetzt, von einem funktionierenden „System kommunizierender Röhren“2300 nicht die Rede sein. 2296 Zur Möglichkeit der Aussetzung EuGH, verb. Rsn. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 16 ff. (Zuckerfabrik Süderdithmarschen u. a.); zur Möglichkeit des Erlasses einer einstweiligen Anordnung EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 19 ff. (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft); s. auch zur kohärenten Behandlung beider Arten vorläufigen Rechtsschutzes jüngst EuGH, verb. Rsn. C-453/03, C-11/04, C-12/04 und C-194/04, Slg. 2005, I-10423, Rn. 103 f. (ABNA u. a.). 2297 Vgl. EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761, Rn. 32 ff. (Atlanta Fruchthandelsgesellschaft): Hierfür bedarf es insbesondere erheblicher Zweifel an der Gültigkeit des Rechtsakts und der besonderen Dringlichkeit der Angelegenheit. Des Weiteren muss das Gericht bei alldem unter Beachtung der einschlägigen Rechtsprechung des EuGH die Interessen der Gemeinschaft hinreichend berücksichtigen und die praktische Wirksamkeit des EG-Rechts wahren. 2298 Der Gerichtshof sieht dies freilich anders: s. etwa EuGH, verb. Rsn. 116 und 124/77, Slg. 1979, 3497, Rn. 14 (Amylum/Rat und Kommission), wonach das Vorlageverfahren „geeignet (ist), den Schutz der Einzelnen wirksam sicherzustellen“. 2299 So auch EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 16 (Foto-Frost); s. dazu ferner Calliess, NJW 2002, 3577, 3578.

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Aus diesen Gründen bestehen in grundrechtlicher Hinsicht erhebliche Zweifel daran, dass der Zugang zum Gerichtshof als der zur Verwerfung von EG-Rechtsakten allein zuständigen Judikativstelle für den Einzelnen wirksam und ausreichend sicher zu erlangen ist. 2. Zeitliche Angemessenheit Überdies ist der begehrte Rechtsschutz selbst in jenen Fällen, in denen auf der dezentralen Stufe eine prozessuale Zugangsmöglichkeit besteht, regelmäßig erst nach einer ganz erheblichen Zeitspanne zu erreichen, auf deren jeweiliges Ausmaß der Einzelne nur unzureichend Einfluss hat. Zu der schon ihrerseits durchaus beträchtlichen Verfahrensdauer eines Vorabentscheidungsverfahrens vor dem EuGH2301, die zwar einigen Prognosen zum Trotz2302 seit 2004 angesichts der greifenden Justizreformen wahrnehmbar rückläufig ist2303, vor dem Hintergrund der EU-Osterweiterung und der zunehmenden Europäisierung der nationalen Rechtssysteme aber wohl nicht auch weiterhin deutlich abnehmen wird, tritt mit dem Ausflug in die mitgliedstaatlichen Rechtsschutzsysteme noch der Zeitraum von der Einleitung des Ausgangsverfahrens bis zur Beendigung desselben hinzu. Im ungünstigsten Fall, namentlich dem der verweigerten Vorlage in allen Instanzen, verlängert sich der Rechtszug außerdem noch um die Dauer eines etwaig vorhandenen grundrechtlichen Rechtsbehelfs2304. Das Verfahrenssystem bietet sich damit den Luxus, dem Einzelnen auf seinem Weg zum Rechtsschutzziel ohne Not wertvolle Monate und Jahre abzunehmen2305. Die indirekte Rechtswegkonzeption birgt folglich schon in abs2300 Der Begriff geht zurück auf Lecourt, Recueil Dalloz-Sirey, Chronique XIII, 1967, 52, 55. 2301 Diese betrug im Jahre 2006 durchschnittlich 19,8 Monate (vgl. die Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs für das Jahr 2006, S. 93). 2302 s. etwa Everling, EuR Beiheft 1/2003, 7, 12 ff., und ferner Hopt, RabelsZ 2002, 589, 591 ff., die eine weitere Zunahme der Verfahrensdauer erwarteten; ähnlich schon früher Lipp, JZ 1997, 326, 327. 2303 Im Jahre 2004 betrug die Durchschnittsdauer noch 23,5 Monate und im Jahre 2003 sogar 25,5 Monate (vgl. die Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs für das Jahr 2006, a. a. O.). 2304 Die hinzukommende Dauer einer Verfassungsbeschwerde zum BVerfG beträgt zwischen einem Jahr bis zu vier Jahren (vgl. etwa BVerfG, Jahresstatistik 2005 zur Verfassungsbeschwerde, Durchschnittliche Verfahrensdauer von Verfassungsbeschwerden der Eingangsjahre 1994 bis 2005). Trotz eigener Vorlageberechtigung pflegt das BVerfG im Übrigen, nicht eigenhändig das Vorabentscheidungsverfahren zum EuGH einzuleiten. 2305 Exemplarisch für die Verfahrensdauer vor den nationalen Gerichten seien folgende Zahlen aus dem Bereich der deutschen Verwaltungsgerichtsbarkeit genannt:

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tracto die systemprägende Gefahr verzögerter und mithin unwirksamer Rechtsschutzgewährung. Geht es dem Einzelnen, wie in den vorliegend visierten Konstellationen der Fall, primär um die Aufhebung eines unmittelbar belastenden Normativakts, geschieht dies vollends ohne Grund, obgleich doch gerade hier die Vorteile prinzipaler Rechtsschutzgewährung, die gegenüber dem Vorabentscheidungsverfahren zeitlich nur unwesentlich mehr Zeit in Anspruch nähme2306, offen zutage liegen. Bei aller Zurückhaltung, die anlässlich der grundrechtlichen Adäquanzkontrolle des Verfahrenssystems aufgrund des den Hoheitsträgern für seine Ausgestaltung zustehenden „margin of appreciation“ geboten ist, existiert demnach auch in temporaler Hinsicht eine eklatante, grundrechtlich bedenkliche Strukturschwäche im arbeitsteiligen Rechtsschutzsystem2307. 3. Eingeschränkte Aussagekraft der konventionsrechtlichen Äquivalenzbestätigung durch den EGMR Wenn der EGMR die durch die Konzeption des Vorlageverfahrens verursachte Verfahrensverlängerung im Interesse der Funktionsfähigkeit dieses Systems regelmäßig nicht in die Berechnung der an der EMRK zu messenden Verfahrensdauer einbezieht2308, besagt dies noch nichts über die anhand der Mindestvorgaben der Art. 6 und 13 EMRK zu beurteilende Effektivität des EG-Verfahrenssystems. Hierzu hat sich der EGMR nämlich weder ratione personae noch ratione materiae verhalten, betrifft letztere Frage doch gar nicht den konventionsgemäßen Umgang der Gerichte mit dem inneren Prozesssystem, sondern die Zulänglichkeit des Systems an sich2309. das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht als Eingangsinstanz dauerte im Jahre 2003 durchschnittlich etwa 15,3 Monate und 2004 etwa 13,6 Monate (vgl. Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Verwaltungsgerichte, Fachserie 10/Reihe 2.4, 2004, Punkt 1.2.3.1); das Verfahren vor dem OVG als Rechtsmittelinstanz dauerte 2004 durchschnittlich 7,8 Monate (Statistisches Bundesamt, a. a. O., Punkt 2.3.3.2); das Verfahren vor dem BVerwG als Revisionsinstanz dauerte in rund 40% der Fälle 6–12 Monate und in über 34% der Fälle 12–24 Monate (Statistisches Bundesamt, a. a. O., Punkt 4.2.2.2). 2306 Die Verfahrensdauer einer Direktklage betrug im Jahre 2006 durchschnittlich 20,0 Monate (vgl. die Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs 2006, S. 93). 2307 Dahingehend auch Gundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 18, Rn. 32. 2308 Vgl. EGMR, Urt. v. 16. Februar 1998, Beschw. Nr. 20323/92, § 95 (Pafitis u. a./Griechenland). 2309 In diesem Belang fehlt es der Interpretation von Gundel (in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 18, Rn. 32, im Zusammenspiel mit seinen Ausführungen in VerwArch 2001, 81, 102) an Präzision, soweit er meint, der EGMR habe in der betreffenden Entscheidung anerkannt, dass hier zwischen Haupt- und Zwischenverfah-

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Soweit der Gerichtshof in Straßburg in seiner Entscheidung zur Rechtssache Bosphorus, die Anlass zu einiger Kritik gibt2310, dem Grundrechtsschutzsystem der Gemeinschaft samt seiner prozessualen Ausgestaltung eine generelle Gleichwertigkeit zum Konventionsniveau attestiert hat2311, kommt dieser Adelung nur eingeschränkte Aussagekraft zu, da insbesondere die das Rechtsschutzsystem der Gemeinschaft betreffende Prüfung einer ausreichenden Präzision und Konsequenz entbehrt, soweit der Gerichtshof hier zwar die Systemschwächen und Einschränkungen des individuellen Gerichtszugangs hervorhebt2312, diese aber nicht weiter mit den einzelnen Vorgaben der Art. 6 und 13 EMRK abgleicht. Der EGMR begnügt sich hier vielmehr mit dem Hinweis, dass auch gerichtliche Aktionen der EG-Organe und der Mitgliedstaaten einen indirekten und damit kompensatorischen Vorteil für die Individualrechte haben könnten und Individualrechtsschutz neben der Möglichkeit der Einklagung eines Schadensersatzanspruchs gegen die Gemeinschaft oder einen Mitgliedstaat vornehmlich durch die mitgliedstaatlichen Gerichte geleistet werde2313. Dass prozessuale Initiativen der privilegierten Verfahrensberechtigten den Einzelnen allenfalls reflexartig schützen und als unechte Individualrechtsbehelfe nicht erzwingbar sind, der sekundäre Rechtsschutz ebenfalls und vor allem im Bereich legislativen Unrechts, nicht ohne weiteres zugänglich ist und oftmals im Ergebnis zu kurz greift und der Einzelne eine äußerst schwache Verfahrensposition im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens innehat, wirft der EGMR hierbei nicht hinreichend in die Waagschale. Gänzlich außen vor lässt er bei der Prüfung der Vergleichbarkeit des prozessualen Schutzes zudem den Umstand, dass im Gegensatz zum EG-System die Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK die verfahrensrechtliche Möglichkeit bietet, eine Grundrechtsverletzung nachträglich und einzelfallbezogen gerichtlich überprüfen zu lassen, während das EG-System eine solche Möglichkeit nicht bereit hält2314. ren zu trennen und die durch die Konzeption des EGV eintretende Verfahrensverzögerung hinzunehmen sei. 2310 Ausführlicher zum Urteil und kritikwürdigen Punkten bereits in Teil 2 unter B. III. 2. a) bb) (3) (a) (bb) und (cc). 2311 EGMR, Urt. v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, §§ 165 i. V. m. 155 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 2312 EGMR, a. a. O., § 162 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 2313 s. EGMR, a. a. O., §§ 163 f. (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 2314 Insoweit zu Recht kritisch die Richter Rozakis, Tulkens, Traja, Botoucharova, Zagrebelsky und Garlicki in ihrer „joint concurring opinion“ zu EGMR, Urt. v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 3 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland).

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In prozessualer Hinsicht kann demnach angesichts der aufgezeigten Schwächen nur schwerlich von einem der EMRK äquivalenten Schutzniveau gesprochen werden. Die hier deutlich werdende Zurückhaltung des EGMR bei der Kontrolle des EG-Rechts kann wohl in erster Linie mit der Abwesenheit einer formellen Bindung der Gemeinschaft an die EMRK und seiner Achtung vor der justitiellen Autorität des EuGH erklärt werden. Wie im Ansatz bereits geschehen, sollte Letzterer das erteilte Äquivalenzprädikat aber gerade als Herausforderung verstehen, die Wirksamkeit des EGRechtsschutzsystem im Mindestmaß stets an der prozessualen Schutzdichte der Konvention auszurichten2315, und sich keineswegs andersherum bei der Anwendung und Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensregelungen hinter ihm ausruhen. Denn spätestens nach einem Konventionsbeitritt der EU können sich die inter lineas teils auch kritischen Andeutungen des EGMR2316 rasch zu einer ernsthaften Aufforderung verdichten, das Verfahrenssystem zu effektuieren2317. 4. Fazit In der Gesamtschau ist wohl nicht die vom EGV geregelte, jedoch die im Zusammenspiel mit der Rechtsprechung des EuGH vorgegebene Gestalt des 2315 s. zu dieser positiven Tendenz die Entscheidung EuGH, Rs. C-229/05, Slg. 2007, I-439, Rn. 79 ff. (PKK und KNK/Rat), in welcher der Gerichtshof die Opferstellung des einen Rechtsmittelführers konkret nach Maßgabe der vom EGMR aufgestellten Grundsätze zur Art. 34 EMRK geprüft und auf dieser Basis – zu Recht – verneint hat, um hierüber mit Blick auf die Umstände des Falles die hinreichende Darlegung eines Widerspruchs zwischen der EMRK und Art. 230 Abs. 4 EGV zu verneinen. 2316 Das Urteil ebenfalls in diese Richtung interpretierend der Richter am EGMR Ress in seiner „concurring opinion“ zu EGMR, Urt. v. 30. Juni 2005, Beschw. Nr. 45036/98, § 2 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland). 2317 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass der EGMR seinen Kontrollrückzug expressis verbis nur auf die gemeinschaftsrechtliche Säule der Union bezogen hat [vgl. EGMR, a.a.O., § 72 (Bosphorus Hava Yollary Turizm ve Ticaret Anonim S¸irketi/Ireland)], während er die intergouvernementalen Tätigkeiten im Bereich der GASP und der PJZS ggf. wohl seiner vollen Kontrolle unterziehen möchte, was zu dem überraschenden Ergebnis führen könnte, dass mit Blick auf die Vorgaben der Art. 6 und 13 EMRK im Bereich der EG als echter Rechtsgemeinschaft in prozessualer Hinsicht ein niedrigeres Grundrechtsschutzniveau abgesichert wird, als im Bereich der unionsrechtlichen Säulen. Die Rechtssache EGMR, Entsch. v. 16. und 23. Mai 2002, Beschw.Nrn. 6422/02 und 9916/02 (Segi u. a. und Gestoras Pro-Amnistia u. a./15 Staaten der Europäischen Union) brachte insoweit noch nicht die erhoffte Klarheit, da der Gerichtshof die Beschwerde schon wegen der mangelnden Opferstellung der Beschwerdeführer als unzulässig abgewiesen hat.

B. Grundrechtlicher Abgleich des Individualrechtsschutzsystems

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Rechtsschutzsystems in grundrechtlicher Hinsicht ungenügend2318. Augenscheinlich haben die Herren der Verträge die Möglichkeit, dass eine Verordnung unmittelbar subjektiv belastend wirkt, ohne wirksam über die mitgliedstaatlichen Gerichte angegriffen werden zu können, schlichtweg nicht gesehen und in Anbetracht der Entwicklungen der Dogmatik des EuGH zu den potentiellen Individualklagegegenständen und zur individuellen Betroffenheit auch nicht vorhersehen können. Insbesondere lässt die Praxis des EuGH insoweit eine hinreichende Berücksichtigung des eigens entwickelten Grundsatzes vermissen, den gemeinschaftsrechtlichen Regelungen bei ihrer Inhaltsbestimmung und Anwendung stets zu voller praktischer Wirksamkeit zu verhelfen2319. Vielmehr reduziert der Gerichtshof die Anforderungen der Garantie der Effektivität des Rechtsschutzsystems, bei welcher das Primat in der wirkungsvollen, also tatsächlichen, rechtzeitigen und möglichst lückenlosen Erreichbarkeit des Rechtsschutzziels liegt, unter billigender Inkaufnahme von Rechtsschutzdefiziten auf die Ebene einer bloßen Effizienz des in wesentlichen Teilen von ihm selbst gestalteten Rechtsschutzsystems. Die derzeit vorzufindende, prätorisch geformte Gesamtstruktur des Individualrechtsschutzsystems mit der nur fragmentarischen Schutzreichweite des Art. 230 Abs. 4 EGV und den mannigfaltigen Schwächen der restlichen Verfahrensmöglichkeiten, deren Ausgestaltungen mit Blick auf die Mindestanforderungen der Art. 6 und 13 EMRK ihrerseits bereits Bedenken wecken können, bietet im Bereich des Rechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte nicht das rechtsstaatlich notwendige Maß an Wirksamkeit, sondern unterschreitet dieses schlechterdings. In Anbetracht der Offenkundigkeit und des Umfangs der partikulären Rechtsschutzinsuffizienzen kann hier unbeschadet des weiten Gestaltungsspielraums der beteiligten Hoheitsträger sogar „the very essence“ der Rechtsschutzgarantie tangiert sein. Denn die Verweigerung eines effektiv zugänglichen und rechtzeitig erreichbaren Rechtsschutzes stellt zugleich die durch das Verfahrenssystem abzusichernde Geltung der materiellen Rechte in Frage. Möchte die EG als eine Internationale Organisation gelten, die gegenüber eigener Hoheitsausübung veritablen grundrechtlichen Schutz gewährt2320, so sollte sie die Garantie effektiven Rechtsschutzes ernst nehmen und die neuralgischen Systemelemente alsbald einer Modifizierung zuführen.

2318 In diesem Sinne auch Ress, ZaöRV 2004, 621, 637 f.; ähnlich kritisch Eser, in: Meyer, GrCh, Art. 47, Rn. 14. 2319 Zu Recht weist Jacobs, CMLR 2004, 303, 313 ff., in diesem Zusammenhang auf die Diskrepanz zwischen der Rechtsprechungspraxis des EuGH und den übrigen Bestimmungen des Art. 230 EGV hin. 2320 So Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 429, 463.

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C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung Methodische Ansätze zur Beseitigung der aufgezeigten Rechtsschutzdefizite kommen sowohl im Rahmen des geltenden Rechts als auch durch vertragliche Systemänderungen in Betracht.

I. Lösungsmöglichkeiten de lege lata Unter Schonung der aktuellen Fassungen der einschlägigen Vertragsregelungen ist unter der geltenden Rechtslage auf der einen Seite an eine Fortentwicklung des Vorabentscheidungsverfahrens durch den EuGH zu denken. Auf der anderen, zentral angesiedelten Systemseite sind einerseits Variationen in der Anwendung des Art. 241 EGV und andererseits norminterpretatorische wie auch prätorische Modifikationen der Individualnichtigkeitsklage zu erwägen. 1. Modifikationen im Zusammenhang mit dem dezentralen Rechtsschutzzweig Unter Wahrung der Grundeinstellung des EuGH zugunsten einer vorwiegend dezentralen Ausrichtung der Rechtsschutzgewährung könnte die Verbesserung der Rechtsschutzsituation zunächst durch eine Stärkung der Verfahrensrechte im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens herbeigeführt werden. Die Möglichkeiten de lege lata sind dabei jedoch begrenzt. a) Verbesserung der Initiativstellung des Einzelnen Eine erweiternde Auslegung des Primärrechts dahingehend, dass der Einzelne ein echtes Antragsrecht auf Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens geltend machen kann, lässt Art. 234 EGV ersichtlich weder grammatikalisch noch teleologisch zu. Auch durch eine prätorische Rechtsfortbildung wäre dies nicht in rechtlich zulässiger Weise zu realisieren, da die Schaffung einer verfahrensrechtlichen Antragsberechtigung den Geist des Vorabentscheidungsverfahrens wesentlich verändern würde, nämlich weg von dem System des justitiellen Dialogs2321 hin zu einem echten Individualrechtsbehelf. Für eine solch grundstrukturelle Systemmodifikation bedürfte es ersichtlich einer vertraglichen Änderung nach Maßgabe des Art. 48 EUV. Nach der derzeitigen Rechtslage ist es insoweit allein Sache der Mit2321 Hierzu schon EuGH, Rs. 16/65, Slg. 1965, 1152, 1165; s. dazu auch Dauses, Vorabentscheidungsverfahren, S. 223 ff.; ferner Hakenberg, DRiZ 2000, 345 ff.

C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung

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gliedstaaten, dem Einzelnen gegenüber den nationalen Gerichten innerhalb des eigenen Verfahrensrechts ein Recht auf Beantragung der Vorlageeinleitung einzuräumen, wozu sie angesichts der individualschützenden Funktion des Vorabentscheidungsverfahrens2322 grundsätzlich auch berechtigt wären. Solange aber keine dahingehende gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung besteht, mangelt es insofern an der Kohärenz der Zugangsbedingungen in den einzelnen Rechtssystemen. b) Effektuierung der Vorlageverpflichtung durch den EuGH Ähnlich liegen die Dinge im Hinblick auf eine effektivere Sanktionierung der pflichtwidrig unterbliebenen Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens. Die Grundsätze der Foto-Frost-Rechtsprechung des EuGH zwingen bereits jetzt ipso iure jede innerstaatliche Gerichtsinstanz zur Vorlage, wenn in dem anhängigen Rechtsstreit die Frage aufkommt, ob ein normativer EGRechtsakt gemeinschaftsrechtskonform ist. Ein Ausbau der Vorlagepflichtdogmatik ist demnach – auch angesichts ihres erreichten Konkretisierungsgrades – nicht nötig. Die darüber hinaus zumindest theoretisch bestehende Möglichkeit der Kompensation der aus dem pflichtwidrigen Unterlassen herrührenden Schäden auf der sekundärrechtlichen Rechtsschutzebene erscheint zum einen wegen der engen Voraussetzungen, an welche eine Haftungsbegründung im Bereich des judikativen Unrechts geknüpft ist, praktisch nur in Ausnahmefällen erreichbar und zum anderen in prozedural-finaler Hinsicht auch nur partiell geeignet, die unzureichenden Rechtsschutzmöglichkeiten auf der primären Ebene abzufangen. Freilich könnte der EuGH durch eine Fortentwicklung der Köbler-Lehren zumindest den Druck auf die mitgliedstaatlichen Gerichte erhöhen, das Bestehen einer Vorlagepflicht im Einzelfall noch sorgfältiger zu prüfen, und so im Dienste der Individualinteressen letztlich auch ihre Vorlagemotivation zu fördern. Zu erwarten ist ein solcher Schritt jedoch nicht, hat der Gerichtshof doch auch jüngst wieder seiner besonderen Sensibilität im Umgang mit den im Spannungsverhältnis zwischen gemeinschaftsrechtlicher Treue und richterlicher Unabhängigkeit stehenden Haftungsfragen Ausdruck verliehen. c) Effektuierung über die nationale Verfassungsgerichtsbarkeit Auch insoweit liegt die Handlungsoption nach aktueller Lage auf Seiten der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen und hier insbesondere bei den Verfassungsgerichtsbarkeiten, die den eigenen Instanzgerichten die Bedeutung 2322 Vgl. zu dieser Funktion nochmals EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, Rn. 35 (Köbler).

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des EuGH als gesetzlichem Richter über die verfassungsprozessuale Ebene noch klarer vor Augen führen könnten. Hat das deutsche BVerfG auf diesem Gebiet durch die stetige Konkretisierung der Kasuistik zu Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG im gemeinschaftsrechtlichen Kontext auch bereits einiges geleistet, so kongruieren die von ihm entwickelten Maßstäbe gleichwohl nicht mit den durch den EuGH aufgestellten Grundsätzen zu den instanzgerichtlichen Vorlageverpflichtungen2323. Selbst wenn aber das BVerfG in diesem Zusammenhang die Begründetheitsanforderungen in Zukunft weiter mindern sollte, ginge mit dem entsprechenden Rechtsschutzgewinn nach wie vor ein gehöriger Verlust in zeitlicher Hinsicht einher, da auf die gegebenenfalls erfolgreich erhobene Verfassungsbeschwerde nach § 95 Abs. 1 BVerfGG nur die Feststellung der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter sowie nach § 95 Abs. 2 i. V. m. § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG die Zurückverweisung der Sache an das Instanzgericht tenoriert würde. Überdies kann eine Verfassungsbeschwerde als außerordentlicher Rechtsbehelf nicht die Rechtskraft der angegriffenen Gerichtsentscheidung hemmen2324, so dass der visierte EG-Rechtsakts nach dem Entfallen etwaig parallel gewährten einstweiligen Rechtsschutzes seine belastenden Wirkungen (wieder) voll entfalten könnte. Abschließend gilt auch in diesem Kontext zu bedenken, dass die Autonomie der nationalen Verfassungsordnungen keine kohärente Entwicklung im gesamteuropäischen Rechtsraum erwarten lässt. d) Revision der Rechtsprechung zur Bestandskraft des Vorlagegegenstandes In Anbetracht der Unsicherheiten bei der Wahl des richtigen Rechtsweges kann hingegen zuletzt eine Modifizierung der die Bestandskraft von EG-Rechtsakten schützenden Rechtsprechung des EuGH sinnvoll sein2325. Diese Judikatur dient zwar im Kern zu Recht der Wahrung von Sinn und Zweck der Festlegung von Klagefristen, so dass eine komplette Abkehr von ihr nicht angezeigt wäre. Der Gerichtshof müsste aber auch gar nicht vollständig von der seinem Ansatz zugrunde liegenden Beachtung des Grundsatzes der Rechtssicherheit Abschied nehmen, sondern könnte diese schlicht um die Erwägung erweitern, dass die fehlende Rechtswegklarheit und das Vorlageverhalten eines mitgliedstaatlichen Gerichts nicht einseitig zulasten des Einzelnen gehen dürfen. Besonders im Falle einer parallelen ZulässigHierzu ausführlich unter A. II. 4. a) cc). Vgl. nur BVerfGE 93, 381, 385. 2325 s. zur betreffenden Rechtsprechung jüngst wieder EuGH, verb. Rsn. C-346/03 und C-529/03, Slg. 2006, I-1875, Rn. 31 (Atzeni u. a.). Zu ihrer Anwendung auf Verordnungen EuGH C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe); EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 ff. (Kommission/BCE). 2323 2324

C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung

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keit der gemeinschaftsrechtlichen Rechtsbehelfe des primären Rechtsschutzsystems könnte der EuGH seine Rechtsprechung somit unter Abwägung der beteiligten Interessen möglicherweise dahingehend ändern, dass nicht ausschließlich die rechtzeitige Erhebung der Nichtigkeitsklage die Bestandskraft der betreffenden Maßnahme in Relation zum Individualkläger suspendiert, sondern gleichsam die prozessuale Initiative des Einzelnen in einem Verfahren vor den nationalen Gerichten. Eine entsprechende Rechtsprechungsänderung brächte aber auch einige Folgeprobleme mit sich und unterläge im Übrigen erheblichen rechtssystematischen Bedenken. Insbesondere bedürfte schon einer Klärung, ob zur Bestimmung des maßgeblichen Suspensionszeitpunkts an die Rechtshängigkeit des dezentralen Gerichtsverfahrens, die gegenüber dem Spruchkörper erklärte Aufforderung zur Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens oder an die Vorlage selbst anzuknüpfen wäre. Zu bedenken gilt in diesem Zusammenhang, dass in dem frühesten der denkbaren Prozessstadien oft noch gar nicht absehbar sein wird, ob und inwieweit gemeinschaftsrechtliche Fragen in dem Verfahren entscheidungserheblich sein werden. Die potentiell bestandskraftshindernde Wirkung einer dezentralen Klage dürfte im Lichte des Bestimmtheitsgrundsatzes indessen keineswegs soweit reichen, dass von ihr in einer gleichsam provisorischen Dimension sämtliche möglicherweise für den Ausgang des Verfahrens relevanten und noch nicht unanfechtbar gewordenen EG-Rechtsakte erfasst würden. Denn wäre dies der Fall, sähe sich die kohärente Geltung des sekundären Gemeinschaftsrechts stetig einer latenten und ernsthaften Gefahr ausgesetzt, die das hinter der Klagefrist stehende Gebot der Rechtssicherheit substantiell unterminieren könnte. Nähme man dagegen die Einreichung der Vorlage beim EuGH als entscheidenden Bezugspunkt, läge die Sache zwar anders, jedoch hinge das prozessuale Schicksal des klägerischen Anliegens sodann weiterhin maßgeblich vom Vorlageverhalten des Spruchkörpers ab. Da dieser aber das Inzidentverfahren, ob im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens oder im Wege des Eilrechtsschutzes, schon aus tatsächlichen Gründen nicht immer innerhalb der Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV einleiten könnte, liefe eine entsprechende Rechtsprechungsänderung faktisch leer. Doch auch dem verbleibenden Anknüpfungspunkt der Individualinitiative gegenüber dem Gericht stehen letztlich erhebliche Bedenken entgegen, soweit der Rechtsschutzsuchende hier, obgleich ohne veritables Antragsrecht nach Art. 234 EGV, über eine nichtförmliche und selbst injustitiable Prozesshandlung echte Rechtswirkungen gegenüber dem EG-Rechtsakt herbeiführen könnte. Denn nach dem Verfahrenssystem des EG-Vertrags soll eine solche Wirkung der Direktklage i. S. d. Art. 230 EGV vorbehalten bleiben. Zuletzt würde eine Lösung über die Rechtsprechung des EuGH zur Bestandskraft von nach Art. 230 EGV anfechtbaren Rechtsakten das Systems primären Rechtsschutzes auch nur

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punktuell verbessern, ohne zugleich andere wesentliche der aufgezeigten Schwachpunkte auszuräumen. Schon insoweit deutet sich an, dass die adäquaten Maßnahmen vornehmlich auf der zentralen Ebene ansetzen müssen. e) Zwischenresümee Die in den Grenzen des rechtsmethodisch Zulässigen in Betracht kommenden Modifizierungen der das Vorabentscheidungsverfahren betreffenden Rechtsschutzbedingungen können im Ergebnis nicht hinreichen, um den aufgezeigten Systemdefiziten gegenzusteuern. Dde lege lata ist das im Fehlen einer effektiven Rechtsschutzmöglichkeit gegen unmittelbar individualbelastende EG-Rechtsnormen liegende Kernproblem hierüber nicht zu lösen. 2. Modifikationen zum inzidenten Normkontrollverfahren nach Art. 241 EGV Eine Erwägung ist überdies wert, die Rechtsschutzsituation des Einzelnen im Anwendungsbereich des Art. 241 EGV zu stärken. Prozeduraler Ansatzpunkt wäre hier die Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Rügeausschluss bei Eintritt der Bestandskraft des hintergründig angegriffenen Rechtsakts2326. In Konformität zum Wortlaut der Regelung könnte der Gerichtshof hier eine Kehrtwende vollziehen und die Zulässigkeit des Verfahrens künftig von übertragenen Fristerfordernissen befreien. Gesetzessystematisch wie auch teleologisch wäre dies durchaus legitim. Zu bedenken ist in diesem Zusammenhang nämlich, dass über Art. 241 EGV letztlich nicht der Bestand einer Verordnung, sondern allein ihre Anwendung im Einzelfall in Frage gestellt werden darf2327, so dass dem von Art. 241 EGV visierten Interesse an Einzelfallgerechtigkeit gegenüber dem allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit in concreto durchaus der Vorzug eingeräumt werden kann. Da sich aber hierin die Änderungsmöglichkeiten zum Inzidentverfahren de lege lata bereits erschöpfen, ist den wesentlichen Schwächen des Rügerechts auf diesem Wege nicht beizukommen. Denn angesichts der fortbestehenden und unantastbaren Akzessorietät des Verfahrens würde der Rechtsbehelf auch weiterhin im Besonderen bei selbst vollziehenden EG2326 s. zu dieser nochmals EuGH, Rs. C-188/92, Slg. 1994, I-833, Rn. 21 ff. (TWD Textilwerke Deggendorf). 2327 Vgl. EuGH, verb. Rsn. 31/61 und 33/62, Slg. 1962, 1029, 1042 (Wöhrmann und Lütticke); EuGH, verb. Rsn. 15–33, 52, 53, 57–109, 116, 117, 123, 132 und 135–137/73, Slg. 1974, 177, Rn. 38 (Kortner-Schots u. a./Rat, Kommission und Parlament); EuGH, verb. Rsn. 87/77, 130/77, 22/83, 9/84 und 10/84, Slg. 1985, 2523, Rn. 36 (Salerno u. a./Kommission und Rat).

C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung

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Rechtsakten versagen, sobald eine Amtshaftungsklage gegen die Gemeinschaft aus anderen Gründen scheitert. Zudem würde eine erfolgreiche Inzidentrüge nach wie vor nicht die Gültigkeit des normativen Rechtsakts, sondern nur die relative, auf den Fall beschränkte Unanwendbarkeit des Akts mit sich bringen. Nachhaltiger Rechtsschutz wäre auf diese Weise folglich nicht zu erreichen. 3. Modifikationen zur Klagefrist der Direktklage nach Art. 230 EGV Zur Vermeidung der Gefahr, durch die bei zunächst alleiniger Beschreitung des dezentralen Rechtswegs drohende Bestandskraft der anzufechtenden Maßnahme das Rechtsschutzbedürfnis für die Individualnichtigkeitsklage zu verlieren, kann fernerhin in Betracht gezogen werden, die Regelungen zur Anfechtungsfrist so auszulegen und anzuwenden, dass eine zentrale Gerichtskontrolle des Rechtsakts auch noch nach den fruchtlosen Rechtsschutzbemühungen im dezentralen Systembereich möglich bleibt2328. Indes gibt Art. 230 Abs. 5 EGV hierfür grammatikalisch keinen Spielraum her. Auch Art. 46 Abs. 2 EuGH-Satzung, wonach der Ablauf einer Frist keinen Rechtsnachteil zur Folge haben soll, sofern er auf Zufall oder höherer Gewalt basiert2329, dürfte in Ermangelung entsprechend außergewöhnlicher Umstände des Einzelfalls regelmäßig nicht greifen. Noch weniger kann hier Art. 82 Abs. 1 EuGH-VerfO, nach welchem gerichtlich festgesetzte Fristen von der anordnenden Stelle verlängert werden können, bemüht werden, da die Klagefrist nach Art. 230 Abs. 5 EGV ersichtlich keine Frist in diesem Sinne darstellt. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen rechtsirrtümlicher Fristversäumung kennt das Gemeinschaftsrecht für diesen Verfahrensbereich ebenfalls nicht2330. Wenngleich auch eine analoge Anwendung der genannten Ausnahmen zu den Fristenregelungen in ihrer jeweiligen Einzelaussage oder in einer Gesamtschau nicht vollends fern 2328 In diesem Sinne Calliess, NJW 2002, 3577, 3582 unter Bezugnahme auf Nettesheim, JZ 2002, 928, 934. 2329 Vgl. dazu EuGH, verb. Rsn. 25/65 und 26/65, Slg. 1967, 42, 56 (Simet u. a.); ferner jüngst EuG, Rs. T-322/03, Slg. 2006, II-835, Rn. 20 (Telefon&Buch Verlagsgesellschaft). 2330 Im Bereich des Verwaltungsverfahrens sieht das Gemeinschaftsrecht eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etwa im Verfahren vor dem Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt (Marken, Muster und Modelle) nach Art. 78 der Verordnung (EG) Nr. 40/94 des Rates vom 20. Dezember 1993 über die Gemeinschaftsmarke [ABl. EG L 11 vom 14.1.1994, S. 1; zuletzt geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 3288/94 (ABl. EG L 349/83 vom 31.12.1994)] oder auch nach Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 6/2002 des Rates vom 12. Dezember 2001 über das Gemeinschaftsgeschmacksmuster [ABl. EG L 3/1 vom 5.1.2002] vor.

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liegt2331, überwiegen aber auch hier in Entsprechung zu den Ausführungen im Zusammenhang mit den Änderungsmöglichkeiten der Rechtsprechung zur Unanfechtbarkeit des Vorabentscheidungsgegenstands die Bedenken gegenüber einem solchen Lösungsansatz. Denn auf diese Weise käme dem nationalen Gerichtsverfahren im Hinblick auf die Bestandskraft des betroffenen Rechtsaktes doch wieder jene prozessuale Wirkung zu, die dem System nach allein der Direktklage beigemessen worden ist. In Anbetracht der möglichen Anzahl ein und denselben EG-Rechtsakt berührender Gerichtsverfahren in den aktuell 27 Mitgliedstaaten und der verschiedenen Faktoren, die sich auf die Gestaltung und Länge der einzelnen Verfahren auswirken können, würde der Eintritt von Rechtssicherheit im Gemeinschaftsrecht zu einem unbestimmbaren und nicht mehr wahrnehmbaren Ereignis. 4. Modifikation der Anforderungen an die individuelle Betroffenheit des Direktklägers In den Vordergrund drängt damit eine Verbesserung der individuellen Zugangsmöglichkeiten zur zentralen Direktklage. Eine solche wäre simpliciter durch eine neue Auslegung oder aber durch eine richterliche Rechtsfortbildung zum Inhalt des Begriffs der individuellen Betroffenheit zu erreichen. Insoweit hat auch Generalanwalt Jacobs den „Schlüssel zur Lösung des Problems“2332 zu Recht in diesem Tatbestandsmerkmal gesehen. a) Auslegungsfähigkeit des Begriffs der individuellen Betroffenheit Die erste hier zu stellende Frage lautet daher, ob das Merkmal der individuellen Betroffenheit grammatikalisch überhaupt einer modifizierten Interpretation zugänglich ist. Wäre die lexikalische Semantik des Begriffs eindeutig, so schiede eine Neuauslegung aus. Leitender Grundgedanke muss insofern sein, dass die Bedeutung eines jeden Wortes im Rahmen des Begriffshofs wandelbar und damit der fortwährenden Anpassung an aktuelle Gegebenheiten fähig ist. Mit den Worten von Kierkegaard haben „die Begriffe (. . .) nämlich ebenso wie die Individuen ihre Geschichte und vermögen es ebenso wenig wie diese, der Gewalt der Zeit zu widerstehen“2333. Dies gilt nicht zuletzt für solche Rechtsbegriffe, die von Vagheit oder Ambiguität geprägt sind und erst anlässlich der Normanwendung mit 2331 Zweifelhaft erscheint indes schon die Planwidrigkeit einer etwaigen Unvollständigkeit der Fristenregelungen. 2332 GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Rn. 59 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2333 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie, S. 13.

C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung

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Inhalt und Leben gefüllt werden. So verhält es sich grundsätzlich auch in Bezug auf den Begriff der individuellen Betroffenheit, dessen inhaltliche Bedeutung sich nicht von selbst ergibt. So enthält die Voraussetzung nicht nur keinen unmittelbaren Aussagegehalt hinsichtlich der Qualität und Quantität der Positionen, die durch den Akt berührt sein müssen, um von diesem individuell betroffen zu sein, auch der Sinngehalt der Qualifizierung der Betroffenheit als individuell erklärt sich nicht aus sich heraus und bedarf folglich einer näheren Bestimmung im Wege der Methodik der Begriffsinterpretation. b) Norminterpretative Annäherung Die in diesem Kontext relevanten Aspekte sind im gesamten Spektrum des Interpretationskanons2334 zu ermitteln. aa) Semantik Den ersten Anknüpfungspunkt und zugleich die Grenze der Auslegung bilden die wörtlichen Vorgaben der Begriffe „individuell betreffen“2335. Nähert man sich dem Begriffsumfang aus der Richtung des Verbs, so meint zunächst der Terminus der Betroffenheit ersichtlich das Ergebnis der Auswirkungen des in Frage stehenden Klagegegenstands. In diesem Wortsinne betroffen ist also, wer oder was sich in dem Wirkungskreis befindet, den der betreffende Rechtsakt während seiner Geltung um sich herum bildet. Durch die adverbiale Bestimmung „individuell“ wird die Betroffenheit sodann in direkten semantischen Kontext zum Individuum gestellt bzw. mit einer Individualität versehen. Schon mit Blick auf die Wortherkunft wird hierdurch der potentielle Betroffenenkreis in Ausklammerung von Gegenständen auf Personen beschränkt, die damit zum tatbestandlichen Bezugspunkt der negativen Auswirkungen des Klagegegenstands erkoren werden. Dies zeigt auch der dem Gebot einheitlicher Auslegung geschuldete Blick auf die weiteren Vorschriften des EGV, die den Begriff „individuell“ in gleicher oder ähnlicher Form verwenden. Soweit dies der Fall ist2336, erfolgt mit seinem Einsatz nämlich stets eine Bezugnahme auf ein einzelnes 2334 Zu den Auslegungsgrundsätzen des Gemeinschaftsrechts schon in Teil 2 unter A. I. 2335 In der französischen Fassung: „la concernent (. . .) individuellement“; in der englischen Fassung: „of (. . .) individual concern“. 2336 Darauf hingewiesen sei, dass der Begriff in der deutschen Fassung weder in gleicher noch in abgewandelter Form an einer anderen Stelle noch einmal Verwendung findet.

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Teil einer Gruppe2337 respektive auf die einzelne2338 oder natürliche2339 Person. Viel mehr ist der Begrifflichkeit in semantischer Hinsicht indes nicht zu entlocken, so dass die weiteren Faktoren zur Inhaltsbestimmung in Anwendung der anderen Norminterpretationsmethoden zu ermitteln sind. bb) Betrachtungen zur norminternen und -externen Systematik Im Zuge eines erweiterten Blicks auf das norminterne Umfeld offenbart sich sogleich, dass sich der Bedeutungsgehalt des Begriffs keineswegs in der Beschränkung der Klageberechtigung auf Personen erschöpfen kann. Denn bereits am Anfang der Regelung werden – allein – natürliche und juristische Personen zum Subjekt einer Klageberechtigung gemacht, sofern sie eben darüber hinaus individuell und unmittelbar betroffen sind. Da dem Normverfasser hier keine Redundanz zu unterstellen ist, muss der Individualitätsbezug mehr bedeuten als die Betroffenheit einer Person. Vielmehr liegt es bei einer solchen Annäherung an den Bedeutungsgehalt nahe, dass gerade die Auswirkungen, die der in Frage stehende Rechtsakt mit sich bringt, einen individuellen Charakter aufweisen müssen. Fraglich ist in diesem Kontext aber, ob sich die entsprechende Wirkungsqualifizierung aus der Perspektive der Quelle, d.h. dem Rechtsakt, oder aus der Richtung des Auswirkungsergebnisses und mithin aus der Sicht der betroffenen Person bestimmen lassen muss. Im Ausgangspunkt gilt dabei schon hier zu beachten, dass der EuGH gerade die Abgrenzung zwischen der Verordnung und der Entscheidung nicht formal vornimmt, sondern mit Blick auf den Charakter und die Rechtswirkungen des jeweiligen Rechtsakts2340. Unter Zugrundlegung der Rechtsaktsterminologie böte es sich daher an, grundsätzlich nur der Entscheidung im Sinne des Art. 249 Abs. 4 EGV neben der unmittelbaren auch eine individuelle Geltung zukommen zu lassen2341, weil nur sie diejenigen direkt und im Einzelnen bindet, die sie bezeichSo etwa in der englischen und französischen Fassung in Art. 87 Abs. 2 a) EGV (in der deutschen Fassung: „einzelne Verbraucher“); ferner in der französischen Fassung in Art. 215 und 247 VI EGV; zudem in der englischen Fassung in Art. 267 b) und c) EGV. 2338 So in der französischen und englischen Fassung in Art. 33 Abs. 1 b) EGV (in der deutschen Fassung: „Pro-Kopf-Einkommen“); in der französischen Fassung auch in Art. 194 EGV (in der deutschen Fassung: „allein“). 2339 So in der englischen Fassung in Art. 286 Abs. 1 EGV. 2340 s. dazu bereits EuGH, Rs. 307/81, Slg. 1982, 3463, Rn. 13 (Alusuisse). 2341 Zur Verknüpfung des Entscheidungscharakters eines Aktes mit dem Merkmal der individuellen Betroffenheit erstmals EuGH, verb. Rsn. 16/62 und 17/62, Slg. 1962, 963, Rn. 2 (Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./ Rat); ferner etwa EuGH, Rs. 302/87, Slg. 1998, I-5615, Rn. 10 (Parlament/Rat). 2337

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net2342. In weiterer gesetzessystematischer Hinsicht muss demnach auf den Prüfstand gehoben werden, ob die Rechtsnatur des Klagegegenstands tatsächlich dergestalt mit der Art und Weise der Betroffenheit verwoben ist, dass Erstere stets auch die rechtliche Qualität Letzterer vorgibt. (1) Interne Systematik Aus der Satzsystematik des Art. 230 Abs. 4 EGV ergibt sich eine solche Abhängigkeit nicht ohne weiteres. Zwar verknüpft die Norm in der Tat den Klagegegenstand mit der Klageberechtigung des Einzelnen tatbestandlich dahingehend, dass „als Verordnung“ oder als „an eine andere Person“ ergangene „Entscheidungen“ nur durch die unmittelbar und individuell Betroffenen angefochten werden können. Hieraus folgt jedoch nicht, dass allein die Wirkungen von Entscheidungen einen derart individuellen Charakter aufweisen können. Würde man die hinreichende Individualisierung nämlich ausschließlich an der intendierten Wirkungsrichtung eines solchen Einzelakts festmachen, so wäre letztens Endes nur der tatsächlich visierte Adressat der Maßnahme im Sinne der Norm individuell betroffen. Dieser ist aber schon nach der ersten Regelungsalternative des Art. 230 Abs. 4 EGV zur Klage berechtigt, so dass die tatbestandlich geforderte Individualität der von dem betreffenden Rechtsakt ausgehenden Beschwer nicht allein auf die durch seinen Regelungsgehalt konkret in Bezug genommene Person gemünzt sein kann, sondern etwas anderes meinen muss. Gestützt wird dies durch eine weitere Betrachtung der internen Regelungsstruktur betreffend die beiden eine individuelle Betroffenheit voraussetzenden Tatbestandsalternativen des Art. 230 Abs. 4 EGV. Wenn die Norm ihrem Wortlaut nach die Individualanfechtung von all solchen „Entscheidungen“ zulässt, die, „obwohl sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind“, individuelle und unmittelbare Wirkungen haben, so behandelt sie beide Alternativen syntaktisch gleich. Da in Form von Verordnungen ergehende Rechtsakte jedoch ganz regelmäßig keinen Adressaten haben, sondern – selbst als Scheinverordnungen – zumindest tatbestandlich allgemein gehalten sind, wird hiermit hinreichend deutlich, dass nicht nur adressatenbezogene Rechtsakte einen „Nichtadressaten“ individuell betreffen können, sondern Art. 230 Abs. 4 EGV weitergehend die Grundwertung wiedergibt, dass die Qualität der Betroffenheit nicht maßgeblich mit Blick auf den jeweils angegriffenen Rechtsakt bestimmt werden kann. Dahingehend Berrisch, in: Nowak/Cremer, Individualrechtsschutz, S. 177, 187 mit Hinweis auf GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2507, Rn. 57 (Extramet/Rat). 2342

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(2) Normexterne Systematik zu Art. 249 EGV Des Weiteren ist in normexterner Hinsicht zu bedenken, dass sich Art. 249 Abs. 4 EGV seinerseits nirgendwo zum Merkmal der „Individualität“ verhält. Eine stringente terminologische Differenzierung zwischen der allgemeinen, also abstrakt-generellen Wirkung von normativen Rechtsakten einerseits, und der konkret-individuellen Wirkung von Einzelakten andererseits, die normübergreifend auf Art. 230 Abs. 4 EGV übertragen werden könnte, lässt sich der Vorschrift infolgedessen jedenfalls nicht grammatikalisch entnehmen. In Bezug auf die verfahrensrechtliche Regelung erscheint daher eine rein normbezogene Interpretation des Merkmals der individuellen Betroffenheit ebenso zulässig, zumal selbst der EuGH in ständiger Rechtsprechung davon ausgeht, dass ein als Verordnung qualifizierter Rechtsakt, d.h. ein Akt mit allgemeiner Geltung im Sinne des Art. 249 Abs. 2 EGV, seiner Rechtsnatur nicht schon deshalb verlustig geht, weil die von ihm Betroffenen ihrer Zahl oder Identität nach mehr oder minder genau bestimmt werden können, solange nur feststeht, dass die Einzelfallanwendung des Rechtsakts aufgrund objektiv umschriebener Tatbestandsmerkmale erfolgt2343. Schließlich bleibt der Verordnungscharakter auch aus Sicht des EuGH selbst dann erhalten, wenn der Rechtsakt sich auf die Personen, für die er gilt, unterschiedlich auswirkt2344 und Einzelne auch individuell betrifft2345. Dass auch der Gerichtshof übrigens teils erhebliche Probleme hat, die Definition eines Rechtsakts immer kohärent über die materielle Wirkung vorzunehmen, belegt nicht zuletzt die bereits angesprochene Entscheidung in Rechtssache Unión de Pequeños Agricultores2346, in welcher er den klagegegenständlichen Akt einerseits ausdrücklich als „Verordnung“ qualifi2343 St. Rspr., vgl. insbesondere EuGH, verb. Rsn. 16/62 und 17/62, Slg. 1962, 963, Rn. 2 (Confédération nationale des producteurs de fruits et légumes u. a./Rat); EuGH, Rs. C-298/89, Slg. 1993, I-3605, Rn. 17 (Gibraltar/Rat); EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853, Rn. 18 f. (Codorniu/Rat); EuGH, Rs. C-41/99 P, Slg. 2001, I-4239, Rn. 27 (Sadam Zuccherifici u. a./Rat) und aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-167/02, Slg. 2004, I-3149, Rn. 27 (Rothley u. a./Parlament). 2344 Vgl. EuGH, Rs. 101/76, Slg. 1977, 797, Rn. 24 (Koninklijke Scholten Honig/Rat u. Kommission); EuGH, Rs. C-96/01 P, Slg. 2002, I-4025, Rn. 41 (Galileo und Galileo International/Rat). 2345 Vgl. EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 13 (Extramet Industrie/ Rat); s. auch EuG, Rs. T-253/02, Slg. 2006, II-2139, Rn. 81 (Ayadi/Rat): „(. . .) dass der Kläger (. . .) von diesem Rechtsakt i. S. v. Artikel 230 Absatz 4 EG unmittelbar und individuell betroffen ist, obwohl dieser Rechtsakt unbestreitbar allgemeine Geltung hat (. . .)“. 2346 EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677 (Unión de Pequeños Agricultores/ Rat).

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ziert, er andererseits aber betont, dass eine Handlung allgemeiner Geltung wie eine Verordnung gegenüber Einzelnen auch Entscheidungscharakter haben könne2347. Noch deutlicher zeichnet sich die Problematik im Bereich von Antidumpingverordnungen ab, denen der EuGH in nunmehr ständiger Rechtsprechung die Natur echter Verordnungen zuspricht, ihnen im Verhältnis zum Einzelnen aber die Wirkung einer Einzelfallentscheidung und damit im Ergebnis eine Doppelnatur im Sinne eines Rechtsaktshybrids attestiert2348. Zu Recht hat daher das Europäische Parlament im so genannten Bourlanges-Bericht die Inkonsistenz der undefinierbaren, ständigem Wandel unterliegenden und rechtlich unklaren Kategorien der Rechtsakte hervorgehoben2349. Der über die Objektivität des Tatbestands des angegriffenen Rechtsakts verfolgte Rechtsnaturansatz des EuGH2350 weist somit einige Ungereimtheiten und Angriffspunkte auf2351, welche die ganze Komplexität der Rechtsaktsdogmatik des Gemeinschaftsrechts verdeutlichen und zugleich Zeugnis dafür ablegen, dass Rechtsnatur und Rechtswirkungen eines Rechtsakts nicht dergestalt in unilateraler Abhängigkeit stehen, dass Erstere stets auch die Art und das Maß der möglichen Beschwer des Einzelnen im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EGV bedingt2352. Vor diesem Hintergrund erscheint es EuGH, a. a. O., Rn. 32 und 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). Dahingehend, indes wohlgemerkt allein in Bezug auf Verordnungen im Bereich des Antidumpingrechts EuGH, Rs. C-239/99, Slg. 2001, I-1197, Rn. 37 (Nachi Europe) sowie EuGH, Rs. C-11/00, Slg. 2003, I-7147, Rn. 75 (Kommission/BCE); ähnlich zuvor schon EuG, verb. Rsn. T-481/93 u. T-484/93, Slg. 1995, II-2941, Rn. 50 (Verenigung van Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission); EuG, Rs. T-47/95, Slg. 1997, II-481, Rn. 43 (Terres rouges Consultant SA u. a./Kommission); EuG, Rs. T-122/96, Slg. 1997, II-1559, Rn. 58 (Federolio); ebenso aus jüngerer Zeit EuG, Rs. T-155/02, Slg. 2002, II-1949, Rn. 40 (VVG International u. a./ Kommission). 2349 Bericht des Ausschusses für konstitutionelle Fragen über die Typologie der Rechtsakte und die Hierarchie der Normen in der Europäischen Union vom 17. Dezember 2002, A5-0425/2002, S. 22 f. 2350 s. dazu EuGH, Rs. C-312/00, Slg. 2002, I-11355, Rn. 74 (Kommission/Camar u. Tico); ebenso schon EuGH, Rs. 26/86, Slg. 1987, 941, Rn. 8 (Deutz und Geldermann/Rat); EuGH, Rs. 307/81, Slg. 1982, 3463, Rn. 9 (Alusuisse); EuGH, Rs. C-213/91, Slg. 1993, I-3177, Rn. 17 (Albertal); s. auch zur Objektivität des Tatbestands einer an einen Mitgliedstaat gerichteten Entscheidung EuGH, Rs. 231/82, Slg. 1983, 2259, Rn. 8 f. (Spijker); ferner EuGH, Rs. 206/87, Slg. 1989, 275, Rn. 13 f. (Lefebvre). 2351 Für weiterführende Überlegungen s. Bleckmann, in: FS Menger, S. 871, 884; s. dazu auch schon von Winterfeld, NJW 1988, 1409, 1410 f.; ferner Allkemper, Der Rechtsschutz des Einzelnen nach dem EGV, S. 72 f. 2352 s. hierzu insbesondere EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (Yusuf und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission). Gegenstand dieser Individualnichtigkeitsklage war die auf der Grundlage der Art. 60 und 301 EGV im Rah2347 2348

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nicht nur zulässig, sondern auch angebracht, zwischen den Rechtswirkungen aus der Perspektive des Rechtsakts und der Qualität der Betroffenheit aus der Sicht des Einzelnen zu unterscheiden. Auch der EuGH zeigt bisweilen Tendenzen zu einer solchen Differenzierung2353, nimmt diese bisher aber nicht zum Anlass, seine Norminterpretation zu überdenken. (3) Normexterne Systematik zum allgemeinen Subsidiaritätsprinzip Eine Neuauslegung der verfahrensrechtlichen Norm muss freilich auch dem allgemeinen Subsidiaritätsprinzip Rechnung tragen. Das in spezieller Weise in Art. 5 EGV fixierte, insoweit grundsätzlich nur auf Legislativmaßnahmen und nicht auf Kontrolltätigkeiten anwendbare2354, indes einem jeden föderalen Rechtssystem typische Konzept der Subsidiarität gilt zwar nicht direkt für das primäre Gemeinschaftsrecht, steht aber als seinerseits primäres Recht in Wechselwirkung mit den vertraglichen Regelungen2355 und ist demnach bei ihrer Auslegung zu beachten2356. In seinem Lichte obmen einer GASP-Aktion ergangene Verordnung des Rates (EG) Nr. 467/2001 über das Ausfuhrverbot bestimmter Waren und Dienstleistungen nach Afghanistan, das Flugverbot sowie das Einfrieren von Geldern und anderen Finanzmitteln betreffend die Taliban von Afghanistan [ABl. L 67 vom 9. März 2003, S. 1, zuletzt geändert durch Verordnung (EG) Nr. 881/2002]. Obwohl die Verordnung in ihrem Anhang I die Personen, Institutionen und Einrichtungen, die von ihren Regelungen betroffen sein sollten, namentlich nennt, problematisierte das EuG die Rechtsnatur der angefochtenen Maßnahme und die individuelle Betroffenheit der Kläger in der Zulässigkeitsprüfung nicht näher (vgl. Rn. 73 f.), sondern ging alsbald zur Sachprüfung über, innerhalb derer es die Verordnung letztlich am Maßstab der Grund- und Menschenrechte überprüfte, soweit diese am völkerrechtlichen „ius cogens“ teilnähmen (vgl. EuG, a. a. O., Rn. 283 ff.). Erst hier wies es im Zusammenhang mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör – indes ohne weitere Konsequenzen für die Rechtsnatur des angefochtenen Rechtsakts – darauf hin, dass die Verordnung aufgrund ihrer unmittelbaren und individuellen Wirkung keinen rein normativen Charakter habe (vgl. EuG, a. a. O., Rn. 324). Interessant ist an diesem Fall fernerhin, dass das EuG sich ausdrücklich für zuständig erklärt hat, mittelbar auch die Rechtmäßigkeit der jener Verordnung zugrunde liegenden Resolution des UN-Sicherheitsrates anhand des völkerrechtlichen „ius cogens“ zu überprüfen [vgl. EuG, a. a. O., Rn. 337; dazu bereits in Teil 2 unter B. II. 4. b) cc) (1) (b)]. 2353 Vgl. etwa EuGH, Rs. C-451/98, Slg. 2001, I-8949, Rn. 43 (Antillean Rice Mills/Rat). 2354 Vgl. Calliess, in: ders./Ruffert, EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 5 EGV, Rn. 34. 2355 Ausführlicher zur Rechtsnatur des Subsidiaritätsprinzips im Allgemeinen wie im Speziellem und zu seinem Einfluss auf das weitere Primärrecht sowie auf die Tätigkeit der Gerichte Schilling, in: Harvard Jean Monnet Working Paper, Nr. 10/95, S. 1 ff. 2356 Vgl. Möschel, NJW 1995, 281.

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liegt die Rechtsschutzgewährung in der EG wegen des kooperativ ausgestalteten Rechtsschutzsystems und der überwiegend dezentralen Vollziehung des Gemeinschaftsrechts grundsätzlich den mitgliedstaatlichen Gerichten2357, die demgemäß in vorderster Linie für einen wirksamen und lückenlosen Rechtsschutz Sorge zu tragen haben2358. Diese grundsätzliche Aufgabenverteilung ist folglich bei einer Neuauslegung des Merkmals der individuellen Betroffenheit hinreichend zu beachten. cc) Weitere vertragsübergreifende und entstehungsgeschichtliche Überlegungen Berücksichtigt man des Weiteren in vertragsexterner Systematik die Unterschiede der Formulierung des Art. 230 Abs. 4 EGV zum Wortlaut des Art. 33 Abs. 2 EGKS2359, so könnte hieraus gefolgert werden, dass erstere Norm eine engere Fassung aufweise, mit der zugleich im Hinblick auf die entstehungsgeschichtlichen Wertungen der Wille der Vertragsschöpfer zum Ausdruck kommen kann, dass die Nichtigkeitsklage besonders restriktiven Kriterien zu unterwerfen ist2360. Zwingend ist diese Folgerung indes nicht, da Art. 33 EGKS seinerseits den Kreis der Kläger auf Unternehmen und bestimmte Unternehmensverbände beschränkt, während Art. 230 Abs. 4 EGV jedenfalls insofern weiter gefasst ist2361. Fernerhin reichert Art. 230 Abs. 4 EGV die Zulässigkeitsvoraussetzungen insbesondere um das Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit an und übernimmt im Übrigen jene zur individuellen Betroffenheit. Eine grammatikalische Restriktion ist in Bezug auf Letztere ergo nicht zu verbuchen. Im Gegenteil könnte man angesichts der seit jeher liberaleren Auslegungspraxis des EuGH zu Art. 33 Abs. 2 EGKS2362 und unter Beachtung des Gebots der Einheitlichkeit der Rechts2357 Ähnlich Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 103 unter Berufung auf Grundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 18, Rn. 19. Vgl. dazu ferner Calliess, NJW 2002, 3577, 3582. 2358 Vgl. schon EuGH, Rs. 179/84, Slg. 1985, 2301, Rn. 17 (Bozzetti/Invernizzi). 2359 Dieser lautet: „Die Unternehmen oder die in Art. 48 genannten Verbände können (. . .) Klage gegen die sie individuell betreffenden Entscheidungen und Empfehlungen oder gegen die allgemeinen Entscheidungen oder Empfehlungen erheben, die nach ihrer Ansicht einen Ermessensmissbrauch ihnen gegenüber darstellen.“ 2360 In diesem Sinne etwa schon die Schlussanträge des GA Lagrange zu EuGH, verb. Rsn 16/62 und 17/62, Slg. 1962, 963, 983 (Producteurs de fruits/Rat). 2361 Vgl. EuG, Rs. T-4/97, Slg. 1997, II-1505, Rn. 15 ff. (D’Orazio und Hublau); EuG, Rs. T-77/01, Slg. 2002, II-81, Rn. 30 ff. (Diputación Foral de Álava u. a./ Kommission). 2362 Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH ist ein Unternehmen i. S. d. Art. 33 Abs. 2 EGKS von einer Kommissionsentscheidung individuell betroffen, wenn mit dieser die Gewährung eines Vorteils an ein anderes Unternehmen geneh-

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ordnung insoweit auch einem klagefreundlichen Willen der Normverfasser das Wort sprechen. Bei all dem muss zudem bedacht werden, dass die nach dem Willen des Normschöpfers fragende Auslegungsmethodik im Gemeinschaftsrecht nur von untergeordneter Bedeutung sein kann2363 und vornehmlich normvergleichende Betrachtungen der vorliegenden Art aufgrund der stetigen Fortentwicklung des dynamisch angelegten Gemeinschaftsrechts nur von geringer Aussagekraft sind2364. Sofern schließlich die Vertragsgestalter mit Art. 230 Abs. 4 EGV tatsächlich nur die Möglichkeit der Angreifbarkeit von so genannten „Scheinverordnungen“ vor Augen hatten, wofür eine erste flüchtige Lektüre der Norm spricht, kann dies also der Neuinterpretation des Merkmals der individuellen Betroffenheit kaum entgegenstehen. Durch die Einbeziehung echter Verordnungen in den Kreis der tauglichen Klagegegenstände wäre der EuGH nämlich selbst von dem originär angelegten System abgerückt, so dass er konsequenterweise auch die normativen Vorgaben der individuellen Betroffenheit in Kohärenz zu den neuen Gegebenheiten hätte interpretieren und systemadäquat anwenden müssen. dd) Teleologische Wertungsfaktoren Zuletzt erscheint es nicht ausgeschlossen, dass auch eine andere Auslegung des Begriffs der individuellen Betroffenheit gleichermaßen geeignet sein kann, dem besonderen teleologischen Hintergrund der Zulässigkeitsvoraussetzung zu genügen und mithin unzulässige Popularklagen und ebensolche Prozessstandschaften wirksam auszuschließen2365. Gleichzeitig ist das Tatbestandsmerkmal aber auch im Kontext mit der übergeordneten Teleologie der Gesamtregelung auszulegen. Die Einbettung eines Rechtsbehelfs wie der hier interessierenden Nichtigkeitsklage in das allgemeine Klagesystem muss angesichts ihrer primordialen Bedeutung im Geflecht migt wird, das mit dem zuerst genannten in Wettbewerb steht [vgl. dazu EuGH, verb. Rsn. 172/83 und 226/83, Slg. 1985, 2831, Rn. 14 f. (Hoogovens Groep/Kommission); ferner EuGH, Rs. 236/86, Slg. 1988, 3761, Rn. 8 (Dillinger Hüttenwerke/ Kommission)]. 2363 Vgl. Klein, Die Internationalen und supranationalen Organisationen, in: Vitzthum, Völkerrecht, S. 245, 264, Rn. 40. 2364 In diesem Sinne auch Arnull, in: FS Slynn of Hadley, S. 177, 189; ebenso deutlich wie hier GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Rn. 77 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat): „Es kann nicht angehen, Schlussfolgerungen aus dem historischen Hintergrund einer Vorschrift dieses Alters zu ziehen, um die Auslegung des Begriffes der individuellen Betroffenheit einzufrieren.“ 2365 Vgl. GA Geelhoed, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-253/00, Slg. 2002, I-7289, Rn. 70 (Muñoz und Superior Fruiticola).

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möglicher Individualrechtsschutzinteressen als ganz wesentlicher Ausdruck der Rechtsschutzgarantie gelten2366. Der Wechselwirkung zwischen dem grundrechtlichen Rechtsgrundsatz effektiven Rechtsschutzes und dem geschriebenen Verfahrensrecht muss – wie bereits andernorts gezeigt2367 – auch bei der Auslegung der einzelnen den Zugang zum EuGH regelnden Zulässigkeitsvoraussetzungen Rechnung getragen werden, wobei Systemfriktionen durch die Herbeiführung einer praktischen Konkordanz aufzulösen sind2368. ee) Zwischenergebnis Unbeschadet der grundsätzlichen Vorteile einer klaren und kohärenten Rechtsprechungslinie2369 ist dem Gerichtshof im Bereich des Individualrechtsschutzes gegen normative EG-Rechtsakte diesmal umgekehrt vorzuhalten, dass er bei der Anwendung des Art. 230 Abs. 4 EGV auf echte Verordnungen von Anfang an und vorbehaltlos auf die speziell auf den Fall der Entscheidungen mit Drittwirkung zugeschnittene Plaumann-Formel zurückgegriffen hat, ohne hinreichend zu berücksichtigen, ob nicht unter Wahrung des teleologischen Hintergrunds der Voraussetzung auch eine modifizierte, die Besonderheiten der neuen Fallgruppe der Direktklage gegen echte Verordnungen berücksichtigende Auslegung in Betracht gekommen wäre. Angesichts des Umstands, dass normative Rechtsakte ganz regelmäßig einen allgemeinen und eben keinen individuellen Adressatenkreis haben, hätte sich dem EuGH aber aufdrängen müssen, dass besagte Formel für eine solche Erweiterung des Anwendungsfeldes von vornherein nur bedingt geeignet war und ist. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des prätorischen Ursprungs sollte der Gerichtshof es als wichtigster Hüter des Rechts einer schon so weit gereiften Rechtsgemeinschaft, wie sie die EG bildet, in Bezug auf die Garantie der Überprüfbarkeit belastender Hoheitsakte2370 2366 In diesem Sinne auch Stotz, Rechtsschutz vor europäischen Gerichten, in: Rengeling, Umweltrecht, § 45, Rn. 64. 2367 s. insofern auch EuGH, Rs. C-374/87, Slg. 1989, 3283, Rn. 28 (Orkem/Kommission); noch deutlicher, namentlich wie hier EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 36 (Kommission/Jégo-Quéré). 2368 Ähnlich in einem allgemeineren Kontext Pernice/Kanitz, WHI-Paper 7/04, S. 9. 2369 Wie gesehen, besteht eine solche jedoch gerade bei der einzelnen Handhabung der Plaumann-Formel (noch immer) nicht [s. dazu bereits oben unter A. II. 1. b) cc) (1) (b)]. 2370 Dazu schon EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament); gleichfalls deutlich EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 38 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); ferner EuG, Rs. T-310/00, Slg. 2004, I-3253, Rn. 61 (MCI/Kommission).

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nicht länger bei einem Lippenbekenntnis belassen, sondern dem mit der Zahl und Intensität rechtlicher Eingriffe wachsenden Bedürfnis nach effektivem Individualrechtsschutz bei der weiteren Gestaltung und Fortentwicklung des Verfahrenssystems des EG-Vertrags Rechnung tragen2371 und dem Merkmal der individuellen Betroffenheit im Rahmen der semantischen Grenzen durch eine eigene Neuinterpretation den Sinngehalt beimessen, der unter fortwährender Beachtung von Sinn und Zweck der betreffenden Zulässigkeitsvoraussetzung den Gerichtszugang weniger grundrechtsintensiv beschränkt, als es die derzeitige Praxis tut2372. c) Die Neuauslegungsvorschläge des EuG und von Generalanwalt Jacobs Die Gefahr, dass die Plaumann-Formel im Bereich direkten Rechtsschutzes gegen EG-Rechtsakte mit allgemeiner Geltung zu Rechtsschutzlücken führen kann, wurde schon vor der Anerkennung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz gesehen2373. Erst in der Rechtssache Jégo-Quéré2374 hat aber die europäische Gerichtsbarkeit in Gestalt des EuG den Schritt gewagt, zur Gewährleistung eines wirksamen gerichtlichen Individualrechtsschutzes die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit neu zu interpretieren. Die ausschlaggebenden Motive waren dabei für das Gericht, dass der direkte Angriff des in casu angefochtenen EG-Rechtsakts mit allgemeiner und unmittelbarer Geltung an den engen Anforderungen der Plaumann-Formel scheiterte, es für die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens an einer nationalen Durchführungsmaßnahme als Anknüpfungspunkt eines dezentralen Verfahrens fehlte und die Schadensersatzklage aufgrund ihrer anderweitigen Voraussetzungen und Zielrichtungen die Interessen des Rechtsschutzsuchenden nur unzureichend befriedigen konnte2375. Nachdem das EuG im gleichen Zuge hervorgehoben hatte, dass im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung auf das Erfordernis der individuellen Betroffenheit nicht allein wegen jener Lückenhaftigkeit des Rechtsschutzsystems verzichtet werden könne2376, legte 2371 Ähnlich GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 77 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2372 Ebenso, indes ohne nähere Begründung Nettesheim, JZ 2002, 928, 932; a. A. und wohl ausschließlich für eine Änderungsmöglichkeit de lege ferenda Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1303; wie dieser auch Köngeter, ZfRV 2003, 123, 132. 2373 So gaben Teile der Literatur der restriktiven Rechtsprechung des Gerichtshofs von Anbeginn an einer die Normauslegung betreffenden Kehrtwende wenig Chancen; vgl. etwa schon Rasmussen, ELR 1980, 112, 127. 2374 EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365 (Jégo-Quéré/Kommission). 2375 Vgl. EuG, a. a. O., Rn. 43 ff. (Jégo-Quéré/Kommission). 2376 EuG, a. a. O., Rn. 48 (Jégo-Quéré/Kommission).

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es das interessierende Tatbestandsmerkmal dahingehend aus, dass „eine natürliche oder juristische Person als von einer allgemein geltenden Gemeinschaftsbestimmung, die sie unmittelbar betrifft, individuell betroffen anzusehen (ist), wenn diese Bestimmung ihre Rechtsposition unzweifelhaft und gegenwärtig beeinträchtigt, indem sie ihre Rechte einschränkt oder ihr Pflichten auferlegt.“2377 Mit dem gleichen Ziel der erweiterten Gewährung effektiven Rechtsschutzes sollte nach der Interpretationsvariante von Generalanwalt Jacobs, die er in seinen Schlussanträgen zur Rechtssache Unión de Pequeños Agricultores vorstellte, der Individualkläger als individuell betroffen angesehen werden, „wenn die Handlung aufgrund seiner persönlichen Umstände erhebliche nachteilige Auswirkungen auf seine Interessen hat oder wahrscheinlich haben wird“2378. d) Beurteilung und eigener Auslegungsansatz Beide Ansätze, die in direkter Reaktion am Widerstand des EuGH gescheitert sind, verfolgen den bereits vorskizzierten, nach hiesiger Ansicht rechtsmethodisch zulässigen Weg, die Begriffsdefinition von der rechtsaktsspezifisch auf die Rechtswirkungen einer Entscheidung zugeschnittenen Terminologie loszulösen und in Umkehrung des Perspektivpunktes nach der Art und Weise der Beschwer des Einzelnen zu fragen. Nach beiden Vorschlägen müssen für eine hinreichende Betroffenheit eigene Positionen auf dem Spiel stehen, die über das bloße Rechtsschutzinteresse, also das in Ermanglung einer Rechtsschutzmöglichkeit auf der nationalen Ebene bestehende Interesse an der Erlangung effektiven Rechtsschutzes über die zentrale Ebene, hinausgehen. Die erforderliche Geltendmachung der Betroffenheit eigener Positionen erscheint auch geeignet, unzulässigerweise ausschließlich im Allgemein- oder Drittinteresse erhobene Klagen herauszufiltern. Durch den in der Folgerechtsprechung des EuGH zu findenden Hinweis, das Fehlen von Rechtsschutzmöglichkeiten auf der dezentralen Ebene und die hierdurch motivierte Neuauslegung könne nicht zum Wegfall des Erfordernisses der individuellen Betroffenheit führen2379, übergeht der Gerichtshof jenen gemeinsamen Grundansatz2380, ohne näher auf die Frage einzugehen, ob und inwieweit die konkret vorgebrachten InterpretationsEuG, a. a. O., Rn. 51 (Jégo-Quéré/Kommission). GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677, Rn. 60 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2379 Vgl. EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 44 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); wiederholt bei EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 34 (Kommission/Jégo-Quéré). 2380 In diesem Sinne auch Dittert, EuR 2002, 708, 715; ferner Kluttig, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 30/2004, 1, 16. 2377 2378

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modelle rechtsmethodisch zulässig sind2381. Da ihre Ablehnung nicht tiefer begründet worden ist, liegt die Vermutung nahe, dass aus der Sicht des EuGH insoweit jede von der Plaumann-Formel abweichende Auslegung zu einem solchen Wegfall der Zulässigkeitsvoraussetzung führen würde2382. Mit Blick auf die jeweiligen Formulierungen liegen die Unterschiede der beiden Ansätze auf der Hand. Eine erste wesentliche Abweichung besteht in dem Umstand, dass die Definition des EuG nur gegenwärtige Beeinträchtigungen eigener Rechtspositionen erfasst, während jene des GA Jacobs auch wahrscheinlich bevorstehende Interessenbeeinträchtigungen einbezieht und den Rechtsbehelf der Individualnichtigkeitsklage demnach um eine vorbeugende Rechtsschutzfunktion bereichert. Diese Einbeziehung erst in der Zukunft eintretender Belastungen begegnet indes Bedenken, welche sich zum einen darauf beziehen, dass die Prüfung der Zulässigkeitsvoraussetzung in diesem Fall zusätzlich einer stochastischen Einschätzung des Gerichts unterläge, mit deren Ergebnis der Rechtsschutz stünde oder fiele. Soweit man diese Unwägbarkeit durch die Anhebung des Wahrscheinlichkeitsgrades auf die Ebene der Gewissheit oder zumindest der an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit ausräumen könnte, dürfte zum anderen aber auch in abstracto die Schaffung eines vorbeugenden Hauptsacherechtsbehelfs nicht mehr auf der Linie des bestehenden Rechtsschutzsystems liegen, da diesem ein solches Systemelement bislang grundsätzlich fremd ist2383, zumal sie auch dazu führen kann, die subsidiär konzipierte Zuständigkeit des Gerichtshofs zu umgehen. Wie gesehen, hält es der EuGH in 2381 Insoweit geht die partiell einschlägige Kritik der Literatur ins Leere (vgl. zu dieser etwa Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 49; ferner Nettesheim, JZ 2002, 928, 932). 2382 s. hierzu insbesondere EuGH, a. a. O., Rn. 37 f. (Kommission/Jégo-Quéré): „Dies ist aber bei der Auslegung dieser Voraussetzung in Randnummer 51 des angefochtenen Urteils der Fall (. . .). Eine derartige Auslegung läuft nämlich im Wesentlichen darauf hinaus, dass die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit, wie sie in Artikel 230 Absatz 4 EG vorgesehen ist, verfälscht wird.“ Eine weitere Auseinandersetzung mit der Auslegung des EuG erfolgt in der betreffenden Entscheidung indes nicht. 2383 Vgl. dazu in Bezug auf nur hypothetisch existierende Rechtsakte EuG, Rs. T-22/96, Slg. 1996, II-1009, Rn. 16 (Langdon/Kommission) m. w. N. Zur insoweit fehlenden Eignung des Vorabentscheidungsverfahrens s. Berrang, Vorbeugender Rechtsschutz, S. 22. Indessen kann dem Merkmal der unmittelbaren Betroffenheit insofern ein gewisses vorbeugendes Element zugesprochen werden, als dieses unter Zugrundlegung des herrschenden materiellen Begriffsverständnisses auch eine bevorstehende Betroffenheit erfasst, vgl. dazu EuGH, Rs. 113/77, Slg. 1979, 1185, Rn. 11 (TNT Toyo Bearing/Rat); EuGH, Rs. C-386/96, Slg. 1998, I-2309, Rn. 43 (Dreyfus/Kommission); EuGH, Rs. C-404/96 P, Slg. 1998, I-2435, Rn. 41 (Glencore Grain/Kommission); EuGH, Rs. C-C-486/01 P, Slg. 2004, I-6289, Rn. 34 (Front national/Parlament) und jüngst wieder EuGH, Rs. C-417/04 P, Slg. 2006, I-3881, Rn. 28 (Regione Siciliana/Kommission).

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diesem Zusammenhang schließlich für zumutbar und mithin für systemgerecht, dass der Einzelne zur Erlangung einer justitiablen Position erst gegen die anzugreifende sanktionsbewehrte EG-Bestimmung verstoßen muss2384. Darüber hinaus ist ein systematisch vorbeugender Individualrechtsschutz gegen Normativakte auch in den mitgliedstaatlichen Verfassungstraditionen nur ganz vereinzelt nachzuweisen, denn soweit die nationalen Rechtsordnungen überhaupt einen Gesetzesangriff durch Privatpersonen zulassen, besteht diese Möglichkeit regelmäßig nur für individuell, gegenwärtig und unmittelbar belastende Gesetze2385. Vor diesem Hintergrund ist die vom EuG lancierte Definition gegenüber jener von Generalanwalt Jacobs vorzuziehen. Der zweite wesentliche Unterschied der beiden beschriebenen Auslegungsansätze liegt in der jeweils eindeutigen Klassifizierung der Aufhebungsklage in ersterem Fall als Verletztenklage und in Letzterem als Interessentenklage begründet2386. Zu Bedenken ist in diesem Zusammenhang jedoch, dass weder der Norm des Art. 230 Abs. 4 EGV noch dem Prozessrechtssystem des EG-Vertrags im Ganzen eine derart eindeutige Festlegung auf die eine oder andere Verfahrensart zu entnehmen ist und auch der EuGH das betreffende Kriterium mal mit der einen und mal mit der anderen Tendenz gehandhabt hat. Um jene Systemoffenheit und zugleich den Sinn und Zweck des hier in Frage stehenden Zulässigkeitsparameters zu wahren, erscheint es daher vorzugswürdig, jede natürliche und juristische Person als im Sinne der Norm individuell betroffen anzusehen, wenn sie durch den Akt gegenwärtig in ihren eigenen gemeinschaftsrechtlich gewährten Rechten oder Interessen beschwert ist. Daneben muss sie freilich weiterhin nachweisen, dass die Betroffenheit unmittelbar von dem Rechtsakt ausgeht. Auch unter Anwendung dieser Definition wäre die Sachentscheidungsvoraussetzung nicht aus der Perspektive des angegriffenen Rechtakts samt seiner Rechtsnatur und seinem Geltungsmodus, sondern in grammatikalisch und rechtssystematisch zulässi2384 Vgl. EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 34 (Kommission/JégoQuéré); noch deutlicher EuGH, Rs. C-167/02, Slg. 2004, I-3149, Rn. 51 (Rothley u. a./Parlament). 2385 s. zur deutschen Bundesverfassungsbeschwerde, für deren Zulässigkeit im Rahmen der Beschwerdebefugnis vorausgesetzt ist, dass der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen ist, BVerfGE 30, 1, 16 m. w. N.; s. zur abstrakten Normenkontrolle schon BVerfGE 1, 396, 400 ff. Eine Ausnahme besteht insoweit zum einen im Bereich der Kontrolle von Vertragsgesetzen zu Völkerrechtsverträgen [vgl. dazu – im Kontext zum EG-Recht – BVerfGE 37, 271, 284 (Solange I)], zum anderen sieht das BVerfG auch vom Erfordernis der Gegenwärtigkeit und der Unmittelbarkeit der Betroffenheit ab, wenn die Normadressaten durch das Gesetz bereits gegenwärtig zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen gezwungen sind oder schon gegenwärtig zu Dispositionen veranlasst werden, die sie nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen können [vgl. BVerfGE 65, 1, 37 (Volkszählung) m. w. N.]. 2386 So auch Calliess, NJW 2002, 3577, 3582.

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ger Weise maßgeblich mit individualisiertem Blick auf den Belasteten zu bestimmen. Über die geforderte Voraussetzung der Gegenwärtigkeit der Beschwer wäre im Zusammenspiel mit dem fortbestehenden Erfordernis der Unmittelbarkeit derselben auch dem Prinzip der Subsidiarität Rechnung getragen, da eine Klage weiterhin unzulässig wäre, sobald es noch einer dezentralen Vollziehung bedürfte, durch welche sich die negativen Wirkungen erst entfalteten. Die hier vorgeschlagene Interpretation erlaubt es im Übrigen nicht nur, dem Individualrechtsschutzsuchenden einen dichteren primären Rechtsschutz zu bieten und zugleich durch die Beurteilung der Klagebefugnis über die einzelfallabhängige Betroffenheitsstellung unerwünschte Popularklagen auszusieben, sie hat auch im Weiteren gegenüber den anderen Vorschlägen den Vorteil, der Aufhebungsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV weder den Charakter einer engen Verletztenklage noch den einer reinen Interessentenklage aufzudrängen, sondern gerade die Offenheit und Flexibilität dieser Verfahrensart weitestgehend unangetastet zu lassen. e) Betrachtung rechtlicher und praktischer Einwände Bewegt sich eine grundrechtsgeleitete Auslegung des Art. 230 Abs. 4 EGV, wie die hier vorgeschlagene, demzufolge in den Grenzen des rechtsmethodisch Zulässigen, so gilt es nunmehr, die insbesondere seitens des EuGH vorgetragenen Einwände gegen eine Systemveränderung de lege lata zu hinterleuchten. aa) Subsidiäre Rechtsschutzlast der zentralen Gemeinschaftsgerichte Wenn der EuGH zur Untermauerung seiner Position aus der verfahrensrechtlichen Konzeption, die der EG-Vertrag mit der Nichtigkeitsklage, der Inzidentkontrolle und dem Vorabentscheidungsverfahren vorgibt, schließt, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, in Ergänzung des zentralen Rechtsschutzes ein der Rechtsschutzgarantie genügendes System bereit zu halten2387, ist ihm hier insofern beizupflichten, als das gemeinschaftsrechtliche Grundkonzept der Subsidiarität in der Eigenschaft als allgemeinem Ordnungsprinzip in der Tat auch das primärrechtliche Prozesssystem beeinflusst2388 und in seinem Lichte vor allem die mitgliedstaatlichen Gerichte 2387 Vgl. EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 40 ff., insb. 45 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat); ebenso EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 30 ff., insb. 31 (Kommission/Jégo-Quéré). 2388 Dazu ausführlich Schilling, in: Harvard Jean Monnet Working Paper, Nr. 10/95; s. zum Grundsatz der Subsidiarität im Rechtsschutzsystem auch Simon, Revue des affaires européennes 1998, 82, 84.

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mit der Rechtsschutzgewähr betraut sind2389. Diese haben folglich im Sinne einer „détriplement fonctionnel“2390 gleichzeitig drei Rechtssysteme zu hüten, namentlich das nationale, das gemeinschaftsrechtliche und das konventionsrechtliche System. Die subsidiäre, vorwiegend dezentral geprägte Ausrichtung des Verfahrensrechts dient dabei nicht zuletzt der Schonung der autonomen mitgliedstaatlichen Rechtsordnung2391. Dieses Verständnis von der justitiellen Rechtsschutzlastverteilung kommt überdies deutlich in den Regelungen des Reformvertrags zum Ausdruck2392 und sieht sich daher grundsätzlich bestätigt. Die Positionsbekundung des Gerichtshofs wirkt unterdessen allzu kategorisch und erscheint insbesondere unglücklich, soweit sie zum Ausdruck bringt, allein die nationalen Stellen hätten für einen effektiven Rechtsschutz Sorge zu tragen. Unbeschadet seiner dezentralen Schwergewichtung enthält das System nämlich ebenfalls zentralisierte Rechtsbehelfe, deren spezielle Anwendbarkeit im Einzelfall einen Rückgriff auf die mitgliedstaatlichen Verfahrenswerkzeuge entbehrlich macht. Nach dem Grundgedanken des Subsidiaritätsprinzips liegt die Handlungsprärogative und damit die Handlungsverpflichtung eben nur dann bei der kleineren Einheit der Mitgliedstaaten, wenn die Aufgabenwahrnehmung auf der höheren Ebene nicht zu besseren Zielen führt2393. Selbst wenn hierfür ein evidenter und erheblicher Effektivitätsgewinn zu fordern wäre, dürfte ein solcher in Bezug auf das vorliegend behandelte Problem des primären Rechtsschutzes gegen normative EGRechtsakte durchaus anzunehmen sein. Der EuGH vernachlässigt insoweit die eigens iterativ verlautbarte Grunderkenntnis, dass die Überprüfung der Rechtmäßigkeit von gemeinschaftsrechtlichen Akten in dem vom EG-Vertrag vorgesehenen Rechtsschutzsystem allein ihm übertragen wurde2394, dies 2389 Ähnlich Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 103, unter Berufung auf Grundel, in: Ehlers, Europäische Grundrechte, § 18, Rn. 19; vgl. ferner Calliess, NJW 2002, 3577, 3582. 2390 Die Begrifflichkeit wird u. a. verwendet vom früheren Präsidenten des EGMR Wildhaber in seiner Rede in Genf am 8. September 2005, The Coordination of the Protection of fundamental Rights in Europe [www.echr.coe.int/NR/rdonlyres/ 00798A1C-0E03-49D3-AB4E-774CC3838A8E/0/2005_CoordinationProtectionFunda mentalFreedoms.pdf, S. 2 (letzter Besuch: 20. April 2007)]. 2391 So auch Mayer, DVBl. 2004, 606, 615. 2392 Hinzuweisen ist dabei insbesondere auf Art. 9 Abs. 1 UAbs. 2 EUV in spe, nach welchem die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechtsbehelfe schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. 2393 s. dazu ausführlicher Calliess, in: ders./Ruffert, EGV/EUV, Art. 5 EGV, Rn. 47 ff. 2394 So ausdrücklich schon EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 (Les Verts/Parlament); ferner EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 16 (Foto-Frost);

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nicht zuletzt, weil er hierfür als zentral platziertes Gericht am besten in der Lage ist2395. Unbeschadet des dem Strukturprinzip der Subsidiarität geschuldeten Übergewichts der Aufgabenlast bei den mitgliedstaatlichen Gerichte können und sollen diese ersichtlich kein Faktotum im System des Individualrechtsschutzes sein. Vielmehr zeichnet sich das Prozesssystem nicht zuletzt durch eine kooperative Aufgabenverschränkung der insoweit nicht-hierarchisch geordneten Justizebenen aus2396. bb) Systemimmanente Grenzen prätorischer Rechtsgestaltungskompetenzen Da sich auch der Gerichtshof dessen bewusst sein muss, dürfte er mit seiner Verweisung auf die Mitgliedstaaten in erster Linie eine kompetenzrechtliche Argumentation im Sinn gehabt haben, nach welcher das geltende Rechtsschutzsystem vom EG-Vertrag strikt vorgegeben ist und für die Einführung eines anderen Systems der Rechtmäßigkeitskontrolle nach Art. 48 EUV allein die Mitgliedstaaten zuständig sind2397. Die Entscheidung in der Rechtssache Unión de Pequeños Agricultores wird demnach auch als an das EuG gerichteter Fingerzeig gewertet, die Grenzen zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung unangetastet zu lassen2398. In der Entscheidung JégoQuéré hat der EuGH sodann deutlich zu verstehen geben, dass er zu einer Fortentwicklung seiner Rechtsprechung schon generaliter nicht bereit ist und er die Plaumann-Formel als die einzig zutreffende Inhaltsbestimmung des Merkmals der individuellen Betroffenheit erachtet. Denn die vom EuG geleistete Neuinterpretation zu Art. 230 Abs. 4 EGV hat er mit der pauschalen Begründung abgelehnt, dass diese, sei die Auslegung auch im Lichte des Rechts auf effektiven Rechtsschutz vorzunehmen, zum Wegfall der Voraussetzung der idividuellen Betroffenheit führe, weil sie diese verfälsche2399, ohne sich mit dem Ansatz des EuG näher auseinanderzusetzen oder sich seinerseits um eine entsprechend grundrechtsgelenkte Neuauslegung zu bemühen. EuGH, Rs. C-131/03 P, Slg. 2006, I-7795, Rn. 80 (Reynolds Tobacco u. a.); ähnlich EuGH, Rs. C-232/05, Slg. 2005, I-11237, Rn. 57 (Kommission/Frankreich). 2395 So auch EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, Rn. 18 (Foto-Frost). 2396 s. zu diesem Verständnis der Aufgabenverteilung Mayer, Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit – Gerichtliche Letztentscheidung im europäischen Mehrebenensystem, in: v. Bogdandy, Europäisches Verfassungsrecht, S. 229 ff. 2397 So deutlich EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 45 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2398 In diesem Sinne etwa Mehdi, RTDE 2003, 23, 44. 2399 So EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425, Rn. 36 ff. (Kommission/JégoQuéré).

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Die obigen Ausführungen zur Auslegungsfähigkeit und zur grundrechtlichen Gebotenheit einer Neuinterpretation der Klagebefugnis in dem beschriebenen Sinne erschüttern jedoch die Richtigkeit seines Standpunkts. Zu bedenken ist hier maßgeblich, dass das kontemporär praktizierte Rechtsschutzsystem nicht allein durch den ursprünglichen Vertrag geschaffen, sondern ganz entscheidend durch von grammatikalischen, vertragssystematischen und teleologischen Gesichtspunkten geleitete Interpretationen des Gemeinschaftsrichters geformt worden ist. Dies gilt vornehmlich auch für die Zulässigkeitsvoraussetzung der individuellen Betroffenheit2400. Denn in Ermangelung einer Legaldefinition bedurfte es für deren Ausgestaltung zwingend erst inhaltskonkretisierender Judikate. Im Zuge der anfänglichen Erarbeitung der Charakteristika des Rechtsschutzsystems hat der EuGH sich dabei doch allzu sehr an den Besonderheiten des französischen Systems orientiert, das die gerichtliche Geltendmachung von Grundrechtsverletzungen nur eingeschränkt zulässt2401 und insbesondere weder eine nachträgliche Kontrolle von Gesetzen – etwa im Wege einer Verfassungsbeschwerde oder einer konkreten Normenkontrolle – kennt, noch dem Bürger ein Antragsrecht auf Einleitung der vorbeugenden Normenkontrolle nach Art. 61 der französischen Verfassung von 1958 einräumt2402, während in anderen mitgliedstaatlichen Systemen durchaus prozessuale Möglichkeiten der nachträglichen Rechtmäßigkeitskontrolle von Gesetzen bestehen2403. Eine solch enge Anlehnung an die französische Konzeption ist aber kaum zu rechtfertigen, wie schon die eingangs herausgearbeiteten Eigenheiten des gemeinschaftsrechtlichen Prozessrechtssystems indizieren2404. Zudem kann in der kommunalen Rechtsordnung auch die ursprünglich hinter der Einschränkung der gericht2400 In den Entscheidungsgründen zur Rechtssache Plaumann sind indes rechtsmethodische Überlegungen nicht einmal ansatzweise zu finden. Vielmehr hält sich der EuGH hier getreu seinem apodiktischen Begründungsstil vollständig bedeckt [s. EuGH, Rs. 25/65, Slg. 1963, 213, 238 (Plaumann)]. 2401 Seit 2001 existiert jedoch in der französischen Verwaltungsgerichtsordnung die „procédure du référé-liberté fondamentale“, welche nach Art. L.521-2 du CJA die Eilrüge eines schweren und offensichtlich rechtswidrigen Eingriffs der Verwaltung in die „libertés fondamentales“ ermöglicht [vgl. hierzu C.E. vom 16. August 2004, Nr. 271148 (ministre de l’intérieur); C.E. vom 2. Juli 2003, Nr. 254536 (Société Outremer Finance Limited); C.E. vom 3. April 2002, Nr. 244686 (ministre de l’intérieur/M. K.); speziell zur Religionsfreiheit C.E. vom 7. April 2004, Nr. 266085 (M. et Mme K.)]. 2402 s. dazu ausführlich schon Goose, AöR 1974, 347 ff. Das zwischenzeitliche Unterfangen, eine nachträgliche Normenkontrolle mit individueller Klageberechtigung zu schaffen, fand durch den Widerstand des Senats sein (vorläufiges) Ende (vgl. insofern Granrut, RDP 1990, 309 ff.). 2403 s. dazu die Nachweise bei GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 89 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2404 s. in Teil 1 unter A. II. 4. d) bb).

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lichen Gesetzeskontrolle in Frankreich stehende Idee nicht vollends fruchten. Das französische, auf die staatstheoretischen Gedanken Rousseaus zurückgehende Verständnis von einem den Volkswillen tragenden und daher weitestgehend souveränen Parlament, dessen Aktivitäten zur Vermeidung eines „gouvernement des juges“2405 keiner umfassenden judikativen Kontrolle zugänglich sein sollten2406, erscheint nämlich nur schwerlich auf den Bereich der Gemeinschaft übertragbar. Denn dem System der EG, das dem Europäischen Parlament bekanntlich eine im Gegensatz zu Kommission und Rat eher schwache Stellung einräumt, ist nach wie vor eine generelle Legitimations- und Demokratieinsuffizienz inhärent2407, die ohne weiteres auch keiner vollständigen Beseitigung zugänglich ist2408. Unter maßgeblicher Berücksichtigung dieser grundlegenden Differenzen besteht auf der europäischen Ebene vielmehr umgekehrt ein besonderes Bedürfnis, nicht nur Einzelakte, sondern ebenso normative Rechtsakte der EG-Organe einer nachträglichen und uneingeschränkt wirksamen Gerichtskontrolle zugänglich zu machen. Die einzelnen Elemente des Verfahrensrechts sind nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund dieser allgemeinen Systemstrukturen zu betrachten. 2405 Hierzu in Bezug auf den EuGH und im Lichte des supranationalen Charakters der Gemeinschaft schon ausführlich Colin, le gouvernement des juges dans les Communautés européennes, S. 1 ff.; in ähnlicher Richtung Lecourt, L’Europe des Juges, S. 1 ff.; s. in diesem Kontext zudem die entsprechenden Bemerkungen von Pernthaler, JBl. 2000, 691, 695 ff. 2406 Ähnliches gilt für das traditionelle Verständnis vom Verhältnis der Judikative zur ebenfalls mit äußerst weitgehenden legislativen Kompetenzen ausgestatteten Exekutive, deren Tätigkeiten nicht durch die Gerichte behindert werden sollen (vgl. dazu Chapus, Droit administratif général I, Rn. 854). 2407 Die direkte Wahl des Europäischen Parlaments durch die Unionsbürger und das im Zuge des Vertrags von Maastricht eingeführte Mitentscheidungsverfahren nach Art. 189 b EGV a. F. (Art. 251 EGV n. F.) relativieren diese Schwäche zwar, doch ändert dies nichts an der grundsätzlichen Systementscheidung gegen eine konsequente gemeinschaftsrechtliche Gewaltenteilung (vgl. dazu Hummer, Paradigmenwechsel im Internationalen Organisationsrecht – Von der „Supranationalität“ zur „strukturellen Kongruenz und Homogenität“ der Verbandsgewalt, in: ders., Paradigmenwechsel, S. 145 ff.). s. in diesem Kontext auch v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders., Europäisches Verfassungsrecht, S. 149, 169 f., der die Bedeutung des Prinzips der Gewaltenteilung hinter dem Erfordernis effektiven Grundrechtsschutzes zurücktreten lässt. s. aber zum Nachweis der Existenz einer gewissen Gewaltenteilungsstruktur, etwa verkörpert durch das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts Jacqué, CMLR 2004, 383 ff.; ferner Lenearts/Verhoeven, Institutional Balance as a Guarantee for Democracy in EU Governance, in: Joerges/Dehousse, Good Governance, S. 35 ff.; s. zudem schon Lenearts, CMLR 1991, 11 ff., insb. 14. 2408 Ist einerseits ein grundlegender Systemwechsel nur schwerlich vorstellbar, so würde ein Demokratieverlust in den Mitgliedstaaten als Legitimationsmittler jedoch unweigerlich auch die demokratische Basis der EU in Frage stellen [in diesem Sinne schon Klein, in: HK-EUV/EGV, Art. F EUV (April 1995), Rn. 5].

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Indem der EuGH aber zur Rechtfertigung seiner Position auf die Schranken seiner vertraglich determinierten Befugnisse verweist, unterschlägt er den ganz wesentlichen Punkt, dass die Auslegung des primären und sekundären EG-Rechts wie auch die interpretatorische Fortentwicklung des Rechtssystems in den Grenzen des methodisch Zulässigen gemäß Art. 220 EGV allein ihm obliegen. Soweit er also dem Verfahrenssystem bereits durch eine modifizierte Normauslegung die erforderliche, da dem Gebot praktischer Wirksamkeit geschuldete Richtung geben kann, ohne sich hierbei auf das teils heikle Terrain der richterlichen Rechtsfortbildung zu begeben, ist die Durchführung einer Vertragsänderung nach Art. 48 EUV gar nicht erforderlich und angesichts des weitgehend in die Hände des EuGH gelegten dynamischen Moments der Rechtsordnung auch kaum systemadäquat. Anders läge die Sache zwar, wenn aus der Tatsache des vierzigjährigen Unterbleibens der Reformierung der Anforderungen an die Individualnichtigkeitsklage gefolgert werden dürfte, dass die einmal gefundene Definition des Gerichtshofs von Seiten der Vertragsstaaten als unveränderliches Wesensmerkmal des Verfahrenssystems anerkannt worden ist. Höchst fraglich erscheint insoweit aber, ob eine mitgliedstaatliche Bestätigung mit Blick auf die vertraglichen Regelungen zur Kompetenzverteilung und die formellen Anforderungen an eine Vertragsänderung sowie auch in rechtsquellendogmatischer Hinsicht rechtlich überhaupt erheblich sein kann2409. Jedenfalls dürfte ein solcher Ansatz jedoch am Fehlen eines ausreichend manifestierten Anerkennungsakts seitens der Mitgliedstaaten scheitern. Selbst wenn man im Übrigen die gerichtliche Revision des Art. 230 Abs. 4 EGV in den Bereich der Rechtsschöpfungsmethodik verorten möchte, darf hier nicht ausgeblendet werden, dass der Gerichtshof dazu in gewissen Bahnen befugt ist2410 und gerade auch in Bezug auf die Nichtigkeitsklage bereits häufiger teils aktiv, teils reaktiv von seiner entsprechenden Kompetenz Gebrauch gemacht hat. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang nicht nur die mit Verweis auf den Geist des Vertrages vorgenommene Erweiterung der tauglichen Klagegegenstände auf Handlungen des Europäischen Parlaments2411 und die im Bestreben um primärrechtliche Konkordanz zwischen dem Rechtsschutzsystem und dem Grundsatz institutionellen Gleichgewichts prätorisch geschöpfte Direktklagemöglichkeit des2409 Zu dem Problem der Berücksichtung mitgliedstaatlicher Praxis bei der Auslegung von europarechtlichen Normen bereits in Teil 2 B. I. 2. b). 2410 Vgl. dazu BVerfGE 75, 223, 241 (Kloppenburg); Daig, in: FS Zweigert, S. 395, 402; Everling, JZ 2000, 217, 225 ff.; ders., RabelsZ 1986, 193, 206; kritischer hingegen Mittmann, Rechtsfortbildung durch den EUGH, S. 235 ff. 2411 Vgl. EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339, Rn. 23 ff. (Les Verts/Parlament). Mit dem Vertrag von Maastricht wurde Art. 230 Abs. 1 EGV entsprechend geändert.

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selben2412, sondern auch die Extensivierung des gerichtlichen Sachprüfungsmaßstabs auf die Bestimmungen des EAG- und des ehemaligen EGKS-Vertrages2413. Überdies betätigte sich der EuGH auch schon komplett außerhalb des geschriebenen Rechtsschutzsystems rechtsgestaltend, als er den nationalen Gerichten ein nirgends geregeltes „Rechtshilfeersuchen“ zur Durchsetzung der Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane zu beiderseitiger loyaler Zusammenarbeit an die Hand gab2414. Der Gerichtshof hat schon vielfach zu verstehen gegeben, dass er seiner eigenhändig zu umschreibenden Befugnis zur Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung keine allzu engen Grenzen ziehen will2415. Wenn er nun nicht auch im Bereich des Art. 230 Abs. 4 EGV zur Aktivierung jener Rechtsfortbildungskompetenzen bereit ist, entbehrt diese Haltung einer gewissen Konsequenz2416. Dies gilt um so mehr, als der Gerichtshof im Hinblick auf die vertragsimmanenten Systemvorgaben auch um eine hinreichende Konkordanz zum System sekundären Rechtsschutzes bemüht sein sollte. Dort nämlich stellt er keine derart strengen Anforderungen für die Klagebefugnis des Einzelnen auf. Zwar gilt der Grundsatz des Vorrangs primären Rechtsschutzes im Gemeinschaftsrecht nicht gleichermaßen2417 wie in einigen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen2418, jedoch sieht er sich durch das Voraussetzungsgefälle, 2412 Vgl. EuGH, Rs. C-70/88, Slg. 1990, I-2041, Rn. 24 ff. (Parlament/Rat), ausführlicher zu dem Thema Giegerich, ZaöRV 1990, 812 ff. Der Vertrag von Maastricht hat jene Rechtsprechung durch Art. 230 Abs. 3 EGV in geschriebenes Primärrecht transponiert. 2413 Vgl. EuGH, Rs. C-62/88, Slg. 1990, I-1527, Rn. 8 (Griechenland/Rat). 2414 Vgl. EuGH, Rs. C-2/88, Slg. 1990, I-3365, Rn. 22 ff. (Zwartveld u. a.). 2415 Zu Recht weist insofern Isaac, CDE 1987, 444, darauf hin, dass die genaue Grenzziehung der eigenen Kompetenzen die wichtigste und zugleich gefährlichste Aufgabe des EuGH darstellt. 2416 So schon Bleckmann, in: FS Menger, S. 871, 872. Ähnlich GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 67 und 71 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2417 s. dazu EuGH, Rs. 543/79, Slg. 1981, 2669, Rn. 28 (Birke/Kommission und Rat); EuGH, Rs. 799/79, Slg. 1981, 2697, Rn. 19 (Bruckner/Kommission und Rat); EuGH, Rs. 175/84, Slg. 1986, 753, Rn. 33 (Krohn/Kommission); EuGH, Rs. C-310/97 P, Slg. 1999, I-5363, Rn. 59 (Kommission/AssiDomän Kraft Products u. a.). Der BGH hat nunmehr ein Vorlageverfahren zum EuGH eingeleitet, das insbesondere Fragen zum Einfluss des Grundsatzes vom Vorrang des Primärrechtsschutzes auf den gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch zum Gegenstand hat und darunter insbesondere die Frage zu einem möglichen Anspruchsausschluss wegen unterlassener Wahrnehmung einer bestehenden und zumutbaren Primärrechtsschutzmöglichkeit respektive zur Entbehrlichkeit dieser Wahrnehmung, wenn das nationale Gericht die gemeinschaftsrechtliche Frage dem EuGH vorlegen müsste oder wenn bereits ein Vertragsverletzungsverfahren anhängig ist (s. BGH, Beschl. vom 12. Oktober 2006 – III ZR 144/05). 2418 s. etwa in Bezug auf die deutsche Rechtsordnung § 839 Abs. 3 BGB.

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das derzeit zwischen der Zulässigkeit des primären und sekundären Rechtsschutzsystems besteht, just ins Gegenteil verkehrt2419. Sieht der Vertrag aber eine zugunsten des einzelnen Rechtssubjekts geschaffene Direktklage vor und erfasst diese auch normative Rechtsakte, so muss nach der vertraglichen Aufgabenstruktur unbeschadet des Umstands, dass die Rechtsschutzgarantie keinen optimalen, sondern nur einen einerseits praktisch wirkungsvollen und andererseits zumutbaren Weg der prozessualen Geltendmachung der rechtlich geschützten Rechte verspricht, zunächst der EuGH den existenten Rechtsbehelfen durch Ausschöpfung des rechtsmethodisch Zulässigen die notwendige praktische Wirksamkeit verleihen. Nicht zuletzt mit Blick auf die Schwerfälligkeit des vertraglichen Änderungsverfahrens2420 erscheint dieser Weg der Systemverbesserung gegenüber einer letztlich bloß klarstellenden Reform des Vertragstextes im Wege des in Art. 48 EGV vorgesehenen Verfahrens vorzugswürdig. cc) Kapazitätsüberlastung des Gerichtshofs und Verfahrensverlängerung Die praktischen Probleme, die eine Änderung des primären Individualrechtsschutzsystems mit sich brächte und unter denen vor allem die sichere Zunahme der Zahl der Individualnichtigkeitsklagen sowie die mit der Belastungszunahme einhergehende Verlängerung der durchschnittlichen Verfahrensdauer zu nennen sind, vermögen ebenfalls keine Rechtfertigung für die verweigerte Abhilfe zu bieten. Aus dem Rechtsschutzgebot kann schließlich auch die hoheitliche Leistungspflicht erwachsen, dem Recht auf effektiven Rechtsschutz genügend praktische Mittel für seine Wahrnehmung zur Seite zu stellen2421, insbesondere die Kapazität des Gerichtshofs zu erhöhen und die Effizienzerhöhung und Beschleunigung der Verfahren durch weitere Maßnahmen zu erreichen, was selbstverständlich in den Bereich der Systemverbesserungen de lege ferenda gehört. Der Rechtsschutzgarantie wäre jedenfalls durch eine norminterpretatorische Ausweitung der Direktklagemöglichkeiten auch ohne kapazitäre Modifikation der Gemeinschaftsgerichte eher Genüge getan als im Falle ihres vollständigen Unterlassens. Denn zumindest wäre sodann das Rechtsweggebot im Sinne eines tatsächlichen und effektiven Zugangs zu den sachlich GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 72 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat) nennt diese Systemdiskrepanz daher „widersinnig“. 2420 Dazu Tomuschat, in: FS Ress, S. 857, 873 f. 2421 s. zur betreffenden leistungsrechtlichen Dimension der Rechtsschutzgarantie bereits unter B. I. 2. 2419

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zuständigen Gerichten gewährleistet, mag der Rechtsschutz dabei möglicherweise auch mit einer zusätzlichen Zeitverzögerung kommen. Darf die Bedeutung der temporären Komponente des Rechtsschutzes auch keineswegs unterschätzt werden2422, so muss das erstrangige Anliegen einer Rechtsgemeinschaft sein, zunächst überhaupt den Zugang zu den Gerichten mit den gefragten Entscheidungskompetenzen, hier also der zentralen Gemeinschaftsgerichtsbarkeit zu gewährleisten, da das Recht auf eine zeitnahe Entscheidung denklogisch von diesem abhängt und damit erst auf der nächstfolgenden Schutzebene zu realisieren ist. Zudem ist auch die Annahme, eine Erweiterung der Klagebefugnis des Einzelnen bringe notwendig eine Verlängerung des gesamten Verfahrenswegs2423 mit sich, vor dem Hintergrund der ähnlich langen Dauer der Verfahren nach Art. 230 EGV und Art. 234 EGV2424 und mit maßgeblichem Blick auf den langwierigen und unwägbaren Umweg über die nationalen Gerichte und das Vorabentscheidungsverfahren nicht ohne weiteres zutreffend2425, sind es doch auch jene zusätzlichen Belastungen des Individualklägers, die das aktuelle Verfahrenssystem im Hinblick auf das Recht auf effektiven Rechtsschutz problematisch erscheinen lassen2426. Darüber hinaus dürfte durch eine Zugangserweiterung zum EuGH weniger die Zahl der angreifbaren Gegenstände als vielmehr nur die Zahl der angreifenden Parteien zunehmen. Dies aber könnte bereits durch ökonomisierende Verfahrensschritte wie eine Klageverbindung kompensiert werden. Ins Gewicht fällt hier auch, dass die dem Individualkläger in Zweifelsfällen aufgezwungene Beschreitung beider Rechtswege ebenfalls zu einer unnötigen Mehrbelastung der jeweils angerufenen Gerichte führt2427. Aus der leistungsrechtlichen Dimension des Grundrechts auf effektiven RechtsVgl. dazu auch Schlette, EuGRZ 1999, 369. Dieser umfasst den gesamten prozessualen Weg von der Beschreitung des nationalen Rechtswegs bis zur vollständigen Durchführung des Vorabentscheidungsverfahrens mit möglicherweise anschließender Erledigungserklärung oder Klagerücknahme vor dem nationalen Gericht. 2424 Ein Vorabentscheidungsverfahren dauerte im Jahre 2006 durchschnittlich 19,8 Monate, eine Direktklage mit 20,0 Monaten nur wenig länger; vgl. die Rechtsprechungsstatistiken des Gerichtshofs für das Jahr 2006, S. 93. 2425 Die Ansicht von Feddersen, EuZW 2002, 532, 534, eine „Erweiterung der Aktivlegitimation“ laufe ohne eine Änderung der materiellen Ausstattung der Gemeinschaftsgerichte „ins Leere“, überzeugt – unter Außerachtlassung der terminologischen Angreifbarkeit dieser Behauptung – (auch) insoweit nicht. 2426 In diesem Sinne auch GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 44 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2427 Ähnlich unter Hinweisung auf eine mögliche Kausalität zwischen der schwer vorhersehbaren gerichtlichen Handhabung der Sachentscheidungsvoraussetzungen und der Zunahme von Rechtsstreitigkeiten Calliess, NJW 2002, 3577, 3580. 2422 2423

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schutz2428 dürfte im Übrigen – zumindest im Falle einer festzustellenden Dringlichkeit2429 – auch die Verpflichtung der Union folgen, zeitgleich mit einer Änderung der Direktklagezugangssystematik oder zumindest zeitnah zu dieser eine weitere Effektuierung der Gemeinschaftsgerichte anzugehen2430. f) Zwischenfazit Das stete Verharren des EuGH auf der einmal gefundenen Plaumann-Formel zur individuellen Betroffenheit mutet angesichts der essentiellen Funktion des Rechts auf effektiven Rechtsschutz in einem grundsätzlich dynamischen Rechtssystem anachronistisch an und erweckt ernsthafte Bedenken in grundrechtlicher Hinsicht2431. Wie gesehen, erscheint eine Modifizierung der Auslegung des Art. 230 Abs. 4 EGV nämlich nicht nur zulässig, sondern auch geboten, wenn man die beschriebenen Unzuträglichkeiten des prätorisch konkretisierten Individualrechtsschutzsystems ernst nimmt und die Messlatte des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz angemessen eng anlegt. Die bewusste Untätigkeit des EuGH2432 erstaunt besonders im Hinblick darauf, dass er selbst anlässlich der Schöpfung der Plaumann-Formel den allgemeinen Gedanken vorausgeschickt hat, dass „Bestimmungen des Vertrages über das Klagerecht nicht restriktiv interpretiert werden“2433 dürVgl. Jarass, EU-Grundrechte, § 40, Rn. 14 f. Eine solche wurde schon früher angesichts der zunehmenden Belastung des EuGH bejaht (vgl. schon Jaqué/Weiler, RTDE 1990, 441 ff.; ferner später Arnull, ELR 1999, 516 ff.; Jaqué, RTDE 1999, 443 ff.). 2430 Zu einer entsprechenden Verpflichtung des Staates im Bereich des Beschleunigungsgebots BVerfG, NJW 2006, 668, 671. Insbesondere soweit diese Pflicht die legislative Gewalt betrifft, weist sie indes wohl keinen Drittbezug auf, sondern besteht nur gegenüber der Allgemeinheit, so dass hierauf gestützte Haftungsklagen keinen Erfolg versprächen. Anders kann der Fall aber liegen, wenn es sich dabei um eine amtliche Organisationspflicht handelt, die von der für die hinreichende personelle und sachliche Ausstattung einzelner Verwaltungsstellen zuständigen Hoheitsgewalt zu erfüllen ist (vgl. entsprechend zu § 839 BGB und der Pflicht der betreffenden staatlichen Stellen, unzumutbaren Verfahrensverzögerungen wegen justitieller Überlastung abzuhelfen BGH, Urt. v. 11. Januar 2007 – III ZR 302/05, Rn. 21). 2431 In diesem Sinne auch Dittert, EuR 2002, 708, 712 f. A. A. wohl Everling, Rechtsschutz im europäischen Wirtschaftsrecht auf der Grundlage der Konventsregelungen, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 363, 380, der die Problematisierung der individuellen Klagebefugnis für überdimensioniert hält. 2432 Vgl. insoweit nur EuGH, Bericht über bestimmte Aspekte der Anwendung des Vertrages über die Europäische Union, 22. Mai 1995, Rn. 20 (Bericht veröffentlicht in: Tätigkeit des Gerichtshofs Nr. 15/1995, S. 12 ff.; ferner in EuGRZ 1995, 316 ff.). 2433 EuGH, Rs. 25/65, Slg. 1963, 213, 237 (Plaumann). 2428 2429

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fen. Nichts sollte den Hüter des EG-Rechts daher davon abhalten, diese Maxime aus dem Bereich der Theorie zu befreien und in die Praxis umzusetzen. Der wiederholte Hinweis auf den vermeintlich „eindeutig engen Wortlaut“2434 der Norm erscheint nicht nur vor diesem Hintergrund fragwürdig. Denn rechtsmethodisch bestehen, wie gesehen, keine durchgreifenden Bedenken, sich des engen Korsetts der Plaumann-Formel zu entledigen und hierdurch im europäischen Rechtsraum mehr Bewegungsfreiheit für die Gewährung eines wirklich effektiven Rechtsschutzes zu schaffen. Dass der EuGH einen auslegungsfähigen Rechtsbegriff einmal einer Definition zugeführt hat, darf insoweit nicht zu einem partiellen Stillstand des sich im Sinne der heraklitschen Idee im fortwährenden Integrationsfluss befindlichen Unionsrechtssystems führen. Die Rechtsprechungspraxis ist überdies im Hinblick darauf, dass an die mitgliedstaatlichen Rechtsschutzregelungen im Bereich der Abwehr nationaler, etwaig unionsrechtswidriger Maßnahmen im Lichte des Rechts auf effektiven Rechtsschutz äußerst strenge Maßstäbe angelegt werden2435, von einer erheblichen Inkonsequenz geprägt2436 und dies um so mehr, als auch der Gerichtshof sich bereits ausdrücklich gegen doppelte Rechtsschutzstandards ausgesprochen hat2437. Soweit hinter seiner Praxis nachvollziehbare praktische Gründe stehen, vermögen diese nicht über die Obsoleszenz hinwegzutäuschen, welche der Rechtsprechung des Gerichtshofs im zentralen Bereich primären Rechtsschutzes anhaftet, und können die beschriebene Beeinträchtigung des Kerns der grundrechtlich gesicherten Rechtsschutzgarantie nicht ansatzweise rechtfertigen. Hält ma sich vor Augen, dass der EuGH in weiteren Bereichen der Rechtsordnung, des Rechtsschutzsystems und eben auch in unmittelbarer Peripherie zum Merkmal der individuellen Betroffenheit nur allzu schnell zu einer prätorischen Lückenfüllung bereit war, und dies teils unter offenkundiger Durchbrechung der grammatikalischen Grenzen der vertraglichen Regelungen, so offenbart der sinngemäß auch auf die gemeinschaftsrechtliche Rechtsordnung übertragbare Satz des ehemaligen Chief Justice am US Supreme Court Hughes, „we are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is“2438, hier seine ganze Brisanz. EuGH, Rs. 40/64, Slg. 1965, 295, 312 (Sgarlata). Dazu ausführlicher Caranta, CMLR 1995, S. 703, 724 f.; Harlow, Yearbook of European Law 1992, 213, 228 f.; Ward, ECL 2000, 242 ff. 2436 Ähnlich kritisch Arnull, CMLR 2001, 7, 52; Calliess, NJW 2002, 3577, 3581; vorsichtiger und sich grundsätzlich der Linie des EuGH anschließend Nettesheim, JZ 2002, 928, 932. 2437 So explizit für den Bereich einstweiligen Rechtsschutzes: vgl. EuGH, verb. Rsn. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415, Rn. 20 (Zuckerfabrik Süderdithmarschen u. a.). 2438 Chief Justice Hughes in seiner Rede vor der Elmira Chamber of Commerce am 3. Mai 1907, veröffentlicht in: Charles Evans Hughes, Addresses and Papers of 2434 2435

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Da der EuGH sich trotz Kenntnis der nicht zuletzt aus seiner eigenen Rechtsprechung resultierenden Systemschwächen einer Abkehr von der Plaumann-Formel, ob nun durch neue Vertragsauslegung oder durch eine umsichtige Rechtsfortbildung, versperrt, liegt es nicht völlig fern, ihm zumindest hinsichtlich solcher Fälle, die aufgrund der zahlreichen Hürden auf dem Individualrechtsweg letztlich nicht oder nicht rechtzeitig vor ihn gelangen, obwohl allein er im geltenden Rechtssystem die Kompetenz zur Lösung der betreffenden Normgültigkeitsfragen innehat, einen „déni de justice“ vorzuwerfen2439. Jedenfalls hat der Gerichtshof die Möglichkeit zu einer Fortentwicklung des Individualrechtsschutzsystems sehenden Auges verstreichen lassen2440. In Anbetracht des Dilemmas, dass im Rahmen des geltenden Rechts nur er die Plaumann-Formel modifizieren oder verwerfen und eine neue verbindliche Auslegung des Art. 230 Abs. 4 EGV leisten darf, er aber in seinen jüngeren Judikaten unmissverständlich zu erkennen gegeben hat, hierzu nicht bereit zu sein2441, wird es vorerst, namentlich ohne Systemveränderungen de lege ferenda bei dieser für den Individualrechtsschutzsuchenden höchst unbefriedigenden Situation bleiben. Schlussendlich erweist sich also gerade der Gerichtshof als ein Grund praktischer Unmöglichkeit der Systemeffektuierung de lege lata.

II. Lösungsmöglichkeiten de lege ferenda Die Rechtsprechung des EuGH ist zugleich als klare Aufforderung an die Mitgliedstaaten zu verstehen, das Individualrechtsschutzsystem zu reformieren2442. Demgemäß bedarf es nunmehr weitergehender Überlegungen zu den Möglichkeiten einer Systemverbesserung qua Modifizierung des zentralen oder dezentralen Rechtsschutzes im Wege des Vertragsänderungsverfahrens nach Art. 48 EUV. In diesem Zusammenhang werden fernerhin die ursprünglich in dem Entwurf zum Verfassungsvertrag vorgesehenen Änderungsansätze einer Würdigung unterzogen.

Charles Evans Hughes, New York 1908, 139, zitiert nach Fisher, Constitutional Dialogues: Interpretation as Political Process, S. 233, 245 f. 2439 So zumindest GA Jacobs, Schlussanträge zur Rs. C-50/00 P, Rn. 62 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2440 Ähnlich Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 108, 112. 2441 Vgl. nochmals EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 f. und 44 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2442 So auch Ress, in: Herzog/Hobe, Perspektiven der europäischen Verfassungsordnung, S. 83, 93.

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1. Primärrechtliche Verbesserungsmöglichkeiten im Kontext zum dezentralen Rechtsschutz In anfänglicher Konzentration der Betrachtungen auf eine primärrechtliche Reformierung des dezentralen Bereichs kommen zur Verbesserung der Rechtsschutzsituation des Einzelnen zwei grundsätzliche Richtungen in Betracht, die jeweils über verschiedene Systemkonstruktionen eingeschlagen werden können. Der erste Weg geht über die Schaffung eines effektiveren Kontroll- und Sanktionsmechanismus für das pflichtwidrige Unterlassen der Gerichtsvorlage, der zweite hingegen über die Stärkung der Rechte des Einzelnen zur eigenständigen Initiierung des Vorabentscheidungsverfahrens. Denkbar ist ferner eine Kombination beider Ansätze. a) Zentrale Kontrolle des nationalgerichtlichen Vorlageverhaltens Unbeschadet der bestehenden und ausbaufähigen Möglichkeiten, einerseits auf der nationalen Ebene pflichtwidrige Nichtvorlagen der eigenen Instanzgerichte durch eine dichtere verfassungsgerichtliche Kontrolle und über die Amtshaftung zu unterbinden und andererseits auf der zentralen Ebene ein Vertragsverletzungsverfahren anzuregen, ist gleichsam denkbar, im primären Gemeinschaftsrecht einen Rechtsbehelf zu generieren, der die Rüge der gerichtlichen Vorlageomission zum Gegenstand hätte mit dem Ziel, das nationale Gericht über die Feststellung des Rechtsbruchs zu einer Verfahrenseinleitung zu zwingen. Eine solche Beschwerdemöglichkeit könnte etwa als spezielle Vertragsverletzungsrüge bei der Kommission oder aber als Nichtvorlagebeschwerde beim EuGH oder beim EuG angesiedelt werden2443. Um in ersterem Falle der Beschwerdemöglichkeit auch die nötige individualschützende Wirksamkeit zu verleihen, dürfte die Kommission hierbei indes in weitergehender Abweichung vom existierenden System kein Ermessen hinsichtlich der Entscheidung haben, ob sie nach der Feststellung einer Vorlagepflichtverletzung das Vorverfahren einleitet und nötigenfalls den EuGH anruft.

Zum Vorschlag, eine solche Nichtvorlagebeschwerde einzuführen, schon Tonne, Rechtsschutz, S. 267 m. w. N.; s. ferner aus jüngerer Zeit Hirte, RabelsZ 2002, 553, 557; Magiera, DÖV 2000, 1017, 1024; Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 53; Röhl, Jura 2003, 830, 836; dahingehend auch Ress, ZaöRV 2004, 621, 638. 2443

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b) Echte Initiativberechtigung des Einzelnen Eine spürbare Verbesserung brächte auch die Aufwertung des Einzelnen zu einem initiativberechtigten Verfahrensbeteiligten mit sich. Dies könnte entweder durch die Einräumung eines justitiablen Anspruchs auf Vorlage durch das mitgliedstaatliche Gericht2444 oder aber über die Einrichtung eines im Falle der Nichtvorlage zumindest für Grundrechtsverletzungen eröffneten Direktvorlageverfahrens2445 geschehen. Während erstere Möglichkeit über die Einklagbarkeit der Vorlage im nationalen Instanzenzug dazu führen würde, dass die Entscheidung des mitgliedstaatlichen Gerichts über die Einleitung des Verfahrens nach Art. 234 EGV nicht mehr allein von Amts wegen und im Falle einer Negation nicht erst in der Schlussentscheidung erginge, sondern auf Antrag schon per Zwischenbeschluss zu treffen und zu begründen wäre2446, ließe letztere Alternative nach Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges ein eigenes und direktes Vorbringen der den Einzelnen berührenden (Grund-)Rechtsfragen bei den Gemeinschaftsgerichten zu. c) Modellkombinierung Beide Modelle könnten zudem dergestalt miteinander kombiniert werden, dass der Einzelne zunächst ein beim Gerichtshof situiertes Mittel zur Rüge der unterlassenen Vorlage an die Hand bekäme und der EuGH die Sache unter gewissen Umständen sodann ex officio an sich ziehen könnte. Eine solche Intervention des Gerichtshofs bedürfte unterdessen nicht nur der Feststellung der Vorlagepflichtverletzung nach den Grundsätzen der CILFIT- und Köbler-Rechtsprechung2447, sondern darüber hinaus der Klärung der Erforderlichkeit des Vorabentscheidungsverfahrens im Übrigen. Letztere Frage beträfe aber wiederum ausschließlich Aspekte des nationalen Ausgangsverfahrens, die der EuGH ganz regelmäßig nicht zu prüfen hat. Vielmehr müsste die Erforderlichkeitsentscheidung grundsätzlich auch weiterhin Sache des jeweiligen nationalen Gerichts bleiben2448, welches die bes. zu dieser Möglichkeit bereits Allkemper, EWS 1994, 253, 258 m. w. N. Dahingehend schon Rengeling, in: FS Everling, S. 1187, 1197 f. Im Ansatz streitet dies letztlich für die Einführung einer Grundrechtsbeschwerde auf europäischer Ebene, verknüpft diese aber prozessual mit dem Scheitern der Initiativbemühungen um die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens. 2446 s. zur Möglichkeit, die positive oder negative Vorlageentscheidung derzeit anzugreifen unter A. II. 4. c) bb) (1) (a). 2447 Vgl. nochmals EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, insb. Rn. 14 (CILFIT); EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239, insb. Rn. 53 (Köbler). 2448 Vgl. EuGH, Rs. C-231/89, Slg. 1990, I-4003, Rn. 20 (Gmurzynska-Bscher); EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Rn. 59 (Bosman); EuGH, Rs. C-379/98, 2444 2445

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treffende Feststellung denklogisch vorab, d.h. vor der Sachentscheidung des EuGH zu treffen hätte. Die hierin liegenden Praktikabilitätsschwächen einer Modellkombinierung sind schon insoweit evident. d) Funktionale Stärkung der dezentralen Gemeinschaftsgerichte In Erwägung zu ziehen ist schließlich noch, zur Effektuierung des dezentralen Rechtsschutzbereichs die obersten Gerichte der Mitgliedstaaten mit der Klärung bestimmter gemeinschaftsrechtlicher Fragen zu betrauen und so noch stärker in das Individualrechtsschutzsystem einzubeziehen2449. Ein solcher Schritt könnte nicht nur die Vorlagebereitschaft der unterinstanzlichen Gerichte heben, sondern trüge auch ganz wesentlich zur Entlastung des EuGH bei, der die freiwerdenden Kapazitäten zur Beschleunigung der bei ihm anhängigen Verfahren einsetzen könnte. Indessen müsste sich die funktionale Aufwertung der dezentralen Höchstgerichte in ihrer Rolle als Gemeinschaftsgerichte in jedem Fall auf Auslegungsfragen zum Gemeinschaftsrecht beschränken, da die Normverwerfungskompetenz unbedingt auch weiterhin in den Händen des Gerichtshof zu bündeln ist. e) Zwischenbewertung In einer Interimsbetrachtung der Möglichkeiten zur Verbesserung des Vorabentscheidungsverfahrens de lege ferenda erweist sich zunächst insbesondere die letztgenannte Systemmodifikation als problematisch, da sie offenkundig die Gefahr divergierender Rechtsprechungslinien in den einzelnen Justizordnungen in sich birgt und daher rasch dem Erfordernis der kohärenten Geltung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts abträglich werden könnte. Zudem erschöpft sich ihr Vorteil im Wesentlichen in der Entlastung der zentralen Gemeinschaftsgerichte, die freilich spiegelbildlich mit einer Belastungszunahme der dezentralen Gerichte einherginge und keine spürbare Verbesserung für den primären Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte mit sich brächte. Im Hinblick auf die davor erwähnten Lösungsansätze scheint unter dem Gesichtspunkt der Effektivität mehr für die Schaffung einer echten Initiativberechtigung zu sprechen, unter dem Blickwinkel der Systemtreue dagegen Slg. 2001, I-2099, Rn. 38 (Preußen Elektra); EuGH, Rs. C-390/99, Slg. 2002, I-607, Rn. 18 (Canal Satélite Digital); EuGH, Rs. C-445/01, Slg. 2003, I-1807, Rn. 21 (Simoncello und Boerio). s. zu den Ausnahmen insbesondere EuGH, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045, Rn. 18 ff. (Foglia/Novello). 2449 Dazu ausführlicher Hirsch, ZRP 2000, 57 ff.; ders., in: FS Rodríguez Iglesias, S. 601 ff. – jeweils m. w. N.

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mehr für die Einführung einer Nichtvorlagebeschwerde, da deren Gestaltung näher an der existierenden Rechtsschutzkonzeption verbleiben könnte. Innerhalb der erstgenannten Lösungsrichtung gilt weiterführend zu bedenken, dass die erwähnte Zwischenschaltung der Kommission zwar den EuGH entlasten könnte und in diesem Belang Vorzüge verbucht, als Kehrseite derselben Medaille aber eine erhebliche Mehrbelastung auf Erstere zukäme. Überdies hätte der betroffene Mitgliedstaat aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit kaum hinreichende Mittel an der Hand, die eigene Judikative in letzter Konsequenz auch zu der fraglichen Vorlage zu zwingen. Letztlich bringen jedoch sämtliche hier erörterten Lösungsstränge mehr Probleme als Vorteile mit sich. In Bezug auf die Einrichtung einer Nichtvorlagebeschwerde zum EuGH wäre schon fraglich, ob diese getreu dem Konzept des Art. 234 Abs. 3 EGV und im Interesse einer schonenden Inanspruchnahme des EuGH stets erst nach Beschreitung des innerstaatlichen Gerichtszugs oder aber – zumindest im Anwendungsbereich der Foto-FrostRechtsprechung – schon nach der erstinstanzlichen Vorlageablehnung zulässig wäre. Mit der Gewährung eines justitiablen Anspruchs auf Einleitung des Inzidentverfahrens wäre dem Einzelnen außerdem bereits dann nicht mehr geholfen, wenn alle Instanzen rechtsirrtümlich eine eigene Vorlagepflicht negierten, da die anschließend gegebenenfalls zu bemühende Verfassungsgerichtsbarkeit ganz regelmäßig nur für die Prüfung der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts zuständig wäre2450, der Einzelne also am Ende ebenso dastünde, wie er es derzeit unter dem Regime des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG tut. Problematisch erscheint auch in ganz grundsätzlicher Hinsicht, dass der EuGH im Zuge der aufgezeigten Verfahrensmöglichkeiten nicht nur das Verhalten des nationalen Gerichts im Spiegel des Gemeinschaftsrechts zu überprüfen hätte, sondern im konsoziativ-föderalen EG-System gleich einem Rechtsmittelgericht2451 direkt in die jeweilige instanzgerichtliche Entscheidung eingriffe, wenn er seine eigene Beurteilung an deren Stelle setzen und hierüber die Vorlage erzwingen könnte2452. Das arbeitsteilige Kooperationsmodell zwischen beiden Judikativebenen würde hierdurch unter Aufgabe der Kernidee des justitiellen Dialogs erheblich verzerrt2453. Auch bliebe eine der wesentlichen Systemschwächen, nämlich die der unnötig langen Verfahrenswege, im Rahmen der über den dezentralen Rechtsschutzzweig s. zur entsprechenden st. Rspr. des BVerfG nur BVerfGE 18, 85, 92. s. zur tendenziellen Funktion des EuGH als „high court of appeals“ schon Rasmussen, ELR 1980, 112, 122 ff. 2452 Hierauf bereits hinweisend Everling DRiZ 1993, 5, 12. 2453 Ähnlich Mayer, DVBl. 2004, 606, 613; Pernice, ColJEL 2004, 5, 43; Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1311 f. 2450 2451

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gehenden Lösungsansätze unangetastet2454 und sähe sich durch die Systemerweiterung um neue Rechtsbehelfsmöglichkeiten sogar noch aggraviert2455. Vor diesem Hintergrund können die im dezentralen Systembereich angesiedelten Änderungsoptionen weder das Problem der Verfahrensdauer lösen2456, noch die im Mittelpunkt der obigen Überlegungen stehenden Unvollkommenheiten des Rechtsschutzes bei der Abwehr belastender Rechtsakte normativen Charakters schließen. Gerade in diesem Feld möglicher Rechtsschutzinteressen sollte die derzeitige Situation, die sich durch die Notwendigkeit eines ungewünschten Umwegs über die nationalen Gerichte charakterisiert, aber gerade nicht perpetuiert werden. Es entspricht wohl kaum dem Sinn und Zweck des Vorabentscheidungsverfahrens als ausgelagertem Zwischenverfahren, wenn dessen Durchführung nicht nur das vorrangige, sondern gerade das exklusive prozessuale Ziel des Initialklägers bildet2457. Soweit der übrige Einwand zur unverhältnismäßigen Verfahrensdauer gerade dieses Problemfeld fokussiert, kann er folglich auch keineswegs das Vorabentscheidungsverfahren insgesamt in Frage stellen2458. Vielmehr offenbart sich hier, dass die Effektivität des Systems in toto nicht allein über eine Änderung oder Anreicherung der indirekten Rechtsschutzmöglichkeiten zu erreichen ist. 2. Primärrechtliche Verbesserungsmöglichkeiten auf der Zentralebene Zur Verbesserung des Systems primären Individualrechtsschutzes stehen in Ansehung der zentralen Ebene verschiedene Änderungsmöglichkeiten in Bezug auf die Inzidentkontrolle nach Art. 241 EGV sowie die Direktklage nach Art. 230 EGV zur Debatte.

In diesem Sinne auch Mayer, DVBl. 2004, 606, 613 f.; s. in diesem Kontext überdies bereits Everling, DRiZ 1993, 5, 11, der im Hinblick auf eine mögliche Stärkung der individuellen Verfahrensstellung durch eine kontradiktorische Ausgestaltung des Vorabentscheidungsverfahrens auf die Folge der Verlängerung der Verfahrensdauer hinweist. 2455 Ähnlich kritisch bereits Schmidt-Aßmann JZ 1994, 832, 838. 2456 Insoweit ebenfalls kritisch v. Danwitz, NJW 1993, 1108, 1113; ähnlich Bleckmann, in: FS Menger, S. 871, 873; s. ferner GA Jacobs, Schlussanträge zu EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501, Rn. 72 (Extramet Industrie/Rat); Röhl, ZaöRV 2000, 331, 348. 2457 Im Ansatz ebenso Gundel, VerwArch 2001, 81, 103, der jedoch sodann zum einen auf die „immerhin“ verbleibende Entlastungswirkung zugunsten des EuGH abstellt und zum anderen den Beschleunigungseffekt durch eine Direktklagemöglichkeit in Frage stellt. 2458 Insoweit a. A. Gundel, VerwArch 2001, 81, 101 f. 2454

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a) Effektuierung der Inzidentkontrolle nach Art. 241 EGV Zunächst ist hier zu erwägen, die Ausgestaltung und insbesondere die individuelle Zugänglichkeit des inzidenten Normenkontrollverfahrens nach Art. 241 EGV zu verbessern. Unter der Prämisse, den streng akzessorischen Charakter des Verfahrens beizubehalten, erscheinen die Spielräume hier jedoch äußerst begrenzt. Denn unbeschadet der Möglichkeit einer textlichen Klarstellung, dass das Zwischenverfahren gerade unter Außerachtlassung der Klagefrist des Art. 230 Abs. 5 EGV und demnach unabhängig von der Bestandskraft des hintergründigen Gegenstands zulässig sein soll, bedeutete jeder Versuch, das Verfahren von den Zulässigkeitsvoraussetzungen des Hauptverfahrens und der Entscheidungserheblichkeit der Rechtmäßigkeitsfrage loszulösen, die Aufgabe jener akzessorischen Verfahrensnatur und verwischte damit unweigerlich die systematischen Grenzen zur Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EGV. b) Veränderungen im Bereich prinzipalen Rechtsschutzes Es verbleiben unterdessen verschiedene Möglichkeiten der Systemeffektuierung im Zusammenhang mit dem direkten Zugang des Einzelnen zum EuGH nach Art. 230 EGV. aa) Modifikation der Klagezugangsanforderungen Denkbar ist hier zunächst, zur Lockerung der Anforderungen an die Individualklagebefugnis komplett auf die Voraussetzung der individuellen Betroffenheit zu verzichten2459 oder nur noch alternativ entweder eine unmittelbare oder eine individuelle Betroffenheit zu fordern2460. Um den gemeinsamen teleologischen Kern beider Merkmale zu erhalten, der im Ausschluss von unzulässigen, da allein im fremden oder allgemeinen Interesse erhobenen Klagen zu sehen ist, wäre dann aber bereits in die demgemäß attributsentkleidete Voraussetzung der Betroffenheit ein gewisses Subjektivitätsmerkmal hineinzulesen. Die Voraussetzung der Unmittelbarkeit vermag 2459 In diese Richtung etwa Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 54. Zu Unrecht meinen in diesem Zusammenhang indes Stüer/v. Arnim, DVBl. 2003, 245, 449, dass auch der Ansatz von GA Jacobs einen Verzicht auf das Merkmal der individuellen Betroffenheit beinhalte. 2460 So das Mitglied des Verfassungskonvents Meyer in seinem Beitrag, Einklagbarkeit der Charta-Grundrechte und Verbesserung des Individualrechtsschutzes, CONV 439/02, S. 2 f., der darüber hinaus vorgeschlagen hat, in das Konvolut der Charta einen Hinweis auf die Einklagbarkeit der Grundrechte nach Maßgabe des Art. 230 Abs. 4 EGV aufzunehmen.

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diese Funktion derweil nicht allein zu erfüllen, da hierüber in erster Linie Klagen gegen solche Handlungen aussortiert werden, die ihre Wirkungen erst durch eine Aktivierung im Einzelfall entfalten. Die Lösung riefe also notgedrungen wieder den EuGH auf den Plan, der abermals und trotz einer frischen Systemreform die einzelne Ausgestaltung des Gerichtszugangs zu leisten hätte. Schon aus Gründen der Systemklarheit vorzugswürdig erscheint daher, den Begriff „individuell“ entweder schlicht durch das Wort „selbst“ zu ersetzen oder eine Legaldefinition nach der oben beschriebenen Manier in die Norm einzufügen. Damit einhergehend kann es sich anbieten, in Adaption an die Rechtsprechung eine Verdeutlichung im Wortlaut der Norm dahingehend aufzunehmen, dass auch echte Verordnungen tauglicher Gegenstand eines Individualangriffs sein können, sofern sie den Kläger nur unmittelbar und nach sodann neuer Fassung gegenwärtig in seinen eigenen vom EGRecht gewährten Rechten oder Interessen beschweren. bb) Einrichtung einer Grundrechtsbeschwerde In Betracht kommt aber ebenso, einen gänzlich neuen Rechtsbehelf in den zentralen Verfahrenssystemkomplex aufzunehmen, mit welchem spezifisch hoheitliche Verletzungen der Gemeinschaftsgrundrechte gerügt werden können2461. Tauglicher Aufhänger einer solchen außerordentlichen Beschwerde wäre in jedem Fall das grundrechtsrelevante Verhalten der gemeinschaftlichen Einrichtungen. Begrenzte man das Feld der Verfahrensgegenstände hierauf, könnte der neue Rechtsbehelf etwa in Form eines weiteren Absatzes in die Norm des Art. 230 EGV aufgenommen werden2462. Da die Gemeinschaftsgrundrechte als unmittelbar anwendbares Recht indes auch in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen gelten, ist darüber hinaus zu erwägen, gleichermaßen mitgliedstaatliche Eingriffe in den gegenständlichen Anwendungsbereich einer entsprechenden Verfahrensart einzubeziehen2463. Ein solcher Rechtsbehelf ließe sich mit Blick auf die potentiell angriffstauglichen Verfahrensgegenstände sodann jedoch nur schwerlich in den Regelungskontext der Nichtigkeitsklage setzen und müsste demnach einen eigenen Regelungsstandort erhalten, so etwa in einem neuen Art. 230a EGV oder in syste2461 Dazu bereits ausführlich Reich, ZRP 2000, 375, 376 ff.; für die Einführung einer europäischen Grundrechtsbeschwerde ferner Altmaier, ZG 2001, 195, 206; Calliess, EuZW 2001, 261, 267; Engel, ZUM Sonderheft 2000, 975, 1006; Mombaur, DÖV 2001, 595, 596; Pernice, DVBl. 2000, 847, 858; Philippi, ZEuS 2000, 97, 126; Tappert, DRiZ 2000, 204, 207; Weber, DVBl. 2003, 220, 226 f. 2462 So insbesondere der Vorschlag von Reich, ZRP 2000, 375, 378. 2463 So i. Erg. Pernice, DVBl. 2000, 847, 858.

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matischer Nähe zu den Quellen der Gemeinschaftsgrundrechte und für den Fall des Inkrafttretens der Charta der Grundrechte in deren normativem Zusammenhang. Eine ihrer wesentlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen wäre freilich die Beschwerdebefugnis, die in Anlehnung an das deutsche Modell etwa eine unmittelbare und gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers in eigenen Grundrechten erfordern könnte. In weiterer Parallele sollte die Zuständigkeit zur Behandlung der Eingabe angesichts ihrer verfassungsspezifischen Dimension auch allein beim EuGH liegen2464, in dessen Bereich hierfür spezielle Spruchkammern eingerichtet werden könnten. Ob für die Grundrechtsbeschwerde mit Blick auf die vom BVerfG für das deutsche Verfassungsprozessrecht fortentwickelten Anforderungen auch eine Subsidiaritätsschranke dahingehend aufzustellen wäre, dass der Beschwerdezugang vom unbegründeten Scheitern einer Vorlageinitiative gegenüber den nationalen Gerichten und der Abwesenheit anderer erreichbarer Rechtsbehelfe abhinge2465, erscheint hingegen fraglich. Soweit hierdurch auch der Charakter des Rechtsbehelfs als außerordentlichem Auffangmittel gestärkt würde, hätte der Gerichtshof hier doch in jedem Einzelfall zunächst eine detaillierte Prüfung des Vorlageverhaltens und der Rechtsbehelfsmöglichkeiten im Lichte des jeweiligen nationalen Verfahrensrechts vorzunehmen, was ihn wiederum kompetenzfremd2466 in die Nähe eines Rechtsmittelgerichts gegenüber der nationalen Justiz rücken würde. Zudem entbehrte eine Verweisung des Rechtsschutzsuchenden auf den innerstaatlichen Rechtsweg insbesondere dann eines Sinnes, wenn das Angriffsziel der Beschwerde allein und unmittelbar ein gemeinschaftsrechtlicher Akt wäre. cc) Zwischenschaltung eines Annahmeverfahrens Im Zusammenhang mit einer Erweiterung des Direktklagezugangs, die zu einer spürbaren Zunahme der Verfahrenszahlen beim EuGH führen würde, ist fernerhin zu erwägen, die betreffende Sytemmodifikation im Interesse 2464 Ebenso Mayer, DVBl. 2004, 606, 614, der in diesem Zusammenhang die Schwierigkeiten bei der Zuständigkeitsverteilung zwischen EuG und EuGH sowie mit besonderem Blick auf die Art. 220 und 225 EGV das Erfordernis einer völligen Systemumgestaltung hervorhebt. 2465 Im Sinne einer solchen doppelten Subsidiarität Pernice, ColJEL 2004, 5, 43 f. und 48. 2466 So im Kontext zu Art. 230 Abs. 4 EGV ausdrücklich EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6719, Rn. 43 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). Der Zuständigkeitsproblematik ließe sich zwar durch eine entsprechende Kompetenzerweiterung, die sich möglicherweise bereits aus dem Sinn und Zweck einer entsprechenden Subsidiaritätsklausel ergeben könnte, begegnen, doch läge hierin ein erheblicher Bruch in der bisherigen Konzeption der justitiellen Aufgaben- und Zuständigkeitsverteilung zwischen den nationalen und den europäischen Gerichten.

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einer gegensteuernden Gerichtsentlastung mit der Schaffung eines vorgeschalteten Klageannahmeverfahrens zu flankieren, das der effektiven Aussonderung offensichtlich erfolgloser Verfahren dienen würde. In Anlehnung an die Evidenzkontrolle, die das BVerfG nach Art. 93a BVerfGG der Prüfung einer Bundesverfassungsbeschwerde voranzustellen hat2467, könnte dabei auch für die zentrale Gemeinschaftsgerichtsbarkeit ein prozessualer Filter eingerichtet werden, der die Ablehnung offensichtlich unzulässiger oder unbegründeter, mithin evident aussichtsloser Anträge ohne eine vollumfängliche Sachprüfung der Grundrechtsverletzung zuließe2468. Je nach Mittelpunkt und Reichweite seines Anwendungsbereichs könnte das Verfahren normativ ebenfalls in Art. 230 EGV oder in die parallel einzurichtende Grundrechtsbeschwerde eingebettet werden. Denkbar und verfahrensökonomisch sinnvoll erscheint aber auch, die Aufnahme der verfahrenskonstituierenden Regelung in die Satzung des EuGH und des EuG aufzunehmen. Um den aus einer solchen Systemänderung erwachsenden Kapazitätsgewinn nicht sogleich wieder einzubüßen, sollte das Verfahren außerdem so ausgestaltet werden, dass der die Annahme einer Beschwerde ablehnende Beschluss in Form eines unangreifbaren Justizakts ergehen könnte. Im Dienste des Grundsatzes der Rechtssicherheit, der nicht zuletzt die Vorhersehbarkeit von im Gemeinschaftsrecht wurzelnder rechtserheblicher Situationen und Beziehungen absichert2469, empfiehlt es sich im Übrigen jedoch nicht, weitergehende und allzu strenge Anforderungen an die Annahmefähigkeit und die damit korrelierende Annahmepflicht des Gerichtshofs zu stellen2470. Insbesondere dürfte die Handhabung eines solchen Vorverfahrens nicht in das freie Gerichtsermessen gelegt werden, um nicht den grundsätzlichen Charakter der Direktklage als das zentrale Mittel individuellen primären EG-Rechtsschutzes anzutasten2471. 2467 Zum Charakter des Annahmeverfahrens als Evidenzkontrolle schon Klein, NJW 1993, 2073, 2074. 2468 Schon aktuell ist eine solche Gerichtspraxis nicht ganz ungeläufig [vgl. etwa jüngst EuG, Rs. T-228/02, Slg. 2006, II-4665, Rn. 45 (Organisation des Modjahedines du peuple d’Iran/Rat) m. w. N.]. 2469 Vgl. EuGH, Rs. C-63/93, Slg. 1996, I-569, Rn. 20 (Duff u. a.); EuG, verb. Rsn. T-22/02 u. T-23/02, Slg. 2005, II-4065, Rn. 80 (Sumitomo Chemical/Kommission). 2470 s. insoweit zu den recht flexiblen Voraussetzungen des Annahmeverfahrens nach § 93 a BVerfGG Klein, a. a. O. Die Rechtsprechung des BVerfG zeigt aber punktuell auch restriktivere Züge auf, soweit sie für die Beschwerdeannahme mitunter eine existentielle Betroffenheit fordert (vgl. dazu etwa BVerfGE 90, 22, 25; BVerfGE 96, 245, 248). 2471 Ähnlich zum Annahmeverfahren zur deutschen Verfassungsbeschwerde BVerfG, NJW 1997, 2229; zur Verfassungsmäßigkeit des § 93 a BVerfGG s. BVerfGE 90, 22, 24 ff.; BVerfGE 91, 186, 200; BVerfGE 93, 381, 385.

C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung

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Die Verkürzung des rechtlichen Gehörs, die der Kläger im Einzelfall durch die Vorbehandlung seiner Eingabe in einer nur summarischen Gerichtskontrolle zu erdulden hätte, wäre durch die Effizienzsteigerung des Systems und die daraus resultierenden positiven Auswirkungen auf die Prüfungsintensität und die Bearbeitungsdauer erfolgsträchtiger Anträge gerechtfertigt. Die Gefahr, dass der vollumfängliche Gerichtsschutz durch die Vorschaltung eines Annahmeverfahrens ausnahmsweise zu Unrecht verweigert würde, kann dessen Einführung ebenfalls nicht ernsthaft entgegen gehalten werden. Denn die Möglichkeit des Fehlgebrauchs eines prozessualen Mittels durch die Judikative ist a priori einer jeden Verfahrensart inhärent und per se keine spezifische Schwäche der Evidenzkontrolle, mag das Risiko einer Fehlleistung hier aufgrund der reduzierten Prüfungsdichte auch etwas höher liegen. Insoweit hätten die punktuell nachteiligen Aspekte des Vorverfahrens hinter dem allgemeinen Interesse an einem effizienten Einsatz und einer Bündelung der justitiellen Kapazitäten und der daraus folgenden generellen Effektuierung des Rechtsschutzsystems zurückzustehen. dd) Modifikation der Klagefrist Im normativen Regelungskomplex der Direktklage kann schließlich noch eine inhaltliche Änderung des Art. 230 Abs. 5 EGV oder der Art. 80 ff. EuGH-VerfO dahingehend zu erwägen sein, die Nichtigkeitsklagefrist in Bezug auf jene Individualkläger, die nach Maßgabe des Art. 230 Abs. 4 EGV sogleich Klage vor den Gemeinschaftsgerichten hätten erheben dürfen, ihr Begehren in Ermangelung hinreichender Rechtswegklarheit aber zunächst erfolglos vor den nationalen Gerichten verfolgt haben, für die Zeit des dezentralen Gerichtsverfahrens einer Hemmung zu unterwerfen2472 oder in Entsprechung zu Art. 46 EuGH-Satzung den Fristlauf zu unterbrechen und mit Beendigung des dezentralen Verfahrens von Neuem beginnen zu lassen. Dabei dürfte grundsätzlich mehr für eine bloße Suspendierung des Fristlaufs sprechen, da es nicht vom Vorlageverhalten des nationalen Gerichts abhängen sollte, ob die Frage der Rechtmäßigkeit des Rechtsakts vor Eintritt der Bestandskraft bei den zentralen Gemeinschaftsgerichten anhängig gemacht wird. Die Situation ist demnach eher in das Lager der typischen Fristhemmungsgründe einzuordnen, bei denen der Einzelne aus Gründen interimärer Unmöglichkeit oder Unzumutbarkeit von der Durchsetzung seiner Rechte absieht, während die dem Einzelnen zurechenbare Zeitspanne vor der erstmaligen Verfahrenseinleitung auch weiterhin zu seinen Lasten geht. 2472 Dahingehend, indes wohl bereits de lege lata Calliess, NJW 2002, 3577, 3582, unter Bezugnahme auf Nettesheim, JZ 2002, 928, 934.

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Zugunsten einer derartigen Änderung der Nichtigkeitsklagefrist fällt a priori abermals ins Gewicht, dass die vorgezogene Beschreitung des dezentralen Zweiges insbesondere im Falle einer parallelen Rechtswegeröffnung mit Blick auf einzelnen Risikosphären nicht zum Nachteil des Klägers gereichen darf. Jedoch überwiegen letztlich auch hier die schon anlässlich der Änderungsmöglichkeiten de lege lata vorgebrachten Bedenken, die in erster Linie in der substantiellen Gefährdung der Kohärenz des sekundären Gemeinschaftsrechts und dem ungewissen Eintritt der Rechtssicherheit begründet liegen2473.

III. Gesamtbewertung Unterzieht man die einzelnen Optionen zur Verbesserung des Systems des primären Rechtsschutzes einer Gesamtbetrachtung, sind nach dem bereits Gesagten zunächst die denkbaren Änderungen im Kontext zur Nichtigkeitsklagefrist weder de lege lata noch de lege ferenda angezeigt. Insbesondere wären solche schlechthin unzureichend, die beschriebenen Lücken zu schließen und dem Rechtsschutz auch in temporärer Hinsicht Wirksamkeit zu verleihen. Im Zuge der Fixierung der Grundtendenz für oder gegen eine zentrale oder dezentrale Lösungsvariante hat sich zudem bereits deutlich abgezeichnet, dass ein wirklich effektives System nicht umhin kommen kann, den direkten Zugang des Einzelnen zum Gerichtshof künftig in einem weiter gefassten Spektrum von Fällen zu ebnen. Die Einwände, die gegen diesen Weg einer Rechtsschutzerweiterung vorgebracht werden, vermögen mit Blick auf all jene Systeminsuffizienzen, denen nicht oder zumindest nicht ausschließlich auf der dezentralen Ebene begegnet werden kann, letztlich nicht zu überzeugen. Soweit vornehmlich Gundel im Grunde berechtigte Bedenken gegen die Eignung des Rechts auf Rechtsschutz für die konkrete Eröffnung des zentralen Rechtsschutzweges vorbringt2474, berücksichtigt er unterdessen nicht genügend, dass das Rechtsschutzargument insoweit nur leitendes Motiv für die vorzunehmenden Systemänderungen ist, ohne gleichsam als Gerichtszugangskriterium zu fungieren. Der weitere Einwand, dass Grundrechte für die Begründung einer individuellen Betroffenheit untauglich seien, da hierüber insbesondere die Filterfunktion des Zulässigkeitsmerkmals und somit die Funktionsfähigkeit der Gemeinschaftsgerichte in Frage gestellt würde2475, kann angesichts des Umstands, dass den Kläger außerdem die Last der Darlegung einer unmittelbaren und hinreichend er2473 2474 2475

s. schon unter I. 3. s. Gundel, VerwArch 2001, 81, 94 ff. Gundel, a. a. O., 96 f.

C. Wege einer effektiven Rechtsschutzgewährleistung

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heblichen Beeinträchtigung seiner einschlägigen Grundrechte träfe und das Argument der judikativen Arbeitsfähigkeit allein für eine Rechtsschutzverweigerung nicht zu tragen vermag, ebenfalls nicht fruchten. Im Übrigen sähe sich die gegen eine zentrale Lösung angeführte Gefahr der Präklusion dezentraler Rechtsschutzbehelfe2476 durch eine eindeutige Klagezugangssystematik nicht vergrößert, sondern durch ein wünschenswertes Mehr an Rechtswegklarheit im Gegenteil die derzeit bestehende Gefahr des Eintritts der Bestandskraft des EG-Rechtsakts verringert. Einem Ausbau der zentralen Direktklagemöglichkeiten kann in dieser Hinsicht nachgerade umgekehrt vorgehalten werden, die Gefahr zu begründen, den rechtzeitigen Angriff auch des nationalen Vollziehungsakts vor den mitgliedstaatlichen Gerichten zu versäumen, bevor dieser seinerseits aus innerstaatlicher Sicht in Bestandskraft erwüchse und damit unanfechtbar würde. Diese Gefahr erscheint indes gegenüber den derzeit bestehenden Unsicherheiten, die das System dem Einzelnen beschert, eher vernachlässigungswürdig. Denn in Anwesenheit einer nationalen Vollziehungsmaßnahme wäre der normative EG-Rechtsakt auch weiterhin nach dem derzeitigen Rechtsschutzschema und folglich vorrangig inzident anzugreifen. Eine Präklusion der Vorlagemöglichkeit nach Art. 234 EGV dürfte hier nicht drohen, da der Einzelne den vollziehungsbedürftigen Akt schon mangels unmittelbarer Betroffenheit nicht im Sinne der Rechtsprechung des EuGH zweifellos mit der Nichtigkeitsklage anfechten könnte. Sollten fernerhin einmal ausnahmsweise beide Rechtswege simultan zulässig sein, käme übrigens auch eine entsprechende Anwendung der Kühne & Heitz-Rechtsprechung des Gerichtshofs2477 zur gemeinschaftsrechtlichen Pflicht zur Aufhebung einer nach nationalem Verfahrensrecht unanfechtbar gewordenen Verwaltungsentscheidung2478 in Betracht. Gleichviel einem dezentralistischen Lösungsansatz also zugute zu halten ist, dass dieser den Schwerpunkt der Rechtsschutzgewähr mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip bei den mitgliedstaatlichen Gerichten ansiedelt, ist ein lückenloser und auch in zeitlicher Dimension effektiver Rechtsschutz im Hinblick auf den Umfang und die Art der aufgezeigten Systemschwächen letztlich nur über eine Reform der zentralen Verfahrensebene zu erreichen. Hierauf aufbauend erweist sich in erster Linie die Generierung eines Rechtsschutzmittels, das die effektive Durchsetzung der Grundrechte gewährleistet, als notwendig. Ist die EU nämlich derzeit die einzige internationale Einrichtung, die gegen ihre eigenen Rechtsakte überhaupt GrundGundel, a. a. O., 97 f. s. EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837, Rn. 24 ff. (Kühne & Heitz); s. in diesem Zusammenhang auch aus jüngerer Zeit EuGH, verb. Rsn. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559, Rn. 51 ff. (i-21 und Arcor/Deutschland). 2478 s. dazu näher Potacs, EuR 2004, 595 ff., insb. 602. 2476 2477

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rechtsschutz gewähren möchte2479, so sollte sie die Ernsthaftigkeit dieser Bekundung im Interesse der eigenen Glaubwürdigkeit auch durch die Vorsehung der dafür erforderlichen Prozesswerkzeuge untermauern. Hieraus folgt zugleich, dass es bei einem solchen Rechtsbehelf primär um den Grundrechtsschutz gegen Maßnahmen der EG-Einrichtungen gehen muss, während eine Einbeziehung der Akte mitgliedstaatlicher Stellen demgegenüber nicht zwingend geboten erscheint, zumal insoweit – in gewissem Umfang – auch der staatliche Grundrechtsschutz greifen kann. Zwar hätte die Nichtvorlagebeschwerde im Vergleich zur Grundrechtsbeschwerde den Vorteil, nicht auf die Geltendmachung einer spezifischen Grundrechtsverletzung beschränkt zu sein, da sich ihre Zulässigkeit mit der substantiierten Behauptung begnügen könnte, die Vorlagepflicht zum EuGH sei unter Missachtung der Relevanz des Europarechts – einschließlich der Grundrechte – verkannt worden2480. Nach dem bereits Gesagten dürfte jedoch gleichwohl demgegenüber die Schaffung eines zentralen Rechtsbehelfs mit ähnlich weitreichendem Anwendungsspektrum vorzuziehen sein, zumal im Zuge der Einführung einer Nichtvorlagebeschwerde doch näher zu klären bliebe, ob der Einzelne für ihre erfolgreiche Einlegung tatsächlich allein auf den individualschützenden Charakter der gerichtlichen Vorlagepflicht verweisen könnte oder aber darüber hinaus die Entscheidungserheblichkeit einer weiteren, ihn schützenden Norm des Gemeinschaftsrechts aufzeigen müsste. Ein direkter Rechtsbehelf zum EuGH hätte fernerhin den Vorteil, die Zulässigkeitsprüfung von der Frage frei halten zu können, ob Anstrengungen zur Initiierung einer Vorlage auf der dezentralen Ebene gescheitert bzw. überhaupt erreichbar sind. Hinzu tritt schließlich, dass eine obligatorische Vorschaltung dezentraler Rechtsschutzbemühungen ersichtlich keine Beschleunigung im Bereich der Gewährung primären Rechtsschutzes mit sich brächte, sondern diese um eine neue Verfahrensstufe erweitern und damit temporär noch strecken würde2481. Da eine Rechtsgemeinschaft die Wirksamkeit des Rechtsschutzsystems nicht auf solche Fälle beschränken sollte, in denen das Fundament subjektiver Schutzpositionen und mithin schon die grundrechtliche Sphäre berührt ist, bietet es sich unterdessen für eine umfassende Gewährung effektiven Individualrechtsschutzes an, über die Grundrechte hinaus alle Rechte der Hierauf zu Recht hinweisend Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Schuppert/Pernice/Haltern, Europawissenschaft, S. 429, 463. 2480 Einer Nichtvorlagebeschwerde wohl maßgeblich vor diesem Hintergrund das Wort sprechend Philippi, Die Charta der Grundrechte der EU, S. 54. 2481 Dies berücksichtigen auch jene Vorstöße zur Einführung einer Direktbeschwerde nicht hinreichend, die (wie etwa Pernice, ColJEL 2004, 5, 43 f. und. 48) den vorherigen Misserfolg auf der dezentralen Ebene als weitere Zugangsvoraussetzung verlangen. 2479

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Gemeinschaftsrechtsordnung, also insbesondere die Grundfreiheiten, aber etwa auch sekundärrechtliche Rechte in den Anwendungsbereich des neuen Rechtsbehelfs einzubeziehen2482. Gegenüber einer separat geregelten Grundrechtsbeschwerde hätte eine solche Systemmodifikation, die, wie dargestellt, im Normbereich des Art. 230 Abs. 4 EGV umgesetzt werden könnte, den durchgreifenden Vorteil, Individualrechtsschutz aus einem Guss zu gewähren, wobei das dabei entstehende, einheitlich individualschützende Prozesswerkzeug seinem Wesen nach weiterhin ein multifunktionaler ordentlicher Rechtsbehelf wäre und somit deutlich näher am existierenden System bliebe als eine außerordentliche Grundrechtsbeschwerdemöglichkeit. Auf diesem Wege könnte im Übrigen das kumulativ visierte Annahmeverfahren dem primären Hauptindividualrechtsschutz zur Kompensation der zu erwartenden Mehrbelastung des Gerichtshofs als einheitliche Evidenzkontrolle vorgeschaltet werden, um offensichtlich unzulässige oder unbegründete Klagen a limine auszusieben. Der Gesamtnutzen einer so beschaffenen Systemeffektuierung wäre beträchtlich. Aussichtsreiche Eingaben des Einzelnen zur Klärung ihn betreffender gemeinschaftsrechtlicher Normgültigkeiten könnten bei gleichzeitiger Erhöhung der Rechtswegklarheit und -sicherheit einer rascheren und effizienteren Erledigung durch die sachnahen Richter am EuGH zugeführt werden. Nicht nur wäre der Einzelne damit vor den Frustrationen gefeit, die er de lege lata im Laufe eines jahrelangen und mehrstufigen Verfahrensweges, in dem der Ausgangskläger in der entscheidenden Verfahrensphase nicht einmal echte Beteiligtenrechte innehat und sein eigentliches Anliegen im Mantel abstrakter Rechtsfragen behandelt sieht, zu erleiden droht. Auch dürfte das Vertrauen in die sachliche Richtigkeit der Entscheidung des EuGH, mag diese auch schon im Annahmeverfahren ablehnend ausfallen, ungleich höher sein als jenes in die Entscheidung eines mitgliedstaatlichen Gerichts, kein Vorabentscheidungsverfahren einzuleiten. Mit den hier vorgeschlagenen Veränderungen ginge demzufolge ein spürbarer Gewinn an Effektivität und Vertrauen der Unionsbürger in das Individualrechtsschutzsystem in toto einher. Da es für all jene Fälle, in denen den Einzelnen die Belastungen eines normativen EG-Rechtsakts erst durch den nationalen Vollzug treffen, bei der dezentralen Variante des Vorabentscheidungsverfahrens verbliebe, erführe das System auch keine grundlegende Umwälzung, sondern würde unter weitgehender Beibehaltung und möglichster Schonung seiner Grundstrukturen nur um eine punktuelle, im Lichte des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz jedoch besonders wichtige Facette ergänzt. 2482 Ähnlich die Arbeitsgruppe II in ihrem Schlussbericht, CONV 354/02, S. 16, die im Hinblick auf Art. 230 Abs. 4 EGV darauf hinweist, dass nicht allein der wirksame Schutz der Grundrechte, sondern vielmehr der Schutz aller subjektiven Rechte gewährleistet sein müsse.

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D. Ausblick: Die Änderungen des Systems individuellen Rechtsschutzes gegen normative Unionsrechtsakte im Verfassungsvertrag In einem letzten Abschnitt sollen die noch im Verfassungsvertrag vorgesehenen Veränderungen des Systems des zentralen primären Rechtsschutzes dargestellt und einer Effektivitätsbetrachtung zugeführt werden2483.

I. Die wesentlichen Änderungen des Systems primären Rechtsschutzes Es liegt auf der Hand, dass auch der unter einem reformierten Rechtsregime institutionell wie strukturell nur leicht veränderte EuGH2484 im Mittelpunkt der mit der Wahrung des Rechts befassten Organe stehen wird2485. Obgleich seine Zuständigkeiten durch im Reformwerk angelegte, zumindest formale Überwindung der unionalen Säulenstruktur2486 im Grunde auf das 2483 Die folgenden Ausführungen betreffen die Änderungen des Systems primären Rechtsschutzes auf der zentralen Rechtsschutzebene, wie sie im Verfassungsvertrag vorgesehen waren und wie sie teilweise weitgehend unverändert Eingang in den Vertrag von Lissabon gefunden haben. Es liegt jedoch auf der Hand, dass die Rechtsschutzsituation unter dem Vertrag von Lissabon mit Blick auf die teils doch erheblichen Unterschiede, insbesondere der anderen Rechtsaktsnomenklatur, eine andere sein wird. 2484 Der Gerichtshofs wird zur Verdeutlichung der doppelgliedrigen Ausformung der Gerichtsbarkeit die Bezeichnung „Gerichtshof der Europäischen Union“ mit den instantiellen Unterbezeichnungen „Gerichtshof“ und „Gericht“ tragen (vgl. Art. I-29 Abs. 1 S. 2 EV/Art. 9f Abs. 1 S. 1 EUV in spe). Die sachliche Zuständigkeitsverteilung zwischen beiden wird zunächst nicht berührt. Insbesondere ist bislang weiterhin keine Zuständigkeit des Gerichts im Bereich des Vorabentscheidungsverfahrens vorgesehen, dies unbeschadet der fortgeltenden Möglichkeit dazu. Dem Gerichtshof der EU können überdies nach Art. III-359 Abs. 1 EV/Art. 225a Abs. 1 EUV in spe Fachgerichte beigeordnet werden, denen in besonderen Sachgebieten für bestimmte Klagen die erstinstanzliche Zuständigkeit zukäme. Über einen nach Art. III-357 EV/ Art. 224a EUV in spe einzurichtenden Ausschuss, der vor der Entscheidung der mitgliedstaatlichen Regierungen zur Ernennung der Richter anzuhören wäre, erhielte die gerichtliche Besetzung zudem eine öffentlichere Dimension. s. speziell zum Gerichtshof der EU und der Einbindung der nationalen Parlamente Wessels, integration 2004, 161, 172. 2485 Dazu näher Mayer, AöR 2004, 411 ff., insb. 431 ff. 2486 Unter Berücksichtigung der weiterhin bestehenden Differenzen zwischen den einzelnen Politikbereichen wirkt die duale Prägung der Union durch Supranationalität und Intergouvernementalität indes teilweise fort, dies sowohl im Bereich der GASP als auch im Bereich des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (zur – partiellen – Auflösung der EU-Säulenstruktur näher Oppermann, DVBl. 2003, 1234, 1243 f.).

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gesamte Recht der Union erstreckt würden2487, verbliebe es im Hinblick auf die Regelungen in Art. III-376 Abs. 1 EV/Art. 240a Abs. 1 EUV in spe für den Bereich der GASP und in Art. III-377 EV/Art. 240b EUV in spe für den Bereich der PJZS weiterhin bei einigen Einschränkungen der europäischen Jurisdiktionsgewalt, auch wenn sie zugleich im Bereich Ersterer ausweislich des Art. III-376 Abs. 2 EV/Art. 240a Abs. 2 EUV in spe eine deutliche Ausweitung in Bezug auf individualbelastende Maßnahmen des Rates erführe2488. Die im Zuge der Reform eintretenden Änderungen des Verfahrenssystems ergeben sich im Wesentlichen aus der Kumulation von auf engste ineinander greifender Modifikationen der Rechtsaktsnomenklatur einerseits und der Gerichtszugangsregelung andererseits2489. 1. Neue Rechtsaktssystematik Aus der einen Richtung setzt zunächst das in den Art. I-33 ff. EV völlig neu gestaltete Rechtsaktssystem eine entscheidende Markierung im Geflecht der Rechtsschutzneuerungen. a) Komparative Deskription der Neuerungen Mit seiner binären Unterteilung der unionalen EU-Handlungen in Europäische Gesetze und Europäische Rahmengesetze als Gesetzgebungsakte sowie in Europäische Verordnungen, Europäische Beschlüsse, Empfehlungen und Stellungnahmen als nichtlegislatorische Akte ist die neue Konzeption erkennbar von den beiden teils konfligierenden Motiven geprägt, die Handlungsformensystematik unter Überwindung der auf der Basis des aktuellen Primärrechts bestehenden Systemdualität von EGV und EUV zu vereinfachen und sie zugleich mit einem höheren Spezialisierungsgrad samt Differenzierung der Handlungsinstrumente in solche mit und ohne Legislativcharakter zu versehen2490. 2487 Vgl. Jacobs, CMLR 2004, 303, 314; Mayer, AöR, 411, 425; Obwexer, Europa Blätter 2004, 4, 9. 2488 Dazu Läufer integration 2003, 510, 513; s. insoweit auch den ergänzenden Bericht des Arbeitskreises „Gerichtshof“ zur Frage der gerichtlichen Kontrolle über die GASP (CONV 689/1/03 REV 1) und die einschlägigen Kommentare des Präsidiums (CONV 734/03, S. 27 f.). 2489 Unter dem Verfassungsvertrag wie auch unter dem Vertrag von Lissabon soll das Primärrecht die gegenwärtigen Ausprägungen des Vorabentscheidungsverfahrens und des inzidenten Normenkontrollverfahrens im Wesentlichen beibehalten. Gleiches gilt für die Individualuntätigkeitsklage, die nur eine geringfügige Erweiterung des möglichen Klagegegnerkreises erfährt. Auch die Schadensersatzklage gegen die Union soll – abgesehen von der Sonderregelung zur EZB (dazu Art. 288 Abs. 3 AEUV) – unverändert bleiben (s. dazu schon CONV 734/03, S. 25).

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Prima facie weisen die in Art. I-33 Abs. 1 EV genannten Handlungsformen dabei durchaus einige definitorische Entsprechungen zu den in Art. 249 EGV und in den Titeln V und VI des EUV geregelten Handlungen auf. So entspricht etwa die Geltungsbeschreibung des Europäischen Gesetzes abschnittsweise nahezu wörtlich den Vorgaben des Art. 249 Abs. 2 EGV für Verordnungen, während sich jene des Europäischen Rahmengesetzes im Wesentlichen mit der Regelung der Richtlinien nach Art. 249 Abs. 3 EGV deckt2491. Im Übrigen sieht die Verfassung für Rechtsakte ohne Rechtsverbindlichkeit auch weiterhin die Termini der Empfehlung und Stellungnahme vor. Soweit der Europäische Beschluss das zentrale Handlungsmittel im Bereich der GASP darstellen würde, soll er die dort gegenwärtig vorgesehenen Handlungsformen der Gemeinsamen Strategie2492, der Gemeinsamen Aktion2493 und des Gemeinsamen Standpunkts2494 in einer Handlungsform bündeln. Unbeschadet dieser Parallelen tun sich bei näherer Betrachtung aber ganz erhebliche Systemunterschiede auf, was mit Blick auf die genannten intentionellen Hintergründe der Reform a priori auch nicht sonderlich erstaunen kann. So wird die ausdrücklich angelegte Dichotomie von gesetzgeberischen und nichtgesetzgeberischen Handlungen denklogisch auch von divergierenden Regelungen der formellen Modalitäten begleitet. Während etwa Gesetzgebungsakte in der Regel nach Art. I-34 Abs. 1 EV auf Vorschlag der Kommission von Rat2495 und Europäischem Parlament gemeinsam erlassen werden2496, liegt die Vornahme nichtlegislatorischer Handlungen nach den Art. I-35 ff. EV in den Händen ganz unterschiedlicher Akteure. So ermöglicht zunächst Art. I-35 EV dem Europäischen Rat2497 den Einsatz 2490 Die Konzeption im Verfassungsvertrag geht wesentlich auf den sog. Bourlanges-Bericht des Ausschusses des Europäischen Parlaments für konstitutionelle Fragen über die Typologie der Rechtsakte und die Hierarchie der Normen in der Europäischen Union vom 17. Dezember 2002 (A5-0425/2002) zurück. s. ausführlicher zu der neuen Systematik v. Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV Sonderdruck 2002, 79 ff. 2491 s. zur entsprechenden Intention auch den Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“, CONV 424/02, S. 6. 2492 Art. 13 Abs. 2 EUV. 2493 Art. 14 EUV. 2494 Art. 15 EUV. 2495 Gemeint ist der in Art. I-19 Abs. 1 EV erwähnte Ministerrat, dessen Zusammensetzung gem. Art. I-24 EV je nach Aktionsbezugspunkt variiert. 2496 Abweichungen von dieser Regel sind aber sowohl bezüglich des entscheidungsbefugten Organs (vgl. Art. I-34 Abs. 2 EV), als auch in Bezug auf die Gesetzesinitiativberechtigung (vgl. Art. I-34 Abs. 3 EV) möglich. 2497 In Abweichung zu dem in Art. I-19 Abs. 2 EV genannten Rat setzt sich der Europäische Rat nach Art. I-21 Abs. 2 EV aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten sowie dem Präsidenten des Europäischen Rats und dem Präsidenten

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des Europäischen Beschlusses und dem Rat2498 und der Kommission darüber hinaus den Erlass von Verordnungen. Eine Novation ist diesem Kontext auch die in Art. I-36 EV vorgesehene Möglichkeit, die Kommission im Wege eines Gesetzes oder Rahmengesetzes zur Ergänzung oder Änderung des betreffenden Legislativakts durch Erlass einer delegierten Verordnung zu ermächtigen. Des Weiteren kann der Kommission – und ausnahmsweise auch dem Rat – nach Art. I-37 Abs. 2 EV bei Bedarf die Befugnis zur einheitlichen Festlegung der die Durchführung eines verbindlichen Rechtsakts betreffenden Regelungen eingeräumt werden. b) Wesentliche Schwachpunkte der neuen Systematisierung Das in der Verfassung vorgesehene System der unionalen Sekundärrechtsquellen zeichnet sich damit ersichtlich durch die spürbare Verringerung der Zahl der möglichen Handlungsformen, die Einrichtung einer neuen Handlungsdichotomie und die daraus folgende Hierarchisierung der Sekundärrechtsquellen aus. Die Kategorisierung in Akte mit oder ohne Gesetzescharakter erfolgt dabei allein nach dem formalen Kriterium, ob sich unter den Protagonisten des jeweiligen Rechtsaktserlasses auch das Europäische Parlament befindet oder nicht2499. Gleichviel die Verfassung insbesondere in ihrem Teil III die jeweiligen Kompetenzen gegenüber dem status quo weitaus enger mit den jeweils zu wählenden Handlungsformen verknüpft2500, erscheint zweifelhaft, ob der neue Systematisierungsansatz tatsächlich geeignet ist, mehr Transparenz und Sicherheit bei der Bestimmung der Natur und der Wirkungen eines Rechtsakts zu schaffen. Bei näherer Betrachtung entbehrt das System nämlich insbesondere einer trennscharfen Kategorisierung nach Handlungssubjekten, Rechtsaktsformen oder Rechtsaktswirkungen.

der Kommission zusammen. Er hat ausweislich des Art. I-21 Abs. 1 EV vorwiegend direktionistische Funktion, hingegen keinerlei legislative Befugnisse. 2498 Hier wiederum in seiner Form nach Art. I-19 Abs. 1 EV. 2499 Die Umsetzung entspricht damit dem Vorschlag von v. Bogdandy/Bast/ Arndt, ZaöRV Sonderdruck 2002, 79, 154 ff.; vgl. zu der kontrovers geführten Diskussion, ob der Gesetzgebungscharakter eines Rechtsakts nach seinem Urheber, Entstehungsverfahren oder Inhalt beurteilt werden soll, einerseits den Beitrag von Lenaerts im Arbeitsdokument 7 der Gruppe IX „Vereinfachung“ (WG IX – WD 7, S. 2 ff.) und andererseits den Beitrag von Petite im Arbeitsdokument 8 der gleichen Arbeitsgruppe (WG IX – WD 8, S. 7 ff.); vgl. zum Ganzen im Übrigen den Schlussbericht der Gruppe IX „Vereinfachung“, CONV 424/02, S. 8. 2500 s. exemplarisch Art. III-123 EV, Art. III-124 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 EV, Art. III-125 Abs. 1 EV et cetera.

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aa) Begrenzte Aussagekraft des Gesetzesbegriffs Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass bereits das Leitmotiv der Differenzierung nach Rechtsakten, deren Verabschiedung im Wege des Mitentscheidungsverfahrens nach Art. III-396 EV wesentlich vom Willen des Parlaments abhängt, und den anderen Handlungen, die ohne seine Mitwirkung zustande kommen, keine konsequente Umsetzung erfahren hat, soweit Gesetze im Sinne des Art. I-34 EV nicht immer gemeinsam von Rat und Parlament, sondern ausweislich des Art. I-34 Abs. 2 EV in bestimmten Fällen auch allein vom Rat erlassen werden können. Gegebenenfalls könnte dem so erlassenen Akt der mit seiner Bezeichnung einhergehende Schein demokratischer Legitimation und Dignität folglich zu Unrecht anhaften2501. bb) Doppelfunktionale Stellung des Rats Differenzierungsunschärfen enthält das System überdies, soweit der Rat mal nach Art. I-34 EV als Schöpfer eines Gesetzgebungsakts und mal nach Art. I-35 Abs. 2 EV als Urheber einer Verordnung oder eines Beschlusses fungieren kann und damit im Bunde der möglichen Rechtsaktsschöpfer eine Doppelstellung einnimmt. Da das Handlungsinstrument der Verordnung somit nicht den anderen, nichtlegislativen Protagonisten vorbehalten ist, bleibt ihr Urheber den jeweils Betroffenen bis zu einer genaueren Recherche der Hintergründe des betreffenden Rechtsakts weitgehend verborgen. cc) Wirkungskongruenzen Besondere Unwägbarkeiten bestehen auch hinsichtlich der Wirkungen der unterschiedlichen Handlungen. So erlaubt etwa Art. I-33 Abs. 1 EV, dass Verordnungen mal – gleich einem Gesetz – in allen Bestandteilen, mal – gleich einem Rahmengesetz – nur hinsichtlich des zu erreichenden Ergebnisses verbindlich sein können, was im Einzelfall erhebliche Abgrenzungsprobleme hervorzurufen vermag. Die gleiche Norm besagt ferner, dass Europäische Beschlüsse sowohl adressatenbezogen als auch adressatenneutral und folglich sodann mit genereller Wirkung ergehen können. Auch hier ist eine zuverlässige Vorhersehung der Wirkungsweise eines neu erlassenen Rechtsakts allein anhand seiner Form und seines Urhebers nicht möglich. Da die einzelnen Ermächtigungsgrundlagen zudem vielerorts den wahlweisen Erlass einer Verordnung oder eines Beschlusses erlau2501 Ähnlich, indes wohl in Bezug auf Art. III-330 Abs. 2 EV Mayer, DVBl. 2004, 606, 611.

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ben2502, läuft die Formendifferenzierung aufgrund der partiellen Wirkungsäquivalenz beider Instrumente schließlich vollends leer, wenn das zuständige Organ eine allgemeinverbindliche nichtlegislatorische Regelung treffen möchte. dd) Beibehaltung intergouvernementaler Züge im Bereich der GASP und der GSVP Konfusionspotential birgt in letzterem Zusammenhang vor allem der Europäische Beschluss, der ausweislich des Art. I-35 EV – unter anderem – vom Rat und vom Europäischen Rat genutzt werden kann. In diesem Belang erscheint das neue Bezeichnungssystem der Rechtsakte aus einem weiteren Grunde besonders wenig geglückt. Denn obgleich die Verfassung die aktuellen Verträge in einem Gesamtkonvolut aufnimmt und dabei teilweise neu strukturiert sowie modifiziert und hierbei der EU im Ganzen völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit beimisst, löst sie die unionale Säulenstruktur doch zunächst nur formell auf, während sie ausweislich der Leitlinienkompetenzen des Europäischen Rates und der weitgehenden Beibehaltung des Konsensualprinzips in den Bereichen der GASP2503 und der eigens geregelten GSVP2504 das intergouvernementale Wesen jener Bereiche aufrechterhält. Eine unter dem Regime der Verfassung vereinheitlichte Terminologie aller Handlungen unterschlägt die Fortgeltung dieser Differenzierung zwischen Akten mit supranationalem und intergouvernementalem Charakter samt der damit zusammenhängenden Unterschiede, die nicht zuletzt in dem Anwen2502 Folgende Vorschriften ermöglichen dies zugunsten des Rats: Art. III-130 Abs. 3 EV für Regelungen zum Binnenmarkt; Art. III-151 Abs. 5 EV zur Festsetzung gemeinsamer Zolltarife; Art. III-159 EV zum Erlass von Schutzmaßnahmen gegenüber Drittländern im Falle der Gefährdung des Funktionierens der Wirtschaftsund Währungsunion; Art. III-160 UAbs. 2 EV für Maßnahmen im Bereich der Terrorismusbekämpfung; Art. III-167 Abs. 3 lit. e) EV zur Festlegung binnenmarktskonformer Beihilfen; fernerhin Art. III-183 Abs. 2 EV; Art. III-184 EV; Art. III-187 Abs. 4 EV; Art. III-201 Abs. 2 EV; Art. III-230 Abs. 2 EV und Art. III-231 Abs. 3 EV. Entsprechendes ermöglichen folgende Vorschriften zugunsten der Kommission: Art. III-166 Abs. 3 EV für den Bereich wettbewerbsverzerrender Maßnahmen betreffend öffentliche oder öffentlich kontrollierte Unternehmen sowie Art. 232 UAbs. 2 EV zur Festlegung ausgleichender Abgaben gegen wettbewerbsbeeinträchtigende Marktordnungen. 2503 Nach Art. I-40 Abs. 2 EV bestimmt der Europäische Rat die strategischen Interessen der Union und legt die Ziele der GASP fest. Nach Abs. 6 der Vorschrift erfolgt der Rechtsaktserlass grundsätzlich einstimmig. 2504 Unbeschadet ihres Wesens als integraler Bestandteil der GASP erfährt die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Art. I-41 EV eine gesonderte Behandlung. Auch hier wird der Europäische Rat weiterhin auf Einstimmigkeitsbasis tätig (vgl. Art. I-41 Abs. 2 S. 1 und Abs. 4 EV).

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dungsvorrang und der Möglichkeit unmittelbarer Geltung des aus dem supranationalen Systembereich stammenden Handlungen begründet liegen. ee) Zwischenbewertung Unter Verfehlung des erstrebten Spezialisierungseffekts, der durchaus das Verantwortungsbewusstsein der unionalen Hoheitsgewalten hätte sensibilisieren können, charakterisiert sich auch das unter der Verfassung vorzufindende Rechtsaktssystem, ähnlich dem aktuellen primärrechtlichen Regime, durch eine bemerkenswerte Flexibilität und Unschärfe. Auch wenn eine gewisse Formenwahlfreiheit der Handlungsfähigkeit der beteiligten Organe und somit der Union im Ganzen dienen kann2505 und schon die Kombination der beiden Reformmotive der Vereinfachung und Spezialisierung angesichts ihres Friktionspotentials Einbußen in die eine oder andere Richtung bedeuten musste, hätte die Systemnovelle sich doch weitaus mehr an dem Bedürfnis des Rechtssubjekts nach wirklicher Transparenz und insbesondere nach vorhersehbaren Rechtsaktswirkungen orientieren können. Denn schließlich bildet gerade das Maß an Systemklarheit eine wichtige demokratiepolitische Komponente. Mag die Verfassung auch im Übrigen grundsätzlich zwischen dem per Gesetzgebungsakt zu regelnden Wesentlichen und dem durch andere Handlungen Regelbaren trennen2506 und in diesem Sinne um eine dichtere Legitimierung bemüht sein, wird die Idee der Differenzierung zwischen legislativen und nichtgesetzgeberischen Akten angesichts der beschriebenen Funktions- und Inhaltsüberschneidungen und -verschmelzungen in Bezug auf die Handlungsautoren und den Instrumentenpool teilweise ad absurdum geführt. Der Eindruck einer dem Gewaltenteilungsprinzip verpflichteten und dem Demokratieprinzip genügenden Rechtsgemeinschaft kann vor diesem Hintergrund trügerisch sein. 2. Neuregelung des Zugangs zum EuGH Den zweiten wesentlichen Faktor der Reform des Systems primären Individualrechtsschutzes bilden die an die neue Rechtsaktsnomenklatur angepassten und punktuell veränderten Möglichkeiten des Direktzugangs zum 2505 Vgl. v. Bogdandy/Bast/Arndt, ZaöRV Sonderdruck 2002, 79, 81; ferner Lenaerts/Desomer, ELR 2002, 377, 405, nach denen das Formenwahlermessen vor allem unter Effizienzgesichtspunkten zu betätigen sei. 2506 Die Differenzierung nach dem Wesentlichkeitsgehalt ist insbesondere in Art. I-36 Abs. 1 EV verankert, nach welchem der Kommission Änderungs- oder Ergänzungsbefugnisse nur für nicht wesentliche Gesetzesvorschriften delegiert werden dürfen.

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EuGH. Mit Art. III-365 Abs. 4 EV ist der auch innerhalb des Arbeitskreises über den Gerichtshof aufgetretene Streit, ob und inwieweit der gegenwärtige Art. 230 Abs. 4 EGV einer Inhaltsmodifizierung bedarf2507, vom Konventspräsidium im Sinne der Gruppe der gemäßigten Reformbefürworter entschieden worden2508. Nach dem Wortlaut der die Individualnichtigkeitsklage behandelnden Verfassungsvorschrift soll nämlich jede natürliche oder juristische Person2509 „gegen die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben“ können. Soweit es hier aufgrund des norminternen Verweises auf der Sachebene bei einem objektiven Prüfungsmaßstab bleibt, behält die Klageart ihr duales Gepräge als Mittel individuellen Rechtsschutzes und objektiver Legalitätskontrolle bei2510. Unbeschadet der Erweiterung des potentiellen Klagegegnerkreises2511 lehnt sich die neue Regelung damit ersichtlich eng an die bestehende Konzeption an. Bei näherer Betrachtung der Regelungsstruktur zeigt sich aber, dass die nach dem Verfassungsentwurf vorgesehene Klagesystemgestaltung, obgleich weiterhin nach der Stellung des Klägers und dem Anfechtungsgegenstand differenzierend, eine neue Rechtsschutztrias bereit hält. a) Adressatenklagen In der ersten Konstellation kann der Einzelne jedwede Handlung ungeachtet ihrer äußeren Form angreifen, sofern er nur deren Adressat ist2512. 2507 s. dazu den Schlussbericht des Arbeitskreises über den Gerichtshof, CONV 636/03, S. 6 ff. 2508 s. die Erläuterungen des Konventspräsidiums in seinem Artikel über den Gerichtshof und das Gericht, CONV 734/03, S. 20. Ausführlicher zur Entstehung und Entwicklung der neuen Regelung Mayer, DVBl. 2004, 606, 609 ff. 2509 An dem systemautonomen Verständnis des Begriffs der juristischen Person dürfte sich auch unter der Verfassung nichts ändern [vgl. zu jenem schon EuGH, Rs. 18/74, Slg. 1974, 933 (Syndicat général du personnel des organismes européens/Kommission) und EuGH, Rs. 175/73, Slg. 1974, 917 (Union Syndicale u. a./ Rat); deutlicher EuGH, Rs. 135/81, Slg. 1982, 3799, Rn. 10 (Groupement des agences des voyages/Kommission)]. 2510 Vgl. in Bezug auf die aktuelle Konzeption etwa Koenig/Pechstein/Sander, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 316. 2511 Nach Art. III-365 Abs. 1 EV überwacht der Gerichtshof auch die Handlungen des Europäischen Rates sowie der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, soweit jene Rechtswirkungen gegenüber Dritten entfalten (vgl. dazu Obwexer, Europa Blätter 2004, 4, 10). 2512 Vgl. Mayer, DVBl. 2004, 606, 610. Die im ersten Verfassungsentwurf enthaltene deutsche Fassung („an sie ergangene Handlungen“) war insoweit etwas missglückt und wurde an die partielle Charakterisierung des Europäischen Beschlusses

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Die Klagebefugnis des Einzelnen ergibt sich hier in Parallelität zur Adressatentheorie im deutschen Verwaltungsprozessrecht bereits aus seiner Adressatenstellung2513. Ob der Begriff der Handlung einen weiten Sinngehalt haben und neben Rechtsakten auch Realakte erfassen soll, ist aufgrund teils abweichender Bezeichnungen zwischen den nach Art. IV-448 Abs. 1 EV gleichermaßen verbindlichen Sprachfassungen2514 nicht ohne weiteres zu erschließen2515. Es spricht aber weitaus mehr für ein flexibles Begriffsverständnis, das auch belastende Realakte einbezieht, soweit diese eine rechtsrelevante Beschwer für ihren Adressaten mit sich bringen können. Normsystematisch streitet hierfür ganz entscheidend, dass die Vorschrift schon innerhalb des betreffenden Absatzes terminologisch zwischen Handlungen und Rechtsakten differenziert. Die norminterne Unterscheidung wäre nicht nur einem Rechtssatz untypisch antisemantisch, sondern überdies zur Gänze sinnentleert, wenn beide Begriffe in synonymer Verwendung in die Regelung eingeflossen sein sollten. Dies impliziert auch der weitere Blick auf Art. III-365 Abs. 1 EV2516 sowie auf die Entstehungsgeschichte der Norm2517. Schließlich spricht auch der teleologische Hintergrund für ein weites Verständnis des Handlungsbegriffs, da die neue Ausformung des Direktklagezugangs vor allem den Zweck hat, dem Einzelnen mit Blick auf das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz eine erweiterte Möglichkeit zur zentralen Abwehr ihn unmittelbar rechtserheblich belastender Akte zu eröffnen2518. Da im Übrigen unter den in Art. I-33 EV genannten Handlungen in Art. I-33 Abs. 5 S. 2 EV und damit zugleich etwa an die französische Fassung des Art. III-365 Abs. 4 EV („les actes dont elle est le destinataire“) angepasst. 2513 s. insoweit schon zur geltenden Rechtslage Burgi, in: Rengeling/Middeke/ Gellermann, EU-Rechtsschutz, § 7, Rn. 55 m. w. N.; ebenso in Bezug auf die Verfassungsnorm Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 114. 2514 s. auf der einen Seite etwa die englische Fassung „act“, die französische Fassung „actes“, die italienische Fassung „atti“, die niederländische Fassung „handelingen“, die polnische Fassung „akty“, die schwedische Fassung „akt“ und die spanische Fassung „actos“; s. aber in klarer Abweichung hierzu andererseits die dänische Fassung „retsakter“. 2515 Ohne eingehende Begründung für eine Einbeziehung von Realakten etwa Mayer, DVBl. 2004, 606, 610. 2516 Vgl. Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 111. 2517 s. zunächst den Schlussbericht des Arbeitskreises über den Gerichtshof (CONV 636/03, S. 8 f.), der auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs bei EuGH, Rs. 60/81, Slg. 1981, 2639, Rn. 9 (IBM/Kommission) verweist. s. ferner die Erläuterungen des Konventspräsidiums in seinem Artikel über den Gerichtshof und das Gericht (CONV 734/03, S. 18 ff.), wo in der deutschen Fassung zwar noch der Begriff des Rechtsakts Verwendung findet, die englische Fassung aber bereits das Wort „act“ aufweist. 2518 In diesem Sinne auch der Arbeitskreis über den Gerichtshof in seinem Schlussbericht, CONV 636/03, S. 9, Rn. 25: „(. . .) Für diesen Ansatz spricht insbesondere, dass der Grundsatz eines wirksamen Rechtsbehelfs, der in der ständigen

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jene mit allgemeiner Geltung ganz regelmäßig keinen direkten Adressatenbezug haben, sondern ihren Anwendungsbereich typischerweise durch abstrakte Tatbestandsmerkmale beschreiben, fallen unter die vorliegende Klagegruppe in erster Linie individualbezogene Europäische Beschlüsse2519 bzw. solche Akte, die diesem ungeachtet ihrer Form in Inhalt und Wirkung gleichstehen. b) Betroffenenklagen In der zweiten Klagegruppe kann der Individualkläger abermals sämtliche Handlungen im soeben dargestellten Sinne ohne Rücksicht auf ihre Geltungsform angreifen, sofern ihm der kumulative Nachweis einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit gelingt. Auch hier visiert die Norm sowohl Real- als auch Rechtsakte und konnektiert die Klagezulässigkeit im Besonderen mit der Klagebefugnis des Einzelnen2520. Unter Übernahme der Begriffe der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit ohne grammatikalische Veränderung2521 verzichtet die Vorschrift damit im Unterschied zur Rechtslage de lege lata auf eine gegenständliche Begrenzung der individuellen Klagezugänglichkeit. Die Normschöpfer wollten es demzufolge ersichtlich bei der Anwendung der hergebrachten Kriterien belassen2522, mithin auch bei der Plaumann-Formel des EuGH, und folglich nur solche Handlungen, die den Einzelnen in diesem Sinne adressatenäquivalent individualisieren, in die Riege der nach der zweiten Klagegruppe anfechtbaren Maßnahmen aufnehmen. Hätten die Verfassungsgeber hier ein anderes Verständnis von den betreffenden Zulässigkeitsmerkmalen vor Augen gehabt, hätten sie dies klarstellen können und gegebenenfalls müssen. Die Abwesenheit eines solchen Regelungswillens zeigt sich ferner an dem Umstand, Rechtsprechung verankert ist (und nun in Artikel 47 der Charta aufgenommen wurde), verlangt, dass es für jede beschwerende Handlung eines Organs, einer Einrichtung oder einer Agentur eine gerichtliche Kontrolle der Rechtmäßigkeit gibt (. . .).“ 2519 So auch Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 114. 2520 Dahingehend bereits in Bezug auf Art. 230 Abs. 4 EGV Schwarze, DVBl. 2002, 1297, 1300; ebenso Mayer, DVBl. 2004, 606, 607, unter Hinweis auf Gundel, VerwArch 2001, 81, 83. 2521 Vgl. Köngeter, ZfRV 2003, 123, 131. 2522 So findet sich etwa in den Ausführungen des Arbeitskreises über den Gerichtshof unter den dort wiedergegebenen unterschiedlichen Auffassungen zu einer Reform des Art. 230 Abs. 4 EGV nirgendwo die Anregung, von dem Begriffsverständnis des EuGH zur unmittelbaren und individuellen Betroffenheit abzuweichen oder durch etwaige Legaldefinitionen eine Neuinterpretation zu wagen (s. CONV 636/03, S. 6 ff.); auch der einschlägige Bericht des Konventspräsidiums geht wohl von einer unveränderten Inhaltsbestimmung der Kriterien aus (s. CONV 734/03, S. 20); dazu ausführlicher Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 114 ff.

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dass es unter Zugrundelegung eines neuen Begriffsverständnisses auch nicht notwendig des Verzichts auf das Merkmal der individuellen Betroffenheit in der sogleich darzustellenden dritten Klagegruppe bedurft hätte2523. Darüber hinaus bringt der Verfassungstext mit Art. IV-438 Abs. 4 EV2524 an exponierter Stelle explizit und allgemein zum Ausdruck, dass die bisherige Auslegungspraxis des EuGH zum EU-Recht unter dem Regime der Verfassung entsprechend fortbestehen soll2525. Vor diesem Hintergrund ist auch in Bezug auf die hier interessierenden Zulässigkeitskriterien eine weitestgehende Kontinuität der gerichtlichen Begriffsdefinition zu erwarten. Die Einschätzung Mayers, mit Blick auf die Loslösung der Formulierung der zweiten Klagegruppe vom Akt der Entscheidung bestehe Raum für eine völlig neue Auslegung des Merkmals der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit2526, erscheint daher zweifelhaft2527. c) Verordnungsklagen Die letzte Klagegruppe, die augenscheinlich in Reaktion auf die jüngeren Rechtssachen Unión de Pequeños Agricultores2528 und Jégo-Quéré2529 ei2523 Ähnlich Kluttig, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 30/2004, 1, 23. 2524 Nach Art. IV-438 Abs. 4 EV bleibt die Rechtsprechung des EuGH und des EuG zur Auslegung und Anwendung der aufgehobenen Verträge und Rechtsakte sowie der für ihre Anwendung erlassenen Rechtsakte und geschlossenen Übereinkommen sinngemäß auch weiterhin maßgebend für die verbindliche Auslegung des Unionsrechts und insbesondere für die vergleichbaren Bestimmungen des Verfassungsvertrags. 2525 Flankierend kann hier hinzutreten, dass zumindest die noch nach den Vorgaben des EGV erhobenen Klagen gem. Art. IV-438 Abs. 5 EV unter der Verfassung eine kontinuierliche und mithin gleichbedeutende Behandlung erfahren sollen. Es liegt nicht ganz fern, dass in diesem Sinne auch die Klagezulässigkeit – zumindest jener bereits anhängigen Verfahren – einer steten Beurteilung unterliegen wird und folglich die Kriterien der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit insofern wie bislang gehandhabt werden müssten. 2526 So aber Mayer, DVBl. 2004, 606, 610. 2527 Wie hier Köngeter, ZfRV 2003, 123, 131. 2528 EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 (Unión de Pequeños Agricultores/ Rat). Angriffsgegenstand war die Verordnung 1638/98/EG des Rates vom 20. Juli 1998 zur Änderung der Verordnung 136/66/EWG über die Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Fette (ABl. EG L 210/32). 2529 EuGH, Rs. C-263/02, Slg. 2004, I-3425 (Kommission/Jégo-Quéré). Klagegegenstand waren Regelungen der Verordnung 1162/2001/EG der Kommission vom 14. Juni 2001 mit Maßnahmen zur Wiederauffüllung des Seehechtbestands in näher bestimmten Gebieten sowie Vorschriften zur Überwachung der dort tätigen Fischereifahrzeuge (ABl. EG L 159/4), durch welche die zulässigen Mindestmaße für die Maschenöffnungen der einzusetzenden Fischfangnetze festgelegt wurden.

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nen gänzlich neuen Rechtsschutzbehelf gegen allgemein geltende, umsetzungsfreie Akte etablieren soll2530, eröffnet dem Einzelnen den Weg zum EuGH nach Maßgabe eines dreiteiligen Bedingungsbündels, das sowohl an den Klagegegenstand als auch an die Klagebefugnis spezielle Anforderungen stellt. aa) Beschränkung auf Rechtsakte mit Verordnungscharakter So verkürzt die dritte Klagealternative auf der einen Seite den Bereich der angreifbaren Akte im Unterschied zu den ersten beiden zunächst auf Rechtsakte mit Verordnungscharakter2531. Gleichviel auf der Hand liegt, dass sich die entsprechende Normterminologie an der neuen Nomenklatur des Art. I-33 EV ausrichtet, ist der Formulierung doch nicht per se zu entnehmen, welche Rechtshandlungen damit neben den echten Verordnungen ins Visier des zentralen Individualrechtsschutzes geraten sollen2532. Schon mit Blick auf die Vielzahl der in den Art. I-35 Abs. 2, Art. I-36 und Art. I-37 Abs. 4 EV genannten Verordnungsautoren und Verordnungsformen erscheint eine Bestimmung des Rechtsaktscharakters allein anhand formaler Kriterien, wie sie die Verfassung für den Gesetzescharakter einer Handlung festlegt, nicht angezeigt. Wäre allein die Form des Rechtsakts, namentlich seine Bezeichnung als Verordnung maßgeblich für seinen Verordnungscharakter, so würden etwa Europäische Beschlüsse per se aus dem Anwendungsbereich der Norm herausfallen und dies in Verkennung des Umstands, dass sie, analog einem Verordnungsakt, gleichermaßen einen abstrakt-generellen Regelungstatbestand aufweisen können. Dass aber in solch einem Fall auch Beschlüsse im Rahmen der hier interessierenden Klagemöglichkeit angreifbar sein müssen, resultiert nicht zuletzt aus dem Umstand, dass einige Ermächtigungsgrundlagen gerade den alternativen Erlass einer Verordnung oder eines Beschlusses vorsehen2533. Wären Letztere auf der Grundlage eines streng wortgebundenen Normverständnisses von der Individualanfechtbarkeit ausgenommen, so bliebe dem Einzelnen immer dann, wenn ein Beschluss keine individuelle Betroffenheit im Sinne der Plaumann-Formel zur s. dazu auch Köngeter, ZfRV 2003, 123, 131. Die Sprachfassungen sind hier jedoch nicht ganz einheitlich. Während etwa die englische (regulatory acts), die französische (actes réglemantaires) und die spanische Fassung (actos reglamentarios) restriktiv anmuten können, entsprechen andere, etwa die dänische (regelfastsættende retsakter) oder die niederländische (regelgevingshandelingen) eher der deutschen Fassung. 2532 Ähnlich Meyer/Hölscheidt, EuZW 2003, 613, 619. 2533 Hierauf ebenfalls hinweisend Cremer, EuGRZ 2004, 577, 582; ebenso unter Berufung auf Letzteren Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 119 f.; s. zu den betreffenden Normen die obige Fn. 2503. 2530 2531

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Folge hat, mangels Anwendbarkeit einer der drei Klagevarianten ein direkter Rechtsschutz verwehrt. Dabei hätten es letztlich allein die auswahlbefugten Urheber eines Rechtsakts in der Hand, durch die Formenwahl den prinzipalen Individualrechtsschutz zu unterbinden. Wird der Gefahr der Formenwillkür mit Art. 230 Abs. 4 EGV schon de lege lata begegnet, so soll ihr unter der Verfassung aber ersichtlich kein neues Tor geöffnet werden. Vor diesem Hintergrund muss sich die Prüfung des Verordnungscharakters nicht nach der Form des Rechtsakts, sondern vielmehr entscheidend nach seinem materiellen Gehalt, insbesondere seiner Wirkung richten2534. Mit Blick auf Art. I-33 Abs. 1 UAbs. 4 EV sind demnach nicht nur Verordnungen an sich, sondern grundsätzlich alle Rechtsakte mit allgemeiner Geltung unter diese Fallgruppe zu subsumieren2535. Zugleich und vollumfänglich ausgenommen sind hiervon jedoch Europäische Gesetze und Rahmengesetze2536. Dies bedingt unweigerlich die stringente Dichotomie der neuen Rechtsaktssystematik, die sich durch eine trennscharfe rechtsnatürliche Differenzierung zwischen Akten mit und ohne Gesetzgebungscharakter auszeichnet. Da Art. I-33 Abs. 1 UAbs. 4 EV Verordnungen in diesem Lichte explizit als Handlungen ohne Gesetzgebungscharakter ausweist, können echte Gesetzgebungsakte e contrario nicht zugleich Verordnungscharakter haben. bb) Beschränkung auf Rechtsakte ohne Durchführungsmaßnahmen Über diese erste gegenständliche Begrenzung hinaus verlangt Art. III-365 Abs. 4 Alt. 3 EV, dass der Akt keiner weiteren Durchführungsmaßnahmen bedarf, womit sowohl die in Art. I-37 EV angesprochenen Durchführungsrechtsakte auf zentraler oder mitgliedstaatlicher Ebene als auch faktisches Vollziehungshandeln ohne Rechtsaktsqualität gemeint sein dürften. Da der gegenständliche Bezugspunkt eines nach der dritten Klagealternative geführten Angriffs gerade jene Akte sein sollen, die unter der geltenden Rechtslage erst über einen sanktionären Normanwendungsakt der gerichtlichen Kontrolle zugeführt werden können2537, meint der Durchführungs2534

hält.

Ähnlich Mayer, DVBl. 2004, 606, 612, der die „wahre Natur“ für maßgebend

2535 Zu kurz gerät insofern der Hinweis von Kluttig, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 30/2004, 1, 23, soweit er hier nur die Rechtsakte anführt, die formmissbräuchlich nicht als Verordnung ergangen sind. 2536 Ebenso Cremer, EuGRZ 2004, 577, 579; a. A. wohl Mayer, DVBl. 2004, 606, 612, und wie Letzterer Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 121. 2537 s. zu diesem intentionellen Hintergrund der Klagemöglichkeit die Ausführungen des Arbeitskreises über den Gerichtshof, CONV 636/03, S. 7, Rn. 21; s. ferner die Erläuterungen des Konventspräsidiums in seinem Artikel über den Gerichtshof und das Gericht, CONV 734/03, S. 20.

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begriff2538 in diesem Regelungskontext jedoch nicht etwaig repressive Rechtsdurchsetzungsakte, sondern gerade die im Vorfeld zur Gewährleistung der praktischen Rechtswirksamkeit erforderlichen Anwendungsmaßnahmen. Nach diesem Verständnis erfasst die Norm also alle Rechtsakte, die keiner Umsetzung bedürfen, sondern als unmittelbar geltendes Recht „self-executing“ sind. cc) Beschränkung auf unmittelbar Betroffene Auf der Seite der Klagebefugnis begnügt sich die dritte Alternative des Art. III-364 Abs. 4 EV sodann mit der unmittelbaren Betroffenheit des Einzelnen. Die Regelung verzichtet folglich nur auf die Qualifizierung der normativen Beeinträchtigung als individuell, während der Nachweis einer Beschwer der eigenen Person nach wie vor von Nöten2539 und die Unmittelbarkeitsqualifizierung im Übrigen unverändert mit ihrer formellen und materiellen Interpretationsmöglichkeit aufrechterhalten bleibt. Die Befreiung vom Individualitätskriterium führt somit auch nicht zu dem ungewünschten Nebeneffekt, dass der Einzelne Rechtsakte mit Verordnungscharakter ohne eine subjektive Beschwer angreifen und sich zum Advokaten der Allgemeinheit aufschwingen kann. Indessen dürfte das Kriterium der Unmittelbarkeit ganz regelmäßig schon von dem zuvor angesprochenen Merkmal des Selbstvollziehungswesens des Klagegegenstands konsumiert werden, das bereits seinerseits eine unmittelbare Geltung des Rechtsakts postuliert. Inwieweit der Voraussetzung der Unmittelbarkeit der Klägerbeschwer dabei eine eigenständige Bedeutung verbleiben kann, ist damit fraglich2540 und wird erst die sich mit dieser Frage beschäftigenden Rechtsprechung des EuGH zeigen.

Auch hier ist die Wortwahl in den unterschiedlichen Sprachfassungen nicht einheitlich, s. etwa im Französischen „la mise en œuvre“, im Englischen „to implement“, im Spanischen „la ejecución“, im Italienischen „l’attuazione“ und im Niederländischen „uitvoering“. 2539 Ausführlicher zum eigenständigen Gehalt des Betroffenheitsmerkmals schon unter A. II. 1. b) bb). 2540 Soweit Cremer, EuGRZ 2004, 577, 583, umgekehrt die Sinnhaftigkeit der zweiten Zulässigkeitsvoraussetzung in Frage stellen möchte, verkennt er hierbei das Verhältnis der beiden Kriterien zueinander. Gleichviel Fredriksen, ZEuS 2005, 99, 123, in diesem Zusammenhang zu Recht auf die Reichweite des materiellen Unmittelbarkeitsbegriffs hinweist, versäumt indes auch er, die hieraus resultierende Frage zur bleibenden Bedeutung des betreffenden Kriteriums zu stellen. 2538

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II. Bewertung Schon auf den ersten Blick lokalisieren sich die im Verfassungsvertrag vorgesehenen prozessrechtlichen Neuerungen in erster Linie im Bereich der individuellen Direktklage zum EuGH. Die andere Seite des dualen Verfahrenssystems bleibt derweil im Wesentlichen unberührt2541. Dass sich der Konvent zum einen nicht veranlasst sah, die Grundsätze der Foto-Frost-2542 und CILFIT-Rechtsprechung2543 in den Verfassungstext aufzunehmen, lässt sich wohl mit der Existenz der allgemeinen Verweisung auf den Fortbestand der EuGH-Rechtsprechung in Art. IV-438 Abs. 4 EV begründen, obschon hier bereichsspezifische Klarstellungen durchaus sinnvoll gewesen wären, um den mitgliedstaatlichen Gerichten mehr Sicherheit in der Handhabe ihrer unionalen Vorlagepflichten und -freiheiten zu geben. Zum anderen hat der Konvent hingegen zu Recht davon abgesehen, den dezentralen Rechtsschutzzweig durch eine Vorlagebeschwerde oder ein echtes Initiativrecht des Einzelnen zu effektuieren, da dies eine allzu weite Abkehr vom Wesen des Vorabentscheidungsverfahrens bedeutet hätte2544. Wohl in Sorge um eine übermäßige Beanspruchung des EuGH2545 wurde des Weiteren trotz der Anregung einiger Konventsmitglieder bewusst2546 keine gesonderte Grundrechtsbeschwerde in die Verfassung aufgenommen2547. Ebenso wenig ist dies in versteckter Weise auf der Grundlage einer etwaigen Anfechtbarkeit der Entscheidungen des EuG nach Art. III-365 Abs. 4 Alt. 2 EV geschehen2548, obgleich diese gegenüber dem prozessual Unterlegenen eine unmittelbar und individuell betreffende Handlung darstellen. Denn unter den in Art. III-365 Abs. 1 EV ausgewiesenen Passivlegitimierten befindet sich weder der Gerichtshof noch das von diesem nach Art. I-29 Abs. 1 EV umfasste Gericht. Auch fallen beide nicht unter die Einrichtungen im Sinne der Norm, da der EuGH ausweislich des Art. I-19 2541

S. 24.

s. insoweit nur die Ausführungen des Konventspräsidiums in CONV 734/03,

EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199, insb. Rn. 12 ff. (Foto-Frost). EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415, insb. Rn. 14 ff. (CILFIT). 2544 s. dazu bereits oben unter C. II. 1. e). 2545 s. zu diesem Motiv das Diskussionspapier des Präsidiums, CONV 477/02, Rn. 27; dazu ferner Everling, Rechtsschutz im europäischen Wirtschaftsrecht auf der Grundlage der Konventsregelungen, in: Schwarze, Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, S. 363, 381; kritischer hingegen Ruffert, EuR 2004, 165, 176. 2546 So ausdrücklich auch der Schlussbericht des Präsidiums, CONV 734/03, S. 21. 2547 s. dazu Läufer, integration 2003, 510, 515 f.; Meyer/Hölscheidt, EuZW 2003, 613, 619; Obwexer, Europa Blätter 2004, 4, 10; Schwarze, EuR 2003, 535, 552 f. 2548 Ebenso Mayer, DVBl. 2004, 606, 613. 2542 2543

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Abs. 1 EV ein echtes Organ der Union ist, mithin keinen bloßen Einrichtungsstatus hat und die Verfassung vielerorts, insbesondere im Titel IV des ersten Teils2549, eine klare und deutliche Trennung zwischen den Organen und den sonstigen Einrichtungen und Stellen enthält. Der gesonderten Schaffung einer Grundrechtsbeschwerde bedurfte es jedoch letztlich auch nicht, soweit man der Ansicht folgt, dass die Grundrechte bereits im bestehenden System taugliche Betroffenheitspositionen sind, die den Weg zu einer gerichtlichen Kontrolle eröffnen und einen Rechtsakt zu Fall bringen können. Dass die Verfassung ihrerseits keine Klarstellung dahingehend enthält, dass die Grundrechte im Anwendungsspektrum der Nichtigkeitsklage klagefähige Rechtspositionen sind, kann mit Blick auf die von einer verbindlichen Charta der Grundrechte zu erwartende Entwicklung des materiellen Grundrechtsschutzes und die damit einhergehende praktische Relevanzzunahme2550 überraschen und ohne gleichzeitige Aufwertung der prozessualen Grundrechtssituation auch ein grotesk anmutendes Bild erzeugen. Jedenfalls aber dürfte der Gerichtshof mit einem Aufstieg der Charta zu der zentralen Grundrechtsquelle des unionalen Rechtssystems nur schwerlich umhin kommen, die Klagefähigkeit der Unionsgrundrechte im Felde der Nichtigkeitsklage expressis verbis anzuerkennen. Wie bereits erörtert, spielen sich die vorgesehenen Neuerungen des Verfahrenssystems vornehmlich in der zentralen Rechtsschutzsphäre ab und führen insoweit zu einer remarkablen Ausweitung der Direktklagemöglichkeiten des Einzelnen in zweierlei Hinsicht. So sind künftig zum einen unter Loslösung der Gerichtszugänglichkeit von spezifischen Klagegegenstandsformen sämtliche Unionshandlungen des neuen Rechtsaktskanons angreifbar, wenn und soweit sie den Einzelnen unmittelbar und individuell betreffen. Zum anderen können unter einer verbindlichen Verfassung auch jene Rechtsakte mit Verordnungscharakter im Sinne des neuen Bezeichnungssystems vor der Unionsgerichtsbarkeit in Frage gestellt werden, die zwar unmittelbar, nicht aber nach Maßgabe der Plaumann-Formel individualbelastend wirken. Die aufgezeigten Schwächen des aktuellen Systems sind hierdurch indes nur scheinbar vollends beseitigt. Insbesondere wenn der Rechtsunterworfene Europäische Gesetze, die zu einem erheblichen Teil an die Stelle der heutigen Verordnungen treten würden, auch unter dem Verfassungsregime nicht angreifen kann, erweisen sich die Systemverbesserungen als inkomplett2551. In 2549 Besonders deutlich differenzieren etwa folgende Bestimmungen zwischen den Organen, den Einrichtungen und den sonstigen Stellen: Art. I-10 Abs. 2 lit. d) EV; Art. I-26 Abs. 7 EV; Art. I-30 Abs. 3 EV; Art. I-45 EV; Art. I-49 EV; Art. I-50 EV; Art. II-101 Abs. 1 EV (et cetera). 2550 Dazu auch Läufer, integration 2003, 510, 516. 2551 A. A. wohl Gündisch, Grundrechte und Rechtsschutz, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld, Eine Verfassung für Europa, S. 271, 288; in Bezug auf diesen zu Recht

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diesem Belang scheidet nämlich die Klagemöglichkeit nach Art. III-365 Abs. 4 Alt. 3 EV, wie gesehen, schon aufgrund der Ausklammerung von Akten mit Gesetzgebungsqualität aus2552. Doch auch die zweite Klagealternative vermag Europäische Gesetze nicht zu erfassen. Zu bedenken gilt insofern, dass es die Verfassungsschöpfer in Ermangelung einer neuen Legaldefinition bei den hergebrachten Anforderungen belassen und nur solche Handlungen der Individualanfechtung preisgeben wollen, die den Einzelnen im Sinne der Plaumann-Formel individuell betreffen und die ihn also gerade wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berühren und daher in ähnlicher Weise individualisieren wie einen Adressaten2553. Hätten die Verfassungsgeber ein anderes Verständnis von der Individualklagebefugnis im Visier gehabt, hätten sie dies ohne weiteres klarstellen können und angesichts der in Art. IV-438 Abs. 4 EV grundsätzlich postulierten Bestandsgarantie der EuGH-Rechtsprechung auch müssen. Soweit Mayer2554 im gleichen Kontext Raum für eine neue Auslegung des Merkmals der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit sieht und diese unter anderem in Richtung einer spezifischen Grundrechtsverletzung anregt, verkennt er dies, zumal die betreffende Klagemöglichkeit durch eine solche Interpretation gegen den Willen der Normgeber2555 zu einer spezifischen Grundrechtsbeschwerde mutieren würde. Eine Abkehr des EuGH von den prätorisch geformten Klagebefugnisanforderungen ist in Anbetracht der deutlichen Vorgaben unwahrscheinlich. Da der Einzelne im Anwendungsbereich eines Gesetzes mit einem allgemein gehaltenen Tatbestand aber nur schwerlich eine hinreichende Individualisierung im Sinne der Plaumann-Formel nachweisen kann, bleibt ihm auch in dem neuen Verfahrenssystem die Direktanfechtung Europäischer Gesetze ohne Rücksicht auf deren mögliche unmittelbar belastende Wirkung generell verwehrt2556. In dieser Hinsicht positiviert die Verkritisch Kluttig, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 30/2004, 1, 22. 2552 Angesichts der klaren Rechtsakts-Dichotomie erscheinen insofern die Ausführungen von Mayer, DVBl. 2004, 606, 612, der es für denkbar hält, umsetzungsfreien Gesetzen zur Gewährung lückenlosen Rechtsschutzes einen Verordnungscharakter beizumessen, zweifelhaft. 2553 Vgl. zur Plaumann-Formel nochmals (statt vieler) EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 213, 238 (Plaumann/Kommission); EuGH, verb. Rsn. 67/85, 68/85 u. 70/85, Slg. 1988, 219, Rn. 14 (Van der Kooy u. a./Kommission); EuGH, Rs. C-50/00, Slg. 2002, I-6719, Rn. 36 (Unión de Pequeños Agricultores/Rat). 2554 Mayer, DVBl. 2004, 606, 610. 2555 s. dazu nochmals den Bericht des Konventspräsidiums, CONV 734/03, S. 21. 2556 Ebenso Cremer, EuGRZ 2004, 577, 579; a. A. insoweit wohl Mayer, DVBl. 2004, 606, 610, der hier ohne eingehendere Problematisierung unterstellt, dass ein Einzelner auch von einem Gesetz im Sinne der Plaumann-Formel individuell betroffen sein kann. Dass sich die allgemeine Ausrichtung eines Gesetzesakts und das

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fassung in Art. I-29 Abs. 1 UAbs. 2 EV vielmehr die Position des EuGH zur Verantwortung der Mitgliedstaaten, die für einen wirksamen Rechtsschutz erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, und legt damit den Schwerpunkt des Rechtsschutzsystems in den dezentralen Bereich2557. Die Mitgliedstaaten müssen dem Einzelnen folglich auf innerstaatlicher Ebene ein Prozesswerkzeug zur Verfügung stellen, das den Angriff eines Europäischen Gesetzes vor den eigenen Gerichten und die inzidente Vorlage zum EuGH ermöglicht. Ungeachtet des weiteren Versäumnisses, das EuG in die Erledigung der zahlreichen Vorabentscheidungsverfahren einzubinden und so unter partieller Entlastung des Gerichtshof eine gewisse Systemeffektuierung zu bewirken, werden die beschriebenen Schwächen der derzeitigen Rechtsschutzkonzeption durch die Verfassung demnach nicht wirksam beseitigt, sondern – zumindest teilweise – perpetuiert. Zur plastischen Veranschaulichung des partiellen Fortbestands der Systemschwächen sei insbesondere auf jene praktischen Beispiele rekurriert, die wesentlicher Anlass der Rechtsschutzreformen waren. So wäre etwa die in der Rechtssache Jégo-Quéré relevante Marktordnung für Fette mit Blick auf Art. III-231 Abs. 2 EV auch künftig von einem Europäischen Gesetz bestimmt, die Rechtsschutzsituation des Einzelnen bliebe mithin unverändert. In einem der Rechtssache Unión de Pequeños Agricultores gleichgelagerten Fall hinge der Direktzugang zum Gerichtshof hingegen davon ab, ob die beeinträchtigenden Regelungen in das die gemeinsame Marktordnung festlegende Gesetz nach Art. III-231 Abs. 2 EV eingebettet wären oder in einem detaillierten Nichtlegislativakt nach Art. III-231 Abs. 3 EV ergingen. Nur in letzterem Fall könnte hier die in Art. III-365 Abs. 4 Alt. 3 EV geschaffene Klagemöglichkeit greifen und ihren originären Zweck erfüllen. Fernerhin sei hier als zusätzliches Beispiel der Bereich des Verkehrs einschließlich der Seeschifffahrt und Luftfahrt angeführt, in welchem die geeigneten verkehrspolitischen Maßnahmen nach Art. III-236 Abs. 2 EV und Art. III-245 Abs. 2 EV nur noch in Form von Gesetzen oder Rahmengesetzen geregelt werden können2558. So wäre ein zentraler Angriff inhaltlich bestimmter und unbedingter Regelungen, etwa solcher zur Untersagung Kriterium der individuellen Betroffenheit in seiner Prägung nach der Plaumann-Formel aber kaum vereinbaren lassen, fand erstaunlicherweise selbst im Zuge der im Übrigen durchaus kontroversen Diskussionen in den Arbeitszirkeln keine nähere Behandlung (s. insbesondere den Schlussbericht des Arbeitskreises über den Gerichtshof, CONV 636/03, S. 8, Rn. 22; s. ferner schon den Entwurf des Berichts des Vorsitzenden des Arbeitskreises António Vitorino, CERCLE I WD 08, S. 6, Rn. 22). 2557 In diesem Sinne auch Kluttig, Kluttig, Beiträge zum Transnationalen Wirtschaftsrecht, Heft 30/2004, 1, 22; Mayer, DVBl. 2004, 606, 614. 2558 Das geltende Recht sieht mit den Art. 71 und Art. 80 Abs. 2 EGV hingegen keine feste Rechtsaktsform vor.

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von Einhüllen-Öltankschiffen2559, folglich von vornherein unzulässig, während das dezentrale Vorgehen in solchen Verfahrensordnungen, die keine der deutschen Prozessordnung entsprechende allgemeine Feststellungsklage oder eine ähnliche Auffangklageart kennen2560, nach wie vor eines vorherigen und möglicherweise folgenschweren Verstoßes gegen den betreffenden Verbotstatbestand bedürfte. Hinsichtlich der fehlenden Individualanfechtbarkeit Europäischer Gesetze ergibt sich zuletzt auch eine Inkohärenz im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Europäischen Gesetzgebers, bestimmte Regelungsbefugnisse nach Art. I-36 EV auf die Kommission zu übertragen. Mit Ausübung der so delegierten Zuständigkeiten ändert sich zwar nicht der Gegenstand und der mögliche Inhalt der einzelnen Regelungen, sehr wohl aber die formelle Rechtsnatur des Aktes, in welchem sie enthalten sind. Im Sinne der formellen Handlungsdichotomie bleibt eine gesetzliche Vorschrift ungeachtet ihres materiellen Gehalts und ihrer Wesentlichkeit im Sinne des Art. I-35 Abs. 1 EV ein Gesetzgebungsakt und eine Verordnungsregelung entsprechend eine solche. Betrifft also eine nach dem Verständnis der Verfassung unwesentliche Regelung den Einzelnen nur unmittelbar und nicht auch individuell, könnte er gegen die betreffende Bestimmung nur dann eine direkte Klage zum Gerichtshof erheben, wenn sie nicht als Gesetz, sondern im Zuge eines delegierten Verordnungserlasses ergangen wäre oder geändert würde. Aus der Sicht des Normunterworfenen erscheint diese Diskrepanz aber zufällig, wenn nicht gar willkürlich, zumal ihm auch schwer zu vermitteln sein wird, weshalb er gegebenenfalls nur die unwesentlichen Bestimmungen anfechten können soll, während die wesentlichen, da grundrechtsrelevanten und ihn somit besonders interessierenden Regelungspunkte einem Direktangriff entzogen sind. Geradezu paradox dürfte die Situation zudem wirken, wenn der Gesetzgeber im Falle einer Kompetenzdelegierung die Wesentlichkeitsgrenzen einmal überschreitet. Ließe der Gerichtshof die Individualklage hier mit direktem Blick auf die Rechtsaktsform des Anfechtungsgegenstands zu, könnte hierin eine Durchbrechung der von der Verfassung vorgegebenen Wertung liegen, Gesetzgebungsakte aus dem System direkten Individualrechtsschutzes gänzlich herauszuhalten. Stellte der Gerichtshof andersherum die exzessive Befugnisübertragung in Bezug auf die angegriffene Verord2559 s. dazu die VO (EG) Nr. 417/2002 vom 18. Februar 2002 (ABl. EG L 64/1) zur beschleunigten Einführung von Doppelhüllen oder gleichwertigen Konstruktionsanforderungen für Einhüllen-Öltankschiffe und zur Aufhebung der VO 2978/94, geändert durch VO 2099/2002 vom 5. November 2002 (ABl. EG L 324/1), sowie VO 1726/2003 vom 22. Juli 2003 (ABl. EG L 249/1-4), welche unter anderem den von Häfen der EU ausgehenden oder in solche führenden Transport von Schwerölen mit Einhüllen-Tankern untersagt. 2560 Dazu bereits unter A. III. 3. b).

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nungsregelung fest und lehnte er auf dieser Grundlage ihre Anfechtbarkeit ab, gäbe er dem Einzelnen Steine statt Brot, da sodann zwar die Rechtswidrigkeit der angefochtenen Regelung feststünde, dies aber mangels Sachentscheidung ohne kassatorische Wirkung, sondern nur implizit deklaratorisch, zumal der Gesetzgeber die Regelung sogleich selbst nachfertigen könnte, wogegen der Einzelne anschließend nicht mehr direkt klagen dürfte. Alles in allem setzen die einzelnen Modifizierungen des Systems zur Gewährung prinzipalen Individualrechtsschutzes zwar richtigerweise an der zentralen Ebene an2561 und bringen hier unbestreitbar eine gewisse Rechtsschutzerweiterung mit sich2562. Ob sie auch als erheblich anzusehen sind2563 und daher tatsächlich einen großen Fortschritt gegenüber dem bestehenden System bedeuten2564, mag jedoch angesichts der beschriebenen Fortgeltung der Systemschwächen, deren Beseitigung folglich in eine noch ungewissere Zukunft gelegt wurde2565, als sie schon die Verfassung umgibt, bezweifelt werden2566. So kühn der Konvent die Systemreformen teilweise in anderen Bereiche des Unionsrechts angegangen ist, so verhalten erweisen sich letztlich die hier behandelten verfahrensrechtlichen Neuerungen, die mehr von der Sorge um einen akzeptablen Kompromiss2567 als von dem Bemühen, dem Einzelnen den einer Rechtsgemeinschaft gebührenden Zugang zum Gerichtshof als dem zentralen Judikativorgan der Union zu gewähren2568, gezeichnet sind.

2561 2562

583.

In diesem Sinne auch Arnull, ELR 2004, 287, 288. Ebenfalls eine Verbesserung erkennend etwa Cremer, EuGRZ 2004, 577,

2563 So etwa Gündisch, Grundrechte und Rechtsschutz, in: Beckmann/Dieringer/ Hufeld, Eine Verfassung für Verfassung, S. 271, 288; ferner Gündisch/Wienhues, Rechtsschutz in der EU, S. 204. 2564 So, obgleich ebenfalls nicht vollends zufrieden mit dem Reformergebnis Jacobs, CMLR 2004, 303, 314. 2565 Ähnlich Arnull, ELR 2004, 287, 288, der hier von einer vertanen Chance spricht. 2566 Dahingehend der Beitrag der beiden Konventsmitglieder Andrew Duff und Lord Maclennan of Rogart (CONV 758/03, S. 2). s. in diesem Kontext auch Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563, 570, der das Manko insbesondere im Bereich des prozessualen Grundrechtsschutzes sieht; in diesem Belang ähnlich kritisch Ruffert, EuR 2004, 165, 175. 2567 So auch Schwarze, EuR 2004 147, 148. 2568 s. in diesem Zusammenhang auch Mayer, DVBl. 2004, 606, 614 f., der umgekehrt darauf hinweist, dass die in den Zulässigkeitsanforderungen enthaltenen Kontrollgrenzen symptomatisch für das Verhältnis der Gerichte zu den anderen Hoheitsgewalten seien und die Systemreform unter diesem Blickwinkel kein Vertrauensbeweis gegenüber dem Gerichtshof darstelle.

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Teil 4: Individualrechtsschutz gegen normative EG-Rechtsakte

E. Ergebnis zu Teil 4 Das derzeit dem Einzelnen vom EG-Vertrag bereit gestellte System in seiner durch den Gerichtshof vorgegebenen Handhabung bildet ein facettenreiches und für eine internationale Gemeinschaft einzigartiges Verfahrenskonvolut mit primären wie sekundären Rechtsschutzelementen. Seine Existenz ist aber weniger der Großzügigkeit der Systemväter als vielmehr dem Umstand geschuldet, dass die EU an sich selbst den Anspruch stellt, eine rechtsstaatlichen Grundsätzen verpflichtete Rechtsgemeinschaft zu sein. Scheint sie diesen Pflichten auf den ersten Blick zu genügen, so ergibt sich unter dem grundrechtlichen Brennglas ein differenzierteres Bild, das an wesentlichen Stellen und insbesondere im Bereich des prinzipalen Rechtsschutzes gegen direkt belastende Hoheitsakte wesentliche Defizite aufzeigt, die de lege lata nicht ohne Zutun des EuGH auszuräumen sind. Unter den verschiedenen Effektuierungsmöglichkeiten de lege ferenda hebt sich die Reform des Individualklagezugangs zum Gerichtshof in Kombination mit einem bei diesem einzurichtenden Annahmeverfahren als vielversprechende Option heraus. Die unter dem Verfassungsentwurf vorzufindenden Systemneuerungen weisen insoweit zwar in die gleiche und mithin zutreffende Richtung, sie gehen jedoch den Weg zu einem wirklich vollständigen Individualrechtsschutzsystem nicht hinreichend weit, geschweige denn konsequent zu Ende.

Zusammenfassung und abschließende Bewertung Die Garantie effektiven Rechtsschutzes hat in einem rechtsstaatlichen Grundsätzen und somit nicht zuletzt den Grundrechten verpflichteten Rechtssystem, wie es das Unionsrechtssystem sein möchte, eine ganz besonders herausragende Bedeutung, der die mit seiner Wahrung beauftragten Gerichte in der Praxis gebührend Rechnung zu tragen haben. Im Zuge der vorliegenden Bearbeitung haben sich im Hinblick auf ihre rechtsdogmatischen Hintergründe folgende einzelnen Erkenntnisse ergeben: A. Das unionsrechtliche Recht auf einen effektiven Rechtsschutz bildet im Rechtssystem der Europäischen Union nicht nur ein objektives Rechtsgebot, sondern ein eigenständiges Grundrecht. Durch seine verschiedenen Schutzkomponenten erhalten die materiellen Rechte, unter diesen insbesondere die materiellen Grundrechte, erst ihre praktische Wirksamkeit. Mit anderen Worten ist die Rechtsschutzgarantie gleichsam die Phalanx der materiellen Grundrechtsgewährleistungen. Liegt demnach der wesentliche Geltungsgrund des Rechts auf effektiven Rechtsschutz in der unionalen Verbürgung für Letztere, so sind seine rechtlichen Quellen gleichwohl nicht allein in jenen zu erblicken. Vielmehr kann es als eigenständiges Grundrecht auf eigene Rechtsquellen verweisen, die infolge seiner Rechtsnatur rechtshermeneutisch an der allgemeinen Grundrechtsquellensystematik des Unionsrechts teilnehmen. B. Die allgemeine Quellenhermeneutik der Grundrechte richtet sich derzeit aufgrund der fehlenden Formalverbindlichkeit der Charta der Grundrechte maßgeblich nach Art. 6 Abs. 2 EUV, der nicht nur für sich in Anspruch nehmen kann, primärrechtlich die allgemeine Grundrechtsbindung der Union zu konstituieren, sondern ebenso verbindlich zum einen die rechtliche Geltungsform der Grundrechte und zum anderen die für deren nähere Bestimmung und Konkretisierung relevanten normexternen Quellen zu fixieren. Die Grundrechtsquellenhermeneutik der Union lässt sich damit im Wesentlichen als ein System dreier vollwertiger und aufeinander aufbauender Quellenebenen verstehen, namentlich primo dem allgemeinen Grundrechtsachtungsgebot, secundo den allgemeinen Rechtsgrundsätzen als Rechtsformquelle der Grundrechte und tertio den diese speisenden Rechtserkenntnisquellen. Auf der dritten Ebene stehen sich die EMRK und die Verfassungstraditionen hierbei als normativ hervorgehobene Rechtserkenntnisquellen gleichrangig gegenüber und können folglich sowohl einzeln als

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Zusammenfassung und abschließende Bewertung

auch gemeinsam zur Grundrechtsfindung bemüht werden. Jedoch ist die ausdrückliche Bestimmung der beiden Erkenntnisquellen im primären Unionsrecht unter teleologischen Gesichtspunkten de iure nicht abschließend zu verstehen. C. Obgleich der EMRK und den Verfassungsüberlieferungen kein exklusiver Anspruch auf die Rechtsnatur der Rechtserkenntnisquelle der Unionsgrundrechte zusteht, kommt einem rechtshermeneutischen Rückgriff auf anderweitige Rechtserkenntnisquellen regelmäßig – zumindest faktisch – eine nur untergeordnete Bedeutung zu. Dies gilt nicht nur für andere völkerrechtliche Abkommen betreffend den Menschen- und Grundrechtsschutz, soweit es nicht gerade auf deren spezifischen Regelungsgegenstand ankommt, sondern auch für die formal noch unverbindliche Charta der Grundrechte. Letzterer de lege lata im Wege einer Subsumtion unter alte oder neue Rechtsquellenfiguren doch eine gewisse materielle Rechtserheblichkeit zuzusprechen, bedarf allzu konstruierter Vorgehensweisen und liefert keine eindeutigen rechtshermeneutischen Vorteile. Faktisch erscheint es indessen zulässig, durch einen zusätzlichen, rein deklaratorischen Hinweis die in der Charta zum Ausdruck kommenden gemeinsamen und gegebenenfalls auch über die Grenzen Europas bestehenden Wertüberzeugungen der jeweils beteiligten Staaten oder Organe zur Unterstreichung der Bedeutung eines bestimmten Grundrechts fruchtbar zu machen. Eine abweichende, über diese bloß symbolische Funktion hinausgehende Bezugnahme auf die Charta muss dagegen derzeit ausscheiden. D. Freilich muss sich dies ändern, wenn die Charta der Grundrechte zu formeller Rechtsverbindlichkeit gelangen wird. Da sie jedoch unter anderem in einigen wesentlichen Punkten ihres Anwendungsbereichs, ihrer Schrankensystematik und ihrer Einbettung in die aktuelle Grundrechtsquellensystematik strukturelle Unklarheiten birgt, sollten diese zuvor einer hinreichenden Korrektur zugeführt werden, damit der erste schriftliche Grundrechtskatalog der EU als weiterer Meilenstein und nicht etwa als Stolperstein in die Geschichte der unionalen Grundrechtsentwicklung eingehen wird. Obschon das bestehende Grundrechtssystem mit seiner Kombination aus einer solide gewachsenen, im Kern nicht mehr zu erschütternden prätorischen Tradition einerseits und den flexibel in den Händen des EuGH liegenden Quellwerkzeugen andererseits für sich verbuchen kann, die nötige Entwicklungsoffenheit für die künftigen Maßnahmen und Schritte auf der stetig wandelnden Baustelle des Unionsrechtssystems zu bieten, vermag aber erst eine verbindliche Grundrechte-Charta die im Lichte des Rechts auf effektiven Grundrechtsschutz geschuldete Antwort auf das wachsende Bedürfnis des Einzelnen nach transparentem und wägbarem Schutz gegen hoheitliche Rechtseingriffe aus der Sphäre der EU zu geben. Ein alsbaldiges Inkrafttreten der Charta ist

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daher wünschenswert und sollte im Falle zunehmender Lautstärke des bereits heute zum unionalen Verfassungsprozess wahrnehmbaren Schwanengesangs einer gesonderten Verwirklichung zugeführt werden. E. Für das Recht auf effektiven Rechtsschutz folgt aus der hier eruierten Grundrechtsquellenkonzeption des Unionsrechts, dass es als selbständiges Grundrecht wie die materiellen Grundrechte derzeit im Rahmen der weitreichenden Bindungswirkung des Art. 6 Abs. 2 EUV zu achten ist und seinen auf den Einzelfall bezogenen Schutzgehalt als allgemeinem Rechtsgrundsatz vor allem aus den Erkenntnisquellen der Art. 6 und 13 EMRK sowie der gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zieht. Es vermittelt jedem Rechtsträger den Anspruch, eine von der Rechtsordnung gewährte subjektive Rechtsposition wirksam geltend zu machen und gerichtlich durchzusetzen, was in erster Linie den Anspruch auf effektiven Zugang zu einem Gericht enthält, das die Rechtssache in angemessener Frist einer auf gesetzlicher Basis ergehenden verbindlichen Entscheidung zuführt. Hiermit korreliert die grundrechtliche Verpflichtung der EU und ihrer Mitgliedstaaten, den Grundrechtsträgern ein jenem Anspruch genügendes einheitliches Rechtsschutzsystem zur Verfügung zu stellen. F. Soweit es die Möglichkeiten des Einzelnen betrifft, Belastungen anzugreifen, die unmittelbar von einem normativen EG-Rechtsakt ausgehen, wird das Individualrechtsschutzsystem des EG-Vertrags jenen Anforderungen in seiner ganz wesentlich durch den EuGH geprägten Gestalt nicht gerecht. Der direkte und damit einfachste sowie insgesamt auch schnellste Weg zu den allein zur Normverwerfung befugten Gemeinschaftsgerichten bleibt zumeist aufgrund der uneingeschränkten Anwendung der nicht mehr zeitgemäßen Plaumann-Formel versperrt. Ist eine Direktklage aber ausnahmsweise doch einmal zulässig und bleibt dies dem Individualkläger verborgen, perpetuiert eine mit Ablauf der Frist des Art. 230 Abs. 5 EGV etwaig eintretende Bestandskraft des Rechtsakts den individualbelastenden Zustand. Der andere, schon mit dem Nachteil der zeitlichen Dimension gesäumte Umweg über ein mitgliedstaatliches Gericht birgt die weitere, nicht minder erhebliche Ungewissheit, ob es im Rahmen des dezentralen Gerichtsverfahrens tatsächlich zu einer Vorlage der letztlich allein interessierenden Rechtsfrage nach der Gültigkeit der EG-Rechtsnorm kommen wird. Dem Rechtsschutzsuchenden die Bürde aufzuerlegen, die prozessualen Risiken durch die Beschreitung beider Rechtswege zu minimieren, erscheint schon im Hinblick auf das hierdurch erhöhte Kostenrisiko kaum zumutbar. Die vage Möglichkeit, eine nachträgliche Entschädigung auf der sekundären Rechtsschutzebene zu erlangen, sei es seitens des Mitgliedstaats wegen einer pflichtwidrigen Nichtvorlage seine Instanzgerichte, sei es seitens der Gemeinschaft auf der Basis ihrer Haftung für normatives Unrecht, vermag

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die vorhergehenden Rechtsverletzungen weder ungeschehen zu machen, noch weitere, vom Rechtsakt ausgehende Belastungen zu verhindern. Den Ansprüchen an ein rechtsstaatliches Rechtsschutzsystem, in welchem der Schutzgehalt der Grundrechte der Hoheitsgewalt vorauseilt und nicht nur einen im Falle der Grundrechtsverletzung aktivierten monetären Wert verkörpern darf, genügt das System insoweit nicht. Solange im Bereich des Individualrechtsschutzes gegen normativ gestaltete und doch unmittelbar belastende Rechtsakte keine Besserungen eintreten, mangelt es der Union also schlicht an jenem „Schlussstein des rechtsstaatlichen Gewölbes“2569, dessen Existenz Art. 6 Abs. 1 EUV behauptet. G. Rasche und wirksame Abhilfe verspräche de lege lata am ehesten eine rechtsmethodisch zulässige Modifizierung der Auslegung der Voraussetzung der individuellen Betroffenheit, die, ohne die diesem Tatbestandsmerkmal inhärente Funktion des Ausschlusses von Popularklagen aufzugeben, alle Fälle erfassen könnte, in denen der Einzelne durch den allgemein, aber zugleich unmittelbar wirkenden Rechtsakt eigene Rechte oder schützenswerte Interessen einbüßen muss. Jedoch ist nicht zu erwarten, dass der hiermit an den EuGH gerichtete Appell Wirkung zeitigen wird. H. Die Hoffnung muss daher de lege ferenda auf eine vertragliche Reform des Rechtsschutzsystems gelegt werden. Die in dem Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa angelegten Neuerungen gehen insofern zwar in die richtige Richtung, sie bleiben aber zugleich hinter dem zurück, was die Vertragsstaaten im Dienste des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz hätten leisten können und müssen. Aus grundrechtlicher Sicht besteht das dringende Bedürfnis, die Beseitigung der aufgezeigten Unzulänglichkeiten der Regelungen zum Individualrechtsschutz vollständig und dabei möglicherweise schon im geltenden Rechtssystem vorzunehmen. Unter den verschiedenen Möglichkeiten erscheint es dabei am sinnvollsten, die Anforderungen an die Individualklagebefugnis nach Art. 230 Abs. 4 EGV in dem hier beschriebenen Sinne zu verändern, verbunden mit der Einführung eines vorausgehenden Klageannahmeverfahrens zur Kompensation der zu erwartenden Belastungszunahme der zentralen Gemeinschaftsgerichte. I. Die Problemlösung weiter aufzuschieben, ist schließlich auch aus einem anderen Grund nicht anzuraten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das Recht auf effektiven Rechtsschutz nicht zuletzt auch die Identifizierung der Bürger mit ihrer Stellung als unionalem Rechtssubjekt fördern kann. Bleibt diesen die Möglichkeit genommen, ihre schützenswerten Rechtspositionen effektiv einzuklagen, und werden solche Fälle einer brei2569

S. 9.

Begriff zurückgehend auf Thoma, in: Wandersleb, Recht-Staat-Wirtschaft,

Zusammenfassung und abschließende Bewertung

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teren Öffentlichkeit bekannt, so wird dies dem entsprechenden Rechtsbewusstsein des Einzelnen und damit zusammenhängend seinem Interesse an der Existenz, Wahrnehmung und Durchsetzung seiner Rechte in erheblichem Maße abträglich sein. Zudem vermag allein die Gewährung gerichtlich durchsetzbarer Rechte noch keine hinreichende Identifizierung des Einzelnen mit dem Rechtsgebilde der Union zu begründen, wenn die Geltendmachung jener Rechte – wie der EuGH es fordert und der Verfassungsvertrag es grundsätzlich fortsetzt – regelmäßig vor den nationalen Gerichten zu erfolgen hat. Vor dem Hintergrund des bisweilen herkunftsverschleiernden Durchsetzungsmodus kann es nicht verwundern, wenn der Rechtsschutzsuchende seine in Wahrheit der europäischen Rechtsebene entspringenden Rechte eher der Sphäre der staatlichen Grundrechtsgewährleistungen zuordnet, somit kaum die wahre Quelle jener Rechte erkennen und mithin ein verzerrtes Verständnis von dem unionalen Rechtsgebilde bekommt. Im Umkehrschluss würde eine zentral und unmittelbar vor der sachnäheren unionalen Gerichtsbarkeit verortete Gewährung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz mutatis mutandis wesentlich dazu beitragen, dem nicht nur für den Laien teilweise schwer fassbaren rechtlichen Unionskonstrukt ein erkennbar rechtsstaatliches Gesicht zu geben und so die Identität der EU weiter zu konturieren sowie zugleich die bereits zunehmende Identifizierung des Bürgers mit ihr zu erleichtern und zu fördern2570. Stünde der prosperierenden Entwicklung der materiellen Unionsgrundrechte auch eine effektive prozessuale Absicherung gegenüber, würde sich der Bürger nämlich anstelle der mitunter geisterhaften Rechte aus Europa viel eher eines gemeinsamen europäischen Geistes gewahr.

2570 Eine europaweite Umfrage des Eurobarometers im Jahre 2004 ergab, dass sich in den bis dato beigetretenen Mitgliedsländern der EU die Majorität der Unionsbürger, nämlich 55%, sowohl über ihre eigene Staatsangehörigkeit, als auch über ihre Zugehörigkeit zu Europa identifizierten, während sich 42% der Befragten ausschließlich über die eigene Nationalität und nur 3% allein über die Unionszugehörigkeit definierten (s. Eurobarometer 62, Herbst 2004, S. 94).

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Sachverzeichnis absolutes Abweichungsverbot 222 acquis communautaire 255, 286 ff., 303, 325, 343, 349 acte clair-Doktrin 92 (Fn. 290), 432 f., 439, 464 Akteneinsichtsrecht 113, 114 Aktivlegitimation 554 (Fn. 2425) Akzessorietät – der Chartarechte zu den Verfassungsüberlieferungen 278, 303 – der inzidenten Normenkontrolle gem. Art. 241 EGV 423 f., 530, 563 – des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz 142, 146 f. Alexysche Grundrechtstheorie 98 ff. allgemeine Rechtsgrundsätze – Begriff 70 ff. – erste Grundrechtsherleitung durch den EuGH 59 ff. – Filterfunktion 257 – Herleitung der Rechtsschutzgarantie als ~ 100 ff. – Rechtsnatur 72 f. – rechtsnatürliche Schicksalsgemeinschaft mit den Grundrechten 74 ff. Amsterdamer Vertrag 55, 150 Amtshaftungsklage 94, 237, 470 ff., 482, 497, 531 Amtssprachen 161 (Fn. 629) Anfechtungsklage 49 (Fn. 75), 52, 83 f., 409, 424, 490 angemessene Verfahrensdauer siehe Verfahrensdauer Anhörung 115, 194, 197, 201, 398, 444 Annex 99, 128 (Fn. 498), 138 Antidumpingverordnungen 393 (Fn. 1659), 395 (Fn. 1673), 411 (Fn. 1760), 436 (Fn. 1907), 537

Anwendungsvorrang 47, 79, 99 (Fn. 328), 139 ff., 183, 187, 209, 269, 336, 347, 466 Aufhebung 49 (Fn. 75), 52, 82 f., 85, 95, 118, 189, 204, 417 f., 422, 447 ff., 473, 479, 481, 497, 499 f., 522, 545 f., 569 aufschiebende Wirkung 91, 386, 426, 430, 495 Aufsichtsklage 441, 496 Auslegung – Analyse des Art. 6 Abs. 2 EUV 168 ff. – Anwendbarkeit der WVK 153 ff. – Auslegungsmethoden 159 ff. – Grundsätze der Normauslegung im Unionsrecht 151 ff. – unionsrechtskonforme 77 (Fn. 212) Auslegungskompetenz 151, 158 (Fn. 613), 159 Ausschlussfrist 109, 471 Ausschlusswirkung 274 ff., 486 Außen- und Sicherheitspolitik (gemeinsame) 321 Autonomie 153, 155, 196 f., 243, 254, 262, 469 Begründungspflicht 113, 116, 130 (Fn. 504), 200 f., 203 (Fn. 816), 517 (Fn. 2281) Beiladung 116 Beitritt der Union zur EMRK 364 ff. Beitrittsvertrag 355 (Fn. 1484), 372 (Fn. 1540), 427 Berufung 107 (Fn. 377), 430, 445 f., 454, 511 (Fn. 2245) Beschleunigungsgebot 508, 514, 516, 553, 555 (Fn. 2430), 560

638

Sachverzeichnis

Beschwer 390 f. Beschwerde 233 f., 443, 445 f., 479 ff. Beschwerdeformblatt 441 (Fn. 1938) Bestandskraft 410 f., 421, 424, 435 f., 447 ff., 473, 485 ff., 528 ff., 563, 567, 569 Bindungswirkung – der AllgErklMenschenR 130 (Fn. 506), 308 f. – der EGMR-Entscheidungen 227 ff., 379 – der EMRK 131, 208, 211, 224 – der Entscheidungsgründe 125 – der EuGH-Entscheidungen 378 f., 412 ff., 423, 436 ff. – der EU-Grundrechtecharta 280 ff., 347, 362 – der Grundrechte 165, 169, 170, 175 (Fn. 695), 180 f., 263 – der völkervertragsrechtlichen Menschenrechte 315 ff. Binnenmarkt 40 (Fn. 25), 80, 577 (Fn. 2502) Bourlanges-Bericht 537, 574 (Fn. 2490) Bundesländer – Klagebefugnis bei Nichtigkeitsklagen 412 (Fn. 1764) Bundesverfassungsbeschwerde siehe Verfassungsbeschwerde Bürgerbeauftragter siehe Ombudsmann Conseil Constitutionnel 175 Conseil d’État 52, 175, 248 Contentieux – de pleine juridiction 47 – en annulation 44 Dauer – der Direktklage 500 f. – des Vorabentscheidungsverfahrens 438, 500, 521 Demokratiedefizit 351 (Fn. 1469), 550

Demokratieprinzip 351, 578 Devolutiveffekt 430 dezentrale Vollziehung siehe indirekter Vollzug Dienstaufsichtsbeschwerde 517 Direktklage 92 (Fn. 289), 389, 392, 418, 423, 425 (Fn. 1835), 474, 487, 490 f., 500, 529, 531 ff., 541, 553, 562, 565 ff., 586 Direktvorlage 559 Diskriminierungsverbot 38 f. (Fn. 17), 41, 66, 75, 104 f., 108 (Fn. 385), 122 f., 206, 272, 325 (Fn. 1325), 350, 409 Drei Säulen-Modell 173 (Fn. 683) Drittstaaten 178, 316, 327 Drittstaatsangehörige 178 (Fn. 708), 327, 412 Durchführung des Unionsrechts 183, 321, 323 ff. effektiver Rechtsschutz 505 ff. Effektivität 109, 140, 195, 271, 338, 385 ff., 447, 470, 484, 506 f., 512, 517, 523, 525, 560, 562, 571 effet utile 141, 171 Effizienz 525 Einheitliche Europäische Akte (EEA) 40, 150 (Fn. 569), 166, 168, 215, 271 Einstimmigkeit 188, 483, 483 (Fn. 2131), 577 einstweilige Anordnung 110, 462, 495, 520 einstweiliger Rechtsschutz 110, 113, 386 (Fn. 1620), 501, 520 (Fn. 2296) Empfehlung 388, 427 (Fn. 1854), 481, 539 (Fn. 2359), 573 f. EMRK – als unionale Grundrechtsquelle 207 ff. – Beitritt der Union zur EMRK 364 ff. – Rang in den Mitgliedstaaten 266 f., 310

Sachverzeichnis Entfernungsfrist 410 entgangener Gewinn 109 Entscheidung – als Anfechtungsgegenstand 388 – in angemessener Frist 117 ff., 505, 512 Entscheidungserheblichkeit 421, 424, 426, 434, 446, 460, 493, 500, 563, 570 Erforderlichkeitsmerkmal 432, 434 f., 442, 559 Erledigungserklärung 499, 554 (Fn. 2423) Ermessen – als Kontrollmaßstab der Nichtigkeitsklage 412 – bei Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens 442 f., 558 – der nationalen Hoheitsgewalt 185 f., 236, 391, 414, 448. 455, 467 f. – des Gemeinschaftsgesetzgebers 179 (Fn. 717), 201, 338, 475 – des Ombudsmanns 482 Erweiterung der EU 92 (Fn. 289), 161 (Fn. 629), 273, 355 (Fn. 1483), 521 EU-Grundrechtecharta 276 ff., 320 ff. EURATOM 90 (Fn. 275), 415 (Fn. 1781) Euro 352 (Fn. 1472) Eurobarometer 148 (Fn. 564), 597 (Fn. 2570) Europäische Atomgemeinschaft (EAG)/ EAGV 41, 43, 161 (Fn. 629), 243 (Fn. 998), 254, 552 Europäische Gemeinschaft (EG) 181 ff. Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) 41 f. (Fn. 19) Europäische Politische Gemeinschaft 40 (Fn. 21) Europäische Union (EU) 181 ff. Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 40

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Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) 40 Europäische Zentralbank (EZB) 82, 390 Europäischer Gerichtshof (EuGH) – als Hüter des Rechts 42, 60, 541, 556 – Bindung an die Rechtsprechung des EGMR 227 ff. – Letztentscheidungskompetenz 157 f., 371 Europäischer Haftbefehl 189, 326 (Fn. 1336) Europäischer Rat 188, 276, 277, 280, 297, 321, 354, 362, 374, 577 Europäischer Wirtschaftsraum (EWR) 243 Europäisches Mehrebenensystem 182 Europäisches Parlament (EP) 181, 281, 306 (Fn. 1245), 383, 551, 575 – Demokratiedefizit 550 – Nichtigkeitsklage des Europäischen Parlaments 82, 152 (Fn. 581), 390, 482 Europäisierung 491, 521 Europarat 266 (Fn. 1083), 365 EU-Verfassungsprozess 301 (Fn. 1231), 329, 356 EU-Vertrag (Vertrag von Maastricht) 35, 55, 82 (Fn. 239), 150, 392 (Fn. 1641), 551 (Fn. 2411), 552 (Fn. 2412) Evidenzkontrolle 338 (Fn. 1406), 566 f., 571 Fachgerichte 460, 572 (Fn. 2484) fair trial siehe faires Verfahren faires Verfahren 110 ff., 129, 130 (Fn. 504), 214 (Fn. 817), 307 (Fn. 1251), 403, 468 f., 505, 509 f. Fakultativkompetenz 188 fehlerhafte Richtlinienumsetzung 77 Feststellungsklage 449, 492 ff., 590

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Sachverzeichnis

Feststellungsurteil 227, 443 Filterfunktion 257, 401 f., 500, 519 (Fn. 2295), 566, 568 Finalität 134, 331, 359 föderales Gebilde 92, 533, 561 Formenwillkür 584 Fortentwicklung des Rechts als Auslegungsmethode siehe Auslegung Funktion – der EU-Grundrechte 47 ff., 54 ff., 70 ff., 97, 172, 206, 502 – der EU-Grundrechtecharta 290, 302, 372 – der inzidenten Normkontrolle 418, 423 – der Konventionsrechte 226, 261 – der Nichtigkeitsklage 402, 544 – der Schadensersatzklage 470 ff. – des EGMR 228, 379 – des EuGH 42, 81 f., 157 – des Generalanwalts 247 – des Rechts auf effektiven Rechtsschutz 133 ff., 148, 505 – des Vorabentscheidungsverfahrens 91 ff., 425 ff., 498, 527 Geldbuße 118, 120 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) (siehe auch Außenund Sicherheitspolitik) 181, 188 f., 203, 287, 322, 326, 352, 367, 380 ff., 524 (Fn. 2317), 572 (Fn. 2486), 573 f., 577 f. Gemeinschaftsorgane 44, 82, 84, 107, 114, 143, 180, 186, 193, 237, 309 (Fn. 1264), 313, 388, 415 (Fn. 1786), 418, 422, 452, 474, 552 Gemeinschaftsrechtskonformität 477, 493, 527 Gemeinschaftstreue (auch Grundsatz loyaler Zusammenarbeit) 36, 140, 189, 440, 447, 483, 491, 552 General Agreement on Tariffs and Trade (GATT) 223, 316

Gericht erster Instanz – als Eingangsinstanz der Nichtigkeitsklage 387, 501 Gerichte (auch Rechtsschutzebene) – dezentrale 385 f., 424, 431 – Kooperation 239, 248, 250, 251, 370, 433, 435, 457, 467, 561 – zentrale 385 f., 407, 414, 424 Gesetzesvorbehalt 331 Gesetzgebung 331 Gesetzgebungsakt 573, 574, 576, 578, 584, 588, 590 gesetzlicher Richter 34, 93, 458 ff., 499, 528 Gestaltungsklage/Gestaltungsurteil 81, 387, 443 Gewaltenteilung 444, 509 (Fn. 2236), 550 (Fn. 2407), 578 Gewohnheitsrecht 75, 221, 427 Gleichbehandlungsgrundsatz siehe Diskriminierungsverbot Grundfreiheiten 46, 57, 63 (Fn. 145), 75, 80, 104, 122, 183 ff., 323, 325, 350, 455, 571 Grundrechte – allgemeine Grundrechtsbindung 163 ff. – Einklagbarkeit 78, 99, 132 f., 142, 181 – Entwicklung in der EG 39 ff. – Funktionen 77 ff. – Rechtsnatur 38 ff. – Rechtsquellensystematik 207 ff. – unmittelbare Drittwirkung 97, 206, 326 f. – unmittelbare Geltung/Anwendbarkeit 45 ff., 77, 99, 564 Grundrechtecharta siehe EU-Grundrechtecharta Grundrechtsbeschwerde 402, 559 (Fn. 2445), 564 ff. Gültigkeitsfrage 110 (Fn. 397), 187, 424, 427, 430, 432, 435 ff., 459, 485 ff., 499 ff., 557, 571 Gutachtenverfahren 371

Sachverzeichnis Haftbefehl siehe Europäischer Haftbefehl Haftung – der EU 53, 61 f., 69, 93 f., 212 (Fn. 860), 254, 419, 470 ff., 482, 497, 595 – der Mitgliedstaaten 62, 77, 93 ff., 152 (Fn. 581), 162 (Fn. 637), 449 ff., 483, 494, 499, 527, 558 Handlungspflicht 90, 140 (Fn. 541), 418, 482 f., 496 Harmonisierung 246, 333, 336, 369, 375 Hauptverfahren 419 ff., 563 Hoher Vertreter für die GASP 357 (Fn. 1497), 368 horizontale Drittwirkung von Richtlinien 162 (Fn. 633), 408 f. Identifizierung 305, 352, 596 f. indirekter Vollzug (siehe auch Vollzug) 424, 539 Individualbeschwerde 228 f., 239, 370, 441, 468 ff., 478, 523 Instanzenzug 447, 460, 559 institutionelle Subordination 244 institutionelles Gleichgewicht 550 (Fn. 2407), 551 institutionelles Kompetenzgefüge 158 (Fn. 613), 243 Integration 39 ff., 135 (Fn. 523), 172, 225, 252, 261 (Fn. 1072), 263, 278 (Fn. 1138), 356, 556 Intergouvernementalität 146, 173, 181, 182 (Fn. 722), 203 f., 230 (Fn. 938), 254, 287, 310, 321 f., 326, 360, 365, 380 ff., 524 (Fn. 2317), 572 (Fn. 2486), 577 f. interinstitutionelle Vereinbarung 290, 404 (Fn. 1728) internationale Menschenrechtsquellen 177, 212 ff., 266, 271 ff., 300, 307 ff. internationaler Terrorismus 190, 192, 198, 201, 393 (Fn. 1658), 394 (Fn. 1659), 400 f.

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Inzidentkontrolle 193, 204, 386, 418 ff., 459, 530 f., 546, 562 f. Inzidentverfahren 93, 424, 426, 433 f., 438, 450, 485, 487 ff., 529, 561 ius cogens 177, 193 f., 196, 202 (Fn. 814), 222 f., 307, 309, 314, 538 (Fn. 2352) judikatives Unrecht – Haftung der Mitgliedstaaten für 450 ff., 527 juristische Personen 63 (Fn. 145), 78 (Fn. 220), 82, 114, 178 f., 206 ff., 235, 327 ff., 365, 387, 412, 470, 479, 496, 534, 543, 545, 579 Justizakt 566 Justizreform 521 Kartellrecht 120, 361 (Fn. 1518), 515 (Fn. 2275) Kassation 227 (Fn. 921), 378, 591 Kausalität 83 f., 88 f., 118, 403 f., 449, 470, 475, 482, 497 Kinderrechtskonvention 215, 273, 308 Klagebefugnis/Klageberechtigung – aus Grundrechten 67 ff., 400 ff. – Begriff 67 (Fn. 161), 388 (Fn. 1628) – des Europäischen Parlaments 82 – für die Untätigkeitsklage 415 f. – natürlicher und juristischer Personen 82, 85 ff., 389 ff. – privilegierte 82, 387 – teilprivilegierte 387 – und Rechtsschutzinteresse 412 Klageberechtigung siehe Klagebefugnis Klagefrist 410 f., 419, 486, 528 f., 531 f., 563, 567 f. Klagegegenstand der Nichtigkeitsklage 388 ff. Klagerücknahme 499 Kohärenz 181, 241, 248, 250, 304, 332, 333, 338 f., 348 f., 375 ff., 431, 433, 438 f., 455, 464, 495, 520, 527 ff., 536, 540, 541, 560, 568

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Kommission – Aufsichtsklage 441, 496 – Ermessen zur Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens 442 f., 558 – Nichtigkeitsklage gegen Normativakt 482 Kontrolldichte 84, 201 Konvent siehe Verfassungskonvent Konventionsstaaten siehe Mitglieder der EMRK Kooperationsverhältnis 239, 248 ff., 370, 433 ff., 457, 467, 539, 548, 562 legislatives Unrecht 62 (Fn. 140), 163 (Fn. 641), 474, 482, 523, 595 Leistungsklage 90 (Fn. 278), 449, 490 Letztverbindlichkeit 151, 243, 425 Maastricht-Urteil 150 (Fn. 568), 359 (Fn. 1505), 361 Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus siehe internationaler Terrorismus Menschenrechte 79 f., 124, 145 f., 177, 209, 221 ff., 267, 272 f., 275, 307 ff., 351, 354 Menschenrechtskommission 231, 241 Ministerrat 574 (Fn. 2495) Missbrauch – der Rechtsaktsformenwahl 389, 407 – des Vorabentscheidungsverfahrens 435 – von Hoheitsbefugnissen 481 Mitentscheidungsverfahren 550 (Fn. 2407), 576 Mitglieder der EMRK 220, 241, 375, 504 (Fn. 2211) Mitgliedstaaten – Grundrechtsbindung 182 ff., 323 ff. – Haftung siehe Haftung der Mitgliedstaaten – Verantwortung zur Rechtsschutzgewährung 108, 589

Mitverschulden 472 Mitwirkungspflicht 104, 140 Mündlichkeitsgrundsatz 115, 129, 262 Nationales Recht 36, 91 (Fn. 286), 141, 154, 204, 258, 447, 461 f., 483, 545 natürliche Personen 63 (Fn. 145), 78 (Fn. 220), 82, 114, 178, 206, 229, 328 f., 387, 411 f., 470, 479, 496, 534, 543, 545, 579 Nebenintervention siehe Beiladung Nichtbeachtung der Vorlagepflicht siehe Verletzung der Vorlagepflicht Nichtigkeitsklage – Begründetheit 412 ff. – Frist 410 f. – Funktionen 81 f., 402 – gegen Richtlinien 407 ff. – gegen Verordnungen 392 ff. – Klagebefugnis 388 ff. – Klageberechtigte 387 – Klagegegenstand 388 f., 392 ff. – Klagegegner 387 – privilegierte ~ 482 ff. – Rechtsschutzbedürfnis 411 f. – Schwächen der ~ 414 f. – von Vereinigungen 406 – Wesenszüge 83 ff. – Wirkungen 89, 412 ff. – Zuständigkeit 387 Nichtvorlagebeschwerde 433, 558, 561 Nichtzulassungsbeschwerde 430 Niederlassungsfreiheit 104 (Fn. 362), 148 (Fn. 565) normatives Unrecht siehe legislatives Unrecht öffentliches Interesse 236, 247, 390, 476 Öffentlichkeit 82, 294, 356, 597 Öffentlichkeitsgrundsatz 262

Sachverzeichnis Office Européen de Lutte Anti Fraude (OLAF) 405, 486 (Fn. 2143) Ombudsmann 113, 283, 328, 443, 479, 480 ff. Parteifähigkeit 387, 411 Passivlegitimation 586 Pauschalbetrag 444 Personen aus Drittstaaten 178, 327, 412 Petition 41, 328, 479 ff. Polizeiliche und justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) 119 (Fn. 454), 181, 188 f., 279, 287, 322, 326, 366, 380 ff., 524 (Fn. 2317), 573 Präklusion (siehe auch Ausschlussfrist) 422, 511, 569 primäres Gemeinschaftsrecht 61 f., 151 ff., 202, 229, 233, 287, 291, 424 f., 464, 538, 551, 558, 594 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 72 (Fn. 191), 152 (Fn. 583), 160, 183, 361 Prozessstandschaft 49, 66, 540 qualifizierte Mehrheit 368 (Fn. 1540) qualifizierte Verletzung des Gemeinschaftsrechts siehe Haftung Rat der Europäischen Union 200, 321 Ratspräsidentschaft 357 (Fn. 1496), 362 Recht auf faires Verfahren siehe faires Verfahren Recht auf rechtliches Gehör 105, 110 ff., 123, 129, 193, 197, 231, 247, 403 Recht auf Zugang zur gerichtlichen Kontrolle 107 ff., 129 f., 194, 490 ff., 506 ff., 518 ff., 525, 553 ff., 568, 578 ff. Rechtsfortbildung 152, 162, 526, 532, 548, 551 f., 557 Rechtsgeltungsbefehl 213

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Rechtskraft 93, 108, 125 f., 227 ff., 378, 439, 444 f., 447 ff., 465 (Fn. 2051), 528 Rechtsmittel 107, 429 f., 439, 445 f., 501, 511, 518 Rechtsmittelgericht 561, 565 Rechtspersönlichkeit der EU 220, 321, 577 Rechtsschutzbedürfnis 388 (Fn. 1628), 416, 421 f., 440, 472 f., 501, 531 Rechtsschutzgarantie – Analyse der Rechtsnatur 100 ff. – Schutzgehalt 505 ff. Rechtssicherheit 43 (Fn. 41), 72 (Fn. 192), 73, 109, 128, 251, 274 f., 306, 351, 366, 370, 411, 413, 422, 424, 435, 437, 444, 446, 449, 451, 471, 483, 488, 511, 514, 520, 528 ff., 567 f. Rechtsstaatlichkeit 42, 55 f., 73, 76, 128 f., 138, 148 f., 168, 171, 174, 182, 204, 213, 348, 351, 358 (Fn. 1502), 377 Rechtssubjekt 56, 63 (Fn. 145), 78, 80, 97, 112, 206, 307, 310 (Fn. 1265), 384, 408 f., 553, 578 Rechtsvollziehung (siehe auch Vollzug) – dezentrale 182, 438 Rechtswegklarheit 485, 528, 567, 569 f. rechtzeitiger Rechtsschutz 118, 506, 508, 516, 525 Reform 45, 229, 273, 288, 291, 321, 330, 336, 344 f., 348, 354 ff., 384, 521, 547, 551, 553, 557 ff., 572 ff. restriktiver Zugang zum EuGH 67, 86, 240, 414, 485, 498, 555 Revision 430, 445 f., 452, 515 (Fn. 2271) Richtlinie – als Anfechtungsgegenstand 407 ff. – Umsetzung 77, 185 ff., 205, 232, 323, 408, 414, 428 richtlinienkonforme Auslegung 409

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Sachverzeichnis

Richtlinienumsetzung – und Grundrechtsbindung 185 ff. Rücknahme eines Verwaltungsakts 447 f. Rückwirkungsverbot 72 (Fn. 192), 74, 128, 300, 358 (Fn. 1502) Sachentscheidungsvoraussetzungen 83, 86, 108 (Fn. 384), 404, 408, 411, 416, 471, 492, 545 Sachverhaltsaufklärung (auch Sachverhaltsermittlung) 201, 426, 435 sanktionäre Maßnahme 191, 279, 584 Sanktionsausschuss 191 ff. Sanktionsgedanke 95 (Fn. 310) Schadensersatzanspruch 62, 94, 228, 471, 523 Schadensersatzklage 94, 378, 386, 420 f., 424, 450 ff., 470 ff., 496, 517 f., 542, 573 (Fn. 2489) Schengen-Abkommen 119 (Fn. 455) Schlussanträge des Generalanwalts – Recht auf Stellungnahme zu 115, 247 Schuman-Plan 39, 352 (Fn. 1472) Schutznormtheorie 50 f., 62 (Fn. 141), 78 (Fn. 219), 84 (Fn. 245), 476 Schutzzweck 95, 516 Sekundäransprüche siehe Schadensersatzanspruch Sekundärrechtsschutz siehe Schadensersatzklage und Haftung Selbstbindung – an die Grundrechtecharta 280 f., 292, 304 – des EuGH an den EGMR 306 self-contained-regime 313 smart sanctions 195 (Fn. 776), 201 Solange-Rechtsprechung – des BVerfG 145 (Fn. 554), 186 (Fn. 741), 187 (Fn. 744), 213, 231, 241, 376 (Fn. 1582), 382 – des EGMR 237, 241, 376

Souveränität 378, 550 Spruchrichterprivileg 457 Staatenbeschwerde 229 Staatshaftung siehe Haftung der Mitgliedstaaten Stellungnahme – als Anfechtungsgegenstand 388 – als Bestandteil des aquis communautaire 287 – bei Untätigkeitsklagen 416 f. – bei Vetragsverletzungsverfahren 444 – Recht auf ~ 113 ff., 247 subjektives Recht 41, 48 ff., 124, 131 ff., 139, 146 ff., 202, 279, 345, 413, 423, 439, 455, 460, 493, 497, 517, 570 Subsidiarität – der EMRK 371 – der Feststellungsklage 493 – der Schadensersatzklage 473 f. – der Staatshaftung 457 – der Untätigkeitsklage 417, 443 – der Verfassungsbeschwerde 459 – des Rechtsschutzes durch den EGMR 250, 381, 383 – des zentralen Rechtsschutzes 491, 544, 546 ff., 569 – Prinzip der ~ 183, 320 f., 538 f., 546 ff. Summarische Prüfung (siehe auch Evidenzkontrolle) 567 Supranationalismus 39 f., 204, 225, 230, 237, 239, 255, 286 (Fn. 1172), 310, 346, 357, 360, 382 (Fn. 1611), 483, 572 (Fn. 2486), 577 f. Suspensiveffekt (siehe auch aufschiebende Wirkung) 386, 430 Symbolde der EU 352 (Fn. 1472) targeted sanctions 195, 202 Transparenz 173 ff., 251, 255, 274 f., 306, 326, 361, 376, 444, 480, 575, 578 Treuepflicht 36, 140, 440, 527

Sachverzeichnis Umsetzungsakt siehe Richtlinien Unabhängigkeit der Justiz 110, 116, 130, 157, 428, 442, 444, 451 ff., 461 f., 494, 509, 527, 561 Unionsbürgerschaft 146 (Fn. 557), 178, 278, 300 (Fn. 1225), 327, 329 (Fn. 1351) Untätigkeitsbeschwerde 517 Untätigkeitsklage 90 ff., 415 ff., 497 Unterlassen – als Voraussetzung der Untätigkeitsklage siehe Untätigkeitsklage – der Richtlinienumsetzung 77 – der Vorlage siehe Vorabentscheidungsverfahren – Pflicht zu ~ 140 – und Konventionsverantwortung 237 unterlassene oder unzulängliche Richtlinienumsetzung 77 Verbraucherschutz 184 (Fn. 733), 279 Vereinigungen 179, 327, 329 f., 387, 398, 406 Verfahrensautonomie 140, 440, 444 ff. Verfahrensdauer (auch angemessene ~) 117 ff., 123, 129, 247 (Fn. 1018), 403 f., 507 f., 512 ff. Verfahrensfehler 198, 460, 515 (Fn. 2271) Verfassungsbeschwerde 44, 447, 458 ff., 515, 528, 566 Verfassungsgerichtsbarkeit 439, 527 f., 561 Verfassungskonvent 159 (Fn. 621), 225, 296 (Fn. 1211), 333, 341, 354 (Fn. 1483), 357 (Fn. 1495) Vergemeinschaftung siehe Europäisierung Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 65 f., 72 (Fn. 192), 73, 104, 128, 184, 189, 193, 332, 338, 346 (Fn 1442) Verjährung des Schadensersatzanspruchs 471

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Verletzung – der Vorlagepflicht 440 ff., 558 f. – hinreichend qualifizierte ~ einer Gemeinschaftsrechtsnorm 449 ff., 475 ff. Verordnung als Anfechtungsgegenstand siehe Nichtigkeitsklage Verschulden 152 (Fn. 581), 163 (Fn. 641), 452, 514 Vertrag von Amsterdam 35 (Fn. 13), 55, 150 Vertrag von Maastricht siehe EU-Vertrag Vertrag von Nizza 35 (Fn. 13), 171 (Fn. 675), 357 (Fn. 1497), 363 (Fn. 1527), 426 (Fn. 1844) Vertragsänderung 155 ff., 159 (Fn. 615), 212, 220 (Fn. 883), 269, 286, 361, 551, 557 Vertragsverletzungsverfahren – Anregung durch den Einzelnen 440 ff., 494, 558 – Aufsichtsklage 441, 496 – gegen Nichtvorlage 466 – Verhältnis zur Inzidentkontrolle 419, 421 Vertrauensschutz 43 (Fn. 41), 72 (Fn. 192), 73, 128, 358 (Fn. 1502), 413 Verwerfungsmonopol des EuGH 425, 430 f., 438, 499 Vetorecht 361 Völkergewohnheitsrecht 154, 177, 221, 307, 309, 312, 314 Völkerrecht 33, 43, 53, 70, 130, 153 ff., 173, 189 ff., 202, 213, 221 ff., 274, 307 ff., 358, 381, 428, 451, 577 Völkerrechtssubjekt 307, 310, 315, 365 Vollzug/Vollziehung des Gemeinschaftsrechts 110, 182, 323, 326, 423, 424, 431, 438, 485, 490 f., 493, 499, 519 f., 539, 546, 569, 571, 584

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Vorabentscheidungsverfahren – Bindungswirkung der Entscheidung 436 ff. – Entscheidungserheblichkeit 434 f. – Funktionen siehe Wesenszüge – individualschützende Funktion 425 – Nichtvorlage (und Rechtsschutz) 440 ff., 527 ff. – Schwächen 438 ff. – Verfahrensbeteiligte 240, 426 f., 439, 523, 526 f. – Verfahrensgegenstand 427 f. – Verhältnis zur Inzidentrüge 419 f., 421 – Vorlageberechtigung 429 – Vorlagepflicht 429 ff. – Wesenszüge 91 ff., 467, 470 Vorbehalt von Charta-Grundrechten 336 f. Vorbehaltserklärungen 221 f., 226, 257, 261 ff., 311, 317 f., 366 f., 375, 381 Vorhersehbarkeit 444, 566 Vorlageberechtigung 429 Vorlagepflicht 429 ff. vorläufiger Rechtsschutz siehe einstweiliger Rechtsschutz Vorrang – der UN-rechtlichen Pflichten 193, 196 f., 202 – des Gemeinschaftsrechts 47, 79, 99 (Fn. 328), 139 ff., 183, 187, 209, 269, 336, 347, 466

Waffengleichheit 116, 129, 510 Warenverkehrsfreiheit 46 (Fn. 62), 104 (Fn. 362), 105, 107, 122 (Fn. 469), 504 wertende Rechtsvergleichung 152, 162, 209, 254 ff., 270 f., 312, 336 Wesensgehalt 65, 222 (Fn. 895), 331 f., 507, 511 Wiederaufnahme des Verfahrens 427, 448 f. Wiederaufnahmeklage 445 (Fn. 1955) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand 531 Wiener Vertragsrechtskonvention 153 ff. Willkürformel 450, 459 ff., 468 f., 476, 477 Willkürverbot 75 (Fn. 208), 121 (Fn. 464) Zugang zur gerichtlichen Kontrolle siehe Recht auf Zugang zur gerichtlichen Kontrolle Zusatzprotokolle zur EMRK 107 (Fn. 377), 119, 211 (Fn. 854), 213, 220 (Fn. 884), 227 f., 235 f., 257 ff., 333, 365 f., 372, 384, 478 Zustimmung 191, 368 (Fn. 1540) Zwangsgeld 444 zwingendes Völkerrecht (siehe auch ius cogens) 221 ff. Zwischenverfahren 91, 419 f., 499, 562 f.